Die andere Goethezeit: poetische Mobilmachung des Subjekts um 1800 9783770528097

"Jochen Hörisch schickt sich an, die vor allem durch Hermann August Korffs "Geist der Goethezeit" (1966)

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German Pages [239] Year 1992

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Table of contents :
I. CHARAKTERMASKEN
1. Die Tugend und der Weltlauf in Lessings bürgerlichen Trauerspielen und in Hegels Theorie der Neuzeit 13
2. Charaktermasken - Subjektivität als Traum und Trauma bei Jean Paul und Marx 29
3. Jean Pauls Sprach-, Wunsch- und Junggesellenmaschinen 47
4. Die „poetische Logik" des Hyperion - Hölderlins Versuch einer Umschreibung der Regeln des Diskurses 68
5. „Die Not der Welt" - Poetische Ausnahmezustände in Kleists semantischen Komödien 93
* * *
II. GOETHES BESTES BUCH
1. Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins - Marginalien zu Derridas Ontosemiologie und Goethes bestem Buch 117
2. „Die Himmelfahrt der bösen Lust" - Ottiliens Anorexie, Ottiliens Entsagung 149
3. „Die Begierde zu retten" - Zeit und Bedeutung in den Wahlverwandtschaften 161
4. „Das Leben war ihnen ein Rätsel" - Offenbare Geheimnisse und verborgene Rätsel in Goethes Romanen 172
* * *
III. POETISCHE MOBILMACHUNG
1. „Ein höherer Grad von Folter" - Die Weimarer Klassik im Lichte frühromantischer Kritik 191
2. Heine in Göttingen - Geschichte einer produktiven Traumatisierung 200
3. Larven und Charaktermasken - Zum elften Kapitel von Ahnung und Gegenwart 212
4. Pathos und Pathologie - Der Körper und die Zeichen in Büchners Lenz-Erzählung 222
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Die andere Goethezeit: poetische Mobilmachung des Subjekts um 1800
 9783770528097

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Jochen Hörisch

Die andere Goethezeit Poetische Mobilmachung des Subjekts um 1800

Wilhelm Fink Verlag München

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hörisch, Jochen: Die andere Goethezeit: poetische Mobilmachung des Subjekts um 1800 / Jochen Hörisch. - München: Fink, 1992 ISBN 3-7705-2809-3

ISBN 3-7705-2809-3 © 1992 Wilhelm Fink Verlag München Herstellung: Ferdinand Schöningh Gmbh, Paderborn

Inhalt Vorwort I.

CHARAKTERMASKEN

1. Die Tugend und der Weltlauf in Lessings bürgerlichenTrauerspielen und in Hegels Theorie der Neuzeit 2. Charaktermasken - Subjektivität als Traum und Trauma bei Jean Paul und Marx 3. Jean Pauls Sprach-, Wunsch- und Junggesellenmaschinen 4. Die „poetische Logik" des Hyperion - Hölderlins Versuch einer Umschreibung der Regeln des Diskurses 5. „Die Not der Welt" - Poetische Ausnahmezustände in Kleists semantischen Komödien II.

13 29 47 68 93

GOETHES BESTES BUCH

1. Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins - Marginalien zu Derridas Ontosemiologie und Goethes bestem Buch 2. „Die Himmelfahrt der bösen Lust" - Ottiliens Anorexie, Ottiliens Entsagung 3. „Die Begierde zu retten" - Zeit und Bedeutung in den Wahlverwandtschaften 4. „Das Leben war ihnen ein Rätsel" - Offenbare Geheimnisse und verborgene Rätsel in Goethes Romanen HI.

7

117 149 161 172

POETISCHE MOBILMACHUNG

1. „Ein höherer Grad von Folter" - Die Weimarer Klassik im Lichte frühromantischer Kritik 2. Heine in Göttingen - Geschichte einer produktiven Traumatisierung

191 200

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INHALT

3. Larven und Charaktermasken - Zum elften Kapitel von Ahnung und Gegenwart 4. Pathos und Pathologie - Der Körper und die Zeichen in Büchners Lenz-Erzählung

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Namenregister

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Nachweise

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Vorwort „Jetzt, da jeglicher liest und viele Leser das Buch nur / Ungeduldig durchblättern und, selbst die Feder ergreifend, / Auf das Büchlein ein Buch mit seltner Fertigkeit propfen, / Soll auch ich, du willst es, mein Freund, dir über das Schreiben / Schreibend, die Menge vermehren und meine Meinung verkünden /Daß auch andere wieder darüber meinen und immer / So ins Unendliche fort die schwankende Woge sich wälze." Goethe schrieb diese Verse 1795 und ließ sie, die Menge der Lettern vermehrend, unter dem Titel Epistel in Schillers Hören veröffentlichen. In der sogenannten Goethezeit hat sich in der Tat die Menge der Bücher schier schlagartig vermehrt. Ganze Fakultäten könnten geschlossen werden, wenn es die Fülle der poetischen und philosophischen Lettern, die zwischen 1770 und 1830 erschienen, nicht gäbe. Die Gründe für diese Überfülle an Geist und Buchstaben im, ,tintenklecksenden Säkulum" sind selten analysiert worden und liegen doch auf der Hand. Sie konzentrieren sich zu und in drei zusammenhängenden Tendenzen. Erstens in einer mentalitätshistorischen: in den Jahren um 1789 fallen so viele Denkzwänge und Tabus dahin, daß sich hinter diesen gefallenen Tabus geradezu unendliche Denk- und Schreibräume auftun. Ihre Leere will mit neuen poetischen und philosophischen Lehren gefüllt werden. Was im Rahmen der sogenannten abendländischen Kultur Jahrhunderte, jamehr als ein Jahrtausend lang schlechthin nicht öffentlich verhandelt werden konnte, steht fast plötzlich allgemein zur Diskussion und zur Disposition: die Ordnung der Welt und der metaphysischen Hinter-Welt. Wenn eingespielte Begründungsverhältnisse unaufhörlich an Plausibilität verlieren und zugrunde gehen, so liegt es (zweitens) nahe, funktionale Autoreferentialität an die Stelle von substantiellen Begründungen zu setzen, und das heißt konkret: über das Denken zu denken, Erzieher zu erziehen, Romane über das Rom anschreiben zu schreiben, die Liebe zu lieben, Bewußtsein von Bewußtsein theoretisch zu favorisieren, nach dem Sinn von Sinn zu fragen etc. All dies geschieht, da andere, neue Medien erst ab der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zur Verfügung stehen, in und mit Büchern. Bücher eignen sich medial für solche Abstraktionen. Prozedieren sie doch außerordentlich abstrakt: nämlich allein durch die unterschiedliche Kombination von sechsundzwanzig Buchstaben. An diesen Diskussionen und Neukonstruktionen können (drittens) um 1800 tatsächlich virtuell alle teilnehmen. Denn die Verbesserung (Mittel-)Europas schreitet zügig voran. Viele tradierte Pflichten fallen in dem Maße, wie sich eine

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VORWORT

hierarchische Gesellschaft darauf um- und einstellt, eine funktional ausdifferenzierte zu werden. Eine Pflicht aber ersteht neu: die Schulpflicht, die alle zu Lesern und Schreibern macht. Denn aus Subjekten (und das hieß in feudalen Zeiten einmal: Beherrschten) müssen Subjekte (und das heißt fortan: selbstbewußte Zentren) werden. Wenn Subjekte Subjekte werden, wenn sie sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit emanzipieren, wenn sie mündig werden sollen, so muß das alte klerikale Bildungsprivileg sozialisiert werden. Um 1800 findet in Mitteleuropa eine allgemeine Mobilmachung statt: militärisch, industriell, bildungs- und biopolitisch, administrativ, infrastrukturell. Sie ruft alle ehemaligen Subjekte auf, endlich wahrhaft und eigentlich Subjekte zu sein: nämlich selbstbewußt zu werden, das eigene Schicksal zu gestalten, Gesellschaft und Geschichte, ja noch die Natur selbst mit Willen und Bewußtsein zu „machen". Die Literatur hat an dieser Mobilmachung teil. Und sie hat die Mobilmachung, an der (nomenklatorisch gesprochen) Metternich, preußische Könige und Jakobiner gemeinsam arbeiten, zugleich in all ihrer Ambivalenz beobachtet. Adorno hat die moderne Doppelposition des Ästhetischen auf die Formel von der Kunst als der „gesellschaftlichen Antithesis zur Gesellschaft" gebracht. Literatur als Teilsystem der Gesellschaft erbringt die Leistung, alternative Versionen derselben Realitäten (ko-)präsent zu halten, die in alltäglicher und wissenschaftlicher Kommunikation eingespielt sind. Die hier versammelten Studien lassen sich von der Vermutung und dem Verdacht leiten, daß diese semantischen Alternativen der Literatur von der Literaturwissenschaft in aller Regel auf die Standardversionen von RealitätsWahrnehmung zurückgebogen wurden. Was etwa unter dem Titel Der Geist der Goethezeit zu lesen steht, ist so weit von dem nicht entfernt, was sich der gesunde Menschenverstand eh schon gedacht hat, bevor er z. B. Jean Pauls, Kleists und Goethes Werke zur Kenntnis nahm. Die „Wut des Verstehens" - so die bemerkenswert hellsichtige Wendung des frühen Schleiermacher - hat eben zum Ziel, alternative Semantiken zu entschärfen. Die vorliegenden Studien wollen hingegen poetische Differenzen zu eingespielten Verständigungsfiguren betonen. Lessings bürgerliche Trauerspiele (1/1) halten fest, welche paradoxen neuen Zwänge entstehen, wenn sich Subjekte von alten Zwängen befreien wollen und welche Effekte es haben kann, wenn der Weltlauf nach den Prinzipien der Tugend eingerichtet werden soll. Jean Pauls Romane (1/2) gehen der Vermutung nach, die selbstbewußten Subjekte könnten nicht weniger masken- und zwanghaft sein als die alten Untertanen. Deshalb erinnern sie (1/3) gegen die zeitgenössische Subjektivitätseuphorie an die Faszination, die von subjektfernen Maschinen ausgeht. Hölderlins Roman Hyperion (1/4) erkennt in den neuen Rede- und Argumentationsfiguren noch der Transzendentalphilosophie die alten Substrate und in der revolutionären die Entsprechung zur etatistischen Mobilmachung; er wirbt deshalb statt für allgemeine Mobilmachung für die enthusiastische Gelassenheit, die nach dem Kollaps (theo-)zentrischer Weltbilder möglich wäre, welche Möglichkeit aber sogleich verfehlt wurde. Der schreibende Offizier Kleist (1/5) schließlich spielt beide grundsätzlichen Möglichkeiten souverän gegeneinander aus: nachdem Ende offenbarer Letztwahrheiten muß entweder ein Souverän den

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VORWORT

dauerhaften Ausnahmezustand strukturieren - oder aber Subjekte müssen lernen, Unentscheidbarkeiten nicht als Bedrohung, sondern als Reiz zu erfahren. Goethes (nach eigenem Bekunden) „bestes Buch", sein Roman Die wandtschaften (11,1-4), zeigt in souveräner Verdichtung, warum neuzeitliche Versuche einer „Sabotage des Schicksals" (Ulrich Sonnemann) zu scheitern pflegen: weil sie einem gründlich verfehlten Verständnis von konstitutiver Subjektivität aufsitzen. Subjekte sind keine Herren der Rede, sondern werden von Zeichen bewohnt. Zu ihnen müssen sie, wenn ihr Dasein gelingen soll, ein freundliches Anerkennungsverhältnis ausbilden. Die Goethe-Kritik, wie sie von den Frühromantikern Friedrich Schlegel und Novalis (III/l) vorgetragen wird, gerät angesichts dieser Goetheschen Weisheit in eine Paradoxie: Goethes „Versuch, die Neuzeit zu hintergehen" (Heinz Schlaffer) und eben dadurch ihren befreienden Kem (die Einsicht in positiv zu verstehende Grundlosigkeit) zu retten, läßt romantischen Alternativen kaum mehr Raum. An der Schwierigkeit, zwischen klassischen und romantischen Formen der Wahrnehmung von Welt und Dasein sinnvoll zu unterscheiden, wird paradigmatisch ein grundsätzliches Dilemma deutlich, in dessen Zeichen das neunzehnte und verstärkt noch das zwanzigste Jahrhundert stehen: die Schwierigkeit, mit binären Schemata (wie progressiv - konservativ, Basis - Überbau, Zeichen - Bezeichnetes, Subjekt Objekt, gut - böse etc.) komplexen Problemen begegnen zu können. Heine (III/2) und Eichendorff (III/3) haben die Erfahrung einer solchen Orientierungsschwierigkeit in ganz unterschiedlichen Kontexten gemacht bzw. gestaltet. Ihre Werke halten fest, daß den neuen Subjekten das eingespielte Hören und Sehen vergeht. Der revolutionäre Dichter Georg Büchner hat dieses Vergehen von Hören und Sehen in der universal mobilmachenden Neuzeit auf realhistorische Daten beziehen können. An der grundsympathischen Figur des umtriebigen Reformers Oberlin und am schizoiden Dichter Lenz (III/4) dürfte ihm aufgegangen sein, warum das Projekt der Moderne zu scheitern droht. Die hier versammelten (und gerade im ersten Teil stark überarbeiteten) Untersuchungen verstehen sich deshalb auch als Studien zur Vorgeschichte der Diskussion um die Postmoderne. Oliver Hoffmann danke ich für seine hilfreiche Mitarbeit beim Zustandekommen dieses Bandes. Mannheim im Frühjahr 1992 Jochen Hörisch

I. CHARAKTERMASKEN

1. Die Tugend und der Weltlauf in Lessings bürgerlichen Trauerspielen und in Hegels Theorie der Neuzeit Inwiefern alle Art Geschäftsmänner und Habsüchtige, alles, was Kredit geben und in Anspruch nehmen muß, es nötig hat, auf gleichen Charakter und gleichen Wertbegriff zu dringen; der Welt-Handel und Austausch jeder Art erzwingt und kauft sich gleichsam die Tugend. Nietzsche Als Meilefont von Miss Sara Sampson erfährt, daß ihr Vater bereit sei, sich von seiner Tochter wieder und von Mellefont erstmals „Vater" nennen zu lassen (IV, l) 1 , erscheint ihm die eigene verhaltene Reaktion auf die Erfüllung seiner Hoffnung (IV, 8) rätselhaft: „(Nachdem er einigemale tiefsinnig auf und nieder gegangen) Was für ein Rätsel bin ich mir selbst! Wofür soll ich mich halten? Für einen Toren? oder für einen Bösewicht? - oder für beides? - Herz, was für ein Schalk bist du!" (IV, 2). Im Augenblick der möglichen Erfüllung und bürgerlichen Legalisierung seines Wunsches bedauert Mellefont den Verlust alternativer Lebensmöglichkeiten. Als „natürliche furchtsame Schwierigkeit, sich in ein großes Glück zu finden" (IV, 1), interpretiert er Sara gegenüber, was ihm im unmittelbar folgenden Monolog umgekehrt als der „melancholische Gedanke, auf Zeit Lebens gefesselt zu sein" (IV, 2), durchsichtig wird. Um diese irritierende Rätselhaftigkeit seiner selbst begreifen zu können, macht der in die Dialektik von „Moral und Zeitordnung"2 verstrickte Mellefont, der seine antibürgerlichen Fluchtimpulse3 im Maße seiner Eingliederung in die Familie Sir Sampsons zu beherrschen lernt, das „weitere Reich von Einbildungen" für seine Spaltung 1

Zitate aus Lessings Werken nach der Edition von H. G. Göpfert, 8 Bände, München 1970 sqq. Die bürgerlichen Trauerspiele sind im zweiten Band dieser Ausgabe wiedergegeben. 2 Th. W. Adorno: Minima Moralia- Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1973. p. 96 sqq. 3 Cf. H. M. Wolff: Mellefont: unsittlich oder unbürgerlich? MLN 61/1946, pp. 372-377.

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I. CHARAKTERMASKEN

verantwortlich. Denn tugendhafte Selbstdisziplinierung hat die Abwertung „weiterer Reiche" und die Anerkennung des Reichs der Wirklichkeit zur Voraussetzung: „Wie unglücklich ist der Mensch! Fand sein Schöpfer in dem Reiche der Wirklichkeiten nicht Qualen genug? Mußte er, sie zu vermehren, auch noch ein weiteres Reich von Einbildungen in ihm schaffen?" (1,7). Eine lebensgeschichtliche Alternative erblickt Meilefont allein in der Anpassung an tugendhafte Gesinnungen. Eine solche Anpassung hätte die Überwindung „vermaledeiter Einbildungen" zur Voraussetzung. Sie würde die Selbstabschaffung seiner „reinen Individualität"4 bedeuten, die hinter dem etablierten Standard „allgemeiner Individualität"5 uneinholbar zurückzubleiben droht: „Vermaledeite Einbildungen, die mir durch ein zügelloses Leben so natürlich geworden! Ich will ihrer los werden, oder - nicht leben" (IV, 2). Unter dem Legitimationsdruck tugendhafter Aufklärung nimmt Mellefont seine frühe ästhetische Kritik der „unmenschlichen Tyrannen unserer freien Neigungen" (1,7) zurück, um sich zu den „Leuten von Vernunft" zu gesellen, „die der Notwendigkeit weichen" (IV, 4). Indem er Vernunft, Tugend und Notwendigkeit einander korrelieren läßt, anerkennt er die aufklärerische Konstitution der einen Welt, in der das „weitere Reich der Einbildungen" zugrunde geht. Einzig als Übereinkunft mit dem, was ist, oder aber als „Qual" ist dieses weitere Reich für Sara, deren Schuldbewußtsein Mellefont die Diskrepanz von reiner und allgemeiner Individualität anschaulich werden läßt, noch erfahrbar: „Klagen Sieden Himmel nicht an! Er hat die Einbildungen in unsere Gewalt gelassen. Sie richten sich nach unseren Taten, und wenn diese unsern Pflichten und der Tugend gemäß sind, so dienen die sie begleitenden Einbildungen zur Vermehrung unserer Ruhe und unseres Vergnügens. [...] Überlegen Sie, daß wenn Sie mich auch dadurch [durch Einwilligung in die Zeremonie der Eheschließung, J. H. ] nur von Qualen der Einbildung befreien, diese eingebildeten Qualen doch Qualen, und für die, die sie empfindet, wirkliche Qualen sind" (I, 7). Dieser aufgeklärten Preisgabe mannigfaltiger Einbildungen zugunsten der einen Wirklichkeit entspricht die bürgerliche Universalisierung des Individuellen, die Hegels Rede von „allgemeiner Individualität" rechtfertigt. Mellefont ist ihr Schauplatz: an ihm wird manifest, daß die vermeintlich vereinzelte Intention der tugendhaften Subjektivität zur territorialisierenden6 Herrschaft des Allgemeinen geworden ist. Die sich universalisierende Tugend wird zur List und Logik des Weltlaufs, der den Subjekten die Amphibolie ihres Begriffs demonstriert: das tugendhaft handelnde Subjekt wird, wie Hegel an der jakobinischen Politik früh erkannte, zum sub-jectum des Weltlaufs. „Dem Bewußtsein der Tugend ist das Gesetz das Wesentliche und die Individualität das Aufzuhebende, und also sowohl an ihrem Bewußtsein selbst als an dem Weltlaufe. An jenem ist 4

G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, WW, ed. Michel / Moldenhauer, Bd. 3. Frankfurt a. M. 1970, p. 271. 5 Ibid., p. 279. 6 Cf. zum Begriff der Territorialisierung G. Deleuze / F. Guattari: L' Anti- CEdipe Capitalisme et Schizophrenie. Paris 1972, pp. 217-235.

1. DIE TUGEND UND DER WELTLAUF

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die eigene Individualität in die Zucht unter das Allgemeine, das an sich Wahre und Gute, zu nehmen; es bleibt aber darin noch persönliches Bewußtsein; die wahre Zucht ist allein die Aufopferung der ganzen Persönlichkeit als die Bewährung, daß es in der Tat nicht noch an Einzelheiten festgeblieben ist."7 Lessings bürgerliche Trauerspiele deuten die „Aufopferung der ganzen Persönlichkeit" an „die Zucht unter das Allgemeine" als Zurücknahme des ,,Entschluss[es], [. ..] sich selbst zu leben" (Emilia II, 4). Seine Preisgabe zählt zu den Opfern, die die aufklärerische Universalisierung bürgerlicher Vernunft verlangt. Daß Lessings bürgerlichen Trauerspielen - wie Jean Paul anmerkte „der dichterische Pfingstgeist"8 mangele, der erst den Nathan auszeichne, mag demnach auch thematisch begründet sein. Wie das Reich der einen Wirklichkeit das der pluralen Einbildungen vereinnahmt, so schließt der Geltungsanspruch prosaisch aufgeklärter Vernunft, der auch „die Kunst [...] nach Brot" (Emilia I, 2) zu gehen nötigt, „dichterischen Pfingstgeist" aus. Unter Berufung auf ein Diktum Voltaires hat Lessing die früh kritisierte ästhetische Schwäche der Sara Sampson als thematisch bedingt gerechtfertigt: „Es gibt auch notwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, müßte man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich sonst ganz gut"9. Gegen eine soziologische Lektüre von Lessings bürgerlichen Trauerspielen, die allein solche ästhetischen Schwächen zu begründen vermag, sind philologische Einwände vorgetragen worden10, die sich z. B. auf die Streichung des Adjektivs .bürgerlich' in den Zweitauflagen berufen. Gerade das philologische Prinzip der lectio difficilior aber ermöglicht methodisch, diese Tilgung eines spezifierenden Adjektivs verständlich zumachen: mit dem Bürger hat die Trauer sich derart universalisiert, daß sie keine differentia specifica mehr kennt. Friedrich Schlegel, der die „Geschichte der Welt [...] in Geschichte der Dichtkunst"" auflösen wollte, hat Lessing als den „eigentlichen Autor der Nation und des Zeitalters" verstanden. Seinem „Versuch, Lessings Geist im Ganzen zu charakterisieren"12, liegt wohl deshalb die methodische Annahme 7 8

Hegel: 1. c, p. 283. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, WW, ed. N. Miller, Bd. 5. München 1973, p. 65 (§ 14). ' Hamburgische Dramaturgie, 14. Stück; WW IV, p. 296. 10 Cf. L. Pikulik: .Bürgerliches Trauerspiel' und Empfindsamkeit. Köln 1966. Zur Kritik an Pikuliks sich selbst undurchsichüger These, bürgerlich „heiße für Lessing im Grunde nichts anderes" als .menschlich' cf. u. a. P. Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jh. - Studienausgabe der Vorlesungen 1, ed. G. Mattenklott. Frankfurt a. M. 1973, p. 19 sqq., 68 und K. Weimar: .BürgerlichesTrauerspiel' -Eine Begriffserklärung im Hinblick auf Lessing; in: DVjs 1977/Heft 2, pp. 208-221, der .bürgerlich', rechtsgeschichtlich argumentierend, als Opposiüonsbegriff zu .natürlich' und .naturrechtlich' versteht. " F. Schlegel: Philosophische Lehrjahre. KA Bd. XVIII, ed. E. Behler. München etc. 1962, p. 473 (VII, 25). 12 F. Schlegel: Über Lessing; in: Charakterisüken und Kriüken I, KA Bd. II, ed. H. Eichner. München etc. 1967, p. 100.

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I. CHARAKTERMASKEN

einer „transzendenten Linie"13 in Lessings Werken zugrunde. Diese Formel zielt auch auf jene transsubjektive Durchsetzung von Universalisierungsprozessen, die Lessings bürgerliche Trauerspiele zu „prosaischen Tragödien" werden lassen, deren „Charakter zwischen Allgemeinheit und Individualität in der Mitte schweben"14. Der Bürger ist vorgängig so partikular wie etwa der Adelige, dem er bürgerliche Verkehrsformen oktroyieren möchte, oder der Diener, den er auffordert, sich an ihn anzugleichen (Sara III, 7). Indem er sich aber als die allgemein gültige Sozialfigur setzt, wird er zur bestimmenden und „sichernden Macht des Allgemeinen"15 über das Einzelne verselbständigt. Den Erscheinungsformen dieser „transzendenten Linie" der Universalisierung des partikularen Bürgers gilt die Aufmerksamkeit von Lessings bürgerlichen Trauerspielen, „dieser in Schweiß und Pein produzierten] Meisterstücke des reinen Verstandes"16. Wenn Schlegels Formel Lessings wirkungsmächtige Dramen damit als literarisches Analogon zur Kantischen Vernunftkritik avant la lettre bestimmt, so akzentuiert er zugleich ihre Schwäche. Als „Exempel der dramatischen Algebra" nämlich verfehlen Lessings Trauerspiele jene Selbstbezüglichkeit, die die Vernunft (Kant zufolge) gegenüber dem Verstand auszeichnet17. Das unterscheidet sie vom Lustspiel Minna von Barnhelm, in dem „Denken" sich nicht länger „als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit"18 vollzieht und in dem die dem bürgerlichen Trauerspiel eigentümliche Auffassung des „Ich als allgemeine Person [...], worin Alle identisch sind", durch ,Witz' suspendiert wird. Gemeinsam aber ist den Lust- und Trauerspielen Lessings das Thema der Universalisierung des partikularen Bürgers. *

Lessings Dramen zeigen den Bürger durchgängig als freundlich-höflichen Usurpator. Von einem unter mehreren Momenten der umfassenden Struktur Gesellschaft erhebt er sich zum dominierenden Ganzen dieser Struktur. Daß noch diejenigen, die soziologisch einfach nicht als Bürger zu klassifizieren sind -nämlich die in Lessings bürgerlichen Trauerspielen überwiegenden Adeligen - bürgerlich empfinden, denken und handeln, zeugt von der Verbindlichkeit bürgerlicher Selbstverallgemeinerung. Ihr Erfolg beruht auf systematischen Selbstmißverständnissen. Indem der Bürger sich eben nicht als Bürger, sondern 13 14 15

F. Schlegel: Abschluß des Lessing-Aufsatzes, ibid., p. 415. F. Schlegel: Über Lessing, 1. c, p. 117. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, WW Bd. 7, p. 382 (§ 231). 16 F. Schlegel: Über Lessing, 1. c, p. 116. 17 Cf. Kant: KdvR, B 708: „Die reine Vernunft ist in der Tat mit nichts als sich selbst beschäftigt, und kann auch kein anderes Geschäft haben, weil ihr nicht die Gegenstände zur Einheit des Erfahrungsbegriffs, sondern die Verstandeserkenntnisse zur Einheit des Vemunftbegriffs, d. i. des Zusammenhanges in einem Prinzip gegeben werden." 18 Hegel: Grundlinien, 1. c, p. 360 (§ 209)

1. DIE TUGEND UND DER WELTLAUF

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als „Mensch" versteht und allen Unterschied zwischen sich und seinem Anderen in der humanistischen Überhöhung soziologischer Erklärungsschemata aufhebt, stabilisiert er seinen eigenen Sozialcharakter. So soll auch Sampsons Diener vergessen, daß er Diener ist, und zum „Menschen" schlechthin werden: „Sir William. Betrachte dich von nun an, mein guter Waitwell, nicht mehr als meinen Diener. Du hast es schon längst um mich verdient, ein anständiger Alter zu genießen. Ich will dir es auch schaffen, und du sollst es nicht schlechter haben, als ich es noch in der Welt haben werde. Ich will allen Unterschied zwischen uns aufheben; in jener Welt, weißt du wohl, ist er ohnedies aufgehoben. - Nur dasmal sei noch der alte Diener, auf den ich mich nie umsonst verlassen habe." (Sara III, 7) Im Selbstverständis, das allgemeinste Prädikat .Mensch' sei zugleich das ihnen allein angemessene19, vereinen sich Sir William, sein von allen soziologischen Spezifikationen freigesprochener Diener und der Prinz, der mit der Bekundung, daß auch „Fürsten Menschen sind" (Emilia V, 8), noch nach der Katastrophe die eine universale Gemeinsamkeit beschwören möchte. Alle Menschen werden Brüder; alle noch so unterschiedlichen Sozialfiguren schließen sich zum Bild Des Menschen zusammen. Die vielzitierte Formel der Zauberflöte bringt diese Bewegung auf den humanistischen (In-)Begriff: „Er ist Prinz! - Noch mehr - er ist Mensch!" Daß dieses Pathos auch einen Umschlag von Aufklärung in Mythos anzeigt, weisen (unfreiwillig?) Lessings bürgerliche Trauerspiele nach. Der humanistischen Universalisierung entsprechen (nicht nur) kulturelle Zwänge. Sie verordnen z. B., daß die zum „Menschen" verallgemeinerte disparate Sozialfigur das spezifisch bürgerliche Selbstverständnis, lesender Mensch zu sein, teilen müsse. In dem Ausruf: „Mensch, ich glaube, du liesest eben so wenig die Zeitungen, als die Bibel?" (Minna 1,12), verdichtet sich SO der Vorwurf von Tellheims Freund Paul Werner an den mürrisch auf seiner Andersheit insistierenden Diener Just: er will einfach nicht Mensch und also Bürger sein. Wird dieser Diener auch deshalb zur anachronistischen, der älteren Komödientradition entlehnten Figur20, weil er sich nicht nur weigert, Zeitung und Bibel zu lesen, sondern überhaupt die Aleatorik des Sprechens der Verläßlichkeit institutionalisierter Schrift vorzieht, so schätzt der Bürger umgekehrt die Vorteile der schriftlichen Fixierung der phone2' wie der Rezeption des bereits Artikulierten gegenüber den Unsicherheiten, die die freie Rede mit sich bringen mag. Zum bevorzugten Kommunikationsmedium auch zwischen Familienmitgliedern wird deshalb der Brief. Er hilft bei der Vermeidung überkomplexer

" Cf. das 14. Stück der Hamburgischen Dramaturgie, 1. c , p. 294: „Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleid haben, so haben wir es mit ihnen als Menschen, und nicht als mit Königen." 20 Cf. K.-D. Müllers Aufsatz: Das Erbeder Komödie im bürgerlichen Trauerspiel; in: DVjs 46/1972, pp. 28-60, der Emilia Galotti und Miss Sara Sampson als Inversion des commedia dell' arte-Schemas deutet. 21 Cf. J. Derrida: De la grammatologie. Paris 1967.

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I. CHARAKTERMASKEN

Sprechsituationen22. Wenn aber Reden und ihre gefährliche Ereignishaftigkeit nicht zu vermeiden sind, sollen sie zumindest brieflich vorstrukturiert werden: „Sir William. Hier, Waitwell, bring' ihr [Sara] diesen Brief. Es ist der Briefeines zärtlichen Vaters, der sich über nichts, als über ihre Abwesenheit beklagt. Sag' ihr, daß ich dich damit vorweg schicke, und daß ich nur noch ihre Antwort erwarten wolle, ehe ich selbst käme, sie wieder in meine Arme zu schließen. Waitwell. Ich glaube, Sie tun recht, daß Sie ihre Zusammenkunft auf diese Art vorbereiten. Sir William. Ich werde ihrer Gesinnungen dadurch gewiß, und mache ihr Gelegenheit, alles, was ihr die Reue Klägliches und Errötendes eingeben könnte, schon ausgeschüttet zu haben, ehe sie mündlich mit mir spricht. Es wird ihr in einem Brief weniger Verwirrung, und mir vielleicht weniger Tränen kosten." (Sara III, 1) Diese Bevorzugung von Brief, Schrift und gefilterter Rezeption gegenüber der Komplexität und Ereignishaftigkeit der phon6 findet in der Institutionalisierung des Bürgers eine administrative Entsprechung. Er, der bereits seine Lektüre in Lesegesellschaften, Bibliotheken und Zirkeln verallgemeinerte23, will nicht länger Opfer feudaler Willkür sein, sondern allgemeiner und austauschbarer Gegenstand von Verwaltungsakten werden. Das Prinzip der Willkür und der Zufälligkeit24, das zu Beginn des bürgerlichen Trauerspiels Emilia Galloti den Prinzen die Bittschrift einer anderen Emilia aufgrund der Namensgleichheit mit der begehrten Emilia annehmen und ein Todesurteil nur aufgrund der Intervention seines Sekretärs nicht sofort unterzeichnen läßt (1,8), verfällt der bürgerlichen Kritik. Sie weiß die Annahme, etwas sei „Zufall, bloßer Zufall" (IV, 1), oder ein „sonderbarer Zufall" (IV, 3) so zu analysieren, daß sie sich ihr als „Gotteslästerung eines nachplaudernden Hofmännchens" darstellt: „Orsina. Glauben sie mir, Marinelli; das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall; - am wenigsten das, wovon die Absicht so klar in den Augen leuchtet. - Allmächtige, allgütige Vorsicht, vergib mir, daß ich mit diesem albernen Sünder einen Zufall genennet habe, was so offenbar dein Werk, wohl gar dein unmittelbares Werk ist!" (IV, 3) Noch in der Katastrophe, mit der das bürgerliche Trauerspiel schließt25, 22

Zur Differenz von Lust- und Trauerspiel bei Lessing gehört die Einschätzung des Kommunikationsmediums Brief. Wahrend die Lustspielfiguren „denken, daß das Briefeschreiben für die nicht erfunden ist, die sich mündlich miteinander unterhalten können, sobald sie wollen" (Minna III, 10), bevorzugen die dramatis personae im Trauerspiel die Kalkulierbarkeit brieflich vermittelter Verständigung. 23 Cf. R. Engelsing: Der Bürger als Leser - Lesergeschichte in Deutschland 1500-1800. Stuttgart 1974, p. 216 sqq.; J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied/ Berlin 1962, § 7; R. Kosellek: Kritik und Krise. Freiburg/München 1959, p. 81. 24 Cf.H. Anton: ,Minna von Barnhelm' und Hochzeiten der Philologieund Philosophie'; Neue Hefte für Philosophie 4, p. 96 sqq. 25 G.B. Pfeil (Vom bürgerlichen Trauerspiel, 1755); in: K. Eibl (ed.): Lessing: ,Miss Sara Sampson'- Kommentar und Darstellung. Frankfurt a. M. 1971, pp. 173-188) hat das bürgerliche Trauerspiel als die „Nachahmung einer Handlung [definiert], wodurch eine Person bürgerlichen Standes auf dem Theater als unglücklich dargestellt" (p. 173) wird.

1. DIE TUGEND UND DER WELTLAUF

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profiliert sich das bürgerliche Begehren, „der natürlichen Billigkeit durch positive Gesetze zu Hülfe [zu] kommen"26, gegen die feudale Schätzung der Ausnahme und ihrer Bewältigung durch den Souverän. Emilias Vater beharrt auf der nach allgemeingültigen Prinzipien institutionalisierten Verwaltung noch des Außerordentlichen, des Vereinzelten. Anders als die Gräfin Orsina behauptet er nicht, „wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlierfe], der [habe] keinen zu verlieren" (IV, 7). Er vertraut vielmehr darauf, daß sich der überindividuelle Verstand bewähre und der Prinz seine feudale Vereinzelung zugunsten seiner allgemeinen Richterfunktion preiszugeben genötigt sei: „Odoardo (zum Prinzen). Aber Sie erwarten, wo das alles hinaus soll? Sie erwarten vielleicht, daß ich den Stahl wider mich selbst kehren werde, um meine Tat wie eine schale Tragödie zu beschließen? -Sie irren sich. Hier! (indem er ihm den Dolch vor die Füße wirft) Hier liegt er, der blutige Zeuge meines Verbrechens! Ich gehe und liefere mich selbst in das Gefängnis. Ich gehe, und erwarte Sie, als Richter. - Und dann dort - erwarte ich Sie vor dem Richter unser aller." (Emilia V, 8) Die aufgeklärte, sich institutionalisierende Austreibung des Zufalls27 weiß sich theologisch garantiert. Ihr gilt Gott nicht mehr als der oberste Souverän, der wunderbar über den Ausnahmezustand entscheidet, sondern als jene verallgemeinerte Vernunft, die die Disparatheit und Zufälligkeit des Einzelnen zugunsten „aller" einstreicht, und der Weise als jener, der im Namen dieser letzten Verallgemeinerung den Zufall überwindet: „Saladin (zu Nathan) [...] ein Mann, wie du, bleibt da / Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt / Ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, / Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Besseren." (Nathan in, 5) Um die Überwindung des Zufalls der Geburt ist in Lessings bürgerlichen Trauerspielen eigentümlicherweise gerade jene Institution bemüht, die ihn zu verantworten scheint: die Familie. Sie fungiert als das am stärksten affektiv besetzbare Medium bürgerlicher Universalisierung28: Denn sie vermittelt aufgeklärte Rationalität mit einer Logik der Empfindsamkeit. Sich zum Mitglied des allgemeinen Familienzusammenhangs zu verallgemeinern ist dem Einzelnen deshalb das höchste Begehren. Der Bräutigam, der seine Braut bei der ersten Begegnung (Emilia II, 4) mit der nicht eben sonderlich leidenschaftlichen Formel „Ich war mir Sie in dem Vorzimmer nicht vermutend" anspricht, reserviert die Möglichkeiten seiner empfindsamen Rhetorik dem Thema seiner Aufnahme in die Familie des Schwiegervaters und nicht etwa der Verbindung mit Emilia. Zum Begehren des Vaters, seine Familie durch die Vermählung der Tochter zu erweitern, verhält sich das Begehren des zukünftigen Schwiegersohnes Lessing: Leben und leben lassen - Ein Projekt für Schriftsteller und Buchhändler, WW Bd. V, p. 784. Cf. E. Köhler: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. München 1973. Cf. M. Horkheimer: Autorität und Familie; in: ders.: Traditionelle und kritische Theorie - Vier Aufsätze Frankfurt a. M. 1970, pp. 162- 230.

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komplementär: „Odoardo. [...] Kaum kann ichs erwarten, diesen würdigen jungen Mann meinen Sohn zu nennen. Alles entzückt mich an ihm. Und vor allem der Entschluß, in seinen väterlichen Tälern sich selbst zu leben." (Emilia n, 4) - „Appiani. Eben hab' ich mich aus seinen [Odoardos] Armen gerissen: oder vielmehr er sich aus meinen. - Welch ein Mann, meine Emilia! Das Muster aller männlichen Tugend! Zu was für Gesinnungen erhebt sich meine Seele in seiner Gegenwart! Nie ist mein Entschluß[,] immer gut, immer edel zu sein, lebendiger, als wenn ich ihn sehe - wenn ich ihn mir denke. Und womit sonst, als mit der Erfüllung dieses Entschlusses kann ich mich der Ehre würdig machen, sein Sohn zu heißen." (II, 7) Für dieses Familienverständnis, das Mechanismen der Kooption und der Adoption über die naturale Filiation stellt29 und zum eigentlichen Ziel des Begehrens macht, wird schon die bloße Möglichkeit einer ereignishaften Bedrohung der kultural hergestellten Zusammengehörigkeit zum Trauma. Als Odoardo, von dem selbst noch die Gräfin Orsina adoptiert werden möchte - „Guter, lieber Vater! Was gäbe ich darum, wann Sie auch mein Vater wären!" (IV, 7) - erfährt, daß seine Tochter durch die vom Prinzen ausgehende „wahre Gewalt der Verführung" dem Familien verband entrissen werden könnte, statt ihn durch eine Eheschließung zu erweitem, optiert er für die konsequente Erhaltung des Allgemeinen. Dieser familialen Idee des Allgemeinen will Emilia sich opfern, um durch ihr „so jugendliches, so warmes Blut" nicht den kultural herbeigeführten Familienzusammenhang zu gefährden. „Emilia [...] Verführung ist die wahre Gewalt. - Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut." (V,7)30 Ihre Sinne und ihre - wie Goethe klar erkannte - im Stück „nur subintelligiert[e]"31 Liebe zum Prinzen im Namen ihres Vaters verwerfend, rettet Emilia in symbolischen Handlungen die Integrität der Galotti-Familie. Mit dem Vorwurf, ihr Vater vermöge diese Integrität nicht zu schützen, bedroht sie das Zentrum seines Selbstverständnisses. Und sie provoziert nicht bloß ihren, sondern den Vater schlechthin, um sein untergründiges Einverständnis wissend, dazu, in der Opferung seiner Tochter die kulturale Qualität der Familie vor ihrer naturalen 29 30

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Im Nathan wird dieses Thema noch deutlicher gestaltet als in den bürgerlichen Trauerspielen. Cf. U. Friess: .Verführung ist die wahre Gewalt' - Zur Poliüsierung eines dramaüschen Motivs in Lessings bürgerlichen Trauerspielen; in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 1971, pp. 102-130. Goethe nach Riemer am 4. 3. 1812, zit. in Lessing, WW Bd. II, p. 174: „Das proton pseudos in diesem Stück sei, daß es nirgends ausgesprochen ist, daß das Mädchen den Prinzen liebe, sondern nur subintelligiert wird. Wenn jenes wäre, so wüßte man, warum der Vater das Mädchen umbringt. Die Liebe ist zwar angedeutet, erstlich in der Art, wie sie den Prinzen anhört, wie sie nachher ins Zimmer stürzt: denn wenn sie ihn nicht liebte, so hätte sie ihn ablaufen lassen; zuletzt sogar ausgesprochen, aber ungeschickt, in ihrer Furcht vor des Kanzlers Hause: denn entweder sei sie eine Gans, sich davor zu fürchten, oder ein Luderchen."

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Bedrohung zu bewahren. Und in einem handlungssymbolischen Inzest überhöht Emilia gar noch apotheotisch die Einheit und Allgemeinheit ihrer Familie. „Emilia. 0, mein Vater, wenn ich Sie erriete! - Doch nein; das wollen Sie auch nicht. Warum zaudern Sie sonst? - (In einem bitteren Ton, während daß sie die Rose zerpflückt) Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte - ihr zum zweiten das Leben gab. Aber alle solche Taten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es keinen mehr! - Odoardo. Doch, meine Tochter, doch! (indem er sie durchsticht) Gott, was hab' ich getan! (Sie will sinken, und er faßt sie in seine Arme) - Emilia. Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert. Lassen Sie mich sie küssen, diese väterliche Hand." (V, 7) Das Allgemeine, dem das tugendhafte Individuum sich opfert, vermag sich nur um den Preis von Verlusten zu erhalten. So wird der Verlust der Tochter zum Gewinn der Familie, die ihre Allgemeinheit paternalistisch-kooptiv32 und nicht durch naturale Reproduktion setzt. Zum unendlich reproduzierbaren Schema ist diese kooptiv/adoptive Familienerweiterung in dem Trauerspiel Miss Sara Sampson geworden. Stehen der Vollwaise Meilefont und die Halbwaise Sara im Zeichen des Zerfalls ihrer Familien, so stellt die Logik des Stücks diese Relation von Besonderem und Allgemeinem auf den Kopf: der Tod beider ermöglicht der Familie Sir Sampsons die adoptive Kompensation dieses Familienzerfalls33. „Sara. Sir William? Ach Mellefont, fangen Sie doch nun an, sich an einen weit zärtlicheren Namen zu gewöhnen. Mein Vater, Ihr Vater, Meilefont - Meilefont. Nun ja, Miß, unser gütiger, unser bester Vater! - Ich mußte sehrjung aufhören, diesen süßen Namen zu nennen; sehr jung mußte ich den ebenso süßen Namen, Mutter, verlernen - Sara. Sie haben ihn verlernt, und mir - mir ward es so gut nicht, ihn nur einmal sprechen zu können. Mein Leben war ihr Tod. - Gott! ich ward eine Muttermörderin wider mein Verschulden. Und wie viel fehlte, wie wenig, wie nichts fehlte - so wäre ich auch eine Vatermörderin geworden!" (IV,1) Sara, deren Geburt ihrer Mutter den Tod brachte, möchte ihren eigenen Tod zur Möglichkeitsbedingung des Lebens ihrer väterlichen Familie machen. Sterbend empfiehlt sie deshalb Meilefont ihrem Vater als Kompensation des Kindes, das er an ihr verliert. „Sara. Wenn ich hoffen dürfte, liebster Vater, daß Sie einen Sohn, anstatt einer Tochter, annehmen wollten! Und auch eine Tochter wird Ihnen mit ihm nicht fehlen, wenn Sie Arabellen dafür anerkennen wollen." (V, 10) Zuschreibungen und wechselseitige Anerkennungsakte zählen deutlich mehr als verwandtschaftliche Fiiiation. Weil sie auf ein solches Familienverständnis vertrauen kann, kann Sara auch ihren Status, Kind ihres Vaters zu sein, an Meilefont delegieren. Es erstaunt kaum mehr, daß Sir William dieses Kompensationsangebot willig und dankbar akzeptiert: „Sir William. 32

Cf. J. J. Bachofens Zuordnung von Abstraktion und Patemalität: Das Mutterrecht, ed. H.-J. Heinrichts. Frankfurt a. M. 1975, p. 42 sqq. 33 Zur Typisierung dieses Schemas in der .trivialen Dramatik Schröders, Ifflands, Kotzebues und anderer Autoren am Ende des achtzehnten Jahrhunderts' cf. H. A. Glaser: Das bürgerliche Rührstück. Stuttgart 1969.

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[...] Laß Dich umarmen, mein Sohn, den ich teurer nicht erkaufen konnte." (V,10) Ebenso verfährt der Adoptivsohn im Augenblick seines Todes, wenn er analog zu Sara für seine mit Marwood gezeugte Tochter Arabella um Adoption bittet. „Meilefont (sterbend). Ich fühl' es - daß ich nicht fehl gestochen habe! Wollen Sie mich nun ihren Sohn nennen, Sir, und mir als diesem die Hand drücken, so sterb' ich zufrieden. (Sir William umarmt ihn) - Sie haben von einer Arabella gehört, für die die sterbende Sara Sie bat. Ich würde auch für sie bitten." (V, 10) Um sie zu finden, eilt der Vater, der seine Tochter verlor und dann ihren Verführer als Sohn annahm, der alsdann diesen unnatürlichen Sohn verlor und dessen natürliche Tochter zu seiner eigenen erklärte, vom Ort des Zerfalls seiner naturalen Familie ins Reich familiärer Zuschreibungen (V,l 1). Der Abstraktionsgrad dieses Reiches kommt dem Universalisierungsbedürfnis einer Familie entgegen, die so überdeutlich von empirischen Zu- und Unfällen bedroht ist. Die Ersetzung natürlicher Zusammengehörigkeit durch Zuschreibungsmechanismen teilt die Familie mit der ökonomischen Sphäre, der sie ihre Begrifflichkeit entleiht. „Sara. [.. .JDamichmein Vater liebt, warum soll es mir nicht erlaubt sein, mit seiner Liebe, als mit einem Erbteile umzugehen? Ich vermache diese väterliche Liebe ihnen [Mellefont], und Arabellen." (V,10) Die sprachliche Verbindung von familiärer Liebe und Geld34, die auch die Rede vom nicht teurer zu erkaufenden Sohn erlaubt, liegt darin begründet, daß Familienliebe und Geld die bevorzugten Medien bürgerlicher Selbstverallgemeinerung sind. Indem er sein Anderes kreditiert (so z. B. Nathan und Tellheim) und auf Äquivalenz drängt (Tellheim und später auch Minna), verpflichtet der Bürger sich den, der zuvor unbürgerlichen Verkehrsformen verhaftet bleiben mochte. Noch die bezahlten Mörder von Emilias Bräutigam beugen sich dem bürgerlichen Äquivalenzdiktat, auf das sie zuvor sich geeinigt haben. „Angelo. Halunke! Was denkst du von uns? - daß wir fähig sind, jemand seinen Verdienst vorzuenthalten? Das mag unter den sogenannten ehrlichen Leuten Mode sein: unter uns nicht." (Emilia 11,3) Die Leute freilich, mit denen Tellheim verkehrt, sind so ehrlich nicht. Sie enthalten ihm die Rückzahlung der Kontribution vor, die er den Ständen kreditierte, von denen er sie einzutreiben hatte. Rauben sie ihm damit Ehre wie Besitz35, so bringen sie ihn zugleich um jenes äquivalente Verhältnis zu Minna, das Voraussetzung ihrer Verbindung wäre. Nur als Synthese der abstrakt Gleichen scheint dem Bürger die (Liebes-)Verbindung überhaupt möglich. Solche Verbindung wird zu einer Selbstverdoppelung, die zugunsten der Äquivalenz vom jeweiligen Wert der Relate absehen kann. Minnas Vorstellungen zielen deshalb auf die Herstellung äquivalenter Beziehungen um jeden Preis; scheinbar opfert sie den eigenen Besitz wie die eigene Ehre, um Tellheim sich und sich Tellheim anzugleichen. So kann Minna durch Verlust das ge34

Zur Geldmotivik im Werke Lessings cf. H. Göbel: Bild und Sprache bei Lessing. München 1971, p. 177 sqq. 35 Cf. H. Schlaffer: Tragödie und Komödie - Ehre und Geld - Lessings ,Minna von Bamhelm'; in: Der Bürger als Held. Frankfurt a. M. 1973, pp. 86-125.

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winnen, was höher als jeder Überfluß zu bewerten wäre: die Gleichheit, die sie zum Äquivalent Tellheims verallgemeinert. „Von Tellheim. [...] In meinen Augen haben Sie unendlich durch diesen Verlust gewonnen." (Minna, V,5) Tellheim und Minna müssen, um zueinander zu finden, eine symbolische Äquivalenz herstellen: erst durch die erneute gleiche Verteilung gleicher Ringe löst sich die Ungleichheit, die die Trennung der Liebenden zu verantworten hatte. „Von Tellheim. Diesen Ring nahmen Sie das erstemal aus meiner Hand, alsunser beider Umstände einander gleich, und glücklich waren." (V,5) Tellheim und Minna sind nun nicht mehr uneingeschränkt glücklich, aber wiederum einander gleich. Und das zählt. Gleichheit ist zum eigentlich Band der Liebe avanciert. *

Der Kredite vergebende, Äquivalenzen schaffende, Fremde adoptierende, alles institutionalisierende und seinem Anderen sein Selbstverständnis als „Mensch und Leser" oktroyierende Bürger ist zu dem Allgemeinen geworden, das sich als „besondere Individualität" unter die eigene „Zucht" genommen hat. Sich selbst uni versalisierend, hat er tugendhaft von sich selbst abgesehen und dem Weltlauf jene Logik eingebildet, die sein Begehren und seine Verkehrsformen nun umgekehrt bestimmt. Als besonderes Moment der gesamten Struktureinheit Gesellschafthat der Bürgerdiese Totalität, sich selbstverallgemeinernd, usurpiert, um zum Dominierenden des Gesamtsystems zu werden. Wer nicht Bürger ist, begehrt, bürgerlich zu werden, um an diesem herrschenden Allgemeinen teilzuhaben. Prinz36, Höfling, Diener und Krimineller möchten als bürgerlicher Sozialcharakter agieren37. In dieser bürgerlichen Selbstverallgemeinerung „verschwinden die Gleichheit und Ungleichheit in ihrer Gleichheit zusammen. Aber diese ihre negative Einheit ist ferner auch an ihnen gesetzt; sie haben nämlich die an sich seiende Reflexion außer ihnen oder sind die Gleichheit und Ungleichheit eines Dritten, eines Anderen, als sie selbst sind. So ist das Gleiche nicht das Gleiche seiner selbst, und das Ungleiche als das Ungleiche nicht seiner selbst, sondern eines ihm Ungleichen ist selbst das Gleiche. Das Gleiche und das Ungleiche ist also das Ungleiche seiner selbst."38 Sich selbst verallgemeinernd, wird der (soeben noch vom Adeligen unterschiedene) Bürger zum Anderen seiner selbst, zu einem allgemeinen Prinzip, zu dem Menschen schlechthin; und so wird er zugleich zu der dritten allgemeinen Größe, zu jenem Nichtidentischen und Selbstdestruktiven, das ihn mit 56

H. C. Seeba (Die Liebe zur Sache - Öffentliches und privates Interesse in Lessings Dramen. Tübingen 1973, p. 89) hat den Prinzen als „oberstes Opfer" einer sich verbürgerlichenden Gesellschaft gedeutet. 37 Heinz Schlaffer (1. c, p. 119 sqq.) vermutet in der Verbindung aristokraüscher Figuren und bürgerlicher Sozialcharaktere eine „sozialhistorische Wurzel der Theorie des gemischten Charakters'". 38 Hegel: Wissenschaft der Logik n, WW Bd. 6, p. 51.

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I. CHARAKTERMASKEN

dem anderen seiner selbst zu einer Einheit synthetisiert - zur Einheit der bürgerlichen Gesellschaft. Im rätselhaften Zeichen dieser rettungslos überforderten, dieser gespaltenen, dieser schizoisierenden Einheit steht der Beginn der Gattung .bürgerliches Trauerspiel'. Zumal Lessings bürgerliche Trauerspiele berichten mehrsinnig von den Spaltungen, die zwanghafte Verpflichtungen auf Einheit mit sich bringen. Auch von Saras Angsttraum, dessen Literalsinn auf die Person der Marwood verweist, gilt, daß „seine Bedeutung [...] träumerischer ist, als der Traum" (Emilia 11,7) und daß er deshalb allegorisch auf die Handlungslogik des Trauerspiels selbst bezogen werden kann. „Sara. [...] Von Weinen und Klagen, meinen einzigen Beschäftigungen, ermüdet, sank ich mit halb geschlossenen Augenlidern auf das Bett zurück. Die Natur wollte sich einen Augenblick erholen, neue Tränen zu sammeln. Aber noch schlief ich nicht ganz, als ich mich auf einmal an dem schroffsten Teile des schrecklichsten Felsen sähe. Sie [Mellefont, J. H.] gingen vor mir her, und ich folgte ihnen mit schwankenden ängstlichen Schritten, die dann und wann ein Blick stärkte, welchen Sie auf mich zurückwarfen. Schnell hörte ich hinter mir ein freundliches Rufen, welches mir still zu stehen befahl. Es war der Ton meines Vaters - Ich Elende! kann ich denn nichts von ihm vergessen? Ach! wo ihm sein Gedächtnis ebenso grausame Dienste leistet; wo er auch mich nicht vergessen kann! - Doch er hat mich vergessen. Trost! grausamer Trost für seine Sara! - Hören Sie nur Meilefont; indem ich mich nach dieser bekannten Stimme umsehen wollte, gleitete mein Fuß; ich wankte und sollte eben in den Abgrund herab stürzen, als ich mich, noch zur rechten Zeit, von einer mir ähnlichen Person zurückgehalten fühlte. Schon wollte ich ihr den feurigsten Dank abstatten, als sie einen Dolch aus dem Busen zog. Ich rettete dich, schrie sie, um dich zu verderben! Sie holte mit der bewaffneten Hand aus - und ach! ich erwachte mit dem Stiche." (1,7) In seiner Selbstverallgemeinerung, die ihn nur noch auf ihn ähnliche Personen treffen läßt, meinte der Bürger, sich von seiner Partikularität zu erlösen. Doch die „pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft"39, die Kant in lakonischer Klarheit für den Umschlag intendierter Tugend in die Logik des Weltlaufs verantwortlich machte, droht, die Subjektivität zu vernichten, die sich zu universalisieren begehrte. „Die vollends aufgeklärte Erde", die der total itär gewordenen Logik bürgerlicher Selbstverallgemeinerung folgt, „strahlt im Zeichen triumphalen Unheils."40 Zum Unheil, das an die Nähe von totalitärer Aufklärung und Mythos erinnert, wurde, daß der verallgemeinerte Bürger sich selbst verlor. „Bezahlt [wurde] die Identität von allem mit allem damit, daß nichts gleichzeitig mit sich selbst identisch sein darf."41 Darauf reagiert der Bürger mit panischer Angst (Sara), Melancholie (Meilefont, Prinz, Graf Appiani) und depressiver Trauer (Odoardo). Über die Motive dieser Stimmungen sich 3

' Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht; WW, ed. Weischedel, Bd. 9. Darmstadt 1964, p. 38. 40 M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1971, p. 7. 41 Ibid. p. 15.

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aufzuklären ist Lessings Bürger, der sein Erfolgsprinzip - seine Universalisierung - dann preisgeben müßte, ängstlich verwehrt. Deshalb arbeitet er zäh an der Domestizierung der Psyche, die er der Logik seiner Universalisierung entsprechend codieren möchte42. Der Ursprung der neueren Psychologie aus dem Geist des bürgerlichen Trauerspiels wird an den familiären Interaktionsmustern deutlich. Sie beruhen auf einem hochdifferenzierten System von Erwartungserwartungen, das die Verhaltensweisen des Anderen zu kalkulieren und zu beeinflussen erlaubt. Inbegriff der Mittelbarkeit dieser familialen Kommunikation ist die fast schon transzendente Ferne des Vaters. Er entsagt wie der göttliche Vater der unmittelbaren „väterlichen Gewalt", um vielmehr der sublimen Gewalt der „väterlichen Huld" (Sara 111,3) zu vertrauen. Allein der „abwesende Vater" (Emilia 1,4) vermag, als der „göttliche Mann" (Sara 111,5) zu agieren, der durch seine Absenz/Präsenz und durch Verurteilung/ Vergebung die Psyche seines Anderen skandiert. „Mit lauter Liebe tyrannisierend]" (Sara IV, 1), logifiziert Sir Sampson das Begehren seiner Tochter43. Nur durch „eine Wand [...] von dem Frauenzimmer [getrennt], das [ihm] so nahe geht" (Sara 1,2), scheut der Vater die unkalkulierbaren Konsequenzen einer unmittelbaren Begegnung mit seiner Tochter, der er sich erst nach der Berichterstattung seines psychologisch geschulten Dieners Waitwell nähern möchte. Die derart psycho-logisierte Tochter macht ihren sorgsam um die Minimierung von Unmittelbarkeit bemühten Vater, aber auch sich selbst zum Gegenstand eines komplexen psychologischen Kalküls: „Sara [zu Waitwell, J. H. ]. Gott! was bringst du? Ich hör' es schon, du bringst mir die Nachricht vom Tode meines Vaters! Er ist hin, der vortreffliche Mann, der beste Vater! Er ist hin, und ich, ich bin die Elende, die seinen Tod beschleunigt hat. [...] Gib nur [den väterlichen Brief, J. H.], ehrlicher Waitwell! -Doch nein, ich will ihn nichtehernehmen, als bis du mir sagst, was ungefähr darin enthalten ist. / Waitwell. Was kann darin enthalten sein? Liebe und Vergebung. / Sara. Liebe? Vergebung? / Waitwell. Und vielleicht ein aufrichtiges Bedauern, daß er die Rechte der väterlichen Gewalt gegen ein Kind brauchen wollen, für welches nur die Vorrechte der väterlichen Huld sind. / Sara. So behalte nur deinen grausamen Brief! /Waitwell. Grausam? Fürchten Sie nichts; Sie erhalten völlige Freiheit über ihr Herz und ihre Hand. / Sara. Und das ist es eben, was ich fürchte. Einen Vater, wie ihn, zu 42

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Diesen Umstand mißversteht H. Turk(DialeküscherDialog -Literaturwissenschaftliche Untersuchung zum Problem der Verständigung. Götüngen 1975), der der traditionellen Lessing-Interpretation verhaftet bleibt, indem er sie in terms des kritischen Rationalismus und der linguistischen Pragmatik umformuliert, als Modell einer gelingenden Selbstverständigung. Lessings Stücke aber sammeln gerade Indizien für die Identität von bürgerlichem Selbst- und Mißverständnis. F. A. Kittlers eindringliche Studie („Erziehung ist Offenbarung" - zur Struktur der Familie in Lessings Dramen; in: Jb. der dt. Schillergesellschaft XXI/1977, pp. 111-137) ist den „Semiotechniken", die solche Mißverständnisse produzieren, nachgegangen. Cf. F. Brüggemann: Die Entwicklung der Psychologie im bürgerlichen Drama Lessings und seinerzeit; in: Euphorion 26. Bd./1925, pp. 376-388.

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I. CHARAKTERMASKEN

betrüben; dazu habe ich noch den Mut gehabt. Allein ihn durch eben diese Betrübnis, ihn durch seine Liebe, der ich entsagt, dahin gebracht zu sehen, daß er sich alles gefallen läßt, wozu mich eine unglückliche Leidenschaft verleitet: das, Waitwell, das würde ich nicht ausstehen." (Sara m,3) Erhebt sich das einzelne Begehren zur empfindsamen Allgemein-Psyche, die dem bürgerlichen Rationalisierungs- und allgemeinen Mobilmachungsschub unterworfen ist, so wird auch sie ebenso scheinhaft wie die strukturhomologen Universalisierungsmechanismen. Nur um den Preis, die Welt und sich selbst zum allgegenwärtigen Schein zu verrätsein, kann sich Lessings Bürger zum Gegenstand seines eigenen Kalküls verdinglichen. Lessings bürgerliche Trauerspiele begreifen Schein und Scheinhaftigkeit als universale Medien jenseits von Tugend und Laster. Der spezifisch neuzeitliche Schein (um erneut Lessing mit Hegel zu lesen) löst die „seiende Unmittelbarkeit" vorbürgerlicher Strukturen ab und ermöglicht „die schlechthin vermittelte oder reflektierte Unmittelbarkeit" der bürgerlichen Verkehrsformen. Die Grundmuster des ökonomischen, erotischen und psychischen Kalküls weisen das „Sein als Moment"44 der entfalteten Scheinhaftigkeit aus. Als vermittelte Unmittelbarkeit erscheint der Schein den Tugendhaften, die wie Waitwell meinen, „das gute Kind hintergehen [zu] müssen, damit es den Brief doch nur lieset" (Sara 111,3). Zum reflexiven Mechanismus, der über sich selbst gänzlich aufgeklärt ist, aber wird der Schein für die Figuren, die ihn vollends instrumentalisieren: für die Maitresse Marwood, die von den Anstrengungen scheinhaften Rollenspiels weiß (Sara IV,5) und die „blendende Romane [...] aufzudringen" (rv,8) versteht; für den Höfling Marinelli, der den Überfall auf die Hochzeitskutsche inszeniert; für Riccaut de la Marliniere, der die Spielerregel „corriger la fortune" (Minna I V,2) geradezu artistisch beherrscht; aber auch für Minna, die virtuos Rollen spielen und Empfindungen vortäuschen kann. Hingegen leiden jene unter der universalen Scheinhaftigkeit, die ihr ihre Uni versah sierung zu verdanken haben. Die „nicht hören, daß alles erdichtet ist" (Minna V, 12), werden Opfer einer „plumpen List [...]; aber eben weil sieplump war, [sind sie] weit davon entfernt, sie dafür zu halten" (Sara V,3). Ihnen wird die Welt und ihr Dasein zum Rätsel; „alle Güte ist [ihnen] Verstellung; alle Dienstfertigkeit Betrug" (Minna V,ll). Das Medium des Scheins, dem der Bürger seine erfolgreiche Verallgemeinerung verdankt, wird dem zum Verhängnis, der sich in ihm vom distinkten Moment des Ganzen zum herrschenden Prinzip des Ganzen verdoppelt: dem Bürger, der seine partikulare Tugend zum Zentrum des Weltlaufs machen zu können glaubt und deshalb auch sich selbst beherrschen muß. In der verbürgerlichten Welt gerät der Bürger in eine Aporie45. Trifft er nur noch auf Derivate seiner selbst, seitdem die Dinge unter dem 44 45

Hegel: Logik, 1. c, p.22. Sie mag Lessing zum Diktum veranlaßt haben, das F. H. Jacobi übermittelte (in: R. Daunicht (ed.): Lessing im Gespräch. München 1971, p. 520): „In einer Unterredung, die ich mit ihm [1781, J. H.] hatte, kam er einmal so sehr in Eifer, daß er behauptete, die bürgerliche Gesellschaft müsse noch ganz aufgehoben werden."

1. DIE TUGEND UND DER WELTLAUF

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Äquivalenzzwang zu Waren, die Verkehrsformen durch den Rationalisierungsschub zu autonomisierten Institutionen und die Mannigfaltigkeit der einzelnen Subjekte durch Internalisierung zur einen Sozialcharaktere wurden, so schlägt der Narzißmus bürgerlicher Selbstverallgemeinerung in die Lust an der Selbstdestruktion um. Lessings Stücke, die den Bürger und die Trauer ursprünglich zusammenstellen, sozialisieren das bis ins Barockdrama sich durchhaltende feudale Melancholieprivileg46. Und sie psychologisieren dabei das masochistische Moment der Melancholie. Aus der leibhaftigen „Wollust und Grausamkeit"47 barocker Tragödien wird das melancholische Psychodrama der bürgerlichen Trauerspiele. Das Individuum führt seitdem (nach Freuds lakonischer Wendung) eine „Doppelexistenz als sein Selbstzweck und als Glied in einer Kette, der es gegen, jedenfalls ohne seinen Willen dienstbar ist"48. Lessings bürgerliche Trauerspiele führen vor, wie tugendhafte Individuen sich in sozionarzißtischer Selbstverallgemeinerung aufzuheben begehren und sich eben in diesem Versuch selbst preisgeben, ohne es zu wissen und recht zu merken. Erst wenn das tugendhafte Subjekt Gefahr läuft, sich selbst zu verlieren, wird es wieder selbsterfahrungs- und empfindungsfähig. Dieser Umstand motiviert Lessings auffällige Häufung von Szenen und Formeln, die „die unzweifelhaft genußreiche Selbstquälerei der Melancholie"49 als Effekt der bürgerlichen Selbstverallgemeinerung zeigen. Melancholie verdreht noch die antibürgerlichen Impulse von Mellefonts Anklage gegen „die unmenschlichen Tyrannen unserer freien Neigungen" (Sara 1,7) zur Selbstanklage. Mit der ihm selbst undurchsichtigen Verallgemeinerung der Tugend zum Weltlauf wird dem Bürger „die Lust, uns strafen zu können, der erste Zweck unseres Daseins" (1,7) - eine bemerkenswert radikale und keineswegs isolierte Wendung in Lessings dramatischem Werk. Zu den „gräßlicheren Folgerungen" dieser Logik zählt, daß sie masochistische Selbstdestruktionsneigungen zur gängigen sozialpsychologischen Erscheinung macht. Kann der Bürger, der sich in seiner Verallgemeinerung selbst verlor, nur durch Verlust sich selbst gewinnen (Minna V,5), so wird er zur schizoiden Figur, von der gilt, daß sie „angenehme Schmerzen" (Sara M,3) empfindet, wenn sie sich ,.grausam neckt" (Minna VI,3) und „die besten Menschen [...] [sie] am 46

Cf. W. Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt a. M., 1972, p. 180: „Die Melancholie schrieb das Bürgertum zur Zeit des ablaufenden Absoluüsmus sich selbst zu: es war stolz darauf. Denn Melancholie versicherte dem Bürgertum, daß es etwas zu verlieren habe. Zum Zusammenhang von Empfindsamkeit und Melancholie cf. G. Sauder: Empfindsamkeit Bd. 1 - Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, pp. 177 ff. Die Melancholietheorien zur Zeit Lessings sind von H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung - Literarische Erfahrungsseelenkunde und Melancholie im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1977 aufgearbeitet worden. 47 Cf. die Studie von R. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Tübingen 1987. 48 Freud: Zur Einführung des Narzißmus; in: Studienausgabe Bd. III - Psychologie des Unbewußten. Frankfurt a. M. 1975, p. 45. 49 Freud: Trauer und Melancholie; in: Studienausgabe Bd. III, 1. c, p. 205.

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I. CHARAKTERMASKEN

meisten quälen" (Minna 111,7). Güte wird ihr zur Folter (Minna 11,9: „Von Tellheim. [...] Ihre Güte foltert mich."), Liebe und Großzügigkeit zur Marter und zum Tun eines „boshaften Engels" (Minna ni,12/HI,7/V,12). Nur ein Verlust an dem Allgemeinen, zu dem er geworden ist und der als Verlust eines Familienmitglieds, der Ehre, des Besitzes, der „einen Unschuld" und des „einen Lebens" (Emilia V/7)50 Lessings Stücke strukturiert, ermöglicht dem Bürger noch, von sich zu wissen. Nur in der Katastrophe wird er aufblitzend seiner selbst inne; deshalb gerät ihm der Verlust zur Lust51. Dem „totalen Menschen" ist „das Leiden, menschlich gefaßt, [...] ein Selbstgenuß des Menschen"52. Verwehrt aber bleibt ihm, der in seiner Selbstverallgemeinerung zur Charaktermaske erstarrte, die Verhältnisbestimmung von Allgemeinheit und Verlust umzukehren. Weil sie diese Inversion immerhin andeuten, zeigen sich Lessings bürgerliche Trauerspiele den Einsichten ihrer Protagonisten überlegen. Sie legen nahe, den Verlust als jene Primärerfahrung zu verstehen, auf die die bürgerlichen Verkehrs- und Organisationsformen psychotisch reagieren. „Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst"53 vor der ursprünglichen Verlusterfahrung, zu der die bürgerlichen Selbstverallgemeinerungsformen als Deckfiguren sich verhalten. Indem sie die ewige Wiederkehr des Immergleichen als die unendliche Hypostasierung des einen Menschen, als die unendliche adoptive Reproduktion der einen Familie und als die unendliche Herstellung einer Äquivalenzform organisiert, verdrängen die bürgerlichen Verkehrsformen erstmals unter Verweis auf Eigenleistungen den horror vacui, für den andere Gesellschaftsformationen zuvor sich aufrichtig unzuständig erklärten. Diese scheinhafte Verdrängung eines ursprünglichen Verlusts durch die sekundäre Lust an der Universalisierung eines Partikularen und durch universale Mobilmachung wird im Medium einer Dichtung an- und durchsichtig, die den Schein bewußt potenziert. Lessings bürgerliche Trauerspiele bieten dem Trauerspiel der bürgerlich-tugendhaften Universalmobilmachung ein zögerndes Paroli. Ihr genuines Interesse gilt der Deutung des schwerlich zu vermeidenden Verlusts, auf den die Neuzeit zunehmend psychotisch reagiert. Wirklich aufgeklärte Dichtung arbeitet an der Sabotage des Weltlaufs, dem die Tugend sich angeglichen hat.

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Cf. G. B. Pfeil: 1. c., p. 187: „Aber welche Handlungen wird man also [fürdas bürgerliche Trauerspiel, J. H.) wählen müssen? diejenigen, welche des Tragischen fähig sind. Und welche sind die? diejenigen, aus denen der Verlust des Lebens, der Ehre, des Glücks herrühren können." 51 Cf. zur Verstrickung von Verlust und Lust L. Binswanger: Melancholie und Manie. Pfullingen 1960. 52 Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844); in: MEW Bd. 1. Berlin 1973, pp. 539 ff. 53 M. Horkheimer/Th. W. Adomo: 1. c, p. 19.

2. Charaktermasken Subjektivität als Traum und Trauma bei Jean Paul und Marx Zwei Berge gibt es auf denen es hell ist und klar, den Berg der Tiere und den Berg der Götter. Dazwischen aber liegt das dämmerige Tal der Menschen. Wenn einer einmal nach oben sieht, erfaßt ihn ahnend eine unstillbare Sehnsucht, ihn, der weiß, daß er nicht weiß nach ihnen die nicht wissen, daß sie nicht wissen und nach ihnen, die wissen daß sie wissen. Paul Klee Ohne Gewaltsamkeit kann es - naturgemäß oder kulturgemäß - nicht abgehen, wenn der Weltlauf das Niveau der Tugend erreichen und die Tugend die Schaltstelle des Weltlaufs besetzen soll. Die Jakobiner waren wohl die ersten, die zugleich Weltpolitik (auch im Sinne von weltlicher Politik) machen wollten und dabei der eigentümlichen Idee verfielen, sich auf der Bühne der Welt selbst mit dem Etikett zu versehen, sie seien - anders als ihre Feinde - tugendhaft: tugendhafte (Welt-)Bürger eben. Daß sie sich als tugendhafte Charaktere nur maskierten, war alsbald ein gängiger Vorwurf. Das Wort,Charaktermaske' mag in solchen Kontexten entstanden sein, um die Spannung zwischen einem unverwechselbaren, individuierten Charakter einerseits und reproduzier- bzw. austauschbaren Masken andererseits zu benennen. Zuerst belegbar ist der Begriff (bislang) jedoch erst im Werk von Jean Paul (jedenfalls will es so das Grimmsche Wörterbuch). Kein anderer als Jean Paul, dessen komplexe Prosa Marx nicht eben sonderlich schätzte, dürfte dem klassischen Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft jenen Begriff souffliert haben, in dessen Zeichen die neuere Rezeption des Kapital mehr oder weniger bewußt steht: eben den der Charaktermaske. Wenn die Vermutung über den Ursprung dieses Begriffs zutreffen sollte, läge eine bemerkenswerte Verkehrung vor: auseiner kritischen Charakterisierung der jakobinischen Vermischung von Tugend und Weltlauf wäre alsbald die polemische Charakterisierung bürgerlicher Rollen-, Sach-und Verdinglichungszwänge geworden. Und wenn darin tiefere Weisheit läge? Wenn beide, der revolutionär wie der kapitalistisch mobilgemachte Bürger, an ein und demselben Projekt mitarbeiteten?

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I. CHARAKTERMASKEN

Seit Lukäcs' Hinweis auf diese „sehr wichtige Kategorie"1 in Geschichte und Klassenbewußtsein kommt dem Terminus .Charaktermaske' im Rahmen neomarxistischer Theoriebildung die methodische Funktion zu, Politökonomie und Soziologie gegenüber dem Erklärungspotential der Subjekttheorien und besonders der Psychoanalyse konkurrenzfähig zu halten. So wie Freud die Logik des Begehrens als eine dem Subjekt unbewußt induzierte zu dechiffrieren versuchte, so bemüht sich eine Gesellschaftstheorie, die mit Hilfe des Begriffs .Charaktermaske' die Tiefenstruktur von Verdinglichung enträtseln und benennen möchte, um ein Verständnis der kollektiven „Unbewußtheit über die eigene gesellschaftlich-geschichtliche ökonomische Lage"2. Das Kapital und die Traumdeutung teilen die Einsicht in die Dissoziation des (Gattungs-)Subjekts, dem sich die irreduzible Spaltung von Wissen und Nichtwissen, von Bewußtem und Unbewußtem, von Sagen und Meinen immer schon eingebildet hat. Kaum zufällig sind Aussagen aus Marxens Feder wie: „Was er nicht weiß, sagt er jedoch"3, oder: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es"4, Sätze, die für zwangsneurotische Analysanden und Träumer ebenso charakteristisch sind wie für die Gemeinschaft der Warentauschenden. Marxismus und Psychoanalyse sind in der Mitte bzw. am Ende des 19. Jahrhunderts die neuen szientifischen Diskursformationen, die die unüberwindbare Krise des transzendentalphilosophischen Theorems von der vollen Selbstpräsenz des sich wissenden Subjekts anzeigen: sie bereiten dem selbstbewußten Subjekt ein Ende. In Jean Pauls Prosa, die ein tiefes Bewußtsein von den tiefenstrukturalen Nöten des Selbstbewußtseins hat5, finden sie eine poetisch antizipierte Entsprechung und - eine analytische Ergänzung. Dem notorischen Vielleser Marx6 ist die geschichts- und bewußtseinsphilosophische Brisanz des Begriffs .Charaktermaske' bei Jean Paul kaum entgangen. Seine Verwendung opponiert Goethes berühmter, emphatischer und stets erneut zitierter Wendung „Individuum est ineffabile, woraus ich eine Welt ableite"7. Denn schon der bloße Begriff .Charaktermaske' diagnostiziert nichts geringeres als die Gegenstandslosigkeit des klassischen Spruchs8. Die Dekonstruierbarkeit 1

G. Lukäcs: Geschichte und Klassenbewußtsein. Berlin 1923, p. 62 sqq. Ibid., p. 63. 3 Marx: Das Kapital, MEW 23, p. 65. 4 Ibid., p. 88. 5 J. Trabant: „Bewußtseyn von Nöthen - Philologische Noüz zum Fortleben der Kunst in Adornos Ästhetischer Theorie", in: Sonderband von Text + Kritik über Th. W. Adorno. München 1977, pp. 130-136, hat auf Adornos Lesefehler, der aus Hegels Formel „Die Musik [...] hat keinen geistigen Stoff im Bewußtsein vonnöten" („von Nöthen" in Hothos Edition der Hegeischen Ästhetik) ein ästhetisches „Bewußtsein von Nöten" werden läßt, hingewiesen. 6 Cf. S. S. Prawer: Karl Marx and World Literature. Oxford 1976. Zur Jean-Paul-Lektüre von Marx cf. pp. 116, 174,414,420. 7 Goethe am 20. 9.1780 an Lavater; in: Briefe, HA Bd. 1. Hamburg 1968, p. 325. 8 . . . der so klassisch eben nicht ist: bis heute ist es nicht gelungen, die Quelle zu erschließen, auf die Goethe sich zu berufen scheint: „Hab ich dir das Wort / Individuum 2

2. SUBJEKTIVITÄT ALS TRAUM UND TRAUMA

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des Individuums ist ein ständig kopräsentes Thema des Kapital. Es spricht dem immer schon politökonomisch sozialisierten Menschen wie der Ware unmittelbare Selbstreferentialität ab; und diese Kritik teilt Marxens Hauptwerk mit der Prosa Jean Pauls, die - anders als Marx gleichsam von innen her kritisierend die von Fichte behauptete Unhintergehbarkeit der Identität des Subjekts mit sich selbst als euphorisches Mißverständnis darstellt: „In gewisser Art geht's dem Menschen wie der Ware. Da er weder mit einem Spiegel auf die Welt kommt noch als Fichtescher Philosoph: Ich bin ich, bespiegelt sich der Mensch zuerst in einem anderen Menschen. Erst durch die Beziehung auf den Menschen Paul als seinesgleichen bezieht sich der Mensch Peter auf sich selbst als Mensch."9 Subjektivität und Ware korrelieren einander. Beide sind Elemente einer Ordnung des Symbolischen, die ihnen uneinholbar vorausliegt und ihnen ihren Ort anweist. Immer schon auf anderes bezogen, erfahrt das zur Ware gewordene Ding seinen Wert erst im symbolischen Medium der „Warensprache"10, die es seiner Unverwechselbarkeit beraubt. Erst „im Umgang mit anderer Ware", erst im universalen Tausch gewinnt das Ding seine Wert-Identität; und einzig in der Mittelbarkeit symbolischer Relationen profiliert sich das Warending als ein gesetztes, von dem Hegels universale (weil überhaupt entgegengesetzte Elemente in einen identischen, sie übergreifenden Zusammenhang vermittelnde) These gilt: „Jedes ist nur das Entgegengesetzte des Anderen, das eine ist noch nicht positiv und das andere noch nicht negativ, sondern beide sind negativ gegeneinander. Jedes ist überhaupt erstens, insofern das Andere ist; es ist durch das Andere, durch sein eigenes Nichtsein, was es ist; es ist nur Gesetztsein. Zweitens: es ist, insofern das Andere nicht ist; es ist durch das Nichtsein des Anderen das, was es ist; es ist Reflexion-in-sich. - Dieses beides ist aber die eine Vermittlung des Gegensatzes überhaupt, in der sie überhaupt nur Gesetzte sind."11 Die negativ gegeneinander sich profilierenden Waren, die durch das beliebig austauschbare Andere ihrer selbst, nicht durch ihr spezifisch Anderes ihre Wertform erst gewinnen, sind, was sie sind, durch dieses Andere, das sie als spezifisch Anderes zugleich negieren. Denn der anderen Ware kommt ebensowenig „Aseität" und Selbstmächtigkeit zu wie dieser; ihr Sein wird durch das Sein der anderen Ware ebenso vermittelt wie es umgekehrt jener anderen Ware geschieht. In der Relation von Waren aufeinander reproduziert sich derart die interne Identität und Differenz der einzelnen Ware, die Gebrauchs- und Tauschwert in sich vereinigt: „Der in der Ware eingehüllte innere Gegensatz von Gebrauchswert und Wert wird also dargestellt durch einen äußeren Gegensatz, est ineffabile / woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben?". Daß man die klassische Quelle bislang nicht fand, ist wohl kein Zufall: das ineffable Individuum ist eine Erfindung der späten Neuzeit. ' Marx: Kapital I, p. 67 sqq. 10 Ibid., p. 66 sq. 1 ' Hegel: Wissenschaft der Logik D, Werke, edd. Michel/ Moldenhauer, Bd. 6. Frankfurt a. M. 1969, p. 57.

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I. CHARAKTERMASKEN

d. h. durch das Verhältnis zweier Waren, worin die eine Ware, deren Wert ausgedrückt werden soll, unmittelbar nur als Gebrauchswert, die andere Ware hingegen, worin Wert ausgedrückt wird, unmittelbar nur als Tauschwert gilt. Die einfache Wertform einer Ware ist also die einfache Erscheinungsform des in ihr enthaltenen Gegensatzes von Gebrauchswert und Wert."12 Marx hat an dieser (und nicht nur an dieser) Stelle Hegels Wesenslogik deutlich zu konkretisieren, zu materialisieren versucht: das Nichtsein des Gebrauchswerts in der Warensprache des Tauschs ist das Sein des Tauschwertes. Und das Gesetztsein der einen Ware im Tausch ist zugleich das wertbestimmende Sein der anderen Ware. Jedes ist somit das andere seiner selbst. Verdeckt wird in diesem Zauberkreis des Tauschens und des Täuschens seine eigene Voraussetzung: die Distributionssphäre macht die Sphäre der Produktion vergessen. Bleibt der primäre Zwangscharakter von Arbeit, die der (nachparadiesischen) Natur die Herrschaft des Subjekts einschreiben möchte, hingegen Marxens Anathema, so pointiert die Warenfetischismustheorie um so militanter, daß „die universale Herrschaft des Tauschwerts über die Menschen [...] den Subjekten a priori versagt, Subjekte zu sein"13. Indem der zur „Warensprache" werdende Äquivalententausch der mannigfaltigen Unterschiedlichkeit der Dinge, die ihren Tausch ja erst motiviert, die Identität der Wertäquivalenz einbildet und damit ihre gedoppelte Gegensätzlichkeit zugleich freisetzt und in der „Vermittlung des Gegensatzes" zum fungiblen „Gesetzten" zurücknimmt, „erniedrigt" er „Subjektivität selbst zum bloßen Objekt"14. Und das nicht nur, weil die meisten Subjekte auf dem Markt ihre spezifische Ware (die Arbeitskraft) verkaufen müssen. Sondern grundsätzlich deshalb, weil die Tauschabstraktionen, wie A. Sohn-Rethel im Anschluß an Marx wohl am eindringlichsten zeigen konnte15, mit den Waren auch die Subjekte auf eben die Identitätskategorie verpflichtet, die sie sich (in jeder Weise „selbstbewußt") als Eigenleistung zurechnen möchten. Tauschend, im (Aus-) Tausch wird das Subjekt wie die Ware totalitätsbezüglicher „Bürger dieser Welt" und d. h. abhängiges Moment des Zusammenhanges, dessen Synthesis es zu leisten sich einbildet: „Durch ihre Wertform steht die Leinwand daher jetzt auch in gesellschaftlichem Verhältnis nicht mehr nur zu einer einzelnen anderen Warenart, sondern zur Warenwelt. Als Ware ist sie Bürger dieser Welt"16 -wie das Subjekt, das im Vollzug des Tauschs die bewußtseinskonstitutive Synthese von Begriff und Ding erfährt. War Marx „Verächter der Erkenntnistheorie"17, so 12

Marx: Kapital I, p. 75 sq. Th. W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6. Frankfurt a. M. 1973, p. 180 sq. 14 Ibid. 15 A. Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit - Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis. Frankfurt a. M. 1972 (2.) Cf. dazu J. Hörisch: Identitätszwang und Tauschabstraktion - A. Sohn-Rethels soziogenetische Erkenntnistheorie; in: Phil. Rundschau 1978. 16 Marx: Kapital I, p. 77. 17 Adorno: l . c p . 179.

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einzig deshalb, weil er intersubjektiv verbindliche Erkenntnis als Implikat des Warenverkehrs begreifen zu können glaubte. Nicht bloß Reflexion ist ein reflexiver Mechanismus. Man mag über das Denken denken und Bewußtsein von Bewußtsein haben können. Solche Aufstufungen sind jedoch kein human(istisch)es Privileg. Spätestens seitdem Geld den Tausch ständig muß begleiten können (und man also auch Geld kaufen und verkaufen kann), muß auch der Warentausch als eine prinzipielle und zugleich „funktional spezifizier[bare] Leistung [...] [analysiert werden], deren bei Bedarf wiederholte Erbringung in einem System erwartet werden kann"18, und die überdies selbstanwendungsfähig ist. Auch vom „Ich denke" kann bei Bedarf erwartet werden, daß es - wie die monetäre „Warensprache" - die „synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen"19 zu leisten imstande ist und sich zugleich seines „identischen Selbst bewußt"20 zu sein vermag. Die Ware und das Geld verhalten sich zueinander wie Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Luhmanns Verständnis reflexiver Mechanismen, Marxens Archäologie des Warentauschs und das transzendentalphilosophische Verständnis der Leistungen von Subjektivität entsprechen einander struktural in eigentümlicher Weise. Diese Strukturhomologie der reflexiven Mechanismen Warentausch und Subjektivität markiert die identische Ansprüchlichkeit radikal entgegengesetzter Theorien. Stellen beide Universalitätsanspruch, indem sie wechselseitig die konkurrierende Theorie als Implikat der eigenen Rekonstruktion auszuweisen bemüht sind, so sehen sich beide auf die Korrektur des Selbstverständnisses der alternativen Wissenschaft oder auf den Nachweis ihres eigenen logischen Primats verwiesen. Deshalb zielt die Verwendung des Charaktermaskenbegriffs im Kapital auf die Kritik eines ihren Gegenstand systematisch überfordernden transzendentalen Konstitutionsverständnisses von Subjektivität. Der Warenfetischismusanalyse stellt sich, jenseits des identitätsphilosophischen Zauberkreises [...] das transzendentale Subjekt als die ihrer selbst unbewußte Gesellschaft"21 dar. Die entfaltete Warentausch-Gesellschaft wird selbst zum machthabenden Supersubjekt; und die Subjekte, die die Gesellschaft eingesetzt zu haben glauben (wie paradigmatisch in Rousseaus Theorie des contrat social), erstarren zu bloßen Charaktermasken. An die gesellschaftliche Verkehrsform enteignet und als Arbeitskraft selbst zur Ware geworden, wird das produzierende und tauschende Subjekt (nach Marxens Analyse) in der entfalteten bürgerlichen Tauschgesellschaft zum bloßen „Repräsentanten von Ware" herabgestuft. Das Subjekt ist das, was eine Ware für eine andere Ware repräsentiert. „Der Inhalt [des] Rechts- oder Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben. Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher 18

N. Luhmann: Reflexive Mechanismen; in: Soziologische Aufklärung I. Opladen 1970, p.92. " Kant: KdrV, B 134. 20 Ibid., B 135. 21 Adorno: l . c . p . 197.

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I. CHARAKTERMASKEN

als Warenbesitzer. Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten."22. Als „personifiziertes Kapital"23 wird der Kapitalist zur entsubjektivierten „Wirkung des gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist", und „sein Tun und Lassen" ist eine bloße „Funktion des von ihm mit Willen und Bewußtsein begabten Kapitals"24. Delegierte der Kapitalist seine Subjektivität willig an die Selbstbewegung des Kapitals, so führt dieses nun über ihn Regie. Es wurde zum ihn übergreifenden autonomen Übersubjekt, dessen universale Geltung seine partikulare Genese eingeholt hat. Weder setzte der Kapitalist sich die Maske, in deren Zeichen er zu agieren genötigt ist, selbst auf, noch ist sie ihm ansichtig. Denn „die Menschen und ihre Verhältnisse [erscheinen] wie in einer camera obscura auf den Kopf gestellt"25, wenn sich die Relation zwischen Subjektivität und dem von ihr Konstituierten verdreht. Noch in dieser Verkehrung aber bleibt das Schema von Konstitution und Herrschaft erhalten. Sich vom oktroyierten Maskenzwang zu befreien ist der „ökonomischen Charaktermaske des Kapitalisten" dadurch verwehrt, „daß sein Geld fortwährend als Kapital funktioniert"26. Als bewußtseinskonstitutives Medium der Synthesis von Subjektivität und Objektivität unterläuft das Geld die tradierte Differenz von Subjekt und Objekt: es „hängt" die Charaktermaske „an eine[n] Menschen fest" und macht ihn dadurch zum bloßen Grenzwert der Warendinge. Aus dieser Universalisierung und Autonomisierung des Tauschwerts resultiert die - von Lukäcs übersehene27 - Universalisierung der Marxschen Semantik von ,Charaktermaske'. Sie bindet nicht länger nur die Sozialcharaktere des Kapitalisten an die Logik des Kapitals, sondern beschwört die Schreckensvision einer Gesellschaft, die alle Dinge wie alle Subjekte zu puren Masken ihrer überlegenen autopoetischen Eigenidentität macht. Ausdrücklich hat Marx „Gesellschaft als Subjekt"28 bestimmt. Der frühe Marx hat diese Formel von der Gesellschaft als dem eigentlichen Subjekt noch widerstrebend verwandt; zu nah schien sie ihm der spätidealistischen Hypostase einer Selbstbewegung des Begriffs zu sein, gegen die er das Theorem „positiver Wissenschaft"29 setzte, das „Empirie" für bewußtseinsirreduzibel erklärte. Dem Autor des Kapital aber schwant offenbar 22

Marx: Kapital I, p. 99 sq. Ibid., p. 618. 24 Ibid., p. 619. 25 Marx^ngels: Die deutsche Ideologie, MEW 3, p. 26. 26 Marx: Kapital I,p. 591. 27 Cf. J. Matzner: Der Begriff der Charaktermaske bei Karl Marx; in: Soziale Welt 15/ 1964, p. 134 sq.: „Bei Marx umfaßte die Charaktermaske sowohl Kapitalisten als auch Proletarier in ihrer entfremdeten Existenz [...] Bei Lukäcs dagegen bezeichnet die ,Maske' ein Bewußtseinsphänomen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft: die Charaktermaske bedeutet das notwendig ,falsche Bewußtsein' der bürgerlichen Klasse gegenüber dem totalitätsbezogenen Klassenbewußtsein des Proletariats." 28 Marx: Deutsche Ideologie, p. 37. 29 Ibid., p. 27. 23

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die Möglichkeit totaler, Gegenstände wie Personen umfassender Verdinglichung in einer Gesellschaft der allgegenwärtigen Sachzwänge, die zum „automatischen System" geworden ist: „Mit einem Wort, die verschiedenen Faktoren des Arbeitsprozesses - gegenständliche und persönliche - erscheinen von vornherein in den Charaktermasken der kapitalistischen Produktionsperiode."30 Die kapitalistische Verkehrsform wird also zum strukturalen Apriori des Erscheinens sowohl der Dinge als auch der Subjekte: die Menschen werden nicht, wie die Französische Revolution und Schillers emphatisches Chorlied es wollten, alle miteinander Brüder, sondern alle Dinge werden Waren und alle Subjekte mit- und gegeneinander Charaktermasken. „Das automatische System"31 der kapitalistischen, universell warentauschenden Gesellschaft, das an der Autonomisierungsstruktur der „großen Industrie" sein Modell hat, „vernichtete überhaupt die Naturwüchsigkeit, soweit dies innerhalb der Arbeit möglich ist, und löste alle naturwüchsigen Verhältnisse in Geldverhältnisse auf'31. Die Herrschaft des geldvermittelten Tauschs destruiert nichtnur jede Naturwüchsigkeit, sie setzt auch die „Entwicklung der Individuen zu totalen Individuen"32 frei. Das totale Individuum aber wird bloßes Element in dem „automatischen System" einer Gesellschaft, die selbst zum Subjekt wird - in einer bürgerlichen Gesellschaft, in der sich der Bürger totalisiert und d. h. zu Tode gesiegt hat, in einer Gesellschaft, in der die „Produktionskräfte" in „Destruktionskräfte (Maschinerie und Geld)"33 umgeschlagen sind. *

Marxens im Begriff, Charaktermaske' sich verdichtende Kritik an den enthusiastischen Mißverständnissen der transzendentalphilosophischen Subjekttheorie setzt (wie später Nietzsches Genealogie der Moral) einen vorbürgerlichen Inskriptionsbegriff von Subjektivität erneut ins Recht: Subjekte heißen Subjekte, weil sie höheren Gewalten unterliegen. Marxens terminologische Anleihe bei Jean Paul ist auch etymologisch gut motiviert. J. C. Adelungs kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart vermerkt s. v. „Charakter" sozialhistorisch Aufschlußreiches: „ 1. eine Figur, welche auf Papier, Erz, Steine usf. gemacht wird, von griech. charazein (eingraben). In dieser Bedeutung werden nicht nur abergläubig magische Zeichen noch Charaktere genannt, sondern diesen Namen führen auch die Zeichen, womit Fabrikanten, Kaufleute usf. die Waaren zu bezeichnen pflegen. Ja in der weiteren Bedeutung werden oft alle Schriftzeichen und Buchstaben mit dieser Benennung beleget."34 Mit den magischen Zeichen teilen auch die Zeichen, welche Waren signifizieren, die Eigenschaft, alles, was mit ihnen in Berührung kommt, zu bannen. Im Reich der 30

Marx: Das Kapital II, MEW 24, p. 388. Marx/Engels: Die deutsche Ideologie, 1. c., p. 60. 32 Ibid., p. 68. 33 Ibid., p. 69. 34 Bd. I, A-E. Leipzig 1793 (2.). Nachdruck, ed. H. Henne. Hildesheim 1970, p. 1323. 31

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I. CHARAKTERMASKEN

Waren herrscht der Zauber und das Geheimnis des Medusenblicks, der die eigene Leblosigkeit in die erstarrenden Angeblickten projiziert. Das Fetischismuskapitel des Kapital häuft denn auch magisch-mystische Vorstellungen; es handelt von den „metaphysischen Spitzfindigkeiten und theologischen Mucken" und dem „mystischen Charakter" des „sinnlich übersinnlichen" Warendings, vom „rätselhaften Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt", vom „Fetischcharakter der Warenwelt", in der alles zur „gesellschaftlichen Hieroglyphe", zum „Geheimnis", zum „verschleiernden" „Zauber und Spuk", zur universalen „Verrücktheit" wird35. Zu den folgenreichen Implikationen dieser Verrücktheit, die im Zeichen des Zeichencharakters der Ware steht, gehört, daß sie Intersubjektivitätsbeziehungen struktural wie Dingbeziehungen organisiert. Unter der Herrschaft des Tauschwertes ist es „das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, weichest. . .]fürsiediephantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt"3*. Zur Maske des Charakters, des magischen Zeichens der Ware, verdinglicht, erstarrt Intersubjektivität zur bloßen Tauschbeziehung und Subjektivität zur Charaktermaske. Im Grimmschen Wörterbuch wird dieser Begriff nur einmal belegt: „Charaktermaske f. das gesicht oder das äussere, diese charactermaske des verborgenen ich. J. P. aesth. 2,58"37. So exklusiv Jean Paul seinen offenbaren Neologismus verwendet, ohne ihn von zeitgenössischer Poesie oder Theorie adoptiert zu finden38, so gerne läßt er sich auf das parasemische Spiel dieses Begriffs ein. Seine Prosa ist ein Kabinett verfehlter Subjektivität, das die gespenstischen Derivate und Devianzen der verschiedenen möglichen Konstellationen des Kompositums „Charaktermaske" versammelt; in ihr versammeln sich Wachsfiguren, Doppelgänger, Scheintote, Spiegelbilder, Geister, Masken und Schizophrene. Alle mitsamt fliehen sie vor einer Identität, die sie als Zwang erfahren; alle mitsamt erfahren Subjektivität als Trauma; und alle zusammen träumen von einer befreiten Subjektivität, die ihre traumatische Selbsterfahrung hinter sich hat. All diese Fehlformen gelingenden Selbstseins sind nun ausgerechnet an der Verfassung von „Ichheit" (welch seltsame Zusammenstellung der unvertretbaren ersten Person Singular mit dem Allgemeinheitspostfix schlechthin!) entlang gestaltet und ge- bzw. verdichtet, wie Fichtes Wissenschaftslehre sie analysiert hat. 35

Alle Zitate referieren auf die Seiten 85-90 des Kapital I. Ibid., p. 86. Deutsches Wörterbuch, 2. Bd. Leipzig 1860, Sp. 612. Zitat aus Jean Paul, Vorschule der Ästheük, WW ed. N. Miller. München 31970, Bd. 5, p. 208. 38 Erst Eichendorff wird ihn wieder aufgreifen, cf. den Eichendorff-Essay in diesem Band. Alfred Meissners erfolgreiche Novellensammlung von 1862 steht unter diesem Titel und verhilft dem Wort zu einer gewissen Popularität. In den 1861 erschienenen pornographischen Memoiren einer Sängerin laßt sich die fiktive Autobiographin eine „Charaktermaske" anfertigen, um unerkannt an einer Orgie teilnehmen zu können. Noch in diesen Kontexten erweist sich ,Charaktermaske' als ein anti-subjektiver Begriff.

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Die Unhaltbarkeit dieses transzendentalphilosophischen Verständnisses von Subjektivität ist Jean Paul (wie den Frühromantikern39) bald aufgegangen. Das Ich der ersten Wissenschafislehre[n] ist nämlich derart paradox verfaßt, daß es in der Gleichung seiner selbst, in der Gleichung, die es ist (Ich = Ich), gleich dreifach und doch immer als dasselbe auftritt. Fichtes Ich ist, da es zugleich als die gesamte Identitätsgleichung und als deren Relate Wissendes und Gewußtes fungiert, sowohl hypertroph als auch mangelhaft. Hypertroph, weil es sich qua Wissendes als die Menge aller Mengen begreift, die sich selbst als Element enthält; und mit einem Mangel behaftet, weil es die endliche Bestimmtheit, die ihm qua Relatsein notwendig eignet, nicht von und aus sich selbst herleiten kann: was Relat ist, ist a priori nicht alles. Die Fülle des Ich ist also ursprünglich gespalten, das Ich ist nicht nur das andere seiner selbst, sondern wäre selbst nicht ohne den Mangel des Nicht-Ich, den es für seine „Theilbarkeit"40 verantwortlich macht. Jean Paul hat nicht gezögert, diese Teilbarkeit, diese Spaltung in äußerster Konkretion zu begreifen und d. h. psychopathisch auszugestalten: als den schwerlich zu vermeidenden Normalfall des Schizoidseins. Repräsentant dieser Gespaltenheit des Subjekts kann nur dasjenige Nicht-Ich sein, das selbst selbstbezüglich verfaßt ist. Denn einzig ein selbstbezüglich verfaßtes Nicht-Ich repräsentiert seinen Mangel, indem es ihn zu supplementieren und zu delegieren versucht. „Als scharfer Unitarier und Singularis"41 - wie die Clavis Fichtiana formuliert - macht Subjektivität die irritierende Erfahrung, zum Mangel der Fülle anderer Ichheit zu werden. „Ich bitte, find' ich besagte Ichs anderswo als in der von mir gesetzten natura naturata, in meinem breiten NichtIch als eingewürkte Figuren dieser unendlichen Hautelisse-Tapete, als Einschränkungen und Bestimmungen meines Noumenons, aber keines selber? Und geb' ichs zu, so können sie, diese meine eignen Emanationen und Drillingsoder vielmehr Sextillionen-Geburten, mich, wenn sie wollen, zu ihrem Fechser und Derivatum und Adjektivum herabsetzen, zum Stiftchen in der Mosaik ihres Nicht-Ichs." Wenn „fremde Ichs" von einer Subjektivität, die die Fülle des Seins restlos in Selbst- und Fremdbezügliches aufteilt, dem von ihr Konstituierten zugerechnet werden müssen, deshalb nur nach Analogie der Dingkonstituüon erfahrbar werden und also allenfalls als „heraldische Figuren im gemalten NichtIch" fungieren, so gerät sie selbst - nach Jean Pauls schöner Formel - mit diesen „fremden Ichs" in „systematischesElend"42. Wie seine „fremden Ichs" wird auch das Selbst des Subjekts zum „Derivativum" dessen, was es setzte; es wird sich selbst fremd. Im „toten Wachsfigurenkabinett menschlicher Gestalten", zu dem Intersubjektivität unterm Bann ihrer relationalen Auslegung verdinglicht, nimmt der vermeintliche „Unitarier und Singularis" selbst seinen Platz als Charakter39

Cf. dazu J.Hörisch: Die fröhliche WissenschaftderPoesie-Der Universalitätsanspruch von Dichtung in der frührornantischen Poetologie. Frankfurt a. M. 1976, Kap. 2 und 3. 40 Cf. J. G. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794); in: WW, ed. I. H. Fichte, Bd. I. Berlin 1845/46, p. 108 sqq. 41 Jean Paul: Clavis Fichtiana, WW 3, p. 1039. 42 Ibid., p. 1040.

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I. CHARAKTERMASKEN

maske ein. „Ringsum bin ich mit meinem Nicht-Ich umgeben, in das auch das tote Wachsfigurenkabinett menschlicher Gestalten eingebauet ist. Diese Wachsfiguren und Ahnenbilder könnt' ich eigentlich zerdrücken und zerreißen wie andere Charaktermasken (denn sie sind lediglich mein Produkt und ohne alle absolute Freiheit und Ichheit)."43 Die strukturale Gemeinsamkeit im Gebrauch des Begriffs , Charaktermaske' bei Marx und Jean Paul ist kaum zu übersehen: beide diagnostizieren (in meist pathologischen Termini) eine Enteignung von Selbstheit durch eine superiore Subjektivität, die sie zu ihrer bloßen Maske macht. Und beide vermuten, daß Subjektivität sich zwanghaft eben in dem Maße den Dingen angleicht, in dem sie sich ihnen gegenüber selbstbewußt als das schlechthin Andere des Seienden bzw. der Waren gesetzt hat. Das Kapital wie Jean Pauls Prosa lassen sich vom Begriff der ,Charaktermaske' überdies jene Inskriptionsmetaphorik („eingewürkte", „heraldische" Figuren) vorgeben, die die radikale Krise des transzendentalphilosophischen Subjektverständnisses anzeigt. Für sie gilt, daß ein „ich werde gedacht"44 dem „ich denke" vorausgeht, daß Subjektivität also transsubjektiv eingesetzt wird. Zur transsubjektiven Ordnung des Symbolischen, die die Logik des Subjekts bestimmt, rechnet Jean Paul wie Marx auch „das Geld, dieses metallne Räderwerk des menschlichen Getriebes, dieses Zifferblattrad an unserm Werte"45. Kaum ein zweites poetisches Werk um 1800 i st sich der ökonomischen Logik der gattungsgeschichtlichen Selbstgefährdung von Subjektivität so bewußt wie die Prosa Jean Pauls. Mit Hegels Rechtsphilosophie - Hegel verhalf dem Literaten bekanntlich zum philosophischen Ehrendoktor - teilt sie auch die Einsicht in die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, die (wie identitätsfixierte Subjektivität) ihr spezifisch Anderes freisetzt: Proletarisierung und Kolonialismus. Der Umstand, „daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern"46, wird auch im „sechsten Schalttag" des Hesperus als konsequenzenreiches Skandalon registriert. Die „Ungleichheit der Bürger" spiegelt sich monströs in der „Ungleichheit der Völker"47. Jean Pauls Traktat Über die Wüste und das gelobte Land des Menschengeschlechts analysiert und kritisert deshalb mit der bürgerlichen die koloniale Ausbeutung, deren strukturalen Zusammenhang auch Hegels Philosophie des Rechts sieht: „Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese bestimm43

Ibid., p. 1041. So „umschreibt" Jean Paul nicht, wie K. Brose (Jean Pauls Verhältnis zu Fichte; in: DVjs 49/1975, pp. 66-93) will, das Nicht-Ich der „Wissenschaftslehre" „durch ein anthropomorphes ,Du"' (p. 80), sondern thematisiert vielmehr umgekehrt die Verdinglichung des Du zum Nicht-Ich. 44 Jean Paul: Siebenkäs, WW 2, p. 481. 45 Ibid., p. 34. 46 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, WW 7. p. 390, § 245. 47 Hesperus, p. 871.

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te Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß usf. nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen."48 Jean Paul radikalisiert noch Hegels These vom Zusammenhang zwischen interner Spaltung (Proletarisierung) und externalisierter (Selbst-)Bedrohung (Kolonialisierung): „Bei der fürchterlichen Ungleichheit der Völker in Macht, Reichtum, Kultur kann nur ein allgemeines Stürmen aus allen Kompaß-Ecken sich mit einer dauerhaften Windstille beschließen. Ein ewiges Gleichgewicht von Europa setzt ein Gleichgewicht der vier übrigen Weltteile voraus, welches man, kleine Librationen abgerechnet, unserer Kugel versprechen kann."49 In der virtuellen Aufhebung der Arbeitsteilung sowie in der Rücknahme der Trennung von Produktions- und Aneignungslogik sieht Jean Paul (wie Marx) die Möglichkeit eines befreiten Gattungssubjekts: „Es kommt einmal ein goldenes Zeitalter, das jeder Weise und Tugendhafte schon jetzo genießet, und wo die Menschen es leichter haben, gut zu leben, weil sie es leichter haben, überhaupt zu leben wo einzelne, aber nicht Völker sündigen - wo die Menschen nicht mehr Freude (denn diesen Honig ziehen sie aus jeder Blume und Blattlaus), sondern mehr Tugend haben - wo das Volk am Denken, und der Denker am Arbeiten Anteil nimmt, damit er sich die Heloten erspare."50 Wenn Jean Paul dem Autor des Kapital trotz seiner divinatorischen ökonomischen und historischen Einsichten als „literarischer Apotheker"51 mißfiel, so mag dieser Umstand nicht nur in der häufig anzutreffenden Aversion gegen Affines begründet sein. Vielmehr scheint Marxens Ressentiment gegen den Souffleur eines seiner Schlüssel begriffe sachlich dadurch bedi ngt, daß die Prosa des „Ich-Tauchers"52 Jean Paul die Genese der Charaktermaske aus eben jenen Prozessen und Strukturen bestimmt, die unter dem Tabu der marxistischen Theorie stehen: Zeitlichkeit und Leiblichkeit gelten Jean Pauls Prosa als das Apriori, zu dem gesellschaftliche Verkehrsformen sich in unterschiedlicher Weise als Deckfiguren verhalten. Weil Dichtung die diskursive Lizenz hat, noch darüber handeln zu dürfen, worüber (gerade nach Kants Metaphysikkritik!) philosophische Argumente nur schweigen können, postuliert Jean Paul gegenüber philosophischen Erkenntnisansprüchen eine Überlegenheit der „Dichtkunst". Die athetische Verfahrensweise der Dichtung liegt nämlich der auf thetische Argumentationsfiguren fixierten philosophischen Begrifflichkeit so voraus wie die eigentliche Hochzeit der silbernen: „Seine [Viktors] Meinung war: ,die Dichter wären nichts als betrunkene Philosophen - wer aber aus ihnen 48

Hegel: Grundlinien, p. 391, § 246. Hesperus, p. 872. 50 Ibid., p. 873. 51 Marx: Rezension von Th.Carlyle (ed.): Latter-Day-Pamphlets(1850), MEW7,p. 256. Marxens satirische Formel läßt sich auf die Wendung des Siebenkäs beziehen, die die Vermittlung von „reisen und dozieren" als „transzendentale Reiseapotheke für die Seele" begreift (Siebenkas, p. 460). 52 M. Kommereil: Jean Paul. Frankfurt a. M. 1957 (3.), p. 16. 49

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nicht philosophieren lerne, lern' es aus Systematikern ebensowenig - die Philosophie mache nur die Silberhochzeit zwischen Begriffen, die Dichtkunst aber die erste'."" Dem Topos vom bacchantischen Dichter folgend, deutet Jean Pauls Prosa die Hochzeit, die Dasein konstituiert, als eine ursprüngliche Mesalliance. Im Dasein nämlich sind Selbst und Sein derart unvordenklich synthetisiert, daß sie Ichheit a priori zu „verunglücktem Dasein"54 disponieren. Systematisch verunglücktes Dasein ist so rätselhaft und unergründlich wie das Schrecklich-Schöne. Die argumentativen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Schönen, die seit Kants Kritik der Urteilskraft deutlicher noch als zuvor sind, entsprechen in eigentümlicher Weise den Schwierigkeiten der Analyse von Dasein. Das Ich erfährt sich, wenn es „Auskundschafter" in der „eigenen Seele [...] herumschickt"55, als jenes „miserable Je ne sais quoi"56, das die ästhetische und theologische Tradition der Daseinsdeutung seit Cicero und Augustinus als Anzeichen einer unvordenklichen Sphäre begriff. Jean Pauls Prosa nimmt nun aber die sich seit Moreto und Gracian durchsetzende Analogisierung von „Je ne sais quoi" und Glückseligkeit deutlich zurück, wenn sie der Formel ein „miserabel" voranstellt. Das „Je ne sais quoi" gilt Jean Paul nicht länger nur als Garant der Dignität ästhetischer Einsichten und der Unverwechselbarkeit ihrer Themen, die der „Logik" unzugänglich blieben57, sondern auch als Zeichen der unhintergehbaren Defizienz des Selbst. Wie den Reflexionen Fenelons wird der Prosa Jean Pauls die cartesische Cogito-Gewißheit selbst zum transcogitiven Rätsel, dem versagt bleibt, sich selbst eigentlich durchsichtig zu werden. Denn thetische Selbstreferentialität ist so strukturiert, daß sie ihr konstitutives Anderes, „die körperliche Leibeigenschaft des Geistes"58 und ihr eigenes endliches Sein nur verkennen kann. * Erkenntnis hat im Leib ihr unhintergehbares Apriori: „Ist denn nicht selber der Menschengeist (mit allen seinen unendlichen Himmelräumen) eingepfählt in einen fünf Fuß hohen Körper mit Häuten und malpighischem Schleim und Haarröhren und hat nur fünf enge Weltfenster von fünf Sinnentreffern aufzumachen für das ungeheuere rundaugige und rundsonnige All."59 Im ,„Leibapriori' 53 5

Hesperus, p. 841. " Siebenkäs, p. 68. 55 Ibid., p. 430. 56 Ibid., p. 347; cf. auch p. 367. 57 Cf. A. Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923). Nachdruck Darmstadt 1967. 58 Siebenkäs, p. 504; cf. Hesperus, p. 939: Diese Wachsstatue „ist die Nachtleiche - der verschlackte, der verkohlte Mensch - in solche starre Klumpen sind die Ich geklebt und müssen sie wälzen". " Selberlebensbeschreibung, WW 6, p. 1061 sq.

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der Erkenntnis"60, dessen Thematisierung zu den poetischen Innovationen Jean Pauls in der deutschsprachigen Prosa zählt61, wird die von Fichte nur hypostatisierte Bestimmtheitsbedingung des Bewußtseins ontologisch gewendet. Als Leib ist Sein dem Selbst, das zugleich sein Körper ist und seinen Körper hat62, so präsent, daß sich diese Dasein konstituierende Verschränkung zugleich ständig „verziffert und entziffert"63. Daß Sein selbst als Zeit verfaßt ist und sich auf dem Schauplatz des Daseins temporal auslegt, gilt der Prosa Jean Pauls als das primäre diskursive Ereignis, daskategorial zu verkennen er den philosophischen Konstitutionstheorien ständig vorwirft. Nicht die Unversöhnlichkeit von Geist und Endlichkeit, wie Kommerells Deutung will, sondern umgekehrt ihre vorgängige Verschränkung ist Jean Pauls großes und ständiges Thema. Den ursprünglichen Anlaß, sich selbst als „Je ne sais quoi" zu charakterisieren, erhält Subjektivität durch die rätselhafte Unableitbarkeit der ursprünglichen Verschränkung von Sein und Zeit. Ihr kommt selbst parasemische Dignität zu; denn sie ist es, die daseiender Subjektivität ihr Zeichen einbildet, sie „charakterisiert". Die symbolische Ordnung, die aus der Identität und Differenz der Erfahrung von Sein und Zeit resultiert, geht selbstbewußter Subjektivität uneinholbar voraus. Sie zu dechiffrieren, ihr Verweise auf Sein und Zeit zu entnehmen ist das barocke und in der Goethezeit seltsam anachronistische Projekt der Prosa Jean Pauls. Es steht um 1800 ziemlich vaterlos dar. Doch gerade Jean Paul hat (auch intellektuelle) Vaterlosigkeit stets als Chance begriffen. Gerade dann, wenn der ihn codierende „Allherrscher Vater nicht zu Hause" ist64, versucht der „Held" der Selberlebensbeschreibung durch „geistiges Selberstillen"65 im Reich der Signifikanten heimisch zu werden: er erfindet „neue Sprachen" und „neue Buchstaben"66, mit denen er sich zum „eignen Geheimschreiber und Versteckens-Spieler mit sich selber" macht. Eine präzise Selbstcharakterisierung von Jean Pauls Schreibweise. Sie ist dem Projekt verschrieben, „ein ganz neues Alphabet zusammenzusetzen]", das zum Logozentrismus der abendländischen Episteme eine Alternative entwickeln kann67. Jean Pauls Fichte-Kritik entwickelt - nicht zuletzt mit Hilfe des Begriffs .Charaktermaske' - Grundzüge einer solchen Alternative. Sie erinnert die 60

K.-O. Apel: Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik-Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht; in: Transformation der Philosophie II. Frankfurt a. M. 1973, pp. 96-127, bes. p. 99. 61 Cf. u. a. Hesperus, p. 712: „Oft besah er [Viktor] abends vor dem Bettegehen seinen bebenden Körper so lange, daß er ihn von sich abtrennte und ihn als eine fremde Gestalt so allein neben seinem Ich stehen und gestikulieren sah"; und ibid., p. 1099 sqq.: „Viktors Aufsatz über das Verhältnis des Ich zu den Organen". 62 H. Plessner: Lachen und Weinen; in: Philosophische Anthropologie, ed. G. Dux. Frankfurt a. M. 1970, pp. 11-172. 63 Cf. Selberlebensbeschreibung, p. 1060. 64 Ibid., p. 1054. 65 Ibid., p. 1055. 66 Ibid., p. 1059. 67 Cf. J. Derrida: De la Grammatologie. Paris 1967.

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zeitgenössische Hochkonjunktur des Logozentrismus an fast vergessene Dimensionen des Leib-Geist-Schemas, wenn sie von „Körpermasken"68 oder vom „Äußeren" als der „Charakter-Maske des verborgenen Ich"69 handelt. Weil einheitsfixiertes Selbstbewußtsein sein „Äußeres", sein Anderes und die vielen Anderen verdrängt, wird sie zur sich selbst undurchsichtigen Deckfigur von Heteronomie und Äußerlichkeit. Ichheit möchte sich zur reinen Innenwelt fügen. Diese Innenwelt aber ist das Revers von Verdinglichung; das selbstbewußte innerliche Ich wird in dem Maße zur Charaktermaske, in dem es aus der „Außenwelt' '70 flieht. Subjektivität aber kann nicht erfolgreich vor der Verschränkung von Sein und Zeit fliehen; denn eben diese transsubjektive Synthesis ist die Möglichkeitsbedingung auch ihres Selbstseins. Die charakteristischen Zeichen dieser Verschränkung von Sein und Zeit lesbar zu machen, statt von ihnen in eine vorgeblich unhintergehbare Selbsttransparenz zu fliehen -diesen Impuls möchte die „Lehre" der Romankunst Jean Pauls vermitteln: „Und überhaupt was heißet denn Lehren geben? Bloße Zeichen geben; aber voll Zeichen steht ja schon die ganze Welt, die ganze Zeit; das Lesen dieser Buchstaben eben fehlt; wir wollen ein Wörterbuch und eine Sprachlehre der Zeichen. Die Poesie lehrt lesen, indes der bloße Lehrer mehr unter die Ziffern als Entzifferungs-Kanzlisten gehört."71 In der poetischen Lektüre der bedeutsamen Verschränkung von Sein, Zeit und Selbst werden das Glück des exzentrischen Inneseins wie die Schrecken der Verdinglichung und der Zeitlichkeit zugleich erfahrbar. Ausnahmslos alle Romane Jean Pauls sind der Einsicht des, ,Helden'' der Selber lebensbeschreibung verpflichtet: „Der Tod [als] der eigentliche Schauspieldirektor und Maschinenmeister der Erde"72 erscheint als jene Folie des Mangels, vor der sich die vermeintliche Fülle noch des glückenden Selbstseins zurücknehmen muß: „Nie vergeß' ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei derGeburt meines Selbstbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeil anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht ,ich bin ein Ich' wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehenblieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen des Erinnerns sind hier schwerlich gedenkbar, da kein fremdes Erzählen in eine bloß im verhangnen Allerheiligsten des Menschen vorgefallne Begebenheit, deren Neuheit allein so alltäglichen Nebenumständen das Bleiben gegeben, sich mit Zusätzen mengen konnte."73 Dem Selbst, zwischen dessen

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Das Kampaner Tal, WW 4, p. 715. Vorschule der Ästheük, p. 208. 70 Zur Polarität von Innen- und Außenwelt im OEuvre Jean Pauls cf. H. Vincon: Topographie: Innenwelt und Außenwelt bei Jean Paul. München 1970. 71 Vorschule, p. 250. 72 Selberlebensbeschreibung, p. 1086. 73 Ibid., p. 1061. 69

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rauschhaft-narzißtischer Feier74 und Preisgabe die Figuren Jean Paulscher Prosa eigentümlich changieren, ist die „Maske des Todes"75 von Anbeginn an beigesellt. Sie zeigt die Apriorität der Zeitlichkeit an, die auch ihre vermeintliche Alternative zur ortlosen Maske werden läßt: „wo ist die Ewigkeit, die Maske der Zeit?"76 Ist die „Lücke im Wissen, Freuen und Tun"77 subjektkonstitutiv, so ist sie „diesem mangelhaften, gepeinigten Selbst"78 doch häufig genug so unerträglich, daß es seinen Mangel zu kompensieren versucht. Durch potenzierte Spiegelungen und Masken Wechsel, Wachsfigurenaufstellen und Rollenspiel, Scheinsterben und Auferstehung, Doppelgängersuche und Annahme mehrerer Namen bemühen sich die Helden Jean Pauls um eine Selbstvervielfachung, die den Mangel des einen Selbst ausgleichen soll79. Mit der Selbstpotenzierung aber wächst der Mangel, der sie initiierte, so daß von den Figuren Jean Pauls nicht gelten kann, was Kleists Erzählung Die Marquise von O. von der Fremdforderungen abweisenden Titelheldin aussagt: sie sind nicht „durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht"80, vielmehr verstricken sie sich „bodenlos" in einen Abgrund. Schopenhauer hat diese destruktive Bewegung auf die „Duplicität" zurückgeführt, die Individuen charakterisiert. Sind sie doch gleichermaßen „Subjekt des Erkennens" und „einzelne Erscheinung des Willens, [... ] der sich in jedem Ding objektiviert'': „Diese Duplicität unseres Wesens ruht nicht in einer für sich bestehenden Einheit: sonst würden wir uns unserer selbst an uns selbst und unabhängig von den Objekten des Erkennens und Wollens bewußt werden können: dies können wir aber schlechterdings nicht, sondern sobald wir, um es zu versuchen, in uns gehen und uns, indem wir das Erkennen nach Innen richten, einmal völlig besinnen wollen, so verlieren wir uns in eine bodenlose Leere, finden uns gleich der gläsernen Hohlkugel, aus deren Leere eine Stimme spricht, deren Ursache aber nicht darin anzutreffen ist, und indem wir so uns selbst ergreifen wollen, erhaschen wir, mit Schaudern, nichts, als ein bestandloses Gespenst."81 74

Cf. die von W. Köpke zusammengetragenen Belege in: Zusammensetzungen mit .selbst' bei Jean Paul; in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 1973. 75 Hesperus, p. 957. 76 Ibid., p. 604. 77 Ibid., p. 982. 78 Ibid.,p. 1110. 79 Diesen Prozeß und die ihm korrespondierende Erzählweise mißversteht B. Lindner (Jean Paul - Scheitern der Aufklärung und Autorrolle. Darmstadt 1976) als Inanspruchnahme „entschränkter Subjektivität" (pp. 7,227). Diese Formel trifft gerade, was Jean Paul im Prozeß des Erzählens dekomponieren will: an der Omnipotenz des Erzählers scheitert das erzählte Subjekt, das alles sein will. 80 Kleist: Die Marquise von O.; in: WW und Briefe, ed. H. Sembdner, Bd. 2. München 1961, p. 126. 81 A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Großherzog Wilhelm Emst Ausgabe Bd. I. Leipzig o. J., p. 371 sq. Fn. Cf. Jean Pauls Bemerkung über Schopenhauer: Vorschule, p. 507 sq.: „Schopenhauers Welt als Vorstellung und Wille, ein genialphilosophisches, kühnes, vielseitiges Werk voll Scharfsinn und Tiefsinn, aber mit einer

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Vor sich selbst und seiner reflexionslogischen Bodenlosigkeit, aus deren Leere endlich die Stimme des Anderen souffliert, erschaudert auch Leibgeber. Seinem programmatischen Namen kann er nicht gerecht werden: er hat sich seinen Leib nicht selbst gegeben. Und er wird vollends zum „bestandlosen Gespenst", wenn er mit seinem Doppelgänger über dessen Scheintod spricht. Leibgeber sah „zufällig in den Spiegel: ,Fast sollt' ich mich doppelt sehen, wenn nicht dreifach,' sagt' er; ,einer von mir muß gestorben sein, der drinnen oder der draußen. Wer ist hier in der Stube denn eigentlich gestorben und erscheint nachher dem andern? Oder erscheinen wir bloß uns selber? - He, ihr meine drei Ich, was sagt ihr zum vierten?' fragte er und wandte sich an ihre beiden Spiegelbilder und dann an Firmian und sagte:, Hier bin ich auch!' - E s lag etwas Schauerliches für seine Zukunft in diesen Reden, und Firmian, welchen mitten in seinem bewegten Herzen der kühlere Verstand den gefährlichen Wachstum dieser metamorphotischen Selberspiegelung durch die Einsamkeit des Reisens befürchten ließ, äußerte zärtlich besorgt: ,Lieber Heinrich, wenn du auf deinen ewigen Reisen künftig immer so einsam bliebest: ich fürchte, es schadet dir' ,"82 Der da sein Spiegel-„Facsimile" und seinen „verdoppelten" „Doppelgänger"83 nach seiner Identität befragt, ist selbst am Ort des ausgesparten Vierten. Im „gefährlichen Wachstum [seiner] metamorphotischen Selberspiegelung" potenziert sich die Rätselstruktur des „Je ne sais quoi" zu der Bedrohung, sich im Maße seiner Vervielfältigung zu verlieren. Der seinen Leib sich selbst gegeben zu haben suggeriert, muß erkennen, daß er zum „Selberaffen"84 geworden ist. Erst als Leibgeber nicht nur seinen Doppelgänger als einen anderen, sondern auch sich selbst als einen nichtidentischen zuläßt, löst sich die destruktive Logik seiner Selbstinflationierung auf: „Daraufsahen beide einander ins Gesicht, aber voll freudiger Zuneigung und ohne ein böses Nachgefühl des vorigen wilden Scherzes. Ein Dritter hätte in dieser Stunde sich vor ihrer Ähnlichkeit gefürchtet,

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oft trost- und bodenlosen Tiefe - vergleichbar dem melancholischen See in Norwegen, auf dem man in seiner finstem Ringmauer von steilen Felsen nie die Sonne, sondern in der Tiefe nur den gestirnten Taghimmel erblickt, und über welchen kein Vogel und keine Woge zieht. Zum Glück kann ich das Buch nur loben, nicht unterschreiben." Siebenkäs, p. 531. H. Keith (Spiegel und Spiegelung bei Jean Paul - Studien zu Sein und Schein in Persönlichkeit und Werk Jean Pauls. Diss. München 1965) hat die Spiegelszenen im Werk Jean Pauls zusammengestellt. Ibid., p. 532. Daß die Doppelgänger Siebenkäs und Leibgeber intime Freunde sind, muß angesichts der Geschiente des Doppelgängermotivs als Ausnahme gelten. Sie sind einander nicht nur „abgespaltene Personifikationen der als verwerflich empfundenen Triebe und Neigungen" (O. Ranke, Der Doppelgänger, in: Imago ffl/1914/Heft 2, p. 156), sondern zugleich auch Repräsentanten und Supplemente des Mangels des eigenen Selbst, so daß ihnen, die sich aus ihrer Nichtidentität verstehen (cf. das Zwillingspaar der „Flegeljahre"), „die Todesbedeutung des Doppelgängers mit der narzißtischen" positiv vermittelt ist (ibid., p. 150). Ibid., p. 532. Cf. G. Benns Klage über den „armen Himhund" in Untergrundbahn, GW 1, ed. D. Wellershoff. Wiesbaden 1960, p. 31.

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da jeder der Gipsabguß des andern war, aber die Liebe machte ihre Gesichter unähnlich; jeder sah im andern nur das, was er außer sich liebte." Der „Verwandlung des Ich ins Du, Er, Ihr und Sie"85, die durchgängiges Thema der Romane Jean Pauls ist, entspricht die seiner Prosa immanente Rechtfertigung des poetischen Mediums. Während der Diskurs der Selbstbewußtseinstheorie, deren argumentativer Stringenz auch die philosophische Prosa Jean Pauls standhalten will, seit Kants These, Sein sei kein reales Prädikat, Metaphysik zunehmend aus der philosophischen Theoriebildung ausgrenzt, erklärt die allegorische Deutungskunst Jean Pauls die Metamorphosen von Sein und Selbst zum poesiespezifischen Thema. Befand der zeitgenössische philosophische Diskurs implizit oder explizit, Sein sei theorieunfähig, so deutet der poetische Diskurs Jean Pauls die unvordenkliche Verschränkung von Sein, Zeit und Selbst als diejenige Struktur, die jeder Subjektivität vorausliegt. Subjektivitätstheorie kann kein Letztfundament liefern, da ihr Gegenstand selbst Inbegriff des Abkünftigen ist. Gerade angesichts des Scheiterns der zeitgenössischen Selbstbewußtseinstheorie kann Jean Paul wie die Frühromantiker Dichtung als „fröhliche Wissenschaft'l86 verstehen. Denn für Dichtung sind Sein und Zeit nicht etwa Anathemata, sondern zugleich Voraussetzung von (exzentrischem) Selbstsein und Ferment seiner Auflösung. Jean Pauls Romankunst begreift Subjektivität, die sich totalitär setzt, als eine traumatisch gespaltene Struktur, und sie träumt zugleich von einer Weisedes Selbstseins, die auf ihren Mangel nicht psychotisch reagiert: „Ewig dringen wir - als auf das Ur-Letzte und Ur-Erste - auf etwas Reales, das wir nicht schaffen, sondern finden und genießen und das zu uns, nicht aus uns kommt."87 Wenn die unter der Verdinglichung ihrer Subjektivität zur Charaktermaske leidenden Figuren Jean Paulscher Prosa sprechen: „Ich will sein, nicht haben"88, oder ausrufen: „Wie herrlich ists, daß man ist"89, so versuchen sie, die Struktur, die Charaktermasken hervorbringt, durch ihre gelassene Anerkennung außer Kraft zu setzen. Die Protagonisten Jean Pauls sind häufig überlaufende Rebellen. Sie zahlen den Preis jeder Weisheit: Einverständnis wenn nicht mit dem Weltlauf, so doch mit der mangelhaften Welt. Aus scharfen Kritikern der Gesellschaftsstrukturen, die Subjektivität zur Charaktermaske verdinglichen (1), werden Kritiker der Subjektivität überhaupt (2), um schließlich eine unkritisierbare Struktur, nämlich die der Verschränkung von Sein, Zeit und Selbst, als die logisch frühste auszuweisen, zu der die anderen sich wie Deckfiguren verhalten (3). Zwischen diesen drei Bedeutungsebenen oszilliert der Charaktermaskenbegriff bei Jean Pauls90, 85

Ibid., p. 416. Vorschule, p. 77. 87 Ibid., p. 444 sq. 88 Jean Paul: Titan, WW 3, p. 769. 89 Ibid., p. 273. 90 Cf. auch die Verwendung diese Begriffs in Dr. Katzenbergers Badereise (WW 6, p. 224) und im Hesperus (WW 1, pp. 803, 896, 953). 86

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während Marx allein die erste Variante thematisiert und warenanalytisch radikalisiert. Gerade diese Bedeutungsradikalisierung im politökonomischen Diskurs91 hat aber ihren Preis. Sie tabuisiert einen der Erfolgsgründe der Warenform: daß sie nämlich Zeit im unendlichen Tauschzusammenhang der Dinge wie der Subjekte zu bannen scheint. Marxens begriffliche Zuspitzung reagiert aber auch auf die Aporie, daß eine Deckfigur bedrohlicher werden könne als das, was sie vergessen machen will. Umgekehrt versuchen die Figuren der Jean Paulschen Prosa, Charaktermasken abzuschaffen, indem sie nicht länger bannen, was sie hervorgebracht hat. Die „fröhliche vergängliche Welt"92 gewähren lassend, hoffen sie auf die „Gnade, kein Ich mehr [. ..] sein"93 zu müssen. Die Befreiung vom Zwang des Selbstseins wird ihnen zur Chiffreder Erlösung; die Formel „Es ruht"94 zur begehrten Grabesinschrift. Mit dem konstitutionstheoretischen Verständnis von Subjektivität gibt Jean Pauls Prosa noch die Option für Rebellion preis, die dem Dilemma aller verbindlichen Kritik verhaftet bliebe, mit dem Kritisierten die Kategorien teilen zu müssen. Sie wird so rätselhaft wie ihr Thema, wenn sie sich als der andere Diskurs und als der Diskurs des Anderen versteht - des rätselhaften Engels95, der nimmt und nicht gibt.

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Marx selbst hat in den Vorarbeiten zu seiner Dissertation den Begriff der Charaktermaske auf unterschiedliche philosophische Diskurstypen bezogen; cf. MEW1, p. 215: „Es gibt auch Momente, in welchen die Philosophie die Augen in die Außenwelt kehrt, nicht mehr begreifend, sondern als eine praktische Person gleichsam Intrigen mit der Welt spinnt, aus dem undurchsichtigen Reiche des Amenthes heraustritt und sich ans Herz der weltlichen Sirene wirft. Das ist die Fastenzeit der Philosophie; kleide sie sich nun in eine Hundetracht wie der Cyniker, in ein Priestergewand wie der Alexandriner oder inein duftig Frühlingskleid wie der Epikureer. Es ist ihr da wesentlich, Charaktermasken anzukleben." 92 Siebenkäs, p. 275. 93 M. Kommereil: 1. c, p. 202. 94 Hesperus, p. 658. 95 Ibid., p. 1053.

3. Jean Pauls Sprach-, Wunsch- und Junggesellenmaschinen Jeder Essay ist die symbolische Etymologie eines paradoxen Begriffs. Friedrich Schlegel Die Sprache, der Wunsch, der Junggeselle und die Maschine zählen zu den randständigen, heiklen, eher vermiedenen Themen des traditionellen abendländischen Wissens. Ohne Vorbehalte thematisierbar wurden sie in der Regel nur um den Preis ihrer metonymischen Verschiebung: nämlich als Logos, als Begehren, als mönchische Unterwerfung unter den Willen des Herrn und als mechanisch-kosmologische Ordnung. Die Spuren dieser erst von Marx, Nietzsche und Freud1 zurückgenommenen Verschiebung lassen sich bis auf jene Gestalt zurückverfolgen, die der Verbindlichkeit ihrer so freundlichen wie despotischen Rede den Umstand verdankt, daß nach ihrem Namen die erste philosophische Epochenschwelle wie der erste folgenreiche Bruch in der tiefenstrukturalen Ordnung des Denkens benannt wurde: auf die Gestalt des Sokrates. In Sokrates verschränken sich eine neue Ordnung des Lebens und eine neue Ordnung des Diskurses zu einer Strukturhomologie: Sokrates lebt nicht länger als zölibatärer Weiser, und er begnügt sich nicht länger mit der aleatorischen Produktion philosophischer Aussagen, sondern bindet diese vielmehr, unablässig „ti estin /was ist das?" fragend, an die (heute selbstverständlich scheinende) referentielle Ordnung2 von Wahrheit und Unwahrheit. Mit der akademisch tradierten Hochschätzung des Sokratismus hat (nach Nietzsche) Walter Benjamin wohl am schärfsten gebrochen: „Die sokratische ist nicht die heil ige Frage, die auf Antwort wartet und deren Resonanz erneut in der Antwort wieder auflebt, sie hat nicht wie die reine erotische oder wissenschaftliche Frage den Methodos der Antwort inne, sondern gewaltsam, ja frech, ein bloßes Mittel zur Erzwingung der Rede verstellt sie sich, ironisiert sie - denn 1 2

Cf. P. Ricoeur: Die Interpretaüon. Frankfurt a. M. 1969, p. 46 sqq. Cf. H. Turk/F. A. Kittler: Einleitung zu: Urszenen - Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt a. M. 1977, p. 30. Zum Kontext cf. auch J. Derrida: La carte postale - De Socrate ä Freud et au-dela. Paris 1980.

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allzugenau weiß sie schon die Antwort."3 Indem er als Fragender die zulässige und haltbare Rede nach einer referentiellen Logik des Antwortzwangs ordnet, etabliert Sokrates auch eine „Erektion des Wissens"4 über die versammelten Dinge und Diskurse. Ihm ist „der Geistige" nicht mehr derjenige, „der ohne schwanger zu werden empfängt".5 War „Empfängnis ohne Schwangerschaft am tiefsten das Geistzeichen des männlichen Genius",6 so verkehrt der verheiratete Philosoph Einsicht zum Produkt eines den Regeln der symbolischen Ordnung folgenden Zeugungsaktes von referentiellen Aussagen. Und so verschiebt er „die Fülle der gedrängten Positivität [...] zu negierender Polemik"7. Nirgends wird die sokratische Engführung der Fülle des Seins, des Seienden und der Diskurse in eine Ordnung der Referenz und der Repräsentation8 deutlicher als an der eigentümlichen Korrespondenz zwischen den Dialogen Symposion und Kratylos. Beide Dialoge zeichnen nämlich jene Transformation nach, die der Fülle den Mangel einschreibt und sie so erst zu der repräsentativen und referentiellen Ordnung verhält, die im phallogozentrischen Zeichen einer „Erektion des Wissens" steht. Im Symposion feiert Aristophanes dionysisch überbordend die „ehemalige Natur" des nun gespaltenen Menschen, und in Piatons sprachphilosophischem Dialog beschwört Kratylos die Aleatorik einer Sprache, die noch nicht den Mangel falscher Rede kennt. „Nämlich unsere ehemalige Natur war nicht dieselbe wie jetzt, sondern eine ganz andere. Denn erstlich gab es drei Geschlechter von Menschen, nicht wie jetzt nur zwei, männliches und weibliches, sondern es gab noch ein drittes dazu, welches das gemeinschaftliche war von diesen beiden, dessen Name auch noch übrig ist, es selbst aber ist verschwunden. Mannweiblich nämlich war damals das eine, Gestalt und Benennung zusammengesetzt aus jenen beiden, dem männlichen und weiblichen, jetzt aber ist es nur noch ein Name, der zum Schimpf gebraucht wird."9 Seit Zeus, um diesen Übermut von „Gestalt und Benennung" zu strafen, den Menschen zweiteilte, repräsentiert Eros als der jüngste der Götter das Begehren, das erst als Folge des Mangels verständlich wird, den die Spaltung des androgynen Menschen mit sich brachte. Das Begehren ist also ein Resultat des Mangels des Begehrten, und die Liebe ist seit dieser urszenischen Spaltung das „Begehren dessen, das man nicht hat"10. Diese Antwort will jedenfallsdie sokratische Frage 3

W. Benjamin: Sokrates; in: GS II, Frankfurt a. M. 1977, p. 131. Ibid. Derrida wird diese Denkstruktur später als „Phallogo-zentrismus" charakterisieren. 5 Ibid. 6 Ibid. 17 W. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS 1,1. Frankfurt a. M. 1974, p. 212. 8 Cf. M. Heidegger: Logos (Heraklit, Fragment 50); in: Vorträge und Aufsätze. Teil III. Pfullingen 1967, pp. 3-25. ' Symposion 189 d. (Schleiermacher). Cf. dazu G. Krüger: Einsicht und LeidenschaftDas Wesen des platonischen Denkens. Frankfurt a. M. 1973 (4.) 10 S. Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie, übers. E. Hirsch. Frankfurt a. M. 1976, p. 4

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erzwingen, und Agathon kann sie auch nicht verweigern: Ist Liebe „Liebe von nichts oder etwas? -Freilich von etwas. -Dieses nun, habe Sokrates gesagt, halte noch bei dir fest in Gedanken, wovon sie Liebe ist, und sage mir nur soviel, ob die Liebe das, dessen Liebe sie ist, begehrt oder nicht? - Allerdings, habe er gesagt. - Und ob sie wohl schon habend, was sie begehrt und liebt, es begehrt und liebt, oder nicht habend? - Nicht habend, wie es ja scheint, habe er gesagt. - Überlege nur, habe Sokrates gesagt, ob es nicht statt zu scheinen vielmehr notwendig so ist, daß das Begehrende begehrt, wessen es bedürftig ist, oder nicht begehrt, wenn es nicht bedürftig ist. Mir wenigstens, Agathon, schwebt es gar wunderbar vor, daß dies notwendig so ist. Und dir wie? - Auch mir, habe er gesagt. - Wohl gesprochen."11 Wie Sokrates die intentionale Struktur des Begehrens, immer ein Begehren nach etwas zu sein, aus dem Mangel herleitet, den die Teilung des Androgyn mit sich brachte, so will er auch die Struktur der Rede darauf verpflichten, immer eine Rede über etwas zu sein. Das aber gelingt ihm nur, wenn er sie so zweiteilen kann wie Zeus den androgynen Menschen: in referentiell wahre und falsche Aussagen. Nur wenn ihr diese Binarität eingeschrieben wird, hört die Rede auf, „alles, pan, anzudeuten und immer sich umherzuwälzen und -zugehen [wie der Androgyn aus dem Symposion, J. H.!], und [zugleich] wahr und falsch"12 zu sein. Gegen diese sokratische Kastration des referentiell ungezügelten Redens hält Kratylos als der liebenswürdigste der Opponenten des Sokrates die schöne Immanenz einer Mannigfaltigkeit von Diskursen, die eine Referenz und einen Herrn der Rede sich ebensowenig oktroyieren lassen wie ihre Spaltung in Sätze propositionalen und kommunikativen Gehalts13. „SOKRATES: Ob dies etwa, daß man überhaupt nichts Falsches sagen könne, ob dies der Gehalt deines Satzes ist? Denn gar manche behaupten dies, lieber Kratylos, jetzt und auch sonst schon. / KRATYLOS: Wie sollte denn auch, Sokrates, wenn einer doch das sagt, was er sagt, er nicht sagen, was ist? Oder heißt nicht das eben Falsches reden, sagen, was nicht ist? / SOKRATES: Dieser Satz, Freund, ist für mich und mein Alter zu hoch. Doch aber sage mir nun dieses, hältst du etwa zwar das nicht für möglich, Falsches zu sagen, wohl aber sprechen? / KRATYLOS: Nein, dünkt mich, auch nicht sprechen."14 Wer spricht, spricht, was er spricht: wie sollte solches Sprechen falsch sein? Die Rede ist eine Rede, und Seiendes ist Seiendes; wer sagt, was er sagt, sagt, „was [sein Sagen] ist"-er sagt nämlich das Dasein dieser Rede aus: warum sollte man zwanghaft versuchen, beide, die Rede und das Sein (möglichst gar im Verhältnis 1:1) aufeinander zu beziehen und aneinander zu binden? Zählt die kryptische Antwort des Kratylos, die eine häretische Alternative zum abendländi11

Symposion 199 e-200 b. Kratylos 408 c. 13 Cf. J. Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz; in: J. Habermas/N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Frankfun a. M. 1971, pp. 101-141. 14 Kratylos 429 d. 12

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sehen Logos (ohne rechte Durchsetzungschancen) stiftete15, zu jenen wenigen glücklichen Augenblicken, die Sokrates als den Despoten der Rede blamieren, so besinnt dieser sich doch schnell auf den referentiellen Despotismus der Ordnung des Diskurses, die er eingesetzt hat, um eine ordentlichere Antwort zu erzwingen: „SOKRATES: Komm, laß sehen, Kratylos, ob wir irgendwie auseinanderkommen [man vergleiche wiederum das Motiv des getrennten, zweigeteilten Androgynen, J. H.]. Du gibst doch zu, daß ein anderes das Wort ist und ein anderes das, dessen Name es ist. / KRATYLOS: Das tue ich. / SOKRATES: Auch gestehst du, das Wort sei eine gewisse Nachahmung des Dings. / KRATYLOS: Auf alle Weise dieses."16 Seit der sokratischen Überwindung des reinen Wunsches, der zum Begehren des mangelnden, mangelhaften und abwesenden Begehrten wird, und der reinen Sprache jenseits von Wahrheit und Lüge17, die um den Chorismus von Wort und Sache zu einer neuen binären Logik verkümmert18, fügen sich sowohl der Wunsch als auch der Diskurs einer Ordnung des Symbolischen, die keine Produktion ohne Repräsentation mehr zulassen möchte. So überwindet die sokratische Obsession für eine Logik der Repräsentation auch jene asymbolischen Maschinen, die zum unverzichtbaren Inventar des vorsokraü'schen Mythos zählen. Hephaistos ist die produktivste dieser mythischen Wunschmaschinen; wie dem sterblichen Daidalos, als dessen göttliche Entsprechung er figuriert, ist ihm die Kraft eigen, potentiell unendliche Produktionsprozesse freizusetzen, deren Fülle jede symbolische Ordnung des Mangels sprengt. Dennoch sind die von Hephaistos produzierten Maschinen keine, die panischen oder gar paranoischen Schrecken verbreiten: „Goldene Mägde begleiteten stützend den König. / Lebenden Menschen waren sie gleich und blühten wie Jungfrauen, / Ja, sie hatten Verstand und Stimme des Menschen und Kräfte, / Hatten von den unsterblichen Göttern Künste gelernet; / Diese unterstützten den König."19 Auch Pindars siebte olympische Ode berichtet von beseelten Kunstfiguren auf Rhodos und Kreta, denen die Fähigkeit verliehen war, „in jeder Kunst die Erdenmenschen / Mit bestarbeitenden Händen zu übertreffen. / Und Werke, die Lebenden und Wandelnden ähnlich waren, / Trugen ihre Straßen, und tief war ihr Ruhm. /Bei einem, der sie recht versteht, / Ist auch die größere Kunstfertigkeit ohne Arg."20 Wie das rechte Verständnis reiner (referentiell ungebundener) 15 16

Cf. G. Genette: Mimologiques - Voyage en Cratylie. Paris 1976. Kratylos 430 a/b. Einer analogen Argumentation ist auch der Dialog Charmides verpflichtet, der Wahrnehmung und Erkenntnis gleichermaßen an eine referentielle Struktur bindet, so daß das Sehen des Sehens und das Erkennen des Erkennens gegenüber dem Sehen und Erkennen von etwas als „gänzlich unnütz" disqualifiziert werden (175 a). 17 Nietzsche; in: WW, ed. K. Schlechta, Bd. III. München 1966, pp. 309-322. 18 Cf. J. Derrida: De la grammatologie. Paris 1967 und für die Spätfolgen dieser Verschiebung seit dem 17. Jahrhundert M. Foucault: Les mots et les choses. Paris 1966. " Dias, übers, von Ch. und F. L. Stolberg, XVIII, vv. 418-422. 20 Pindar: Siegeslieder, ed. U. Hölscher, siebente olympische Ode, übers. W. Schadewaldt, Frankfurt a. M. 1962, IHc.

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diskursiver Produktivität ging auch die Arglosigkeit größter Kunstfertigkeit verloren. Die späteren (nachsokratischen) Produkte dieser Kunst - Homunculi, Androiden, Golems, lebende und liebende Statuen -verdanken ihre anhaltende Faszinationskraft ihrem Doppelcharakter: seit der Errichtung einer verbindlichen Ordnung des Symbolischen stehen sie einerseits ein für eine repräsentativ nicht restringierte Produktion - als Produkt einer auf unendliche (Er-)Zeugung ausgerichteten „Erektion des [herrschaftlichen, despotischen] Wissens" aber sorgen sie andererseits für paranoischen Schrecken. Für diese Ambivalenz steht paradigmatisch Goethes Homunculus ein. Mephistos ad spectatores gesprochene Schlußworte zur Homunculus-Szene weisen ihn selbst, den Bösen (Goethes Selbstdeutung in den Gesprächen mit Eckermann macht eindringlich darauf aufmerksam21), als einen der Väter des Kunstprodukts aus: mit Mephistos Hilfe hat der gelehrige Schüler Wagner den Homunculus mobil gemacht. Mephistos Worte beschwören auch die Möglichkeit, der „allerliebste Knabe", ein Junggesellenprodukt schlechthin, könne zur Bedrohung seiner Produzenten werden: „Am Ende hängen wir doch ab / Von Kreaturen, die wir machten".22 Auch die Akzentuierungen, die die kabbalistische Tradition der Golemerzählungen während ihrer allgemeinen Literarisierung um 1800 erfährt, betreffen vor allem die Destruktionskräfte des doch so deutlich symbolisch kontrollierten Produkts23: der Golem als tönerne Nachahmung der menschlichen Gestalt belebt sich erst dann und lebt nur so lange, wie ihm das hebräische Wort „vämät" (Wahrheit, Gott)24 auf der Stirn geschrieben steht; und er zerfällt zu Asche, wenn diese seine Inschrift des ersten Buchstabens beraubt wird - „mät" (er ist tot). Ein binäres Schema, das dem von wahr und falsch an Rigidität nicht nachsteht. Die weise Sage aber vergißt nicht hinzuzufügen, daß derjenige, der dem bedrohlich wachsenden und sich verselbständigenden Golem mit dem Laut „" ä" die Wahrheit und das Leben nimmt, unter der Last des Zerfallenden erdrückt werden kann. Eine vergleichbare Warnung halten um 1800 auch die romantischen Varianten der Pygmalionsage bereit. Sie kennen sowohl die erotische Verheißung, der begehrte, schöne, steinerne Frauenleib werde sich beleben und dem Junggesellen die Erfüllung seines Begehrens bei Umgehung der symbolischen Ordnung der Ehe gestatten25, als auch die düstere Perspektive, der Begehrende selbst werde sich der begehrten Statue angleichen und versteinern26. 21

J. P. Eckermann: Gespräche mit Goethe; Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche Goethes (Artemis) Bd. 24. Zürich 1976, p. 375. 22 Faust II, 2. Akt, Laboratorium. 23 Cf. etwa J. Grimm: Die Golemsage und C. Brentano, Erklärung der sogenannten Golem in der Rabbinischen Kabbala; in: K. Völker (ed.): Künsüiche Menschen. München 1971, pp. 7-9. 24 Cf.D.Michel: 'Ämat- Untersuchungen über,Wahrheit' im Hebräischen; in: Archivfür Begriffsgeschichte XII/1968, pp. 30-56. 25 Ovid: Metamorphosen, X, 240 ff. Cf. H. Anton: Mythologische Erotik in Kellers .Sieben Legenden' und im .Sinngedicht'. Stuttgart 1970, pp. 60-76 (Statuenzauber und Androgynie) und pp. 89-101 (Pygmalion und Galatea). 26 So noch in Hofmannsthals Frau ohne Schatten

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In der Literatur um 1800 wird dieses alte Bildschema in immer bedrohlichere Dimensionen hineingetrieben. Frankenstein wird schließlich zum Inbegriff der Androiden, die einmal ein Gegenprinzip zur sokratischen Abschaffung des vollen Sprechens und der Fülle des Seins darstellten. Zur Goethezeit verlieren die Androiden, die Golems, die Homunculi und die belebten Statuen in eben dem Maße ihre die herrschende Ordnung des Symbolischen sprengende Produktivität, wie diese auch ihnen, den Nicht-Menschlichen, ihre Regeln einzuschreiben vermag. Als paranoische und paranoisierende Maschinen27 marschieren sie, derart codiert, ins Standardrepertoire der schwarzen Romantik28 ein. Sie verbreiten auch deshalb Entsetzen, weil sie deutlich im geschichtsphilosophischen Zeichen beginnender „Maschinerie und großer Industrie" (Marx) stehen, die mißbraucht wird, „um den Arbeiter selbst von Kindesbeinen an in den Teil einer Teilmaschine zu verwandeln."29 Aus der Maschinerie, deren ungeheure Produktivität die vorkapitalistische Ordnung der Repräsentation sprengte und decodierte, wurde die „kapitalistische Gesellschaftsformation, [die] wohl effektiv decodierte Ströme ankurbelt und fließen läßt, aber die Codes durch eine noch zwanghaftere Bereicherungsaxiomatik ersetzt."30 So kann Marx als realhistorisches Analogon der literarischen Mensch-Maschine-Motive in der schwarzen Romantik ein „merkwürdiges Phänomen in der Geschichte der modernen Industrie" festhalten: daß nämlich „die Maschinerie alle sittlichen und natürlichen Schranken des Arbeitstags über den Haufen wirft"-alte Codierungen also auflöst-, dann jedoch die alte Utopie31 einer Überwindung von Repräsentation durch Produktion uneingelöst läßt, weil „das gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit in das unfehlbarste Mittel umschlägt, alle Lebenszeit des Arbeiters und seiner Familie in disponible Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals zu verwandeln."32 Die Vorstellung, „große Industrie" könne die Überfülle des Reichtums (mit Benjamin: die „Fülle der gedrängten Positivität") wiederherstellen und die repräsentativen Ordnungen des Mangels überborden, ist hartnäckig. Noch bei so 27

Cf. M. Praz: Liebe, Tod und Teufel - Die schwarze Romanük. Zwei Bände. München 1970. 28 Zur Geschichte der Golem-, Homunculi- und Androidenmoüve cf. u. a. Konrad Müller: Die Golemsage und die Sage von der lebenden Statue; in: Mitteilungen der schlesichen Gesellschaft für Volkskunde XX/1918, pp. 1-40; R. Summen (ed.): Der mechanische Mensch - Texte und Dokumente über Automaten, Androiden und Roboter. Zürich 1967; SigridMayer:Golem-Die literarische Rezeption eines Stoffes. Bern 1975; John Cohen: Golem und Roboter - Über künstliche Menschen. Frankfurt a. M. 1986; H. Swoboda: Der künstliche Mensch. München 1967; L. Wawrzyn: Der Automatenmensch. Berlin 1976; R. Drux (ed.): Die lebendige Puppe - Erzählungen aus der Zeit der Romantik. Frankfurt a. M. 1986. 29 Marx: Das Kapital I. MEW 23. Berlin 1969, p. 445. 30 G. Deleuze/F. Guattari: Anti-Ödipus - Kapitalismus und Schizophrenie I, üben. B. Schwibs, Frankfurt a. M. 1974, p. 225. 31 Cf. Marxens Hinweis auf Aristoteles: 1. c, p. 430. 32 Ibid.

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unterschiedlichen Theoretikern wie Deleuze und Sohn-Rethel ist sie gegenwärtig. Marx hingegen schwante immerhin, daß zu den Effekten der asymbolischen Maschinen auch die „intellektuelle Verödung"33 zähle, die „durch die Verwandlungunreifer Menschen in bloße MaschinenzurFabrikationvonMehrwert[. ..] künstlich produziert" wird - eine Verödung von Subjekten zu Charaktermasken (s. das voranstehende Kapitel), die (wie die Golems) erneuter Codierung harren. Diesem Zusammenhang von verfehlter Produktion und mangelinduzierender Repräsentation, ja überhaupt der Hermeneutik des Mangels durch eine Poesie der Verausgabung von Zeichen ein Ende zu bereiten ist der ebenso subversive wie eschatologische Wunsch der Prosa Jean Pauls. *

Ce besoin de preter une signifiance psychique aux riens de la creation, qui produit les oeuvres inexplicables de JeanPaul Richter. Honori. de Balzac

„Im Kreiren aufzuhören und im Repräsentiren fortzufahren" (H/2,451 -Auswahl aus des Teufels Papieren)* sowie den zwanghaften Zusammenhang von Worten und Sachen aufzukündigen - so lautet formelhaft das Begehren, das zahlreiche Figuren der Prosa Jean Pauls charakterisiert. Sie, deren „Begierden [...] nur Abteilungen eines großen unendlichen Wunsches" (1/4,200 - Quintus Fixlein) sind, bemühen sich unablässig um eine Aufösung der Koppelung von Produktion und Repräsentation. Weil sieden „sokratischen" Zwang zu Referenz und Repräsentation als eine Zumutung erfahren, entwerfen sie fast obsessiv reine, nichtreferentielle Zeichensysteme.Alsderen Prototyp kann die Kempelische Sprachmaschine gelten, die zum exzentrischen Inventar beinahe aller Romane Jean Pauls zählt, seit er ihren Möglichkeiten und Aporien in dem frühen Text aus des Teufels Papieren nachdachte: „Unterthänigste Vorstellung unser, der sämtlichen Spieler und redenden Damen in Europa entgegen und wider die Einführung der Kempelischen Spiel- und Sprachmaschinen"35. 33 34

35

Ibid., p. 419 sqq. Die in Klammern stehenden Anmerkungen im fortlaufenden Text dieses Abschnitts beziehen sich auf die von N. Miller (für die 2. Abt. zusammen mit W. SchmidtBiggemann) edierte Ausgabe der Werke Jean Pauls (1. Abt. München 1959-63,2. Abt. München 1974 ff.). Die römische Zahl nennt die Abt., die arabische die Bandzahl, es folgt dann die Angabe der zitierten Seite und des Titels. Cf. auch den Aufsatz Jean Pauls Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz (D/2, 393—421). Cf. W. Schmidt-Biggemann: Maschine undTeufel-JeanPaulsJugendsatirennachihrer Modellgeschichte. Freiburg/ München 1975. p. 98 sqq.

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Über Wolfgang von Kempelens 1778 gebaute Sprachmaschine, ihr geglücktes Äußeres und ihren tatsächlich funktionierenden Mechanismus hat sich nicht nur Jean Paul, sondern neben vielen anderen auch Goethe halb ironisch und halb lobend geäußert36. Diese Maschine vermochte durch die Kombination von Blasebälgen und Dudelsäcken Vokale und durch Klappen schließende Handbewegungen Konsonanten so virtuos zu produzieren und zu verbinden, daß sie Wörter wie „Oper", „Astronomie", „Konstantinopolis" und Wendungen wie „Vousetes mon ami, je vous aime de tout mon coeur, venez avec moi ä Paris" hervorbringen konnte". In dieser nicht intentionalen, nicht subjektiven, unsinnigen Verbindung von Lauten stellt sich - nach Jean Pauls Deutung - die präferentielle Unschuld der rein aleatorischen Rede jenseits von Wahrheit und Lüge wieder her. So wie die Kempelischen Spielmaschinen „schwerlich betrügen können" (11/2, 183 - Unterthänigste Vorstellung), können sie auch nicht lügen. Eben deshalb aber bedrohen sie, wie Jean Paul sarkastisch anmerkt, jene Ordnung des Diskurses, die den „höfischen Spielern" und „redenden Damen" zur Lebensform geworden ist: „durch diese Maschinen wird nun tausend rechtschaffenen Gliedern des Staats, Offiziers, Edelleuten, eine Arbeit aus den Händen gespielt, bei der sie sich bisher ganz wol befanden, und deren Entziehung sie leider zum Rauben nöthigen kann." (ibid., 179 sq.) Anders als zeichenverwendende Subjektivität ist die Sprachmaschine nämlich nicht auf die „Doppelstruktur der Rede" verpflichtet, die aus der „ihr innewohnenden Reflexivität" resultiert. Ständig die „themenbestimmenden Geltungsansprüche" von Kommunikation überhaupt - „Wahrheit, Richtigkeit, Angemessenheit und Wahrhaftigkeit"38 - unterlaufend, sprengt die Sprachmaschine humane Sprachspiele, die auf intersubjektive und/oder thematische Referenz eingeschworen sind. Sie produziert statt dessen einen reinen Überschuß referenzloser Zeichen. Paradigmatisch geschieht dies im ersten Fruchtstück des dritten Bändchens des Siebenkäs, das wie alle Fruchtstücke eine Anarchisierung eindeutig ableitbarer und lokalisierbarer Erzähltechniken und-Perspektiven versucht und eine ständige „Verwandlung des Ich ins Du, Er, Ihr und Sie" (1/2,416) in Szene setzt. Dort berichtet der einem früheren Roman Jean Pauls entsprungene Briefschreiber Viktor, wie er „einst unter dem Essen [...] gemächlich [s]eine Sprachmaschine aufstellen und drehen" (ibid., 427) konnte. Dieser sehr ernste Scherz dezentriert alsbald eine Rede, die ihre despotische Struktur durch „Throninsignien und den Zepter der Unterredung" (ibid.) kundiut: 36

Cf.Hamburger AusgabederBriefeGoethes.Bd.II.Hamburg 1968,p.277:„Kempehns Sprachmaschine, welche Hofrat Loder besitzt und die zwar nicht sehr beredt ist, d>ch aber verschiedene kindische Worte und Töne ganz artig hervorbringt, ist hier, dirch einen Tischler Schreiber, recht gut nachgemacht worden." 37 Cf. W. von Kempelen: Mechanismus der menschlichen Sprache nebst der Beschreibung meiner sprechenden Maschine. Wien 1791. Abb. des Mechanismus bei R. Sinren: l.c.,p.56. 38 J. Habermas: Was heißt Universalpragmatik? In: K.-O. Apel (ed.): Sprachpragmitik und Philosophie. Frankfurt a. M. 1976, pp. 226,246.

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die Sprachmaschine bringt den Herrn der Rede aus seinem Konzept und wirft ihn aus seinem kommunikativen Rahmen. Auch Lenette (gleichfalls im Siebenkäs) stellt ihr Sprechen, ihre „Vokalmusik" ein, um statt dessen mit einfachen Haushaltsmitteln eine an der Kempelischen Mechanik orientierte „Sprachmaschine" zu konstruieren, deren konsonantische „Instrumentalmusik" den Herrn der Ehe und der Rede um den subjektzentrischen Verstand bringt: „Eine Frau vermags im ersten Zwiste noch nicht, sondern erst im 4ten, lOten, lOOOOten ist sie imstande, zugleich mit der Zunge zu verstummen und mit dem Torso zu lärmen und jeden Sessel, den sie wegschiebt, jeden Querl, den sie hinstreckt, zu ihrer Sprachmaschine und Sprachwelle zu verbrauchen und desto mehr Instrumentalmusik zu machen, je länger ihre Vokalmusik pausiert. Lenette Wendelin verrichtete und fragte alles so leise, als hätte ihr Ehe-Lehnprobst das Podagra und krümmte seine wunden Füße am zitternden Bettbrette." (ibid., 112 sq.) Die romanesken Sprachmaschinen Jean Pauls haben eine auffallende Lust daran, die Ordnung nicht nur der poetisch üblichen Rede um 1800 zu destruieren. Sie zerstören die (in diesem Falle: eheliche) Illusion einer herrschaftsfreien Kommunikation39, wenn sie zeigen, „wie weit bloßer Mechanismus dem Leben der Puppen nachkommen könne" (1/3, 244 - Titan), die von Menschen nicht immer sofort zu unterscheiden sind. Sie entwerfen aber auch Möglichkeiten eines „Gegendiskurses"40, für den nicht länger gilt: „dans toute societe la production du discours est ä la fois contrölee, selectionnee, organisee et redistribuee par un certain nombre de procedures qui ont pour röle d'en conjurer les pouvoirs et les dangers, d'en maitriser l'evenement aleatoire, d'en esquiver la lourde, la redoutable materialite."41 Diese eigentümliche Ambivalenz einer Angst und Befreiung verheißenden Sprachmaschine läßt sich auf eine biographische Urszene zurückführen, von der Jean Pauls Selberlebensbeschreibung berichtet: "Vier Stunden vor- und drei nachmittags gab unser Vater uns Unterricht, welcher darin bestand, daß er uns bloß auswendig lernen ließ, Sprüche, Katechismus, lateinische Wörter und Langens Grammatik. Wir mußten die langen Geschlechtsregeln jeder Deklination samt den Ausnahmen, nebst der beigefügten lateinischen Beispiel-Zeilen lernen, ohne sie zu verstehen. Ging er an schönen Sommertagen über Land: so bekamen wir so verdammte Ausnahmen wie panis piscis zum Hersagen für den nächsten Morgen auf, von welchem mein Bruder Adam, dem der ganze Tag kaum zu seinem Herumrennen und Kindereien aller Art zulangte, gewöhnlich kein Achtel im Kopfe übrig hatte. Denn nur selten erlebte er das G lück, so köstliche Deklinationen wie scamnum oder gar wie cornu in der Einzahl, wovon er allerdings jedesmal wenigstens die lateinische Hälfte trefflich herzusagen wußte, aufgegeben zu bekommen. Übrigens glauben Sie 39

Cf. J. Habermas: Vorbereitende Bemerkungen, loc. cit., und die daran geübte Kritik von H. Schnädelbach: Reflexion und Diskurs - Fragen einer Logik der Philosophie. Frankfurt a. M. 1977, p. 155 ff. 40 M. Foucault: Von der Subversion des Wissens, ed. W. Seitter. München 1974, p. 132. 41 M. Foucault: L'ordre du discours. Paris 1971, p. 10 sq.

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mir, meine Herren und Frauen, wars gar nichts Leichtes, an einem blauen Juniustag, wo der Allherrscher Vater nicht zu Hause war, sich selber in einen Winkel festzusetzen und gefangen zu nehmen und zwei oder drei Seiten von Vokabeln desselben Buchstabens und ähnlichen Klanges auswendig zu lernen, an einem blauen langen Wonnetag, sag' ich, war es nichts Leichtes, sondern mehr an einem weißdunkeln kurzen Dezembertag und man muß sich nicht wundern, wenn mein Bruder Adam desfalls immer Schläge von solchen Tagen davontrug. Professor dieser eigenen Geschichte darf aber den allgemeinen Satz aufstellen, daß er überhaupt niemals in seinem ganzen Schülerleben ausgeprügelt worden, weder gliederweise, geschweige vollends im ganzen; der Professor wußte immer das Seinige." (1/6, 1054) Der da, ohne sie zu verstehen, die Regeln der Produktion und Verbindung von Zeichen so virtuos erlernt, daß er der Einschreibung von Schlägen durch den „Allherrscher Vater" anders als sein Bruder entgeht, stellt sich als vollendete Sprachmaschine (und nicht etwa als empfindsam sprechendes Subjekt) dar. Jean Paul ist eben noch kein Produkt des neuen innerlichen, mütterlichen, sinnfixierten Sozialisationstypus42; sein Werk steht deshalb wie eine Ruine aus überwundenen Zeiten und fernen Kulturen, die den humanistischen Menschen noch nicht als unhintergehbare Größe etabliert hatten, neben den klassischen Werken der Goethezeit. Die endlose Prosa Jean Pauls sprengt das Formenensemble der klassischen Schreibweise: „fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist"43, so charakterisiert Schiller den bizarren Schriftsteller; und Goethe nennt den Weimar besuchenden Jean Paul schlicht einen „Chinesen in Rom"44. Die eigentümliche Produktivität dieses „Chinesen" ist auch darauf zurückzuführen, daß Jean Paul ganz ungewöhnliche Formen der Zeichenverwendung praktiziert: nämlich eine „reine Verausgabung"45 von Zeichen. Jean Paul hat die Einschreibungen, mit denen der „Allherrscher Vater" ihn zu einer auswendig lernenden Repetiermaschine macht, eigentümlich fortgeschrieben und diese Maschine weiterproduzieren lassen. Er hat, wenn der Vater „nicht zu Hause war", nicht etwa „draußen" gespielt, sondern vielmehr ein ganz „neues Alphabet zusammengesetzt]" (ibid., 1059) und sich so zu seinem „eigenen Geheimschreiber und Versteckenspieler mit sich selber" gemacht. In unendlichen Bewegungen des „Verzifferns und Entzifferns" (ibid., 1060) hat Jean Paul das Spiel der Zeichen ins „endlose Reich der Phantasie" (ibid., 1066) driften lassen. Die fremde und befremdende Schreibweise dieser unfreiwillig dissidenten, weil durchaus heteronom codierten Sprach- und Schreibmaschine setzt ein „Echo" frei, das „sich selber in das Unendliche nachhallt" (Jean Paul)46. Dennoch 42

Cf. dazu F. A. Kitüer: Dichter, Mutter, Kind. München 1991. Schillers Brief an Goethe vom 28. 6. 1796; in: Briefwechsel Schiller-Goethe, ed. E. Staiger. Frankfurt a. M. 1977, p. 217. 44 Goethe: Der Chinese in Rom; in: Werke, Berliner Ausgabe, Bd. 1, Berlin 1976, p. 365. 45 G. Bataille: Der Begriff der Verausgabung: In: Das theoretische Werk Bd. 1, ed. G. Bergfleth. München 1975, pp. 9-32. 46 Cf. K. Wölfel: „Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt" - Eine 43

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hat sie eine Entsprechung - wenn auch nicht im Reiche der Sachen und Sachverhalte. Der Referenz- und Subjektlosigkeit dieses Schreibens korrespondiert nämlich die Objektlosigkeit eines „großen und unendlichen Wunsches": „Es gibt eine Zeit der Sehnsucht, wo ihr Gegenstand noch keinen Namen trägt und sie nur sich selber zu nennen vermag." (ibid., 1077) Jener namenlose Wunsch, dessen „Wahrheit [...] nie in eine Relation und insbesondere in keine intentionale [tritt]"47, ist der pure Wunsch zu sein, um den die Figuren Jean Paulscher Prosa sich in unterschiedlicher Weise konstellieren. Er liegt der „Reihe von Verkleinerungen", die den Wunsch zu Begierden abteilen müssen, „ehe der Mensch genießet" (T/2,271 -Siebenkäs), so voraus wie die Intentionslosigkeit von Sein der Relationalität von Haben. Der Ausruf: „Nein, ich will sein, nicht haben" (1/3,769 - Titan), wird deshalb zum paradoxen Begehren all derer, „die alle Wünsche [hassen]" (ibid., 771), seit dem großen unendlichen Wunsch ein ihn spezifizierender und deshalb pluralisierender Mangel eingebildet wurde. Erziehung und Sozialisation besteht eben auch darin, Kindern den Satz ,Ich will alles und ich will es jetzt' auszutreiben und ihnen beizubringen, es sei vernünftiger zu sagen: ,Ich will dies und jenes so bald wie möglich'. Die „intensive Quantität"48 des schizoiden Wunsches, der alles jetzt will, kennzeichnet noch Albanos Ruf: ,„0 Gott', rief er, ,wie herrlich ist's, daß man ist!'" (ibid., 273) Albano huldigt mit diesem Ausruf der Fülle des Seins, die in „poetischer Schwelgerei und Willkür" (ibid., 276) ihre Entsprechung findet. Sein Freund und dämonischer Psychopompos aber macht dieser Euphorie ein Ende, wenn er, die bedrohliche Figur der Sphinx herbeizitierend, Albanos Ausruf auf seine verdrängte Voraussetzung befragt: ,„Wohl dir', sagt er, ,daß du so sein kannst und daß die Sphinx in deiner Brust noch schläft. Du weißt nicht, was ich will. Ich kannte einen Elenden, der sie recht gut schildern konnte. In der Brusthöhle des Menschen, sagt' er, liegt das Ungeheuer mit aufgehobenem Madonnengesicht auf seinen vier Tatzen und lächelt eine Zeitlang umher und der Mensch mit. Plötzlich springt es auf, gräbt die Krallen in die Brust, zerschlägt sie mit dem Löwenschweif und den harten Rügein und wühlt, drängt und tobt, und überall rinnt Blut an der zerritzten Brusthöhle. - Auf einmal legt es sich blutig wieder hin und lächelt wieder fort mit dem schönen Madonnengesicht. O er sah ganz blutlos aus, der Elende, weil das Tier so von ihm zehrte und durstig an seinem Herzen leckte." (ibid., 273) Das ganze Verständnis des rätselhaften Mangels, das die Sphinx noch dem poetisch schwelgenden Subjekt archaisch einzeichnet, erschließt sich nur denen, die wie die Personifikationen vollendeter Weisheit in den Romanen Jean Pauls sterben oder dem Tode verfallen sind. Sie treten durchweg als Lehrer auf Emanuel/Dahore und Dian wissen, daß in Umkehrung der frühen Begegnung des Ödipus und der Sphinx „nur der das Rätsel löst, welcher stirbt" (ibid., 311) Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie; in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 1/1966, pp. 17-52. W. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, I, c, p. 216. G. Deleuze/F. Guattari: 1. c, p. 26.

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und deshalb seine Lösung nicht weitergeben kann. Rätselhaft ist zumal, daß sowohl die Angst wie der große Wunsch und die reine Freude des (Da-)Seins objekt- und intentionslos sind. Dieser Konfiguration von „großem Wunsch", der intentionslos dem bloßen Sein gilt, rätselhafter Namenlosigkeit und jener Bewegung von „Verkleinerungen'' und Benennungen, die der Mangel des Todes der Fülle einschreibt, folgen alle Romane Jean Pauls. Sie suchen geradezu obsessiv nach Fluchtlinien aus dieser Verschränkung, und sie glauben sie in den Tönen zu finden, die nicht(s) bedeuten: „Im Menschen ist ein großer Wunsch, der nie erfüllt wurde; er hat keinen Namen, er sucht seinen Gegenstand, aber alles, was du ihm nennest, und alle Freuden sind es nicht; allein er kömmt wieder, wenn du in einer Sommernacht nach Norden siehst oder nach fernen Gebirgen, oder wenn du sehr glücklich bist. Dieser große ungeheure Wunsch hebt unsern Geist empor, aber mit Schmerzen: ach! wir werden hienieden liegend in die Höhe geworfen gleich Fallsüchtigen. Aber diesen Wunsch, dem nichts einen Namen geben kann, nennen unsre Saiten und Töne dem Menschengeiste - der sehnsüchtige Geist weint dann stärker und kann sich nicht mehr fassen und ruft in jammerndem Entzücken zwischen die Töne hinein: ja alles, was ihr nennt, das fehlet mir [ . . . ] / Der rätselhafte Sterbliche hat auch eine namenlose ungeheure Furcht, die keinen Gegenstand hat, die bei gehörten Geistererscheinungen erwacht, und die man zuweilen fühlt, wenn man nur von ihr spricht [...]." (l/\,116 -Hesperus) Die benennbaren Begierden sind bereits ein Resultat der Zerstückelung des „namenlosen ungeheuren Wunsches", und diese Zerstückelung ist ihrerseits ein Effekt der Unterwerfung des wünschenden Subjekts unter die Ordnung des Symbolischen. Eine Mangel-Logik des Begehrens und eine referenzgebundene Sprache sind Elemente einer Formation. Beide sind deshalb, wie Lacan deutlich gemacht hat49, aufeinander abbildbar, sie können gleichermaßen als differentielles, um Lücken und Mängel (des Begehrten, des Signifikanten) organisiertes System rekonstruiert werden. Zu einem starren (paranoischen Zwangs-)System aber fügen sich Begierde und Sprache erst, wenn der Mangel selbst als despotischer Signifikant in ihre Mitte tritt. Und dies geschieht (nicht nur im Titan) in Gestalt des leitmotivischen „Vaters des Todes" (1/3,147), der wie der steinerne Gast in Mozarts Oper die Romanfiguren in Angst und Schrecken versetzt. Er spricht sein „Vater-Nein" (ibid., 450) zu allen Formen des unordentlichen, nicht referentiellen Verlangens (paradigmaüsch zum Inzestverlangen), und er verwandelt so die schizoide in eine paranoische Sprachmaschine und den Wunsch in ein (doppelsinniges) Begehren des Anderen. Er läßt über diese Verbote, über dieses „VaterNein", über den/das „nom/n du pere", wie Jean Paul in bemerkenswerten Wendungen feststellt, den „Geist zum Despoten der körperlichen Dienstbarkeit" (ibid., 366) und den „Menschen sogar in seinen Begierden und Wünschen so systematisch" (1/1,982 - Hesperus) werden, daß er dem unnennbaren Wunsch

J. Lacan: Fonction et champ de la parole et du langage en psychoanalyse, in: Ecrits. Paris 1966, pp. 237-322.

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entsagt und sich mit dem „Auffinden und Ertragen bloß der kleinsten Lücke im Wissen, Freuen und Tun" begnügt (ibid.). Diesem Projekt, nach der Vertreibung aus der Fülle des Seins und der Rede durch den „Vater des Todes" die „kleinsten Lücken" aufzufinden, um die tödliche Leere zu vermeiden, hat sich Jean Pauls Romankunst verschrieben. Sie sucht nach einer semantischen Überlebenskunst. Wenn sie nicht in verrückten Sequenzen die „Fülle poetischer Schwelgerei" (1. c , p. 159) pflegt, ist sie dabei zumeist den Kompromißformeln des Traums verpflichtet - der metonymischen Struktur einer unendlichen Supplementierung und Reduktion des Mangels: „wie spielt aber der Traum und bedient sich der Metonymie, nämlich der causa pro effectu" (1/5, 390 - Vorschule der Ästhetik)?0 Zu Jean PaulsfrappantenAntizipationen des fortgeschrittensten Standes von Psychoanalyse51 zählt auch die Hochschätzung der Figur des Junggesellen. Immer wieder ist in der Literatur zu Jean Paul von der „zentralen Stellung der familialen Innerlichkeit bei unserem Autor"52 die Rede - eine Formulierung („unser Autor"), die mehr über den quasi familialen Wunsch der Interpretengemeinschaft als über Jean Pauls Werk verrät, das solcher familialen Vereinnahmung entspringt. So gut wie alle Helden und Heldinnen Jean Pauls sind nämlich geradezu militante Kritiker jener Form „despotischer [...] Liebe" (1/3, 664 Titan), die in den Institutionen von Ehe und Familie geschaltet wird. Ehe und Familie - dieser Aspekt steht im Zentrum von Jean Pauls Kritik - koppeln Wünsche, Begierden und Prokreationen an symbolische Gesetze. In Ehe und Familie, die den Namen-des-Vaters als despotischen Signifikanten53 weitergeben, werden der Mangel des Wunsches (das „Vater-Nein") und die Prokreation zu einer symbolischen Ordnung verschränkt, die den Subjekten ihren Ort und ihre Identität anweist. Dieser Zwangsverwaltung möchte die „sehr weit gehe[nde] [...] Ehescheu" (ibid.) der Protagonisten Jean Paulscher Prosa entkommen: „Linda konnte nicht einmal eine Freundin an den Traualtar begleiten; [...] sie nannte diesen den Richtplatz der weiblichen Freiheit, den Scheiterhaufen der schönsten freiesten Liebe und sagte, das Heldengedicht der Liebe werde höchstens zum Schäfergedicht der Ehe." (ibid.) Das „Schäfergedicht der Ehe", an dem Siebenkäs leiden wird, findet in dem Adamsbrief seines Junggesellenfreundes Leibgeber seine radikalste Alternative. Dieser Brief entfaltet einen fast deliranten Schizo-Diskurs, der nicht weniger als sämtliche Folgen der ursprünglichen paradiesischen Verbindung von Adam 50

Cf. J. Lacan: L'instancede lalettredans l'inconscient; Ecrits, 1.c, pp. 506-512, p. 511: „La Verschiebung ou deplacement, c'est plus pres du terme allemand ce virement de la signification que la mötonymie demontre et qui, des son apparition dans Freud, est present6 comme le moyen de l'inconscient de plus propre ä dejouer la censure." 51 Cf. B. Lindners Hinweis zur Antizipation psychoanalytischer Einsichten bei Jean Paul: Jean Paul - Scheiternde Aufklärung und Autorrolle. Darmstadt 1976. 52 P. Sprengel: Innerlichkeit - Jean Paul oder das Leiden an der Gesellschaft. München 1977, p. 20. 53 J. Lacan: Subversion du sujet et dialectique du desir; Ecrits, p. 812.

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und Eva rückgängig machen möchte. „Besessen setzt" dieser Brief dem Gedanken „nach", wie Welt und Leben aussähen, wenn Prokreation und Repräsentation nicht aneinander gekoppelt wären. Leibgebers irrer Brief anarchisiert schon in der Anrede die elementaren Strukturen der Verwandtschaft: „Mein lieber Bruder und Vetter und Oheim und Sohn! / Denn deine zwei Herzohren und zwei Herzkammern sind mein ganzer Sippschaftsbaum; wie Adam, wenn er spazieren ging, seine ganze künftige Blutverwandtschaft und seine lange niedersteigende Linie - noch ist sie nicht ausgegangen und zu Ende rastiert - bei sich führte, bis er Vater wurde und seine Frau zeugte. Wollte Gott, ich wäre der erste Adam gewesen! [...] Siebenkäs, ich beschwöre dich, laß mich diesem Gedanken besessen nachsetzen und im ganzen Briefe kein Wort weiter vorbringen, als was das Kniestück von mir als erstem Menschenvater weiter malt!" (1/2, 119 Siebenkäs) Der da die Ordnung des Diskurses und der Filiationen durcheinanderbringt und sich dabei den Doppelsinn von lat. „genus" (Knie, Geschlecht) zunutze macht, wäre gerne „der einzige Adam und Mensch folglich, [...] der erste und letzte Universalmonarch, wenn auch noch ohne Untertanen" (ibid., 120)54 gewesen. Und zwar deshalb, weil er dann den „Schuldzusammenhang von Lebendigem"55 (der darin besteht, zu benennen, zu zeugen und den Zusammenhang beider zu bezeugen) gleich anfänglich hätte enden lassen können. Gegen den Entschluß des wahren Adams, „sich zu kopulieren und dem Schicksal zur Säe- und Spinnmaschine des Leins und Hanfes, des Flachses und Wergs zu dienen" (ibid., 125 sq.), spricht er sich für die Möglichkeit aus, jenseits der Gesetze, die den Mangel des Realen und des Sprechens in einer symbolischen Ordnung sich einfinden lassen, die aleatorische Produktion der Produktion und der Zeichen zu betreiben. Diese antisokratische Leidenschaft ist Definiens der Junggesellenmaschine, deren kryptischer Traditionslinie56 die Werke Jean Pauls zugehören. So „unmöglich, unnütz, unverständlich [und] wahnsinnig"57 wie die Junggesellenmaschinen der von Carrouges freigelegten literarischen Tradition ist auch die des Siebenkäs strukturiert, „die das ganze Jahr lang nichts [tat], als all seine Marterkammern und Kreuzschulen an die Lustzimmer seiner Bagatelle anbauen und einfugen" (ibid., 113). DieserBauplankorresrxindiertdemdesGro/te/iG/as^-LaA/anee mise ä nue par ses Celibataires, mime von Marcel Duchamp58, in welchem ein 54

Cf. P. Altenberg: Auswahl aus seinen Büchern, ed. K. Kraus. Wien 1932, p. 135 sq.: „Der ,Einzige' sein ist wertlos, eine armselige Spielerei des Schicksals mit einem Individuum. Der, Erste' seinist alles! [...] Er weiß, die ganze Menschheit kommt hinter ihm! Er ist nur von Gott vorausgeschickt." 55 W. Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften; GS I, 1. Frankfurt a. M. 1974, p. 138. 56 Cf. M. Carrouges: Les Maschines celibataires. Arcanes 1954. 57 Ibid. 58 New York 1915-1923, Glas 272 x 170cm, Abb. in: R. Simmen: 1. c, p. 81. Eine ausführliche Deutung des .Grande Verre' versucht J. Suquet: Miroir de la Mari6e. Paris 1974.

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Marcel Duchamp, Le Grand Vene I Das Große Glas, 1915-23

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„Junggesellen-Apparat" an die „Domäne der Braut" angeschlossen wird. Wenn Siebenkäs, zu dessen Hochzeit der Junggeselle Leibgeber die häretische Festrede hielt, in der kinderlos bleibenden Ehe die Prokreation und die Unterwerfung unter die symbolische Ordnung verweigert (cf. auch die Bemerkungen zum „bräutlichen Opfer [...] [des] väterlichen Namens" (ibid., 39)), so produziert seine anti-ödipale Junggesellenmaschine eine „schizophrene Erfahrung intensiver Quantitäten im Reinzustand, die beinahe unerträglich ist - zölibatäre Größe und Elend als höchste Empfindungen, gleich einem Schrei zwischen Leben und Tod, ein Gefühl heftigen Übergangs, Zustände reiner und von jeglicher Formbestimmung entblößter Intensität."59 Eben jene Zustände erfüllen auch Siebenkäs im paradoxen Augenblick seines Scheintodes. Er beschert ihm nicht nur die Trennung von Lenette, sondern zugleich den „heftigen Übergang" seiner Identität auf die Leibgebers et vice versa (cf. Siebenkäs, 510-514). Als vollendet restaurierter Junggeselle, der „nach Belieben aus evolutionären, langfristigen Prozessen aussteigen [kann], indem [er] den eigenständigen Lauf dieser Prozesse, ihre relative Unveränderbarkeit nicht anerkennt, sondern zu bloßen Fiktionen der Spekulation erklärt"60, betritt Siebenkäs nach der geglückten anti-ödipalen Schizoisierung der symbolischen Ordnung erneut die Bühne des Daseins. Aus dem „nie endenden Gemurmel ohne Sinn"61, das von einer Überfülle des Sinns und der Sinne nicht immer zu unterscheiden ist und vor dem Jean Pauls Schreibweise ganz offenbar keine Berührungsangst hat, entspringt jene Subversion symbolischer Ordnungen, die den namenlosen Wunsch zum Begehren logifizieren. „Als geistlos bestimmt ist der Mensch eine Sprachmaschine geworden" (Kierkegaard)62, die in der sinn- und nutzlosen Junggesellenmaschine ihre erotische Entsprechung findet. Referenz-, Urteils- und funktionslos stehen die Sprach- und Junggesellenmaschinen Jean Pauls quer zur herrschenden Ordnung des Diskurses und des Begehrens. Beruht jede Ordnung auf Mechanismen der Verknappung63, die die Bedrohung unreglementierter Fülle (des Sprechens, des Wunsches und des Produzierens) bannen, so betreiben die Sprach- und Junggesellenmaschinen die Subversion der Verknappung, indem sie deren oberste Prinzipien sprengen: der Sprache wie dem Wunsch eine Referenz und ein Subjekt zu oktroyieren. „So weit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren ließe, ist es ihre Funktionslosigkeit. Sie verkörpern durch ihre Differenz von der verhexten Wirklichkeit negativ einen Stand, in dem, was ist, an die rechte Stelle käme, an seine eigene."64 * G. Deleuze/F. Guattari: 1. c, p. 26. B. Brock: Jungfrauenzeugung und Junggesellenmaschine; in: Ästhetik als Vermittlung. Köln 1977, p. 79. 61 S. Kierkegaard: Der Begriff der Angst; in: Die Krankheit zum Tode und anderes, ed. H. Diem/W. Rest. München 1976, p. 554. 62 Ibid., p. 65,555. 63 Cf. M. Foucault: 1. c, p. 28. 64 Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie, GS 7 Frankfurt a. M. 1972, p. 336 sq.

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Mehr als hundert Jahre nach Jean Paul hat sich, ähnlich „besessen" wie dieser, ein anderer Verfasser befremdlicher Prosa dem Junggesellenmotiv zugewandt: Franz Kafka. Doch die Charakterisierung dieser Figur könnte kaum unterschiedlicher sein. Für Kafka gilt Sysyphus als die verbindliche Personifikation des Unverheirateten (cf. Tagebücher, 400)65. In Kafkas Prosa hat sich das schizoid auf Fülle insistierende Moment des Junggesellenmotivs bei Jean Paul zur Trauer über Beziehungslosigkeit verschoben. „Der Junggeselle steht außerhalb unserer Menschheit, immerfort ist er ausgehungert, ihm gehört nur der Augenblick, der immer fortgesetzte Augenblick der Plage, dem kein Funken eines Augenblicks der Erholung folgt. [...] Er hat nur soviel Boden, als seine Füße brauchen" (ibid., 15 sq.). Wird der fast bodenlose Junggeselle Kafkas zum „Unglückswesen" (ibid., 27) - was die (Kafkas Poesie fast ausschließlich auf Deterritorialisierung verpflichtende) Deutung von Deleuze und Guattari66 verdrängt, so verliert die Junggesellenexistenz ihr alternatives, ihr antisokratisches Moment. Dennoch schreibt Kafka eine Prosa jenseits des Binarismus, den Sokrates stiftete. Im Hinblick auf das Junggesellenmotiv liegt es deshalb nahe, Kierkegaards „ekstatischen Vortrag" - Kafka kannte ihn bestens - jenseits von EntwederOder heranzuziehen:, ,Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es auch bereuen: heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen; entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides."67 Über die Vermittlung des heiratsphobischen Romantikdeuters Kierkegaard läßt sich die heiratsphobische Prosa Jean Pauls auch literaturhistorisch auf die Junggesellenkunst68 Kafkas beziehen. Denn Kafka hat sich kaum für die zölibatären Romane und Abhandlungen Jean Pauls, die übrigens das Kürzel „K" für Konjunktionen verweigernde Solipsisten gebrauchen69, um so intensiver aber für die Schriften Kierkegaards interessiert. Die in Klammern stehenden Anmerkungen im fortlaufenden Text dieses Abschnittes beziehen sich auf F. Kafka: Tagebücher, ed. M. Brod. Frankfurt a. M. 1967 (zit.: Tagebücher) oder auf F. Kafka: Sämtliche Erzählungen, ed. P. Raabe. Frankfurt a. M. 1970 (zit.: Erzählungen). G. Deleuze/F. Guattari: Kafka - Für eine kleine Litaratur, übers. B. Kroeber. Frankfurt a. M. 1976. S. Kierkegaard: Entweder-Oder, Hg. H. Diem/W. Rest. München 1975. p. 49. Kafkas erste intensive Kierkegaard-Lektüre von 1913 stand im Zeichen deT lebensgeschichtlich ähnlichen Verlobungsphobie, cf. H. Binder: Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka. Bonn 1966, pp. 85-90. Cf. Kafka: Briefe an Feiice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, ed. E. Heller/J. Bom. Frankfurt a. M. 1967, p. 445: „Die Rezension der .Betrachtung' von P. Friedrich" (Gleichnisse und Betrachtungen, in: Das literarische Echo 15/Heft 22/1913, p. 1547 sqq.) „ist sehr liebenswürdig, aber an sich nicht weiter bemerkenswert. Nur eine Stelle ist auffallend, es heißt dort [...]: ,Kafkas Junggesellenkunst' [...] Was sagst du dazu, Feiice?" Clavis Fichtiana, 1/3, p. 1040.

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Wie Jean Paul stilisiert Kafka den Junggesellen als eine Figur „außerhalb des Gesetzes, keiner weiß es und doch behandelt [ihn] jeder danach" (Tagebücher, 16). „Der Junggeselle [...] hat nichts vor sich und deshalb auch hinter sich nichts. Im Augenblick ist kein Unterschied, aber der Junggeselle hat nur den Augenblick" (ibid., 15). Der Junggeselle fällt aus der Welt des Gesetzes und der symbolischen Verbindlichkeiten heraus, er fällt dem Vergessen und damit der Vorwelt anheim. Als vorweltliche Gestalten70, die sich den Ordnungen des Symbolischen entziehen, stehen die Junggesellen Kafkas wie Kafkas Tiere71 vor der symbolischen Ordnung, die den vergessenen Repräsentanten des überwundenen Weltalters die erbetene Aufnahme verweigert. „Ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen, mit wilder Vorfahrens-, Ehe- und Nachkommenslust. Alle reichen mir die Hand, Vorfahren, Ehe und Nachkommen, aber zu fern für mich" (ibid., 402). So sind die Junggesellen Kafkas anders als die Jean Pauls Vergessene, nicht Entkommene: ,fias Unglück des Junggesellen /Es scheint so arg, Junggeselle zu bleiben, als alter Mann unter schwerer Wahrung der Würde um Aufnahme zu bitten, wenn man einen Abend mit Menschen verbringen will, krank zu sein und aus dem Winkel seines Bettes wochenlang das leere Zimmer anzusehen, immer vor dem Haustor Abschied zu nehmen, niemals neben seiner Frau sich die Treppe hinaufzudrängen, in seinem Zimmer nur Seitentüren zu haben, die in fremde Wohnungen fuhren, sein Nachtmahl in einer Hand nach Hause zu tragen, fremde Kinder anstaunen zu müssen und nicht immerfort wiederholen zu dürfen: ,ich habe keine', sich im Aussehn und Benehmen nach ein oder zwei Junggesellen der Jugenderinnerungen auszubilden. / So wird es sein, nur daß man auch in Wirklichkeit heute und später selbst dastehn wird, mit einem Körper und einem wirklichen Kopf, also auch einer Stirn, um mit der Hand an sie zu schlagen." (Erzählungen, 13) Eine doppelsinnige Handlung: sich mit der Hand an die Stirn schlagen, das ist die Geste der aufblitzenden Einsicht, das mag aber auch den Wunsch anzeigen, Hand an sich zu legen. In aller Deutlichkeit setzt Kafkas Junggeselle denn auch der Prokreationslust der Vermählten die hoffnungslose Selbstdestruktion entgegen: „Sein Wesen ist also ein selbstmörderisches, es hat nur Zähne für das eigene Fleisch und Fleisch nur für die eigenen Zähne. Denn ohne einen Mittelpunkt zu haben, ohne einen Beruf, eine Liebe, eine Familie, eine Rente zu haben, das heißt ohne sich im Großen gegenüber der Welt, versuchsweise natürlich nur, zu halten, ohne sie also durch einen großen Komplex an Besitztümern gewissermaßen zu verblüffen, kann man sich vor augenblicklichen zerstörenden Verlusten nicht bewahren. Dieser Junggeselle mit seinen dünnen Kleidern, seiner Betkunst, seinen ausdauernden Beinen, seiner gefürchteten Mietswohnung, seinem sonstigen gestückelten, diesmal nach langer Zeit wieder hervorgerufenen Wesen, 70 71

Cf. W. Benjamin: Franz Kafka- Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages; in: GS II, 2. Frankfurt a. M. 1977. p. 412. Cf. F. Tomberg: Kafkas Tiere und die bürgerliche Gesellschaft; in: Das Argument 6/ 1964 Heft 1/pp. 1-13.

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hält alles dies mit beiden Armen beisammen und muß immer zwei seiner Sachen verlieren, wenn er irgendeine geringe aufs Geratewohl fängt. Natürlich liegt hier die Wahrheit, die nirgends so rein zu zeigende Wahrheit. Denn wer wirklich als vollendeter Bürger auftritt, also auf dem Meer in einem Schiff reist, mit Schaum vor sich und mit Kielwasser hinter sich, also mit vieler Wirkung ringsherum, ganz anders als der Mann auf seinen paar Holzstückchen in den Wellen [ . . . ] er, dieser Herr und Bürger, i st in keiner kleineren Gefahr. Denn er und sein Besitz ist nicht eins, sondern zwei, und wer die Verbindung zerschlägt, zerschlägt ihn mit." (Tagebücher, 14) Jenseits jeder Verbindung arbeitet der Junggeselle an seiner Selbstdestruktion, um „die nirgends so rein zu zeigende Wahrheit" freizulegen, die seine „Betkunst" umwirbt. Als Betender und Vergessener steht der Junggeselle nicht länger im „Bann der Familie"72, derjenigen paradigmatischen Symbolinstitution, die die , JErbsünde [pflegt] - der Sünde einen Erben [zu machen]',73 und ihn zu benennen. Ohne der Suggestion zu erliegen, „Teil am Jenseits" (Erzählungen, 287 - Der Jäger Gracchus) zu haben, nimmt der Junggeselle auch am Diesseits kaum teil, um vielmehr „im Geheimen zu leben" (ibid., 266 - Blumfeld, ein älterer Junggeselle). Aus „Freude am Geheimnis [ist er] Junggeselle geworden" (Tagebücher, 129). Und dieser Freude ist der „vielleicht erlösende Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe, Tat-Beobachtung" (ibid., 406) verbunden. Seit der kritischen Edition der Tagebücher Kafkas steht fest, daß das Komma zwischen den Worten „Totschlägerreihe" und „Tat-Beobachtung" nicht aus Kafkas Feder stammt. So ist auch die Lesart möglich, ja naheliegend, die die Folge von Tat und Beobachtung bzw. Niederschrift als diskursive „Totschlägerreihe" begreift. Kafkas Prosa teilt den Impuls, aus dieser Reihe fester Verknüpfungen herauszuspringen, mit Jean Pauls Romanen. Und auch Kafkas Junggesellen sind meist Maschinen zugesellt, die nicht(s) bedeuten, aber um so ungebrochener funktionieren. Sie werden für Deutungsversuche, die unablässig nach dem Beziehungssinn von Kafkas Texten fragen, zum methodischen Dilemma. Kafkas vieldeutige Maxime „Zum letztenmal Psychologie!"74 zielt nämlich auf die Ersetzung der sokrati sehen Frage „Was bedeutet das?" durch die transsignifikante Frage „Wozu dient, wie funktioniert das?"75 Die letztere Frage ist auch die des „älteren Junggesellen" Blumfeld, dem sich, als er in sein Zimmer tritt, eine rätselhafte Szene darbietet: „Auf diesen Anblick war er nicht vorbereitet. Das ist ja Zauberei, zwei kleine, weiße blaugestreifte Zelluloidbälle springen auf dem Parkett nebeneinander auf und ab; schlägt der eine auf den Boden, ist der andere in der Höhe, und unermüdlich führen sie ihr 72 73

W. Benjamin: Kafka, 1. c, p. 414. Ibid., p. 412. Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, ed. M. Brod. Frankfurt a. M. 1953, p. 51. Cf. G. Deleuze/F. Guattari: Anü-Ödipus, 1. c , p. 230 und D. Kamper (ed.): Über die Wünsche - Ein Versuch zur Archäologie der Subjektivität. München 1977.

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Spiel aus. Einmal im Gymnasium hat Blumfeld bei einem bekannten elektrischen Experiment kleine Kügelchen ähnlich springen sehn, diese aber sind verhältnismäßig große Bälle, sie enthalten wahrscheinlich in ihrem Innern noch einige kleinere Bälle und diese erzeugen das klappernde Geräusch. Blumfeld greift in die Luft, um festzustellen, ob sie nicht etwa an irgendwelchen Fäden hängen, nein, sie bewegen sich ganz selbständig." (Blumfeld, 266) Rätselhaft funktionierend und keinem Signifikanten sich fügend, unterlaufen die atopischen Bälle jeden Versuch ihrer Stillstellung. Einer „blinden Sucht" (ibid., 270) verfallen, gehören die Bälle einer Vorwelt an, die Signifikate und Signifikanten nur als voneinander entschränkte kennt. Statt nach dem „Sinn des Worts" (Erzählungen, 139) zu fragen, reihen Kafkas Erzählungen „Bilder, nur Bilder"76. Sie wollen und können in dem Sinne nicht gedeutet werden, daß es sinnlos wäre, sie auf einen zentralen Sinn zu beziehen. Mit einer Huldigung an die zwischen Welt und Vorwelt wechselnde Gestalt der Persephone77 hat Goethe, Fragen reihend und Erscheinungen ausdrücklich unter Deutungsverbot stellend, den kategorienfreien Stand einer so gedachten Vorwelt, die noch nicht von einem zentrischen und referentiellen Sinn regiert wird, scheu zur Sagbarkeit verhalten: Köre

Nicht gedeutet! Ob Mutter? Tochter? Schwester? Enkelin? Von Helios gezeugt? Von wer geboren Wohin gewandert? Wo versteckt? Verloren? Gefunden? - Rätsel ist's dem Künstlersinn. [ -]78 Dem „Künstlersinn" auch von Kafkas Junggesellenkunst wird zum Rätsel, was jeglicher Bedeutung vorausliegt und sich so den relationalen Kategorien von Subjekttheorie und Hermeneutik entzieht. Nur, wenn es „nicht [im Rahmen der verbindlichen Ordnungdes Symbolischen] gedeutet" wird, hat das intentionslose „Rätsel" am Versprechen der Vorweltteil, „hemmungslosen Anteil [...] an der Intention der Erlösung" zu haben79. Nicht im Rahmen mythologischer, sondern profaner Bildlichkeit hat Goethe dieKonstellation von Atopie, subjektloser Maschine, Stille, Wunsch, zölibatärem Leben und Hoffnung verdichtet- im Dialog zwischen Junggesell und Mühlbach. In ihm wiederholt sich endlos jene Territorialisierungs- und Deterritorialisierungs76

G. Janouch (ed.): Gespräche mit Kafka - Aufzeichnungen und Erinnerungen. Erweiterte Ausgabe Frankfurt a. M. 1968, p. 54. 77 Auch die Junggesellen Kafkas „übersiedeln förmlich unaufhörlich, aber mit erwartender Gesetzmäßigkeit" (Tagebücher, p. 129). 78 Berliner Ausgabe Bd. 1. Berlin (Ost) 1976, p. 575. 79 W. Benjamin: Kategorien der Ästhetik (aus den Vorstudien zur Wahl verwandtschafteaArbeit), GS I, 3. Frankfurt a. M. 1974, p. 827.

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bewegung, der Jean Paul und Kafka nachgedacht haben, um eine dem Rätsel des Daseins angemessene Daseinsdeutung zu versuchen. Gesell: Wo willst du klares Bächlein hin So munter? Du eilst mit frohem, leichtem Sinn Hinunter. Was suchst du eilig in dem Tal? So höre doch und sprich einmal! Bach: Ich war ein Bächlein, Junggesell; Sie haben Mich so gefaßt, damit ich schnell, Im Graben, Zur Mühle dort hinunter soll, Und immer bin ich rasch und voll. Der in feste Bahnen gelenkte Bach, in dem „die schöne Müllerin früh beim Morgenlicht ihr liebliches Angesicht" badet, fließt an der vom Junggesellen Begehrten vorüber, um unablässig die Räder der Mühle anzutreiben. Dem Glück seines unendlichen, aber bereits in zielgerichtete Bahnen gelenkten Fließens bildet die Frage des Junggesellen, ob der „Arme" nicht „wie andre" wegen der Verfehlung seines Begehrens „Schmerz" fühle, die Erfahrung der Versagung erst ein. So wird aus dem Fluß des „anderen zur Freude murmelnden" Wunsches ein semanüsches Medium, das intentionale Botschaften an ihren Bestimmungsort trägt. Die Sprache des Wunsches zu sprechen ist eben nicht der Wunsch der Sprache. Der Wunsch ist namenlos. Bach: Mir wird so schwer, so schwer, vom Ort Zu fließen: Ich krümme mich nur sachte fort Durch Wiesen; Und kam es erst auf mich nur an, Der Weg war bald zurückgetan. Gesell: Geselle meiner Liebesqual, Ich scheide; Du murmelst mir vielleicht einmal Zur Freude. Geh, sag ihr gleich, und sag ihr oft, Was süll der Knabe wünscht und hofft.80

Berliner Ausgabe Bd. 1,1. c, p. 131-133.

4. Die „poetische Logik" des Hyperion Hölderlins Versuch einer Umschreibung der Regeln des Diskurses Mit einem Anhang ,Zur Kritik der Diskurstheorie' D y a plus affaire ä Interpreter les interprdtations qu'ä Interpreter les choses. Montaigne Hölderlins Texte sind so „dunkel" nicht, wie immer wieder unterstellt wird. Es scheint fast, als seien sie um so auskunftsfreudiger und exoterischer, je aufwendiger und komplexer der theoretische Hintergrund der Fragestellungen ist, die man an sie richtet. Ihnen z. B. die sozialpsychologische Diagnose zu stellen, psychoanalytisch ihre Ätiologie zu bestimmen oder sie nach seinsgeschichtlichen Auskünften zu befragen fällt geradezu irritierend leicht. Denn sie sind geständig und - dem gängigen Urteil zum Trotz - zumeist leicht verständlich. Wenn etwa die Objektwahl des psychoanalytischen Diskurses auf Hölderlins Texte fällt, um die Frage nach dem Vater an sie zu richten, so geben sie alsbald bereitwillig Auskunft1. Wie auch einige literarische Produkte der Frühromantiker kennen Hölderlins Texte nämlich eine „Art von Mythologie, die sich ergäbe, wenn Ödipus Freud läse und sich nachher dennoch auf seinen mythologischen Lebenslauf begäbe"2. Daß eine gewisse Weise der Selbstdurchsichtigkeit aber noch nicht Emanzipation von den Zwängen bedeutet, die da durchschaut werden, ist geradezu Teil des poetischen Grundlagenwissens um 1800. Denken und Sein folgen unterschiedlichen Logiken - auch dann, wenn „denkende Betrachtung" (Hegel) das erkannt hat.

1

J. Laplanche (Hölderlin et laquestion du pere, Paris 21969, dt. Übers, v. K. H. Schmitz, Hölderlin und die Suche nach dem Vater, Stuttgart 1975) attestiert Hölderlin „eine bemerkenswerte Kenntnis der pathologischen Elemente seiner Persönlichkeit und seiner Biographie" (p. 25). 2 E. Heller: Thomas Mann - Der ironische Deutsche, Frankfurt a. M. 1975, p. 235.

4. DIE „POETISCHE LOGIK" DES HYPERION

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Das spätere Diktum von Freuds Lehrer Charcot „La theorie, c'est bon, mais ga n'empeche pas d'exister"3 findet in Hölderlins Fichte-Kritik Urteil und Seyn eine paradigmatische Vorwegnahme: das, was geschieht, hat einen uneinholbaren Vorsprung vor allen Akten des Urteils, Meinens und Aussagens. Hölderlin kann seinerseits an die geradezu kanonische Erfahrung einer narzißtischen Kränkung der Vernunft anknüpfen, die Goethes empfindsamer Held Werther, der all seinen luciden Einsichten zum Trotz in tödliche Zwänge verstrickt bleibt, festhält: „Mein Tagebuch, das ich seit einiger Zeit vernachlässiget, fiel mir heut wieder in die Hände, und ich bin erstaunt, wie ich so wissentlich in das alles, Schritt vor Schritt, hineingegangen bin! Wie ich über meinen Zustand immer so klar gesehen und doch gehandelt habe wie ein Kind, jetzt noch so klar sehe und es noch keinen Anschein zur Besserung hat."4 Noch diese für die Jahre um 1800 repräsentativen intellektuellen Ohnmachtserfahrungen, die Hegel zur erklärenden Annahme eines objektiven Geistes veranlassen sollten, finden in Hölderlins Texten eine funktionale Deutung. Daß seine Dichtung „in dürftiger Zeit" entstand undman in Deutschland mit Vorliebe sich vor der „Dürftigkeit des Lebens" „in's Gedankenreich flüchte, zufrieden, daß man der Wirklichkeit vergessen könne im stillen Reiche des Möglichen" (III; 204)5, bekunden sie in aller Bestimmtheit. Literaturwissenschaftliche Arbeiten über den Zusammenhang von Französischer Revolution, deutscher Misere und Hölderlins Dichtungsbegriff verhalten sich zu Hölderlins Texten -um eine Kategorie der Hegeischen Kant-Kritik aufzunehmen - „beihererzählend", ja nacherzählend. Und noch der Versuch, die autor- und subjektzentrierte Geistesgeschichtsschreibung durch eine Archäologie des Wissens6 so zu „dekonstruieren"7, daß hinter dem traditionellen Subjektfetischismus des bürgerlichen Diskurses die Sprachgewalt transsubjektiver Ordnungen sich zeigt, stößt (im Hinblick auf Hölderlins Texte) auf keine Schwierigkeiten (wohl aber im Hinblick auf die immer noch verbreitete allgemeine Angst der deutschen Literaturwissenschaft vor der, Dekonstruktion'). Ist es doch Hölderlins ausdrückliche Absicht, jede vermeintlich unmittelbare und unhintergehbare Subjektivität ihrer „exzentrischen Bahn" inne werden zu lassen. Hölderlins Texte irritieren noch und gerade ihre ideologiekritischen Interpreten, weil sie immer schon wissen und kundtun, was jene erst mühsam decouvrieren wollen. So wird Hölderlins Dichtung dem soziohistorischen Diskurs etwa zum

3

Zitiert bei Freud: Charcot. GW I, p. 24. HA VI, p. 44 (Eintragung vom 8. August). 5 Hölderlins Hyperion wird nach der ,Großen Stuttgarter Ausgabe' (F. H.: Sämtliche Werke, ed. F. Beißner, 7 Bde., Stuttgart 1943-1972) zitiert. In römischen Ziffern erfolgt die Angabe der Bandzahl (III), in arabischen die der Seitenzahl. 6 M. Foucault: Archäologie des Wissens (1969). Cf. M. Foucault: Was ist ein Autor? In: M. F., Schriften zur Literatur, pp. 7-31. 7 J. Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen. In: J. D., Die Schrift und die Differenz, p. 427. 4

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I. CHARAKTERMASKEN

Symptom der Krisis frühbürgerlicher Ideologie8, dem sozialpsychologischen zum Symptom der Probleme kleinfamilialer Sozialisation9, dem geistesgeschichtlichen zum Symptom der Präsenz eines in unterschiedlichen Dichtern sich manifestierenden identischen Geistes10 und dem seinsgeschichtlichen zum Symptom dafür, daß „das Wesen der Dichtung" auf Seinsvergessenheit reagiert und „in die Entscheidung"11 stellt - „vermutlich" in die „klappernd obligate zwischen Sein und Seiendem"12. Diejenigen Interpretationen, die Hölderlins Werk ihrer „Wut des Verstehens" (Schleiermacher13) aussetzen und in ihr Belege für die Angemessenheit ihrer (im besseren Fall psychoanalytischen, soziologischen, strukturalistischen) Theoreme suchen und finden, verkennen, daß Hölderlins Texte versuchen, grundsätzliche Alternativen zu den gängigen Formen des Benennens, Deutens und Sprechens zu entwickeln14. Sie arbeiten dabei zumeist mit dem „ordo inversus"-Modell15: das Gedeutete tauscht mit der Deutung die Rolle. Den interpretierenden Diskursen, die ihrem Anderen, den poetischen Texten, eine verborgene Wahrheit zu demonstrieren vermeinen, hält Hölderlins Dichtung eine Analyse der Tiefenstrukturen von (diktierend deutenden) Diskursen überhaupt entgegen. Darauf zielt Hölderlins Wendung von einer „poetische Logik"16: sie will die „deutungslosen Zeichen", die wir sind, so weit wie nur möglich vor den Einschreibungen bewahren, die Deutungen mit sich bringen. Wie die frühromantischen Werke17 stehen auch die Texte Hölderlins im Zeichen eines ästhetischen Absolutismus™ -des paradoxen Absolutismus, der die immer erneut behaupteten gewissesten Gewißheiten, die vermeintlich unhin8 Cf. G. Lukäcs: Hyperion, in: 9 J. Laplanche: Hölderlin, 1. c. 10

WW, Neuwied/Berlin 1962 sqq., Bd. 7, pp. 164-185.

Cf. H. A. Korff: Geist der Goethezeit. 3. Teil: Frühromanük, Darmstadt 1974, pp. 353453. " M. Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a. M. "1971, p. 34. a Th. W. Adorno: Parataxis - Zur späten Lyrik Hölderlins. GS II, p. 452. 13 Cf. dazu J. Hörisch: Die Wut des Verstehens - Zur Kritik der Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1988. 14 Während Goethe in Dichtung und Wahrheit (Zweiter Teil, siebentes Buch) berichtet, er sei „nach Menschenart in [s]einen Namen verliebt" (HA IX, p. 278), läßt Hölderlins Dichtung sich als Abwehrgeste gegen den Umstand begreifen, daß das werdende Subjekt alle Dinge samt seiner selbst schon benannt vorfindet und um die Lust des adamitischen Namengebens betrogen ward. 15 Zu dieser den Frühromantikem und Hölderlin gemeinsamen Reflexionsfigur, deren Titel Novalis' „Philosophischen Studien der Jahre 1795/96" entlehnt ist. (Novalis, Schriften, II, p. 128 sqq.). Cf. M. Frank/G. Kurz: Ordo inversus, in: Fs. A. Henkel, Heidelberg 1977. 16 Anmerkungen zur Antigone. SW V, p. 265. Diese wohl von G. Vico (Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übers. E. Auerbach, Berlin/Leipzig 1925, p. 168) geprägte Formel dürfte Hölderlin über Herder bekannt geworden sein. 17 Cf. Stefanie Roth: Friedrich Hölderlin und die deutsche Frühromantik, Stuttgart 1991. 18 Cf. B. Lypp: Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft, Frankfurt a. M. 1972.

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tergehbaren Zentren und Letztfundamente von Diskursen der Grundlosigkeit überführt und sie also absolviert, loslöst, von Deutungszwängen befreit. Schon als, ,achtzehnj ähriger Knabe'', .haßt'' es Hyperions revolutionärer Freund AI abanda „wie den Tod, zum Gegenstande [...] zu werden" (III; 137). Und wie die zweite Mnemosyne-Fassung beklagt der Hyperion die Erfahrung des Sprachverlusts, der sich einstellt, wenn die unableitbare Freiheit des Bezeichnens einem Kalkül ableitbarer Sätze unterworfen wird: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren".19 In der Fremde der symbolischen Ordnungen, die die Regeln des Sprechens oktroyieren, wird daseiende Subjektivität zum deutungslosen Zeichen. Deutend ihrer selbst inne zu werden ist Subjektivität verwehrt, wenn sie ihre Sprache an die Fremde verliert, die sie zum bloßen „sujet de 1 'enonciation" (Lacan), zum bloßen Gegenstand von Aussagen macht. Das diskursive Gebot der Philosophie um 1800, Subjektivität restlos zu erfassen, und der (von Foucault analysierte) staatliche Willen zum universalen Wissen über die Subjekte (und d. h. eben auch: die Unterlegenen, die Untertanen) haben wohl mehr miteinander gemeinsam, als dem Selbstverständnis aufgeklärter Philosophen recht sein kann. Hölderlin hat auf diese eigentümliche Allianz von staatlichem und intellektuellem Aufklärungswillen20 frühzeitig aufmerksam gemacht, und er hat gewußt, daß die vollendete Aufklärung und Aussagbarkeit des Subjekts abgründig ist. „Ich möchte sprechen können [...]. Sprechen? o ich bin ein Laie in der Freude, ich will sprechen! - Wohnt doch die Stille im Lande der Seeligen, und über den Sternen vergißt das Herz seine Noth und seine Sprache." (in, 50) Um aber „im Lande der Seeligen" jenseits der Gewalt des Benennens und des Benanntwerdens leben zu können, muß „das Herz sein Recht" (III; 70) wahrnehmen und ,,[s]eine verlorene Sprache" (III; 72) in „Lauten des Entzückens" wiederfinden. Ohne die Erfahrung einer „exzentrischen Bahn" (III; 236) ist dies nicht möglich. Im zeitgenössischen Kontext der unablässigen Suche nach neuen Zentren mutet Hölderlins Option für das Exzentrische exzentrisch an. Exzentrischer Subjektivität will Hölderlins Dichtung im Zeitalter der Ahnung, sie könne möglich sein, das zugleich das Zeitalter ihrer beginnenden Abschaffung ist, Sprache verleihen. Der Subjektivitätseuphorie um 1800 hält sie die anhaltende Gefährdung ihrer Möglichkeitsbedingung entgegen. Jenes Medium nämlich, in dem Subjektivität ihrer selbst inne werden oder aber sich verfehlen kann, die Sprache, nennt Hölderlin „der Güter Gefährlichstes" - sie ist außermoralisches Medium der Wahrheit wie der Lüge, der Herrschaft wie der Befreiung: „darum ist [.. .] der Güter Gefährlichstes, die Sprache dem Menschen gegeben, damit er schaffend, zerstörend, und untergehend, und wiederkehrend zur ewiglebenden, zur Meisterin und Mutter, damit er zeuge, was er sei [.. .]" 21 " SW II, 1, p. 195. Sie wird noch daran deutlich, daß ,Aufklärung' zugleich ein philosophischer, ein militärisch-geheimdienstlicher und ein Begriff der erotischen Pädagogik ist. 21 Im Walde, SWn, l,p. 325. 20

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I. CHARAKTERMASKEN

Sprache ist nicht primär ein Medium der verläßlichen Benennung von Sachverhalten (cf. den voranstehenden Essay zu Jean Pauls Sprachmaschinen). Sie ist vielmehr eine Ordnung sui generis, die eben deshalb eine Ordnung bedrohen kann, die alles verläßlich mit allem koppeln will: die Worte und die Sachen, die Gedanken und die Benennungen, die Subjekte und die Intersubjektivität, das Besondere und das Allgemeine, den Himmel und die Erde etc. Durch die Wahrnehmung des „Rechts zu dichten" (und dichten heißt zuerst: dies- und jenseits von Referenzzwängen sprechen), zu „zeugen, was er sei", ist aber „dem Menschen" so lange unmöglich, wie das „Unerschöpfte und Unerschöpfliche der Beziehungen und Kräfte"22 im Medium der Sprache auf restringierende Regeln des Diskurses verpflichtet wird. Michel Foucault hat die Prinzipien von Diskursformationen überhaupt benannt: „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird -und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen."23 Der schweren, bedrohlichen, aber auch befreienden Materialität der Sprache ist Hölderlins poetische Logik verschrieben. *

Striktesten Diskursreglementierungen war Hölderlin gerade in der Zeit seiner intellektuellen Sozialisation im Tübinger Stift in sehr handgreiflicher Weise ausgesetzt24. So sinnvoll es ist, Hölderlins philosophisch-theologische Lektüre zu rekonstruieren, so naheliegend ist es, sein poetisches Sprechen nicht im denkenden und dichtenden Kontext, sondern in erster Linie als einen Gegendiskurs zu den Reglementierungen des Stifts zu begreifen. Eine diskursive Positivität, ein in jeder Weise machtvoller Diskurs und nicht etwa eine Philosophie oder Theologie hat Hölderlins „Trieb" (III; 194 u. ö.) erregt, durch der „Güter Gefährlichstes" „zu zeugen, was er sei". Allein durch die „Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen"25, die der ihm buchstäblich vorgeschriebene Diskurs mit verbindlichem Anspruch regulierte, konnte Hölderlins Dichtung möglich werden. Gegen das ausdrückliche Verbot alternativer Sprache, das die Statuten desßrstlichen theologischen Stipendii zu Tübingen in paradigmatischer Ineinssetzung des politischen und theologischen Diskurses festhalten, arbeitet Hölderlins Dichtung am Entwurf einer „poetischen Logik", die sich von den Grundsätzen der tradierten Logik freigeschrieben hat.

Das Werden im Vergehen, SW IV, 1, p. 282. M. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, p. 7. P. Härtling hat das in seinem Hölderlin-Roman deutlicher herausgestellt als die germanisüsche Hölderlin-Forschung. Anmerkungen zur Antigone, 1. c, p. 271.

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In den „aus sammtlichen zuvor ertheilten Recessen zusammen gezogenen], nach reiffer Erwägung auf die gegenwärtige Zeiten eingerichteten]"26 Statuten, die mit einer politisch-theologischen Sprachordnung auch eine reglementierte Lebensform vorschreiben, heißt es: „Alle Stipendiaten sollen sich der vergeblichen Führung des Namens GOttes, auch aller Flüche und Schwüre, als wider alle Göttliche und menschliche Gesetze lauffender Frevel, enthalten. Der Leichtsinn und böse Gewohnheit hierinn solle mit Verweisung des Stipendi, die aus Übereilung oder Zorn geschehene Übertrettung aber mit dem Carcere gestraft; das beharrliche Fluchen, Schwören und GOttes-Lästern hingegen in das Fürstliche Consistorium berichtet, und andern zum Exempel mit strenger Straffe angesehen werden. Ein jeder Stipendiat solle auch gehalten seyn, wann er solche Excesse hört, dieselbe dem Inspectorat anzuzeigen."27 Diese Statuten wirken wie ein Musterbeispiel für Foucaults These von der gängigen Angst der Macht vor unrestringiertem Sprechen. Treten siedoch als ein Inbegriff voraufgeklärter Pädagogiken und Semiotechniken auf. Zugleich aber verstricken sie sich in das Paradox aller strikten VerboteundReglementierungen: die Grenzen und Tabus benennen, ja katalogisieren zu müssen, die da nicht überschritten werden dürfen. Eine eigentümlich unbewußte Selbstcharakterisierung kennzeichnet deshalb diese Statuten: sie machen geradezu schlicht die Macht transparent, in deren Namen sie ergehen. Wie zu reden sei, wer zu reden habe und welche Konnotationen dem Gesprochenen zukommen dürfen, schreibt diese Sprachregelung, die Hölderlin (und Hegel und Schelling und andere zukünftige Pfarrer, Professoren und Beamte) formieren wollte, zu deutlich vor, um nicht analysierbar und kritisierbar zu sein. Im Interesse der Unterdrückung alternativer Rede („Fluchen", „Schwören", „GOttes-Lästern") listen die Statuten des Stifts die gängigsten Möglichkeiten ihrer Subversion auf. „Ein jeglicher Studiosus, welcher in das Fürstliche Stipendium aufgenommen wird, solle sich vor allen Dingen hüten, daß er nicht gleich im Anfang von anderen verführet werde, sonder bey zeiten in die vorgeschriebene Ordnung in der Furcht GOttes schicken lernen: Absonderlich aber die, welche aus denen Clöstern in das Fürstliche Stipendium promovirt werden, sollen ernstlich bedenken, daß sie ihrer bisherigen theuren Verpflichtungen nicht entlassen, vielweniger in den Stand gesetzt seyen, nach ihrem Gefallen, und in mehrerer Freyheit zu leben".28 Das ist Klartext: im elitären Süft „nach eigenem Gefallen" und „in mehrerer Freiheit" eine eigene Lebens- und Redekunst entwickeln zu wollen wäre eine unverzeihliche Illusion. Vielmehr haben sich die Stipendiaten in die „vorgeschriebene Ordnung [...] [zu] schicken", in deren transzendentem Zentrum der „Name GOttes" steht. Er begründet alle Regeln, und ihm (wie natürlich auch seinen Repräsentanten) darf nicht widersprochen werden. Die diesen Statuten zugrundeliegende Diskursordnung begründet durch die Benennung dieses 26 27 28

Zitiert in: Hölderlin zum 200. Geburtstag - Katalog Nr. 21, Sonderausstellung des Schiller-Nationalmuseums, ed. B. Zeller, Stuttgart 1970, p. 88. Ibid., p. 89. Hölderlin zum 200. Geburtstag, 1. c, p. 88.

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I. CHARAKTERMASKEN

göttlichen semantischen Zentrums die Stimmigkeit einer ganzen Folge von argumentativen Operationen. Indem sie als Garanten der allgemeinen Gültigkeit der Sätze, die ordentliches Denken und Sprechen ermöglichen: der Sätze vom ausgeschlossenen Widerspruch, vom Grund, vom Sinn und von der Kontinuität alles Bestehenden ein transsubjektives Absolutes benennt, ist sie ständig um die Stabilisierung ihres Sinnsystems bemüht. Bedroht aber istjede Bemühung um dauerhafte Stabilisierung von Ordnungssystemen durch den Fluß der Zeit, durch Werden und Vergehen. Gerade weil sie die zentralen Konstitutionskategorien der abendländischen Episteme dauerhaft tradieren wollen, müssen die Statuten sie - nach eigenem Bekenntnis - auf die Bedingungen der „gegenwärtigen Zeit" „einrichten". Wenn sie aber zu erkennen geben, daß sie „einrichten", daß sie instituieren, dementieren sie selbst ihr abkünftiges Selbstverständnis: die Statuten sind nicht etwa aus einer ewigen Weltordnung abgeleitet, sondern vielmehr eingerichtet, instituiert, Statuten eben. Und ihre expliziten Verbote richten sich deutlich erkennbar gegen die latente Möglichkeit alternativer Einrichtungen. Spätestens mit der Französischen Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Wilhelm Meister aber ist der Anspruch dieser 1752 formulierten und zu Hölderlins Tübinger Zeit noch gültigen Statuten® auf sinnfällige Weise hinfällig, die Einrichtung der Welt und der Diskurse in der einzig verbindlichen Weise festzuschreiben.30 „Hölderlinhat"-nach Adornos bemerkenswert schlichter Feststellung - „die Ideale, die man ihn lehrte, geglaubt, als autoritätsfrommer Protestant zur Maxime verinnerlicht. Danach mußte er erfahren, daß die Welt anders ist als die Normen, die sie ihm einpflanzte".31 Die schiere Gleichzeitigkeit alternativer und öffentlich zugänglicher Diskurse (nomenklatorisch gesprochen: zwischen der Bibel und Spinoza, zwischen Hobbes und Kant, zwischen Apologeten des Gottesgnadentums und Jakobinern), die sich aber gleichermaßen als Auslegungskalküle der einen identischen Wirklichkeit verstanden, mußte jene Diskurse diskreditieren, die ihre Alternativen nicht kopräsent hielten, die gänzlich unironisch behaupteten, allein gültig zu sein. Denn aus dem puren Bestand einer Pluralität von Welt- und Daseinsdeutungen folgt schon die Disqualifizierung derjenigen Diskurse, die eine offenbare und zentrale Gewißheit (des Glaubens, des Selbstbewußtseins etc.) versprachen. Daß (jedermann nachvollziehbare und einsichtige) Offenbarungen ganz offenbar nicht mehr glaubwürdig sein können, ist so etwas wie das grundstürzende 29

Erst 1793 wurden siedurch neue abgelöst; cf. dazu und zur Struktur der Süftsverwaltung M. Brecht: Hölderlin und das Tübinger Stift 1788-1793, in: Hölderlin-Jb. (1973/74), pp. 20-48. 30 Schon 1785 hatte der ehemalige StiftlerK. F. Reinhard in einer Replik auf einen ein Jahr zuvor anonym erschienenen Aufsatz (Einige Berichtigungen und Zusätze - Den Aufsatz im grauen Ungeheuer Nummer 9. Ueber das theologische Stift in Tübingen betreffend, in: Hölderlin zum 200. Geburtstag, 1. c, p. 90) die gegenwärtige Verfassung des Stifts beschrieben und die Schlußfolgerung gezogen: „Alles dies läßt den Denker eine Revolution ahnden, die beynahe unvermeidlich ist." 31 Adorno: Parataxis, 1. c, p. 475.

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diskursive Grundfaktum nach 1789. Die Krisis des tradierten theologischpolitischen Herrschaftsdiskurses32 aber ist auch eine Krisis in der Ordnung seiner Grundbegriffe. Schon seit Kopernikus gibt es eine „Zweideutigkeit des Himmels"33, auf die besonders die idealistische Philosophie mit dem Versuch reagiert, verlorene Eindeutigkeit und verlorenen Zentrismus in sich selbst gewissester Subjektivität neu zu etablieren - wenn auch (wie bei Kant) um den Preis einer gewaltigen Einschränkung des verläßlichen Wissens. Hölderlins Suche nach dem „Gesez"34 geht einen anderen, einen nichtmethodischen, einen poetischen Weg. Er führt zu einem radikalen Bruch mit nichts Geringerem als den elementaren Strukturen der traditionellen Diskursformation. Es ist für Hölderlin eine tiefirritierende intellektuelle Erfahrung gewesen, während der Zeit in Jena und also nach der Ausbildung im Stift feststellen zu müssen, daß die neuen Ordnungen des Denkens nicht wirklich alternativ zu den alten Weltbildern standen, ja daß sie vielmehr dessen Tiefenstruktur teilten. Die tradierte Tiefenstruktur der abendländischen Episteme, wie Aristoteles sie kanonisch festgehalten hatte, dienten janoch der Transzendentalphilosophie als „intakt bleibender und funktional vorausgesetzter Stellenrahmen, der partielle Veränderungen nicht nur .erträglich', sondern vor allem .plausibel' macht".35 Kant und Fichte haben zentrale Kategorien wie .Grund', .Identität' oder .Modalität' nur neu ableiten bzw. fundieren und nicht etwa dekonstruieren wollen. Hölderlins Dichtungen verwerfen hingegen insgesamt diesen Bezugsrahmen und seine festen Kategorien. Denn sie entdecken, um nomenklatorisch zu sprechen, eine bestürzende Nähe zwischen den Statuten des Stifts und den Schriften aus Jena. Sie nehmen dafür Orientierungslosigkeiten, Widersprüche und Zwischenzustände bewußt in Kauf. Hyperion sucht vor gleißender Klarheit gar willig Zuflucht in konturloser „Dämmerung": „Meinem Herzen ist oft wohl in dieser Dämmerung" (III, 184 - Fragment vom Hyperion). Und angesichts der bekannten Schemata des Benannt- und Ausgelegtwerdens optiert er für die „terra incognita im Reiche der Poesie"36, deren Logik „mystische Sprüche, Träume ohne Deutung" immerhin zuläßt: „Aus mir selbst, wenn ich mich frage, tönen mystische Sprüche, Träume ohne Deutung." (III, 184) Während aber das Fragment vom Hyperion mit dem Satz „Noch ahnd' ich, ohne zu finden" (III, 184) schließt, läßt sich Hyperion oder der Eremit in Griechenland als Erfüllung der zuvor verheißenen „poetischen Logik" verstehen. Hölderlins Roman versucht nicht weniger, als der Intuition, der zufolge 32

Zum Verhältnis von Diskursformationen und Herrschaft cf. Derrida: Grammatologie, pp. 178-244 und Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, pp. 177-185. 33 H. Blumenberg: Die Genesis der kopemikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1975, pp. 9145. 34 Anmerkungen zur Anügone, 1. c , p. 265. 35 H. Blumenberg: Genesis, 1. c , p. 596; Blumenberg setzt die „Vorstellung der ,Umbesetzung'" eines intakt bleibenden Stellenrahmens Kuhns Theorie des Paradigmawechsels entgegen. 36 Brief an Neuffer (Juli 1793). SW VI, 1, p. 87 (Nr. 60).

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I. CHARAKTERMASKEN

Diskurse (die „wissenschaftlichen" incl.) als Machtsysteme fungieren und daß diese Machtsysteme nach der Destruktion eines verbindlichen Sinnzentrums grundlos sind, dadurch gerechtzu werden, daß er Formen nicht-kategorialen und nicht-prädizierenden Sprechens einübt. Damit optiert er für eine Dekonstruktion machthabender und zentrischer Diskurse überhaupt. Zugleich aber zielt Hölderlins Schreiben gegen eine revolutionäre Praxis, die bestenfalls das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten umkehrt, aber das Herrschaftsverhältnis selbst beläßt. „Und siehe, mein Bellarmin! wenn manchmal mir so ein Wort entfuhr, wohl auch im Zorne mir eine Thräne ins Auge trat, so kamen dann die weisen Herren, die unter euch Deutschen so gerne spuken, die Elenden, denen ein leidend Gemüt so gerade recht ist, ihre Sprüche anzubringen, die thaten dann sich gütlich, ließen sich beigehn, mir zu sagen: klage nicht, handle! - O hätt' ich doch nie gehandelt! um wie manche Hoffnung war' ich reicher." (III, 7 sq.) Dennoch ist die „poetische Logik" Hölderlins durchaus einem wahrhaft revolutionären Projekt verschrieben. Sie will mehr als nur den Austausch von Totalität organisierenden Zentren (des Diskurses und der Macht), den der Jakobinismus unternahm. Das zentrierende Signifikat des theologisch-politischen Herrschaftsdiskurses durch den vollends aufgeklärten, sittlich vernünftigen Staates zu ersetzen bedeutet nichts anderes als eine traumatisierende Enttäuschung der „Lust an der Zukunft" (111,29). „Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte." (III, 31) Um einer in geschichtsphilosophischer Verzweiflung zu sich selbst kommenden Dialektik der Aufklärung, die die vollends aufgeklärte Erde im Zeichen triumphalen Unheils erstrahlen sieht37, zu entraten, arbeitet Hölderlins poetische Sprache an einer Wiederherstellung von Formen nicht verdinglichten, ja nicht einmal klassisch strukturierten Sprechens. Ort der Einübung in und der Unterwerfung unter diskursive Gewalten sind die „Schulen". Denn sie verpflichten das „göttliche Wesen" des Kindes, seinen durch den „Zwang des Gesetzes" noch nicht restringierten Sprachüberfluß diskursiv zu reglementieren: „Ach! war' ich nie in eure Schulen gegangen. Die Wissenschaft, der ich in den Schacht hinunter folgte, von der ich, jugendlich thöricht, die Bestätigung meiner reinen Freude erwartete, die hat mir alles verdorben. - Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe mich gründlich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgiebt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrokne an der Mittagssonne. - O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt, und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da, wie ein mißrathener Sohn, den der Vater aus dem Haus stieß, und betrachtet die ärmlichen Pfennige, die ihm das Mitleid auf den Weg gab." (III, 9) Der vorindividuierte Zustand („ich habe mich gründlich unterscheiden gelernt") der unreglementierten Sprachfülle ist von dem der Ruhe kaum zu 37

M. Horkheimer/Th. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, p. 7.

4. DIE „POETISCHE LOGIK" DES HYPERION

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unterscheiden. Gemeinsam ist beiden die Paradoxie, daß sie im Rahmen begrifflicher Unterscheidungen nur verfehlt werden können. „Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe! wie oft steh' ich stille vor dir in liebender Betrachtung, und möchte dich denken! Aber wir haben ja nur Begriffe von dem, was einmal schlecht gewesen undwieder gut gemachtist; von Kindheit, Unschuld haben wir keine Begriffe." (III, 10) Denn „der Zwang des Gesetzes und des Schicksal betastet es [das Kind] nicht; im Kind ist Freiheit allein" (ibid.) - eben weil es als infans noch vor dem Gesetz, vor der Ordnung des Diskurses steht. Diesen Zwang des Gesetzes, das die Statuten paradigmatisch vor- und einschreiben, möchte eine „poetische Logik", die weiß, daß unmittelbar kindlich reden zu wollen reiner Schein wäre, umschreiben. Sie folgt deshalb dem Gebot: „In der Werkstatt, in den Häusern, in den Versammlungen, in den Tempeln, überall werd' es anders!" (in, 89) Noch diese Spezifizierungen werden alsbald zurückgenommen in dem Ruf: „Es werde von Grund aus anders!" (ibid.) Wer „es", wer „überall" von Grund aus alles anders werden lassen will, setzt sich naturgemäß dem Vorwurf aus, seine Kritik zu grundsätzlich anzusetzen. Ohne eine grundsätzliche Umschrift des Grundes, des Grunddenkens, des begründeten und begründenden Denkens und Sprechens wird aber der Wunsch, alles möge anders werden, allenfalls zu Umbesetzungen intakt bleibender (Herrschafts-)Strukturen führen. Hölderlins Um-schreibung der Ordnung des Diskurses überhaupt überschreitet mitunter die Grenze, die Kritik von Verwerfung trennt. Doch diese Umschreibung hält sich lange und gründlich genug an der Grenzlinie auf, um zu belegen, daß ,Dekonstruktion' nicht nur ein postmodernes Modewort ist. Hölderlin weiß offenbar genau, worauf er sich einläßt, wenn er gegen die (gerade um 1800 verbreitete) wissenschaftliche Illusion lückenlos aus einem einsichtigen Grundprinzip ableitbarerundkontinuierlicherSätze den lakonischen Satz stellt: „DiePoetenhaben recht." (III, 46) „Ich bin", so schreibt er in Hinblick auf den Hyperion, „mit dem gegenwärtig herrschenden Geschmack so ziemlich in Opposition, aber ich lasse auch künftig wenig von meinem Eigensinne nach, und hoffe mich durchzukämpfen."38 Nicht umsonst ist dem Hyperion eine gleichsam taktisch abfedernde Fußnote beigegeben: „Es ist wohl nicht nöthig, zu erinnern, daß derlei Äußerungen als bloße Phänomene des menschlichen Gemüts von Rechts wegen niemand scandalisiren sollten." (III, 11) Skandalträchtig genug ist in der Tat Hölderlins Versuch, die Ordnung des Diskurses durch eine „poetische Logik" zu dekonstruieren und den „großen Überfluß" der „Sprache" (III, 118) gegen die Ökonomie der diskursiven Verknappungen ins Recht zu setzen. Nimmt Hölderlins Dichtung doch gleich drei Umschreibungen zentraler Grundsätze des tradierten Diskurssystems vor. Den Satz vom notwendigen Zentrum aller (theologischen, politischen, philosophischen, wissenschaftlichen etc.) Systeme wendet er (1.) in den Satz von der unvermeidlichen und ursprünglichen Exzentrierung; den Satz vom zureichenden

Brief an den Bruder (Nov. 1797). SW VI, 1, p. 254 sq. (Nr. 147).

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I. CHARAKTERMASKEN

Grund schreibt er (2.) in den S atz vom unzureichenden Abgrund um; und der Satz der Identität dekonstruiert sich (3.) in seiner Umschreibung zum Satz vom in sich selbst Unterschiedenen. Die „poetische Logik" von Hölderlins Texten umschreibt die konstitutive Möglichkeitsbedingung des traditionellen theologisch-politischen Diskurses, den Satz vom absoluten Zentrum, als Satz von derExzentrierung jedes vermeintlich Absoluten (1). Erfahrbar und aussagbar ist der göttliche Inbegriff des Absoluten nur, wenn es seinen Buchstabensinn erfüllt und sich also von seiner absoluten Position loslöst, absolviert und zum „Gott in uns" (in, 17,133 u. ö.) wird. Wird das Absolute überhaupt ausgesagt, bedacht, gefeiert, angebetet, so ist es als Glied einer Relation kein Absolutes mehr. Als Absolutes aber wäre es in unvermeidbarer Paradoxie „Nichts" (in, 45)39. Ein auf Beglaubigung durch endliche Subjektivität angewiesenes Absolutes ist, wie auch Hölderlins großer Brief an Hegel vom „26. Jenner 95"40 entwickelt, als schlechthin Relatives dekonstruiert: „Wenn ich hinsehe in's Leben, was ist das letzte von allem? Nichts. Wenn ich aufsteige im Geiste, was ist das Höchste von allem? Nichts." GH, 45 sq.) Dem gängigen Einwand gegen eine solche Dekonstruktion zentrischen Denkensund Sprechens, daß nämlich aus der Einsicht einer ,,zerstörende[n] Geisteskraft" „eine unendliche Leere" resultiere, gibt Hölderlins Dichtung eine bemerkenswerte Wendung. „Daß wir geboren werden für Nichts, daß wir lieben ein Nichts, glauben an's Nichts, uns abarbeiten für Nichts, um mälig überzugehen in's Nichts" (ibid.) - dieser nihilistische Satz wird bei Hölderlin nicht selbst zu einem neuen Grundsatz. Anders als in den Nachtwachen des Bonaventura, die eine vergleichbare Akkumulation dieses bis hin zu Carnaps Heidegger-Kritik mit szientifischen Tabus belegten und suspekt gebliebenen Begriffs ,Nichts' kennen41, erfährt nämlich, ,die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats' '42 im Hyperion die „gute" Deutung, die Hölderlins „poetischer Logik" zufolge „Bestehendem" soll zukommen können. Denn „Gottes Fehl hilft"43: erst der Mangel des eine Struktur zentrierenden Signifikats „erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche"44, da der „leer und öd" (in, 46) gewordene Platz ein „Unerschöpftes und Uner39

P. Celans Psalm reformuliert Hölderlins Intenüon, dieses „Nichts" positiv zu deuten, wenn er das Emblem von der Rose im Kreuz der Gegenwart als Lob der Endlichkeit versteht. 40 Brief an Hegel, SW VI, 1, p. 154 (Nr. 94). Cf. das Hölderlin-Kapitel in: M. Frank: Der unendliche Mangel an Sein, Frankfurt a. M. 1975, pp. 19-31. 41 Bonaventura: Nachtwachen, ed. W. Paulsen, Stuttgart 1972, p. 143. Cf. D. Arendt: Der poetische Nihilismus in der Romantik, 2 Bde. Tübingen 1972. 42 J. Derrida: Die Struktur, 1. c, p. 424; cf. die Formel der Grammatologie (p. 87): „die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats als Entgrenzung des Spiels". 43 Dichterberuf, SW II, 1, p. 48; cf. M. Foucault: Von der Subversion des Wissens, p. 58. 44 J. Derrida: Die Struktur, 1. c, p. 424, verdankt seine These wohl J. Lacans Aufsatz: Subversion du sujet et dialectique du desir, in: Ecrits, pp. 793-827.

4. D E „POETISCHE LOGIK" DES HYPERION

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schöpfliches der Beziehungen und Kräfte"45 von dem Bann löst, in dem ein zentrischer Diskurs sie hielt. So postuliert bereits Hölderlins Dichtung sehr bewußt, was der Wissenschaftshistoriker Blumenberg später als verborgene Logik neuzeitlicher Theorieentwicklung entdecken will: „ein nicht-substanzielles System von umbesetzbaren, nach dem Geltungsschwund bestimmter Gehalte neu ausfüllbarer .Stellen', deren Benennung Bedürfnisreste und Funktionswerte in der Ökonomie des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses anzeigt."46 Wie Friedrich Schlegel symptomatisiert Hölderlin „das Wesen der Modernen" als den vor sich selbst erschreckenden Wunsch nach einer „Schöpfung aus Nichts": „Das Wesen der Modernen besteht in d[er] Schöpfung aus Nichts-.Ein solches Prinzip lag im [Christentum] - ein ähnliches in d[er] Revolution in Fichtes' [Philosophie] -und desgleichen in d[er] neuen Poesie."47 Während aber die politische und die philosophische der „größten Tendenzen des Zeitalters" sich schon bald um nichts angestrengter bemühen als um die methodische Zurücknahme der von ihnen vollzogenen Exzentrierung (z.B. durch Refeudalisierung und Restauration des Absoluten), bewahrt allein die „neue Poesie" ein Andenken an die Dialektik von Abwesenheit (Fehl, Mangel) eines transzendentalen Signifikats und Sprachüberfluß. „Nur diese kann [deshalb, mit Schlegels Worten, J. H.] den Geist des Alterthums zurückbringen." Die Möglichkeitsbedingung des antiken Geistes sieht Hyperions Athenrede, die artistisch die alternativen Weltauslegungskalküle des hellenistischen, pantheistischen und lutherischen Diskurses verschränkt, wenn nicht in einer Dezentrierung, so doch in einer äußerst wandelbaren Polyzentrierung des Absoluten: „Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst. In ihr verjüngt und wiederholt der göttliche Mensch sich selbst. Er will sich selber fühlen, darum stellt er seine Schönheit gegenüber sich. So gab der Mensch sich seine Götter. Denn im Anfang war der Mensch und seine Götter Eins, da, sich selber unbekannt, die ewige Schönheit war. - Ich spreche Mysterien, aber sie sind - " (III, 79). Mysterien - und sei es das Mysterium, daß überhaupt Sein ist und nicht vielmehr N/nicht(s) - können kein Thema einer Schrift sein, die den Titel Wissenschaftslehre trägt. Fichtes Philosophie, die die Gültigkeit wissenschaftlicher Sätze nach dem Ende eines substanziellen Absoluten gleichwohl begründen will, leistet sich denn auch das Paradox, angesichts der Logik des Zerfalls des Absoluten an dem festzuhalten, was durch dieses Zentrum allererst gültig garantiert ist: an den Sätzen vom Grund und vom ausgeschlossenen Widerspruch48. 45

Das Werden im Vergehen, 1. c, p. 282. H. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, p. 70. 47 F. Schlegel: Philosophische Lehrjahre, 1. c , p. 315. 48 Zur frühromantischen Kritik der Aporien, in die ein Theorie der Selbstbezüglichkeit gerät, wenn sie hartnäckig den in Aristoteles' „Logik" festgeschriebenen Reflexionsstrukturen verpflichtet bleibt, cf. J. Hörisch: DiefröhlicheWissenschaft der Poesie - Der Universalitätsanspruch der Dichtung in derfrühromantischenPoetologie, Frankfurt a. M. 1976, Kap. 3. 46

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I. CHARAKTERMASKEN

Sie transformiert die „poetische Logik" des Hyperion in die Sätze vom Abgrund (2) und vom In-sich-selber-Unterschiedenen (3). Dem Kausalitätsdenken, das „Mimikry an den Bann der Dinge"49 gerade dann zu betreiben beginnt, wenn die endgültig selbstbewußten Subjekte sie nach ihrem Bilde massenhaft zu produzieren beginnen, hält Hölderlins Poesie eine Deutung entgegen, die die Dezentrierungdes Absoluten aufs tradierte aristotelische Grunddenken abbildet: „Denn nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen / Die Sterblichen eh an den Abgrund".50 Diesem hymnischen „Fest des Denkens"51, das die Selbstdestruktion des einen Universalitätsanspruch stellenden Absoluten als nicht Nichtsein-Können der Götter festhält, korrespondiert eine Reflexion desHyperion: „Ich fühl' in mir ein Leben, das kein Gott geschaffen, und kein Sterblicher gezeugt. Ich gl aube, daß wir durch uns selber sind, und nur aus freier Lust so innig mit dem All verbunden." (in, 141) Die noch für Schillers Franz Moor52 schlechthin destruktive Erfahrung der radikalen Unbegründetheit seines Daseins deutet eine „poetische Logik" als Möglichkeitsbedingung von Freiheit. Poetisches „Andenken"53 ans „Räthsel" des „Reinentsprungenen", das „auch der Gesang kaum [...] enthüllen" darf54, prozediert schlechthin anders als etwa Fichtes Wissenschaftslehre. Ihr Autor verlor bekanntlich wegen des Vorwurfs, sein Denken sei atheistisch, den Lehrstuhl -was nicht einfach ein unsinniger Vorwurf war, sondern vielmehr eine aufmerksame Rezeption belegt: tatsächlich bringt Fichte eine in jedem Sinne selbstbewußte Subjektivität auf den freien Thron Gottes. Der neue Souverän aber läßt die gültigen Gesetze intakt, er begründet sie nur besser, zwingender. Diese um 1800 gängige Rezentrierung des Absoluten kommt dem gattungsgeschichtlich habitualisierten Zwang des Grunddenkens entgegen. „Es scheun", so motiviert Empedokles seinen Freitod, der die Möglichkeit alternativer Weltdeutungen in der drastischsten Weise anschaulich machen soll, „es scheun die Erdenkinder meist das Neu und Fremde. [...]/ Was euch der Väter Mund erzählt, gelehrt, / Vergeßt es kühn, und hebt, wie Neugeborne, / Die Augen auf zur göttlichen Natur, / Wenn dann der Geist sich an des Himmels Licht / Entzündet, süßer Lebensothem euch / Den Busen, wie zum erstenmale tränkt, / Und goldner Früchte voll die Wälder rauschen / Und Quellen aus dem Fels, wenn euch das Leben / Der Welt ergreift, ihr Friedensgeist, und euchs / Wie heiiger Wiegensang die Seele stillet, / Dann aus der Wonne schöner Dämmerung / Der Erde Grün von neuem euch erglänzt [.. .]". 55

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Adorno: Negative Dialektik, GS 6, p. 267. Mnemosyne (2. Fassung), SW II, 1, p. 195. Zu dieser von Heidegger aufgegriffenen Formel Nietzsches cf. P. Kosten Das Fest des Denkens, in: Nietzsche-Studien 4 (1975), pp. 227-262. 52 Die Räuber IV, 2 53 Andenken, SW H, 1, p. 188. 54 Der Rhein, ibid. p. 143. 55 Der Tod des Empedokles (1. Fassung), SW IV, 1, p. 65 sq.

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4. DIE „POETISCHE LOGIK" DES HYPERION

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Der Vorwurf ist deutlich - gerade weil er auf die Epoche des Empedokles vordatiert wird: die Revolution der Denk- und Diskursweisen ist immer wieder und zuletzt zu Hölderlins Zeiten ängstlich abgebrochen worden. An der Stelle nämlich, wo nach der De(kon)struktion eines allbegründenden Zentrums die elementaren Verfahrensweisen des Denkens, Deutens und Sprechens selbst zur Disposition ständen. Von kühnem Vergessen tradierter Zwänge kann angesichts der kategorialen zentrischen Verfassung und dem deduktiven Gestus der senschaftslehre von 1794 die Rede nicht sein. Die vorgebliche transzendentalphilosophische Revolution der Denkungsart richtet nämlich ein systemphilosophisches Substitut des überkommenen theologischen Diskurszentrums ein: ein „absolutes Ich". Es verspielt die Möglichkeit exzentrischer Rede und Welterfahrung, die im antiken Kosmos bereits angelegt war, dann aber vom Monotheismus überwunden wurde. „Das große Wort, das (griech: Eine in sich selbst unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gabs keine Philosophie." (III, 81) Deutlich stellt Hölderlin eine polytheistische Ästhetik der Existenz gegen den um 1800 grassierenden philosophischen Monismus, der aus einem Prinzip der unhintergehbaren Identität alle weiteren begründbaren Sätze ableiten will - so wie die Herrschaftstheologie aus einem göttlichen Grund die eine Welt fundieren will. Dabei war Hölderlin mit guten Gründen davon überzeugt, daß Subjektivität nur als Nichtidentität begreiflich zu machen sei. Wie die Frühromantiker konnte er dabei dekonstruktiv mit Fichte gegen Fichte argumentieren.56 Wenn nämlich in Fichtes ursprünglicher und fundierender „Ich = Ich"-Gleichung das Ich doppelt vorkommt: als Wissendes und als Gewußtes, wenn also die unterschiedenen und doch zugleich identischen Relata der gesamten Relation zugleich und in derselben Hinsicht demselben Aktanten, Subjektivität, zugesprochen werden müssen57, so ist nur um den Preis der Tabuisierungdie WiderspruchsstrukturvonSelbstbezüglichkeitzu übersehen. Das Ich „bleibt [...] [so Hölderlins genaues Wort] mit und für sich selbst im realen Widerspruche."58 Es ist als wissendes Ich die Menge aller Mengen, die sich (qua gewußtes Ich) selbst als Element enthält. Während Fichte diese Widerspruchsstruktur, die ausgerechnet dem Grundprinzip konstitutiver Identität innewohnt, systematisch und ängstlich verdrängt, sieht Hölderlin sie als produktiven Abgrund, der Befreiung von Identitätsz wängen verspricht. Mit Differenzen, Widersprüchen und Sprüngen im Ursprünglichen den Anfang des Denkens und Deutens zu machen ist deshalb nicht etwa unzulässig, sondern in der verdrängungsfreien Erfahrung des Denkens vielmehr unvermeidbar. Paradoxien und Aporien, Zirkel und Widersprüche gelten Hölderlins Texten nicht als Riffe, die es um jeden Preis zu vermeiden gilt, sondern Cf. Urteil und Seyn, SWIV, pp. 216-218, den Brief Nr. 231 und Frank: Der unendliche Mangel, 1. c, pp. 19-31. Cf. Hörisch: Fröhliche Wissenschaft, 1. c, Kap. 2. Über die Verfahrenweise des poetischen Geistes, SW IV, 1, p. 253.

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I. CHARAKTERMASKEN

als rätselhafte Anzeichen des Schönen. Philosophie will vereinheitlichen, das Schöne aber will pluralisieren; es hat keine Angst vor dem Schizoiden; es entdeckt und befreit das Eine als das Eine-in-sich-selbst-Unterschiedene. Wer im Schönen seiner selbst ohne Schrecken inne wird, wird seiner selbst als ein anderer inne. Dem „Gesang" Diotimas, der intentionales und prädikatives Sprechen bewußt meidet- „Nur, wenn sie sang, erkannte man die liebende Schweigende, die so ungern sich zur Sprache verstand'' (III, 55) - dankt Hyperion die grundlegende Einsicht der „poetischen Logik": „Der Mensch ist aber ein Gott, sobald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön, - Sonderbar! rief einer von den Freunden, - Du hast noch nie so tief aus meiner Seele gesprochen, rief Diotima. - Ich hab' es von dir, erwiedert' ich. - [ . . . ] Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst. In ihr verjüngt und wiederholt der göttliche Mensch sich selbst. Er will sich selber fühlen, darum stellt er seine Schönheit gegenüber sich. So gab der Mensch sich seine Götter. Denn im Anfang war der Mensch und seine Götter Eins, da, sich selber unbekannt, die ewige Schönheit war. - Ich spreche Mysterien, aber sie sind." (III, 79) *

Eine bemerkenswerte Umbesetzung klassischer Schemata: Schönheit stellt (anders als das zeitgenössische transzendentalphilosophische Denken) nicht etwa Einheit her(aus), sie disseminiert umgekehrt Einheitlichkeit - der Mensch stellt als der andere seiner selbst „seine Schönheit gegenüber sich". Aus dem Wunsch des „göttlichen Menschen", sich selbst zu wiederholen und sich durch diese spaltende Wiederholung zu fühlen, entspringt die Schönheit, die insofern mit Subjektivität gleich-ursprünglich ist. Wenn Subjektivität „Schönheit gegenüber sich" stellt, um in ihrem Anderen ihrer selbst allererst inne werden zu können, so ist jene „Ur-Theilung"59 vollzogen, die zugleich Möglichkeitsbedingung von (differenter und differierender!) Selbstpräsenz - aber eben zugleich auch von Verdinglichung ist. Was sich als transsubjektives Anderes von Subjektivität behauptet (Gott, objektiver Geist), liest die „poetische Logik" als einen vergessenen Effekt dessen, was „der Mensch" sich „gegeben" hat (incl. seiner Götter). Transsubjektive Gewalten sind dann gleichsam gattungsgeschichtliche Monumente selbstvergessener Subjektivität. Statuten und Wissenschaftslehren, Tübinger Stifte und Universitäten, Staaten und Offenbarungsreligionen sind nämlich gleichermaßen „eingerichtet", instituiert. Angesichts der Verstümmelung, die Subjektivität durch ihre sich autonomisierenden Projektionen erfährt, erinnert die „poetische Logik" daran, daß das sie vermeintlich Konstituierende eben gerade Resultat der Einsetzungsakte sei, die sie im Interesse einer Ermöglichung von Selbstpräsenz, einer Ästhetik der Existenz vollzog. Gegen 59

Urteil und Seyn, SW IV, 1, p. 216.

4. DIE „POETISCHE LOGIK" DES HYPERION

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das konstitutionslogische Selbstmißverständnis der Diskurse, die im Namen einer transsubjektiven Gewalt (im „Namen Gottes", im Namen transzendentaler Subjektivität, im Namen des Souveräns, im Namen ewiger Wahrheiten etc.) zu sprechen meinen, setzt so der ästhetische Absolutismus die projektionslogische Umschreibung vermeintlicher Konstitutionsakte. Ihnen demonstriert er, daß auch sie aus „Stiftungen" von Subjektivität resultieren. Der eigentümlichen Dialektik dieses Primats des Ästhetischen ist Hölderlins Roman eingedenk: wenn nichts oder allenfalls Nichts als festestes Prinzip des Wissens und der Gewißheiten ausweisbar ist und wenn deshalb ästhetische Deutungen argumentativen Zusammenhängen vorausliegen, so sind auch die von Hölderlin kritisierten Texte (von den Statuten bis zur Wissenschaftslehre) als Deutungen von Welt und Dasein nicht im Namen einer höheren Instanz zu verwerfen. Die quasi begriffsrealistische Verselbständigung dessen, was der Mensch „sich gegenüberstellte", um seiner selbst inne zu werden, kann in Hölderlins Texten deshalb doppelt gebucht werden: als Möglichkeit, seiner selbst als des Einen-in-sich-selbst-Unterschiedenen inne zu werden, aber auch als „Entzweiung" und „Widerstreit" (III, 236). Die Einsicht in die Unaufhebbarkeit dieser Ambivalenz motiviert „Hyperions elegischen Karakter" (in, 5). Anlaß zu elegischen Stimmungen bietet denn auch Hyperions Einsicht: wer den platonischen, binären, christlichen, abendländischen Weltbildern60, die Ewigkeit und Zeitlichkeit, Ideen und Empirie, Götter und Menschen in einem hierarchischen Oppositionsschema ordnen, die Beglaubigung kündigt und ihnen ein Ende macht, muß mental mit einem defizienten zeitlichen Sein auskommen - und damit, daß diese Immanenz zeitlichen Daseins ihrerseits ohne Spaltungen, ohne Selbstunterscheidungen, ohne Differenzen nicht zu haben und zu erleben ist. Mit Differenzen, mit Ur-Teilungen, mit Um-Schreibungen, die „unordentlicher" bzw. komplexer sind und mehr Orientierungsschwierigkeiten bereiten als die tradierte Ordnung des binären Diskurses, der zwischen Immanenz und Transzendenz sauber zu unterscheiden verstand. Hölderlins Texte können nicht mehr „im Namen" eines großen Anderen reden; deshalb erfüllen sie den Wortsinn des Begriffs ,Diskurs' - sie dis-currieren, sie laufen auseinander. Der Alp der bisherigen Geschichte der Selbstdeformaüon von Subjektivität lastet deshalb noch auf den poetischen Versuchen, die Gewalt der herrschenden Diskursformation zerfallen zu lassen. Was als radikaler Antidiskurs angelegt war, endet mit der Einsicht in die Unmöglichkeit schlechthin alternativer Sprache: „Ich bringe mich mit Mühen zu Worten" (III, 118), schreibt Hyperion, die Idee eines poetischen Antidiskurses61 zurücknehmend. Diese Idee tendierte gegen die „alten Gesetze der Erde" voll „Sehnsucht" „ins Ungebundene"62, um den „ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der 60

Der Hölderlin-Bewunderer Nietzsche hat das Christentum bekanntlich als „Piatonismus für das Volk" charakterisiert. 61 Zum Begriffeines Antidiskurses cf. M. Foucault: Subversion, p. 137. 62 Mnemosyne (3. Fassung), SWII, 1, p. 197.

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I. CHARAKTERMASKEN

Welt zu endigen" (III, 236). Die Einsicht, daß das Telos von Poesie immer schon realisiert ist, daß Poesie ihrem Buchstabensinn Ehre macht und am Verfertigen und Einrichten der Welt teilhat, daß also „die Welt" nach poetischen Prinzipien eingerichtet und ihr Sinn gemacht ist, setzt ein gespaltenes, ein schizoides Sprechen frei. Dieses Sprechen macht unablässig auf die Identität und die eine Differenz aufmerksam, die poetische von nicht-poetischen Logiken trennt: alle Reden formieren und instituieren63, allein Dichtung aber gibt zu erkennen, daß sie einrichtet und Sinn macht. Andere Diskurse neigen systematisch zu der Selbststilisierung, sie seien außersprachlich fundiert; Dichtung muß hingegen im eigenen Namen sprechen. Dennoch folgen beide Diskursweisen grundsätzlich derselben Logik; und so gerät Hölderlins Dichtung (und paradigmatisch sein Roman Hyperion) in eine eigentümliche single-bind-Situation. Nach der Dekonstruktion eines absoluten sprachtranszendenten Diskurszentrums, dessen Herrschaft paradox zugleich die Hoffnung zuließ, alles könne ganz anders werden, ist „poetische" Subjektivität alternativelos einzig dem verbunden, was (der Fall bzw. im Fall, im Sturz) ist. Zeitliches Sein behält gleichsam das letzte Wort gegenüber allen hypostasierten ewigen und zentrischen Wahrheiten. Ein im Namen eines semantischen Zentrums herrschender Diskurs und ein poetisch auf andere Deutungen und „Einrichtungen" zielender Antidiskurs sind gar nicht so unterschiedlich. Deshalb darf die Sprache als „der Güter Gefährlichstes" charakterisiert werden: sie ist dem Menschen gegeben, damit er zeuge, was er sei, und bezeuge, was der und was im Fall ist. Obwohl sie unablässig Einspruch gegen die hypostasierten Gewalten erhebt, an deren subjektive Einrichtung sie erinnert, ist Hölderlins Dichtung von der ,,gränzenlose[n] Unmacht" der „Zeitgenossen" (III, 129) überzeugt. Diese Ohnmacht wächst in eben dem Maße, in dem sie in militante (jakobinische) Mobilmachung einmündet, die nur die Grundstrukturen eines herrschaftlichen Welt- und Daseinsverhältnisses radikalisiert. Gegen die universale Mobilmachung, die die Neuzeit unter feudalen (bzw. polittheologischen), bürgerlichen (bzw. subjektphilosophischen) sowie revolutionären, jakobinischen (bzw. mythisch-aufgeklärten) Vorzeichen insgesamt charakterisiert, erinnert der „Eremit in Griechenland" daran, was „zu behalten"64 ist: „Zu seyn, zu leben, das ist genug" (III, 148). Hölderlin gibt die Idee eines Antidiskurses auf- schlechthin alles anders einrichten zu wollen heißt den üblichen Furor des Einrichtens nur zu radikalisieren: „Das geht aber / Nicht".65 Statt dessen versucht Hölderlins Dichtung, Bestehendes gut zu deuten und zu (be)zeugen, was der Fall ist. Gegen die universale Mobilmachung der Neuzeit optiert Hölderlins Roman Hyperion für ontologische Bescheidenheit: „dich will ich lieben, harmlos Leben" (III, 127). 63

Man muß deshalb die Sprache überhaupt nicht gleich in toto als „faschistisch" charakterisiem, wie R. Barthes das in seiner Antrittsvorlesung am College de France getan hat. M Mnemosyne (3. Fassung), 1. c, p. 197. 65 Patmos (2. Fassung), SW II, 1, p. 181.

4. D E „POETISCHE LOGIK" DES HYPERION

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Paul Celan: Tübingen, Jänner Zur Blindheit überredete Augen. Ihre - „ein Rätsel ist Reinentsprungenes" - , ihre Erinnerung an schwimmende Hölderlintürme, möwenumschwirrt. Besuche ertrunkener Schreiner bei diesen tauchenden Worten: Käme, käme ein Mensch, käme ein Mensch zur Welt, heute, mit dem Lichtbart der Patriarchen: er dürfte, sprach er von dieser Zeit, er dürfte nur lallen und lallen. immer-, immerzuzu. („Pallaksch. Pallaksch.") Diesen „Lieblingsausdruck" des späten Hölderlin, den er immer dann gebrauchte, „wenn seine Geduld oder die Reste seines Denkvermögens erschöpft waren", konnte man nach Auskunft seines Archivars „das eine Mal für ja, das andere Mal für nein nehmen." 66

Ch. Schwab in: Der kranke Hölderlin - Urkunden und Dichtungen aus der Zeit seiner Umnachtung, ed. E. Trumm, München 1921, p. 109 sq. (Hinweis von G. Kurz).

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I.

CHARAKTERMASKEN

Anhang: Stichworte zur Kritik der Diskurstheorie im Anschluß an Hölderlin Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluß, Lehm, Kot, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag - versteht ihr diesen Gegensatz? F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse

Es gibt ein Bild von Bernardo Rodriguez, das, 1795 fernab von Europa entstanden und der Malschule von Quito verpflichtet, den Heiligen Hieronymus darstellt67. Den Text schreibend, dem vom Tridentiner Konzil nach über tausendjähriger Wirkungsgeschichte weiteste Verbreitung (Vulgata) attestiert wurde, sitzt er vor durchnumerierten Folianten, die über sich mehr, als daß sie geordnet seien, nicht zu verstehen geben. Eine zweite Buchreihe zeigt an, daß der einsame Übersetzer der Vollendung seiner kanonischen Arbeit entgegensehen darf; auch haben die Zeiger der Standuhr, die anachronistisch seinem spätantik-patristischen Arbeitsplatz zugesellt und deren Zifferblatt um eine Stunde voraus verdreht ist, den Mittag überschritten. Da erreicht Hieronymus ein göttlicher Ruf, dessen topische Darstellungsform (die Fanfare) über den barocken Rahmen des Bildes hinaus verweist. Ein züngelnder Blitz nähert sich dem Antlitz des Heiligen, der über dieses Kery gma erschrickt, sich umwendet, die Hände öffnet und den linken Arm so spreizt, daß er zur göttlichen Diagonale, die über sein Gesicht auf seine Feder zielt, eine neue, sie kreuzende Diagonale bildet. Sie verbindet lauter weit aufgerissene Augen von göttlichen Geschöpfen: die wieder wunden Augen des Löwen, der zu des Hieronymus Füßen liegt, seit dieser ihn von Schmerzen befreite, die empfangsbereiten Blicke des Heiligen und den starr-hohlen AugenBlick des Totenkopfes, der ein Schriftstück beschwert, das den Schreiber an die Schuldhaftigkeit seines Daseins erinnert. Die archivierte Schrift auf der rechten Bildseite steht ganz im Zeichen der phonozentrischen Mündlichkeit des göttlichen Wortes, in das sich das Brüllen des Löwen einmischen mag. Die linke Bildseite ist hingegen der Schriftlichkeit reserviert. Sie unterliegt der göttlichen phone so buchstäblich und so allegorisch wie das subjectum Hieronymus. Ein Totenschädel beschwert ein Blatt, das deshalb anders als die Rede nicht verfliegen kann: scripta manent, verba volant - wenn sie nicht verschilftet werden. Die Feder aber, die der Schreibende hielt, als die Stimme ihn traf, bedarf des menschlichen Halts nicht; sie bleibt aufrecht, auch nachdem sich die Hand erschrocken geöffnet hat. Der Unterordnung des Hieronymus unter das göttliche Wort entspricht die des Malers unter das Subjekt seiner Darstellung; Hieronymus selbst-so legt die Ordnung der Papiere auf seiner Schreibplatte nahe - dürfte die Insignien, die auf den Maler verweisen, angebracht haben. 67

Siehe die Abbildung in diesem Band: Abb. XX im Katalog zur Ausstellung „Barocke Malerei aus den Anden", Städtische Kunsthalle Düsseldorf, 10.12.1976-27.2.1977. Öl auf Leinwand, 126 x 89,5 cm.

4.

D I E „POETISCHE LOGIK" DES HYPERION

Bernardo Rodriguez, Der heilige Hieronymus

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I. CHARAKTERMASKEN

Bildnerische Darstellungen von Schreibenden folgen häufig topischen Regeln. Wie der lateinamerikanische Maler, so kennen etwa auch die EvangelienIllustrationen zur Luther-Bibel den Gestus schreibender Dienstfertigkeit, der durchs sub-jectum hindurch denjenigen sprechen und schreiben läßt, der sich allein das Recht vorbehielt, von sich zu sagen: „Ich bin der, der ich bin"68 oder: „ich werde sein der ich sein werde" (2. Mose 3,14). „Ich bin das A vnd das O / der anfang vnd das ende / spricht der HErr / der da ist / vnd der da war /vnd der da kompt / der Allmechtige" (Off. Joh. 1,8). „Ich bin der HERR / das ist mein Name" (Jes.42,8). „ich binsderich von mir selbs zeuge" (Joh. 8,18) und spreche: „Ir seid von vnten her / Ich bin von oben herab. Ir seid von dieser weit / Ich bin nicht von dieser weit. So hab ich euch gesagt / Das ir sterben werdet in ewren Sünden / Denn so ir nicht gleubet / das Ichs sey / So werdet ir sterben in ewren Sünden" (Joh. 8,23 sq.). Gott alleinhat das Privileg der rauschhaft tautologischen Ich = Ich-Rede; und zu diesem Privileg des Absoluten verhält sich die „affektive Bescheidenheit"69 des Hieronymus komplementär. Die Benannten, im Zeichen der Endlichkeit Stehenden, haben die frühe lustvolle Übertretung des götüichen Verbotes, sich selbst einen Namen zu machen, so katastrophisch erfahren, daß sie traumaüsiert auf Jahrtausende darauf verzichteten, sich selbst einen Namen zu machen und zu sprechen: „Wolauff / Last uns eine Stad vnd Thurn bawen / des spitze bis an den Himel reiche / das wir vns einen namen machen" (1. Mose 11,4). Wie die Kompetenz zum selbstrcferentiellen Ich-Sagen blieb auch die Zulassung des amor sui70 seit der Spätantike bis um 1800 mit erstaunlicher Beständigkeit71 dem Einen reserviert, dem die zahllosen Anderen amor Dei entgegenzubringen hatten. Und als 1794 eine Schrift erschien, die sich selbst bescheinigte, sie sei die verbindliche Wissenschafislehre, und die verschwieg, daß sie gleich in ihrem ersten Grundsatz das göttliche Privileg sozialisierte und jedem die Fähigkeit und das Recht zusprach, Ich = Ich zu sagen, wurde ihr Autor bald des Atheismus geziehen und seines Lehrstuhls verwiesen: ein Akt, der von aufmerksamer Lektüre zeugt. Auch der gleichzeitigen frühromantischen Rehabilitierung des Narziß72, dessen Geschichte zuvor die seiner Verdammung gewesen war, war nur kurze Blüte beschieden; zu prekär und anarchisch schienen die Perspektiven, die er und 68

Cf. etwa auch B. Nitschke, Die Handschriftengruppe um den Meister des Registrum Gregorii, Recklinghausen 1966. 69 E. R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Berlin/München 1969, p. 93 sq. Curtius führt diesen Topos auch auf Hieronymus zurück. 70 Cf. u. a. Augustin: de civitate Dei, über XIV, c. 28 und Thomas von Aquin: Summa P. n, l,qu. 77, art. 4. 71 Die jüdischen Häretiker um Sabbatai Zwi haben die Übertretung des Verbots, das den Geschöpfen sich selbst rekursiv zu benennen verwehrt, ritualisiert. Bezeichnender Weise korrespondierte dieser diskursiven Praxis die erotische des Inzests. Cf. G. Scholem: Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus; in: Judaica III. Frankfurt a. M. 1973, pp. 152-197. 72 Cf. J. Hörisch: Die fröhliche Wissenschaft der Poesie, 1. c, p. 131 sqq.

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sein philosophisches „Ich = Ich"-Pendant freisetzen. Schon 1838 konnte ein Buch mit dem schönen Titel Müllers Lehre von der Sünde als abschließende Historiographie der erfolgreichen Verurteilung einer nach 1789 für die wenigen Jahre labil genug sich selbst behauptenden Selbstheit auftreten, die „das anmaßende Begehren unbedingter Selbständigkeit [...] als das eigenmächtige Streben nach Gottgleichheit"73 erkannte und mit der Bitte um göttliche Vergebung zurücknahm. Wie der alleinige Gott „Ich bin, der Ich bin" zu sagen blieb nicht lange angstfrei möglich. Die andauernde Attraktivität des Teufels besteht ja auch gerade darin, daß er von den Subjekten, die sich von Gott besprechen und benennen lassen, seinerseits herbeizitiert werden kann. Davon zeugt besonders eindringlich die Autobiographie Jung-Stillings. „Der junge Heinrich mochte acht Jahre alt seyn; er saß in einem Stuhl und las in einem Buch, sah seiner Gewohnheit nach ganz ernsthaft, und ich glaube nicht, daß er zu der Zeit noch in seinem Leben stark gelacht hatte. Stähler [ein Nachbar der Stillings, J.H.] sah ihn an und sagte: Heinrich w as machst du da? - , Ich lese.' - Kannst du denn schon lesen? -Heinrich sah ihn an, verwunderte sich und sprach: Das ist ja eine dumme Frage, ich bin ja ein Mensch. - Nun las er hart, mit Leichtigkeit, gehörigem Nachdruck und Unterscheidung. Stähler entsetzte sich und sagte: Hol' mich der T.. .so was hab ichmein lebtagnicht gesehn.Bei diesem Fluch sprang Heinrich auf, zitterte und sah schüchtern um sich; wie er endlich sah, daß der Teufel ausblieb, rief er: Gott, wie gnädig bist du! - trat darauf vor Stählern und sagte: Mann! habt ihr den Satan gesehen? Nein, antwortete Stähler. So ruft ihn nicht mehr, versetzte Heinrich, und ging in eine andere Kammer."74 Der fromme Achtjährige, der demütig liest, was nicht er geschrieben hat, und der diese Empfänglichkeit als Menschsein versteht, fährt denjenigen an, dem er zuschreibt, wie Gott sprechend schaffen und herbeiztitieren zu können. Als Resultat dieser Anmaßung scheint ihm einzig die katastrophische Präsenz des Teufels möglich. Die um 1850 gängigen Abwertungen „Ich = Ich" sagender Subjektivität haben (bei aller Unterschiedlichkeit etwa zwischen positiver Philosophie, Marxens materialistischer Waren- und Revolutionstheorie, Comtes positivistischer Soziologie und Kierkegaards existentialistischer Kritik der Subjektphilosophie) ein untergründiges gemeinsames Motiv. Sie teilen nämlich die Befürchtung, Subjektivität könne mit der Subversion des göttlichen Namens (Ich bin, der ich bin) dessen Herrschaftsanspruch usurpiert haben, ohne sein Versprechen auf Gnade als Bestandteil der fälligen Erbschaft anzuerkennen. Wenn Menschen das göttliche Narzißmus-Privileg übernehmen, die Erde nach ihrem Bilde einrichten und sich einen Namen machen wollen, indem sie die Geschichte wie die Natur mit Willen und Bewußtsein „machen" - warum soll dann dem Tod Gottes nicht auch der Tod des Menschen folgen?

J. Müller: Die christliche Lehre von der Sünde, Bd. I. Breslau 1844 (2.), p. 152 J. H. Jung-Stilling: Lebensgeschichte, ed. G. A. Benrath. Darmstadt 1976, p. 49.

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I. CHARAKTERMASKEN

Nietzsche war es vorbehalten, diese in der idealismuskritischen Philosophie des 19. Jahrhunderts zwar vorbereitete, aber nicht auf den Punkt gebrachte Überlegung in vollendeter Klarheit auszusprechen. Seine von der Diskurstheorie emphatisch übernommene Destruktion des einen Subjekts brachte nicht „nur" das Zentrum transzendentalphilosophischer Theorie, sondern zentrisches und fundierendes Denken überhaupt in Bedrängnis. „Das Subjekt als Vielheit"75 und die „Person" als „Rendez-vous von Personen"76 wurden denkbar, erst nachdem die „grammatische Gewöhnung" und mit ihr ein Inskriptionsbegriff von Subjektivität zum Thema geworden waren, die dies- und jenseits von theologischer Unterwerfung angesetzt sind: ,„Es wird gedacht: folglich gibt es Denkendes': darauf läuft die Argumentation des Cartesius hinaus. Aber das heißt unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als ,wahrapriori1 ansetzen: -daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, ,das denkt', ist einfach eine Forderung unsrere grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Tun einen Täter setzt."77 Während Nietzsche aber diese Subversion des Subjekts doppelt, nämlich als genitivus subjectivus und objectivus versteht, scheinen einige Varianten der französischen Diskurstheorie78 in einer Tradition zu stehen, in der sich Nietzsches Destruktion des Transzendentalsubjekts mit dem „Haß auf das moi, [mit dem] Pascalismus"79 verbindet. Das Begehren des Diskurses der Diskurstheorie, nach dem sie selbst zu fragen lehrte80, zielt dann auf die Preisgabe des Subjekts, das andere Varianten einer Kritik an der Transzendentalphilosophie bewahrt wissen wollen. Foucaults spätere Arbeiten über eine Ästhetik des Selbstseins und Derridas Hinweise auf eine Ethik der Antwort und der Verantwortung81, die gerade um so dringlicher wird, je mehr sich die Bodenlosigkeit von Letztfundamenten zeigt, haben diese Form von Kritik an der Diskurstheorie als Mißverständnis herausgestellt. Die Subjektkritik der Diskurstheorie ist in dem Maße die einfache Wahrheit, in dem ein realgeschichtlicher Abbau des Subjekts statthat, das zunehmend um Möglichkeiten gebracht wird, seiner selbst ohne Schrecken inne zu werden. Diskurstheorie aber rehabilitiert nicht nur das vorlutherische Verständnis des Subjekts als subjectum, als hypokeimenon, als das, was einer Codierung unterliegt. Sie ist vielmehr einer (in der Tat: post-modernen) Zeit gemäß, in der es einfach ein enthusiasüsches Mißverständnis wäre, davon auszugehen, nur der sprachmächtige Mensch, nur das zoon logon echon hätte das Exklusivrecht an der Produktion von Zeichen. Diese Kompetenz ist bekanntlich zu weiten, zu buchstäblich entscheidenden Teilen in und an symbolverarbeitende Maschinen übergegangen. „Ich fürchte wir werden Gott nicht los, - weil wir noch an die 75

Nietzsche: Nachlaß der Achtzigerjahre, WW Bd. III, p. 473. Ibid., p. 585. 77 Ibid., p. 577. 78 Manfred Franks Arbeiten haben darauf immer wieder hingewiesen. 7 ' Ibid., p. 590. 80 Cf. M. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, passim. 81 Cf. jetzt vor allem J. Derrida: Vers une ethique de la discussion, in: Limited ine. Paris 1990.

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4. DIE „POETISCHE LOGIK" DES HYPERION

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Grammatik glauben"82. Die Diskurstheorie glaubt nicht unbedingt an die Grammatik, deren Strukturen sie auch in den Ordnungen des Symbolischen, der Sexualität, des Diskurses und der Episteme wiedererkennen kann. Aber sie hat Gründe dafür, das Andere des Subjekts, das Lacan mit dem Epitheton ,groß' zu versehen nicht versäumt, an der Stelle des abgedankten Gottes wiederzuerkennen. Umgekehrt galt das Begehren derjenigen, die Fichtes Wissenschaftslehre vor der Selbstdestruktion retten wollten, dem Aufweis der „apriorität des Individuellen / über das Ganze"83. Nemlich unrecht Wie Rosse, gehn die gefangenen Element' und alten Geseze der Erd. Und immer Ins Ungebunden geht eine Sehnsucht. Vieles aber ist Zu behalten.84 Während die Diskurstheorie das Subjekt vom Signifikanten her denkt, der es bewohnt, hält Hölderlin bei aller Kritik am Fichteschen Subjektzentrismus an der Doppel struktur des Subjekts fest. Ihm ist nicht nur der Signifikant „das, was das Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert"85, sondern umgekehrt das Subjekt auch die apriorische Lücke, der vorgängige Mangel, der die Fülle der Zeichen erst zu einer bedeutsamen Signifikantenkette verhält. Das Subjekt kann seinen Mangel als Konstituens der Signifikantenkette begreifen, die es konstituiert (et vice versa). Die Apriorität des Individuellen über das Ganze ist Hölderlins paradoxe Formel für dieses Modell: das Ich ist das Apriori des ganzen Zusammenhangs, dessen Element es zugleich ist. Bedeutsam aber ist das Subjekt allein um seines Mangels willen - nämlich aufgrund der abgründigen Apriorität des Mangels der Zeitlichkeit gegenüber der Fülle des Seins wie der Zeichen. Das Begehren dieses Verständnisses von Subjektivität kann „ins Ungebundene" zielen, weil es den Mangel des Subjekts nicht ausschließlich als Indiz seiner Zweitrangigkeit, sondern auch als Movens seiner dekonstruierenden wie konstituierenden Produktivität festhält. Wir aber sind Gemeinen gleich, die gleich Edeln Gott versuchet. Ein Verbot Ist aber, deß sich rühmen [...] Auch so machet Das Recht des Zimmermanns Das Kreuz.86 Nietzsche: Götzendämmerung, WWII, p. 960. F. Hölderlin: Apriorität des Individuellen-FA - Einleitungsband. Frankfurt a. M. 1975, p.86. Ibid., p. 84. J. Lacan: Subversion du sujet et dialectique du de"sir, 1. c, p. 819. Hölderlin: Apriorität, 1. c, p. 84 sqq.

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Der grammatischen Ambiguität dieser Verse, die Gemeine und Edle ebenso gleichsetzen, wie sie beide und Gott als Subjekt und als Objekt der Versuchung zu lesen lehren87, entspricht die Ambiguität des von ihnen entworfenen Subjekts. Sie begehren, daß mit seiner Exzentrik auch seine Fähigkeit erhalten bleibe, die Strukturen zu unterlaufen, zu verwerfen, zu verdrängen und umzudeuten, die es konstituieren. Und sie begehren, nicht nur das Andere des Subjekts anzuerkennen, sondern auch das Subjekt als das Andere des Anderen, dessen Inexistenz die Semiologie Lacans behauptet88 - und als das Andere seiner selbst. Hölderlins exzentrische Verse wollen die Subjektivität beschwören, die sich als andere Subjektivität erfährt. Es gibt ein Bild von Gilles Allaus/Francis Biras/LucioFanti und Fabio Rieto, das einige der Diskurstheoretiker im Mai 1968 in der Datscha von Levi-Strauss versammelt zeigt. Sein barocker Titel lautet: „Louis Althusser zögert, in die Datscha ,Tristes Miels' von Claude Levi-Strauss einzutreten, wo Michel Foucault [Jacques Lacan unterschlägt der Titel, J. H.] und Roland Barthes versammelt sind, in dem Augenblick, als der Rundfunk bekannt gibt, daß die Arbeiter und Studenten beschlossen haben, fröhlich Schluß zu machen mit ihrer Vergangenheit."89 n... die gleich Edlen Gott versuchet [haben]" - so lautete dann die zweite Lektüre. Cf. Lacan: Subversion du sujet, 1. c, p. 818: „II n'y a pas l'Autre de l'Autre." Öl auf Leinwand, 200 x 400 cm, 1969.

Martin Heidegger, Kostas Axelos, Jacques Lacan, Jean Beaufret, Elfriede Heidegger und Sylvia Lacan in Guitrancourt 1955

5. „Die Not der Welt" Vieldeutige Ausnahmezustände in Kleists semantischen Komödien An einem Hochsommertag, da „rings umher die Welt [als] Paradies" erscheint, vertraut Werther dem Brieffreund seine melancholischste Einsicht an: „Der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht? [. . .] Da ist kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein mußt; der harmloseste Spaziergang kostet tausend arme Würmchen das Leben, es zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha! nicht die große, seltne Not der Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt; die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumle ich beängstigt. Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her: ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer."1 Auf Werke Goethes lassen sich die Themen und Motive der Kleistschen Dichtung - Katharina Mommsen hat das ausführlich belegt2 - fast ausnahmslos beziehen. Keinen zweiten Goethe-Text aber dürfte Kleists Gesamtwerk so hartnäckig umworben, variiert und potenziert haben wie diesen entgrenzt melancholischen Brief Werthers. Auch Kleists Werke beschwören den „Abgrund des ewig offenen Grabes"; auch sie kennen keinen einzigen verläßlichen Augenblick, der nicht sofort verzehrend und zerstörend sein könnte; und auch ihnen stellt sich die Welt als „ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer" dar. Seine Affinität zu Werthers Erfahrung der Welt - daß nämlich Sein und Dasein eine perennierende Katastrophe sind gibt Kleists prominentester Text deutlich zu verstehen. So wie Werther „nicht die große, seltne Not der Welt", sondern in der Not den Normalfall betrauert, so verläßt Michael Kohlhaas den Schauplatz seiner ersten Demütigung „ohne

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Goethe: Die Leiden des jungen Werther, Hamburger Ausgabe Bd. 6. München 1981 (7.), p. 52 sq. 2 Kleists Kampf mit Goethe. Heidelberg 1974.

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irgend weiter ein bittres Gefühl, als das der allgemeinen Not der Welt" (II, 13)3. Zum Normalfall einer „allgemeinen Not der Welt" pflegt in Kleists Texten nun aber mit großer Regelmäßigkeit und doch stets erneut unversehens der Ausnahmefall einer besonderen Katastrophe hinzuzutreten. Es ist nämlich ein geradezu rituelles Element in Kleists Uberbietungskampf mit Goethe, daß in seinen Werken die „allgemeine Not" als zu harmlos und deshalb zu uninteressant erscheint. Ist sie doch als allgemeine Not kalkulierbar und also von Momenten plötzlich überfallartiger Überraschung frei.4 Mit den Überraschungseffekten, die Ausnahmesituationen mit sich führen, setzen die meisten Dichtungen Kleists ein. Eine Ästhetik des Schreckens5 überbordet die Verläßlichkeit, die noch der allgemeinen Not eignet. Melancholie angesichts universaler Defizienz muß deshalb dem chochaften Entsetzen vor dem Schrecklichen weichen. In Kleists Szenarien ist der Ausnahmezustand der Normalfall. Das zeigt schon ein erster Blick auf Kleists Texte: Immer waren Kriege binäre Veranstaltungen zwischen Feinden; doch plötzlich, so müssen die Griechen vor Troja erfahren, gilt diese allgemeine Not nicht mehr. Eine dritte partisanen- und amazonenhafte, schrecklich-schöne Partei zeigt sich als „ergrimmter Feind von beiden", so daß selbst der listenreiche Odysseus den logischen Normalfall für außer Kraft gesetzt erklärt: „So viel ich weiß, gibt es in der Natur/Kraft bloß und ihren Widerstreit, nichts Drittes" (I, 326 - Penthesilea v. 129, 125 sq.). Der kriegerische Ausnahmezustand, mit dem Penthesilea den Anfang macht, erweist sich bald - Potenzierung des schaurigen Grauens - als Manifestation des sexuellen Ausnahmezustandes, dessen Faszination Achill in jeder Weise erliegt. Mit einem sexuellen bzw. theologischen Ausnahmezustand, der zeugungslosen Schwangerschaft, beginnt auch die Erzählung von der Marquise von O..., die Goethes Definition der Novelle als Schilderung einer unerhörten Begebenheit buchstäblich nimmt, wenn sie eine ungeheure und nie zuvor gelesene Anzeige in ein normales Zeitungsblatt einrückt. Alle Einzelereignisse, von denen Kleist im folgenden berichtet, sind denn auch um eine Ausnahme konstelliert. Der Marquise scheint widerfahren zu sein, was nie geschah „außer der heiligen Jungfrau" (II, 124). Ihr Vater ist ein Bild vollendeter und verläßlicher Liebenswürdigkeit, außer in dem Augenblick, da er die Pistole auf seine Tochter richtet. Immer glaubt die Mutter vertrauensvoll ihrer Tochter, nur ein einziges konsequenzenreiches Mal nicht. Stets erscheint der um die Marquise entsagungsreich werbende Graf als „Engel", einmal freilich war er ein „Teufel". Und noch nach der Lösung des konfliktreichen Rätsels hat eine, ja vielleicht die paradigmatische Ausnahme schlechthin stattgefunden: Vater und Tochter überschreiten die sexuelle Gesetzlichkeit per se, wenn sich dem mütterlichen Blick durchs 3

Eingeklammerte Seitenangaben im Text referieren auf die zweibändige Ausgabe von H. von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, ed. H. Sembdner 4 Cf. zum Plötzlichkeitsmotiv in modemer Kunst K. H. Bohrer: Plötzlichkeit - Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981. 5 K. H. Bohrer: Ästhetik des Schreckens. München 1978.

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Schlüsselloch - welch ausnahmehafte Inversion des urszenischen Normalfalles - folgender Anblick der Versöhnten bietet: „Die Tochter still, mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegend; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, lange, heiße und lechzende Küsse, das große Auge voll glänzender Tränen, auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter! Die Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz saß er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küßte sie." (II, 138) „Wie Brautleute" gehen die inzestuös Ausnahmehaften denn auch anschließend zur „Abendtafel". Die Ausnahme schlechthin aber darf der Inzest genannt werden, weil er dem logischen Tabu vom ausgeschlossenen Dritten zur lebensweltlichen Wirklichkeit verhelfen könnte: die Frucht eines Eltern-Kind-Inzests gehörte zugleich und in derselben Hinsicht einander widersprechenden Registern zu - wäre sie doch in derselben Hinsicht auf ihren Erzeuger zugleich Kind und Geschwister. Ob gesetzlose Willkür (wie im Michael Kohlhaas) oder schreckliche Naturkatastrophe (wie im Erdbeben von Chili), ob grausame Revolte (wie in der Verlobung von St. Domingo) oder entsetzliche Epidemie (wie im Findling), ob grenzenlose Identitätsverwirrung (wie im Amphitryon) oder überwertige Einschreibung von Identität (wie im Prinz von Homburg) - stets werden die Figuren Kleists und mit ihnen seine Leser in Ausnahmezustände nicht etwa, wie in Goethe-Texten, kunstvoll initiiert, sondern plötzlich geworfen. Und selten genug wird ihnen darin jener eigentümliche Trost zuteil, den Kleist am Vorabend des „wichtigsten Tages [s]eines Lebens in Würzburg" verspürte. Im Brief an seine Verlobte hat Kleist diesen Trost illustriert: „Ich ging an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg spazieren. Als die Sonne herabsank war es mir als ob mein Glück unterginge. Mich schauerte wenn ich dachte, daß ich vielleicht von allem scheiden müßte, von allem, was mir teuer ist. / Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine aufeinmal einstürzen wollen - und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken läßt." (II, 593 - Brief vom November 1800) Der Trost, den diese abgründige Beschreibung zu spenden vermag, ist labil in jedem Sinne. Keine der zahlreichen katastrophenverliebten Figuren Kleists endet denn auch so trostlos wie jene, der dieser Trost zugesprochen wurde. „Steh, stehe fest, wie das Gewölbe steht, / Weil seiner Blöcke jeder stürzen will!" (Penthesilea v. 1349 sq.) ruft die engste Vertraute Penthesilea zu. Diese aber stürzt immer erneut und so insistent, daß am Ende noch ihre Seele hintersinnig als „Ruine" (v. 2789) angesprochen werden muß. Die Ruine ist die Wahrheit über das Gewölbe, das durch konstruktive List am Einsturz gehindert zu werden schien. Denn in der Ruine holt die Natur sich das zurück, was Menschen der Natur entwinden wollten, um es damit nur um so gründlicher dem Sturz auszuliefern.

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I. CHARAKTERMASKEN

Der Rückfall des vom guten Gott oder allen guten Geistern verlassenen Menschen in seine naturgeschichtliche Vorwelt ist Kleists genuines Thema. Zum katastrophischen Sturz aber tendieren selbst noch die Komödienfiguren Kleists, die dem Fall entronnen zu sein scheinen. Denn die Strukturen, die über das menschliche Dasein bestimmen und es zur kulturellen Emanzipation von Naturgeschichte anhalten, sind einfach nicht verläßlich. Kleists Dichtung beschwört immer erneut die Dauer-Krise dieser Strukturen: nämlich die strukturellen Krisen von Liebe, Sprache und Tausch. Diese aber entbehren deshalb jeder Verläßlichkeit, weil ihnen das andere ihrerselbst innewohnt. Geradezu besessen schildern Kleists Texte den Umschlag von Liebe in Haß, von Verständigung in entsetzliches Mißverständnis, von gerecht scheinender Äquivalenz in Betrug und Macht. Nicht nur Penthesilea, auch die Verlobten in St. Domingo, die Marquise von O..., Graf Wetter vom Strahl u. a. erliegen der Dissonanz von „Küsse und Bisse". Nicht nur Penthesilea, sondern auch die Verlobten, Michael Kohlhaas, die Beteiligten am Zweikampf u. a. müssen feststellen, daß der Verständigung fundierende illokutionäre Sprechakt schlechthin, das Versprechen, ein Versprecher sein kann. „Ich hab mich, bei Diana, bloß versprochen", so Penthesilea zur von ihr zerfleischten Leiche Achills, der dem Versprechen eines bloß inszenierten Kampfes glaubte, „weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin; / Doch jetzt sag ich dir deutlich, wie ichs meinte: / Dies, du Geliebter, wars, und weiter nichts. (Sie küßt ihn)." (vv. 2486-89) Und nicht nur Penthesilea, sondern schlechthin alle Figuren Kleists, Michael Kohlhaas voran, müssen erfahren, daß der Tausch von Werten, Erklärungen und Papieren kein gerechter und verläßlicher, sondern eine durch Macht und Betrug gebrochene Struktur ist. Zur allgemeinen Not der Unverläßlichkeit dieser Dasein bestimmenden Strukturen tritt in Kleists Dichtung die Krise der Institutionen hinzu, die diese Strukturen zu einer gewissen Regelmäßigkeit verhalten sollen. Erst durch die Krise der liebevollen Familie (die so liebevoll nicht ist: siehe die Familie der Marquise oder die des adoptierten Findlings), des sprachmächtigen, doch sich immer versprechenden Subjekts, des machtmonopolistischen (den gerechten Tausch sichernden) Staates und des Herrschergottes, der Gottmensch wurde, wird die allgemeine Not der Welt zum erschreckenden Ausnahmezustand. Von ihm heißt es in der Politischen Theologie des Staatsrechtlers Carl Schmitt: „Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik."6 *

Mit der theologischen Ausnahme kat exochen: daß der Gott sich personal und unzweifelhaft offenbart, endet Kleists Amphitryon. Dennoch ist fraglich und in 6

Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 1979 (3.), p. 22.

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der Deutungsgeschichte dieses Stoffes und Textes immer fraglich gewesen, ob sein Thema ein genuin theologisches überhaupt ist. Diese Fraglichkeit findet in der Vielzahl der Gestaltungen des Stoffes einen sinnfälligen Ausdruck. Nicht weniger als 37 bezeugte Bearbeitungen des Amphitryon-Stoffes (u. a. von Aischylos, Sophokles und Euripides über Plautus und mittelalterliche PlautusAdaptionen bis zu Rotrou, Moliere und Kleist) zählte Jean Giraudoux, als er in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts seine Variante niederschrieb, die er dann sachlich folgerecht unter den Titel stellte: Amphitryon 38. Seitdem sind zahlreiche weitere Variationen und Durchführungen dieses Themas hinzugekommen (u. a. von Georg Kaiser, F. Michael und Peter Hacks). Dieses Themas, dieses einen Themas? Von einem gemeinsamen Thema kann um Gottes, Jupiters, Alkmenes, Amphitryons und Sosias' willen die Rede nicht sein. Der Fülle an Bearbeitungen entspricht die Überfülle der Motive, die dem Amphitryon-Stoff eingewoben sind. Und diese Motivfülle hat kein zweiter Bearbeiter so verdichtet und verrätselt wie Heinrich von Kleist. Über sein 1803 entstandenes, 1807 publiziertes und erst 1899 uraufgeführtes Stück hat Thomas Mann lapidar und doch superlativisch geurteilt: „Dasist das witzig-anmutsvollste, das geistreichste, das tiefste und schönste Theaterspielwerk der Welt."7 Seine Handlung ist schnell erzählt. Der höchste Gott, Jupiter selbst, hat in Gestalt des thebanischen Feldherren Amphitryon mit dessen schöner Gemahlin Alkmene eine unvergleichlich beglückende, eben göttliche Nacht verbracht. Und so muß der siegreich aus seiner Schlacht am Morgen heimkehrende irdische Amphitryon ähnlich wie sein Diener Sosias, den der Gott Merkur doublierte, feststellen, daß er schon dagewesen, daß seine Rolle, seine Wunsch-Handlung, seine Identität schon restlos vergeben sind - kurzum: daß er trostlos und rettungslos überflüssig ist. Die daraus resultierende allseitige Verwirrung und Bestürzung löst sich erst durch eine abschließende deus-ex-machina-Szene, wie sie buchstäblicher nicht sein könnte. Jupiter offenbart sich öffentlich und erfüllt seinem gestürzten und versöhnten irdischen Nebenbuhler die Bitte um einen großen Sohn: ihm werde Alkmene den gottgezeugten Herkules schenken. Eine ebenso suggestive wie laszive Geschichte entbindet zusammen mit einem - so Thomas Mann - „zweifellos um hoch krankhafter Reize willen erkorenen Gegenstand" „das innig-geistreich irisierende Doppelwesen des Stückes." Was aber ist nun eigentlich sein Thema, wie läßt das Ideal des Problems sich benennen, worauf es eine befreiende Antwort versucht? Ist es die gottmenschliche Begegnung, die das Stück konsteUiert? Oder ihre Brechung in der Herr-Knecht-Motivik? Steht aber in seinem Mittelpunkt denn tatsächlich ein theologisches oder soziales Gefälle und nicht vielmehr die Differenz zwischen „Geliebtem und Gemahl" (v. 458)?8 Und ließe dann das Ganze sich nicht als sehr 7

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Th. Mann: Kleists .Amphitryon' - Eine Wiedereroberung; in: Th. Mann: Leiden und Größe der Meister, Frankfurter Ausgabe, ed. P. de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1982, p.453. Angaben der VeTszahl beziehen sich fortan auf Amphitryon nach der Edition von Sembdner.

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I. CHARAKTERMASKEN

ernster Scherz um den und mit dem alten Satz begreifen, danach pater semper incertus est / der Vater stets ungewiß ist? „Merkur: Wer gibt das Recht dir, Unverschämter, / Den Namen des Sosias anzunehmen? Sosias: Gegeben wird er mir, ich nehm ihn nicht. / Mag es mein Vater dir verantworten" (198-201). Und nur wenig später nimmt wiederum Merkur das heikle Thema auf: „Du nennst dich Sosias? /Sosias: Ja, ich gestehs, ein unverbürgtes/Gerücht hat mir - " (272274). Wäre demnach nicht die Differenz zwischen der sinnlichen Gewißheit, Mutter zu sein, und dem Geltungsanspruch, Vater zu sein, wäre also die Differenz zwischen „innerstem Gefühl" (1155) und der Kraft der Reflexion, deren gattungsgeschichtliche Entdeckung Bachofen in seiner epochalen Schrift Das Mutterrecht später für den Sturz des Matriarchats verantwortlich macht, das geheime Zentrum des Stücks? Mit der Kraft der Reflexion scheint es freilich schlecht bestellt zu sein. Reflexiv ihrer selbst inne zu werden ist den sterblichen Figuren dieses Stücks ebenso versagt, wie zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Wäre demnach das Doppelgänger-Motiv eigentlich konstitutiv für das dramatische Geschehen -jenes Motiv also, das Kleist bis an die Grenze der klinischen Erfahrbarkeit von Schizophrenie ausgestaltet? Sosias sagt über Alkmene zu Amphitryon, was jeder über jeden zu sagen Anlaß hätte: „Sie braucht fünf Grane Nieswurz; / In ihrem Oberstübchen ists nicht richtig" (v. 859 sq.). Richtig verhielte es sich hingegen mit jemandem, der die gleich mehrfach gestellte Frage „wer bin ich?" (v. 2111 u. ö.) für sich und andere überzeugend zu beantworten wüßte. Dies aber mißlingt allen, die sich daran versuchen, so gründlich, daß sie den Versuch bald hochtraumatisiert aufgeben. So sagt Sosias, seine Selbstfindungsversuche resümierend, zu seinem Herren, der kein Herr mehr ist: „Und kurz ich bin entsosiatisiert, / Wie man euch entamphitryonisiert"(v. 2158 sq.). Ist also, um zu schematisieren, die zentrale Thematik und Motivik von Kleists Amphitryon etwa eine theologische, eine erotische, eine psychologischpathologische oder eine selbstbewußtseinstheoretische? Selbst wenn eine überzeugende Antwort gelänge, würde bald erneute Verwirrung sich einstellen. Denn was wäre das für eine Theologie, die Zeus, Jupiter, den christlichen Gott und den mehrfach genannten Teufel gleichermaßen zuließe? Die die christliche Heilsverheißung - „Dir wird ein Sohn geboren werden" (v. 2335) - mit Laszivitäten der griechisch-römischen Götterwelt zusammenbringt? Und welche Erotologie mutete uns ein Stück zu, das die Unterscheidung von Geliebtem und Gemahl zugleich betont und unmöglich macht? Dürfte eine Soziologie Mindestansprüche an Stimmigkeit stellen, die mit geradezu systematischer Lust den Sieger besiegt und den Herrscher beherrscht darstellt? Wäre eine Psychologie konsistent, die Es, Ich und Über-Ich in eine einzige instanzen- und orientierungsentbundene Skandalgeschichte verstrickt? Und hätte eine Theorie des Selbstbewußtseins Überzeugungskraft, die durchweg offenläßt, ob es ihr Thema: nämlich verläßliches, gewissestes Bewußtsein seiner selbst, überhaupt gibt? Ach, die Verwirrung ist groß, und die Vieldeutigkeiten dieses Stückes sind offenbar irreduzibel. „Wer auf die Suche nach Synkretismen geht, wird

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vieles finden", heißt es denn auch in der bedeutendsten Erwägung unter den vielen Untersuchungen zum Amphitryon.9 Deshalb bewährt sich gegen jeden Versuch einer deutenden Reduktion der Komplexität von Kleists Amphitryon das selbstkommentierende Wort Jupiters an die Geliebte, die von den Mehrdeutigkeiten des abschiednehmenden vermeinten Gemahls irritiert ist: „Es hat mehr Sinn und Deutung, als du glaubst" (v. 502). Kleists Stück düpiert das interpretatorische Geschäft. Und es düpiert auch und noch diejenigen Interpreten, die sich jeder Verwirrung ledig glauben, da doch scheinbar alle Verwicklungen sich einzig und allein dem genuinen, aber harmlosen Theaterspaß einer Usurpation göttlicher Kompetenz verdanken. Aber eben nur scheinbar, wie denn überhaupt das Stück die Differenz von Sein und Schein bis auf die göttliche Offenbarungsszene tilgt. Kleist nämlich hat mit souveräner Subtilität deutlich gemacht, daß der besagte Problemkomplex der Zerstörung von Identität und Orientierung schon gegenwärtig ist, noch bevor göttliche Interventionen die Lebenswelt über das normale Maß hinaus verwirren. Schon bevor die Anwesenheit eines Gottes für Desorientierung sorgt, finden nämlich die genannten Verwirrungen statt: im großen Eingangsmonolog des Sosias. In einer Nacht, da alle Katzen grau und alle Unterscheidungsmerkmale hinfällig sind, kommt, noch bevor Merkur ihm seine Identität streitig macht, Sosias sich selbst abhanden, ohne es so recht zu merken. Er, der Alkmene vom Verlauf der Schlacht berichten soll, die er, in ein Zelt verkrochen, nicht erlebte, sondern überlebte, entfaltet die Möglichkeiten seiner gewitzten Rhetorik, um die mangelnde Authentizität seines Berichts zu überborden. Mit dem Erfolg, daß er sich in seiner glänzenden Rede unbemerkt verstrickt. Er kommt nämlich in seiner eigenen Rede doppelt, als Sprechenderund Angesprochener, als Ich und Du vor und wird sich damit selbst zum Doppelgänger: „Triumph, du bist nunmehr am Ziel, Sosias, /Und allen Feinden soll vergeben sein" (v. 31 sq.). Und überdies ist die gesamte Rede nicht seine, vielmehr ergeht sie im „Auftrag" und im Namen eines anderen, eines Dritten. Schon der vermeintlich integrale Sosias ist fast so zerstreut, zerfallen und fremdbestimmt wie später der ausdrücklich „entsosiatisierte". Die vermeintliche Ausnahme völliger Ich-Dissoziation erweist sich als der Normalfall, den allein die Kraft erfolgreicher (Selbst-)Verkennung vergessen macht. Darauf macht die abrupte Begegnung mit Merkur aufmerksam. „Merkur (vertritt ihm den Weg). Halt dort! Wer geht dort? Sosias: Ich. Merkur: Was für ein Ich?/Sosias: Meinsmit Verlaub. Und meines, denk ich,geht/Hierunverzollt gleich andern. Mut Sosias!" (w. 148-150). Was das für ein Ich sei, das da identisch-different aufsein anderes bzw. auf sich selbst prallt, wird fortan die Leitfrage des Stückes sein. Unter allen Fragen scheint sich diese denn doch als die dominante zu erweisen: „Wer bin ich?" Der Frage nach ichhaftem SelbstbeA. Henkel: Erwägungen zur Szene II, 5 in Kleists .Amphitryon' und: Antikritischer Epilog - Zur Frage nach dem Sinn von Kleists .Amphitryon'; in: A. Henkel: Der Zeiten Bildersaal - Studien und Vorträge, Kleine Schriften 2. Stuttgart 1983, p. 130.

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wußtsein oder selbstbewußtem Ich wird die Leistung zugemutet, mögliches Integral auch für die restlichen Fragestellungen zu sein. Denn alle Einzelannahmen, -Vorstellungen und -Wahrnehmungen haben ein konsistentes Selbstbewußtsein, für das sie gelten, zur Voraussetzung. Damit stellt Kleist die ihm spätestens seit seiner vielbeschworenen „Kantkrise'' von 1801 wohl vertraute Problemexposition der Transzendentalphilosophie nach: wie muß ein Ich verfaßtund beschaffen sein, das in der Lage ist, alle divergenten Bewußtseinsfaktoren in seine Identität zu integrieren? Es muß, so Kant und Fichte, seiner selbst bewußt sein; es muß Bewußtsein seines Bewußtseins haben können, und zwar derart, daß es sich angesichts der wechselnden Fülle von Wahrnehmungen als identischer Schauplatz dieser Wahrnehmungen selbstbezüglich durchhält. Aber eben diese verläßliche Selbstbezüglichkeit zerfällt in Kleists Amphitryon schon anfangs. Alle Versuche, zu sich selbst widerspruchsfrei „Ich" zu sagen, mißlingen heillos. Jemand, der sich mit sich selbst identifiziert, muß ja zuvor schon wissen, wer er ist - so wie ich schon wissen muß, wie ich aussehe, um ein Spiegelbild als meines ausmachen zu können. Die Identität mit sich selbst muß demnach ein anderer gestiftet haben. Selbstbeziehung ist ein Effekt von Fremdbeziehung, und Ent-Fremdung ist logisch und chronologisch früher als Bei-sichselbst-Sein. Der Wille des Sosias, den Satz „Ich = Ich", mit dem Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 den systematischen Anfang macht, so selbstverständlich auszusprechen wie den logischen Grundsatz „A = A", den Fichte gleichermaßen bemüht, dieser schlichte Wille wird bald durchkreuzt und stößt auf einen Gegen-Satz, auf einen Wider-Spruch. Merkur, nachdem er Sosias sein Ich schlagend ausgetrieben hat: „Bist du Sosias noch? Sosias: Ach laß mich gehn. / Dein Stock kann machen, daß ich nicht mehr bin; / Doch nicht, daß ich nicht Ich bin, weil ich bin. / Der einzge Unterschied ist, daß ich mich / Sosias jetzo der geschlagne, fühle./Merkur: Hund, sieh, so mach ich kalt dich. Er droht [. . .] Bist du Sosias noch, Verräter? Sosias: Ach! /Ich bin jetzt, was du willst." (vv. 228239) Drastischer läßt sich nicht illustrieren, daß Fremdbeziehung jeder Form von Selbstbeziehung vorausgeht und überlegen ist. Das aber heißt in problemlogischer Hinsicht: das Thema .Selbstbewußtsein und personale Identität' scheint nur das Integral der zahllosen Motive und Probleme des rätselhaften Stückes zu sein, das seinen Grund hingegen in anderen Dimensionen findet, in theologischen. Ein Gott entscheidet, wer wann und wie als selbstbewußtes Ich gelten darf. In der Ausnahmesituation gänzlicher Verwirrung entscheidet ein Gott darüber, was gilt und nicht gilt. Ein Gott freilich, der die Verwirrung, die er dezisionistisch klärt, zuvor selbst gestiftet hat. Kleists Götter Jupiter und Merkur sind seltsame Souveräne. Noch Moliere, nach dessen Vorlage Kleist seinen Text neu einrichtete, hatte Jupiter ja ausdrücklich als „Souverain des Dieux" gekennzeichnet, dessen Herrschaftlichkeit keine ernsthafte Kränkung erleidet. Zur Eigentümlichkeit des Göttersouveräns und des göttlichen Souveräns bei Kleist aber gehört es, daß er seiner Souveränität sich entledigt oder ledig wird. Und eben dadurch stiftet er allererst die überkomplexe Verwirrung, deren sinnfälliger Schauplatz die Di-

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lemmata der menschlichen Selbsterfahrung sind. Arthur Henkel hat in seiner einläßlichen Interpretation der Szene II/5 das „theologische Zentralmotiv nicht nur dieser Szene, sondern des ganzen Stückes"10 herausgestellt: aus dem Gott, dem Anbetung gebührt, wird der liebende Anbetende. Dem Inversionsverlauf der Szene H/5 hat Henkel diese Verwandlung abgelesen: „Zu Beginn: Alkmene knieend vor dem Gemahl, das Diadem in der Hand, mit welchem die so verstörende Veränderung vor sich ging. Am Schluß: Jupiter in der Haltung des Anbetenden: ,Mein süßes angebetetes Geschöpf...' Er huldigt dem vollkommenen Menschen, einem Glücksfall der Schöpfung. Dazwischen ereignet sich das Drama einer transzendenten Versuchung."11 Es ist ein äußerst heikles Stück Theologie, das da einen Gott einer schönen Frau verfallen sein und zu ihr sagen läßt: Du wolltest ihm, mein frommes Kind, Sein ungeheures Dasein nicht versüßen? Ihm deine Brust verweigern, wenn sein Haupt, Das weltenordnende, sie sucht, Auf seinen Flaumen auszuruhn? Ach Alkmene! Auch der Olymp ist öde ohne Liebe. Was gibt der Erdenvölker Anbetung Gestürzt in Staub, der Brust, der lechzenden? (v. 1514 sqq.) Eine heikle Theologie zweifellos, die einen Gott auf menschliche Anbetung, nicht aber auf das Begehrtwerden durch eine schöne Frau verzichten läßt. Ein seltsamer, liebenswerter Gott, der keiner mehr sein will, um ganz Geliebter sein zu können. Ein eigenartiger Souverän schließlich, der darüber sein primäres Geschäft: die Welt zu ordnen, gründlich vernachlässigt. Unübersehbar aber sind die Folgen, die dieser Gottesverzicht nach sich zieht. Mit dem Zerfall der deutlichen Differenz von Gott und Mensch, Himmel und Erde, Transzendenz und Immanenz geht die Orientierung verloren, die binären Schemata eigen ist. Die Komplexität und das Gewicht der Welt werden höher und schwerer zu (er-)tragen, wenn klare Differenzen sich so ineinander verschränken, daß die Welt einem in jeder Weise verdrehten Möbiusband gleicht. Kleist gestaltet solche gott-menschlichen und mensch-göttlichen Verschränkungen. Er läßt, um die daraus resultierende Überkomplexität sinnfällig aufzuzeigen, seinen „Jupiter gewissermaßen wechselnde Masken von Theologoumena vornehmen: der allem Moralischen überlegene Gott, der allmächtige Gott des Kosmos, der eifrige, der rächende, der Gott des Hen kai Pan, der Pascalsche, und als metaphorische Basis solchen göttlichen Gestaltwandels dient die erotische Sprache der Mystik, von der Gottesminne, dem Einwohnen Gottes in der Seele."12 Dieses Spiel der Masken wäre im Rahmen einer Theologie, die Gott und 10

Ibid., p. 119. Ibid., p . l l l . 12 Ibid., p. 120. 11

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die Welt gegeneinander ausdifferenziert, schier unmöglich. Und es entbindet jene „Zweideutigkeit der Sprache, die Kleist ausbeutet, wenn er seinen Amphitryon auch als semantische Komödie inszeniert."13 Kleists Amphitryon: ein Stück, das mit den tiefsinnigen Paradoxien der Selbstbeziehung beginnt, diese als scheiternde Kompensation theologischer Gewißheitsverluste ausweist und dann zur „semantischen Komödie" wird, die eine Gewinn- und Verlustrechnung des Verzichts auf ein transzendentales Signifikat aufmacht. Kleists Kunst subtiler Anspielung weist daraufhin, daß mit dem Ich, welches Sosias und Amphitryon je waren und hatten, auch der logische und semantische Grundsatz von der Selbstidentität, daß also auch die vermeintlich universale Gültigkeit des Satzes „A = A" zerfällt. Die Perepetie der Handlung ist nämlich einem mit sich selbst nicht identischen Gegenstand und einem Buchstabenspiel anvertraut, wie es hintersinniger kaum sein könnte. Der siegreiche Amphitryon möchte Alkmene ein erbeutetes Diadem zum Geschenk machen, in das er den Anfangsbuchstaben ihres oder eben auch seines Namens hat eingravieren lassen. Sosias will nun prüfen, ob sein Doppelgänger Merkur auch über sein eigenes Geheim wissen verfügt: „Was nahm mit diesem Diadem man vor?/Merkur: Man grub den Namenszug Amphitryons / Auf seine goldne Stime leuchtend ein. Sosias: Vermutlich trägt ers selber jetzt - ? Merkur: Alkmenen / Ist es bestimmt." (w. 332-336) Amphitryon-Alkmene/Absender-Adressat/A = A, aber eben auch A = nicht-A: ein tiefsinniger Scherz mit Fichtes und nicht nur Fichtes, sondern aller Logiker ernstestem Grundsatz. Ein Scherz, dessen Vieldeutigkeit um so ernsthafter ist, als sich auf dem Diadem, das Alkmene dann tatsächlich erhält, eben kein A, sondern ein J, der Anfangsbuchstabe des Gottesnamens Jupiter findet. Doch dies gilt es festzuhalten: auch das eingravierte A war, bevor ein J, ein Jot, ein Gott es verdrängte, in sich selbst doppeldeutig. Charis, die Frau des Sosias, wendet sich in all ihren Orientierungsnöten an ihre Herrin Alkmene: „Was ist das für ein Kleinod, meine Fürstin? Alkmene: Das Diadem ist es, desLabdakus,/Das teure Prachtgeschenk Amphitryons, / Worauf sein Namenszug gegraben ist. / Charis: Dies? Dies das Diadem des Labdakus? / Hier ist kein Namenszug Amphitryons. Alkmene: Unselige, so bist du sinnberaubt? / Hier stünde nicht, daß mans mit Fingern läse, / Mit großem, goldgegrabnen Zug ein A? / Charis: Gewiß nicht, beste Fürstin. Welch ein Wahn? / Hier steht ein andres fremdes Anfangszeichen. / Hier steht ein J. Alkmene: Ein J. Charis: Ein J!" (vv. 1108— 1119). Das hat mehr Sinn und Deutung, als man glaubt. Kleist läßt den Geist der IchPhilosophie an vieldeutigen Buchstaben scheitern. Die konkurrierenden Buchstaben aber sind nun wiederum so inkompatibel nicht, wie es den Anschein hat. Konfigurieren die Buchstaben J und A doch zu einem „JA". Zu einem Ja, das Jupiter, Amphitryon und Alkmene gleichermaßen einschließt und zuläßt. Bewährt sich darin nicht auch der verdeckte Buchstabensinn der Titelgestalt? 13

Ibid., p. 114.

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5. „Dm NOT DER WELT"

Amphitryon hat nicht umsonst einen sprechenden Namen: der auf beiden Seiten (Amphi-) (sich) Aufreibende, Erschreckende (von griech. tyrein, lat. terrere) oder ein wenig populäretymologisch: der doppelt vorkommende Dritte (griech: treis/drei). Und dies ist denn wohl doch das Grundthema und -motiv von Kleists Stück: daß es ein alleiniges Thema nicht haben kann, da schon die Beziehung eines Subjekts zu sich selbst a priori doppeldeutig ist; daß die Beziehung zweier in eine tiefe Krise gerät, wenn ein Dritter hinzukommt (selbst dann, wenn dieser Hinzukommende wie der dem irdischen Paar verheißene Herkules ein dem göttlichen mysterium conjunctionis entsprungenes Kind ist); und daß schließlich der Mensch ein eigentümlich und irreduzibel vieldeutiges Wesen ist, weil er zugleich den unterschiedlichsten Sphären und Registern zugehört und also jedem Versuch logischer Festlegung Hohn spricht. Das Leben ein Traum und der Mensch ein Kategorienfehler - ein Wesen, das trostlos oder aber faszinierend zwischen vielen Sphären oszilliert und Kategorien der Unterscheidung durcheinanderwirft. Geliebter und Gemahl, Gott und Tier, Selbstbewußtsein und dumpfe Bewußtlosigkeit, Herrscher und Beherrschter, innigstes Gefühl und übelste Täuschung und . . . und vieles mehr verschränkt sich zugleich in dem Spiel, das menschliches Dasein heißt. Wiederum ist es Sosias, dem diese Einsicht zuteil wird. Als Charis in ihm, den Merkur zuvor wie ein Tier behandelte, verwirrt den Gott Apoll zu sehen glaubt, bricht er in die Worte aus: „Apollon, ich? bist du des Teufels? - Der eine / Macht mich zum Hund, der andre mich zum Gott? - Ich bin der alte, wohlbekannte Esel / Sosias." (vv. 1660-1663) Sosias erfährt wie die anderen sterblichen Figuren traumatisch die condition humaine und lernt doch, sie als comeclie humaine auszuhalten, zu erleben. Eines ist unter all den Ungewißheiten in Kleists Amphitryon gewiß: die Figuren dieser semantischen Komödie werden in eine seltene und logikferne Weisheit initiiert. Diese Weisheit verspricht nicht, Vieldeutigkeiten auf Einsinnigkeit reduzieren zu können. Aber sie macht irreduzible Vieldeutigkeit als Abenteuer und Reiz der Immanenz begreiflich und erträglich. Das unterscheidet Kleists Komödien von seinen sonstigen Texten. Sie nämlich verzweifeln daran, daß Welt und Dasein anhaltende Ausnahmezustände sind, die kein Gott, kein Souverän und kein transzendentales Signifikat zur verbindlichen Klarheit strukturiert. *

Wie es in einer Welt zugeht, die kein Gott mehr souverän regiert, hatte Kleist schon in einer weiteren „semantischen Komödie", im Zerbrochnen Krug, vorgeführt. In ihrem thematischen Mittelpunkt steht jene Institution, der von jeher die Aufgabe zugeschrieben wird, die Abwesenheit oder Unerkennbarkeit Gottes oder des göttlichen Willens zu kompensieren: das Recht. Recht demonstriert durch seine schiere Existenz, daß Menschen dem Stand bloßer Naturverfallenheit entraten sind. Gleichwohl macht DerZerbrochne Krug, dessen durchaus unparadiesische Protagonisten die Namen Adam und Eve tragen, mit Problemen menschlicher Naturverfallenheit den Anfang. Daß Menschen der Naturgeschichte

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zugehören, aus der sie zugleich auch hinausgefallen zu sein sich einbilden, setzt die Ausnahmesituationen frei, von denen Kleists Dichtungen durchweg handeln. Unverläßlich wie der Gott, dem Amphitryon begegnet, ist auch die Naüur, der der Dorfrichter Adam begegnet. Die „Spur", die vor-schreibt, im Richtenden einen zu Richtenden zu sehten, könnte sinnlich gewisser, könnte natürlicher kaum sein. Frau Brigitte, die nach der „Krugzertriimmerung" an den Ort des rätselhaften Geschehens eilt, sieht mur noch einen Entfliehenden, der gleich doppelt an den Teufel gemahnt: durch seine halbanimalische Gangart - „Und Menschenfuß und Pferdefuß von hier, / U n d Menschenfuß und Pferdefuß, und Menschenfuß und Pferdefuß, / Quer durch den Garten, bis in alle Welt" ( w . 1726-1729) 14 - und durch seine fäkalische Hinterlassenschaft: Frau Brigitte: Zuerst jetzt finden wir Jenseits des Gartens, in dem Lindengange, Den Platz, wo Schwefeldämpfe von sich lassend, Der Teufel bei mir angeprellt: ein Kreis, Wie scheu ein Hund etwa zur Seite weicht, Wenn sich die Katze prustend vor ihm setzt. Walter: Drauf weiter? Frau Brigitte: Nicht weit davon steht jetzt ein Denkmal seiner, An einem Baum, daß ich davor erschrecke. Walter: Ein Denkmal? Wie? Frau Brigitte: Wie? Ja, da werdet Ihr Adam für sich: Verflucht, mein Unterleib. Licht: Vorüber, bitte. Vorüber, hier, ich bitte, Frau Brigitte, (vv. 1766-1776). Suchte man nach einem zuverlässigen Kriterium der Unterscheidung von klassischer und „antiklassischer"15 Literatur - in der Präsenz von „Unterleib"Problemen wäre es zu finden. So unvorstellbar Wendungen wie „Verflucht, mein Unterleib" in Dramen wie Tassojphigenie oder Maria Staarf wären, so unabdingbar sind sie in den Stücken Kleists. Sie rehabilitieren die idealistisch, humanistisch und bewußtseinsphilosophisch verdrängte Dimension der Leiblichkeit und machen darauf aufmerksam, daß der kreatürliche Mensch seinen Körper nicht nur hat, sondern zugleich auch sein Körper ist. Aus dieser krisenanfälligen Gleichzeitigkeit von „Körper-Sein und Körper-Haben"16 hat Helmut Plessner

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Angaben der Verszahl beziehen sichfortan zufdenZerbrochenen Krug nach der Edition von Sembdner. 15 Die Literaturgeschichtsschreibung bedient sich häufig des Begriffs „Antiklassismus", um Autoren wie Kleist, Hölderlin und Jean Paul qualifizieren zu können. 16 H. Plessner: Anthropologie der Sinne; in: Philosophische Anthropologie, ed. G. Dix. Frankfurt a. M. 1970, p. 249.

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den „eruptiven Charakter von Lachen und Weinen"17 hergeleitet. Er ist für die Gattung des Lustspiels konstitutiv. In der gattungsspezifischen Fähigkeit zu lachen und zu weinen dokumentiert sich das exzentrische Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Beide Phänomene, Lachen wie Weinen, sind kaum intentional steuerbar; sie überkommen den Menschen, der dann erfährt, daß der „Ausgleich zwischen Körpersein und Körperhaben"18 nicht a priori gegeben oder daß die „Binnenlage meiner selbst in meinem Körper"19 nicht per se stabil ist. Die Ausnahme des exzentrisch lachenden oder weinenden Körpers wirft ein Licht auf seine verfängliche Normalität. Das muß auch der Dorrrichter Adam schmerzlich erfahren. Nichts aber ist ihm ungelegener als eben diese Erfahrung, daß das „körperleibliche Dasein für den Menschen ein Verhältnis (ist), in sich nicht eindeutig, sondern doppeldeutig, ein Verhältnis zwischen sich und sich (wenn man es genau sagen will: zwischen ihm und sich)."20 Als Richter ist er gewohnt, Selbstbezüglichkeit oder gar leibliche Selbstaffektion zu tabuisieren, um desto entschlossener über andere urteilen zu können. Und so ist sein Entsetzen groß, als sein Alptraum sich in Gestalt einer „ganzen Sippschaft" (v. 409) inkarniert, die anrückt, das „Verhältnis zwischen sich und sich" oder „ihm und sich" zu thematisieren: „Die werden mich doch nicht bei mir verklagen?" (v. 500) Der anti-transzendentalphilosophische Impuls dieser Wendung ist unverkennbar und von der Kleist-Literatur häufig vermerkt worden.21 Gaben nämlich Kants wie Fichtes Theorien des Selbstbewußtseins, die gerne juristischer Metaphorik bemühten, Selbstbezüglichkeit als ursprüngliches Datum aus, so schildert Kleists Stück sie als Zwangseffekt von Intersubjektivität: andere nötigen ein beklagenswertes Subjekt, das nichts weniger will als eben dieses, ein bewußtes Verhältnis zu sich selbst zu entwikkeln: Adam: Mir träumt', es hau ein Kläger mich ergriffen, Und schleppte vor den Richtstuhl mich; und ich. Ich säße gleichwohl auf dem Richtstuhl dort. Und schält' und hunzt' und schlingelte mich herunter, Und judiziert den Hals in Eisen mir. (vv. 269-273)

Poetische Kritik an Kants und Fichtes Selbstbewußtseinstheorie ist um 1800 so gängig, daß es naheliegt, von einem generellen Streit der Medien Poesie und

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H. Plessner: Lachen und Weinen; in: 1. c, p. 31. Ibid., p. 45. " Ibid., p. 44. 20 Ibid., p. 43. 21 Paradigmatisch etwa bei G. Blöcker: Heinrich von Kleists Werk ist „die vollständige Bankrotterklärung des deutschen Idealismus". ,8

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Philosophie22 zu sprechen. Von der Fichte-Kritik aber, die etwaGoethe, Hölderlin, Jean Paul, Schlegel und Novalis vorgetragen haben, unterscheidet sich diejenige Kleists entschieden. Sie nämlich spielt nicht die athetische Verfahrensweise des Mediums Poesie gegen die thetische Struktur des Mediums Philosophie aus, sondern wiederholt in eigentümlicher Weise das Dilemma, das sie doch kritisiert. Travestiert sie im Denkstil des Dorfrichters Adam eine Philosophie, die Vernunft vor den „Gerichtshof der Vernunft"23 bringt, so ergeht es der Poesie kaum besser. Der Zerbrochne Krug ist auch ein Stück radikaler poetischer SelbstKritik. In Kleists Lustspiel sitzt Dichtung so, wie sie es an Philosophie kritisiert, über sich selbst zu Gericht. Zwei Anspielungen auf topologische Motive der Poetologie geben das zu verstehen. Als Adam auf Eve kaum verhüllt einredet, die Wahrheit über die nächtlichen Geschehnisse nicht mitzuteilen, zitiert er die zentrale Bestimmung des Poetischen durch Aristoteles. „Es ergibt sich aus dem Gesagten", so resümiert Aristoteles seine Überlegungen, „daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist, zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre."24 Des Dorfrichters poetische Kompetenz ist kaum zu bestreiten; und auch ihm geht es weniger um das, was geschehen ist, als um das, was geschehen könnte, wenn deutlich würde, was geschehen ist: Adam: Ei, Leutchen! Ei, Frau Marthe! Was auch macht Sie? Wie schüchtert Sie das gute Kind auch ein. Wenn sich die Jungfer wird besonnen haben, Erinnert ruhig dessen, was geschehen, - Ich sage, was geschehen ist und was, Spricht sie nicht, wie sie soll, geschehn noch kann: Gebt acht, so sagt sie heut uns aus, wie gestern, Gleichviel, ob sies beschwören kann, ob nicht, (vv. 795-802) Adams Bemühung ist eindeutig; sie zielt auf die Zurücknahme der Differenz zwischen Aussage und Ausgesagtem, zwischen enonciation und enonce; und sie gilt somit der Herstellung universaler Zweideutigkeit, was der Gerichtsrat Walter denn auch sofort vermerkt: „Nicht doch, Herr Richter, nicht! Wer wollte den / Parteien so zweideutge Lehren geben" (v. 804 sq.). Der Gerichtsrat selbst brächte das gestörte Verhältnis zwischen „les mots et les choses" wieder ins rechte Licht und Lot, wenn seine Intervention nicht selbst ebenfalls notwendig eine sprachliche wäre: „Dir setzt nicht mehr ins Protokoll, Herr Schreiber", so wehrt er Adams Versuch, Zweideutiges eindeutig falsch protokollieren zu 22

Cf. zur topologischen Geschichte dieses Motivs E.-R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1969, Kapitel 11. 23 Cf. die gerichtsmetaphorischen Wendungen in der Kritik der reinen Vernunft, B 281, 697, 767, 779 u. ä. 24 Aristoteles: Poetik, ed. O. Gigon. Stuttgart 1981, p. 36 (9).

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lassen, ab, „Als nur der Jungfer Eingeständnis, hoff ich, / Vom gestrigen Geständnis, nicht vom Fakto" (vv. 825-828). Zwischen „Geständnis" und „Faktum" nicht eindeutig unterscheiden zu können ist aber das zweite - ebenfalls schon antike - Motiv poetologischen Denkens, das der Zerbrochne Krug umspielt. Im Dorfrichter findet der alte Topos vom lügenden Dichter einen beredten Ausdruck; und so ist es nur plausibel, wenn Adam auch die Kunst des Rhapsoden25 personifiziert, die darin besteht, poetische Lügen durch suggestive Rhetorik vergessen zu machen: Adam „folgt dem großen Griechen" (v. 148) Demosthenes. Die Unhintergehbarkeit26 und also Unverläßlichkeit des Mediums Sprache, in das Philosophie, Jurisdiktion, Poesie und Alltagsleben sich teilen, ist das eigenüiche Leitthema des Zerbrochnen Kruges. Über die wechselseitige Angemessenheit von signifiants und signifies, von Diskursen und Sachverhalten vermag keine dritte sprachjenseitige Instanz zu entscheiden. Das ist die außermoralische27 Möglichkeitsbedingung für „Aufhetzer [und] niederträchtige Ohrenbläser" (v. 910), die sich den Umstand, „qu'il n'y a aucune realite prediscursive"28, zu Nutze machen. Auch Frau Marthe weiß, daß es keine außeroder vorsprachliche Wirklichkeit gibt, wenn sie so unvergleichlich spricht oder besser: die Sprache selbst sprechen läßt: Frau Marthe: Dir langzertrümmerndes Gesindel, ihr! Ihr sollt mir büßen, ihr! Veit: Sei sie nur ruhig, Frau Marth! Es wird sich alles hier entscheiden. Frau Marthe: O ja. Entscheiden. Seht doch. Den Klugschwätzer. Den Krug, den zerbrochenen, entscheiden. Wer wird mir den geschiednen Krug entscheiden? Hier wird entschieden werden, daß geschieden Der Krug mir bleiben soll. Für so 'n Schiedsurteil Geb ich noch die geschiednen Scherben nicht. Veit: Wenn Sie sich Recht erstreiten kann, Sie hörts, Ersetz ich ihn. Frau Marthe: Er mir den Krug ersetzen.

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Cf. H. Anton:,Minna von Barnhelm' und .Hochzeiten von Philologie und Philosophie'; in: Neue Hefte für Philosophie 4/1973, Kapitel ,LügendeDichter, Rhapsoden, Kritiker'. 26 Cf. hingegen K. Lorenz / J. Mittelstraß: Die Hintergehbarkeit der Sprache; in: KantStudien 58/1967, p. 187 sqq. 27 Cf. Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne; in: Werke, ed. K. Schlechta, Bd. UL München 1966, p. 309 sqq. Cf. M. Kommerells Kleist-Deutung: Die Sprache und das Unaussprechliche - Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist; in: Schilleweit (ed.): Interpretationen - Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht. Frankfurt a. M. 1965, p. 220: Im Zerbrochnen Krug ist die „Sprache in sich falsch, noch ehe sie bei andern ankommt". 28 J. Lacan: Encore, Paris 1975, p. 33.

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I. CHARAKTERMASKEN

Wenn ich mir Recht erstreiten kann, ersetzen. Setz Er den Krug mal hin, versuch Ers mal, Setz Er 'n mal hin auf das Gesims! Ersetzen! Den Krug, der kein Gebein zum Stehen hat, Zum Liegen oder Sitzen hat, ersetzen! (w. 413^429) Die Unhintergehbarkeit des sprachlichen Mediums wird von allen Streitenden und Richtenden in dieser semantischen Komödie gleichermaßen anerkannt. Der Dorfrichter ist rasch bereit, einen Diskurs gegen einen anderen auszutauschen, da Diskursivität selbst nicht suspendierbar ist. „Adam: Mein Seel! /Wenn ich, da das Gesetz im Stich mich läßt, /Philosophie zu Hülfe nehmen soll,.. ." (w. 1081-1083)Und selbst der Gerichtsratmuß anerkennen, daß Adam nicht schlechthin wahrheitsfern redet, wenn er die strukturale Verschränkung von Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne ausspricht: „In Eurem Kopf liegt Wissenschaft und Irrtum / Geknetet, innig, wie ein Teig, zusammen." (v. 1060 sq.) Kleists Texte sind häufig mit denen Kafkas verglichen worden. Tatsächlich aber sind beide einander in der bündigen Antizipation der diskurstheoretischen Einsicht affin, daß es keine Metasprache gibt. Kafkas Gleichnis mit dem Titel Von den Gleichnissen macht unvergleichlich deutlich, daß es zwischen Gleichnis und verglichener Wirklichkeit kein quasi göttliches Drittes gibt. Vielmehr kommt einem Relat der Relation von Gleichnis und Verglichenem die Funktion zu, die gesamte Relation zu dominieren: Das Gleichnis selbst ist das Dritte der Relation von Gleichnis und Verglichenem. Und deshalb kann Frau Marthe als die sprachbesessenste der Figuren Kleists den doppeldeutigen Satz sprechen: „Was ich der Red' entgegne? / Daß sie, Herr Richter, wie der Marder einbricht, / Und Wahrheit wie ein gakelnd Huhn erwürgt." (vv. 1047-1049) Wenn aber Rede immer wieder andere Rede erwürgt, sofern Wahrheit selbst einem „gakelnden Huhn" gleicht, so stürzt das idealistische Schema fundierender Potenzierungen zusammen, demnach etwa Gegenstände und Sachverhalte bewußt sein müssen, es aber auch ein Bewußtsein dieses Bewußtseins, also Selbstbewußtsein geben muß, wenn das Gegenstandsbewußtsein zuverlässig sein soll. Gegen die Verstrickungen, die von Meta-Modellen ausgehen, demonstrieren Kleist wie Kafka ein schönes, befreiendes Argument: so wenig der Blick sich selbst oder auch nur das Auge, das ihn schickt, zu erblicken vermag, so wenig besagt das, was sagen besagt, selbst etwas. Es gibt keine Metasprache, die Wahrheit zu fundieren vermöchte, sondern nur ergehende Diskurse; denn es gibt kein Drittes zwischen Welt und Sprache, das mit beiden gleichermaßen kompatibel wäre. Die Suspension des idealistischen Modells metastruktural verbürgter Wahrheit aber ermöglicht Kleists erkenntniskritische Rehabilitierung des Leibes. Der Leib nämlich übernimmt die Funktion, die einer imaginären Metasprache versagt ist; er selbst wird zum Zeichen und indiziert Wahrheit gemäß dem Gesetz: „Ce qui n'est pas venu au jour du symbolique, apparait dans le reel."29 An des J. Lacan: Ecrits. Paris 1966, p. 338.

5. „ D E NOT DER WELT"

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Dorfrichters Leib erscheint, was seine Rede nicht ans Licht und schon gar nicht in Lichts Protokoll kommen lassen möchte: die Male seines enttäuschten Begehrens. So wie bei Lachen und Weinen, zu denen Lustspiele Anlaß geben, „diemenschliche Person (zwar) ihre Beherrschung (verliert, aber Person bleibt), indem der Körper gewissermaßen für sie die Antwort übernimmt"30, somanifestiert Adams Körper die Zeichen, über die seine Rede, ihrer unvergleichlichen Virtuosität zum Trotz, die Beherrschung verliert: Adam ist, nach eigener Aussage, „unbildlich hingeschlagen" (v. 14). Er kann nicht verhindern, daß der reale Sturz Signifikanten hinterläßt, die Verschwiegenes offenbar werden lassen. Motivgeschichtlich auffallend ist es, daß gerade die Literatur, die das Vertrauen in das Funktionieren von Meta-Sprache nicht mehr aufbringt, umgekehrt die Ubiquität sprachlicher Strukturen bebildert, wenn sie noch den Leib als Zeichen versteht. Dem motivgeschichtlichen Indiz entspricht ein theorietechnischer Umstand: auch die diskurstheoretische Kriük metasprachlicher Konstrukte universalisiert Sprachstrukturen, wenn sie behauptet: „L'inconscient est structure comme un langage"31 und wenn sie noch das Reale als Medium der Aufdrift von unbewußt gewordener Symbolizität begreift. Wovon aber diese Symbole Symbole sind - darüber entscheidet kein Gott, kein transzendentales Signifikat, kein objektivistisches Kalkül der Korrelation von Symbol und Symbolisiertem, sondern schiere Macht. Die Adams Macht noch überbietende Macht des waltenden Gerichtsrates ist es, die die referentiellen Unentscheidbarkeitsprobleme der vertrackten Geschichte durch einen Schiedsspruch löst. Kleist interpretiert-wie später Nietzsche32 - Interpretationen als Machttechnik. Die Überkomplexität einer verwirrenden Zeichenfülle wird in Kleists Lustspielen von einer einzig durch Macht ausgezeichneten Instanz - durch einen übergeordneten Gerichtsrat oder gar durch einen Gott - auf überschaubare Strukturen reduziert. Hingegen ist es den anderen Dramen Kleists eigentümlich, daß die imaginäre Verstrickung unentschuldbarer Gegenpositionen, die „alle Katzen grau" (v. 923) erscheinen läßt, durch die strukturierende Intervention Dritter nicht gelöst, sondern zerstört wird. Die Sprengung dyadischer Verschränkung durch ihre Triangulation aber ist die strukturale Umschreibung dessen, was ineins Macht und symbolische Ordnung heißen darf. Daß Macht stets im Namen der symbolischen Ordnung und ihrer Dispositive wie Religion und Jurisprudenz ausgeübt wird, zelgDerZerbrochne Krug, indem er auf das fundamentale Paradigma symbolischer Ordnungen anspielt: auf die ödipale Formation. Im Anschluß an Wolfgang Schadewaldts bahnbrechenden Aufsatz ist auf Parallelmoüve zwischen dem Ödipus-Drama des Sophokles und dem Zerbrochnen Krug immer wieder aufmerksam gemacht worden. Kleists 30

H. Plessner: Lachen und Weinen, 1. c, p. 42. J. Lacan: Ecrits, 1. c, passim. 32 Nietzsche: Werke, 1. c, Bd. III, p. 487: „Das Interpretieren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein [...] als ein Affekt." 31

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I. CHARAKTERMASKEN

Vorrede zum Zerbrochnen Krug vergleicht das Stück ausdrücklich mit dem antiken Stoff: „Der Gerichtsschreiber [auf dem Kupferstich, der Kleist zur Konzeption des Stückes anregte, J.H.] sah [...] jetzt denRichter mißtrauisch zur Seite an, wie Kreon bei einer ähnlichen Gelegenheit, den Ödip" (1,176). Und als „gleichsam negatives Spiegelbild des sophokleischen Ödipusgeschehens"33 begreift Schadewaldt Kleists Stück: „Auch Ödipus, der König, ist ein Richter [...], und hauptsächlich alsRichter handelt er in dem Stück. Umgekehrt ist der Dorfrichter Adam durch seinen Klumpfuß von Kleist, gewiß nicht ohne wohlerwogene Absicht, recht deutlich als ein anderer,Schwellfuß', das ist: Oidi-pus, hingestellt. Und beide, König wie Richter, haben nun in der Tragödie wie im Lustspiel eine noch unentdeckte Tat begangen, die sie im Gang der Handlung selbst als Richter aufdecken sollen: eine richterliche Fahndung, die, zuerst zurückhaltend, dann immer deutlicher, auf eine Selbstfahndung hinausläuft. Und weiter: den Anstoß für die Handlung gibt in der Tragödie ein Spruch des Delphischen Orakels, in der Komödie steht an dieser Stelle die Verfügung eines Obertribunals in Utrecht, das der Gerichtsrat Walter in Person verkörpert - auch sein Name ,Walter' ist bedeutungsvoll gewählt. So wie nachweisbar der Kurfürst im ,Prinzen von Homburg' Züge des höchsten Gottes Zeus besitzt, mag dieser ,Walter' in der Komödie als .Waltender' den Gott der Wahrheit, Apollon, .bedeuten'."34 Die offensichtlichen Parallelen zwischen den Dramen von Sophokles und Kleist erschöpfen sich jedoch nicht in noch so überraschenden Motivanalogien; beide Texte haben auch eine gemeinsame Tiefenstruktur. Ihre Protagonisten, Ödipus bzw. Adam, bemühen sich nämlich um die Beseitigung des Dritten oder um die Reduktion sprachlich-triangulärer auf imaginär-dyadische Beziehungen. Ödipus tötet Laios, der wie Walter aus einem „Hohlweg" (v. 203) kommt, um lokaste nahe sein zu können, und Adam verdrängt Ruprecht, der seine Annäherung an Eve verstellt. Und beide, Ödipus wie Adam, müssen erfahren, daß der verdrängte Dritte wiederkehrt, ihre imaginären Wünsche durchkreuzt, die Geltung der Symbolordnung restauriert und die herrschaftlichen Größen-Subjekte unterwirft, sub-jektiviert. Auf keine andere Äußerung reagiert der Dorfrichter denn auch so gereizt wie auf die Vermutung, „ein dritter" neben Ruprecht und Leberecht könne der „Krugzertrümmerer" gewesen sein: „Ruprecht: Es kann ein dritter wohl gewesen sein. / Adam: Ach, was! Krummbeinig! Schafsgesicht!" (v. 1230 sq.). Nur al s Gegen wart des Teufels i st ihm die Präsenz des Dritten überhaupt denkbar. Für den Wunsch ist der Dritte des Teufels. Ihn und damit die Intervention der Symbolordnung ins Reich imaginärer Wünsche anzuerkennen, kann der Dorfrichter dennoch nicht umhin. „Den Teufel hat, soviel ich weiß, /Kein Atheist noch bündig wegbewiesen" (v. 1745 sq.). Das Gesetz von der Suprematie der 33

W. Schadewaldt: Der .Zerbrochene Krug' von Heinrich von Kleist, in: Sophokles: König Ödipus, ed. Schadewaldt, Frankfurt a. M. 1975, p. 1. 34 Ibid., p. 110 sq.

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5. „Dm NOT DER WELT"

triangulären Symbolordnung über das Imaginäre35 wird somit von ihrem ärgsten Feind selbst ausgesprochen. Der Dorfrichter erinnert, als er Walter trunken machen möchte, an die „gute Zahl" drei oder an die „Pythagoräer-Regel" (v. 1529 sq.), die die Dreizahl so hoch schätzt: „Eins ist der Herr. Zwei das finstre Chaos. /Drei ist die Welt" (v. 1531 sq.). Mit diesen Worten fordert Adam Walter zum dreifachen Trinken auf. Die mutwillige Umdeutung dieser Regel, die ebenso präzis wie bündig die Sequenz von Größen-Selbst, dyadisch unentscheidbarer Verstrickung und triangulärer Symbolordnung formuliert, ist denn auch zum Scheitern verurteilt: „Drei Gläser lob ich mir. /Im dritten trinkt man mit den Tropfen Sonne" (v. 1533 sq.), sagt Adam, um Walter ins „finstre Chaos" der Trunkenheit zu führen. Doch dieser erkennt die tiefe Weisheit der „PythagoräerRegel"; er trinkt dreifach, bleibt gleichwohl nüchtern und entscheidet im Sinne der Geltung der Regel, die sich gegen ihre Umdeutung im Dienst des narzißtischen Subjekts behauptet. Die Zahl Drei aber verweist auch auf Eves Namen, der aus drei Buchstaben besteht. Sie konfigurieren zu einem Palindrom und erweisen derart die weibliche Zentralfigur als privilegierte Gestalt der Wahrheit. Eves Mund verwahrt ein „Geheimnis", das die Männer begehren und reden heißt; Eves Mund allein entscheidet über die Semantik der Zeichen, die Adams Leib eingeschrieben sind; und Eves Mund ist der Ort, da über Wahrheit und Unwahrheit auch der Aussagen anderer entschieden wird. Kleists Umschrift des Paradiesgeschehens läßt den Mann den Sündenfall begehen, indem sie die Frau zum Subjekt/Objekt des Begehrens erklärt, das den männlichen Leib mit Signifikanten schlägt. Ödipus und lokaste, Adam und Eva, Adam und Eve - vieille histoire de la verite-femme: „Femme est un nom de cette non-verit£ de la vente?'36 Oder in der weniger charmanten Kleistschen Variante: „Torheit, du regierst die Welt, und dein Sitz ist ein schöner weiblicher Mund." (II, 81) *

Dreifältig ist nicht nur Eves Name, dreifältig ist nicht nur der Trinkgenuß Adams und Walters, dreifältig ist nicht nur die Struktur der symbolischen Ordnung dreifältig ist auch die Funktion jedes, nicht nur eines schönen weiblichen Mundes. Sind dieser eigentümlichsten aller menschlichen Körperöffnungen doch gleich drei (bis vier) basale und krisenanfällige Funktionen anvertraut: das Essen, Sprechen und Küssen (sowie das Atmen). Über diese Funktionen37 tauscht ein Subjekt mit seiner natürlichen und intersubjektiven Umwelt sich aus. Der Stoffwechsel mit der Natur, der Tausch von Worten und der erotische Austausch aber sind so krisenanfällig, daß Kleist daran das grundgestörte 35

J. Lacan: Ecrits, 1. c, p. 728. J. Derrida: Eperons - Les styles de Nietzsche. Venedig 1976, p. 42. 37 R. A. Spitz hat sie in psychoanalytischer Perspektive thematisiert: Die Urhöhle - Zur Genese der Wahrnehmung in ihrer Rolle in der psychoanalytischen Theorie; in: Psyche 9, pp. 641-667. 36

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I. CHARAKTERMASKEN

menschliche Gattungsverhältnis überhaupt illustrieren kann. Kein Text Kleists läßt die erstrebte befreite Methexis des Individuums am Gattungssubjekt gelingen. Selbst den Lustspielfiguren wird allenfalls eine erpreßte Versöhnung zuteil: Alkmenes „Ach" und Frau Marthes „Auf die Woche stell ich dort mich ein" verweisen darauf, daß kein Ende des permanenten Ausnahmezustandes zu erhoffen ist. Titel und Ende des Zerbrochnen Kruges geben das zu verstehen: der Krug, der einen formlos zerfließenden Inhalt zu bändigen vermöchte, wird zerbrochen bleiben. Mit ihm, dem alten kabbalistischen Symbol des LogosGefäßes, aber bleiben der Leib, die Rede, der Tausch und die Liebe gebrochene und labile Einrichtungen. Keine Institution (auch nicht die bürgerliche MetaInstitution des Rechts) kann dem dauerhaft wehren. Denn die Krise des kreatürlich sprechenden, liebenden und machtvoll ohnmächtigen Menschen kennt, nachdem ein Gott, der Mensch sein wollte, auf die Ordnung der Welt verzichtete, nur eine Stillstellung: die des Todes. Versöhnt enden in Kleists Dramen wie in seiner Prosa deshalb einzig die Gestorbenen. So katastrophenverliebt, so todesbesessen ist selten gestorben worden wie in Kleists Texten. Der Autor freilich hat es an Todesverliebtheit38 seinen Figuren nachgetan. Er, dem „auf Erden nicht zu helfen war" (Brief vom 21. November an Ulrike von Kleist/II, 887), stimmt bei seinem und also beim „herrlichsten und wollüstigsten aller Tode" (ibid., an Marie von Kleist) den „Triumphgesang" an, der den Lebenden versagt ist. Kleists poetische Texte sind wie seine Abschiedsbriefe an dem Ort geschrieben, da der Schrei ertönt, das Sein sei nichts als eine zumutungsreiche Störung der Reinheit des Nichtseins.39 Kleist erfährt und läßt den Tod als den Normalfall erfahren, von dem das Leben die katastrophische Ausnahme ist. Diese Erfahrung fundiert Kleists rückhaltlose Fetischisierung souveräner Macht. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet'"'0, so lautet der berühmte Eingangssatz aus Carl Schmitts Politischer Theologie. Den Souverän umwerben nicht nur alle Texte Kleists - ihn beschwört auch jene spezifisch deutsche militant konservative Tradition, als deren Gründungsfigur Kleist gelten darf.41 Wo die Tradition der Aufklärung nach Sinn und Wahrheit fragte, hat die durch Kleist inaugurierte Tradition Dezisionen verlangt. Und wo jene demokratische Verständigung organisieren wollte, hat diese komplexe Reden auf Machtfragen reduziert. Einzig als Medium souverän machtvoller Entscheidung stellt Kleists Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden Sprache dar. An die Stelle des aufgeklärten Registers 38

Cf. K. H. Bohrer: Kleists Selbstmord; in: W. Müller-Seidel (ed.): Kleists Aktualität Neue Aufsätze und Essays 1966-1978. Darmstadt 1981, pp. 281-306. 39 Lacan: Ecrits. Paris 1966, p. 819: „Je suis äla place d'oüsevocifereque .L'univers est un d6faut dans la purete' du Non-Etre"'. 40 Carl Schmitt: 1. c, p. 9. 41 Das dürfte der Grund dafür sein, daß die Autoren der Kriüschen Theorie Kleist vernachlässigt, wenn nicht tabuisiert haben.

5. „ D E NOT DER WELT"

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Sinn, Wahrheit, Bedeutung und Verständigung, in dem alle Sprechakte zu verzeichnen seien, setzt Kleists Betrachtung das Register Energie, Kraft und Macht. Nicht die Überzeugung kraft des besseren Arguments, sondern das Siegenwollen in der Diskussion und über die Diskutanten hinaus treibt Kleists Sprecher an und um. Sie versuchen, dem konkurrierenden „angestrengten Gemüt [...] die Rede, in deren Besitz es sich befindet, zu entreißen" (II, 320), die kollektive „Erregung abzuspannen" (332) und „geschwinder als [der] Gegner" zu sprechen (323). Vermag doch einzig die machtvolle und nicht etwa die um Wahrheit bemühte Rede das krisenhafte Medium Sprache und die rhetorische Ausnahmesituation zumal souverän zu strukturieren. Analoges lassen Kleists Texte im Hinblick auf Liebe und Tausch gelten. Auch sie sind so krisenanfällig überkomplex, auch sie tendieren so hartnäckig zur Ausnahmesituation, daß einzig machtvolle Entscheidung sie zu bannen vermag. Bleibt aber der Souverän aus, entzieht sich der strukturierende und symbolisierende Dritte, so ist die imaginäre unentscheidbare Verschränkung zweier eine Dyade zum Tode. Anders als im Zerbrochnen Krug bringt in Penthesilea kein Waltender die ausnahmehaft ineinander Verstrickten auseinander; anders als im Amphitryon gibt im Michael Kohlhaas kein Gott und kein Herrschender sich als Souverän zu erkennen - deshalb ist mit Achill auch die Amazonenfürstin und mit Michael Kohlhaas auch der Kurfürst am Ende. Das schreckliche Ende vieler Figuren Kleists aber trägt allen Prunk des Triumphes - es ist der Triumph des tödlichen Normalfalles über den Ausnahmezustand des Lebens. Triumphierend holt sich der Tod in Kleists Texten die frevelhaft Entsprungenen zurück. Damit hängt die immer wieder - sei's verschämt, sei's auftrumpfend konstatierte Faszinationskraft der Dichtungen Kleists zusammen: sie nämlich kultivieren eine entgrenzte Todesästhetik des Schreckens. Daß sie damit ein, wenn nicht das Tabu der aufklärerischen Tradition und der ihr liierten Ästhetik benennt, ist kaum zu bestreiten. Wohl aber, daß der Todes-Heroismus der Kleistschen Dichtung und der von ihr ausgehenden Tradition so authentisch ist, wie er es prätendiert. Treibt der Todesheroiker der Schreckensästhetik doch defaitistische Mimikry an den Aggressor, an den aggressivenTodes-Normalfall, weil er den Ausnahmezustand intensiv unreglementierten Lebens nicht aushält. Diesen Ausnahmezustand herzustellen, fordert Benjamins achte These Über den Begriff der Geschichte: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der .Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen."42 Wirklich darf der Ausnahmezustand heißen, der den verdrängten Normalfall aufklärt und ihm kündigt. Normal aber ist, was im Kultbuch der Schreckensästhetik ein Vertrauter des Dionysos verkündet: „Es geht die alte Sage, daß König Midas 42

Gesammelte Schriften 1/3, edd. R. Tiedemann / H. Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.. 1974, p. 692.

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I. CHARAKTERMASKEN

lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysos, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht:, Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Ersprießlichste ist! Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich -bald zu sterben' Z143 Eine über Aufklärung aufgeklärte Ästhetik, wie Kleist sie in seinen Komödien und nur dort entwickelt, hat aber nicht länger den Ehrgeiz, das Allerbeste oder das Zweitbeste zu wollen. Sie räumt dem Tode und dem bannenden Schrecken keine Herrschaft ein über das Leben, denn sie will das Drittbeste: ausnahmehaft gelingendes, glückendes Dasein, das in seinen schönsten Augenblicken die Not der Welt vergessen macht.

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Nietzsche: Die Geburt der Tragödie; in: WW, ed. K. Schlechta, Bd. I. München 1966, p. 29 sq.

IL GOETHES BESTES BUCH

1. Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins. Marginalien zu Derridas Ontosemiologie und Goethes bestem Buch Sie tragen die Schuld ab, die ihren Ursprung beseelte, sie tragen sie ab an ein Wort, das zu Unrecht besteht, wie der Sommer. Ein Wort - du weißt: eine Leiche. Paul Celan: Nächtlich geschürzt Wie zu lesen sei Wie das Dunkle zu lesen sei, ist nicht nur angesichts „verrufener Texte"1 fraglich. Denn die Praxis des „Lesens" ist älter als jene gattungsgeschichtlich späte Erfindung des Schrift-Textes2, auf den sich der Begriff „Lektüre" dann um so strikter verpflichten ließ. Lektüre von Texten bedeutet Mortifikation des „ältesten Lesens, des Lesens vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen"3. Lektüre von Texten, die, wie die Phänomenologie verdeutlicht hat, „allen Bewußtseinserlebnissen, sowohl denen des Verfassers wie auch denen des Lesers, transzendent" sind4, setzt Schrift als eine noetisch begründete Identität voraus. Subjekte haben sich dieser Schrift zu unterwerfen, sie bedürfen der Alphabetisierung, wenn sie selbst identische werden wollen. Benjamins Deutung des „mimetischen Vermögens", das zu lesen verstehe, „was nie geschrieben wurde", und dessen magisch-mantische Momente Schrift und Sprache verdrängen, ja „liquidieren", spielt auf die Schlußverse von Hofmannsthals lyrischem Drama Der Tor und der Tod an, die den Tod „geigenspielend" und den Toten schweigend vom Schauplatz des Lebens abzugehen heißen: 1

Th. W. Adorno: Skoteinos oder Wie zu lesen sei (Drei Studien zu Hegel); in: GS 5. Frankfurt a. M. 1971, p. 326. 2 Cf. J. Fevrier: Histoire de Fecriture, Paris 1949-59, und R. Schott: Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker; in: Archiv für Begriffsgeschichte XD71968, pp. 161201. 3 W. Benjamin: Über das mimetische Vermögen; in: GS n, 1. Frankfurt a.M. 1977,p. 213. 4 R. Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968, p.12.

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II. GOETHES BESTES BUCH

Der Tod: Wie wundervoll sind diese Wesen, Die, was nicht deutbar, dennoch deuten, Was nie geschrieben wurde, lesen, Verworrenes beherrschend binden Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden.5

Hofmannsthals unzeitgemäße Rehabilitierung barocker Todesallegorik verhält sich zu den gängigen hermeneutischen Korrelationen von Text und Lektüre archäologisch: sie legt Tiefenschichten des Lesens vor aller Autorschaft frei. Allein dieser Umstand ermöglicht die rettende Kritik der outrierten Weisheit wie der ostentativen Schönheit seines Textes. Er erinnert ex negativo daran, daß die Fülle des Geschriebenen, der „toten Buchstaben", zu einer materialen, in Bibliotheken und Archiven verwahrten Bedeutungsschicht gerinnt, die darauf baut, jederzeit vom Geist, der weht und spricht, wo und wann er will, neu belebt zu werden. Noch die tote Schrift ruft nach Lektüre und beschwört so ihre erneute lebendige Präsenz - und die ihres Schöpfers, ihres Autors. Solche Geistesgegenwart versteht das okzidentale Denken gemeinhin als sein genuines Medium. Hofmannsthals kleines und für Benjamins Denken initiatives Drama6 legt hingegen die Absenz, deren präsenter Repräsentant der Tod ist, als Möglichkeitsbedingung von „lesen" und „deuten", ja von Bedeutsamkeit überhaupt frei. Daß nie Geschriebenes ist, ermöglicht Lektüre ebenso, wie Deutung sich dem Umstand verdankt, daß Undeutbares ist. Diese eigentümliche Komplementarität von Absenz und Bedeutung, die Derridas durchgängiges Thema ist, verfiel der Verdrängung, seit die Rede schriftlich archivierbar schien und die Schrift zur Magd der Rede wurde. In den Dienst der Rede genommen, galt und gilt die Schrift als Derivat, das - paradox genug - die vergängliche Gegenwart der Rede unendlich festhält und überliefert. Als ancilla der Rede, die die verklingenden Worte der Götter und Weisen verzeichnet, die zu schreiben sich hartnäckig weigerten, schien die Schrift sekundär - Sokrates und Christus haben eben ausschließlich gesprochen. Der Gestus der mönchischen Dienstfertigkeit des Schreibens, der die mittelalterliche Textüberlieferung erst gewährleistete7, hat die Abwertung des toten Buchstabens der Schrift und die Hochschätzung des lebendigen Geistes der Rede8 zum Topos, ja zur umgangssprachlichen Wendung gemacht. Der Sogkraft des Paulus-Wortes „Der Buchstabe tötet, der Geist aber machet lebendig"9 erliegt auch Goethe, wenn er in Dichtung und Wahrheit schreibt: „Der Mensch [ist] eigentlich nur berufen [...], in der Gegenwart zu wirken. Schreiben ist ein 5

In: Gedichte und Kleine Dramen, Frankfurt a. M. 1973, p.93. Cf. W. Benjamins Briefe an Hofmannsthal vom 13. 1. 1924 und vom 11.6. 1925; in: Briefe, edd. G. Scholem und Th. W. Adorno, Bd. 1., Frankfurt a. M. 1966. 7 Cf. M. Bodmer et al.: Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel. Zürich 1961. 8 Cf. G. Ebeling: Geist und Buchstabe; in: RGGII, Tübingen 1958 (3.), Sp. 1290 sqq. und H. Nüsse: Die Sprachtheorie F. Schlegels, Heidelberg 1962. ' 2. Korinther 3, v. 7 (Luthers Übersetzung). 6

1. DAS SEIN DER ZEICHEN UND DIE ZEICHEN DES SEINS

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Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede."10 Der Suggestion, nicht „trauriges Surrogat", sondern gerettete Präsenz der Rede Goethes zu sein, verdanken die Gespräche mit Eckermann ihre anhaltende Popularität. So wenig aufregend wie kaum eine Schrift Goethes, sind die Gespräche gleichwohl so exoterisch, so sinnlich gewiß, so geistesgegenwärtig, wie eben nur präsente Rede es sein zu können scheint. Gerade Goethes bestes Buch, die Wahlverwandtschaften, steht hingegen ganz im rätselhaften Zeichen von Schrift und toten Buchstaben. Goethes Konzession an die tradierte Zuordnung von Rede und Gegenwart ist wohl nicht ohne Grund eine autobiographische, und sie findet denn auch in der paradigmatischen Autobiographie schlechthin, den Confessiones des Augustinus, ihre tiefenstrukturale Wahrheit. Denn nicht nur der Schrift, sondern selbst noch der Rede und also der Sprache (des Menschen) überhaupt bestreitet der zur Heiligen Schrift Konvertierte, Medium der Präsenz oder universalpräsentes Medium sein zu können. Augustinus unterstellt, daß allein das „infans", das vorsprachliche Kind11, dem nahekommen dürfte, was nach seiner Eng-/Einfuhrung in die symbolische Ordnung bloßes Präsenzphantasma ist - doch eben das kann es erst nachträglich wissen: „Bin ich nicht von der Kindheit heranlebend in die Knabenzeit gekommen, vielmehr diese in mich, auf meine Kindheit folgend? Aber die Kindheit ist doch nicht entwichen: wohin denn wäre sie gegangen? Und dennoch, sie war nicht mehr. Denn nun war ich nicht mehr das Kind, das noch nicht sprechen konnte, sondern schon der Knabe, der redete. (Non enim eram infans, qui non farer, sed iam puer loquens eram.) Und das weiß ich noch, und woher ich sprechen gelernt hatte, das erfuhr ich später."12 Das Kind, das noch nicht sprechen konnte, wird zum Knaben, der zu reden versteht; es gerät in die Knabenzeit, nein: die Knabenzeit gerät ins infans - über solch rätselhaften Verschiebungen seiner Identität wird Augustinus tiefsinnig und gläubig. Und da überdies die Präsenz der sprachlosen Kindheit erst im Augenblick der erinnernden Rede (die eigentlich Schrift ist) als verdrängte und überwundene sich einstellt, bestimmt Augustin das sich selbst präsente Sprechen als ein nachträgliches Surrogat, zu dem sich Schrift wie ein Surrogat des Surrogats verschiebt. Denn Selbstpräsenz und Sinn sind allein bei Gott. Wenn Augustinus dennoch schreibend Zeugnis davon ablegt, wie er Gott anredete, hörte und von ihm erhört wurde, muß er unentschieden lassen, „was denn früher sei: ob Dich anrufen oder Dich preisen; ob Dich kennen oder Dich anrufen früher sei"13. So ist seine Konversion weniger Folge eines ihn erreichenden Kerygmas als vielmehr Resultat einer Umkehrung des Verhältnisses von Präsenz und Rede oder von Wortinhalt/Bedeutung und Wort, die diesen göttlichen Ruf erst ermöglicht: die Rede ist früher als die Präsenz, und das Wort ist früher als 10

Berliner Ausgabe Bd. 13. Berlin 1976, p. 481. ' J. Lacan hat dem infans ähnliche Aufmerksamkeit geschenkt; cf. Le Stade du miroir; in: Ecrits, Paris 1966, pp. 93-100, insbesondere p. 93; cf. auch ibid., pp. 428, 552 u. ö. 12 Ed. und übers. J. Bemhart. München 1966, p. 30-31. 3 Ibid., p. 12-13. 1

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II. GOETHES BESTES BUCH

die Bedeutung14. Gerade deshalb muß Augustinus auf die Demarkationslinie zwischen beiden achten. Im Namen der (theologischen, moralischen, psychischen) Bedeutung muß er das Wort als Lautgefäß von seinem Inhalt trennen. Dazu nötigt ihn schon (aber eben auch erst im nachträglichen Rückblick) die Erfahrung, wie das Absente und deshalb graphisch Verzeichnete nicht zu lesen sei. Nichts ist dem Christ gewordenen Schreiber, der seine Schrift als Gebet konzipiert, der also Gott anzuredenfingiert,um nicht den Schuldzusammenhang des Schreibens fortzusetzen, ferner als die mythologische Erotik der griechischen Textüberlieferung, um deren Bändigung willen er Prinzipien der Allegorese erfindet15. In der Schule nämlich hat Augustinus geradezu somatisch die Verschränkung von Wort und Lust erfahren, die ihm nachträglich als Bedrohung des Status auch der Heiligen Schrift erscheint: „Also wirklich, wir wüßten nichts von Wörtern wie ,Goldregen' und ,Schoß' und,Betrug' und ,Himmelshalle' und anderen bei Terenz, wenn der Dichter nicht einen liederlichen jungen Menschen vorführte, der sich für seine Unzucht den Jupiter zum Vorbild nimmt, nämlich bei Betrachtung ,eines Wandgemäldes, das darstellt, wie Jupiter einst, der Sage nach, goldenen Regen in den Schoß der Danae ergoß, um so das Weib zu berücken' ? Und hört nur, wie er an der gleichsam himmlischen Belehrung seine Lust in Bewegung bringt: ,Und welch ein Gott', sagt er, ,die Himmelshallen macht sein Donnern erzittern! Und ich, das schwache Erdenkind, ich sollte das nicht tun? Ja, ich hab's getan, und ich tat's mit Freude!' Nein und nochmals nein! Nicht leichter lernt man an dieser Schandtat die Wörter, aber an diesen Wörtern erfrecht man sich bis zur fertigen Schandtat. Nicht die Wörter spreche ich schuldig, sie sind erlesene, kostbare Gefäße, aber den Taumelwein, den uns trunkene Lehrer darin reichten; und tranken wir nicht, so wurden wir geschlagen, und es gab keine Berufung an einen verständigen Richter."16 Das intelligible Wort zu bewahren, ja zu retten vor dem Sich-Verlieren an die bewegliche Lust, die jede eindeutige Semantik zu chaotisieren droht - das ist das Telos jeder Grammatik und jeder regelgeleiteten Lektüre. Beide bedürfen einander. Keine Grammatik, die nicht regeln wollte, wie zu lesen sei, und keine Lektüre, die nicht dem Anspruch konfrontiert wäre, sich zur Produktionsgrammatik ihres Textes mimetisch zu verhalten, um die Präsenz des einen Sinns erneut reden zu lassen. Noch die auf Augustinus zurückgehende Lehre vom vierfachen Schriftsinn17 pluralisiert die Bezüglichkeit der Signifikanten einzig. 14

Dieser Essay ist 1979 als Vorwort zur deutschen Ausgabe von Derridas Schrift Die Stimme und das Phänomen veröffentlicht worden. Cf. mittlerweile Derridas autobiographische Bezugnahme auf Augustinus in: Circonfession; in: J.DerridaparG. Bennington et J. Derrida, Paris 1991. 15 Cf.H. Anton: Mythologische Erotik in Kellers .Sieben Legenden' und im,Sinngedicht', Stuttgart 1970 (Einleitung: Deutung und allegorische Interpretation), und H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, p. 68 sqq. 16 Confessiones, 1. c, p. 52-53. 17 Cf. Augustin: De doctrina christiana, in: Opera 4/1, ed. J. Martin, Turnholt 1962, und

1. DAS SEIN DER ZEICHEN UND DIE ZEICHEN DES SEINS

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um der Anarchie der Zeichen zu wehren und sie auf die Identität eines vermeinten Signifikats zu verpflichten. Hinter dem litteralen, allegorischen, moralischen und anagogischen Sinn des Wortes „Jerusalem"18 - um ein beliebtes und schon dem Rhetoriklehrer Augustinus vertrautes Beispiel anzuführen - erblickt die rechte Lektüre die eine Identität des transzendentalen Signifikats Gottes. Geraten Augustinus die allegorisch gelesenen und geschriebenen Zeichen zu supplementären Schrift- und Lektürefiguren der ausstehenden Präsenz Gottes, so erscheinen sie ihm zugleich nicht länger als Medium uneinholbarer Absenz von Präsenz, sondern vielmehr als deren Delegat. So gilt Schrift gemeinhin als Mortifikation des gesprochenen Wortes und als Sekundärphänomen der Sprache, die fast ausschließlich am Paradigma der gegenwärtig ergehenden Rede gedacht wurde19. Selbst die Heilige Schrift ist legitim nur in der Zwischenzeit: am Anfang war das präsente Wort Gottes, und am Ende wird Gottes Wort und Geist präsent sein von Ewigkeit zu Ewigkeit. Die tote Positi vität der Schrift nun umgekehrt als Wahrheit über die Präsenzsuggestion der Rede zu denken gehört zu den kaum je trügenden Anzeichen von Häresie gegenüber der okzidentalen Episteme. Wenn extreme Begriffsrealismen oder kabbalistische Theorien des göttlichen Namens20 auf der Heiligkeit nicht der Rede, sondern der Schrift bestehen, so bestehen sie eben verdächtigerweise auch auf der differentiellen Aufschubstruktur, der uneinholbaren Nachträglichkeit und der UnvoUständigkeit der göttlichen Buchstabenfolge JHWH. Die Schrift ist dann nicht die irdisch defiziente Ausdrucksform des Heiligen (Geistes), sondern selbst heilig. Wie das Tetragrammaton JWHW zu lesen sei, ist das zentrale Problem der Permutations-und Kombinationskunst der kabbalistischen Talmudisten. Sie versuchen, den Mangel an Vokalen im göttlichen Namen zu supplementieren, und nehmen dafür in Kauf, daß sie ihn auf den Benannten verrücken: Gott selbst ist mangelhaft. Derart verräumlichen sie gleichsam die göttliche Differenz, die das orthodoxe Judentum zeitlich auf die Verheißung der Erlösung bezog. Die atopischen Prinzipien der kabbalistischen Texttheorie stehen komplementär zum utopischen Versprechen der erfüllten Zeit. Und die Atopie der Schrift erscheint als strukturale Wahrheit über die Utopie der Rede. Suggeriert diese die erfüllte unio mystica des „Sich-sprechen-Hörens" (135)21, so de-präsentiert sich jene zu der jeder Inschrift und Lektüre innewohnenden

A. Gounelle: Note sur les quatre sens de l'ecriture, in: Etudes theologiques et religieuses 1/1973, p. 7 sqq. 18 In diesem Beispiel verweist der Litteralsinn auf die historische Stadt, der allegorische Sinn auf die Kirche, der moralische auf die Seele der Christen und der anagogische eschatologisch auf die erlöste Gottesstadt, das Neue Jerusalem. " Noch die Linguistik Saussures ist - wie Derrida in verschiedenen Publikaüonen eingehend nachgewiesen hat - phonozentrisch fixiert; cf. F. Saussure: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, Einleitung, Kapitel VI. 20 Cf. G. Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M. 1973, p. 62 sqq. 21 Seitenangaben in eckigen Klammem verweisen fortan auf J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, übers. J. Hörisch. Frankfurt a. M. 1979.

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Differenz, die alle Formen von Gleichzeitigkeit und Identität systematisch unmöglich macht. Heidegger hat an die Implikation der Bedeutungsveränderung erinnert, die „den eigentlichen Sinn des Wortes legein als legen" zur „Bedeutung von sagen und reden"22 verhält. Mit ihr stellt sich auchjene Verschiebung ein, die das Wort sub-jectum (Unterliegendes) als das Subjekt lesbar macht, das sich als Autarkiefigur ausspricht und zugleich vernimmt. Aus einem Unterliegenden wird ein Herrschendes, aus dem vom Herrn Bestimmten wird die Stimme des Herrn. „Die Stimme ist das Nächste zum Denken", kann Hegel in der Tradition der sokratischen Feier von Rede und Präsenz schreiben, „denn hier wird die reine Subjektivität gegenständlich, nicht als eine besondere Wirklichkeit, als ein Zustand oder eine Empfindung, sondern im abstrakten Elemente von Raum und Zeit."23 Indem Hegel die erklingende Stimme begrifflich als Medium nicht der „besonderen", sondern der als abstrakte Struktur „gegenständlich"-phänomenal gewordenen Subjektivität faßt, steht er am glänzenden Schlußpunkt der Tradition, die die „Geachtetsten sich schämen" heißt, „Reden zu schreiben und Schriften von sich zu hinterlassen, aus Furcht, in der Folgezeit den Namen zu bekommen, sie wären Sophisten gewesen"24. Die sophistische Verleugnung präsenter Evidenz findet in den Abgründen der Schrift eine Zuflucht. Die sokratische Überwindung der Sophisten und der esoterischen Weisheit geschieht hingegen im Namen der Korrelation von Stimme und Phänomen. Diese Wahlverwandtschaften von Präsenz-, Phono-, Logo- und Subjektzentrismus sind ebenso suggestiv, wie sie auf einer Verkennung beruhen, die erst nach Nietzsche, Husserl und Freud lesbar und wissenschaftlichen Rekonstruktionsversuchen zugänglich wurde. Ihre Einsicht in die Exzentrik des Subjekts und des Sinns ist an eine Rehabilitierung der Schrift als Medium sui generis gebunden: Freuds Notiz über den Wunderblock15, Husserls ReLektüre kanonisch gewordener Schriften der Reflexionsphilosophie in den Cartesianischen Meditationen und der Krisis-Arbeit und Nietzsches Erklärung in Ecce Homo, er sei so klug, weil „alles Lesen zu [sjeinen Erholungen: folglich zu dem, was [ihn] von [sich] losmache"26, gehöre, verdanken sich der gemeinsamen (und von Kierkegaard auf den Punkt gebrachten) Erfahrung, daß „der tote Buchstabe [...] oft weit größeren Einfluß als das lebendige Wort"27 hat. Derridas dekonstruktive Lektüren sind dieser Tradition verpflichtet. Mit den Untersuchungen von Husserl, Freud und Nietzsche teilen sie auch die Aufmerksamkeit für die Krisen und unfreiwilligen Bedeutungshöfe der rekonstruierten 22

M. Heidegger: Logos, in: Vorträge und Aufsätze III, Pfullingen 1967, p. 5. Enzyklopädie, WW, edd. Michel/Moldenhauer, Bd. 9, Pfullingen 1967, p. 5. 24 Piaton: Phaidros 257 d (übers. Schleiermacher). 25 Cf. dazu J. Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, in: Die Schrift, 1. c., pp. 302350. 26 WW, ed. K. Schlechte Bd. III, München 1966, p. 1087. 27 S.Kierkegaard:Entweder-Oder,übers.H.Fauteck,ed.H.Diem/W. Rest,München 1975, p. 485. 23

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Texte (z. B. von Descartes, von Neurotikern, von moralischen Schriftstellern und dionysischen Gesamtkünstlern wie Wagner). Von der Rekonstruktion ist die Dekonstruktion nur durch einen Buchstaben, nur durch ein Phonem geschieden. Dekonstruktion ist eben nicht so sehr eine Methode der Lektüre, sondern zuerst eine Bewegung an Texten und Diskursen selber; eine Bewegung, die der gleichschwebend aufmerksamen Rekonstruktion zu erkennen gibt, daß Äußerungen kein festestes Fundament (z. B. in einer Heiligen Schrift, einem göttlichen Wort, einem selbstbewußten Subjekt, einer kontrafaktisch antizipierten herrschaftsfreien Kommunikation etc.) haben können. „Es ist daher keineswegs paradox, wenn das strukturalistische Bewußtsein katastrophisches Bewußtsein ist, das gleichzeitig zerstört und destruktiv ist, entstrukturierend also, wie es jedes Bewußtsein wenigstens in seinem dekadenten Moment ist, also der jeder Bewegung des Bewußtseins eigentümlichen Periode."28 Gegen die Imagination gelesener Präsenz des Sinns und sinnvoller Präsenz legt Derridadie Verräumlichungsbewegung der Schrift als „das Abwesend- und Unbewußt-Werden des Subjekts"29 aus. In der Lektüre von Schrift nämlich wiederholt sich zwanghaft und unendlich die Unterlegenheit und Nachträglichkeit des Subjekts, von der dieses sich, sich-reden-hörend, emanzipieren zu können und so die Katastrophe seiner Absenz phantasmatisch zu kompensieren meint. Die Rede scheint lebendig zu sein, die Schrift ist (gerade auch als Heilige Schrift) testamentarisch - Altes, Neues, Ewiges Testament. „Durch die Bewegung ihres Abweichens begründet die Emanzipation des Zeichens rückwirkend den Wunsch nach der Präsenz. Dieses Werden - oder dieses Abweichen - überkommt das Subjekt nicht als etwas, das es wählen oder in das es sich passiv hineindrängen lassen könnte. Als Verhältnis des Subjekts zu seinem eigenen Tod ist dieses Werden gerade die Begründung der Subjektivität - auf allen Organisationsstufen des Lebens, das heißt der Ökonomie des Todes. Jedes Graphem ist seinem Wesen nach testamentarisch. Die eigentümliche Abwesenheit der Schrift ist auch die Abwesenheit der Sache oder des Referenten."30 Selbst den Sachen zugehörig, über welche die Stimme zu herrschen meint, gehört die Schrift auch der (Un-)Ordnung der Dinge zu, die anders als die des gesprochenen Diskurses keinen genuinen Herrn kennt. Selbst zur Sache geronnener Referent, dessen Wiederbelebung die Kunst des Zitats, die doch nur Mimikry ans Absente treibt, zu leisten glaubt, verweist die differentielle Aufschubstruktur der Schrift auf das ihr nachträgliche Subjekt, das umgekehrt sie erzeugt zu haben sich suggerierte. Die verrätselte Schrift, die dem phonozentrisehen Denken von konstitutiver Subjektivität und Sprache nach einer Epoche ihrer exzessiven Feier die Gefolgschaft versagte, ja die Formen zentrischen Denkens überhaupt esoterisch kritisierte und die deshalb der geheimen Vorgeschichte der J. Derrida: Kraft und Bedeutung, in: Die Schrift, 1. c., p. 13. J. Derrida: Grammatologie, übers. H.-J. Rheinberger/H. Zi schier, Frankfurt a. M.. 1974, p. 120. Ibid., p. 120 sq.

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Grammatologie zugehört: Goethes EatsagungsmmanDieWahlverwandtschaften ist etwa gleichzeitig mit sprachphilosophischen Bemerkungen des romantischen Naturforschers Johann Wilhelm Ritter entstanden, in denen es heißt: Die „erste, und zwar absolute, Gleichzeitigkeit [von Wort und Schrift] lag darin, daß das Sprachorgan selbst schreibt, um zu sprechen. Nur der Buchstabe spricht, oder besser: Wort und Schrift sind gleich an ihrem Ursprung eines, und keines ohne das andere möglich".31 Der Wahlverwandtschaften von Schrift, Sprache und Tod sowie der „absoluten Gleichzeitigkeit" der traditionell einander nachgeordneten Kategorien Rede und Schrift eingedenk das Dunkle zu lesen, lehren die Schriften Derridas. Den avancierten Stand der Semiologie, die pointierteste Rezeption der Sprachontologie des späten Heidegger, den objektivistischen Argumentationsgestus der Husserlschen Phänomenologie und esoterische Lehren von der Schrift32 amalgarnierend, zählen die Schriften Derridas zu den wunderlichsten Erscheinungen der neueren Theoriediskussion. Sie dementieren die ebenso theoriepsychotische wie hartnäkkige Behauptung, „dem Strukturalismus g[inge] nichts über Einheit, Systematik und Homogenität des Denkens".33 Der im folgenden aufzuzeigende Umstand, daß Derridas Theoreme mit Einsichten der Wahlverwandtschaften Goethes wahl verwandt sind, bestätigt weniger den hämischen Satz, alles sei schon einmal dagewesen, sondern belegt vielmehr, daß das psychoanalytische Theorem einer Wiederkehr des Verdrängten auch für das Medium der Literatur- und Theoriegeschichte gilt. Gleichermaßen Essayist, Interpret, Literaturtheoretiker und Philosoph, teilt Derrida die poststrukturalistische Dissidenz gegenüber jeder hypostasierten „Einheit, Systematik und Homogenität des Denkens". Seit Freuds, Heideggers und Adornos Poesiedeutungen gibt es eine aufschlußreiche Wahlverwandtschaft zwischen fortgeschrittener Theoriebildung und einer Literatur, die kein Hehl daraus macht, daß sie aus Lettern besteht. In der Regel ist diese Literatur geistreicher als jene, die den lebendigen Geist präsent halten will. Denn ihr schwant, daß Wahrheit poetisch verfertigt ist; und deshalb begünstigt sie - nach einem schönen Wort des Frühromantikers Friedrich Schlegel ,,Hochzeit[en] der Philologie und Philosophie zur Constitution der Wahrheit"34.

Wahlverwandtschaften von Sprache und Tod Goethes Kunstroman ist der Dialektik von Verrätselung gänzlich unterworfen. Immerhin aber verrät Goethes enigmatischste Schrift, daß sie Verrätselungen 31

J.W. Ritter: Fragmente aus dem Nachlaß eines jungen Physikers - Ein Taschenbuch für Freunde der Natur. Zweytes Bändchen, Heidelberg 1810, p. 229. 32 Cf. J.Derrida:EdmondJabesund die Frage nachdemBuch, in: Die Schrift, l.c.,pp. 102120. 33 Alfred Schmidt: Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte, in: A. Schmidt (ed.): Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M., 1969, p. 195. 34 F. Schlegel: Philosophische Lehrjahre 1796-1806, erster Teil.KA XVIII, ed. E. Behler. München/Paderbom/Wien 1963, p. 272 (IV, 925).

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ihre Faszination verdankt. „Daß ein roter Faden durch das Ganze durchgeht" (II/2,368)35, welche Formulierung die einzig umgangssprachlich gewordene der Wahlverwandtschaften ist, und daß es sich lohne, „auf Namensbedeutungen abergläubisch" (1/2,255) zu sein, gehört zu den wenigen exoterischen Winken dieses Kunstromans. Sein Rätsel vollständig preiszugeben ist ihm hingegen a priori versagt. Schildern die Wahlverwandtschaften doch Dasein selbst als Rätsel - als ein sich abgründig auflösendes Rätsel. Goethe hat darum gegen seine sonstige Gewohnheit alle Vorarbeiten, die die artistische, ja manierierte Struktur des Buches verraten konnten, ganz unarchivarisch vernichtet. Denn mit der exoterischen Kundgabe des Rätsels durch den Autor verriete dieses seine Pointe und hörte nicht nur auf, rätselhaft, sondern auch Kristallisation einer Einsicht zu sein, die mit der konstitutiven Romankategorie, eben der des Autors, auch die des selbstbewußten Subjekts dekonstruiert. Um das Rätsel nicht zur Paradox ie zu trivialisieren, die den Autor wissen läßt, was ihn wie die Subjekte, von denen er erzählt, doch unbewußt bestimmen soll, tritt der Roman als Form in den Bann seines Themas. Benjamins unvergleichliche Deutung der Wahlverwandtschaften ist um diese Mimesis zwischen formvollendeter Verrätselung und dem thematischen Zentrum des Romans, dem „Rätsel [...] des Lebendigen"36, das nicht lebendig bleibt, konstelliert. Diese souveräne Anverwandlung von Form und Thema aber hat ihren Preis. Sie läßt den Autor, der sich bereits mit dem berühmten Eingangssatz seines Romans („Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter ...") als willkürlich Taufender bekennt, zum Frevler werden. Denn er setzt, autark seine Geschöpfe benennend, eben den „Schuldzusammenhang von Lebendigem"37 fort, den er aufklärt. Die erzählerische Eingangsgeste der Benennung, die „die durchaus konstruktive Technik des Werkes"38 buchstäblich begründet, hat zugleich am „großen Motiv der Verblendung"39 teil, dem die Romanfiguren unterliegen. Der da, literaturwissenschaftlichen Differenzierungen trotzend, die Kategorien von Autor und Erzähler gleich anfänglich vermischt, wiederholt geradezu zwanghaft die Verfehlung, von der er berichtet, und er dementiert damit auch die immer erneut behauptete Emanzipation metasprachlicher Kommunikation von den Gewalten, die die gängige Rede bedingen40. Eduard selbst nämlich hat, wie er anläßlich der Begegnung mit seinem Jugendfreund an beider Namenstag erinnert, seinen ursprünglichen „hübschen, lakonischen Namen" (1/3,259) Otto abgetreten und seinen freilich „besser" gefallenden, „besonders gut" klingenden Die eingeklammerten Verweise beziehen sich fortan auf den WahlverwandtschaftenText im Rahmen der Hamburger Ausgabe (Bd. 6, München 1981). Angegeben werden Buch/Kapitel, Seitenzahl. Bei bloßer Angabe der Seitenzahl wird weiterhin Bezug genommen auf Derrida: Die Stimme und das Phänomen. W. Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, in: GS 1,1, Frankfurt a. M., 1974, p. 126. Ibid., p. 138. Ibid., p. 146. Ibid., p. 136. Cf. die Arbeiten von J. Habermas und K.-O. Apel.

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jetzigen Namen sich selbst gegeben. Möchte er damit „durch Wahl [thesei] [...] rückgängig machen, was ihm von Natur aus zukommt"41, so verkennt er Charlottes Diktum: „Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muß es auch gegen andere ein Verhältnis haben" (1/4,272). Taufen erfolgen nun einmal durch andere und im Namen eines wahrhaft großen Anderen. Wenn Eduard selbstbezüglich seine Taufe revoziert und sich autonom benennt, dann verhält er sich gegenüber der Sprache so herrschaftlich wie seine Frau, die naturwüchsige Landschaft zum unheilschwangeren Park nach ihrem Bilde umgestaltet und sich so als Herrin der Natur stilisiert. Arbeiten derart beide an einer „neuen Schöpfung" (1/1,242), welches Projekt - auch wenn diese Verkennung ausgesprochen wird - verkennt, daß „das Bewußtsein [...] keine hinlängliche Waffe [ist], ja manchmal eine gefährliche für den, der sie führt" (1/1,248), so erliegen sie um so mehr den „Gesetzen" der alten. Auch der neue selbstverliehene Name Eduard bleibt ganz im Bann des alten Namens Otto: beide gehören etymologisch zusammen und bezeichnen einen Schatz, ein (Klein-)Od (cf. 1/9, 302). Beide Namen stehen also einem reichen Baron gut an. Der bewußten Emanzipation vom heteronom erhaltenen Namen haftet ein mythischer Fluch an, der die nicht über sich selbst aufgeklärte Aufklärung in den nur gewalttätiger werdenden Bann zurückfallen läßt42. Denn Eduard enträt einer Ordnung des Namens, die als „objektive Interpretation"43 der Subjekte von deren bewußtseinszentrischer „Vernunft kaum hinlänglich [...] zu fassen" ist: dem lakonischen Namen Otto nämlich. Damit entfernt er sich zugleich von den anderen Hauptfiguren, deren Namen, worauf Heinz Schlaffer in Anschluß an eine Bemerkung Paul Stöckleins in der Wahlverwandtschafien-Edmon der Gedenkausgabe scharfsinnig hingewiesen hat, gleichermaßen Otto lautet (der Hauptmann) oder auf ihn zurückzuführen ist: Charlotte und Ottilie. Was der Hauptmann von den „schrecklichen Kunstworten" der Chemie aussagt, mit denen die Elemente oder „Wesen" bezeichnet werden, die zusammenkommen wollen (für welchen Prozeß dann die „schönen Worte Wahl und Wahlverwandtschaft" bereitstehen), gilt gleichermaßen vom (freilich bewußtseinstranszendenten, quasi göttlichen) Kunstwort Otto und seinen Teilen, hinter dessen profaner phonetischer Gestalt die esoterischste Struktur sich verbirgt: „Man muß diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gewalt hervortreten: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, jawohl gar Sinn und Verstand zu, weil wir unsere Sinne kaum genügend fühlen, sie recht zu beobachten, und unsere Vernunft kaum hinlänglich, sie zu fassen." (1/4,275 sq.) 41

H. Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes .Wahlverwandtschaften', in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 1972, p. 87. 42 Cf. Th.W. Adorno/M. Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M., 1971, p. 8 sq. 43 W. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I, 1,1. C, pp. 214,215.228.

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Des Hauptmanns unbewußt motivierter Versuch, die sprachliche Problematik zu einer kontemplativen (cf. die Wendungen „vor Augen sehen, mit Teilnahme schauen") zu verschieben und so die Subjekte vor der „Suprematie des Signifikanten im Subjekt"44 zu bewahren, kennzeichnet die Geste der klassischen Verfehlung im Denken des Subjekts: nämlich seine Orientierung an der Augen- und Blickmetaphorik, die mit der Subjekt-Objekt-Dichotomisierung die unberührbare Autonomie von Subjektivität (etwa in der transzendentalen Apperzeption oder der intellektuellen Anschauung) behauptet. Als bewegliche „Wesen", die einander „anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen" und in stets erneuter „innigster Verbindung" wieder hervortreten, figurieren hingegen die Buchstaben des Namens Otto. Dessen O-Vokale lassen sich, alter erotischer Tradition folgend, auf die Frauen Charlotte und Ottilie, dessen in der Wortmitte stehende TKonsonanten auf die schon in ihrer Jugend befreundeten Männer beziehen. Im symmetrischen Aufbau des Palindroms Otto spiegelt sich der des Romans, der zwei Tei le zu je achtzehn Kapitel, die beide nach dem neunten Kapitel eine Zäsur erfahren, zusammenschließt, so daß „der zweite [als] tropische Wieder- und Umkehr des ersten"45 lesbar ist. Auch wird man vermuten dürfen, daß Buchstaben- und Zahlenspiele ineinander übergehen: der „reiche Baron im besten Mannesalter" dürfte so alt sein, wie die Gesamtzahl der Buchkapitel beträgt: 36. Und Ottilie stirbt, nachdem sie gerade halb so alt geworden ist: als sie geboren wurde, pflanzte Eduard die todesallegorischen Platanen (1/9, 303), und mit achtzehn ist sie erwachsen und dem Leben entwachsen. Achtzehn Monate beträgt denn auch die Dauer der erzählten Zeit. In der Reihenfolge ihres Erscheinens und ihrer gängigen Benennung im Roman gelesen, gewinnt die Folge der Namen Eduard, Charlotte, Hauptmann, Ottilie eine akronyme Qualität: Echo. Und der subjektlosen Resonanz des imaginären Echos entsprechen, um ein Wortspiel Derridas aufzunehmen46, die räsonnierenden Anstrengungen der im Namen Otto Vereinigten. Ihnen ist die Gewalt und Verbindlichkeit dieses Namens so uneinsichtig, wie mythische Blindheit und - bei Ottilie - Sprachlosigkeit, buchstäbliche Ent-sagung, angesichts der Transfigurationen dieses Namens sie schlägt. Um ein Geringes versetzt, läßt die Buchstabenfolge O-t-t-o die Eduards Vorliebe für „wetten und würfeln" (1/1,248) korrespondierende Lektüre Toto zu. Und ums Totum, ums Ganze geht es (in) diesem Roman. Kommt zu den vier Buchstaben ein weiterer hinzu, so wie Mittler der fünfte der im Roman namentlich Benannten ist, ist jenes ,Lotto' lesbar, dem dieser seltsame Geistliche einen „ansehnlichen Lotteriegewinst" (1/2,255) verdankt. Nicht nur das gedoppelte tt läßt Mittlers sprechenden Namen mit dem Namen Otto in Konflikt geraten. Mittler ist deutlich als ein „himmlischer Bote" (1/18,353), als eine Hermesfigur stilisiert47, doch er vermittelt allenfalls Weisheiten mit tödlichem Ausgang: seine 44 45

J. Lacan: Le seminaire sur „La lettre vol6e", in: Ecrits, p. 20. H. Schlaffer: I.e., p. 93. J.Demda/V. Adami:Levoyagedudessin-DerrierelemiroirNo.214,Paris 1975,p. 1. Cf. H. Schlaffer: 1. c, p. 97.

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Präsenz ist die des Todes, dem er als Psychopompos dient - „er verursacht den Tod des Geistlichen bei der Taufe des Kindes; er löst durch seine ungeschickte Rede über das sechste Gebot Ottiliens Tod aus, und schließlich findet er als erster Eduard tot'"18. Statt seinem Vermittlung versprechenden Namen gerecht zu werden und die fehlende Mitte des Palindroms Ot-to zu supplementieren, trägt er zur Sprengung seiner Einheit bei. So korreliert das Erscheinen seines Namens - radikalste der bisl ang vorgetragenen Kritiken der dam als erst sich konstituierenden Disziplin Hermeneutik - mit der eigentümlichsten Umstellung der Buchstabenfolge O-t-t-o: derjenigen in tot. In Analogie zur kabbalistischen Tradition der Golemsage, die eine Tonfigur leben läßt, wenn ihr das hebräische Wort 'ämät (Leben, Wahrheit) auf die Stirn geritzt wird, und sterben heißt, wenn man dieser Inschrift den Anfangsbuchstaben streicht (mät - er ist tot)49, transfiguriert der Signifikant Otto, um den ersten Vokal beraubt, zu ,tot'. Als Möglichkeitsbedingung der anorektischen Krankheit zum Tode, der Ottilie erliegen wird, tritt der Signifikant zum Tode machtvoll in Erscheinung. Sind das Subjekt und der Signifikant in eine symbolische Ordnung von Präsenz und Absenz eingelassen, die den „Signifikanten [als] das, was das Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert"50, begreiflich macht, so ist das Subjekt dem Signifikanten buchstäblich unterworfen. Solange der Signifikant insistiert, vergeht das, was am Subjekt herrschaftlich ist. Und an der transsubjektiven In(si)sta(e)nz des Signifikanten, der dem Glas „eingeschnitten" ist, das der Junge Gesell" nach der Grundsteinlegung rituell zerstören will, erfahren die designierten Subjekte ihr(e) Verg/hängnis. Nach seiner Festrede „leerte er ein wohl geschliffenes Kelchglas auf einen Zug aus und warf es in die Luft; denn es bezeichnet das Übermaß einer Freude, das Gefäß zu zerstören, dessen man sich in der Fröhlichkeit bedient. Aber diesmal ereignete es sich anders: das Glas kam nicht wieder auf den Boden, und zwar ohne Wunder. / Man hatte nämlich, um mit dem Bau vorwärtszukommen, bereits an der entgegengesetzten Ecke den Grund völlig herausgeschlagen, ja schon angefangen, die Mauern aufzuführen, und zu dem Endzweck das Gerüst erbaut, so hoch, als es überhaupt nötig war. / Daß man es besonders zu dieser Feierlichkeit mit Brettern belegt und eine Menge Zuschauer hinaufgelassen hatte, war zum Vorteil der Arbeitsleute geschehen. Dort hinaufflog das Glas und wurde von einem aufgefangen, der diesen Zufall als ein glückliches Zeichen für sich ansah. Er wies es zuletzt herum, ohne es aus der Hand zu lassen, und man sah darauf die Buchstaben E und O in sehr zierlicher Verschlingung eingeschnitten: es war eins der Gläser, die für Eduarden in seiner Jugend verfertigt worden." (1/9, 303) Die insistierenden Buchstaben E und O, die Eduard nur zu gerne auf seinen und Ottiliens Namen beziehen möchte, repräsentieren aber weniger die „zierli48 I b i d

Cf. D. Michel: „'ÄMÄT'-Untersuchungen über „Wahrheit" im Hebräischen, in: Archiv für Begriffsgeschichte XH/1968, pp. 30-56. Cf. auch den Aufsatz über Jean Pauls Maschinen in diesem Band. 50 J. Lacan: Subversion du sujet et dialectique du dösir, in: Ecrits, p. 819.

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che Verschlingung" der Liebenden als vielmehr die Verschränkung von Eros und Thanatos. Wenn die Buchstaben E und O sich zierlich ineinander verschlingen, so wird der griechische Buchstabe Theta, die Initiale also von Thanatos lesbar: 6. Auf A und O, Alpha und Omega, Anfang und Ende, Geburt, Taufe, Liebe und Tod hat Eduard zuvor schon angespielt (1/5, 281). Wenn Eduards hermeneutische Anstrengung hingegen die Buchstaben des Glases als Initialen der Namen Eduard und Ottilie zu deuten bereit ist, so verkennt sie die verborgene thanatologische Wahrheit des „Eingeschnittenen". Der Liebende bezieht denn später auch die mantischen Momente im Fall und Fang des Glases semantisch auf die von ihm bevorzugten Signifikate und nicht auf die Signifikanten, die eigentlich überlebt haben: „Mein Schicksal und Ottiliens ist nicht zu trennen, und wir werden nicht zugrunde gehen. Sehen S ie dieses Glas! Unsere Namenszüge sind darein geschnitten. Ein fröhlich Jubelnder warf es in die Luft; niemand sollte mehr daraus trinken, auf dem felsigen Boden sollte es zerschellen; aber es ward aufgefangen. Um hohen Preis habe ich es wieder eingehandelt, und ich trinke nun täglich daraus, um mich täglich zu überzeugen, daß alle Verhältnisse unzerstörlich sind, die das Schicksal beschlossen hat." (1/18, 356).51 Eduard unterschätzt das insistente Sein der Zeichen. Erst als er - verwunderlichste Bemerkung der Wahlverwandtschaften überhaupt: sie läßt Interpretation sensu stricto redundant werden - sich selbst zum Zeichen machen und sein Dasein aufs Spiel setzen, ja dem Schicksal verwetten will, streift ihn die Ahnung, Bedeutung möge vielleicht doch nicht einem Herrn der Rede unterstehen: „So will ich mich denn selbst, [...], mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob unsere Verbindung möglich sei oder nicht. Ich gehe hin und suche den Tod." (11/12,447) Listig versucht Eduard, das Verhältnis von Subjekt und Zeichen umzudrehen, wie die Inversion des Satzbaus es vorschreibt („so will ich mich /mich selbst will ich"). Die „Suprematie des Signifikanten" usurpieren zu wollen, indem das Subjekt sich selbst zum Zeichen macht: das zielt auf eine Identifikation mit dem semiologischen Aggressor des narzißtischen Subjektbegriffs, den der Roman ebenso häufig erwähnt wie dekonstruiert52. Wenn sich aber Eduard selbst zum Zeichen machen will, so will er sich ebenso zum Zeichen machen, wie er sich selbst taufen wollte; und so verkennt er erneut die Unmöglichkeit, Konstitutionstheorie semiologisch zu wenden: Zeichen sind nun einmal oktroyiert und tradiert, und ihre differentielle Ordnung ist nicht subjektzentrisch herstellbar. Scripta manent, verba volant - und mit diesen erliegen die Subjekte der Vergängnis. Wie denn überhaupt der Roman auf und an Schriftlichkeit eher denn auf die Rede und den Blick" fixiert ist. Schon der erste im Roman geschilderte Schreibakt steht im Zeichen seiner versuchten, Unheil wenden wollenden und 51

Cf. auch die spätere leitmotivische Erwähnung des Glases. Cf. u. a. die Formel „der Mensch ist ein wahrer Narziß" und die häufige Inanspruchnahme narzißtischer Spiegelmetaphorik im gesamten Roman. 53 Cf. Charlottes anfängliche Bemerkung: „Und doch ist es in manchen Fällen [...] notwendig und freundlich, lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben." 52

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doch nur steigernden Tilgung: Charlottes „Nachschrift" (Nach-schrift/Metaschrift) zum Einladungsbrief Eduards an den Hauptmann wird durch einen „Tintenfleck [...] verunstaltet", „der sie ärgerlich machte und nur größer wurde, indem sie ihn wegwischen wollte" (1/2,257). Der schriftlich Geladene hilft dann nach seiner Ankunft dem Briefschreiber Eduard bei der Archivierung seiner ungeordneten Schriften nach subjektzentrischen Kriterien: „Das, was er mit andern abzutun hatte, was bloß von ihm selbst abhing, es war nicht geschieden, so wie er auch Geschäfte und Beschäftigung, Unterhaltung und Zerstreuung nicht genugsam voneinander absonderte. Jetzt wurde es ihm leicht, da ein Freund diese Bemühung unternahm, ein zweites Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich nicht immer sich spalten mag." (1/4, 266 sq.) Während das supplementäre Ich des Hauptmanns die Schriften des vermeintlich originären Ichs nach dem Gesichtspunkt der intersubjektiven Abhängigkeit („was er mit andern abzutun hatte") und der Ich-Autarkie („was bloß von ihm selbst abhing") sondert, verdoppelt später Ottilie die Schrift Eduards und damit den Mangel seiner „Spaltung". So leitet auch ein Schreibakt, der systematisch Absentes zu bannen versucht und doch nur schon vorhandene Schrift verdoppelt, die erste Liebeserklärung zwischen Eduard und Ottilie ein. Eine seltsame Liebeserklärung - ein zweifaches „du liebst mich" steht an der Stelle, wo doch die Wendung „ich liebe dich" obligat wäre. Doch es sind eben nicht zwei Subjekte, die da ihre Liebe erklären, vielmehr agieren „das" eine und „das" andere auf einer Bühne, auf der „Original" und „Abschrift" kaum zu unterscheiden sind: „Endlich trat sie (Ottilie] herein, glänzend von Liebenswürdigkeit. Das Gefühl, etwas für den Freund getan zu haben, hatte ihr ganzes Wesen über sich selbst erhoben. Sie legte das Original und die Abschrift vor Eduard auf den Tisch. .Wollen wir kollationieren?' sagte sie lächelnd. Eduard wußte nicht, was er erwidern sollte. Er sah sie an, er besah die Abschrift. Die ersten Blätter waren mit der größten Sorgfalt, mit einer zarten weiblichen Hand geschrieben; dann schienen sich die Züge zu verändern, leichter und freier zu werden: aber wie erstaunt war er, als er die letzten Seiten mit den Augen überlief! ,Um Gottes Willen!' rief er aus, ,was ist das? Das ist meine Hand!' Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter; besonders der Schluß war ganz, als wenn er ihn selbst geschrieben hätte. Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der größten Zufriedenheit in die Augen. Eduard hob seine Arme empor: ,Du liebst mich!' rief er aus,,Ottilie, du liebst mich!', und sie hielten einander umfaßt. Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu unterscheiden gewesen." (1/12, 323 sq.) Schreibend und lesend sind die Liebenden vereint, ja ununterscheidbar. Schon zuvor war Charlotte darüber irriüert, daß Eduard Ottilie gestatte, was er ihr immer gereizt verwehrt hatte: mit ihm gemeinsam in ein Buch (des Lebens) zu blicken. Vereint aber sind Eduard und Ottilie auch deshalb, weil die von Eduard erfahrene Verdrängung des Subjekts durch die Schrift nun auch Ottilie ergreift: „Das Geschriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen Herzens" (1/4, 269), sagt Eduard, um seine Aversion gegen Charlottes Blick ins Buch zu begründen. Und so ist es schon ein abgründiger Hintersinn, wenn er später die Verdoppelung seiner alten Hand-

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Schriften und also Ottiliens „Abschrift des Dokuments [...] tausendmal" küßt. An Ottilie hingegen, deren Namen wie auf Otto so auf die Totenblume Lilie sich beziehen läßt, demonstriert diese wiederbelebte Schrift, diese erneut beschworene, diese abgeschriebene Gegenwart, daß sie sich „ihr ungeheures Recht nicht rauben" läßt (1,11,321): das Recht nämlich, „Furie des Verschwindens" (Hegel) oder bloßer Aufschub der Nicht-Präsenz (140) zu sein. Vor ihrem Tod fällt Ottilie dem Verstummen anheim, und allein der Schrift ihres Tagebuchs vertraut sie an, was die lebendige Rede imaginär verdeckt: daß Jedes ausgesprochene Wort [...] den Gegensinn" (11,5,384) der unaussprechlichen Nicht-Präsenz „erregt". Dem entspricht eine Einsicht Friedrich Schlegels, die Atopie und Nicht-Präsenz als Prinzipien der Schrift ausweist: „Es gibt ursprünglich nur drei Bücher - Gesetzbuch - .Form der Zukunft' (Constitution Veda) - Chronik (Purana) ,magische Schrift' - Form der Vergangenheit - und Brief oder Form der Gegenwart, daher eben um die Schrift zu moüvieren die Entfernung."5* Erst in der Aufhebung jeder Entfernung, in der Erfahrung „nächster Nähe" - einer Nähe diesseits von Bewußtsein, Gegenwart, Subjekt und Kommunikaüon - erfüllt sich der Wunsch Eduards und Ottiliens nach „opferloser Nichtidentität des Subjekts"55. Sie fällt mit der Preisgabe von Sprache zusammen: „Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft gegeneinander aus. Sie wohnten unter einem Dache; aber selbst ohne gerade aneinander zu denken, mit andern Dingen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und her gezogen, näherten sie sich einander. Fanden sie sich in einem Saale, so dauerte es nicht lange, und sie standen, sie saßen nebeneinander. Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins. Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur ein Mensch im bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt. Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten, das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt. Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden." (n/17,478) Das Rätsel ihres Lebens und zugleich ihr liebendes Leben selbst wird sich alsbald auflösen56. Verstummend und sich auflösend entraten Ottilie und Eduard einer Ordnung der Sprache, die Subjekte einander „überparlieren und überexponieren" (1/5,278) läßt. Wiederholen diese derart untereinander, was die signifikante Kette ihnen einschreibt, so verfällt freilich auch Eduard wider Willen dem Zwang des „Uberexponierens", wenn Ottilie ihm in dem Augenblick begegnet, da er ihr, um ihr Schweigegelübde zu achten, einen Brief hinterlegt. Im Augenblick ihres Kommens ergänzt Eduard seinen Brief um die Wendung: „Ich höre dich kommen. Auf einen Augenblick leb wohl!" (11/16,473) So fallen im 54

F. Schlegel: 1. c, p. 494 (VII, 222). Th. W. Adorno: Negative Dialektik, GS 6, Frankfurt a. M., 1973, p. 277. 56 Zur Doppeldeuügkeit dieses Auflösung cf. den Aufsatz Das Leben war ihnen ein Rätsel in diesem Band. 55

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II. GOETHES BESTES BUCH

Medium der Schrift, das nur durch örtliche oder zeitliche „Entfernung'' gerechtfer tigt ist, der Aufzeichnungsakt und das aufgezeichnete Erlebnis zu der Präsenz zusammen, der die Rede ihre Suggesti vität verdankt und die das Recht der Schrift auflöst. Differenz scheint zur Identität geworden zu sein. Eduards letzte überde terminierte List, die Schrift, der er verfallen ist, die Rede usurpieren zu lassen und ihr die Rettung der Gegenwart anzuvertrauen, schlägt um in die Bannung seiner selbst wie der Geliebten. Beide werden buchstäblich zu Gefangenen im Laby rinth von Präsenz und Rede, Absenz und Schrift, sich (und andere) sprechen hören und sich (und andere) schreiben sehen. "Er faltete den Brief, unterschrieb ihn; zum Sigeln war es zu spät. Er sprang in die Kammer, durch die er nachher auf den Gang zu gelangen wußte, und augenblicks fiel ihm ein, daß er die Uhr mit dem Petschaft noch auf dem Tisch gelassen. Sie sollte diese nicht zuerst sehen; er sprang zurück und holte sie glücklich weg. Vom Vorsaal her vernahm er schon die Wirtin, die auf das Zimmer losging, um es dem Gast anzuweisen. Er eilte gegen die Kammertür, aber sie war zugefahren. Den Schlüssel hatte er beim Hineinspringen heruntergeworfen, der lag inwendig; das Schloß war zugeschnappt, und er stund gebannt." (ibid.) Der seine Uhr und seinen Petschaft bei dem Schriftstück zurückläßt, das in die Falle der Gegenwartseiner Adressatin geraten ist, muß sich aisein von seinem eigenen Schreibakt Gebannter erfahren. Gegen den hoffnungslosen Versuch einer Ver schränkung von Schrift und Präsenz macht die Ordnung des Symbolischen, die im Namen Otto ihre „objektive Interpretation" findet, ihre Macht der Differenz geltend. Sie besteht, darin dem Mythos und seiner subjektverschlingenden Logik gleich, auf der strukturalen Priorität der Absenz und des Mangels über die Fülle des Seins und der Zeichen. Diesen Mangel verwerfen zu wollen heißt: ihn radikalisieren. Ottiliens aus dieser Szene resultierende Sprachverweigerung ist die stumm beredte Geste dieser Einsicht. Otti liens sublimes Schweigen resultiert aus ihrer traumatischen Erfahrung der Verschränkung von Sprache und Tod. Ottilie war das sprachlos todverfallene Kind anvertraut, das der „doppelte Ehebruch durch Phantasie"57 zeugte, der Eduard und Charlotte nachts Zusammensein und zugleich die Gegenwart Otti liens und des Hauptmanns imaginieren läßt. Den Tod dieses Kindes, das sie als ihres zu betrachten gelernt hat, führt Ottilie herbei, nachdem sie „in Eduards Nähe [glücklich war und zugleich] fühlte, daß sie ihn jetzt entfernen müsse" (11/ 13,457). In unüberbietbar verdichtender Darstellung versammeln die Wahherwandtschafien im folgenden die Vielzahl ihrer verrätselten Motive zur ihrer einen thematischen Konstellation. Nachdem Ottilie in einem der Bücher las, „die ein zartes Gemüt an sich ziehen und nicht wieder loslassen" (11/13,454), und nachdem sie in der anschließenden Begegnung mit Eduard „wähnte" und „glaubte", ihm zuzugehören, will sie mit dem ihr anvertrauten Kind im Kahn zurück zu Charlotte gleiten: „Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab. Sie muß Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt 57

F. Jacobi am 12.1. 1810 an F Koppen.

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und gleitet eine Strecke seewärts. Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn. Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser. Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen. Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend, sich umzuwenden, sich aufzurichten; endlich gelingt' s, sie zieht das Kind aus dem Wasser, aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehört zu atmen". (11/13,457) Der imaginären Kraft eines Sein und Präsenz suggerierenden58 Romans verfallen, entgleitet Ottiliens „Bedenklichkeit". „Kind und Buch" - liberi et libri - aber sind gleichermaßen imaginären Ursprungs und „entfahren" deshalb ins Spiegelmedium des Wassers. Ottilie „sucht Hülfe bei sich selbst. So oft hatte sie von Rettung der Ertrunkenen gehört. Noch am Abend ihres Geburtstages hatte sie es erlebt. Sie entkleidet das Kind und trocknet's mit ihrem Musselingewand. Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum erstenmal dem freien Himmel; zum erstenmal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte Brust, ach! und kein Lebendiges. [...] Alles vergebens! [...] Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft Hülfe von daher, wo ein zartes Herz die größte Hülfe zu finden hofft, wenn es überall mangelt. Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen, die schon einzeln hervorzublicken anfangen. Ein sanfter Wind erhebt sich und treibt den Kahn nach den Platanen." (11/13,457 sq.) Den allgegenwärtigen „Mangel" vermag kein „feuchter Blick" und kein Hilferuf in „größte Fülle" zu verwandeln. Das wiederholte „vergebens!" erweist sich vielmehr als die lakonische Wahrheit über das Imaginäre. Der ausgesparte Name Goiles59, der zu Otto sich profanisiert hat, ist selbst noch Teil (wenn nicht gar Inbegriff) einer Ordnung des Symbolischen, die ihre Verbindlichkeit gegen phantasmatische Präsenz und konstitutive Subjektivität geltend macht. Ein sanfter Hadeswind, die Platanen als die platonischen Todesbäume und der geradezu topologische Kahn verdichten sich in dieser Textsequenz zu einer Todesallegorik, die Ottiliens (Lilie-Platane) erste erotische Verbindung als eine Vereinigung mit einem Toten charakterisiert. „Daß nicht die wahre Liebe es ist, 58

H. Brinkmann (Zur Sprache der Wahlverwandtschaften', in: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Bd. II. Düsseldorf 1966, pp. 355-375) hat auf den Wechsel von Präsens- und Präteritumsätzen gerade in diesem Kapitel aufmerksam gemacht. Eigentümlicherweise wird der Tod des Kindes präsentisch, die verbale Reaktion der Beteiligten aber im Präteritum geschildert. Eine seltsame grammatische Pointe: präsent(isch) ist das Absente, Tote. 59 Cf. Eduards Wort an Charlotte: „Nimm Ottilie, laß mir den Hauptmann, und in Gottes Namen sei der Versuch [beide einzuladen, J. H.] gemacht" (Hervorhebung J. H.). Nach Herders mehrdeutiger Anmerkung zu Goethes Namen - „Der von Göttern du stammst, von Goten oder vom Kote" -, die in Dichtung und Wahrheit referiert wird (I.e., p. 439), hat Goethe seinen eigenen Namen häufig, aber stets äußerst verschlüsselt, auf Namen in seinen Werken bezogen. Cf. L. A. Willoughby: Namen und Namengeben bei Goethe, in: H. Reiss (ed.): Goethe und die Tradition, Frankfurt a. M., 1972, pp. 259-281.

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die in Ottilie und Eduard herrscht"60, erhellt an Ottiliens manifester Todesverliebtheit. Als deren „ausdruckslose" (Benjamin) Geste figuriert ihre nunmehr einsetzende Sprachlosigkeit. Kommt, reden wir zusammen, wer redet, ist nicht tot; wer ent-sagt, wer nicht mehr redet... Und eben diese Sprachlosigkeit „entdeckt [...] die Wahrheit im Wesen der Sprache"61. Den konstitutiven Mangel der Sprache aufheben zu wollen ist die gemeinsame Figur aller imaginären Verfehlungen, von denen die schaften berichten. Statt die Subjekte gegenüber der „Suprematie der Signifikanten" zu emanzipieren, zitieren die geschilderten Sprachverfehlungen dessen mythische, subjektverschlingende Macht herbei. Das imaginär gezeugte Kind ist das deutlichste wie unschuldigste Opfer dieser Verfehlung. Da sein realer Vater „bei der Geburt des Sohnes nicht gegenwärtig" ist und so den „Namen nicht bestimmen [kann], bei dem man [das Kind] künftig rufen würde" (II/8, 420), schlägt Mittler vor, es auf den „beiderseitigen Namen" des realen und des imaginären Vaters zu taufen. „Otto sollte das Kind heißen: es konnte keinen andern Namen führen als den des Vaters und des Freundes" (ibid.). Als arbiträrer und souveräner („sollte") Benennungsakt mißversteht sich ein erneuter Taufakt, der zwanghaft (,,konnte nicht anders'') den Versuch wiederholt, einen Mangel im Symbolischen auszugleichen. Symbolisch repräsentiert ist dieser Mangel der symbolischen Ordnung dadurch, daß der Name Otto kein Zentrum, keine Mitte hat - anders als der Name des lieblichen Ortes am Fuße des elsässischen Odilienberges, den Goethe besuchte und der ihm zu seinem esoterischen Buchstabenspiel animiert haben dürfte: Ottrott. Das Kind Otto ist das fünfte Subjekt, das ins Zeichen dieses aus vier Buchstaben bestehenden Namens tritt. Gerade indem es die Mangelstruktur dieses Namens ohne Mitte imaginär aufhebt, ist es buchstäblich überzählig; an ihm manifestiert sich zuerst die Gewalt des Signifikanten zum Tode. Seinem Wink folgt Ottilie, die dann schweigend Eduard ihr folgen heißt, indem sie ihm nicht länger den Odem des Namens und des Lebens einflößt. Der sterbenden Geliebten, mit der er nie vereint war, ruft Eduard zu: „Soll ich deine Stimme nicht wieder hören? Wirst du nicht mit einem Wort für mich ins Leben zurückkehren? Gut, gut! ich folge dir hinüber; da werden wir mit andern Sprachen reden!" (11/ 18, 484) In und mit andern Sprachen aber reden erst die Gestorbenen, die nebeneinander ruhen: „So ruhen die Liebenden nebeneinander! Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen." (11/18,490) Ja wenn, falls . . . „Rein physiologisch" ist - nach Friedrich Jacobis ebenso gehässig gemeinter wie erhellender Bemerkung62-die Abschlußfigur dieses so glänzend organisierten und doch Subjektivität ex-zentrierenden Romans. Sein melancholischer und 60 61 62

W. Benjamin: Goethes ,Wahlverwandtschaften', I.e., p. 187. Ibid., p. 197. F. Jacobi: 1. c.

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dennoch enthusiastisch gelassener Gestus kennt Hoffnung nur um der Hoffnungslosen willen. Rein physiologisch versuchen die Wahlverwandtschaften, die unter allen Kunsttexten am reinsten im Bann der Sprache stehen, den Bann der Sprache und des Mangels über das Subjekt zu bannen. Exzentrik des Subjekts bei Husserl und Freud Die ungeheure Kritik der Wahlverwandtschaften an allzu selbstbewußter Subjektivität erschüttert (sachlich und würde auch rezeptionsgeschichtlich erschüttert haben, wenn dieser Roman denn adäquat gelesen worden wäre) sämtliche Formen der zeitgenössischen Subjektivitätstheorie. Nach einer Epoche hypertropher Zentrierung von Bewußtsein in allen Theoriedisziplinen wie noch in deren Metatheorie, die Kants Theorem der transzendentalen Apperzeption einleitete und die die Phänomenologie des Geistes abschloß, tritt Goethes Roman als Nekrolog aufs Denken konstitutiver Subjektivität auf. Subjektivität, die sich zum unhintergehbaren Prinzip aufspreizt, im Namen der „Suprematie des Symbolischen über das Imaginäre"63 als bloßen Schein deutend, finden die Wahlverwandtschaften erst ein Jahrhundert nach ihrem Erscheinen in der Konstellation von Phänomenologie, Psychoanalyse und Linguistik eine theoretische Entsprechung. Denn noch Hegels semiologische (und deshalb Goethes Einsicht in die Nicht-Ursprünglichkeit des Subjekts zeitgenössisch allein affine) Kritik vermeintlich unmittelbarer, selbstreferentieller Subjektivität schließt mit der Geste ihrer Rettung. Wohl dezentriert die phänomenologische Theorie von der Dialektik des Satzes Subjektivität zugunsten des „immanenten Rhythmus der Begriffe"64. Doch sie stabilisiert diese auch als „zweites Subjekt", das nach dem Zugrundegehen des ersten, des grammatischen Subjekt-Begriffs dessen freilich nicht länger apriorische, sondern resultative Wahrheit wird. Hegel hat keine Bedenken, die terminologische Äquivokation des logischgrammatischen und des bewußtseinstheoretischen Subjektbegriffs als Hinweis auf einen strukturellen und genealogischen Zusammenhang zwischen beiden zu begreifen. Er stellt vielmehr eine Argumentation vor, die sich wie eine vorweggenommene Umkehr von Annahmen der Diskurstheorie ausnimmt. Ihm zufolge hat die Transzendentalphilosophie dem bewußten Subjekt jenen Platz zugedacht, den in der aristotelisch-scholastischen Ontologie das als Substanz gedachte Subjekt innehielt. Die grammatische Repräsentation des Substanziellen als Satzsubjekt verneint nun aber gerade seinen Anspruch, Akzidenzien (Prädikate) tragende „ruhende" Substanz und so das „gegenständliche fixe Selbst" zu sein. Denn erst das Prädikat - das „consequens der alten Logik" - gibt nachträglich 63 64

Cf. J. Lacan: Ecrits, pp. 11,546, 728. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, WW, 1. c, Bd. 3, Frankfurt a. M., 1970. p. 56. Die Zitate verweisen auf die Seiten 55-59 der Phänomenologie des Geistes. Cf. hierzu ausführlich J. Hörisch: Das doppelte Subjekt - Die Kontroverse zwischen Hegel und Schelling im Lichte des NeoStrukturalismus; in: M. FTank/W. van Reijen (edd.): Die Frage nach dem Subjekt. Frankfurt a. M. 1988, pp. 144-164.

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an, was das Subjekt (und also das vermeintliche antecedens, die Voraussetzung aller Prädikate) überhaupt ist. Geht derart das Subjekt im Prädikat zugrunde oder in das Prädikat als in seinen Grund zurück, so gerät der gesamte „Satz", der sein vermeintlich „unbewegtes" und substanzielles Zentrum exzentrisch werden sieht, ins „Schwanken". Diesen Mangel auszugleichen ist die genuine Funktion des „zweiten Subjekts", des „wissenden Ichs", das „an die Stelle jenes [zugrundegegangenen grammatischen, J. H. ] Subjekts" tritt. Despot des Satzes und Herr der Rede zu werden und so die Stabilität des Ich-Begriffs von Kant und Fichte zu erlangen ist diesem „zweiten Subjekt" aufgrund seiner Pathogenese versagt. Ist es doch bloßes Resultat des Schwankens und Zugrundegehens des ersten, des substanziellen, des grammatischen Subjekts: „Indem aber jenes erste Subjekt in die Bestimmungen selbst eingeht und ihre Seele ist, findet das zweite Subjekt, nämlich das wissende, jenes, mit dem es schon fertig sein und worüber hinaus es in sich zurückgehen will, noch im Prädikate vor, und statt in dem Bewegen des Prädikats das Tuende - als Räsonieren, ob jenem dies oder jenes Prädikat beizulegen wäre - sein zu können, hat es vielmehr mit dem Selbst des Inhalts noch zu tun, soll nicht für sich, sondern mit diesem zusammen sein." „Listig" - so qualifiziert Hegel ausdrücklich „das Tun" dieses zweitklassigen Subjekts65 - listig erfüllt das „zweite Subjekt" seine supplementäre Lückenbüßerrolle, um nicht zur bloßen Funktion der ihm uneinholbar vorausliegenden „logischen Notwendigkeit" der symbolischen Ordnung zu werden. „An die Stelle" des ersten Subjekts tretend und so der Für-etwas-Struktur vonRepräsentativität genügend, salviert das „zweite Subjekt" mit der vom Zerfall bedrohten Satz- und Symbolstruktur jedoch auch sich selbst: als „wissendes Ich" leistet es „das Verknüpfen der Prädikate" und macht sich so zum sie „haltenden Subjekt". Die Substanz ist deshalb wohl als Subjekt, das Subjekt aber keineswegs als Substanz, sondern vielmehr als in sich selbst differente und differierende Funktion zu denken. Dieser rettenden Kritik des Subjekts in Hegels Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins kontrastiert die eigentümliche Subjektlosigkeit der Wahlverwandtschaften, die wie die Diskurstheorie noch das von Hegel listig als „zweites" ausgegebene Subjekt in seiner Ohnmacht darstellt. Die Subjekte der Wahlverwandtschaften sind auch als „zweite Subjekte" nicht geistesgegenwärtig; und wohl gerade deshalb zeigen die Erzählsequenzen, die im Präsens gehalten sind, „ein auffälliges Zurücktreten des persönlichen Subjekts"66. Dem Roman Goethes hat keine zeitgenössische Theorie souffliert. Dieser Mangel ist zur Produktivkraft des verblüffenden Textes geworden: Goethe hat kryptotheoretische Wendungen in seine Kunstprosa eingestreut. Sie markieren jene drei Inkonsistenzen im transzendentalphilosophischen Denken von Subjektivität, die die Theorien Husserls, Freuds und Saussures hervorriefen und die den Poststrukturalismus - horribile dictu - zum „fines-hominis"-Argument veranIbid., p. 53. H. Brinkmann: 1. c, p. 369.

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laßte67: 1. die Verschränkung von Präsenz und Subjektivität, 2. die Ein- bzw. Ausklammerung des Anderen, 3. die Verschränkung von Bewußtsein und Sinn.68 Ermöglicht das Ensemble dieser drei Theoreme erst den klassischen Subjektivitätsbegriff, so verfallen sie hundert Jahre nach ihrer poetischen Subversion den dekonstruktiven Lektüren der Phänomenologie und der Psychoanalyse. ad 1 . „Wenn man die vielen versunkenen, die durch Kirchgänger abgetretenen Grabsteine, die über ihren Grabmälern selbst zusammengestürzten Kirchen erblickt, so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweites Leben vorkommen, in das man nur im Bilde, in der Überschrift eintritt und länger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben. Aber auch dieses Bild, dieses zweite Dasein, erlischt früher oder später. Wie über die Menschen, so auch über die Denkmäler läßt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen." (H/3, 370) Ottiliens Tagebucheintragung zeigt die von der klassischen Subjekttheorie behauptete Verschränkung zwischen dem „lebendigen Leben" der Gegenwart und dem „Dasein" des „Menschen" als eine imaginäre an. Im Namen eines „zweiten Lebens", das im Zeichen nicht länger der präsentischen Rede, sondern der mortifizierten Schrift, der „Überschrift" steht, kritisiert sie eine von Aristoteles in Gang gesetzte und - wie Heidegger gezeigt hat69 - noch für Hegel gültige Denktradition, die das Wesen der Zeit vom Jetzt als dem perennierenden Gegenwartspunkt her bestimmt. Als vergangenes oder zukünftiges Jetzt erscheinen dann Präteritum und Futur der herausgehobenen Präsenz gegenüber als defiziente Modi, die von „ich" sagender Subjektivität im Augenblick ihrer stets präsentischen Aussage denn auch als bloße Retention oder Protention des Jetztpunktes70 abgewertet werden. Hingegen hat Derridas subtile Husserl-Lektüre aufgewiesen, daß schon die Logischen Untersuchungen gleichsam wider Willen die Aporien einer derartigen Privilegierung von Präsenz und Subjektivität deutlich werden lassen. Denn offensichtlich gehört das Wort „ich" den „wesentlich okkasionellen Ausdrücken" zu, deren Bedeutung sich je „nach der Gelegenheit, nach der redenden Person und ihrer Lage71 modifiziert. Die Termini Ausdruck und Bedeutung aber hat Husserl zuvor für jene Zeichen reserviert, die ideale und objektive Sachverhalte, Gegenstände und Strukturen designieren. Davon grenzt er dann die kontingenten Anzeichen ab. So macht Husserl sich entweder einer 67

Cf. J. Derrida: Fines hominis, übers. H. Boose, in: Randgänge der Philosophie, Frankfurt a. M. 1976. 68 Der Ähnlichkeit ihrer Problemstellungen und der annähernden Deckungsgleichheit ihrer Lebensdaten zum Trotz habenFreud(1856-1939)undHusserl (1859-1938) kaum voneinander Kenntnis genommen. 69 Cf. Sein und Zeit, Tübingen, 1967, p. 432, und Derridas Kommentar dieser Fußnote in Ousia und gramme, in: Randgänge, 1. c, pp. 38-87. 70 E. Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, ed. R. Boehm, Husserliana X. Den Haag 1966, § 12 sqq. 71 E. Husserl: Logische Untersuchungen II/l, Tübingen 1968, p. 81.

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terminologischen Erschleichung schuldig, wenn er die unzweifelhaft mit dem „Schwanken" von Anzeichen vergleichbare Verwendung von „ich" als „wesentlich okkasionellen Ausdruck" klassifiziert. Oder er entspricht damit dem eigentümlichen Umstand, daß die Idealität der Bedeutung von „ich" nicht so gedacht werden kann, daß sie in der Identität ihrer sich durchhaltenden Präsenz gründet. „Ich" ist nämlich signifikanterweise noch dann ein bedeutsamer Ausdruck, wenn „der jeweilig Redende, der sich selbst bezeichnet"72 - wie nach Husserl die Substitution des okkasionellen Worts durch einen objektiv idealen Ausdruck lauten müßte - nicht anwesend ist. Dem Shifter „ich"73 eignet noch dann (oder eben deshalb) Bedeutung, wenn (oder weil) der Träger seiner Aussage absent, wenn sein „Autor" fiktiv, gestorben oder unbekannt ist. Eben weil die Aussage „ich" offensichtlich nicht der vermeintlich Bedeutung erst garantierenden „lebendigen Gegenwart" verpflichtet ist, ist sie nicht bloßes Anzeichen, sondern Ausdruck. Seine Idealität verdankt der Ausdruck „ich" demnach der strukturalen Absenz seines Referenten, die im Medium der Schrift anders als in der Rede offenbar wird. Erst die a-präsente Exzentrik des Subjekts, das entgegen der Annahme noch von Benveniste eben doch eine „andere Referenz [...] als die Aktualität des Diskurses"74 hat, ermöglicht seine Bedeutung, so daß Derridas Lektüre der Logischen Untersuchungen mit Husserl gegen Husserl in der Dekonstruktion der basalen abendländischen Identifikation von Präsenz und Subjektivität gipfelt: „Mein Tod ist für die Äußerung/Verkündigung (prononc6) des Ich eine Strukturale Notwendigkeit." (155) Dieser phänomenologischen Exzentrierung von Präsenz und Subjektivität entspricht die psychoanalytische Einsicht in die Nachträglichkeit des Ich. Was am Subjekt ichhaft ist, ist ihm nachgetragen worden; und das Ich ist nicht zuletzt deshalb nachtragend. Freuds Formulierung, der Traum sei „anders zentriert [...] als die Traumgedanken"75, läßt sich auch auf das exzentrische Verhältnis des Subjekts zu seinem Bewußtsein beziehen. Freuds Satz, „daß das eigene Ich in einem Traum mehrmals vorkommt oder in verschiedenen Gestalten auftritt"76, hat Lacan deshalb als strukturale Wahrheit über die imaginäre Selbstidentität auch des bewußten ego begriffen. Zu den abgründigen träumerisch-unbewußten „Gestaltungen" des Ich zählt die Aufhebung der Demarkationslinie, die den Tod vom Leben scheidet. Diese gespenstische Aufhebung steht im exzentrischen Zentrum zahlreicher von Freud gedeuteter Träume. So auch im berühmten Sohnes-Traum vom gestorbenen und doch präsenten Vater: „Der Vater war wieder am Leben und sprach mit ihm [dem Sohn] wie sonst, aber [.. .] er war 72

Ibid., p. 82. Cf. R. Jacobson: Shifters, Verbal Categories and the Russian Verb, in: Essay de linguistique generale, Paris 1963, pp. 176-196, und J. Lacan: Ecrits, p. 535 sqq. 74 E. Benveniste: De la subjectivite' dans le langage, in: Problemes de linguistique generale. Paris 1966, p. 262. 75 Die Traumdeutung, Studienausgabe Bd. II. Frankfurt a. M. 1972, p. 310. 76 Ibid., p. 320 sq. 73

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doch gestorben und wußte es nur nicht."77 In diesem Traum, dessen Tiefenstruktur erst Lacans Radikalisierung von Freuds spätem Todestriebstheorem erschlossen hat, bricht sich die systematische Nachträglichkeit dessen [Bahn], was sich unmittelbar als Subjekt mit sich selbst identifizieren möchte. Weil es sich nicht ungebrochen gegenwärtig und unmittelbar als „ich" behaupten kann, kommt dem ichhaften Selbstbewußtsein der Zeitmodus „der antizipierten Nachträglichkeit"78 zu. Denn schon die erste Selbstidentifikation des Subjekts läßt das faktisch hilflose und abhängige sechs bis achtzehn Monate alte „infans" sein eigenes integrales Ich im Spiegelbild nur imaginär wahrnehmen79. Noch völlig von den Eltern abhängend, begrüßt das Kind antizipierend das Bild seiner Totalität und Autonomie, um später dann um so nachdrücklicher und verletzender die Differenz von Autonomie-Imago und faktischer Abhängigkeit als den Mangel seiner Nachträglichkeit zu erfahren. Was die Ichphilosophie als Subjekt begreift und ins Zentrum ganzer Begründungszusammenhänge verrückt, ist ein Verkennungseffekt. Das wird logisch schon daran deutlich, daß ein sich als sich (z. B. im Spiegelbild) identifizierendes Ich ja immer schon wissen muß, wie es beschaffen ist, um sich als sich erkennen zu können. Nie ist das Subjekt wahrhaft und wirklich (geistesgegenwärtig. Denn in ihm verschränken sich die imaginäre Antizipation seiner selbst und die Nachträglichkeit - z. B. der elterlichen Rede, die dem in sein Spiegelbild verguckten Kind bedeuten, es sehe dort eben sich selbst. Das Subjekt ist sich voraus, und es läuft sich nach; die Präsenz als Medium der Selbstidentifikation aber ist ihm struktural versagt. Unabdingbar dem Zeitmodus der vergangenen Zukunft verhaftet, hat sich dem Subjekt eine uneinholbare, Selbstpräsenz verstellende „Alterität" eingeschrieben, die es immer „ich werde [ich] gewesen sein" mitsagen läßt, wenn es „ich bin [ich]" zu sagen versucht. Nur unter der strukturalen Bedingung der Absenz des Subjekts des Ausgesagten ist die Aussage des Subjekts möglich. Lacan hat diese Bewegung auf die Formel gebracht: „Ich bin nicht dort, wo ich das Spielzeug meines Denkens bin; ich denke an das, was ich bin, eben dort, wo ich nicht denke, daß ich denke."80 In den Aporien und Paradoxien des Sich-Denkens des Denkens, das beide Komponenten der cogito-cogitans-Relation ins Subjekt setzen will und dabei erfahren muß, daß nur unter der Bedingung der Absenz des gedachten Ich das denkende Ich et vice versa statthat, zeigt sich die uneinholbare Verschränkung von Absenz und t noch im Kategorienrahmen der egologischen Reflexionstheorie. Jer Dekonstruktion von Präsenz als Medium der Selbstheit entspricht Zentrierung des Subjekts durch den A/anderen81. Goethes Wahlver,d., p. 417. *. S. Weber: Rückkehr zu Freud - Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse. ankfurta. M./Berlin/Wien 1978, p. 12. - Üt J. Lacan: Le Stade du miroir comme formateur du Je; in: Ecrits, pp. 93-100 80 Ecrits,p.519. 81 Darauf hat M. Theunissen (Der Andere. Studien zur Sozialontologie de Gegenwart, Berlin 1965) eindringlich aufmerksam gemacht, cf. p. 142: "Wie der Andere - als

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wandtschaften konnten bereits die katastrophische Tendenz und Latenz eines selbstreferentiellen Subjektivitätsverständnisses, das anders als „Naturwesen" vorrangig „einen Bezug auf sich selbst" zu haben meint, in quasi naturwissenschaftlichen Wendungen und doch mit poetischer Eindringlichkeit herausstellen. Einhundert Jahre später verdeutlichen Phänomenologie und Psychoanalyse theoretisch aufwendig die Krisis einer vom Makel der Intersubjektivität frei sich wähnenden Eigenheit. Obwohl Husserl und Freud gleichermaßen Programme der Wiederherstellung zerfallender Ichautonomie entwerfen, dementieren ihre Schriften doch fortlaufend den humanistischen Geist der Autoren. Schon die Logischen Untersuchungen verwickeln sich in eine wahrhaft dekonstruktive Argumentationsfigur. Einer ihrer zentralen Begriffe ist der des „einsamen Seelenlebens"82, welcher Terminus autarke Ichheit bezeichnen soll, die vor jeglicher Heteronomie geschützt ist (cf. 73). Nicht zufällig spricht nun aber das Ich sich im „einsamen Selbstgespräch" - wie in Husserls Beispiel („Das hast du schlecht gemacht, so kannst du es nicht weiter treiben.") - in der zweiten Person Singular an. Dies ist ein Anzeichen, psychoanalytisch gesprochen: ein Symptom dafür, daß Husserls Programm einer zweifachen Einklammerung alles Fremden zugunsten der Sphäre transzendentaler Eigenheit scheitern muß. Die Epoche der Anzeichen, die auf Vorhandenes verweisen und deshalb empirieverfallen bleiben, und die Ausschaltung anderer Subjektivität, die dem „einsamen Selbstgespräch" dazwischenreden könnte, scheitern an der anzeigenden Funktion des Shifters Ich83 ebenso wie an der Insistenz des „alter ego". Wenn nämlich nach Husserls eigener Darlegung „alle Ausdrücke in der kommunikativen Rede als Anzeichen fungieren", da sie „dem Hörenden als Zeichen für die,Gedanken' des Redenden"84 dienen, trifft das Verdikt über die Anzeige: daß sie nämlich die Reinheit des „einsamen Selbstgesprächs" bedrohe, auch für das „alter ego" zu. An der „Unfähigkeit der Egologie, die Objektivität der Welt [und die Idealität der Bedeutungen, J. H.] verständlich zu machen"85, zerbricht der latente Solipsismus schon der Logischen Untersuchungen. Denn entweder verdanken die Ausdrücke die objektive Idealität ihrer Bedeutung ihrer transsubjektiven Verbindlichkeit - dann aber ist es unplausibel, die Erfahrung des „alter ego" und der kommunikativen Rede der Anzeige zuzurechnen. Oder die stets unterstellte Korrelation von Idealität und „einsamem Selbstgespräch" erfährt eine Inversion, anderes Ich - eine ,intentionale Modifikation' meiner selbst ist, so sind Vergangenheit und Zukunft-als vergangene' und ,künftige Gegenwart' - .intentionale Modifikationen' der Gegenwart." Cf. auch p. 145: „Da nach Husserl die Gegenwart die letztgülüge Apodiktizität, die ,absolute Wirklichkeit' darstellt, ist die Ent-Gegenwärtigung immer auch eine Entmächügung des Ich." Logische Untersuchungen H/1, p. 33 u. ö. „Ich" ist, wie Husserl selbst konzediert,, allgemein wirksames Anzeichen." (ibid., p. 82). Logische Untersuchungen II/l, p. 33. M. Theunissen: 1. c, p. 52.

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die die mediale Privilegierung der Eigenheit und der vermeinten Unmittelbarkeit selbstpräsenter Subjektivität zurücknimmt - dann aber ist die Konstitutionstheorie von Subjektivität gescheitert. Das hat auf andere Weise schon Adornos HusserlStudie gezeigt: „Das Denken von Wahrheit erschöpft sich weder im sei's auch transzendentalen Subjekt noch in der reinen Idealgesetzlichkeit, sondern erheischt die Beziehung des Urteils auf Sachverhalte, und diese Beziehung - und damit die Objektivität der Wahrheit - begreift die denkenden Subjekte mit ein, die, indem sie die Synthesis vollbringen, zu dieser zugleich von der Sache her veranlaßt werden, ohne daß Synthesis und Nötigung voneinander sich isolieren ließen."86 Dem Zwangszusammenhang von „Synthesis und Nötigung" unterliegt das Subjekt gleich zweifach. Zum einen: Obwohl es andere Subjektivität vorgängig konstituiert wie alles andere sonst, ist das absolut einzige ego doch genötigt, den Anderen als selbst konstituierenden zu konstituieren, wenn es denn objektiver und idealer Geltung selbst Geltung verschaffen will. Wird es (nach Husserls schöner Wendung) derart „transzendental deklinierbar", „daß es [.. .] von sich aus und in sich die transzendentale Intersubjektivität konstituiert, der es sich dann zurechnet, als bloß bevorzugtes Glied, nämlich als Ich der transzendental Anderen"87, so unterliegt das ego selbst der Nötigung zur „Veränderung"88. Eine unfreiwillige phänomenologische Variante zur psychoanalytischen These von der Wiederkehr des Verdrängten: statt noch die Intersubjektivität zu konstitutieren, erfährt sich Subjektivität als eine, die in einen Prozeß der „Ent-Fremdung"89 von sich selbst gestürzt wird. Zum anderen: Zur „Verdinglichung"90 droht diese „Ent-Fremdung" sich zu verschärfen, wenn die Nötigung zur „Veränderung" noch den Anderen umgreift, und Empirie als das Andere von Subjektivität das ego wie den Anderen zum „transzendenten äußeren Objekt"91 oder zur „Gegebenheit unser selbst als eines Raumdings wie alle anderen "n depotenziert. In der nur appräsentativen Wahrnehmung des Anderen wiederholt sich demnach der Skandal der äußeren Selbstwahrnehmung (136), die veranlaßte, daß das Wort „ich" seine Qualität als Ausdruck verlor und zum bloßen Anzeichen herabgewürdigt wurde. Derridas außerordentlich genaue und textnahe Lektüre der Logischen chungen liest zugleich mit und gegen Husserls direkte Intentionen an, wenn sie zentrale Kategorien okzidentalen Denkens dekonstruiert. Hingegen ist die 86

Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie - Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien; in: GS 5. Frankfurt a. M. 1971, p. 78. 87 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie II, ed. M. Biemel, Husserliana Bd. IV. Den Haag 1952, p. 169. 88 M. Theunissen: 1. c, pp. 84-92. 89 Husserl: Die Krisis, p. 189. 90 Auch dieser Begriff findet sich bei Husserl: ibid., p. 234. 91 Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II, ed. M. Biemel. Husserliana Bd. IV. Den Haag 1952, p. 188 sq. Ibid., p. 161.

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Exzentrik des Subjekts Freuds ausdrückliches Grundthema. Wie die Phänomenologie verzeichnet auch die Psychoanalyse eine doppelte Subversion des Subjekts. Allerdings macht sie anders als Husserls Philosophie nicht transzendentale Subjektivität, die sich dann in den Schlingen irdischer Erdenreste verstrickt, sondern gleich das Subjekt in all seiner irdisch-empirischen Peinlichkeit zum Ausgangspunkt der Analyse. Schon bei, nein: gar noch vor seiner Geburt ist das Subjekt in eine Ordnung des Symbolischen eingelassen, die sein Begehren als das Begehren des Anderen kodifiziert. Aufgrund seines ursprünglichen und gattungsspezifischen Mangels der Vorzeitigkeit seiner Geburt ist das menschliche Subjekt extrem auf den Anderen verwiesen - nämlich darauf angewiesen, Objekt des Begehrens des Anderen zu werden. Beide aber, das begehrte wie das begehrende Subjekt, sind auf einen dritten Ort bezogen, an dem die Logik ihrer Intersubjektivität entsteht: auf die Sprache und ihre symbolische Ordnung. Sie „verändert" das Subjekt gründlicher, als andere Subjektivität, die gleichermaßen ihr Institut ist, es je vermöchte. Rimbaud zitierend und Freuds Einsicht in die Heterogenität des Subjekts mit linguistischen Termini radikalisierend, kann Lacan deshalb sagen: „Ich ist ein Anderer."93 Ein doppelt Anderer: nach der dyadischen Identifikation des Kindes mit der Mutter, die Lacan analog zur nicht orientierbaren Fläche des Moebius-Bandes denkt, öffnet sich diese verandernd-vereinende Einheit auf den (Namen des) Vater(s) hin, der das infans aus dem Imaginären vertreibt und dem Symbolischen unterstellt. Indem die Mutter den Namen des Vaters als die „Instanz" des InzestVerbots benennt, absolviert sie das Kind - im Namen des Vaters - vom unmittelbaren Begehren der Mutter, um es sich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil identifizieren zu lassen. So tritt mit der Intervention des „puren Signifikanten" der Vaterschaft das Ich-Ideal an die Stelle des Ideal-Ich, das in der Spiegelidentifikation bereits erreicht zu haben glaubte, was nun der Vater-Name verstellt. Im Übergang des „infans" in die Ordnung des Symbolischen geht das narzißtische Größenich unter; es wird zu Umweg und Aufschub94 angehalten. Aus der Mutter-Kind-Dyade wird die Triade, die das Subjekt der symbolischen Ordnung unterwirft, die im „nom/non du pere", im Namen/Nein des Vaters ihren Inbegriff findet. Die Suprematie des Symbolischen über das Imaginäre ist das exzentrische principium auch des Subjekts. ad 3. An der Exzentrik des Subjekts, das sich seiner vermeinten Präsenz wie seiner Selbstheit beraubt sieht, scheitern alle Hypostasen einer Korellation von Bewußtsein und Sinn. Etwas „mit Vorsatz" sagen zu wollen ist, wie schon Goethes bestes Buch weiß, angesichts der „bewußtlosen" (1/12,325) Momente der Sprachstruktur ein Akt der Verkennung. (Selbst-)Verkennung anzuerkennen heißt freilich noch nicht, sie zu neutralisieren, wie Ottiliens Tagebucheintragung, die der kommenden Katastrophe durch Formen des Inversionsdenkens wehren will, meint: „Es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt er sich den 93 M

Ecrits.p. 118. Zur Lacan-Kriük Derridas cf. J.-L. Nancy / Ph. Lacoue-Labarthe, Le titre de la lettre, Paris 1973.

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Augenblick als bedingt. Wagt er es, sich für bedingt zu erklären, so fühlt er sich frei." (II/5,397) Auch nach diesem Schreibakt, der der Dialektik von Aufklärung listig zu entraten versucht, ist Ottilie hingegen „ein feindseliger Dämon, der Macht über [sie] gewonnen" (11/17,476) zugesellt, der sie wie Eduard „gegen [ihren] eigenen Willen" (ibid.) sprechen und handeln läßt.95 Auch Psychoanalyse und Phänomenologie stehen schon anfänglich im Zeichen der Unabschließbarkeit selbstaufklärerischer Prozesse. Wirkliche Aufklärung kann weder ein fundamentum inconcussum noch ein sicheres Ziel haben. Dem Diktum seines Lehrers Charcot - „La theorie, c'est bon, mais ca n'empeche pas d'exister"96 bleiben noch Freuds Überlegungen zur Unendlichkeit der Psychoanalyse verpflichtet. Schon die Unabschließbarkeit einer psychoanalytischen Kur läßt ein der Kraft von Subjektivität vertrauendes Verständnis des psychoanalytischen Imperativs „Wo Es war, soll Ich werden" obsolet erscheinen. Lac an hat Freuds berühmter Wendung denn auch eine frappante, weil die schwierigere Lesart aktivierende Deutung gegeben: danach soll das imaginäre Ich dorthin gelangen, wo ein symbolisch kodifiziertes Es bereits ist - da, wo das Es ist, soll Ich hingelangen97. Diese Lektüre ist der Unmöglichkeit einer Tilgung der Differenz von Bewußtseinsleistungen und transsubjektivem Sinn eingedenk. Als „soufflierte Rede" hat Derrida die prinzipielle Nicht-Koinzidenz von Intentionalität, Bewußtsein und Sinn namhaft gemacht98, die seit Mallarmes Texten als vorrangige poetische Produktivkraft der Moderne gelten darf. Freud hat diese systematische wechselseitige Verfehlung der Basiskategorien okzidentalen Subjektivitätsdenkens schon in der frühen Formulierung, der zufolge „Bewußtsein und Gedächtnis sich ausschließen"99, anerkannt. Für Husserl bleibt diese Einsicht hingegen das Anathema schlechthin, das Tabu, das freilich seiner Verdrängung durch insistierende Wiederkehr wehrt. Nicht nur stellt schon eine der Eingangsgesten der Logischen Untersuchungen, nämlich der Ausschluß „sinnlosen Sprechens", das dem „Gerassel einer Maschine"100 gleichstehe, die Universalität der Korrelation von idealen Ausdrücken und Bedeutung in Frage. Als bedeutend, ja als „Prinzip aller Prinzipien" machen auch später die Ideen / die "einfach hinzunehmende", sich „in der „Intuition" „originär" darbietende „leibhafte Wirklichkeit"101 geltend. Dieser aber haften „sinnlose" Qualitäten an, die schlechthin nicht auf Konstitutionsakte zurückgeführt werden können. Noch im Rahmen phänomenologischer und bewußtseinsphilosophischer Begrifflichkeit hat Sartres frühe Theorie der Transzendenz des Ego dieser Cf. auch die Wendung: „Hier sagte sie [Ottilie] oft mehr, als sie zu wollen schien." Zitiert bei Freud: Characot(1893); in:GWBd. 1. Frankfurt a.M. 1960, p. 24 und ders.: Traumdeutung: 1. c, p. 156. Ecrits, pp. 416-420. Die soufflierte Rede, in: Die Schrift, 1. c, pp. 259-301. Freud an W. Fliess am 6.12. 1896. Logische Untersuchungen II/l, p. 67. Ideen 1,1. c, § 24

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eigentümlichen Differenz zwischen Bewußtsein, Subjektivität und Sinn gerecht zu werden versucht. Indem Sartre ein un- und vorpersönliches transzendentales Feld als präreflexive und präintentionale Möglichkeitsbedingung von Selbstheit annimmt102, vermeidet er die Dilemmataeines Bewußtseinsbegriffs, der Bewußtsein immer schon mit einem Ich identifiziert, ohne ausweisen zu können, wie dieses Ich dann jemals sich selbst thematisch zu werden vermag. Unter den neueren französischen Theoretikern hat wohl nur Deleuze Sartres weitreichende These, die dem Bewußtsein selbst wie seinen späteren Gegenständen ein athetisches Moment zuerkennt, als „entscheidenden" Schritt von „großer Wichtigkeit" für eine Strukturalistische Logikdes Sinns qualifiziert103, ohne damit die auf wechselseitigen Mißverständnissen beruhende Kommunikationslosigkeit zwischen Sartres Beiträgen zu einem auf- und abgeklärten Verständnis des Subjekts und den affinen Bemühungen etwa Lacans, Derridas und Foucaults' verhindern zu können104. Die Theoreme der letzteren nämlich lassen sich als Versuche zur Rekonstruktion der Binnenstruktur des von Sartre hypostasierten vorpersönlichen transzendentalen Feldes verstehen. Derridas synoptische Lektüre der Texte Husserls und Freuds hat Exzentrik und Differenz als prinzipienlose Prinzipien dieses Feldes namhaft gemacht. Der Unbegriff, den er zur Kennzeichnung dieses prinzipienlosen Prinzips prägte, lautet Differänz (difförance). Dem Paradox, noch die Dekonstruktion der basalen okzidentalen Denkkategorien auf ein „ursprünglich ursprungsloses"105 Theorem abbilden zu wollen und so zugleich die synthetisierende Geste des Kritisierten wiederholen zu müssen, verdanken Derridas Überlegungen ihre Attraktivität. Sie verbleiben nicht in den Aporien eines bloßen Inversionsdenkens106, das die okzidentalen Grundbegriffe einfach nur gegensinnig austauschte und etwa statt Präsenz Absenz, statt Identität Nichtidentität und statt Bewußtsein Unbewußtes sagte. Vielmehr versucht Derrida eine Dekonstruktion der okzidentalen Onto-Theologie zugunsten einer Ontosemiologie, die die atopische Verschränkung von Sein, Zeit und Sprache freilich weniger zum Thema hat, als daß sie diese an ihr sich vollziehen läßt. Dieser Gestus begründet die Esoterik vieler neuerer Schriften Derridas107. Ohne Kenntnisnahme seiner frühen dekonstruktiven Lektüre klassischer philosophischer

Sartre: Die Transzendenz des Ego - Drei Essays. Reinbek 1964, p. 8 sqq. G. Deleuze: Logique du sens. Paris 1969, p. 132. Das dürfte auch damit zusammenhängen, daß Sartre seine besten Theoreme immer wieder mit einem naiven Freiheitsbegriff unterbietet. J. Derrida: Die Schrift, 1. c, p. 312. F. Wahl: Die Philosophie diesseits und jenseits des Strukturalismus; in: O. Ducrot et. al.: Einführung in den Strukturalismus. Frankfurt a. M. 1973, weist auf die Gefahr hin, daß der „Aufschub (differance) [...] abermals zum Prinzip einer Metaphysik" werden könne. J. Derrida: Sporen - Die Stile Nietzsches. Venedig 1976, leitet Esoterik aus der Verschränkung von .Verlust' (p. 79) und der reinen Verausgabung, dem „coupde don" (p. 89) von Zeichen her.

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Texte (wie sie in der Husserl-Studie Die Stimme und das Phänomen geradezu klassisch vorgeführt wird) sind die esoterischen späteren Texte kaum zu verstehen. Während die frühen Texte Derridas die Inkonsistenzen und Befallsstellen des klassischen Diskurses der Subjektivitätstheorie zusammenstellen, versuchen die jüngsten, das Unprinzip dieser Inkonsistenz gewähren zu lassen. „Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen entstehn."108 Ontosemiologie Daß Denken und Sein eines sei - dieser parmenideische Grundsatz der okzidentalen Episteme ist nach Husserl, Freud und Heidegger identitätstheoretisch nicht mehr lesbar. Ja schon seit Hegels Wissenschaft der Logik ist die Kategorie der Identität ohne Anerkennung ihrer heteronomen Momente nicht zu halten. Wenn nämlich gezeigt werden kann, daß Jedes [Selbstbezügliche, J. H.] [...] sich auf sich selbst nur als sich beziehend aufsein Anderes" bezieht, so ist Jedes [... ] nur, insofern sein Nichtsein ist."109 Hegel hat denn auch vor aller logischen Mengentheorie auf die Widerspruchsstruktur von (subjektiver) Selbstbeziehung hingewiesen: das sich denkende Ich muß sich als gedachtes Ich selbst enthalten; und Selbstbewußtsein ist somit als die Menge aller Mengen (bewußter Akte) zu bestimmen, die sich selbst als Element enthält. Bei aller Bereitschaft, Widerspruchsstrukturen zu analysieren, denkt Hegels Logik doch den Widerspruch als sich auflösenden. Denn sie läßt der Widerspruchs- eine Grundlogik folgen, die den Grund als „vollendete Selbständigkeit"1 10 zur Wahrheit des begründeten Widerspruchs und seiner Destruktion aller Formen vermeintlicher Autarkie erklärt. In Auseinandersetzung mit Hegel, der den Widerspruch als Resultat eines Begründungsaktes anerkennt, um dann ontotheologisch die Sphäre des Grundes in sich selbst widerspruchsfrei halten zu können, hat Heidegger die Differenz ohne Identitätstelos gedacht. „Gäbe es eine Definition der Differänz, so bezöge sie sich gerade auf die Zurückweisung, Unterbrechung und Destruktion der hegelschen Aufhebung."111 Noch das Sein als Grund jedes Seienden verdankt sich seiner eigentümlichen Differenz zu sich selbst, die Heidegger als Zeit namhaft macht. „Sein als Differenz"'12 zu denken - dazu nötigt die ursprungslose Verschränkung von Sein und Zeit. „Die Zeit selbst [offenbart sich nicht nur] als Horizont des Seins"m, sondern ihre ,^Zeitlichkeitist [als] das ursprüngliche Außersich, das ekstatikon"114, 108

Hölderlin: Brod und Wein - Unemendierter Text V. Frankfurter Ausgabe Bd. 6. Frankfurt a. M. 1976, p. 250 (v. 90). m Hegel: Wissenschaft der Logik II, WW 6, p. 57. 110 Ibid., p. 69. 1.1 J. Derrida: Positions - Entretiens ... Paris 1972, p. 55. 1.2 Heidegger: Identität, 1. c, p. 56. 113 Heidegger: Sein und Zeit, p. 437. 1M Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, Gesamtausgabe II. Abt., Bd. 24. Frankfurt a. M. 1975, p. 377.

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vielmehr auch der „Un-grund" der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem. „Der Unterschied von Sein und Seiendem ist in der Zeitigung der Zeitlichkeit gezeitigt."115 So ist die ontologische Differenz, die „die Dinge Welt gebärden" und „Welt die Dinge gönnen" läßt116, selbst ein nie stillzustellendes Resultat der Verschränkung von Sein und Zeit. Daß Sein als Zeit verfaßt ist, ist die Differenz, die das „Zwischen von Welt und Ding"117 stiftet und zum unendlichen Aufschub verhält. Die Unendlichkeit dieses Aufschubs jeglicher Identität zugunsten des Unterschieds aber verdankt sich der widersprüchlichen „Endlichkeit der Zeit"118, die den „Entwurf des Seins auf die Zeit"119 erst vindiziert. „Der ekstatische Charakter der Zeit ermöglicht den spezifischen Überschrittcharakter des Daseins, die Transzendenz und damit auch die Welt."120 In dieser Differenz gründet „Bedeutsamkeit", ja, daß „das Ganze dieser [von der Differänz erst eingesetzten, J. H.] Bezüge" ist, ist „Bedeutsamkeit"121. Mit dem Begriff des „Unterschieds", der dann freilich kein Begriff im Sinne der von ihm de(kon)struierten philosophischen Tradition mehr ist, hat Heidegger in seinen späten Überlegungen zur Sprache der Einsicht zu entsprechen versucht, daß Sein und Sprache sich gleichermaßen dem Ereignis der einen Differenz verdanken. „Die Innigkeit von Welt und Ding west im Schied des Zwischen, west im Unter-Schied. Das Wort Unterschied wird jetzt dem gewöhnlichen und gewohnten Gebrauch entzogen. Was das Wort ,der Unterschied' jetzt nennt, ist nicht ein Gattungsbegriff für vielerlei Arten von Unterschieden. Der jetzt genannte Unter-Schied ist nur als der Eine. Er ist einzig"122 und ereignet sich so auch als Unter-Schied von Sprache und Sprechen. „Die Sprache west als der sich ereignende Unter-Schied für Welt und Dinge."123 So „verwindet" Heidegger die abendländische Onto-TheoLogik, die einen Herrn des Seins und der Sprache als gründenden Grund hypostasieren mußte, um begründete Identität überhaupt denken zu können, zugunsten einer Ontosemiologie, die nur dem einen differenten Ereignis nachdenkt: Daß Sein als Zeit verfaßt ist und deshalb die ontologische Differenz von Sein und Seiendem zeitigt, ist das diskursive Ereignis und dig Basisstruktur von Bedeutsamkeit. An Heideggers Un-Begriff des Unterschieds ist Derridas „quasi medialer Neologismus differance"124 - er ist ebenfalls dem „gewöhnlichen und gewohnten Gebrauch entzogen" - offensichtlich orientiert125. Indem Derrida freilich m 116 1,7 118 1,9 120 121 122 123 124 125

Ibid., p. 454. Die Sprache, p. 24. Ibid. Heidegger: Grundprobleme, 1. c , p. 387. Ibid., p. 397. Ibid., p. 428. Ibid., p. 419. Heidegger: Die Sprache, p. 25. Ibid., p. 30. M. Frank: Eine fundamental-semiologische Herausforderung der abendländischen Wissenschaft - Jacques Derrida; in: Philosophische Rundschau 1,2/1977, p. 12. Cf. dazu und zum Folgenden J. Derrida: Die Differance; in: Randgänge: 1. c.

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Heidegger mit Saussure liest - so wie er Husserl mit Freud gelesen hat - vermag er dessen Abwehrhaltung gegen szientifische Argumentation zu durchbrechen. Derrida macht aus den weisen Behauptungen Heideggers Argumente, indem er sie linguistisch läutert. Das ist nicht zuletzt deshalb möglich, weil nicht nur für Heideggers Versuch einer Verwindung der Metaphysik, sondern auch für Saussures Sprachtheorie .Differenz' ein Schlüsselterminus ist. Gegen die tradierte Sprachphilosophie, die in der Regel mit der Differenz von Signifikant und Signifikat den Anfang macht, konnte Saussure die Differenzen zwischen den Signifikanten als Möglichkeitsbedingung der bedeutenden Zeichen ausweisen. Der semantische Wert der Zeichen ergibt sich rein differentiell aus seinem „bestimmtesten Kennzeichen": etwas zu sein, „was die anderen nicht sind"126. Rein „negativ durch ihre Beziehungen zu den anderen Gliedern des Systems"127 konturieren sich die Signifikanten, die diese ihre Nachträglichkeit als bloßes Produkt des Umstandes, „daß in der Sprache alles negativ ist"128, an die Signifikate weitergeben. Die den Zeichenwert konstituierende Differenz der Signifikanten untereinander bringt die Differenz von Signifikat und Signifikant erst hervor. Denn auch die Signifikate müssen, um Signifikate zu werden und nicht länger „gestaltlose Masse"129 zu sein, in eine differentielle Ordnung zueinander treten. Dies aber geschieht erst, wenn der Signifikant seine Suprematie über das Signifikat erwiesen hat. Das Signifikat muß „immer schon in der Position des Signifikanten"130 gewesen sein, um Signifikat sein zu können; und die Positivität des Zeichens ist demnach die bloße Oberflächenstruktur der signifikanten Differentialität, die es als negativen Effekt eines seiner Teile, des Signifikanten, ausweist. Diese Suprematie des Signifikanten über das Signifikat ist irritierenderweise ein Resultat des für die Signifikantenkette konstitutiven Mangels. Im Namen ihres Mangels, der sie zur differentiellen Ordnung erst verhält, schreibt sich die Signifikantenkette der amorphen und mangelhaften Signifikatssphäre ein. Mit ausschließlich semiologischen Argumenten aber ist dieser Mangel, der zwischen den Signifikanten die Lücke schafft, die ihre Differenz und ihren Wert konstituiert, kaum zu erfassen131. Vielmehr muß er immer schon in Anspruch genommen werden, sofern überhaupt „Bedeutsamkeit" ist. Daß es weniger 126

Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967, p. 140. Cf. Derridas Saussure-Lektüre in der Grammatologie (p. 100 sqq.). 127 Ibid., p. 139. 128 Ibid. p. 144. ,2 ' Ibid., p. 134. 130 Derrida: Grammatologie, p. 108. 131 Dieser Umstand und die Assonanz mit Heideggers Begriff der Onto-Theologie spricht für den Terminus Ontosemiologie. W. Hamacher: Pleroma- zu Genesis und Struktur einer dialektischen Hermeneutik bei Hegel, in: G. W. F. Hegel: Der Geist des Christentums, ed. W. Hamacher. Frankfurt a. MTBerlin/Wien 1978, hat in seiner glänzenden Studie im Hinblick auf die Theorie Derridas den Begriff Semontologie entwickelt (p. 262).

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Signifikanten als Signifikate, „weniger Sprache als Sein" gibt132, ist nicht bloß das Movens für die poetischen Supplementierungen dieses Sprachmangels durch Metaphern und Metonymien133, sondern die Bedingung der Möglichkeit von Bedeutsamkeit. Dieser „Bedeutung instituierende Mangel"134 ist aber kaum als „semiologisch irreduzible Funktion des Subjekts"135 zu identifizieren. Denn die spezifische Nachträglichkeit des Subjekts gegenüber den Signifikanten wiederholt nur deren Nachträglichkeit. Vielmehr liegt der Mangel der Verschränkung von Sein und Zeit seinem Schauplatz, dem Subjekt, dem er sich einschreibt, voraus. Heidegger hat deshalb raunend vom „Wesensverhältnis zwischen Tod und Sprache"136 gesprochen. Es ist die vorsubjektive ontosemiologische „Inschrift, in die unser geschickliches Dasein von altersher eingeschrieben ist"137. Indem sie die Zeitigung der ontologischen Differenz selbst als Bedeutsamkeit begreifen, denken Heideggers späte Schriften eine Marginalie von Sein und Zeit zu Ende, die im Anschluß an Husserls Überlegungen zum Anzeichen in den Logischen Untersuchungen vermutet, daß „die Verweisung selbst [...], soll sieontologisch das Fundament für Zeichen sein, nicht selbst als Zeichen begriffen werden kann"138. „Daß gerade die alte Klage, daß alles vergänglich sey, der Fröhlichste aller Gedanken werden kann"139, insofern der Mangel von Sein und Zeit als Geschenk von Bedeutsamkeit und Subjektivität zu denken ist, gehört seit der frühromantischen Konzeption fröhlicher Wissenschaft unabdingbar zur Geste einer Subversion der okzidentalen Denkzwänge. Konnte die realgeschichtliche Liquidierung dessen, was einmal emphatisch Subjekt genannt wurde, im Namen der Denkzwänge geschehen, die Subjektivität als Konstitutionsprinzip ausgaben, so ist deren bislang radikalste Kriük nur als rettende eine, die tatsächlich die Regeln des abendländischen Diskurses unterlief und dekonstruierte. Zu retten aber ist das Subjekt einzig, wenn es sich weder konsütutionstheoreüsch überfordert und so zum Gegenstand seiner eigenen Zurichtungen macht, noch Identifikation mit den Prinzipien seiner Abschaffung betreibt. Denn als Geschenk der ontosemiologischen Verschränkung von Sein und Zeit gleicht Dasein der „Blauen Blume, / die leise tönt in vergilbtem Gestein"140.

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Foucault: Raymond Roussel. Paris 1963, p. 208. Cf. J. Derrida: La disseminaüon, 1. c, p. 290. Literatur vermag diesen Mangel zu supplementieren, weil sie ihn uni versalisiert; sie nämlich ist, Derrida zufolge, „Differenz ohne Referenz" oder „Referenz ohne Referent" (ibid., p. 234). 134 M. Frank: 1. c , p. 13. 135 M. Frank: Das individuelle Allgemeine - Textstrukturierung und -Interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt a. M. 1977,1. c, 73. 136 Heidegger: Unterwegs zur Sprache, p. 215. 137 Ibid., p. 237. 138 Sein und Zeit, p. 83. 139 Novalis: Dialogen; in: Schriften Bd. 2, ed. R. Samuel. Stuttgart 1965, p. 667. 140 G. Trakl: Verklärung; in: Das dichterische Werk, ed. F. Kur. München 1972, p 67. 133

2. „Die Himmelfahrt der bösen Lust" in Goethes Wahlverwandtschaften Ottiliens Anorexie - Ottiliens Entsagung ,Manches können wir nicht verstehn.' Lebt nur fort, es wird schon gehn. Goethe, Zahine Xenien II Die hermeneutisch inspirierte Kunst der Interpretation ist an Goethes „bestem Buch" gescheitert - es ist nicht zu verstehen. Denn es sprengt, mit einer Apotheose des Schweigens endend, das Vertrauen in jenes homogene Kontinuum, in dessen sinnvolles Funktionieren die Hermeneutik ihr Vertrauen setzt: die Sprache. „Als Medium der hermeneutischen Erfahrung"1 ist Sprache so verläßlich nicht, wie Gadamer glauben macht, wenn er etwa die verstehende „Rückverwandlung der(Schrift-)Zeichen in Rede und Sinn"2 verspricht. Die schaften lassen schlechthin alle Versuche sinnvoll verstehender „Rückverwandlung" schriftlich „entfremdeter Rede"3 in Sinn mißlingen. Vom „Tintenfleck" (1/ 2, 257)4, der das Einladungsschreiben Eduards an den Hauptmann „verunstaltet", über das katastrophische Mißverständnis der zierlich auf einem Trinkglas ineinander verschlungenen Initialen E und O bis zur Szene, die Eduard seinen Brief an Ottilie zu verdolmetschen unfähig zeigt (H/16), reiht Goethes Roman Indizien, die auf das schiere, hermeneutisch nicht mehr assimilierbare und in „Sinn" reintegrierbare Sein der Zeichen5 verweisen. Für die Hermeneutik (Gadamers) bedeutet Verstehen- und „Lesenkönnen [...], daß die Buchstaben ins Unmerkliche verschwinden und es der Sinn der Rede allein ist, der sich aufbaut"6. Die Wahlverwandtschaften aberberichten von der Wiederkehr hermeneutisch verdrängter Buchstaben. Die Kraft toter Buchsta1

H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 1965, pp. 361-382. Ibid., p. 371. 3 Ibid. 4 Die eingeklammerten Hinweise beziehen sich auf den Teil, das Kapitel und die Seite der Wahlverwandtschaften (nach der Edition im Rahmen der Hamburger Ausgabe). 5 Cf. das voranstehende Kapitel. 6 H.-G. Gadamer: Aktualität des Schönen, Stuttgart 1977, p. 63. 2

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ü. GOETHES BESTES BUCH

ben verkennt keine Figur des Romans so trostlos wie diejenige, die den erzhermeneutischen Namen Mittler trägt. Der Horizonte miteinander verschmelzen, abendländische Überlieferung auf Aktualität abbilden, Divergierendes vermitteln und hermeneutische Grundsätze applizieren will, beruft sich auf das topologische Argumentationsschema von der Beseelung toter Buchstaben durch und zu lebendigem Geist7 und ist doch selbst die todbringende unter den Figuren der Wahlverwandtschaften. „Er verursacht den Tod des Geistlichen bei der Taufe des Kindes; er löst durch seine ungeschickte Rede über das sechste Gebot Ottiliens Tod aus, und schließlich findet er als erster Eduard tot."8 Diese kaum verhohlene Symptomatologie hermeneutischer Verkennung verdichtet sich im „schauerlich-sublimen Schluß"9 der Wahlverwandtschaften zum klaren antihermeneutischen Impuls. „Das serafische Ende"10 der Liebenden, die „hinüber" zu gehen und „da [...] mit anderen Sprachen reden" zu können hoffen, unterläuft die viel beschworene Universalität von Hermeneutik11. Jene unbeschränkte „Ubiquität der Rhetorik"12, in der die Hermeneutik die Möglichkeitsbedingung ihrer methodischen Angemessenheit sieht, wird durch „die grundeigentümliche, süße und namenlos unheimliche Friedensstimmung gegen Ende des Romans"13 als Phantasma ausgewiesen. Denn die zentrale Gestalt der Ottilie hat buchstäblich allem Rhetorischen ent-sagt: „Mein Versprechen", so schreibt sie den Freunden, „mich mit ihm [Eduard] in keine Unterredung einzulassen, habe ich vielleicht zu buchstäblich genommen und gedeutet." (n/17,477) Den Sinn oder gar den Geist ihres Entsagungsentschlusses verstehen zu wollen, verbittet Ottilie sich ausdrücklich: „Beruft keine Mittelsperson! [...] Mein Inneres überlaßt mir selbst!" - ein Wink für Interpreten und Mittler. Mittler allein mißversteht Ottiliens entschiedenen Willen, sich aus der vermeintlichen Ubiquität der Rhetorik zu exkommunizieren; und seine ungebrochen ubiquitäre Rede wird gewaltsamer denn je: „Brach nun einmal unter Freunden seine Rede los, wie wir schon öfter gesehen haben, so rollte sie ohne Rücksicht los, verletzte oder heilte, ruhte oder schadete, wie es sich gerade fügen mochte." (11,18,481)

7

Cf. u. a. H. Nüsse: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels. Heidelberg 1962, Kap. 8 („Geist und Buchstabe"). 8 H. Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes .Wahlverwandtschaften'; in: N. Bolz (ed.): Goethes Wahlverwandtschaften - Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981. 9 Th. Mann: Zu Goethes .Wahlverwandtschaften', in: Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie 1 - Das essayistische Werk - Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Frankfurt a. M. 1968, p. 249. 10 Ibid. 11 Cf. Gadamer: Wahrheit und Methode, 1. c, pp. 449-465 und J. Habermas: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: Apel u. a.: Hermeneutik und Ideologiekriük. Frankfurt a. M. 1971. 12 H.-G. Gadamer: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekriük - Metakritische Erörterungen zu .Wahrheit und Methode', in: Apel u. a., 1. c, p. 63. 13 Th. Mann, 1. c, p. 249.

2. „ D E HIMMELFAHRT DER BÖSEN LUST"

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An Ottiliens Schweigemysterium zerbricht Mittlers ubiquitärer Verstehensund Redewille, um sich als diskursive Machtpraxis zu enthüllen. Dieser Wille zur hermeneutischen Macht findet in Ottiliens, durch Mittlers losbrechende Rede bewirkter, Mortifikation seine Erfüllung. Aus dem „himmlischen Boten" (1/18,351), der alle Attribute des hermeneutischen Schutzgottes Hermes trägt, ist ein Psychopompos des Hades geworden. Mit Mittler aber scheitert auch eine hermeneutisch orientierte Literaturwissenschaft, die die im Wahlverwandtschaften-Schluß versammelten stummen Leiber zum Reden bringen möchte. Unter den zeitgenössischen wie den späten Rezipienten haben denn auch nur diejenigen, die Goethes verrätseltes Buch nicht verstehen wollten, von dem etwas geahnt, was die Wahlverwandtschaften „verstecken". „Ich habe viel hineingelegt, manches hinein versteckt", schrieb Goethe über die Wahlverwandtschaften an Zelter14. Nicht ein wohlwollender Verständnis versuch, sondern affekttingierte Abwehr hat, was Goethes gefällige Prosa versteckt, entdeckt. „Dieses Goethesche Werk", so der erregteste seiner zeitgenössischen Kritiker, ja Feinde, „ist durch und durch materialistisch oder, wie Schelling sich ausdrückt, rein physiologisch. Was mich völlig empört, ist die scheinbare Verwandlung am Ende der Fleischlichkeit in Geistigkeit; man dürfte sagen: die Himmelfahrt der bösen Lust."15 Am rein Physiologischen, an der Fleischlichkeit oder am bloß Somatischen als dem anathema hermeneutischer Transfigurationen von Sprache in Sprache mißlingen traditionelle Versuche einer Wahlverwandtschaften-Deutung16. Die „durchgreifende Idee"17 der Wahlverwandtschaften - nämlich das ekstatische Verhältnis der Körper zu den Signifikanten, die ihm sich einschreiben - ist ein Grenzwert möglicher Interpretationen. Denn sie findet ihren paradoxen und deshalb gedoppelten Repräsentanten in Ottiliens Verweigerung von Sprechen und Speisen und widersteht derart hartnäckig einer Methode, die sprachlich fixierten Sinn deutend verdoppeln will. Das - wie Goethe formulierte - „Karterieren"18 Ottiliens läßt an ihrem schwindenden Leib real erscheinen, was symbolisch zu artikulieren ihr verweigert ist. „Ce qui n'est pas venu au jour du symbolisme, apparait dans le reel."19 Eine Hermeneutik aber, die auf dem Grundsatz basiert, „Sein, das 14

Am 1. Juni 1809; zit. nach der Hamburger Ausgabe (im folgenden HA) der Wahlverwandtschaften, p. 621. 15 F. Jacobi am 12. Januar 1810 an F. Koppen; HA p. 645. 16 Der von E. Rösch sorgfältig edierte Band dokumentiert die Tradition der Wahlverwandtschaften-Deutung: Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften". Darmstadt 1975. 17 Goethe am 6. Mai 1827 zu Eckermann: „Das einzige Product von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin, nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine .Wahlverwandtschaften'". (HA, p. 626) 18 Gespräch mit Riemer; Weimar, Dezember 1809; HA, p. 622. Riemers Anmerkung zu Goethes Kunstausdruck lautet: „Nach dem griechischen karterieren, sich enthalten (der Speise, des Schlafs, usw.), von Goethe der Kürze wegen gebraucht." " J. Lacan: Ecrits. Paris 1966, p. 388.

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II. GOETHES BESTES BUCH

verstanden werden kann, [sei] Sprache"20, muß das sprachlose Sein Ottiliens verkennen. Hingegen vermögen die gleichsam archäologisch prozedierenden Methoden der Psychoanalyse und der Diskurstheorie, die „Wahrheit" verständlich zu machen, gar nicht erst prätendieren, die Funktionsweisen „versteckter" Sprache freizulegen. Was Gadamers schöne, aber zu seiner sinnfixierten Hermeneutik eigentümlich querstehende Wendung von der „Sprachunbewußtheit [als der] [...] eigentlichen Seinsweise des Sprechens"21 ahnte, hat die Diskurstheorie eigentlich eingelöst. Sie nämlichfragtnicht nach den Möglichkeiten kontinuierlicher temporaler und intersubjektiver Sinntradierung, sondern nach den Löchern und Lücken des Diskurses22. Wo die Hermeneutik ferne Horizonte miteinander verschmelzen, Lücken und Brüche der Verständigung supplemenüeren oder überbrücken und also Sinn lückenlos machen will, hat die Diskursanalyse das entschiedenste Interesse an den buchstäblichen Unsinnigkeiten, die an der Stätte der Verschränkung von Fleisch und Wort, von Soma und Sema entstehen. Ottilie allegorisiert diese Stätte. Für sie besonders gilt, was Thomas Mann an allen Figuren der Wahlverwandtschaften so faszinierte: daß sie „voll warmen individuellen Lebens" und „.zugleich4, nicht nebenher [. ..] Symbole"23 sind. Ottiliens anorektischer Körper wird zum stummen Schauplatz der Verschränkung von Soma und Sema. Indem sie gleichzeitig Speise und Sprechen verweigert, unterläuft sie die Ordnung des Einander-„Überparlierens- und Überexponierens" (1/5, 278), wird gleichwohl deren oberstes Opfer und partizipiert schließlich doch am Triumph jeden wahren Opfers: selbst zu dem Zeichen zu werden, dem das Opfer gilt. Goethes verliebte deificatio Ottiliens aber hat die profanste und mit quasi klinischer Präzision erzählte Genealogie. Ottilie nämlich wird zum Opfer einer sie traumatisierenden Wiederholung. Daß sie ihren Mund und damit das Organ verschließt, dem die Funktionen des Essens, Sprechens, Aünens und Küssens miteinander anvertraut sind, resultiert aus der wiederholten Erfahrung, das Ohr als das eigentliche Organ des Unbewußten24 nicht verschließen zu können. „Hören und schweigen" (11/10, 432) sind für Ottilie in mehreren lebensgeschichtlich bedeutsamen Augenblicken eins; sie ist aufzuhören konditioniert und spezialisiert.

20

H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 1. c, p. 450. Ibid., p. 382. Die an Heidegger orientierten sprachontologischen Schlußteile von Wahrheit und Methode lesen sich, ohne daß Gadamer diesen Widerspruch namhaft machte, wie eine scharfe Selbstkritik der methodisch an Schleiermacher und Dilthey orientierten Eingangskapitel. Mit der Betonung der „rätselhaften Seinsgestalt der Sprache" (Rhetorik, 1. c, p. 75) ist das Programm hermeneutischer Sinntradierung einfach nicht mehr vereinbar. - Auf Lacan übrigens hat Gadamer die deutsche Rezeption zuerst wirkungsvoll aufmerksam gemacht; cf. ibid., p. 81. 22 J. Lacan: 1. c, p. 307. 23 Th. Mann: 1. c, p. 244 sq. 24 J. Lacan: 1. c, passim 21

2. „ D E HIMMELFAHRT DER BÖSEN LUST"

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„In halbbewußter Jugend" (ibid.) Gesprächen von Erwachsenen beizuwohnen, deren Botschaft nicht für sie bestimmt ist, ist die früh Verwaiste „gewöhnt". Daß sie etwa den Ausführungen des Grafen lauscht, der die Idee einer Ehe auf Zeit entwickelt, kann Charlotte zu ihrem Unmut nicht verhindern. Daß sie des Hauptmanns an Charlotte gerichtete abfällige Bemerkung über Eduards „Flötendudelei" auffängt und dem Geliebten kolportiert, führt unmittelbar zur Radikalisierung der Ehekrise, da Eduard sich nunmehr „von allen Pflichten losgesprochen" (1/13, 330) fühlt. Und daß Ottilie schließlich eben in jenem Augenblick den Konversationsraum betritt, da Mittler über das Gebot ,Du sollst nicht ehebrechen' redet, leitet gar unmittelbar die Szene ihres Sterbens ein (H/18). Nimmt Ottilie diese Reden, die sie auf sich beziehen kann, noch bewußt wahr, so ist sie die nicht einmal mehr halbbewußte Zuhörerin bei zwei Gesprächen, die sie auf sich beziehen muß. Nach dem von ihr verursachten Tod des Kindes nämlich vernimmt die Schlafende oder doch zu schlafen Scheinende, zu Füßen Charlottes liegend, das „ganz leise" geführte Gespräch mit dem Hauptmann. In diesem Gespräch, das um die geplante Scheidung von Eduard und Charlotte kreist, ist die „unglückliche Schlummernde" bloßes Subjekt des Ausgesagten. Von anderen Reden gebannt, vermag sie weder sich zu rühren noch gar selbst zu reden und sich so zum Subjekt des Aussagens zu machen. Ottilie ist buchstäblich eine Besprochene, wenn sie Charlottes an den Major adressierte Worte vernimmt: „Betrachten Sie nur diese unglückliche Schlummernde! Ich zittere vor dem Augenblicke, wenn sie aus ihrem halben Totenschlafe zum Bewußtsein erwacht. Wie soll sie leben, wie soll sie sich trösten, wenn sie nicht hoffen kann, durch ihre Liebe Eduarden das zu ersetzen, was sie ihm als Werkzeug des wunderbarsten Zufalls geraubt hat? Und sie kann ihm alles wiedergeben nach der Neigung, nach der Leidenschaft, mit der sie ihn liebt. Vermag die Liebe, alles zu dulden, so vermag sie noch viel mehr, alles zu ersetzen. An mich darf in diesem Augenblick nicht gedacht werden." (H/14,460 sq.) Nachdem Charlotte dem Major „ihre Hand über Ottilie weg" (11/14, 461) gereicht und das Gespräch mit der Kodifizierung des Opfers, das sie zu erbringen bereit sei, indem sie der Verbindung von Eduard und Ottilie zustimme, selbst aber der Verbindung mit dem Hauptmann entsage, beendet hatte, „richtete Ottilie sich [sogleich] auf, ihre Freundin mit großen Augen anblickend. Erst erhob sie sich von dem Schöße, dann von der Erde und stand vor Charlotte. / ,Zum zweitenmal' - so begann das herrliche Kind mit einem unüberwindlichen, anmutigen Ernst -, ,zum zweitenmal widerfährt mir dasselbige. Du sagtest mir einst, es begegne den Menschen in ihrem Leben oft Ähnliches auf ähnliche Weise und immer in bedeutenden Augenblicken. Ich finde nun die Bemerkung wahr und bin gedrungen, dir ein Bekenntnis zu machen. Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich meinen Schemel an dich gerückt: du saßest auf dem Sofa wie jetzt; mein Haupt lag auf deinen Knien, ich schlief nicht, ich wachte nicht; ich schlummerte. Ich vernahm alles, was um mich vorging, besonders alle Reden sehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht äußern und, wenn ich auch gewollt hätte, nicht andeuten, daß ich meiner selbst mich bewußt fühlte. Damals sprachst du mit einer Freundin über mich; du

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n. GOETHES BESTES BUCH

bedauertest mein Schicksal, als eine arme Waise in der Welt geblieben zu sein; du schildertest meine abhängige Lage und wie mißlich es um mich stehen könne, wenn nicht ein besondrer Glücksstern über mich walte. Ich faßte alles wohl und genau, vielleicht zu streng, was du für mich zu wünschen, was du von mir zu fordern schienst. Ich machte mir nach meinen beschränkten Einsichten hierüber Gesetze; nach diesen habe ich lange gelebt, nach ihnen war mein Tun und Lassen eingerichtet zu der Zeit, da du mich liebtest, für mich sorgtest, da du mich in dein Haus aufnahmst, und auch noch eine Zeit hernach." (11/14,462) Ottilie „erhebt sich von der Erde", um der irdisch-menschlichen Paradoxie schlechthin zu entraten: der Paradoxie, daß andere Reden und Reden anderer zum eigenen Gesetz und zum selbsthaft strukturierten Bewußtsein werden. Charlotte zeichnet Ottiliens Zukunft vor, weist ihr ihren Ort an, entwickelt ihr einzig angemessenes Selbstverständnis, wünscht für sie und in ihrem Namen und souffliert ihr noch die Wendung vom „halben Totenschlaf', die von der Besprochenen in ihrer „abhängigen Lage" selbst aufgenommen wird (11/14,460 und 462). Auf diese ihre - nicht etwa durch Despotismus, sondern durch liebevolle Fürsorge hervorgebrachte - Heteronomie aber reagiert Ottilie, indem sie deren Effekte noch steigert. Sie folgt der verzweifelten List, danach „man sich selbst peinigt, wenn man einmal auf dem Wege ist, gepeinigt zu werden" (H/10, 433). Wenn Schlaf und Tod, die Ottiliens „halber Totenschlaf' noch gleichermaßen verfehlt, die Zustände sind, die Reden ausschließen, so schließt Ottilie Reden fortan auch aus ihrem Leben aus. Verstummend verzichtet Ottilie gänzlich darauf, weiterhin sujet de l'enonciation (aussagendes Subjekt) zu sein; und bis zur Selbstabschaffung hungernd, entgeht sie dem Zwang, sich als sujet de 1 'enonce (Subjekt der Aussagen anderer) besprochen zu hören. Das Ohr als das eigentliche Organ des Unbewußten vermag kein lebendiger Wille, sondern einzig der Tod zu verschließen. Indem Ottilie die passive Erfahrung der Pein des „halben Totenschlafs" zur Selbstpeinigung steigert, die im vollendeten Totenschlaf endet, entwindet sie sich der Struktur, unter der sie schon anfangs litt. Der Roman führt Ottilie als eine Beschriebene ein; Briefe der „Vorsteherin" und des „Gehülfen" der Institution, die sprachfähige Subjekte produzieren soll und der auch Ottilie anvertraut ist, stellen sie erstmals vor - als Figur, die durch „große Mäßigkeit im Essen und Trinken" (1/3, 263) wie durch die „Unfähigkeit, die Regeln der Grammatik zu fassen" (1/3, 265), auffällt. Diese Tendenz zur oralen Zurückhaltung, zur Entsagung bleibt auch dann ungebrochen, als Ottilie zu Eduard und Charlotte zieht: „Mäßigkeit im Essen und Trinken" und Enthaltsamkeit in der Konversation bleiben ihre Charakteristika. Der endende Roman schließlich faßt Ottiliens Verweigerung von Sprechen und Speisen in einem einzigen Satz zusammen: „Unterdessen kann man bemerken, daß Ottilie kaum Speise noch Trank zu sich nimmt, indem sie immerfort bei ihrem Schweigen verharrt." (11/17,476) Die radikalste Form der Exkommunikation ist der Tod. Und der anorektische Tod Ottiliens ist das Resultat ihres „völligen Entsagens" (u/15,4Ö4)25. Mit der

Auch der Untertitel von Wilhelm Meisters Wanderjahren-Die Enlsagenden-