Kontingenz und Zeitlichkeit bei Schiller: Poetische Verfahren zur Beobachtung der Gesellschaft um 1800 [1. Aufl. 2021] 3662638479, 9783662638477

Die Arbeit befasst sich mit spezifischen poetischen und ästhetischen Verfahren im Werk Friedrich Schillers, mittels dere

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German Pages 419 [417] Year 2021

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Table of contents :
Danksagung
Abstract (deutsch/english)
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Erstes Kapitel
Die Varianz des Kontingenzdenkens in Schillers frühen Texten
1.1 Semantiken der Kontingenz (Räuber, Fiesko, Kabale und Liebe)
1.1.1 Meer und Fluidität (gleichzeitig: Theorierahmen)
Zur Doppelstruktur des Kontingenzparadigmas (Spiegelberg)
1.1.2 (Glücks-)Spiele
1.1.3 Theatralität
1.2 Strukturen und Prozesse des Kontingenten
1.2.1 Methodische Perspektivierungen (medizinische Schriften, Kabale und Liebe)
1.2.2 Zeitlichkeit und Reframing (Fiesko, Kabale und Liebe)
1.2.3 Soziale Dynamiken und Performativität der Darstellung (Räuber)
1.3 Close Reading der Anekdote Eine großmütige Handlung
Zweites Kapitel
Das Kontingenzdenken in Schillers historischen Arbeiten
2.1 Historiographie (Antrittsvorlesung)
2.2 Koinzidenz und Ordnungskollision (Übersicht zu den Kreuzzügen)
2.3 Semantische Arbeit und Geschichtsdenken (Abfall der Niederlande)
Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens in Schillers klassischer Periode
3.1 Ästhetik und Kontingenz (Schriften zum Erhabenen)
3.2 [Exkurs] Historiographie und Ästhetik (Über das Erhabene)
3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik im Drama (Braut von Messina)
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
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Kontingenz und Zeitlichkeit bei Schiller: Poetische Verfahren zur Beobachtung der Gesellschaft um 1800 [1. Aufl. 2021]
 3662638479, 9783662638477

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Markus Köberlein

Kontingenz und Zeitlichkeit bei Schiller Poetische Verfahren zur Beobachtung der Gesellschaft um 1800

Kontingenz und Zeitlichkeit bei Schiller

Markus Köberlein

Kontingenz und Zeitlichkeit bei Schiller Poetische Verfahren zur Beobachtung der Gesellschaft um 1800

Markus Köberlein Oldenburg, Deutschland Markus Köberlein war von 2016 bis 2019 Promotionsstipendiat des Graduiertenkollegs Geisteswissenschaften an der Universität Hamburg. Dieses Buch basiert auf einer 2020 von der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg angenommenen Dissertation.

ISBN 978-3-662-63847-7 ISBN 978-3-662-63848-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-63848-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung der Verlage. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorate: Stefanie Eggert J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Danksagung Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine überarbeitete Version meiner 2020 an der Universität Hamburg unter dem Titel Als wollte das Meer noch ein Meer gebären. Formen und Zeitstrukturen des Kontingenzdenkens Friedrich Schillers angenommenen Dissertation. Die Arbeit wurde ermöglicht durch ein Stipendium des Graduiertenkollegs Geisteswissenschaften der UHH, für welches ich sehr dankbar bin. Während der Arbeit habe ich von vielen Anregungen und von konstruktiver Kritik zahlreicher wohlwollender Personen profitieren können, für die ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchte. Zu nennen sind dabei zunächst die Teilnehmer*innen der beiden literaturwissenschaftlichen Kolloquien an der Universität Hamburg, an denen ich mitwirken durfte und deren angeregte und dennoch freundschaftliche Diskussionskultur ich gerne in Erinnerung behalten werde. Mein besonderer Dank gilt den Leiter*innen der Kolloquien, Frau Prof. Dörte Bischoff, über die ich in Kontakt mit literaturwissenschaftlichen Themen gekommen bin, zu denen ich sonst keinen Zugang gefunden hätte, Herrn Prof. Martin-Jörg Schäfer, der mir zu einem kritischeren Verständnis systemtheoretischer Methoden in der Literaturwissenschaft verholfen hat, und insbesondere meinen beiden Gutachterinnen, Frau Prof. Cornelia Zumbusch, deren Veranstaltungen mich fachlich immer beeindruckt, gleichzeitig aber vielfach auch inspiriert und für meine eigene Arbeit motiviert haben, und zu allererst natürlich Frau Prof. Claudia Benthien, die meine Promotion von Beginn an mit hilfreichen Hinweisen begleitet hat, immer Zeit für meine Fragen hatte und mir darüber hinaus auch stets die Sicherheit vermittelte, mit meiner Arbeit auf dem rechten Weg zu sein. Ich hätte mir keine bessere Betreuung denken können. Nicht zuletzt möchte ich mich aber noch bei Martina Kaiser bedanken. Die Synchronisation unser Lebensumstände während der Zeit meiner Promotion war für mich ein im doppelten Wortsinn glücklicher Zufall.



Abstract (deutsch/english) Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den Formen und den Zeitstrukturen des Kontingenzdenkens Friedrich Schillers. Grundlage der Untersuchung bildet die Beobachtung, dass das Kontingente und die Kontingenz eine stetig zunehmende Bedeutung in den Diskursformationen des 18. Jahrhunderts erlangen, dass diese Bedeutungszunahme jedoch mit einer zunächst erstaunlich wirkenden Schrumpfung des begrifflichen Inventars zur Benennung und Beschreibung von Kontingenzphänomenen einherging. Die aus dieser Beobachtung entwickelte Hauptthese der Arbeit lautet, dass der Rückgang begrifflicher Beschreibungsmöglichkeiten nicht aus einem doch geringeren Interesse für Fragen des Kontingenten und der Kontingenz resultiert als angenommen, sondern dass das 18. Jahrhundert mit anderen als rein begrifflichen Mitteln über Kontingenz kommuniziert. Am Beispiel der Texte Friedrich Schillers arbeitet die Studie heraus, dass es gerade literarische Techniken sind, mit denen sowohl eine ausgesprochene Breite des Wissens über einzelne Kontingenzphänomene als auch eine beachtliche Reflexionshöhe bei der Ergründung dieser Phänomene erreicht werden konnte. Da sich bis heute in Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie keine einheitliche Verwendung des Kontingenzbegriffs durchsetzen konnte, erarbeitet die Studie auf Grundlage einschlägiger Arbeiten zum Thema einen für die Analysen der Texte Schillers brauchbaren theoretischen Rahmen. Zentrale Bestandteile des Theoriesettings sind dabei die Kontingenzkategorien Gestaltbarkeit, Widerfahrnis und Inkommensurabilität. Außerdem werden Bezüge von Begriffen wie Potentialität, Latenz und Ambivalenz zum Kontingenzbegriff beleuchtet und Haltungen, die Subjekte gegenüber Kontingenzerscheinungen einnehmen können, unterschieden. Die methodische Herangehensweise an die Texte Schillers erfolgt dann unter Verwendung dieses Theorierahmens und mittels metaphorologischer, begriffsgeschichtlicher und diskurshistorischer Verfahren. Insbesondere fokussiert die Studie dabei die Anwendung von Verzeitlichungsstrategien und die Abbildung gesellschaftlicher Dynamiken mittels Kontingenzdarstellungen. Dabei wird deutlich, dass Schiller schon sehr früh ein differenziertes Verständnis für Kontingenzzusammenhänge entwickelt. Bereits seinen Jugenddramen ist ein systematisches Wissen über Kontingenzerscheinungen eingeschrieben, welches es rechtfertigt, von einer frühen Entfaltung eines eigenen Kontingenzparadigmas zu sprechen. Mittels einer ausgeprägten Meeresmetaphorik, aber auch über Glücksspielmotiviken und Techniken des Theatralen verschafft sich Schiller nicht nur ein Spektrum an Zugängen

Abstract (deutsch/english)

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zum Thema Kontingenz, sondern auch einen Werkzeugkasten an Darstellungsformen des Kontingenten und der Kontingenz. Dieser basiert unter anderem etwa auf dem Gebrauch von Beschleunigungsfiguren, Reframing-Techniken oder über metapoetische Verfahren. Schillers Kontingenzdenken spiegelt hier ein Verständnis der Perspektivgebundenheit von Kontingenz wieder. Die weiteren Analysen der Anekdote Eine großmütige Handlung und der historischen Arbeiten Schillers sowie seiner Theorie des Erhabenen inklusive deren Umsetzung in der Braut von Messina verdeutlichen unter anderem, dass Schiller Kontingenz häufig in eine konkrete Opposition zu Ordnungsstrukturen setzt. Anhand der diskursiven Bearbeitung der Topoi Liebe und Tugend zeigt er eine Inkommensurabilität von Kontingenz und Ordnung auf. In seinen historischen Arbeiten ergründet er dann, wie dennoch Ordnungsstrukturen und Kontingenzphänomene wechselseitig ineinander übergehen können. In der historischen Betrachtung wird auch deutlich, dass Schiller Kontingenz nicht als eine Form absoluter Beliebigkeit auffasst, sondern diese vor allem im Vorfeld des Wirklichen verortet, wobei er das Wirkliche schon als eine spezifische Auswahl aus Szenarien des Möglichen und damit als bereits in gewisser Weise determiniert betrachtet. Dies fügt sich zudem passgenau in seine Auffassung von Kontingenz als eines graduellen Phänomens ein, nach dem also Kontingenz nicht nur vorhanden oder nicht vorhanden ist, sondern nach dem ein Zusammenhang auch mehr oder weniger von Kontingenz bestimmt sein kann. Schillers ästhetische Theorie und seine Dramatik nach 1790 weisen starke Kontinuitäten zum Kontingenzdenken seiner frühen Texte auf. In dieser kontingenztheoretischen Perspektive stellt sich der vielfach in Schillers Werk um 1790 verortete Bruch als weit weniger einschneidend dar. Dennoch kann ein Bedeutungsgewinn, den das Kontingenzdenken in Schillers klassischer Periode erfährt, beobachtet werden. Kontingenz rückt nun ins Zentrum von Schillers Theoriebildung und nimmt auch in seinen dramatischen Arbeiten – diese Studie belegt dies anhand der Braut von Messina – eine Zentralstellung ein. Spätestens jetzt kann davon gesprochen werden, dass Schiller eine ästhetische Theorie und eine Dramatik der Kontingenz entwickelt. ***





Abstract (deutsch/english)

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The work at hand deals with the forms, wealth of variants and time structure in Schiller’s contingency thinking. The basis of the study is the observation that contingents and contingencies acquire a steady rise in the formation of discourse of the 18th century. This increasing importance surprisingly leads to a decrease in the conceptual inventory of words used to name and describe these phenomena. The central thesis developed from this observation is that the decline of conceptual descriptors doesn’t stem from a lesser interest in the question of contingents and contingencies than originally thought, but that contemporary authors in the 18th century communicate with more than just purely conceptual mediums about contingencies. Using the example of Friedrich Schiller’s texts, this dissertation shows that precisely the literary techniques with which Schiller portrays the breadth of his knowledge about individual contingency phenomena as well as a great range of reflection during the exploration of these phenomena. Since there has not been a consistent use of the term “contingency” agreed upon in literary studies, philosophy or sociology yet, this study aims to analyze relevant examples of Schiller’s work in a useful theoretical framework to create a definition. The central components of this theoretical setting consist of the contingency categories of malleability, experience and incommensurability. Furthermore, references to terms such as potentiality, latency and ambivalence towards the term contingency will be illuminated, and differentiated between the possible different stances individuals can have towards the emergence of contingencies. The methodical approach towards Schiller’s texts takes place under the theoretical framework using mediums of metaphorological, conceptual-historical and discoursehistorical procedures. The study focuses especially on the application of temporalizing strategies and the depiction of social realities around 1800, as well as the portrayal of contingencies in Friedrich Schiller’s work. Through this, it becomes clear that Schiller develops a very early understanding of contingency relationships. Even in his early dramatic work, a systematic knowledge of the depictions of contingency is inscribed, which justifies the discussion of an unfolding of a contingency paradigm. By means of a pronounced marine imagery as well as gambling motifs and theatrical techniques, Schiller is able to not only provide a spectrum of access points to the topic of contingencies, but also a toolbox of forms of depiction of contingents and contingencies. This is based upon the use of acceleration figures, reframing techniques, or the increase of complexity via reflexive references between varying

Abstract (deutsch/english)

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literary planes. This includes content, form, methodology, character experiences, and reader-response-criticism. Schiller’s contingency thinking reflects an understanding of confined perspectives on contingencies. A further analysis of Schiller’s historical work and of his theory of the sublime and its implementation in the Braut von Messina clarifies that Schiller oftentimes places contingencies in a concrete opposition to structural order. Based on the process of the topoi love and virtue, he shows an incommensurability of contingency and order. In the historical work, he fathoms how structures of order and contingency phenomena merge. Upon historical consideration, it becomes clear that Schiller understands contingencies not only in the form of absolute arbitrariness, but locates them in the forefront of reality. In doing so he considers reality a specific choice of possible scenarios, which is already determined in a certain way. This idea inserts itself perfectly into his concept of contingency as a gradual phenomenon, according to which contingency is neither existent nor non-existent. Schiller’s theory of aesthetics and his dramatic works after 1790 demonstrate strong continuity towards contingency thinking in his earlier texts. In the perspective of contingency theory, the sudden change in his work around 1790 is not as deeply construed as often made out to be. As a result, an increased significance of Schiller’s contemporary contingency thinking can be observed. Contingency moves into the center of his theory construction as well as in his dramatic works. This study demonstrates the latter by taking Braut von Messina into focus. Therefore, we can see that Schiller developed an aesthetic theory and dramatic art of contingencies.





Inhaltsverzeichnis

Einleitung ........................................................................................ 9 Kontingenzdenken im 18. Jahrhundert / Kontingenzdarstellungen bei Schiller / Zielsetzung, Methodik und Aufbau der Arbeit / Zum theoretischen Zugang – Systemtheorie, moderner Kontingenzbegriff

Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens in Schillers frühen Texten ...... 44 1.1 Semantiken der Kontingenz (Räuber, Fiesko, Kabale und Liebe) ........................... 44 1.1.1 Meer und Fluidität (gleichzeitig: Theorierahmen) ............................................................... 48 Zur Doppelstruktur des Kontingenzparadigmas (Spiegelberg) / Gestaltung von Widerfahrnissen (Franz Moor) / Mehrfachmodalisierung und durchkreuzte Pläne (Kosinsky) / Suche, Affirmation und Anerkennung von Kontingenz / Weltwahrnehmung im Modus der Kontingenz und Perspektivendifferenzen / Metaphoriken der Ingestion

1.1.2 (Glücks-)Spiele .................................................................................................................................. 77 Zum Glücksspieldiskurs im 18. Jahrhundert / Allokation sozialer Rollen (l’Hombre-Spiel) / Kontingenzsuche und Herausforderung Gottes / Verdichtung von Zeit und diskursiver Kontext (Liebe, Authentizität) / Dämonische Spiele und Lotto-Motivik / Perspektivierungen des Kontingenten und das Motiv des Kinderspiels / Zwischenfazit

1.1.3 Theatralität ......................................................................................................................................... 99 Spiegelberg als Künstlerfigur / Reflexionen über und Experimente mit theatrale(n) Wirkungen / Kontingenz, Kunst und „Metatheater“ / Zuschauende zwischen Einfühlung und Reflexion / Dramenaufbau und Poetizität im Zeichen der Kontingenz / Dichtung als Provokation

1.2 Strukturen und Prozesse des Kontingenten .............................................................. 124 1.2.1 Methodische Perspektivierungen (medizinische Schriften, Kabale und Liebe) ........ 125 Kontingenzanerkennung und Wahrscheinlichkeit / Schillers Methodik im Detail / Aufmerksamkeitslenkung und Dopplung aus Inhalt und Form / Dichotomische Dramenstrukturen / Rezeptionsästhetische Konsequenzen

1.2.2 Zeitlichkeit und Reframing (Fiesko, Kabale und Liebe) ..................................................... 143 Fieskos Aufklärung durch Leonore / Zeitlichkeit, Performanz und Identitätskonstruktion (Leonore) / Die Problematik des Entscheidens / Verschiedene Zeitkonzepte / Gestaltung von Zeitvorstellungen (Luise)

1.2.3 Soziale Dynamiken und Performativität der Darstellung (Räuber) ............................. 162 Performative Widersprüche / Versuche sozialer Synchronisierung und Kontingenzreduktion / Fragilität (Fluidität) der neuen Ordnung / Die Erfahrbarmachung von Kontingenz

1.3 Close Reading der Anekdote Eine großmütige Handlung ...................................... 172 Kontexte I – Fieberschrift und ‚Dialogue de l’Amour et de la Raison’ / Kontexte II – Das Gedicht Empfindungen der Dankbarkeit / Forschung zur Anekdote Eine großmütige Handlung / Die Ausgangssituation in der Anekdote / Individuelles und kollektives Entscheiden / Die theatrale Inszenierung des älteren Bruders (mit einer begriffsgeschichtlichen Analyse von ‚Großmütigkeit’) / Das Modell des jüngeren Bruders / Das Verfahren, die Frau und die Performativität des Textes / Auswertung



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Inhaltsverzeichnis

Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers historischen Arbeiten ............ 219 2.1 Historiographie (Antrittsvorlesung) ........................................................................................... 222 Das Kontingente ordnen / Die Ordnung als kontingent betrachten / Bestimmende Diskursformationen und Motive / Zusammenfassung

2.2 Koinzidenz und Ordnungskollision (Übersicht zu den Kreuzzügen) ................................ 239 Synchronisation und Koinzidenz / Kollisionen von Ordnungen / Reflexion des Theatralen / Auswertung

2.3 Semantische Arbeit und Geschichtsdenken (Abfall der Niederlande) .............................. 261 Begriffsarbeit I – Bedeutungsverschiebungen am Geniebegriff / Begriffsarbeit II – Bedeutungsverschiebungen am Zufallsbegriff / Ambivalente Bewertung Wilhelms von Oranien / Oraniens Außenseitertum und seine Kontrolle des Zufalls / Zusammenfassung und Ausweitung



Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens in Schillers klassischer Periode ...................................................................... 294 3.1 Ästhetik und Kontingenz (Schriften zum Erhabenen) .......................................................... 294 Schillers ‚doppelte Ästhetik’ / Zwei Freiheitsbegriffe – zwei Kontingenzkonzepte / Schillers Umkehr der Zweck-Mittel-Relation / Das Ästhetische als Möglichkeitsform / Mittelbarkeit der Ästhetik / Ästhetik des Bösen – Ästhetik des Bruchs – Ästhetik der Kontingenz / Pflanzenmetaphorik / Zusammenfassung

3.2 [Exkurs] Historiographie und Ästhetik (Über das Erhabene) ............................................. 333 Ungleichzeitigkeit statt Stufenentwicklung / Erhabene Ästhetik – das Geschichtliche unabhängig von der Geschichte betrachten

3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik im Drama (Braut von Messina) ............................ 348 Kontexte I – Schillers weitere Geschichtsdramen / Meeres- und Pflanzenmetaphorik in der Braut von Messina / Ununterscheidbarkeit, Fülle / Bedrohung und Unheil sowie Disruption und Gewalt im Kontext der Fieberschrift / Kontexte II – Schillers Fieberschrift von 1780 / Imaginationen zukünftigen Unheils / Darstellung gegenwärtiger Brüche / Ästhetiken der Kontingenz / Pflanzenmetaphorik und Ästhetik der Kontingenz / Meeresmetaphorik und Ästhetik der Kontingenz



Schlussbetrachtung ..................................................................... 395 Literaturverzeichnis ..................................................................... 408



Einleitung Diese Arbeit beruht im Wesentlichen auf zwei Beobachtungen. Die erste betrifft die Art und Weise, in der das 18. Jahrhundert über Kontingenz denkt und spricht, die zweite einen spezifischen Zugang Friedrich Schillers zur Kontingenz und dem Kontingenten. Kontingenzdenken im 18. Jahrhundert Als ein Spezifikum der Moderne gilt gemeinhin, dass sie eine Kultur der Kontingenz hervorgebracht hat, die sich durch eine intensive Reflexion des Kontingenten und der Kontingenz wie auch durch vielfältige damit verbundene Handlungspraxen auszeichnet. Dabei wird auch die These, dass das Phänomen der Kontingenz1 in den verschiedensten Diskursen schon des 18. Jahrhunderts eine besondere Virulenz erlangt, mittlerweile kaum mehr zu bestreiten sein. Insbesondere Leibniz’ Théodicée 1710 mit ihrem Diktum von der „besten aller möglichen Welten“ kann hierfür als überzeugender Beleg herangezogen werden. Leibniz’ Auffassung, dass die Welt, so wie sie ist, durch eine göttliche Auswahl eben dieser Welt aus einer Menge möglicher Welten zustande kam, eröffnete zahlreiche Anschlusspunkte für weitere Reflexionen. So nahmen etwa Lessing und Mendelssohn das Preisausschreiben der Académie Royale des Sciences et Belles Lettres über die Frage, ob Alexander Pope die Leibniz’sche These in seinem Gedicht An Essay on Man literarisiert habe, zum Anlass, in dem Traktat Pope, ein Metaphysiker! eine fundamentale Differenz zwischen den Funktionsweisen der Systeme Literatur und Gesellschaft zu beschreiben. Zu vielleicht noch größerer Prominenz gelangte dann Voltaires Persiflage auf Leibniz in Form der Novelle Candide ou l’optimisme aus dem Jahr 1759 (der deutsche Titel lautet bezeichnenderweise Candide oder die beste aller Welten), in welcher der Protagonist eine Reihe leidvoller Erlebnisse überstehen muss, in deren Folge er am Ende des Textes eine skeptische Haltung gegenüber der Annahme entwickelt, in der bestmöglichen aller Welten zu leben. Eines dieser Erlebnisse Candids, das verheerende Erbeben, welches 1755 Lissabon erfasste und fast vollständig zerstörte, wurde dann 1807 und 1 Kontingenz wird gemeinhin definiert als etwas, das so wie es ist, auch anders (oder gar nicht) sein könn-

te. Ein konkretes (und auch das prominenteste) Beispiel für ein solches Phänomen ist der Zufall, dessen Wesenskern gerade darin besteht, dass er auch nicht eintreten hätte können. Es leuchtet jedoch unmittelbar ein, dass es außer dem Zufall noch weitere Phänomene gibt, die nicht, oder anders sein können, etwa einzelne Handlungen von Menschen, bestimmte Aussagen und Entscheidungen, soziale Beziehungen, politische oder gesellschaftliche Strukturen, die Welt als Ganzes und sogar Gott. Die begriffliche Definition von Kontingenz wird im Laufe dieser Einleitung noch genauer expliziert werden. Vorab ist lediglich festzuhalten, dass es sich bei Kontingenz und Zufall nicht um dasselbe Phänomen handelt, sondern dass der Zufall gewissermaßen eine Teilmenge des Kontingenten bildet.



Einleitung

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damit fast 100 Jahre nach Leibniz noch zum Stoff von Heinrich von Kleists berühmter Novelle Das Erbeben in Chili, eines Textes, in welchem die Frage nach der Geltung von Leibniz’ Diktum als noch immer aktuell erscheint.

Die Liste der Beispiele ließe sich noch erheblich erweitern, sie belegt jedoch auch

so schon, dass die Frage nach der Kontingenz nicht nur eines bestimmten Sachverhalts, eines konkreten Ereignisses oder einer spezifischen Handlung, sondern auch nach der Kontingenz gar der gesamten Welt von wesentlichen, diskursiv einflussreichen Personen des 18. Jahrhunderts aufgegriffen und weitergeführt wurde. Dass Leibniz’ Gedanke das bestimmende ‚historische Apriori’ für vielfältige Diskursstränge ist, in denen sich das Kontingenzdenken des 18. Jahrhunderts ausformte, zeigt sich schon daran, dass diese Fragen nach und über Kontingenz (wie auch in den genannten Beispielen) sehr häufig im Hinblick auf die Differenz Kontingenz/Providenz behandelt wurden. Einen immer noch lesenswerten Einblick in die Verhandlungen dieser Differenz liefert beispielsweise Werner Fricks Studie zu Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts.2 In der Logik von Arbeiten, die (wie diejenige Fricks) der Leitunterscheidung aus Kontingenz/Providenz folgen, liegt es dann, die das Zeitalter der Aufklärung bestimmenden Diskurse nach dem in ihnen dargestellten Einfluss Gottes auf das sublunare Geschehen (und damit verbunden auch nach der Autonomie des Menschen) zu untersuchen.

In letzter Zeit konnte jedoch deutlich gemacht werden, dass das Kontingenzden-

ken im 18. Jahrhundert weit über diese grundlegende Opposition zur Providenz hinausgeht. So haben etwa die Arbeiten Joseph Vogls3 eine Koevolution des Wissens über Phänomene der Kontingenz mit der zunehmenden Ökonomisierung des Denkens in den sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaften belegen können. Rüdiger Campes Studie Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist4 untersucht wiederum die Entwicklung des Kontingenzdenkens innerhalb des Probabilitäts- und Glücksspieldiskurses seit dem 17. Jahrhundert. Cornelia Zumbusch konnte wiederum aufzeigen, wie sehr die im 18. Jahrhundert ebenfalls hochvirulente Rede über pathogene Erscheinungen, Infektionen, Hygiene und Immunität die Felder von Medizin, Moral, Politik, Ästhetik und Dichtung durchdringt.5 Deutlich wird dabei, dass die Frage nach der Immunität stets auch eine Frage nach dem 2 Frick, Providenz und Kontingenz 1988. 3 Insbesondere zu nennen ist hier Vogl, Kalkül und Leidenschaft 2002.

4 Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit 2002.

5 Vgl. Zumbusch, Die Immunität der Klassik 2011.





Einleitung

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Anderen, dem Krankhaften, dem, vor dem man sich immunisieren muss, mit sich führt, also abstrakter auch, die Frage nach dem Kontingenten und der Kontingenz im Allgemeinen.6

Claudia Benthiens Arbeiten über Scham und Schuld in der Tragödie um 1800

nehmen schließlich (unter anderem auch) das Verhältnis zwischen Kontingenzphänomenen (insbesondere von Widerfahrnissen) auf kulturell-sozialer Ebene und dem innerpsychologischen Verarbeitungen derselben sehr genau in den Blick. Insbesondere demonstriert Benthiens Studie, welch bedeutsame Rolle die Zeitkomponente bei subjektiven Reaktionen auf Kontingenzphänomene spielt.7

All diesen Arbeiten ist gemein, dass sie Kontingenz als eine bedeutsame Katego-

rie im Denken gerade auch des ausgehenden 18. Jahrhunderts begreifen. Keine dieser Arbeiten befasst sich jedoch schwerpunktmäßig und systematisch mit dem Kontingenzdenken der Epoche. Das Phänomen wird vielmehr über die eigentlichen wissenspoetologischen, poetologisch-ästhetischen und kulturtheoretischen Zielsetzungen der Studien quasi indirekt sichtbar. Dass Kontingenz nur selten8 zur zentralen Analysekategorie 6 Dabei belegt Zumbusch unter anderem auch, welch große Bandbreite von Immunisierungsstrategien das

18. Jahrhunderts entwickelt. Unter anderem führt sie dabei die Immunisierung durch einen Einschluss des Auszuschließenden an. Dies zeige sich etwa bei der ‚Impfung’, die im 18. Jahrhundert als Denkfigur Einzug auch in nicht-medizinische Diskurse (die Philosophie, die Ästhetik, die Literatur) hält. So können Zumbuschs Analysen auch als Erkundungen des Umgangs, den das 18. Jahrhundert mit dem Phänomen der Kontingenz pflegt, gelesen werden. Gerade bei Goethe und Schiller wird dies deutlich, richtet sich Schillers Immunisierungsprogramm, wie Zumbusch herausarbeitet, ja wesentlich gegen das Schicksal (also: gegen Widerfahrniskontingenz) und bei Goethe sehr häufig als Prophylaxe gegen Irrtümer und Irrwege (also: gegen Kontingenzen des Inkommensurablen). 7 Vgl. Benthien, Tribunal der Blicke 2011. Benthien entwickelt unter anderem eine elaborierte Differenzierung von Scham- und Schuldgefühlen. Begreift man – wie die vorliegende Arbeit – Scham und Schuld als (häufig auftretende) psychische Reaktionen auf Kontingenzmomente, so gerät hier vor allem Benthiens Beobachtung in den Blick, dass Scham eine eher präsentische Form aufweist, wohingegen es sich bei Schuld eher um eine gegenüber dem Auslöser nachträglich eintretende psychische Folge handelt. Auch relevant für die hier vorliegende Fragestellung ist Benthiens Unterscheidung von ‚Scham-Selbst’ und ‚Schuld-Handlung’. Benthien etabliert damit zwei theoretische Zusammenhänge, welche die Relation der affektiven Reaktionen von Scham und Schuld zu unterschiedlichen Elementen der psychischen und sozialen Wirklichkeit verdeutlichen. So richte sich beim Schamgefühl das Selbst global auf sich als Ganzes, beim Schuldgefühl jedoch spezifisch auf eine bestimmte Handlung. Vgl. dazu ebd., S. 47–64. Scham wird demnach – so könnte man sagen – eher als Widerfahrniskontingenz, Schuld eher als Kontingenz der Inkommensurablen (als zunächst unintendierte Folge individuellen Handelns) erlebt. Das präsentische Moment und die das Selbst global erfassende Wirkung des Schamgefühls weisen ebenfalls eher einen Bezug zur Kategorie der Widerfahrnis auf, während sich Schuld sowohl in ihrer Eigenschaft als Folge individuellen Handelns, als auch über die Möglichkeiten der Buße und der Ent-Schuldung in stärkerer Nähe zur Kategorie der Gestaltbarkeitskontingenz befindet. Auf die hier verwendeten Kategorien der Kontingenz wird in dieser Einleitung noch einzugehen sein. 8 Neben der bereits genannten Studie von Frick ist hier als weitere Ausnahme die Dissertation Alexander Jakovljevićs’ zu erwähnen: Jakovljević, Schillers Geschichtsdenken 2015. Eine gewichtige Rolle spielt das Thema natürlich in Rüdiger Campes Monographie zum Spiel und der Literatur: Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist 2002. Diese monumentale Studie hat jedoch einen zeitlich (das 17. und 18. Jahrhundert umfassend) und thematisch (metaphorische und ma-





Einleitung

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übergreifender Arbeiten zum 18. Jahrhundert erhoben wird, hat seinen Grund in einer bemerkenswerten Tatsache: Obwohl Leibniz’ Theodizee ein intensiveres Nachdenken über das Kontingente und die Kontingenz angestiftet hat, verkürzte sich das begriffliche Inventar, mit dem diese Phänomene adressiert werden konnten, im Zuge des Diskurses erheblich. So gebraucht Leibniz noch einen wenigstens grob ausdifferenzierten Begriffsapparat, um die Erscheinungsformen der Kontingenz zu erfassen. Dabei unterscheidet er etwa distinkt zwischen „contingens“ und „possibile“,9 um mit Ersterem Wirkliches, aber auch anders Mögliches, mit Zweiterem Mögliches, aber (noch) nicht Wirkliches, zu bezeichnen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts kommt es jedoch zunehmend zu einer Überlagerung der Bedeutungsbereiche von ‚Kontingenz’ und ‚Zufall’, was in der Folge dazu führt, dass ein expliziter Gebrauch des Begriffs ‚Kontingenz’ immer seltener zu beobachten ist. Diese begriffsgeschichtliche Entwicklung hat Peter Vogt in seiner Monographie zu Kontingenz und Zufall sehr plastisch nachgezeichnet.10 Den Höhepunkt dieser Bedeutungsüberlagerung verortet Vogt bei Kant. Unter Hinweis auf die Kategorientafel der Kritik der reinen Vernunft kommt er entsprechend zu dem Schluss, dass Kant justament dies als Zufälligkeit bezeichnete, was bei Leibniz als das Kontingente benannt wurde, bis die theoretische und semantische Grenze schließlich in der zeitgenössischen Philosophie gänzlich fallen gelassen oder sogar explizit abgelehnt wurde.11

Man kann Vogts Beobachtung jedoch noch erweitern. Der Kontingenzbegriff verschwindet zu großen Teilen bereits vor Kant aus dem Diskurs über die Kontingenz und das Kontingente. Dies lässt sich nicht zuletzt etwa daran erkennen, dass bereits Zedlers 1732 bis 1754 entstandenes Großes Universallexicon die Begriffe synonym setzt; zu sehen etwa daran, dass dort die Lemmata ‚Zufällig’ beziehungsweise ‚Zufälligkeit’ mit den Hinweisen „Lat. Contingens“ und „Lateinisch Contingentia“ versehen werden.12 Als Unterkategorien des Zufälligen führt der Zedler dann auch „die Zufälligkeit eines Satzes (contingentia proportionis)“13 und die „Zufälligkeit einer Sache (contingentia rei)“14 an. Interessant für die vorliegende Arbeit ist diese Einteilung schon deshalb, weil mit dieser zweifachen Verwendung von ‚contingentia’ eine sprachliche Form (die spezifische

thematische Verfahren analysierend und Wahrscheinlichkeit statt Kontingenz als Leitkategorie wählend) etwas anderen Fokus. Sie stellt aber dennoch einen relevanten Referenzpunkt für diese Arbeit dar. 9 Vgl. Vogt, Kontingenz und Zufall 2011, S. 57. 10 Vgl. ebd., S. 59–61. 11 Ebd., S. 60. Die Kategorie der Modalität unterteilt sich gemäß der KrV in „Möglichkeit – Unmöglichkeit / Dasein – Nichtsein / Notwendigkeit – Zufälligkeit“ (KrV A 80). 12 Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 63, Sp. 1099 u. 1107. 13 Ebd., Bd. 63, Sp. 1099. 14 Ebd.





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Verfasstheit eines Satzes) mit der Beschaffenheit konkreter (in der Welt existierender) Dinge parallelisiert wird. Hierin angelegt ist schon die Vorstellung, dass Texte die Welt nicht nur über ihre Inhalte abbilden, sondern dass ihre formalen Gestaltungsprinzipien ebenfalls den Strukturen der Wirklichkeit folgen. Dies wird in den Analysen des Hauptteils dieser Studie noch eine wichtige Rolle spielen, gerade weil – wie zu zeigen sein wird – Schiller seine Wahrnehmungen und Auffassungen von Kontingenz als eines die Gesellschaft um 1800 bestimmenden Phänomens nicht nur inhaltlich direkt ausdrückt, sondern auch der formalen Gestaltung seiner Texte einschreibt und diese darüber hinaus in den von ihm angewandten literarischen Verfahren zur Erstellung dieser Texte berücksichtigt. Der an dieser Stelle entscheidende Punkt ist jedoch, dass nicht erst Kant, sondern schon die Autoren des Zedler die Begriffe ‚Kontingenz’ und ‚Zufall’ als Synonyme verstehen. Dabei ist es keineswegs so, dass die entsprechenden Lemmata im Zedler für Phänomene des Kontingenten und der Kontingenz blind wären und nur Zufallserscheinungen sehen würden, wo eigentlich von Kontingenz die Rede sein müsste. Ihnen ist vielmehr ein Wissen um die Vielfalt der Kontingenzerscheinungen eingeschrieben, das deutlich über die bloße Betrachtung von Zufallsereignissen hinausgeht. Sie verwenden lediglich keine begriffliche Unterscheidung für diese Varianz, sondern subsummieren alle Erscheinungen der Kontingenz und des Kontingenten unter dem Begriff des ‚Zufalls’. Nun sind Zufall und Kontingenz genau genommen nicht dasselbe, da es sich beim Zufall um eine Ereignis- und bei Kontingenz um eine Modalkategorie handelt. Dass Zufall und Kontingenz oft miteinander verwechselt werden, liegt insbesondere daran, dass es sich beim Zufall um ein Ereignis handelt, bei welchem der Modus der Kontingenz auf besonders dominante Weise hervortritt. Im Prinzip ist der Zufall als ein Ereignis zu betrachten, dem von einem Beobachter der Modus der Kontingenz zugeschrieben wird. Setzt man Zufall und Kontingenz gleich, so läuft man einerseits Gefahr, Kontingenz zu ontologisieren, indem man letztere an die Ereignishaftigkeit des Zufalls bindet. Andererseits wird so auch der Zufallsbegriff problematisch, da man schnell zu der Auffassung gelangt, dass es den Zufall überhaupt nicht gibt, sondern nur mangelnde Informationslagen von Beobachtern – eine Frage mit der sich schon Aristoteles im zweiten Buch seiner Physik kritisch auseinandersetzt.15 Dies umgeht man eben dadurch, dass man Ereignis und Modus trennt, was es ermöglicht, Kontingenz z.B. auch auf nicht überraschend ein

15 Vgl. Arist., Phys. II, 4, 196a.





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tretende Ereignisse oder auf nicht realisierte, aber potentiell realisierbare Sachverhalte zu beziehen. Ein zufälliges Ereignis gewinnt seinen Charakter eben ganz stark daraus, dass es den Beobachter überrascht und damit als etwas erscheint, das auch anders (oder eben: nicht) hätte eintreten können. Auch wenn eine Verengung des Kontingenzbegriffs auf das Zufallsereignis schon in Leibniz’ Setzung des Kontingenten als dessen, was wirklich ist, aber anders sein könnte, und der damit verbundenen Ausklammerung dessen, was nicht wirklich ist, aber die Möglichkeit (das Potential) hat, wirklich zu werden,16 angelegt ist, bleibt doch der zunächst erstaunliche Befund: Obwohl das 18. Jahrhundert ein zunehmendes Interesse am Kontingenten und der Kontingenz entwickelt, scheint das von den literarisch und philosophisch tätigen Personen gebrauchte semantische Inventar, mittels dessen das Phänomen präziser differenziert werden könnte, zu schrumpfen. Diese zunächst kontraintuitive Beobachtung lässt vermuten, dass ein dritter Faktor neben dem der Entwicklung des Kontingenzdiskurses und dem Aufgehen des Kontingenzbegriffs im Zufallsbegriff17 existiert, welcher geeignet ist, den Hiat zwischen den beiden Entwicklungen zu erklären. Es liegt nahe, in diesem Fall von einer Entwicklung auszugehen, die in etwa dem entspricht, was Reinhart Koselleck unter Berufung auf Heiner Schutz wie folgt definiert: Die Bedeutung eines Wortes ändert sich, aber die zuvor damit erfasste Wirklichkeit bleibt sich gleich. Die sich ändernde Semantik muß also sprachlich neue Ausdrucksformen finden, um der Realität gerecht zu werden.18

Zu vermuten ist, dass sich während des 18. Jahrhunderts in Bezug auf den Kontingenz- und den Zufallsbegriff eben eine Kosellecks Beschreibung verwandte Entwicklung vollzieht. Das zunehmende Interesse an Kontingenzerscheinungen muss fast zwangsläufig zu sprachlich neuen (Differenzierungen und Präzisierungen ermöglichenden) Ausdrucksformen geführt haben. Diese Ausdrucksformen müssen nur nicht notwendigerweise begrifflicher Natur gewesen sein. Wenn sie jedoch dazu geführt haben, dass eine begrifflich sinnvolle Differenzierung (eben diejenige zwischen Kontingenz und Zufall) in 16 Vgl. dazu Vogt, Kontingenz und Zufall 2011, S. 57–61. 17 Die Hochkonjunktur des Zufallsbegriffs in der Literatur um 1800 und auch bei Schiller wird unter ande-

rem deutlich in Kleinschmidt, Fällige Zufälle 2004, S. 147–166. Der Beitrag ist erschienen in dem generell für das vorliegende Thema interessanten Sammelband Thorsten Hahn et al. (Hg.), Kontingenz und Steuerung 2004. 18 Koselleck, Sprachwandel und Ereignisgeschichte [1989]. In: ders.: Begriffsgeschichten 2006, S. 63. Die drei anderen (hier nicht relevanten) angeführten Fälle sind: „Die Bedeutung eines Wortes sowie der erfaßte Sachverhalt bleiben sich gleich, synchron wie diachron“ und „Die Bedeutung eines Wortes bleibt sich gleich, aber der Sachverhalt ändert sich. Er entzieht sich der vorgängigen Bedeutung. Die sich verändernde Wirklichkeit muss also sprachlich neu erfaßt, neu begriffen werden“ sowie „Sachverhalte und Wortbedeutungen entwickeln sich völlig auseinander, so daß die ehemalige Zuordnung nicht mehr nachvollzogen wird. Nur noch mit der begriffshistorischen Methode läßt sich ermitteln, welche Wirklichkeit ehedem wie auf welchen Begriff gebracht worden ist“ (ebd).





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Vergessenheit geraten konnte, müssen sie selbst von einer gewissen Ausdrucksstärke und Beschreibungsgenauigkeit gewesen sein.

Die Hypothese an dieser Stelle lautet: Wenn es sich dabei nicht um begriffliche

Ausdrucksformen gehandelt hat, müssen es im weitesten Sinne literarische Formen gewesen sein, welche das Nachdenken über und die Bestimmung von Kontingenz im 18. Jahrhundert in sprachlicher Hinsicht überhaupt erst ermöglicht haben können. Kontingenzdarstellungen bei Schiller19 Dies führt zu der zweiten dieser Arbeit zugrunde liegenden Beobachtung. Betrachtet man nämlich Schillers Theorie des Erhabenen20 genauer, so wird deutlich, dass zu deren ‚historischen Apriori’ nicht nur Immanuel Kants und Edmund Burkes Arbeiten zu zählen sind,21 sondern auch der erwähnte, spätestens seit Leibniz hochvirulente, Diskurs über die Kontingenz und das Kontingente.

Dies wird plastischer, wenn man die Weiterentwicklungen vergegenwärtigt, die

Schiller gerade gegenüber dem direkten Prätext seiner Erhabenheitstheorie, Kants Kritik der Urteilskraft, vorgenommen hat. Insgesamt rücken dann drei über das Kontingenzdenken Schillers Aufschluss gebende Komplexe in den Blick, nämlich dass Schiller (1) eine deutliche Ausdifferenzierung der bei Kant noch binär strukturierten Erhabenheitstheorie vornimmt, dass er (2) er eine klare Zeitkomponente in das Kontingenzparadigma integriert und dass er (3) Mittel der Poetisierung gebraucht, um über diese nicht nur Anschaulichkeit herzustellen, sondern noch viel mehr, um eine Bezüglichkeit zwischen altbekannten Formen, über Kontingenz zu sprechen und seiner Erhabenheitstheorie zu schaffen. 1) Schillers Ausdifferenzierung der Kant’schen Erhabenheitstheorie erfolgt zum einen darüber, dass er wie schon bei seiner Verwendung der ästhetischen Kategorie des Schönen auch beim Erhabenen Kants Beschränkung auf das Kunst rezipierenden Subjekt

19 Schiller wird in der vorliegenden Arbeit zitiert nach: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke in 5 Bänden.

Auf der Grundlage der Textedition von Herman G. Göpfert herausgegeben von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel. München 2004. Die Kurzbelege im Haupttext folgen dem Schema (Band der Ausgabe, Seitenzahl). Bei Versdramen wird lediglich die entsprechende Versnummerierung angegeben. 20 Diese gilt mittlerweile als der (gegenüber der Theorie des Schönen) modernere Teil seiner Ästhetik. Vgl. etwa Zumbusch, Die Immunität der Klassik 2012. S. 110–112; Alt, Schiller Bd. II 2000, S. 86 oder Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne 1995, S. 147–184. 21 Zu den Quellen, über die sich Schiller den Erhabenheitsdiskurs erschließen konnte, vgl. Zelle, Vom Erhabenen / Über das Pathetische 2005, S. 399.





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aufhebt. Erhabenes (wie schon Schönes) kann für Schiller anders als für Kant auch im Kunstgegenstand verortet werden.22 So spricht Schiller nicht nur von der Erfahrung des Erhabenen im Subjekt, sondern mehrfach explizit auch von erhabenen Objekten.23 Er ergänzt also Kants transzendentalphilosophischen um einen ontologischen Erhabenheitsbegriff. Das Erhabene kommt somit bei Schiller doppelt vor, einmal in den erhabenen Dingen und einmal im erhabenen Affekt, also bei der Wahrnehmung dieser Dinge. Zwar handelt sich Schiller mit der Rückholung der Ontologie nicht unerhebliche philosophische Schwierigkeiten ein, das Vorgehen erlaubt ihm jedoch, Beziehungen (oder: Lücken) zwischen Kunstwerk und Kunstbetrachter genauer zu beleuchten, wie etwa die Unfähigkeit des Kunstbetrachters, die Erhabenheit (oder: die Schönheit) eines Kunstwerkes wahrzunehmen. Er öffnet so den Blick auf einen Möglichkeitsraum, in dem ästhetische Prozesse ablaufen können, und schafft damit die Ermöglichungsbedingung weitergehender Untersuchungen des Zusammenspiels von Kunstwerk und Kunstbetrachtung. Schiller gestaltet das Paradigma also dergestalt um, dass es sich für Kontingenzen öffnet. Intensiviert wird dies zudem dadurch, dass Schiller auch Kants binäre Strukturierung des Erhabenheitsparadigmas auflöst und diesem weitere Unterscheidungen hinzufügt. Neben Kants Kategorien des ‚mathematisch-Erhabenen’ und dem ‚dynamischErhabenen’ bildet er noch die Kategorien des ‚kontemplativ-Erhabenen’ und des ‚pathetisch-Erhabenen’.24 Ausgehend von Kants binärer Unterkategorisierung des Erhabenen entwickelt Schiller also ein deutlich differenzierteres Erhabenheits-Paradigma.

22 Vgl. etwa den bekannten Brief an Körner vom 21. Dezember 1792, in dem Schiller behauptet, „[d]en

objectiven Begriff des Schönen [...], an welchem Kant verzweifelt“, gefunden zu haben (NA 26, 170) oder die in Über Anmut und Würde getroffene Aussage, die „Schönheit der Bewegung [...] ist [...] objektiv und kommt dem Gegenstande selbst zu, nicht bloß der Art, wie wir ihn aufnehmen“ (V, 435). Vgl. zu Schillers objektiven Schönheitsbegriff auch Jahraus, Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände 2005, S. 407. 23 So heißt es etwa schon zu Beginn der Abhandlung Vom Erhabenen, „Erhaben nennen wir ein Objekt, bei dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Überlegenheit, ihre Freiheit von Schranken fühlt“ (V, 489). Ein weiteres Bespiel für Schillers objektiven Erhabenheitsbegriff findet sich in den Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände: „Wenn ein Objekt erhaben heißen soll, so muß es sich unseren sinnlichen Vermögen entgegensetzen“ (V, 550). 24 Während das mathematisch-Erhabene (von Schiller neu definiert als das theoretisch-Erhabene oder das Erhabene der Erkenntnis) Situationen oder Dinge bezeichnet, die das Vorstellungsvermögen übersteigen, bezieht sich das dynamisch Erhabene (Schiller spricht hier meist vom praktisch-Erhabenen, manchmal auch vom Erhabenen der Macht) dadurch, dass es den Erhaltungstrieb existentiell gefährdet. Hier folgt Schiller inhaltlich also Kants Einteilung. Das kontemplativ-Erhabene ist seiner Definition nach dann aber dadurch geprägt, dass „bloß ein Gegenstand als Macht, die objektive Ursache des Leidens, aber nicht die das Leiden selbst in der Anschauung gegeben“ wird. Dies führt dazu, dass es „das urteilende Subjekt [ist], welches die Vorstellung des Leidens in sich erzeugt“ (V, 503), aus welcher dann die (wenn auch imaginierte) Erfahrung einer existentielle Bedrohung und das daraus wiederum resultierende Erhabenheitsgefühl





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2) Diese sowieso schon relativ komplexe Unterscheidung wird in der Abhandlung Über das Pathetische dann nochmals erweitert, indem Schiller auch eine Zeitkomponente in seine Erhabenheitstheorie integriert. Dies geschieht, indem er unter Aneignung von Lessings Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerey und Poesie die beiden Achsen des Erhabenen (die Achse mathematisch/dynamisch und die Achse kontemplativ/pathetisch) noch um die Achse Erhabenes der Fassung/Erhabenes der Handlung ergänzt. Das Erhabene der Fassung bezeichnet nach Schiller eine Widerständigkeit des Subjekts gegenüber negativen Zuständen. Es „läßt sich anschauen, denn es beruht auf der Koexistenz“ (V, 527), das heißt, es referiert zeitlich auf einen singulären Moment. Das Erhabene der Handlung hingegen „lässt sich bloß denken, denn es beruht auf der Succession“ (V, 527). Es erfordere entweder, den kalkulierten Entschluss eines Subjekts, Leiden um eines höheren Gutes Willen auf sich zu nehmen, oder es stelle sich ein, wenn negative Handlungen im Nachgang bereut oder gebüßt werden (vgl. V, 527). Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass die – im Erhabenen der Handlung repräsentierte – Zeitachse selbst eine zusätzliche Modalisierung des Erhabenen ermöglicht. Handlungen und das Bewusstsein der Kontingenz dieser Handlungen können nun als zeitliche getrennte Momente benannt werden. Dies heißt auch, dass handlungstheoretisch jede noch so notwendig erscheinende Handlung stets der Gefahr (oder neutral formuliert: dem Potential) ausgesetzt ist, sich zu einem späteren Zeitpunkt als kontingent zu erweisen. Die Tragik liegt dann aber darin, dass die Handlung bereits vollzogen und nicht mehr zu revidieren ist (bei Ideen oder Ansichten verhält sich dies naturgemäß anders). Subjektpsychologisch kann dies zu hochrelevanten Implikationen führen. Die Einsicht in die Kontingenz einer Handlung und die Irreversibilität der Handlung können theoretisch als ‚geronnene Kontingenz’ bezeichnet werden. Die Tatsache, dass die Zeitkomponente zu einer weiteren Anreicherung des jeweiligen Gegenstands führt, wird indes schon von Luhmann betont und unter das Stichwort ‚Mehrfachmodalisierung’ gefasst. Auf die theoretischen Einzelheiten von Mehr-

folgen. Das pathetisch-Erhabene kommt dann komplementär dazu zustande, indem „außer dem Gegenstand als Macht [...] zugleich seine Furchtbarkeit für den Menschen, das Leiden selbst, objektiv vorgestellt“ wird (V, 503).





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fachmodalisierungen wird in dieser Arbeit noch einzugehen sein.25 Hier ist jedoch zunächst wichtig, dass Schillers Integration der Zeitkomponente in das Erhabenheitsparadigma geeignet ist, zwei Funktionen zu erfüllen. Zum einen werden so die Beschreibungsmöglichkeiten für Erhabenheitsformen nochmals deutlich erweitert, indem eben nicht nur zwei neue Kategorien zu den vorherigen vier hinzugefügt, sondern indem mit dem Erhabenen der Handlung nun auch Dynamiken, Entwicklungen beziehungsweise Veränderungen im Zeitverlauf erfasst werden können. Zum anderen etabliert Schiller mit dem Erhabenen der Handlung ein elegantes Scharnier zwischen dem Erhabenheitsparadigma und den literarischen Darstellungsformen, die er – wie generell in seiner Theorieentwicklung – auch hier im Hinterkopf hat. Zu denken ist dabei insbesondere natürlich an das Theater.26 3) Dies alles wäre für sich allein genommen vielleicht noch nicht so außergewöhnlich, wenn nicht noch ein Weiteres hinzukäme. Das eigentlich Bemerkenswerte an Schillers Konzeption seiner Theorie des Erhabenen ist, dass er dabei nicht nur ein auf dem Prinzip der Kontingenz beruhendes Verfahren gebraucht, sondern dass er dieses auch auf einen Gegenstand bezieht, der seinerseits durch den Modus der Kontingenz bestimmt ist. Indem das Erhabene nach Kant und Schiller nämlich – und das gilt für das Erhabene in all seinen Varianten – den Menschen in einen Zustand der Überforderung versetzt, ermöglicht es ihm die Begegnung mit dem ihm vorher Unverfügbaren. Im Prinzip beruht das Erhabene sogar auf einer doppelten Begegnung mit dem Kontingenten. Vereinfacht gesagt,27 beschreibt es, wie die Konfrontation mit einem Anderen außerhalb (des Subjekts) ein Anderes innerhalb (des Subjekts) hervorbringt.28 Das Erhabene bezeichnet damit also den (feinen) Übergang von Welterfahrungen in Subjektivierungserlebnisse und bezieht so gesellschaftlich-induziertes auf autosubjektives Erleben.

25 Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 2, 1975, S. 140. Luhmanns Begriff ‚Mehrfachmodalisierung’ wird

im Kapitel zu den Metaphoriken des Fluiden in Schillers frühen Dramen noch eingehender erläutert werden. 26 Den Bezug zur Literatur stellt Schiller auch ganz explizit her: „Daher ist nur das erste [das Erhabene der Fassung; M.K.] für den bildenden Künstler, weil dieser nur das Koexistente glücklich darstellen kann, der Dichter aber kann sich über beides verbreiten“ (V, 527). 27 Eine genauere Auseinandersetzung mit den Dynamiken des Erhabenen findet sich im vierten Kapitel dieser Arbeit. 28 Schillers entsprechende Formulierung in Über das Erhabene lautet: „[Im Moment des Erhabenen] fangen die wilden Naturmassen um ihn [den Menschen, M.K.] an, eine ganz andere Sprache zu seinem Herzen zu reden: und das relativ Große außer ihm ist der Spiegel, worin er das absolut Große in sich selbst erblickt.“ (V, 801)





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Dass auch Schiller diese Dynamik als einen sich innerhalb des Kontingenzparadigmas vollziehenden Prozess auffasst, wird dabei durchaus deutlich. Zwar richtet sich seine Begriffsarbeit, wie beschrieben, auf eine Ausdifferenzierung der Erhabenheitsformen. Gleichzeitig gilt hier aber immer noch, dass die Benennung des Kontingenten und der Kontingenz aufgrund der im 18. Jahrhundert verloren gegangenen Begrifflichkeit erschwert bleibt. Ein Blick auf Schillers Theorie des Erhabenen kann jedoch einen Erklärungsansatz für die oben noch als erstaunlich beschriebene Tatsache liefern, dass das im Laufe des 18. Jahrhunderts stetig virulente Interesse am Kontingenten und der Kontingenz mit einer Abnahme der begrifflichen Möglichkeiten, über Kontingenz zu sprechen, einhergeht. Statt explizit zu machen, dass es sich bei den dargestellten Varianten des Erhabenen um spezifische Formen des Sprechens über das Kontingente und die Kontingenz handelt, – eben dies ist ja auch aufgrund der fehlenden Begrifflichkeit verstellt – greift Schiller auf die seit der Antike für die Veranschaulichung von Kontingenz gebrauchte29 Meeresmetaphorik zurück. So unterscheidet er in Über das Erhabene das theoretisch-Erhabene vom praktisch-Erhabenen, indem er erklärt „[e]in Beispiel des ersten ist der Ozean in Ruhe, der Ozean im Sturm ein Beispiel des zweiten“ (V, 491).30 Das pathetisch-Erhabene veranschaulicht Schiller dann konsequent mit der durch Lukrez bekannt gemachten Metapher vom Schiffbruch mit Zuschauer: Indem wir ein schwerbeladenes Frachtschiff im Sturm untergehen sehen, so können wir an der Stelle des Kaufmanns, dessen ganzer Reichtum hier von dem Wasser verschlungen wird, recht sehr unglücklich fühlen. Aber zugleich fühlen wir doch auch, daß dieser Verlust nur zufällige Dinge betrifft, und daß es Pflicht ist, sich darüber zu erheben. Es kann aber nichts Pflicht sein, was unerfüllbar ist, und was geschehen soll, muss notwendig geschehen können. (V, 511)

Ohne ins Detail zu gehen, ist augenfällig, wie stark diese Textstelle auch jenseits der Meeresmetaphorik von Semantiken der Kontingenz getragen wird. Der Verlust „zufälliger“ Dinge, aber auch die komplizierte Aussage, dass bei der Einforderung von Pflichten, die Möglichkeit, diese zu erfüllen, notwendig ist, machen dies deutlich. Bei dem Beispiel des Schiffbruchs mit Zuschauer handelt es sich ganz eindeutig – auch wenn Schiller dies nicht eigens erwähnt, um die praktisch-erhabene Form des pathetisch-Erhabenen. 29 Vgl. dazu Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer 1979.

30 Die Ozeanmetapher findet sich schon bei Kant. Dieser gebraucht sie jedoch noch dazu, um seine Auffas-

sung zu verdeutlichen, „daß wir uns überhaupt unrichtig ausdrücken, wenn wir irgend einen Gegenstand der Natur erhaben nennen [...] So kann der weite durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist gräßlich; und man muß das Gemüt schon mit mancherlei Ideen anfüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist.“ (KdU § 23, A 75–76). Schiller wird sich von dieser Auffassung abgrenzen und den Geltungsbereich des Erhabenen explizit auch auf den Erhabenheit auslösenden Gegenstand ausdehnen, greift dessen ungeachtet jedoch auf die Kontingenz anzeigende Meeresmetaphorik zur Veranschaulichung des Kontingenzcharakters des Erhabenen zurück.





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Schiller verwendet also Meeresmetaphoriken, um jenseits des Begrifflichen, aber dennoch systematisch, über das Kontingente und die Kontingenz zu sprechen. Die Metaphern füllen damit nicht nur die Leerstelle, welche die oben beschriebene Schrumpfung des semantischen Inventars zur Kontingenz im 18. Jahrhundert hinterlässt. Sie bieten gegenüber rein begrifflichen Zugriffen auf das Phänomen der Kontingenz auch eine Reihe von Vorteilen. Zunächst erlauben sie dem Dichter, mehr als Begriffe dies könnten, abstrakte Zusammenhänge in konkrete Darstellungsformen zu gießen und diese somit als geeignetes Material etwa für die Bühne funktionalisierbar zu machen. Gerade unter dem für Schiller so wichtigen Gesichtspunkt der Verzeitlichung, welcher ja auch die Kategorie des Erhabenen der Handlung prägt, erweisen sich Metaphern zudem als flexibler als starre Begrifflichkeiten. Die Herausbildung oder die Gerinnung von einer Situation der Kontingenz, aber auch der Übergang von einer Kontingenzform in die andere, können mittels der Metaphorik des Meeres elegant beschrieben werden, indem etwa ein sich beruhigender oder ein aufbrausender Ozean evoziert wird oder indem zunächst der Schiffbruch, dann der Zuschauer des Schiffbruchs in den Blick genommen wird. Die gegenüber einem Begriff deutlich größere Variabilität der Metapher kann also literarisch genutzt werden, um ähnliche, aber nicht identische Zusammenhänge (der Kontingenz) aufeinander zu beziehen, sie kann jedoch auch genutzt werden, um auf spielerische Weise wissenspoetologisch auszuloten, in welchen Erscheinungsformen das Kontingente überhaupt gedacht werden kann. Ihr Vorteil gegenüber dem Begriff liegt also gerade in ihrer Nähe zum Empirischen, zum Singulären und Idiosynkratischen – also darin, dass sie anders als der Begriff kein abstraktes Schema, keine Kategorie zu vorgängigen empirischen Inhalten bildet. Darin liegt auch eine Erklärung für die unterbliebene Begriffsbildung in den literarischen Texten des 18. Jahrhunderts, die sich mit dem Thema der Kontingenz auseinandersetzen. Die Literatur, die nie nur das Allgemeine, sondern parallel dazu stets auch das Singuläre behandelt, hat ihr eigene Mittel, um das Kontingente zu erfassen und zu ergründen, die angemessener und geeigneter für ihre Zwecke sind. Gerade die Meeresmetaphorik in Schillers Theorie des Erhabenen ist damit ein herausragendes Beispiel für das, was Blumenberg als ‚absolute Metapher’31 bezeichnet. Die Meeresmetaphern – und es sei darauf hingewiesen, dass Schiller noch mit anderen Metaphern als dieser zur Ergründung des Kontingenten und der Kontingenz arbeitet – bieten ein „Mehr an Aussageleistung“32 gegenüber denkbaren Begriffen zur Kontingenz.

31 Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie 1998, S. 10. 32 Ebd., S. 9.





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Sie sind genau jene „katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren“, von der Blumenberg in den Paradigmen zu einer Metaphorologie spricht.33

So stellt sich die Bedeutung der Meeresmetaphern in Schillers Theorie des Erha-

benen und seinem Nachdenken über Kontingenz erst in vollem Umfang dar, wenn man Blumenbergs Verweis34 auf den – Schiller wohlbekannten – § 59 von Kants Kritik der Urteilskraft folgt. In diesem Paragraphen der KdU befasst sich Kant mit der Hypotypose, also der Veranschaulichung eines (abstrakten) Sachverhalts durch eine konkrete sprachliche Form. Dabei unterscheidet er zwischen der schematischen und der symbolischen Versinnlichung. Bei der schematischen Versinnlichung werde „einem Begriffe, den der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben“ 35 Bei der Schemabildung wird demnach der vom Verstand beschrittene Weg, also das Bilden von Begriffen mittels der Aggregation mannigfaltiger empirischer Eindrücke, rückwärts beschritten. Das abstrakte Schema wird durch ein konkretes (diesem Schema ja auch zugrunde liegendes) Beispiel versinnbildlicht. Die sich auf Vernunftbegriffe beziehende symbolische Versinnlichung könne hingegen nicht auf diese Weise funktionieren, „da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann.“36 Vernunftbegriffe sind also nicht durch empirische Beispiele repräsentierbar. Sie sind nach Kant nur analogisch darstellbar, indem „die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden.“37 Zu bedenken ist nun, dass Schillers Meeresmetaphorik zum einen konkrete Anschauungen für Formen des Erhabenen liefert, wobei das Erhabene als Eigenschaft von Objekten wie auch als sich innerhalb einer Handlungs- beziehungsweise Ereignisfolge ablaufender psychologischer Mechanismus begriffen wird. Zum anderen verweist das Erhabene aber auch, wie beschrieben, auf die im Kontingenzdiskurs des 18. Jahrhunderts angelegte Reflexion des Zusammenspiels von Möglichkeit, Unmöglichkeit, Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit. Bei ‚Kontingenz’ als der Oberkategorie dieser in Kants Kategorientafel allesamt als Verstandesbegriffe ausgewiesenen Kategorien handelt es sich in dieser Per 33 Ebd., S. 11. 34 Ebd. 35 KdU § 59, A 251. 36 Ebd.

37 Ebd., A 253.





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spektive folglich um einen Vernunftbegriff.38 In der Tradition des Lukrez gebraucht Schiller nun die Meeresmetaphorik zur Darstellung des abstrakten Phänomens der Kontingenz und damit zu Darstellung eines – folgt man Kant – Vernunftprinzips. Zusammengenommen heißt dies nicht weniger, als dass die Meeresmetaphorik bei Schiller eine doppelte Funktion erfüllt: In Bezug auf Meeresmetaphorik fungiert das Erhabene als Schema und in Bezug auf das Kontingente fungiert die Meeresmetaphorik als Symbol.39 Damit weist die Meeresmetaphorik das gesamte Erhabenheitsparadigma als eine indirekte Darstellung von Kontingenzformen aus. Die Meeresmetaphern versprachlichen und verbinden den doppelt-abstrakten Zusammenhang aus der SchemaInhalt-Relation des Erhabenheitskonzepts und den zu dieser Relation analog konstruierten Kontingenzerscheinungen. Für die Rezipierenden von (und die Forschung zu) Schillers Texten schafft die Bildlichkeit der Metaphern einen Zugang zu diesen abstrakten Bezügen zwischen Erhabenem und Kontingenten und zwischen Schema und Symbol. Generell lässt sich damit festhalten: In Schillers Konzeption des Erhabenheitsparadigmas wird Kants (binäre) Subkategorisierung keineswegs zurückgewiesen, sie wird jedoch als eine nicht alleinig mögliche Unterscheidung kenntlich gemacht. Schiller belegt damit im Grunde, dass es möglich ist, auch auf andere Weise(n) als Kant über das Erhabene zu sprechen. Schiller verdeutlicht dies auch anschaulich, indem er Kants binäre Konzeption des Erhabenen differenziert, verzeitlicht und poetisiert. Er reichert das Paradigma mit Kontingenz an und indem er Kants Unterscheidung als eine kontingente Unterscheidung (eine mögliche, aber nicht notwendige Unterscheidung) ausstellt, überträgt im Grunde das schon von Leibniz am Gegenstand der Welt – welche nicht notwendig so sein muss, wie sie ist, sondern welche eine (wenn natürlich auch die beste) Wahl aus möglichen

38 „Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die

Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgend einen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie vom Verstand geleistet werden kann“ (KrV A 302). 39 Als Symbol für Kontingenz fungiert die Meeresmetaphorik deshalb, weil – in den treffenden Worten Kants formuliert – zwischen beiden „keine Ähnlichkeit [ist], wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren“ (KdU § 59, A 253). Die Metaphorik des Meeres fügt sich dabei (formal) als ein Scharnier zwischen dem Empirischen und dem Intelligiblen passgenau in die Balance-Konzeption der Weimarer Klassik ein. Dass dies gerade innerhalb der Erhabenheitstheorie geschieht, die Schiller (inhaltlich) gerade als Theorie des Bruchs gegen die Balance-Konzeption des Schönen positioniert, verdeutlicht indes die komplexe Dialektik im Theoriegebäude Schillers (gerade auch im Zusammenhang mit seinem Nachdenken über die Kontingenz und das Kontingente).





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Welten darstellt – praktizierte Verfahren der Modalisierung auf den Gegenstand des Erhabenen. Schon anhand dieses kurzen Blicks auf Schillers Theorie des Erhabenen wird also erkennbar, dass dieser die Techniken der Ausdifferenzierung, der Verzeitlichung und der Poetisierung gebraucht, um ein schon vorher (eben u.a. bei Kant) ausgearbeitete Paradigma für Kontingenzen zu öffnen und mit bereits ebenfalls schon vorhandenen Semantiken des Kontingenten und der Kontingenz in Verbindung zu bringen. Eben der Genealogie dieser Techniken innerhalb Schillers Werk dezidiert nachzugehen macht sich diese Arbeit zur Aufgabe. Zielsetzung, Methodik und Aufbau der Arbeit Für die Konzeption der vorliegenden Arbeit ergibt sich daraus: 1. Die Qualität der Kontingenzdarstellungen in Schillers Texten lässt sich sinnvoll nur unter Betrachtung ihres jeweiligen Kontextes erfassen. Die Scharnierfunktion der Meeresmetaphorik im theoretischen Gebäude Schillers kann, wie oben gezeigt, beispielsweise nur sichtbar werden, wenn man sie im Rahmen von Schillers Erhabenheitsbegriffen betrachtet und dennoch als Kontingenzmarker auffasst. In anderen Zusammenhängen werden Meeresmetaphern andere Funktionen erfüllen – ihr diskurshistorisch gesicherter Status als Kontingenz anzeigende sprachliche Form kann dabei jedoch stets vorausgesetzt werden. Notwendig für eine sinnvolle Untersuchung von Schillers Nachdenken über Kontingenz und das Kontingente ist es daher, von den einzelnen Textstellen, den singulären Kontingenzphänomenen in Schillers Werk auszugehen und deren eigenständigen Charakter nicht einzuebnen. Dies ist schon allein deshalb von Belang, weil das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit nicht darin liegen kann, zu belegen, dass sich Schiller mit Kontingenz auseinandersetzt beziehungsweise, dass Kontingentes und Kontingenz in seinem Werk thematisch werden. Dies wäre, wie erwähnt, eine letztlich kaum zu erwähnende Grundbeobachtung, die zudem noch für zahlreiche Texte des 18. Jahrhunderts Geltung beanspruchen kann. Es muss hier vielmehr darum gehen, die Art und Weise, wie Schiller über Kontingenz nachdenkt, die Methoden, mit denen er Wissen über Kontingenz gewinnt und die Techniken, die er anwendet, um das Prinzip literarisch und ästhetisch fruchtbar zu machen, en detail und in systematischer Betrachtung zu untersuchen.





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2. Gleichzeitig sind diese einzelnen Textstellen nur angemessen zu verstehen, wenn man den diskurshistorischen Kontext, in den sich Schiller mit ihnen einschreibt, berücksichtigt. So erschließt sich Schillers methodisches Vorgehen bei der Erstellung seines Kontingenzparadigmas in den Arbeiten zum Erhabenen nur, wenn man den Prätext, Kants Kritik der Urteilskraft, als den entscheidenden Ausgangspunkt dieser Theoriebildung berücksichtigt. Kants binäre Einteilung der Erhabenheitsformen ist eine notwendige Voraussetzung, um Schillers Anreicherung der Systematik mit Beschreibungsmöglichkeiten (damit auch die Anreicherung des Paradigmas mit Kontingenz) zu erkennen. Die vorliegende Arbeit nimmt es sich daher zum Anspruch, die diskursiven Formationen, in welche die einzelnen Textstellen, in denen Schiller über Kontingenz reflektiert, so weit wie möglich in die Analyse mit einzubeziehen. Selbstverständlich müssen hier stets Selektionsentscheidungen getroffen werden, da das Archiv an Aussagen, in welches sich Schillers Texte einfügen, naturgemäß jede Darstellbarkeit übersteigt. Welcher Kontext herangezogen wird, hängt dann vom jeweiligen Einzelfall ab. 3. Weil frühe Schillertexte dabei bedeutende Bestandteile der diskursiven Formation späterer Schillertexte bilden, weist die Arbeit im Wesentlichen einen chronologischen Aufbau auf. Dies hat den Vorteil, dass die Kapitel, die dem jeweiligen Kapitel vorangehen, automatisch als dessen Kontexte betrachtet werden können. Somit liegt neben den vielfach in die Analyse integrierten intertextuellen Bezugnahmen auf Texte anderer Autoren stets eine weitere Referenzebene vor. An einigen Stellen der Arbeit wird diese jedoch nicht nur implizit vorausgesetzt, sondern nochmals direkt ausgeführt, etwa wenn im letzten Abschnitt die Pflanzenmetaphern vorheriger Kapitel nochmals zusammenfassend aufgegriffen werden. Gleiches gilt etwa für den Rückgriff auf Schillers Dissertation Über die Unterscheidung von entzündungsartigen und Faulfiebern im Kapitel zur Braut von Messina. Innerhalb der einzelnen Abschnitte der Dissertation kommt es jedoch aus Gliederungsgründen hin und wieder zu leichten Abweichungen vom – sonst generell geltenden – Prinzip der Chronologie. Das der Arbeit zugrundeliegende Korpus folgt diesem Gesichtspunkt. Es wurden jeweils repräsentative Werke zu den drei entscheidenden Werkphasen Schillers ausgewählt, anhand derer sich dessen Kontingenzdenken besonders anschaulich zeigen lässt. 4. Die oben sehr dominant angeführte Meeresmetaphorik als ein maßgeblicher Kontingenzmarker wird generell im Analyseteil der Arbeit von großer Bedeutung sein. Dies zeigt sich schon daran, dass sich sowohl dessen erstes als auch sein letztes Kapitel mit



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ihr befassen. Dennoch greift Schiller auf zahlreiche weitere (poetische) Verfahren zurück, um Kontingenz zu ergründen und darzustellen. Die vorliegende Arbeit hat zum Anspruch, auch die Varianz der Möglichkeiten Schillers, Kontingenz sprachlich zu adressieren beziehungsweise zu benennen, sichtbar zu machen. Daher werden etwa auch Metaphoriken der Pflanze oder des (Glücks-)spiels in den engeren Blick genommen. Zudem werden begriffliche Zugänge zum Thema Kontingenz, die beispielsweise über semantische Veränderungen etwa am Zufallsbegriff erfolgen, eine wichtige Rolle in den Analysen spielen. 5. Am einführenden Beispiel zu Schillers Theorie des Erhabenen wurde zudem deutlich, dass Kontingenz in Schillers Werk auf verschiedenen, unbedingt voneinander zu unterscheidenden Ebenen rekurriert. Bei der Anreicherung der Kant’schen Phänomenologie des Erhabenen mit weiteren Beschreibungsmöglichkeiten handelt es sich um ein methodisches Verfahren, welches eine Kontingenzsteigerung mit sich bringt. Die Meeresmetaphern in Schillers Theorie des Erhabenen liefern hingegen sprachliche Beschreibungsmöglichkeiten für bestimmte Formen von Kontingenz. Beim Erhabenen als einem Phänomen, welches die Begegnung von Subjekten mit dem ihnen Unverfügbaren (und damit Kontingenten) beschreibt, handelt es sich wiederum um eine inhaltliche Dimension: Kontingenz wird hier thematisch, ohne als solche direkt benannt zu werden. Gerade dem Zusammenspiel dieser verschiedenen Ebenen will die vorliegende Studie intensiv nachgehen. Eine wichtige Ausgangsthese der Arbeit lautet, dass sich Schiller dieser Ebenendifferenzen in der Beobachtung von Kontingenz bewusst war und dass er sie verwendet, um sich dem Phänomen der Kontingenz gerade über reflexive Bezüglichkeiten zwischen diesen Ebenen zu nähern. Ohne diese Mehrfachrekurrenz von Kontingenz zu berücksichtigen, könnte man etwa Schillers Steigerung der Begriffsformen, mit denen über Erhabenes gesprochen werden kann, für eine banale Differenzierungsleistung halten. Die Ausweitung der binären Logik Kants, die insbesondere durch den Einbezug der Zeitkomponente im Erhabenen der Handlung zur Etablierung eines komplexen Paradigmas führt, wird überhaupt erst dann als Technik der Kontingenzanreicherung erkennbar, wenn man berücksichtigt, dass auch auf der inhaltlichen und auf der sprachlich-metaphorischen Ebene von Kontingenz die Rede ist. Nicht immer fallen alle drei Ebenen in einem Zusammenhang so idealtypisch ineinander, wie dies in dem einführenden Beispiel hier der Fall ist. Die Arbeit legt je



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doch Wert darauf, Schillers Verhandlung von beziehungsweise seinen Umgang mit Kontingenz auf jeder der drei genannten Ebenen zu untersuchen. Der Korpus der Arbeit umfasst daher explizit auch methodologische Texte wie etwa die Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?. Auch wird etwa die Methodik Schillers in den medizinischen Schriften auf ihr Verhältnis zum Prinzip der Kontingenz analysiert. Der Blick auf die den Schriften Schillers zugrunde liegenden Verfahrensweisen soll den in der Arbeit dominierenden Fokus auf begriffliche und metaphorische Signifikationslogiken sowie inhaltliche Thematisierungen des Kontingenten und der Kontingenz erweitern. 6. Die Verflechtungen dieser Ebenen der Kontingenz in Schillers Werk führen zu einer beachtlichen Komplexität, die vollständig darzustellen die Grenzen des sinnvoll Darstellbaren überschreiten würde. Der Anspruch der Arbeit liegt dementsprechend auch nicht darin, das Kontingenzdenken Schillers in seiner Gesamtheit abzubilden. Es soll hier vielmehr darum gehen, die wichtigsten Formen dieses Denkens systematisch zu erfassen. Dies erfordert dann auch Auswahlentscheidungen sowohl in Hinblick auf das zu untersuchende Textkorpus als auch in Hinblick auf inhaltliche Gesichtspunkte. Die Textauswahl ist zudem durch den Gesichtspunkt bestimmt, dass verschiedene Werkphasen Schillers in Hinblick auf das ihnen zugrundeliegende Kontingenzdenken befragt werden sollen. Es werden daher im ersten Kapitel des Analyseteils die drei frühsten Dramen Schillers – also Die Räuber, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua und Kabale und Liebe untersucht, das zweite Kapitel befasst sich mit einer repräsentativen Auswahl historischer Texte Schillers, der Vorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, dem Einleitungstext Universalhistorische Übersicht zu den Kreuzzügen und der großen historischen Monographie Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung. Das dritte Kapitel schließlich befasst sich mit einem zentralen Bestandteil von Schillers Beitrag zur sogenannten ‚Weimarer Klassik’, seinen Schriften zum Erhabenen und demjenigen der nach 1795 verfassten Dramen, der Braut von Messina, in welchem (so die These) Schillers Kontingenzdenken losgelöst von engen historischen Kontexten am sichtbarsten zutage tritt. Der Ansatz, die verschiedenen Werkphasen Schillers in der Textauswahl zu berücksichtigen, folgt dabei auch einer Beobachtung Rüdiger Campes hinsichtlich des, sich um 1700 allgemein revolutionierenden, Nachdenkens über Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit. An der Neubestimmung dieser beiden Komplexe hätten nämlich



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„viele, aus sehr unterschiedlichen Bereichen und mit sehr unterschiedlichen Absichten [] mitgewirkt“.40 Ähnliches gilt – so die These diese Arbeit – auch für das Nachdenken Schillers über das in thematischer und methodischer Nähe (zum von Campe umfassend beschriebenen) Wahrscheinlichkeitsdiskurs des 17. und 18. Jahrhunderts stehende Phänomen der Kontingenz. Natürlich handelt es sich bei Schiller um einen einzelnen Autor. Die Annahme lautet aber, dass Schiller sein Kontingenzdenken gerade über die Verschiedenheit der ihm im Laufe seines Lebens zur Verfügung stehenden Fachzugänge entscheidend entwickelt und verfeinert. Eine Rolle auch in dieser Arbeit zur Kontingenz spielen dabei unter anderem die von Campe für die „probabilistische Revolution um 1700“ erwähnten Felder der Mathematik (hier in Kapitel 2.3), der Moraltheologie hinsichtlich des Glückspiels (hier in Kapitel 1.1.2), des Vertragsrechts (hier in Kapitel 1.3), des Experiments der Naturforschung (hier ebenfalls in Kapitel 1.3), der historiographischen Frage nach dem Zusammenhang von Ereignis und Kontext (hier in 2.1, 2.2 und 2.3) sowie generell natürlich auch hier im Zentrum stehend der Dichtung, Poetologie und Ästhetik.41 Das erste Kapitel der Arbeit ist dreigeteilt. Dies beruht drauf, dass zunächst Semantiken des Kontingenten und der Kontingenz in Schillers frühen Texten beschrieben werden, hier in Form von Metaphoriken des Meeres und des Fluiden (Kapitel 1.1.1), der Metaphorik des (Glücks-)Spiels (Kapitel 1.1.2) und der Motivik des Theatralen (Kapitel 1.1.3). Indem die semantische Arbeit Schillers am Kontingenzphänomen an den Beginn der Arbeit gestellt wird, soll aufgezeigt werden, dass das Phänomen von Schiller – auch ohne begriffliche Benennung – systematisch erschlossen wird. Ist dies deutlich geworden, lassen sich auch in den Methodiken der medizinischen oder historischen Schriften oder den Strukturprinzipien der literarischen Texte Bezüge zum Komplex der Kontingenz plausibel sichtbar machen, die sonst als zufällige Konstruktionsmerkmale der Texte (ohne klaren Bezug zum Thema Kontingenz) erscheinen könnten. Den dritten Teil des ersten Kapitels bildet ein ausführliches Close Reading der Anekdote Eine großmütige Handlung. Unter Einbezug von diskursiven Kontexten sollen hier die vorher gewonnenen Erkenntnisse an einem Einzeltext überprüft werden. 7. Die aus sich den reflexiven Bezügen zwischen Kontingenz-Inhalten, Kontingenzsemantiken und Verfahren der Kontingenz ergebende Komplexität führt auch zu der

40 Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist 2002, S. 11. 41 Vgl. ebd., S. 11–12-





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Notwendigkeit einer Eingrenzung des thematischen Fokus’ dieser Arbeit. Generell sind die Kapitel (im Falle des ersten Kapitels: die Unterkapitel 1.1 und 1.2) dreiteilig aufgebaut. Dabei wird im jeweils ersten Teil entweder eine Praxis oder ein theoretischer Zugang Schillers zum Phänomen der Kontingenz untersucht. Der jeweils zweite Teil nimmt dann eine demgegenüber strukturellere Dimension in den Blick. Untersucht werden hier weniger Phänomene oder Verfahren, sondern etwa Handlungs- und Zeitstrukturen dramatischer Texte oder Schillers Vorstellung vom Zusammenspiel von Kontingenz und Ordnung in historischen Makrozusammenhängen. Im Falle des letzten Kapitels der Arbeit geschieht dies im Rahmen der Auseinandersetzung mit einer einschlägigen Forschungsposition, doch auch hier wird die strukturelle Dimension leitgebend sein. Der dritte Teil eines jeden Kapitels behandelt im Wesentlichen dann Dimensionen der Theatralität und der Ästhetik in Schillers Texten. Lediglich das letzte Unterkapitel des Analyseteils (Kapitel 3.3) weicht hiervon etwas ab: Die ausführliche Untersuchung der Meeresmetaphorik in der Braut von Messina erfolgt unter dem Anspruch alle drei hier genannten Dimensionen zu berücksichtigen und somit auch eine Art erneute42 Zusammenführung derselben zu leisten. Ausgewählt wurden diese drei thematischen Komplexe, weil sie zum einen in den untersuchten Texten eine bedeutende Rolle spielen und weil sie zum anderen drei verschiedene Dimensionen der Kontingenz wie auch der Literatur betreffen. Mit dem ersten Thema werden unter anderem produktionsästhetische, theoretische oder wissenspoetologische Fragen in den Blick genommen (womit dieses den heterogensten der drei Komplexe bildet). Das zweite Thema fokussiert eher Fragen der Textkomposition. Das dritte befasst sich wiederum stark mit Schiller Einbeziehung rezeptionsästhetischer Überlegungen in seine Dichtungspraxis. Die thematische Dreiteilung ist jedoch keineswegs als trennscharfe Abgrenzung der Kapitel voneinander zu verstehen. Da die Studie stets von den Gegenständen (den einzelnen Texten) ausgeht, kommt es zwangsweise zu Überschneidungen der Themen, also etwa dazu, dass in einem Unterkapitel zu strukturellen beziehungsweise kompositorischen Gegebenheiten auch Fragen des Theatralen oder der Ästhetik behandelt werden. Genau dieser Fall liegt etwa im Kapitel zur Übersicht zu den Kreuzzügen vor, an dessen Ende auch wichtige Analysen zu Schillers Konzeptionierung monarchischer Repräsentation und dem theatralen Spiel des Monarchen stehen. Das da

42 Diese Zielsetzung verfolgt, wie erwähnt, auch schon das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit, aller-

dings noch im Hinblick auf frühe nicht-dramatische Texte Schillers.





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rauf folgende Kapitel zur Geschichte der Niederlande ist wiederum nur indirekt von Fragen nach Theatralität, Metapoetik oder Ästhetik bestimmt, sein begriffshistorischer Fokus auf den ‚Zufall’ leistet jedoch eine wichtige Vorarbeit zu dem letzten Abschnitt der Arbeit, in dem wiederum das Ästhetische eine bedeutende Rolle in allen drei Unterkapiteln einnimmt. Dies bedeutet, dass die Dreiteilung der Kapitel weniger einer strikten Trennung der drei Themenkomplexe Verfahren/Phänomene – Strukturen – Theatralität/Ästhetik folgen, dass aber jeder Abschnitt alle drei inhaltlichen Komplexe ausreichend berücksichtigt. Auch wenn hier keine distinkte Trennung vorliegt, verteilt sich die Analyse der drei Themen in jedem Kapitel jedoch wie beschrieben jeweils analog auf die drei Unterkapitel. Das heißt, dass die Arbeit neben einer chronologischen Lesart auch eine themengeleitete Lesart erlaubt (der gemäß man nur die zugehörigen Unterkapitel – also etwa jeweils das zweite Unterkapitel eines jeden Abschnitts – zu lesen hätte). 8. Quer zu diesen drei Thematiken stehen zudem die Kategorien des Gesellschaftlichen und der Zeitlichkeit. Die gesellschaftliche Dimension gerät bei einer Betrachtung des Kontingenzdenkens Schillers fast von selbst in den Blick. Wie gezeigt werden soll, bezieht Schiller die Inhalte und die verwendeten literarischen Strategien häufig auf soziale oder gesellschaftliche Kontexte. Eine Grundthese dieser Arbeit ist zudem, dass die sich um 1800 ausdifferenzierende Gesellschaft mit einem entsprechenden Umbau der Semantiken, mittels welcher Gesellschaft beschrieben wird, konvergiert. Zunehmende Kontingenzen in den Gesellschaftsstrukturen und in den subjektiven Wahrnehmungen des Gesellschaftlichen provozieren – so die These – eine zunehmende Reflexion des Kontingenten und der Kontingenz in literarischen Texten, die sich als Beobachtungen der Gesellschaft betrachten lassen. Hier folgt die Arbeit Niklas Luhmanns in der Reihe Gesellschaftsstruktur und Semantik43 entwickelten wissenssoziologischem Ansatz, passt diesen jedoch an die der Arbeit zugrundeliegende literaturwissenschaftliche Betrachtung der Werke Friedrich Schillers an. In die Betrachtung des Gesellschaftlichen eingeschlossen ist zudem eine Betrachtung des Subjektiven, das – wie zu zeigen sein wird – bei Schiller (der Dichotomie Besonderes/Allgemeines folgend) bisweilen als Gegenpol zum Gesellschaftlichen begriffen wird, an anderen



43 Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bde. 1–4, 1980–1995.





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Stellen (in Anlehnung an Rousseaus identitätstheoretische Vorstellungen) als analoges oder isomorphes Doppel desselben fungiert. Wichtiger noch als diese gesellschaftliche Dimension ist für die vorliegende Arbeit indes die Kategorie der Zeitlichkeit. Diese fließt zwar schon stark in die zweite der inhaltlichen Themen, die Betrachtung von Handlungs- und Ordnungsstrukturen ein. Zeit und Kontingenz sind jedoch generell als eng miteinander verbundene Prinzipien zu begreifen. Dies wird deutlich, wenn man sich etwa das bereits erwähnte Verfahren der Mehrfachmodalisierung vor Augen führt,44 in dem die Zeit als Modalisierungsfaktor und damit als Faktor der Kontingenzsteigerung wirkt, etwa wenn die Mehrfachmodalisierung handlungstheoretisch als Temporalisierung von Komplexität45 in Erscheinung tritt. Beispielsweise wäre dies dann der Fall, wenn man statt eine Entscheidung zu fällen, diese in die Zukunft verschiebt, um keine der Entscheidungsmöglichkeiten auszuschließen. Man vermeidet auf diese Weise eine Determination und stellt Kontingenz auf Dauer. Das eingehende Beispiel aus der Theorie des Erhabenen belegt zudem ein Bewusstsein Schillers für die Bedeutung des Zeitfaktors im Zusammenhang mit Kontingenz. Gerade über das Erhabene der Handlung integriert er einen solchen in sein Kontingenzparadigma. Darüber hinaus verleiht der Zeitfaktor dem Kontingenten auch eine für literarische Darstellungen passgenaue Form (wenn man von literarisch dargestellten Handlungs- oder Ereignisfolgen ausgeht). Die Betrachtung der Zeitkomponente in all ihren Facetten (sei es etwa als geschichtliche Zeit, als singulärer Moment, als Epoche, als Differenz aus Plan/Zufall etc.) wird daher in allen Kapiteln der vorliegenden Arbeit eine wichtige Rolle spielen. Zum theoretischen Zugang – Systemtheorie, moderner Kontingenzbegriff Wie beschrieben, besteht der dieser Arbeit zugrundeliegende Kerngedanke darin, dass die literarischen Darstellungsmöglichkeiten (von Kontingenzphänomenen) das begrifflich Fassbare deutlich übersteigen. Daher werden die Analysen in jedem der Kapitel konsequent ihren Ausgangspunkt im literarischen Gegenstand nehmen und über durchaus auch kleinteiligere Analysen der Texte Schillers den Variantenreichtum und die Systematiken seines Kontingenzdenkens zu erschließen suchen. Dennoch ermöglichen prä

44 Vgl. nochmals Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 2, 1975, S. 140. 45 Vgl. hierzu etwa Luhmann, Soziale Systeme 1987, S. 76–79.





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zisere Begrifflichkeiten und Denkfiguren, diese Varianten und Systematiken genauer zu konturieren und sichtbar zu machen. Die Arbeit greift hier in der Regel auf Begriffe und Theoriezusammenhänge aus der Systemtheorie Niklas Luhmanns zurück. Dies liegt vor allem daran, dass Luhmann einen elaborierten Begriffsapparat zum systemtheoretisch bedeutsamen Begriff der Kontingenz entwickelt hat und dass er Kontingenz (wie auch dem damit verwandten Phänomen der Komplexität) intensiv unter dem für die vorliegende Arbeit so relevanten Gesichtspunkt der Zeit betrachtet. Die Arbeit verfolgt jedoch kein systemtheoretisches Programm, keine systemtheoretische Fragestellung. Dies führte letztlich nicht zur Produktion von literatur-, sondern von sozialwissenschaftlich relevante Ergebnissen. Statt also eine spezifische Theorie auf die Texte Schillers zu applizieren, werden die einzelnen – nach den oben beschriebenen literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgewählten – Textstellen Schillers dann unter Rückgriff auf Theorieansätze Luhmann analysiert, wenn dies zu literaturwissenschaftlich fruchtbaren Ergebnissen führen kann. Dies bedeutet auch, dass die für die Arbeit relevanten systemtheoretischen Zusammenhänge nicht hier am Beginn der Arbeit ausgeführt werden sollen, sondern dass die Theorie den ihr zukommenden Ort im jeweiligen Kapitel findet, an der sie jeweils geeignet ist, zu Analysegewinnen bei der Deutung spezifischer Textstellen aus Schillers Werk beizutragen. Stark theoriegeleitet ist jedoch das erste Kapitel des Analyseteils (1.1.1). Dessen Funktion besteht darin, sowohl einen Überblick über Schillers frühes Kontingenzdenken als auch eine Einführung in die moderne Kontingenztheorie zu bieten.

Etwas anders verhält sich dies im Hinblick auf die Leitkategorie der vorliegenden

Studie: den Kontingenzbegriff. Die oben bereits erläuterten begrifflichen Unklarheiten, die im 18. Jahrhundert eine klare Bezeichnung des Kontingenten und der Kontingenz versperrten, wirken nämlich bis heute nach. Die lange und wechselvolle, bis auf Aristoteles zurückreichende, Begriffsgeschichte sowie die Allgemeinheit der im Kern nur ex negativo definierten Kategorie führten dazu, dass sich in der Forschung noch immer keine allgemein gebräuchliche Verwendung durchsetzen konnte. Dies hat zur Folge, dass in der Rede über Kontingenz auch heute noch von zwar durchaus verwandten, aber doch nicht identischen Phänomenen gesprochen wird. Daraus ergibt sich für jede Arbeit, die sich mit dem Begriff der ‚Kontingenz’ auseinanderzusetzen versucht, die Notwendigkeit, zunächst offenlegen zu müssen, wovon sie überhaupt zu sprechen gedenkt. Die erforderliche semantische Differenzierung soll hier über den historischen Bedeutungswandel, den der Begriff ‚Kontingenz’ durchlaufen



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hat, stattfinden. Dabei werden die Schwerpunkte dem Forschungsinteresse der Arbeit entsprechend gesetzt. Der Überblick über die historische Genese des Kontingenzbegriffes lässt sich mit einem Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu dem Thema verbinden, in welchem die Positionierung dieser Studie und deren Abgrenzung zu anderen Arbeiten erfolgen kann. Dies bildet eine Grundlage, auf welcher schließlich ein für die Analyse von Schillers Werk geeignetes und auf dem Kontingenzbegriff aufbauendes semantisches/begriffliches Inventar definiert werden kann. Forschungskonsens ist dabei zunächst: Der deutsche Begriff ‚Kontingenz’ hat seine Wurzeln im lateinischen ‚contingentia’ einer Substantivierung des aus ‚con’ (dt. „zusammen“) und ‚tangere’ (dt. „sich berühren“) gebildeten Verbs ‚contingere’, was dementsprechend vom „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ auch mit „zusammenfallen (sich) berühren"46 übersetzt wird. Fritz Mauthner führt dazu zusätzlich noch weitere Bedeutungsvarianten an: trans.: berühren, ergreifen, ansteckend oder anstoßend berühren, ein Ziel erreichen, metaph. einen angehen, einem zustehen, mit einem verkehren, einen treffen; intrans.: zutreffen, eintreffen, eintreten (von Ereignissen)47

Bemerkenswert sind hier insbesondere die akzidentielle Semantik des ‚Ansteckens‘ sowie die finalisierte Form des ‚Erreichens eines Zieles’, wird doch erstere in der historischen Perspektivierung des Begriffs ‚Kontingenz’ noch eine Rolle spielen und weist doch die zweite eine (im Kontrast zu einer noch heute weit verbreiteten negativ konnotierten Kontingenzauffassung) eindeutig positive Konnotation im Sinne des Gelingens beziehungsweise Bewältigens einer Herausforderung auf. Zudem ist hervorzuheben, dass sich alle hier genannten Bedeutungen auf wirklich erreichte Sachverhalte beziehen, die Modalkategorie der Möglichkeit in ihrer Semantik also noch nicht transportiert wird.48 Im Deutschen hingegen ist eine verbale Verwendung wie im Fall des ‚contingere’ nicht mehr möglich, der Begriff kann lediglich substantivisch oder adjektivisch gebraucht werden, indem von ‚Kontingenz’ gesprochen wird oder davon, dass etwas ‚kontingent ist’. Die bis heute disparate Verwendung von ‚Kontingenz’ beruht jedoch unter anderem auch darauf, dass die lateinischen Begriffe zwar schon länger existierten, eine

46 Vgl. Hoering, Artikel ‚Kontingenz‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. IV 1973, Sp. 1027. 47 Mauthner: Artikel ‚Zufall’, in: Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1923, S. 497.

48 Vgl. Becker-Freyseng, Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus ‚contingens’ 1938, S. 8.





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zusätzliche Schärfung dann aber noch im Prozess der Übersetzung der aristotelischen Modalbegriffe um 400 nach Christus erhielten49. So verwendet Marius Victorinus den Begriff ‚contingens’ in seiner AristotelesÜbersetzung des griechischen ‚endechesthai’ erstmalig im Sinne von ‚möglich sein’. Bei Boethius, der bei seinen Aristoteles-Kommentaren wohl auch die Arbeiten Marius Victorius’ konsultiert,50 taucht ‚contingens’ schließlich in drei parallel gebrauchten Bedeutungsvarianten auf, nämlich zum einen in der des auf der lateinischen Ursprungsbedeutung von ‚contingere’ beruhenden akzidentiellen ‚Sich-Ereignens’, zum anderen in der des von Marius Victorinus übernommen ‚Möglichseins’ und schließlich ausgehend von einem Rückgriff auf den Gebrauch von ‚endechomenon’ in Aristoteles Originaltext auch erstmalig in der bis heute noch am häufigsten verwendeten als ‚etwas, das weder notwendig, noch unmöglich ist’.51 In dieser Homonymie sind die bis heute existierenden terminologischen Schwierigkeiten bereits angelegt, muss doch jede Rede über das Kontingente offenlegen, ob sie (1) den Ereignischarakter der Formulierung fokussiert, eine Position die mittelbar zu der weit verbreiteten Praxis der Gleichsetzung von Kontingenz und Zufall beziehungsweise der Zuordnung des Zufalls zum Bereich der Kontingenz führt.52 Daran schließt sich auch die Frage an, ob (2) das Kontingente nur etwas Wirkliches bezeichnen soll, das auch anders möglich, also nicht wirklich sein kann, oder ob es auch ein Mögliches miteinschießt, das nicht wirklich ist, aber wirklich werden könnte. Zudem ist zu klären, inwiefern (3) die Kategorie des Möglichen auch das Notwendige umfasst oder von diesem abzugrenzen ist. Gerade weil die weitere Rezeption sich nicht ausschließlich auf die Übersetzungen Boethius’ stützt, sondern immer wieder auch den originalen Text des Aristoteles konsultiert, rekurriert die Forschung in der Frage der begrifflichen Verwendung bis heute ganz entschieden auf die maßgeblichen Stellen in Aristoteles Werk, ohne dass dies jedoch bisher zu einer allgemein akzeptierten Verwendungsweise des Begriffes ‚Kontin 49 Vgl. Vgl. Hoering, Artikel ‚Kontingenz‘, in: Historisches Wörterbuch der Wörterbuch Philosophie Bd. IV

1973, Sp. 1028f.

50 Vgl. hierzu die Diskussion bei Becker-Freyseng, Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus ‚contin-

gens’ 1938, S. 8. 51 Vgl. Vogt, Kontingenz und Zufall 2011, S. 50. 52 Diese

Gleichsetzung findet sich – wie bereits erwähnt – am prominentesten in der Kategorientafel Kants, wird jedoch beispielsweise auch in Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen 1984, S. 38 verwendet. Vgl. zu dieser Textstelle auch die Kritiken von Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie 2005, S. 48 FN 164 und Vogt, Kontingenz und Zufall 2011, S. 51. Auch Böhme unterscheidet in Contingentia. Transformationen des Zufalls 2015 nicht trennscharf zwischen den beiden Begriffen; vgl. dort etwa S. 25.





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genz’ geführt hätte. Dies liegt insbesondere daran, dass sich der differierende Gebrauch von ‚contingens’ bei Marius Victorinus und Boethius vor allem aus einer uneinheitlichen Verwendung des Möglichkeitsbegriffes bei Aristoteles ergibt. Im Zentrum stehen dabei die Verwendungsweisen des Begriffes ‚endechomenon’ in De interpretatione 13 (also der Hermeneutik) und in der Analytica Priora 13.

Die Bedeutung des 13. Kapitels der aristotelischen Hermeneutik im Generellen

wie auch dessen Relevanz für die Frage der Kontingenzthematik im Besonderen werden in der Forschung immer wieder betont. So pflichtet etwa Weidemann der Aussage Gohlkes bei, der das Kapitel als „eines der interessanten im ganzen Organon“53 bezeichnet. In diesem 13. Kapitel entwickelt Aristoteles nämlich eine Modalitätentabelle, in welcher er die Begriffe des Notwendigen, des Möglichen und des Unmöglichen in eine differenzierte Beziehung zueinander setzt. Dabei verwendet er für den Bereich des Möglichen zwei Begriffe in nahezu synonymer Weise, zum einen das bereits erwähnte ‚endechomenon’, zum anderen das in der Regel mit „vermögend“ wiedergegebene ‚dynaton’.54 Beide Formulierungen werden im 13. Kapitel der Hermeneutik als prädikative, nicht als propositionale Möglichkeitsbegriffe verwendet, 55 sie beziehen sich also nicht auf die im jeweiligen Satz getroffene Aussage, sondern auf das Subjekt des Satzes.56 Wenn in einer prädikativen Verwendung beispielsweise davon die Rede ist, dass es „für X möglich ist, zu sein“, so wird hier im Verglich zum propositionalen Gebrauch im Sinne von „es ist möglich, dass X ist“ die Wirklichkeitsseite des Möglichen sprachlich (nicht logisch) leicht akzentuiert, das heißt die Formulierung evoziert die Vorstellung eines verwirklichten Möglichen. Dies gilt wohl auch, wenn man berücksichtigt, dass die Funktionsstelle des Subjekts prinzipiell natürlich auch von Abstrakta eingenommen werden kann. Die Abgrenzung zwischen den Begriffen ‚dynaton’ und ‚endechomonen’ ist nicht ganz einfach, wobei ‚dynaton’ eher den nicht verwirklichten Zustand eines Möglichen und zwar im Sinne eines Könnens oder Potentials zu fokussieren scheint, da es von Aristoteles „vorzugsweise in Verbindung mit Individuen ausgesagt [wird], wenn es um deren Fähigkeit geht, bestimmte Wirkungen bei anderen Individuen oder bei sich selbst hervorzurufen“57 und da das entsprechende Substantiv ‚dynamis’ in der Metaphysik als 53 Vgl. Weidemann, Aristoteles Bd. I,2 2002, S. 422; zitiert wird Gohlke, Die Entstehung der Aristotelischen

Logik 1936, S. 62. 54 Vgl. z.B. Nortmann, Aristoteles-Lexikon 2005, S. 144f. 55 Vgl. Weidemann, Aristoteles Bd. I,2 2002, S. 396. 56 Vgl. ebd. 57 Nortmann, Aristoteles-Lexikon 2005, S. 144f.





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ontologischer Gegenbegriff zum Wirklichen (‚energeia’) fungiert.58 Als ein Beispiel hierfür wird von Aristoteles das Vermögen eines Baumeisters angegeben, ein Haus zu bauen, das ihm, Aristoteles betont dies in seiner Metaphysik explizit, auch dann zu eigen ist, wenn er das Haus nicht baut.59 Demgegenüber scheint ‚endechomenon’ eher die Vorstellung eines realisierten Sachverhalts, der jedoch auch anders möglich ist, hervorzurufen. In der Analytica Priora definiert Aristoteles ‚endechomenon’ als „das, was nicht notwendig ist, dessentwegen aber, wenn es als vorhanden gesetzt wird, sich nichts Unmögliches ergibt.“60 Die Vorstellung von ‚endechomenon’ hat also die gedankliche Operation eines ins-Wirkliche-Setzens schon zur Voraussetzung. In der Forschung wird zwar immer wieder die logisch äquivalente Verwendung der beiden Begriffe in der Modalitätentabelle von De interpretatione 13 betont.61 Dass wenigstens leichte sprachlich-konnotative Differenzen vorliegen, legt jedoch schon allein die Tatsache nahe, dass Aristoteles zwei unterschiedliche Formulierungen verwendet, was ja bei deren völliger Identität wenig Sinn ergäbe. Der sowohl im prädikativen Gebrauch der beiden Möglichkeitsbegriffe durch Aristoteles als auch in der Konnotation des für Konturierung des lateinischen ‚contingens’ maßgeblichen ‚endechomenen’ angelegte Schwerpunkt auf dem Wirklichen (das aber auch anders möglich wäre), könnte nämlich Bedingungsfaktor dafür gewesen sein, dass in der späteren Begriffsgeschichte der Terminus ‚contingens’ ausschließlich für diesen Bereich des Realen, aber anders Möglichen reserviert werden konnte, wie es etwa bei Leibniz geschieht, welcher konträr dazu den Bereich des Nichtrealen und Bloßmöglichen durch den Begriff ‚possibile’ markiert.62 In dieser Tradition steht auch die von Kant in der Kategorientafel der Kritik der reinen Vernunft implizit entwickelte63 und bis heute in der Forschung durchaus recht verbreitete Gleichsetzung von Zufall und Kontingenz (beziehungsweise die Zuordnung des Zufalls zum Bereich der Kontingenz),64 stellt doch Zufall eine Kategorie dar, deren Ereignischarakter sie notwendig dem Bereich des Wirklichen zuweist. Dass diese Vorstellung auch noch im heutigen Sprachgebrauch nachwirkt, lässt sich anhand eines anschaulichen Beispiels verdeutlichen, welches Peter Vogt für die rein auf das Wirkliche bezogene Verwendung des Begriffes Kontingenz bildet: 58 ebd., S. 142.

59 Vgl. Met, IX,3 1046b. 60 An. pr., I, 32a. 61 Vgl. z.B. Weidemann, Aristoteles Bd. I,2 2002, S. 397f. 62 Vgl. Vogt, Kontingenz und Zufall 2011, S. 57. 63 Vgl. ebd., S. 61. 64 Vgl. FN 9.





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[Für d]iese kategorische Trennung von Möglichkeit und Kontingenz, von possibile und contingens [...] galt es [...] zwar als begrifflich zulässig zu behaupten: Es ist möglich, dass Schwäne schwarz sind. Es wäre dieser Auffassung gemäß aber sinnlos zu sagen: Es ist kontingent, dass die Schwäne schwarz sind, insofern und weil wir unterstellen dürfen, dass alle uns bekannten Schwäne tatsächlich und stets weiß sind. Da es ex hypothesi keine schwarzen Schwäne gibt, das Merkmal der Kontingenz aber nur für Wirkliches zutreffend sein kann, ist der Satz also sinnlos.65

Vogts anhand der Verwendung von Präteritum und Konjunktiv deutlich gemachte Distanzierung von diesem Sachverhalt rührt daher, dass er selbst den Gebrauch des Kontingenzbegriffes gerade auf das Bloßmögliche, also auf genau den konträren Sachverhalt, beschränkt, um dieses vom Begriff des Zufalls, den er für das Wirkliche, das auch anders möglich wäre, vorsieht, trennscharf abzugrenzen.66 Demgegenüber kann jedoch angeführt werden, dass die in seinem Beispiel deutlich gemachten sprachlichen Nuancen auch für gegenwärtige Sprachbenutzer*innen intuitiv einleuchtend sind, dass also die Formulierung, es sei kontingent, dass Schwäne schwarz sind, immer noch seltsam anmutet (was übrigens auch dann noch gilt, wenn man um die Existenz schwarzer Schwäne in der Realität weiß). Gleichwohl stünde eine solche Formulierung in keinem logischen Gegensatz zu der gängigen Definition des Kontingenten als desjenigen, welches weder unmöglich, noch notwendig ist. Dass schwarze Schwäne nicht notwendig sind, ist unmittelbar einleuchtend, dass sie (laut Vogts Beispiel)67 in Wirklichkeit noch nicht beobachtet wurden, noch kein hinreichender Grund für ihre Unmöglichkeit – handelt es sich hierbei doch um ein typisches Beispiel für ein induktives Argument.

Bei der Definition des Geltungsbereiches des Kontingenzbegriffs muss also ent-

schieden werden zwischen einer engeren Auffassung, welche Kontingenz nur wirklichen Sachverhalten beimisst und welche die sprachgeschichtlich gewachsenen Konnotationen des Begriffes berücksichtigt, und einer weiter gefassten, welche die Zuschreibung, etwas sei kontingent, sowohl für Wirkliches als auch für Nicht-Wirkliches zulässt und sich an der gesamten modallogischen Dimensionierung der Möglichkeitsbegriffe in der Aristotelischen Hermeneutik orientiert, ohne sich auf die Verengung des Begriffs ,endechomeneon’ im Laufe seiner Übersetzungstradition einzulassen. Im ersteren Fall wird die begriffliche Präzisierung zu dem Preis erkauft, dass nur Teile der aristotelischen Modalitätenlehre in den Begriff einfließen. Im zweiten Fall besteht die Gefahr, dass ideengeschichtlich relevante Zusammenhänge wie etwa Leibniz’ Vorstellung des 65 Vogt, Kontingenz und Zufall 2011, S. 55. 66 Vgl. ebd. S. 65. 67 Natürlich existieren auch schwarze Schwäne in der Wirklichkeit. Das Beispiel Vogts ist wohl eine Refe-

renz auf Karl Poppers Kritik des Induktionsschlusses, die Popper anhand des Schwan-Beispiels exemplifiziert. Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis 1973.





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Möglichen als etwas bereits Verwirklichtem oder die durch Kant im 18. Jahrhundert so wirkmächtige Kontrastierung des Notwendigen mit dem Zufälligen anstelle des Möglichen übergangen werden. In genau dieser Frage kommt es in der Forschung in Abhängigkeit vom Untersuchungsgegenstand zu deutlichen Divergenzen. Peter Vogt ist vor allem an einer distinkten Unterscheidung von ‚Kontingenz’ und ‚Zufall’ gelegen, die er, da es sich beim Zufall evidenterweise um ein sich in der Wirklichkeitsdimension abspielendes Phänomen handelt, dadurch löst, dass er den Begriff der Kontingenz ausschließlich für das nicht-reale Mögliche reserviert.68 Dies führt allerdings geradewegs dazu, dass in diesem Verständnis weder die begrifflich-historische Entwicklung des Terminus ‚Kontingenz’, noch die breite inhaltliche Dimension von Aristoteles Modalitätstheorie Eingang findet. Zudem stellt sich die Frage, ob eine trennscharfe Unterscheidung von Zufall und Kontingenz wirklich haltbar ist. Uwe Meixner hingegen geht es in erster Linie um eine umfassende philosophische Möglichkeitstheorie, sodass er diesem Vorhaben entsprechend ‚Kontingenz’ in der weiter gefassten Definitionsweise verwendet: Von der Kontingenz gibt es zwei Formen: kontingentes Wirklichsein und kontingentes Nichtwirklichsein; Da das Der-Fall-Sein das Wirklichsein der Sachverhalte ist, unterscheidet man bei Sachverhalten insbesondere kontingentes Der-Fall-sein und kontingentes Nicht-der-Fall sein.69

Diese weit gefasste Gebrauchsweise bringt für die vorliegende Untersuchung den Vorteil mit sich, dass Schiller den Begriff der Kontingenz ja nicht selbst verwendet, sondern den durch ihn bezeichneten Sachverhalt nur umschreibend darstellt, sodass die konnotativen Nuancen des Begriffes auf der Gegenstandsebene nicht voll zum Tragen kommen und gleichzeitig eine methodische Einschränkung des Untersuchungsfeldes, welche die in Schillers Arbeiten nicht unwesentliche Dimension des Nicht-Wirklichen ausklammerte, vermieden wird.

Eine Möglichkeit, dem hier beschriebenen Zielkonflikt zu entgehen, liegt zudem

in der Trennung von Begriffsverwendung und Untersuchungsbereich in dem Sinne, dass der engeren Definition von ‚Kontingenz’ der Vorzug gegeben wird, aber gleichzeitig auch der Bereich des Bloßmöglichen und nicht-Wirklichen Eingang in die Analyse finden soll, für den dann ein gesondertes begriffliches Inventar jenseits des Terminus ‚Kontingenz’ herangezogen werden kann. Eine solche Trennung der Begriffe hat den zusätzlichen Vorzug, sich mit der systemtheoretischen Kontingenzauffassung Niklas Luhmanns zu decken. Luhmanns Definition gibt im Prinzip das enger gefasste, auf die Wirklichkeit beschränkte Verständnis von Kontingenz wieder: 68 Vgl. ebd., S. 65.

69 Meixner, Modalität 2008, S. 20.





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[Wir müssen den Kontingenzbegriff] zurückführen auf seine modaltheoretische Fassung. Der Begriff wird gewonnen durch seine Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist, noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war sein wird), sein kann aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist. In diesem Sinne spricht man neuerdings auch von ‚possible worlds’ der einen realen Lebenswelt. Die Realität dieser Welt ist also im Kontingenzbegriff als erste und unauswechselbare Bedingung des Möglichseins vorausgesetzt.70

Bemerkenswert ist hier vor allem, dass Luhmann auch vermeintlich nicht-Wirkliches wie etwa zukünftige oder psychologische Angelegenheiten unter die Dimension des Wirklichen subsummiert. Gerade bei gedachten oder phantasierten Sachverhalten (die Zeitdimension soll später noch thematisiert werden) könnte man meinen, dass sie prädestiniert sind, in Opposition zur Wirklichkeit zu treten, anstatt Teil der Wirklichkeit zu sein. Allerdings trägt Luhmann hier einer besonderen Eigenschaft des Kontingenzbegriffs (die äquivalent beim ‚Zufall’ auftritt) Rechnung, welche für die spätere Analyse von besonderer Relevanz sein wird, nämlich ihrer Gebundenheit an eine bestimmte Perspektive. So kann etwas Wirkliches etwa dadurch als kontingent bezeichnet werden, dass es mit etwas Gedachten kontrastiert wird. Allerdings kann Gedachtes ja selbst auch anders gedacht werden, es muss nicht notwendigerweise genau so gedacht werden, wie es im Einzelfall gedacht wird. Dieser Perspektivgebundenheit kann nun durch die Verwendung eines engen Kontingenzbegriffes und die Bereitstellung eines erweiterten begrifflichen Inventars entsprochen werden. Luhmann vollzieht diese Präzisierung anhand der Begriffe ‚Potentialität’ und ‚Latenz’. Dabei bezieht sich Potentialität explizit auf das nicht-Wirkliche, aber zugleich Mögliche: [Es geht um die] Unterscheidung von zwei Seiten [...]. Es sind Wirklichkeit und Möglichkeit; oder im Vorausblick auf ihren operativen Gebrauch formuliert: Aktualität und Potentialität. Es ist diese Unterscheidung, die es ermöglicht, den Selektionszwang der Komplexität [...] in sinnprozessierenden Systemen zu repräsentieren. Jede Aktualisierung von Sinn potentialisiert andere Möglichkeiten. Wer etwas Bestimmtes erlebt, wird durch diese Bestimmtheit auf anderes hingewiesen, das er ebenfalls aktualisieren oder wiederum nur potentialisieren kann. Dadurch wird die Selektivität (oder, modaltheoretisch gesprochen die Kontingenz) aller Operationen zur Notwendigkeit.71

Zunächst zeigt die hier vorgenommene Parallelisierung der Dichotomien Wirklichkeit/Möglichkeit und Aktualität/Potentialität eine unverkennbare Bezugnahme auf Aristoteles’ in der Metaphysik spezifizierte Modallehre, wodurch eine Anschlussfähigkeit der systemtheoretischen Begriffspräzisierungen an die auf Aristoteles’ Modallehre beruhenden Begriffsbildungen im vorherigen Abschnitt gegeben ist.72 Zwar wird hier anders 70 Luhmann, Soziale Systeme 1987, S. 152.

71 Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft 1997, S. 142. 72 Vgl. insbes. Met. IX.





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als noch in der Kontingenzdefinition aus Soziale Systeme eine Prozessperspektive eingenommen, sodass Wirklichkeit mit Aktualität gleichgesetzt werden muss, um einen Referenzpunkt für die beschriebenen Transformationen zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit zu bilden.73 Entscheidend ist jedoch, dass mit dem Begriff der Potentialität eben genau jenes nicht-Wirkliche, aber Mögliche bezeichnet wird, das komplementär zum Kontingenzbegriff im engeren Sinne zur Verfügung steht. Ist demnach im Modus der Potentialität etwa von einem Tyrannenmord die Rede, so wird dabei die Vorstellung von dessen möglicher Realisierung ausgedrückt. Ist hingegen im Modus der Kontingenz vom Tyrannenmord die Rede, so wird deren Inhalt (hier der Tyrannenmord) als wirklich gesetzt und gleichzeitig betont, dass man von dieser Vorstellung auch ablassen könnte, beziehungsweise sie auch durch eine andere Vorstellung ersetzen könnte. Maßgeblich ist hier also lediglich, ob die Beobachtungsrichtung vom Möglichen zum Wirklichen oder eben umgekehrt verläuft.

Auch bei dem Begriff der ‚Latenz’ handelt es sich in der Luhmann’schen Termino-

logie um einen Perspektivbegriff. Er operiert jedoch gegenüber der Potentialität auf einer anderen Ebene: Latenz ist in diesem Verständnis der Beobachtungsbereich eines Beobachters erster Ordnung, der mehr als bisher über seinen Gegenstand wissen möchte. Das ist im sogenannten ‚Positivismusstreit’ als unzulänglich kritisiert worden. Wie immer man darüber urteilen mag: es gibt jedenfalls auch die Möglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung, der Beobachtung der Gesellschaft als eines beobachtenden Systems. Auch für den Beobachter zweiter Ordnung gilt, daß er weniger und anderes sehen kann als der beobachtete Beobachter. Für ihn gewinnt der Begriff der Latenz einen anderen Sinn, bezogen nämlich auf den blinden Fleck des beobachteten Beobachters, auf das, was er nicht sehen kann. Und das, was in der Gesellschaft als natürlich und notwendig gilt, wird in dieser Perspektive etwas Artifizielles und Kontingentes. Aber daraus folgt nicht, daß man auch sagen könnte, wie es anders zu machen wäre.

Ähnlich wie ‚Kontingenz’ und ‚Potentialität’ ist ‚Latenz’ in diesem Verständnis ein Perspektivbegriff, der nicht unabhängig vom Standpunkt des ihn verwendeten Beobachters zu gebrauchen ist. Was sich für einen Beobachter erster Ordnung als Latenz im Sinne eines Unbekannten, Unbestimmten oder Unverfügbaren darstellt, kann in der Perspektive eines Beobachters zweiter Ordnung konkreter beschrieben werden. Luhmanns Begriffsdifferenzierung ermöglicht also eine präzisere Analyse des Gegenstandes, indem sie drei Begriffe, nämlich ‚Kontingenz’, ‚Potentialität’ und ‚Latenz’ für den Bereich zur Verfügung stellt, den etwa Meixner allein mit ‚Kontingenz’ abzudecken versucht.74 73 Aktualität betont hier in der Tat das wirklich-Sein und nicht das gegenwärtig-Sein; es wäre in diesem Sinne auch eine zukünftige Aktualität denkbar. 74 Peter Vogts Definition von Kontingenz deckt demgegenüber lediglich den Bereich ab, den Luhmann mit Potentialität bezeichnet. Stella Butter wiederum spricht von Kontingenz als dem „Bereich des Unverfügbaren“ und nimmt damit besonders jenen Aspekt in den Blick, für den Luhmann den Begriff ‚Latenz’ vorsieht. Vgl. Butter, Kontingenz und Literatur 2013, S. 8.





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Daraus folgt zusammenfassend für die vorliegende Arbeit: Für die Untersuchung

des Kontingenzdenkens Friedrich Schillers bietet es sich an, auf Uwe Meixners weitgefasste Definition des Kontingenzbegriffs zurückzugreifen. Mit dieser kann sowohl nichtWirkliches, das wirklich werden kann, also auch Wirkliches, das anders (oder: nicht) sein oder gedacht werden kann, in die Analyse miteinbezogen werden. Im Hinblick auf Schillers Texte ist diese weite Fassung des Analysebereichs schon deshalb sinnvoll, weil – wie zu zeigen sein wird – in Schillers Kontingenzdenken Wirkliches und Potentielles sehr eng miteinander verbunden werden und Schillers Denken auch nicht durch später geprägte Differenzierungen wie die zwischen Potentialität und Kontingenz beschränkt ist. Auch methodisch ist es naheliegend, einen weiten Fokus anzulegen, innerhalb dessen die gesamte Breite des Kontingenzdenkens Schillers sichtbar werden kann. Ein zu enger Fokus brächte demgegenüber die Gefahr mit sich, dass die Arbeit blind für relevante Bereiche im Kontingenzdenken Schillers wäre.

Begriffe wie Latenz oder Potenzialität (zu ergänzen wäre hier noch: Ambiva-

lenz75) können in den Analysen dann jedoch zur Präzisierung bestimmter Sachverhalte dienen. Mit ihnen lässt sich beispielsweise der Übergang von einer Kontingenzform in die andere beschreiben. Zu denken wäre hier etwa an den Übergang eines Ozeans in Ruhe in einen Ozean im Sturm – ein Bild das etwa auf die Transformation eines Unbegreiflichen in eine Bedrohung verweist, beispielsweise auf den Übergang von einer Vorstellung des Bösen zu einer Begegnung mit diesem Bösen. Stets zu berücksichtigen sind indes die aus der Begriffsgeschichte von Kontingenz resultierende Eigenschaften der Modalität und Perspektivität des Kontingenzbegriffes. Was als Kontingenz betrachtet wird, liegt eben auch vielfach nicht nur in der Art des beobachten Objekts, sondern in der Weise des Beobachtens.

Neben den die Kontingenzformen unterscheidenden Begriffen ‚Potenz’ bezie-

hungsweise ‚Potentialität’, ‚Latenz’ und ‚Ambivalenz’ greift die Arbeit noch auf Begrifflichkeiten zurück, mit denen subjektive Kontingenzverhältnisse und Kontingenzbewertungen differenziert werden können. Zu dem Verhältnis, in dem Kontingenz zum sie wahrnehmenden oder erlebenden Subjekt steht, hat Stella Butter eine sinnvolle Heuristik entwickelt, auf welche die Analysen dieser Arbeit vielfach zurückgreifen. Sie unter 75 Ambivalenz als Bezeichnung einer Zweiwertigkeit kann ontologisch, also als Zuschreibung zu einem

Objekt, verstanden werden. Nimmt man eine Beobachtungsperspektive auf dieses Objekt ein, so ergeben sich drei Möglichkeiten: man kann die eine Seite der Zweiwertigkeit fokussieren, die andere Seite oder aber beide Seiten. Welche Perspektive man einnimmt, ist wiederum nicht ambivalent, sondern kontingent. Analog gilt dies übrigens auch für die sprachliche Form von Ambivalenz, die Ambiguität.





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scheidet die drei Formen ‚Gestaltbarkeitskontingenz’, ‚Widerfahrniskontingenz’ und ‚Kontingenz des Inkommensurablen’. 76 Gestaltbarkeitskontingenz kann man nach Butter mit dem von einem Subjekt als für seine Handlungen und Entscheidungen verfügbaren Spielraum in Verbindung bringen. Kontingenz markiert hier im Grunde einen Raum des durch das Subjekt Veränderbaren, einen Bereich, den das Subjekt potentiell kontrollieren kann, aber noch nicht kontrolliert oder den Rahmen, innerhalb dessen es Entscheidungen treffen kann. Widerfahrniskontingenz wiederum „bezieht sich auf das Unvorhersehbare und Unkontrollierbare (z. B. Zufall oder Tod), das vom Subjekt als Widerfahrnis erlebt wird.“77 Die spezifische Kontingenz derartiger Ereignisse liegt unter anderem darin, dass sie nicht nur nicht notwendig sind, sondern dass die Möglichkeit ihres Eintretens in der Regel von den Subjekten aus verschiedenen Gründen nicht antizipiert wird, beziehungsweise werden kann, sodass die Subjekte das Eintreten dieser Ereignisse dann zwangsläufig als eine Art plötzlichen Einbruch von Wirklichkeit erleben. In Bezug auf Schillers Kontingenzdenken ist hier darauf zu verweisen, dass der die wichtige Kategorie des pathetisch-Erhabenen bestimmende ‚Pathos’-Begriff etymologisch auf das griechische ‚páthos’ zurückzuführen ist, dessen Bedeutung sich nicht nur auf ‚Leidenschaft’ beschränkt, sondern „allgemeiner [zu verstehen ist als] alles, was den Menschen befällt, auch Ereignisse.“78 Schillers Begriff des pathetisch-Erhabenen verweist damit schon sprachlich auf die Kategorie der Widerfahrniskontingenz, die ja ebenfalls als „alles, was den Menschen befällt“ gefasst werden kann. Auch mit dem pathetischErhabenen liegt also schon sprachliches Substitut für den von Schiller nicht gebrauchten Kontingenzbegriff vor. Als Kontingenz des Inkommensurablen bezeichnet Butter schließlich das dem Subjekt Unverfügbare, also „dasjenige, das sich unseren kognitiven Rastern entzieht.“79 Es überschneidet sich mit Luhmanns Latenzbegriff, kann aber auch unintendierte Folgen intentionalen Handelns bezeichnen. Hier zeigt sich nochmals die Bedeutung von Zeitperspektive und Beobachterstandpunkt für jegliche Kontingenzanalyse: Fokussiert man den Moment des Eintretens der unintendierten Folge, so kann dies auf das wahrnehmende Subjekt als Widerfahrnis wirken, bezieht man die sich zunächst im Latenten ablaufende Wirkung der Handlung, also ihr Verborgen-Sein für die Wahr

76 Vgl. hierzu Butter, Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung 2013, S. 17–37. Die Begriff-

lichkeiten sind eine sinnvolle Weiterentwicklung von Odo Marquards nicht ganz eindeutiger Unterscheidung von ‚Schicksalskontingenz’ und ‚Beliebigkeitskontingenz’. Vgl. Butter, Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung 2013, S. 28 FN 24. 77 Ebd., S. 28 78 Kluge, Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache 2011, S. 570: Lemma ‚Leidenschaft’. Vgl. Auch die Lemmata ‚Passion’ (ebd., S. 687) und ‚Pathos’ (ebd., S. 688). 79 Ebd., S. 29.





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nehmung des Handelnden mit ein, so wird man eher von Kontingenz des Innkommensurablen sprechen.

Schließlich sind komplementär zur Wirkung von Kontingenz auf das sie wahr-

nehmende Subjekt noch die Formen des Umgangs mit Kontingenz durch das Subjekt zu unterscheiden. Hierbei kann auf Kurt Wuchterls Einteilung80 zugrückgegriffen werden: Wuchterl unterscheidet zwischen ‚Kontingenzbewältigung’, ‚Kontingenzanerkennung’ und ‚Kontingenzbegegnung’. Als Kontingenzbewältigung versteht Wuchterl das Streben nach Reduktion von Kontingenz, die Verdrängung des anders-Möglichen und die Affirmation des Bestehenden. Kontingenzanerkennung resultiert dann oftmals aus einer „kritischen Beurteilung von Kontingenzbewältigung“.81 Sie bezeichnet eine Akzeptanz anderer Möglichkeiten und Potentiale. Wuchterl unterscheidet hier nochmals zwischen skeptischer und nicht-skeptischer Kontingenzanerkennung.82 Kontingenzbegegnung hat bei Wuchterl hingegen eine religiöse Konnotation und bezieht sich auf eine Art Positivbewertung von Widerfahrnissen. Wuchterl nennt dies „Begegnung mit einem religiösen ‚ganz Anderen.“83 Hier ist mit Blick auf Schillers Texte, gerade mit Blick auf seine Erhabenheitstheorie die religiöse Komponente zu streichen, da gerade das Erhabene ja Begegnungen mit „dem ganz Anderen“ der Vernunft in den Blick nimmt, die nicht primär religiös zu denken sind.84 Der Begriff der Kontingenzbegegnung ist davon abgesehen jedoch sinnvoll für die Analysen von Schillers Texten funktionalisierbar.

Abschließend ist festzuhalten, dass das differenzierte begriffliche Inventar85 nicht

nur die aus der weiten Fassung des Kontingenzbegriffs selbst resultierende Unschärfe zu kompensieren vermag. Es trägt auch dazu bei, einem wichtigen Anspruch im begrifflich-theoretischen Setting der Arbeit zur Geltung zu verhelfen: Kontingenz kann nur dann ein sinnvoller Analysebegriff sein, wenn er als neutraler und nicht selbst schon mit Wertungen aufgeladener Begriff verstanden wird. Sonst besteht die Gefahr, die in der Wertung des Analysebegriffs liegenden Präsuppositionen auf den Gegenstandsbereich zu übertragen. Ob Kontingenz etwas Negatives und zu Bewältigendes ist oder etwas Positives und zu Suchendes, kann nicht schon vor der Analyse feststehen. Es ist vielmehr ein wichtiges Analyseziel der Untersuchung, herauszufinden, wie Schillers Texte Kontin 80 Vgl. Wuchterl, Zur Aktualität des Kontingenzbegriffs 2016, S. 129–148. 81 Ebd., S. 132. 82 Vgl. ebd. 83 Ebd. 84 Nicht „primär“ deshalb, weil im 18. Jahrhundert die Identifikation von Vernunft und Gott durchaus noch

weitgehend intakt war. So etwa bei Rousseau und auch bei Schiller.

85 Instruktiv zum Kontingenzbegriff und für weitere Operationalisierungen gut nutzbar ist im Übrigen der

Sammelband Jörg Huber / Philipp Stoelger (Hg.), Gestalten der Kontingenz 2008.





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genz bewerten. Dazu verhilft etwa die bei Wuchterl angelegte Unterscheidung von Kontingenz und Kontingenzbewertung. Der differenzierte Begriffsapparat ist jedoch vor allem nötig, um der sich gerade unter Einbezug der Zeitperspektive ergebenden Komplexität von Kontingenz in Schillers Texten angemessen zu begegnen. Da gerade Transformationen des Kontingenten und die Bezüge zwischen den Kontingenzformen in Schillers Texten untersucht werden sollen (insbesondere auch zwischen den Ebenen der Produktionsverfahren, der Inhalte und der Semantiken), wird die präzise Benennung des jeweiligen Zusammenhangs zu einer Notwendigkeit für die Analyse.







Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens in Schillers frühen Texten 1.1 Semantiken der Kontingenz (Räuber, Fiesko, Kabale und Liebe) Vor den folgenden Analysen zu Die Räuber, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua und Kabale und Liebe lohnt es sich, nochmals einen Blick auf das Wesen der Analysebegriffe ‚Kontingenz’ und ‚Zeitlichkeit’ zu richten. Beide Begriffe verbindet ihre Bezugnahme auf abstrakte Strukturen. Für Immanuel Kant etwa gehören Zeit und Modalität zu den Dimensionen, die den empirischen Anschauungen vorausgehen, wobei Zeit in der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft als Vorstellung a priori angesehen und Modalität in der transzendentalen Analytik als die Klasse aufgeführt wird, welche die Kategorien Möglichkeit–Unmöglichkeit, Dasein–Nichtsein, Notwendigkeit–Zufall umfasst und sich auf diese Weise mit dem überschneidet, was der in der vorliegenden Arbeit verwendete Begriff ‚Kontingenz’ bezeichnet. Folgt man nun Kants Schema, so ergibt sich, dass Kontingenz und Zeitlichkeit als Phänomene zu gelten haben, die jeder Anschauung zugrunde liegen. Daraus ergeben sich in der Folge auch methodische Konsequenzen die Verwendung dieser Begriffe als Analysekategorien. Kontingenz und Zeitlichkeit sind demnach Dimensionen, welche Literatur im Allgemeinen bestimmen. Sie betreffen zum einen den Rezeptionsmodus der Leserinnen oder Theaterbesucher, zum anderen aber auch die Weise, wie der jeweilige literarische Text selbst eine bestimmte, ihm eigene Wahrnehmung der empirischen Welt entwickelt.

Die Herausforderung für eine Analyse literarischer Texte anhand der beiden Ka-

tegorien besteht demnach also darin, dass es nicht genügt, Kontingenz- und Zeitphänomene in den Strukturen literarischer Texte zu identifizieren, um daraus ein spezifisches Interesse des jeweiligen Textes an beiden Phänomen abzuleiten und so Rückschlüsse etwa auf die Modernität des entsprechenden Textes zu ziehen. Dies wäre zwar bei nahezu jedem (literarischen) Text möglich, bliebe dann allerdings meist auch ohne tiefergehende Aussagekraft. Produktiver scheint es vielmehr, nicht bloß nach den Phänomenen zu fragen, sondern nach der Spezifik ihres Gebrauchs im jeweiligen Text. Auch dies ließe sich noch anhand einer Vielzahl literarischer Textes vollziehen, scheint als methodisches Vorgehen jedoch deutungsmächtigere Potentiale aufzuweisen als ein schlichter Nachweis von Kontingenzen und Zeitstrukturen in den jeweiligen Texten – eben weil dieses Vorgehen die Möglichkeit eröffnet, die Konstruktionsweise eines bestimmten Textes in

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 M. Köberlein, Kontingenz und Zeitlichkeit bei Schiller, https://doi.org/10.1007/978-3-662-63848-4_1





1.1 Semantiken der Kontingenz

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Beziehung zu den Konstruktionsmöglichkeiten literarischer Texte im Generellen zu setzen. Wirklich interessant werden Kontingenz und Zeitlichkeit als Analysebegriffe aber erst bei Texten, in denen sie nicht nur auf der Ebene der Struktur, sondern gleichzeitig auch auf der Ebene des Inhaltlichen – beziehungsweise in der Terminologie Kants in den Gegenständen – oder der Sprache des Textes auszumachen sind. Erst dann entfalten die Texte im eigentlichen Sinn ein Kontingenz- und Zeitbewusstsein, weil sie in diesem Fall explizit hervorheben, dass es sich bei ihren Kontingenz- und Zeitstrukturen nicht um Dimensionen handelt, die neben der eigentlichen Bedeutungsebene notwendigerweise mitlaufen, ohne selbst einen primär bedeutungskonstitutiven Rang einzunehmen. Wenn literarische Texte Kontingenz und Zeitlichkeit auch inhaltlich oder sprachlich thematisieren – was wiederum mehr oder weniger explizit ablaufen kann – entwickeln sie vielmehr ein komplexes und selbstreflexives Zusammenspiel aus Inhalt und Form, das zu untersuchen sich gerade deshalb lohnt, weil es selbst wieder neue Lesarten und Bedeutungsebenen hervorbringt. Die These an dieser Stelle lautet, dass Schillers frühen Dramen eben ein solches Zusammenspiel aus sprachlich-inhaltlicher und struktureller Dimensionierung von Kontingenz und Zeitlichkeit eingeschrieben ist, welches zudem auch eine Verbindung mit ihrer ex- und impliziten Reflexion auf die Gesellschaft um 1800 eingeht. Die sich inhaltlich auf verschiedenen Ebenen vollziehende Thematisierung des Zeitlichen liegt dabei trotz des für dramatische Texte konstitutiven Verzichts auf eine Erzählinstanz relativ offen. Sie tritt etwa in Die Räuber in der Kontrastierung frühaufklärerischer Elemente mit Strömungen der Empfindsamkeit oder auch in der Gegenüberstellung von religiösen und satanischen Jenseitsvorstellungen86 sowie in der biographischen Entwicklung der beiden konkurrierenden Brüder auf verschiedene Weise zutage. In Die Verschwörung des Fiesko zu Genua spielt wiederum die Zeitdimension eine markante Rolle – dies schon aufgrund der Eigenschaft des Stückes als Geschichtsdrama. Kabale und Liebe ist schließlich ein Text, in welchem Zeit und Zeitlichkeit nicht nur über die Gegenüberstellung traditionell-feudaler und bürgerlich-moderner Wertvorstellungen Einzug in die Bedeutungskonstitution des Textes finden, sondern in welchem sie auch extensiv in den Figurenreden reflektiert werden. Diesen Komplexen soll in den nächsten Kapiteln im Detail nachgegangen werden.

86 Einschlägig dazu ist immer noch Brittnacher, Die Räuber 1998, S. 326–353.





Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

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Etwas weniger offensichtlich, aber nicht minder bedeutsam als die Verhandlung von Zeitphänomenen, ist die außerhalb der Strukturebenen der Texte erfolgende Thematisierung des Kontingenten. Gemeint sind damit Stellen in den frühen Dramen Schillers, in denen sich die diskursive Bearbeitung von Kontingenz- und Zeitphänomenen weniger auf figuraler Ebene oder über die Handlungszusammenhänge ereignet, sondern sich primär als sprachlich-metaphorisch bearbeiteter Komplex darstellt. Eine weitere These dieser Arbeit lautet diesbezüglich, dass Schiller den Kontingenzdiskurs seiner drei frühen Dramen vor allem um drei metaphorische Komplexe gruppiert, nämlich um (1) die Metaphorik des Fluiden im weitesten Sinne, also um Figuren von Wasser, Meer, Fluss oder Schifffahrt, (2) die Metaphorik des Spiels, vor allem in seiner Form als Würfel- oder Kartenspiel und (3) die Metaphorik des Theatralen, auch des theatralen Spiels, der Verkleidung und der Täuschung. Dabei ist es keineswegs so, dass Schiller ausschließlich auf diese Komplexe zurückgreift, um seinen Kontingenzdiskurs auch auf dem Feld der Sprache manifest werden zu lassen. Neben den Metaphern des Fluiden, des Spiels und des Theatralen finden sich auch zahlreiche andere Sprachbilder mit ähnlichen Funktionen. Dennoch scheinen diese drei genannten Komplexe zu dominieren, sodass es naheliegt, die Untersuchung an ihnen entlang auszurichten. Dabei soll über die Betrachtung einzelner Metaphern in ihrem jeweils spezifischen Kontext die Funktion des jeweiligen Metaphernkomplexes für die entsprechende textuelle Bedeutungskonstitution in den drei Dramen ermittelt werden. Bezüge dieser drei zentralen Metaphoriken zu anderen Metaphern, die Kontingentes oder Kontingenz beschreiben und konturieren, sollen dabei jedoch ebenso beleuchtet werden wie die Bezüge und Überschneidungen der drei Komplexe untereinander. Generell kommt der Metaphorik des Fluiden in den Analysen dieser Arbeit eine etwas herausgehobene Stellung zu. Sie ist die sprachliche Form, mit der Schiller bevorzugt Phänomene der Kontingenz sichtbar macht und durchzieht in dieser Funktion praktisch sein gesamtes Werk. Dementsprechend lässt sich gerade an ihr die Entwicklung seines Kontingenzdenkens (von den 1780er Jahren bis zu seinen letzten Werken) auf idealtypische Weise nachvollziehen. Aus diesem Grund sind der Untersuchung von Schillers Metaphoriken des Fluiden und dabei insbesondere seiner Metaphoriken des Meeres noch weitere Kapitel dieser Arbeit gewidmet. Das folgende Kapitel soll jedoch zunächst verdeutlichen, in welch großem Variantenreichtum Schiller bereits in seinen frühesten Texten einen Diskurs über Kontingenz und Zeitlichkeit entfaltet, auf dessen Aussagen und Elemente er später dann immer wie



1.1 Semantiken der Kontingenz

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der rekurrieren wird. Es geht in dem Kapitel also vor allem darum, die Breite dieses Spektrums an Kontingenzvorstellungen abzubilden und zu belegen, dass Schiller hier eine Art Paradigma der Kontingenz und des Kontingenten aufstellt. Das Kapitel erfüllt darüber hinaus jedoch noch eine zweite Funktion: Indem es die verschiedenen Formen und Varianten, in denen Schiller sein Kontingenzparadigma aufspannt, zu analysieren sucht, kann es den Leser*innen dieser Arbeit auch als Einführung in die Theorie der Kontingenz – inklusive ihrer Bezüglichkeit zu Phänomenen der Zeit und der Zeitlichkeit – dienen.







Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

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1.1.1 Meer und Fluidität (gleichzeitig: Theorierahmen) Zur Doppelstruktur des Kontingenzparadigmas (Spiegelberg) Schillers Jugenddrama Die Räuber beginnt bekanntlich mit zwei korrespondierenden Szenen, in denen die Figuren Karl und Franz Moor kontrastiv gegenübergestellt werden. Während die erste Szene des Stücks ganz dem jüngeren Bruder Franz gehört, das erregende Moment der Intrige entfaltet und mit Franz’ Verkündung seines unbedingten Willens zur Macht endet, zeigt die zweite Szene den älteren Bruder Karl in einem Gespräch mit seinem Studienkollegen Spiegelberg. Dies ist exakt der berüchtigte Moment, in welchem Karl sein notorisches Lamento über die Defizienz der Aufklärungsgesellschaft anstimmt, um sich schließlich – nachdem auch die Intrige seines Bruders erste Wirkung entfaltet – zum Hauptmann der neu gegründeten Räuberbande ausrufen zu lassen.

Der ursprüngliche Anstoß zur Gründung der Bande stammt dabei jedoch gerade

nicht von Karl Moor selbst, sondern von seinem langjährigen Freund Spiegelberg. Dass Moor zum Hauptmann der Räuber ernannt wird und dies überhaupt erst bereit ist zu werden, ist der Koinzidenz zweier Momente geschuldet: Zum einen der psychologischen Erschütterung Karls durch die scheinbare Zurückweisung durch den Vater und zum anderen dem von Spiegelberg entwickelten Vorhaben eines delinquenten Abenteurerlebens. Im Ineinanderfallen dieser beiden Umstände – Karl Moors in leidenschaftlichem Affekt suspendierter Vernunft und Spiegelbergs waghalsigem Plan – liegt die Ermöglichungsbedingung der Bandengründung unter der Führung Karls. Durchaus offen bleibt dabei jedoch, ob dabei nicht nur die Affizierung Karls durch Franz’ Brief hervorgerufen, sondern auch der Plan Spiegelbergs durch diesen, wenn nicht ausgelöst, so doch konkretisiert und bestärkt wird. Die im gefälschten Brief beschriebene Kerkerszene löst bei Spiegelberg jedenfalls die Assoziation einer Lebensführung aus, die gerade durch die Vermeidung von Kerkerhaft bestimmt ist: „Von Wasser und Brot ist die Rede? Ein schönes Leben! Da hab ich anders für euch gesorgt! Sagt ichs nicht, ich müßt am Ende für euch alle denken“ (I, 509).

Wichtig ist dabei, dass auch diese Negativassoziation nicht ohne jede Grundlage

emergiert, sondern vielmehr durch bereits im Vorfeld entwickelte Überlegungen und Gedankenspiele Spiegelbergs erst ermöglicht wird. Ob Spiegelbergs Idee, eine Bande zu gründen, ursächlich durch den Brief ausgelöst wird, ist weniger entscheidend (und kann anhand des Textes letztlich auch nicht abschließend beantwortet werden) als die Tatsache, dass ihr Urheber bereits vorher im Gespräch mit Karl als ein wahllos verschiedenste Möglichkeiten eines zukünftigen Abenteurerlebens durchdeklinierender Charakter dar



1.1.1 Meer und Fluidität …

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gestellt wird – wobei eine Unterscheidung zwischen ernsthaften Plänen und spielerischer Freude an der Phantasie nicht ohne Weiteres möglich ist. Spiegelbergs Vorstellungen reichen von einem Verbrecherleben als Handschriftenfälscher in Paris und London (I, 507) bis hin zu der Idee einer Wiedererrichtung des jüdischen Königreichs in Jerusalem: Wir lassen ein Manifest ausgehen in alle vier Enden der Welt und zitieren nach Palästina, was kein Schweinefleisch ißt. Da beweis ich nun durch triftige Dokumente, Herodes, der Vierfürst sei mein Großahnherr gewesen und so ferner. Das wird ein Victoria geben, wenn sie wieder ins Trockene kommen und Jerusalem wieder aufbauen dörfen. Itzt mit den Türken nach Asien, weils Eisen noch warm ist, und Zedern gehauen aus dem Libanon, und Schiffe gebaut, und geschachert mit alten Borten und Schnallen das ganze Volk. (I, 504)

Abgesehen von der – über durch den wiederholten Hinweis auf die Praxis der Urkundenfälschung erfolgenden – deutlichen Bezugnahme auf die Franz-Szene I,1 ist an dieser Stelle die Meeresmetaphorik in den Blick zu nehmen. Die nach Jerusalem zurückkehrenden Juden werden, so Spiegelberg, euphorisiert sein, „wenn sie wieder ins Trockene kommen“. An sich liegt hier keine dominant hervortretende Formulierung vor, in der dichten Narrativität der sie umgebenden Passage kann die Meeresmetapher leicht überlesen werden, da sie der sich ja bereits in einem fiktionalen Möglichkeitsraum abspielenden Erzählung Spiegelbergs noch eine zusätzliche metaphorische Abstraktionsebene einfügt. Dennoch, so die These hier, handelt es sich hierbei nicht um bloßen rhetorischen Schmuck,87 sondern um eine Formulierung, die es sich lohnt, genauer zu betrachten, zumal sie sich in ein ganzes mit ihr korrespondierendes „Arsenal an Stellen“88 in den frühen Dramen Schillers einfügt. Insbesondere schreibt sich Schiller mit dem Gebrauch einer Metaphorik des Meeres und des Fluiden darüber hinaus auch in einen traditionell um diese Metaphern gruppierten Diskurs der Kontingenz und des Kontingenten ein.89 Das von Spiegelberg hier aufgerufene Bild des Wiederankommens im Trockenen nach geglückter Meerfahrt ist dabei ein durchaus geläufiges. In der Literaturgeschichte verhält es sich, wie Hans Blumenberg in Schiffbruch mit Zuschauer schreibt, nämlich oft so, „dass die Vorstellung der Gefährdungen auf der hohen See nur dazu [dient], die Behaglichkeit und Ruhe, die Sicherheit und Heiterkeit des Hafens vorzustellen, in dem die Seefahrt ihr Ende finden soll.“90 Spiegelbergs Utopie verbindet das Bild des Ankommens im Trockenen mit der Vorstellung einer Zusammenkunft der Juden, die aus der Verstreut 87 Etwa im Sinne von Christian Strubs Kategorie der „kontingenten Schmuckmetapher.“ Vgl. Strub, Gebäu-

de, organisch verkettet 2009, S. 113. 88 Vgl. Campe, Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher 2009, S. 287. 89 Vgl. zum theoretischen Ansatz Makropoulos, Meer 2007, S. 236-248 und ausführlicher Makropoulos,

Modernität und Kontingenz 2007 sowie die aus literaturwissenschaftlicher Sicht einschlägige Monographie Wolf, Fortuna di Mare 2013. 90 Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer 1979, S. 9.





Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

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heit in der Ferne in ihre historische Heimat zurückkehren, um dort eine neue Gemeinschaft zu errichten. Die abstrakte Verbindung unter den Mitgliedern der Diaspora wird in eine konkrete neue Ordnung des persönliche Kontakts überführt, die Metapher des Ankommens im Trockenen dabei in einen dezidiert sozialen Kontext gerückt. Das Meer, das traditionell „als Sphäre der Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit, Orientierungswidrigkeit“91, also der (Wiederfahrnis-)Kontingenz gilt, wird verlassen, um festen Boden unter die Füße zu bekommen und um das vorher zerstreute Volk wieder zu vereinigen. Dargestellt wird hier also ein die Methodiken der Aufklärung repräsentierender Vorgang des Ordnens und Zusammenführens. Zentral ist dabei, dass die generell im Bild des Ankommens im Trockenen schon enthaltene „Grenze zwischen Land und Meer metaphorisch [...] belangvoll [ist]“, weil sie „sowohl die geographische Trennung zwischen Land und Meer als auch die ontologische Trennung zweier verschiedener Elemente bildet“,92 wobei das feste Land den naturgegebenen Wirkungskreis menschlichen Handelns und menschlicher Gemeinschaft bestimmt93 und somit weiter gedacht auch „die metaphysische Stelle [markiert], an der Wirklichkeit und Möglichkeit [...] unmittelbar aufeinander bezogen bleiben.“94 Wer sich auf See begibt, verlässt den naturgegebenen und sozialen Raum, der für die Lebensführung des Menschen bestimmt ist und setzt sich unkalkulierbaren Gefahren aus – durch die Überschreitung der Grenze zwischen Land und Meer ergeben sich naturgemäß jedoch auch Chancen. Nur um derentwillen lässt man sich ja überhaupt auf das Wagnis der Seefahrt ein. Dieses Verhältnis aus Chance und Gefahr wird im Kontext perspektivischen Denkens gemeinhin als ‚Risiko’ bezeichnet und gehört damit ebenfalls in die Kategorie der Möglichkeiten. Dass mit dem Betreten des Landes und dem Verlassen des Meeres im metaphorischen Sinn also der Raum der Möglichkeit verlassen und der Bereich der Wirklichkeit betreten wird, liegt somit durchaus auf der Hand. Der Vollzug dieses Übergangs rückt das Bild (wie bereits angedeutet) in die Nähe von rationalistischen Praktiken, wie dem Determinieren, dem differenzierenden Klassifizieren und dem Entscheiden, deren Untersuchung im Werk Schillers einen Kern dieser Arbeit darstellen soll. Makropoulos kann daher auch feststellen, dass „[d]ie nautische Metaphorik, in der streng genommen nicht so sehr die Grenze zwischen Land und Meer thematisiert wird, sondern ihre dauerhafte Überschreitung und tendenzielle Einebnung, damit der Prototyp einer Bewe 91 Ebd., S. 10. 92 Makropoulos, Meer 2007, S. 238. 93 Vgl. ebd.

94 Ebd., S. 240





1.1.1 Meer und Fluidität …

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gungsmetapher“95 ist. Sie repräsentiert also einen Blick auf die Dynamik einer Entwicklung. Das ins-Trockene-Kommen markiert dabei jedoch eher das Ende eines Bewegungsprozesses – es bildet in seiner Beschreibung einer Situation des Ankommens genau genommen also einen Entschleunigungsprozess ab.

Nicht zufällig belässt es Spiegelberg daher auch nicht bei diesem Bild. Kaum in

Palästina angekommen, soll es für die jüdische Gemeinschaft gleich weitergehen, „nach Asien, weils Eisen noch warm ist“ und passenderweise zurück auf Meer, indem „Zedern gehauen aus dem Libanon und Schiffe gebaut“ werden sollen. Die Ankunft auf dem sicheren Land ist für Spiegelberg kein Telos, kein Endziel. Sie ist nur Zwischenstation auf einem Weg zurück ins Meer der Möglichkeiten. Die zusammengekommenen jüdischen Personen zerstreuen sich in Spiegelbergs Imagination umgehend wieder, die Diaspora entsteht aufs Neue. Spiegelbergs Utopie bildet somit einen Gegenpol zu den Sehnsüchten Karl Moors, welche im Unterschied zu dieser auf einen spezifischen Bezugspunkt gerichtet sind, nämlich auf die Heimreise in den Schoß einer familialen Ordnung, wie Moor sie noch aus seiner Kindheit kennt. Diese sich bekanntlich bis hin zu dem Wunsch einer Wiederkehr in den Mutterleib (Vgl. I, 562) steigernde Regression ist der Gefahr einer Erwartungsenttäuschung dann aber auch viel stärker ausgesetzt als Spiegelbergs offene Hinwendung zu einem von Kontingenz bestimmten Leben. Seinen Willen, sich zum Räuberhauptmann ausrufen zu lassen, kleidet Spiegelberg dann auch wenige Seiten später in das Bild des mutigen Steuermannes: „So schwer es ist, das Schiff gegen die Winde zu lenken [...] – Sag’s unverzagt, Roller, – vielleicht wird ers [gemeint ist Spiegelberg selbst, M.K.] doch tun.“ (I, 514). Dass es sich hierbei um Rhetorik handelt, ist offensichtlich – selbstverständlich ist Spiegelberg bereit, es zu tun – er möchte lediglich dazu gebeten werden. Vor allem aber ergänzt diese Stelle die vorherige Meeresmetaphorik, sodass sich eine dreiteilige Struktur ergibt, bestehend aus einer Bewegung vom Meer ans Land, einer (geplanten) Bewegung vom Land aufs Meer und einer Situation, in welcher der Mensch sich inmitten der ihn umgebenden Bewegungen des Meeres befindet und vor diesen bestehen muss, dabei aber auch in seiner Eigenschaft als Steuermann über Möglichkeiten zur Bewältigung der Situation verfügt. Dass sich die Grenzüberschreitung in beide Richtungen, meerwärts und landwärts vollzieht, ist dabei äußert relevant. Erst über eine sol-



95 Makropoulos, Meer 2007, S. 239.





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che „Doppelwertigkeit“ entsteht für Makropoulus nämlich „die eigentliche Metapher für Kontingenz“: ‚Kontingenz’ bezeichnet schließlich nicht Unbestimmtheit überhaupt, sondern jene spezifische zweiseitige Unbestimmtheit, in der etwas weder notwendig, noch unmöglich, sondern auch anders möglich ist – und zwar in dem Sinne, daß es veränderlich und also unverfügbar, wenn nicht schlechterdings zufällig ist, als auch in dem Sinne, daß es veränderbar und folglich manipulierbar, mithin dem menschlichen Handeln zugänglich ist.96

Selbst wenn man den Kontingenzbegriff nicht so eng fassen möchte wie Makropoulos, so ist an dieser Stelle doch ein wichtiger Punkt angesprochen: Die hier thematisierte Doppelwertigkeit macht Kontingenz erst zu einer analytisch aussagekräftigen Kategorie. Fasst man nur eine der beiden Seiten, so kommt man leicht ins Fahrwasser entweder eines ungetrübten Fortschrittsoptimismus oder aber einer dezidierten Kulturkritik. Ob nun nicht bereits bei einer isolierten Thematisierung der einen beziehungsweise der anderen Seite schon von Kontingenz gesprochen werden kann, oder ob dafür tatsächlich das Ineinanderfallen beider Wertigkeiten notwendig ist, ist dabei nicht der entscheidende Punkt. Man sollte nur die Ebenen auseinanderhalten. Man kann durchaus wie Odo Marquard und Gerhart von Graevenitz anhand der Kategorien ‚Schicksalskontingenz’ und ‚Beliebigkeitskontingenz’97 oder wie Stella Butter anhand von ‚Widerfahrniskontingenz’ und ‚Gestaltbarkeitskontingenz’ nur eine der beiden Seiten beleuchten,98 muss dies dann aber in dem Bewusstsein tun, dass sich aus der Wahl einer der beiden Perspektiven auch eine implizite Wertung des Sachverhalts ergibt, die bei einer Wahl der anderen zur Verfügung stehenden Perspektive möglicherweise konträr ausfallen würde. Ob etwa derjenige, der die Metapher gebraucht, das Meer als Widerfahrnisquelle, als Möglichkeitsraum oder als beides zugleich betrachtet, sagt viel über seine Haltung gegenüber und sein Verständnis von Kontingenz aus. Dem reflektierten Gebrauch der dichotomischen Begriffe steht dabei jedoch prinzipiell nichts im Wege – problematisch wird die Sache eben nur, wenn man eine Seite der Dichotomie für Kontingenz im Allgemeinen hält. 96 Ebd., S. 239. 97 Vgl. Graevenitz/Marquard, Kontingenz 1998, S. xiv. 98 Vgl. Butter, Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung 2013, S. 28. Dass Butter als Unterkategorie zu ‚Widerfahrniskontingenz’ noch eine ‚Kontingenz des Inkommensurablen’ schafft, ist hier nicht von Bedeutung.





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Gestaltung von Widerfahrnissen (Franz Moor) In Bezug auf Friedrich Schillers frühe Dramen ist dabei vor allem interessant, so die These an dieser Stelle, dass Schillers Texte hier anders als diejenigen mancher seiner Interpreten der Doppelwertigkeit des Phänomens durchaus gerecht werden. Dies zeigt sich in der Gesamtschau der dreiteiligen Metaphorik Spiegelbergs, es zeigt sich aber auch schon zu Beginn des Stücks in Franz Moors Anklage gegen die Natur und seiner darauf prompt folgenden Relativierung dieser Anklage: Ich habe große Rechte, über die Natur ungehalten zu sein, und bei meiner Ehre! Ich will sie geltend machen – Warum bin ich nicht der erste aus dem Mutterleib gekrochen? Warum nicht der einzige? Warum musste sie mir diese Bürde der Häßlichkeit aufladen? gerade mir? Nicht anders, als ob sie bei meiner Geburt einen Rest gesetzt hätte. Warum gerade mir diese Lappländernase? Gerade mir dieses Mohrenmaul? Diese Hottentottenaugen? Wirklich, ich glaube, sie hat von allen Menschensorten das Scheußlichste auf einen Haufen geworfen und mich daraus gebacken. Mord und Tod! Wer hat ihr die Vollmacht gegeben, jenem dieses zu verleihen und mir vorzuenthalten? Könnte ihr jemand darum hofieren, eh er entstund? Oder sie beleidigen, eh er selbst wurde? Warum ging sie so parteilich zu Werke? Nein! nein! Ich tu ihr Unrecht. Gab sie uns doch Erfindergeist mit, setzte uns nackt und armselig ans Ufer dieses großen Ozeans Welt – Schwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump ist, geh unter! Sie gab mir nichts mit; wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache. Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten, Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnt beim Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze. (I, 500)

Die zweiteilige Struktur dieser – von Hans-Jürgen Schings als Aneignung zweier Argumentationsstränge des Claude Adrien Helvétius interpretierten99 – Textstelle wird stilistisch, aber (über den eingefügten Absatz) auch im Druckbild unterstrichen. Im ersten Teil unterzieht Franz Moor die anthropologische und soziale Wirklichkeit, wie sie sich ihm darstellt, einer Serie von Fragen, mit welchen er die Kluft zwischen seinen subjektiven Ansprüchen und den sich ihm objektiv darbietenden Realtäten zum Ausdruck bringt. Relevant ist dabei auch seine Dimensionierung des Zeitlichen. Franz artikuliert seinen Zorn eben nicht gegenüber einer Welt, die sich anders gibt, als er es für angemessen hielte, sondern gegenüber der Gewordenheit dieser Welt. Gerade über diese genealogische Betrachtung eines Prozesses anstelle der Analyse eines Resultats akzentuiert der Text, dass sich Franz hier mit dem Thema der Kontingenz, genauer der geronnenen Kontingenz, auseinandersetzt. Die Merkmale und Gegebenheiten, die sich in seiner Gegenwart als unveränderlich darstellen, werden in Franz’ Betrachtung zurückgeführt auf ihre kontingenten, wenn nicht sogar beliebigen Entstehungsbedingungen. Dass es nicht unwahrscheinlich anders hätte kommen können, nun aber nicht mehr anders werden kann, ist die eigentliche Erkenntnis, die anzuerkennen und zu bewältigen Franz so stark herausfordert.

99 Schings, Schillers ‚Räuber’: Ein Experiment des Universalhasses 1982, S. 17–18.





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Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ... Der zweite Teil der Textstelle zeigt dann die Konsequenzen, die Franz aus seinen

Überlegungen zu dieser Gerinnung von Kontingenz zieht. Wenn soziale Ungleichheit und ihre Bedingungsfaktoren wie physiognomische Merkmale, wesentlich auf kontingenten Grundlagen beruhen, so seine Argumentation, dann gibt es auch keinen Grund, die sozialen Gegebenheiten so zu akzeptieren, wie sie sind. Daraus entwickelt Franz dann eine Rechtfertigung der Gewalt, die ihm das geeignete Mittel scheint, die natürlich-arbiträre Ordnung zu seinen Gunsten umzuformen. Die Widerfahrnisse des Lebens sollen also ausgeglichen werden durch die dem Subjekt ebenfalls (durch die Natur) gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten. Unverfügbares und Verfügbares werden hier aufeinander bezogen und das Kontingenzparadigma so in seiner Gesamtheit durchschritten.

Nicht zufällig werden die beiden Teile dieser Textstelle dann auch durch das der

Meeresmetaphorik entstammende Motiv eines „nackt und armselig ans Ufer dieses großen Ozeans Welt“ gesetzten Subjekts miteinander verbunden, eines Subjekts, welches davor steht, sich in dieser Welt zu beweisen oder in ihr unterzugehen. Wie auch im Falle von Spiegelbergs schiffbauenden Israeliten wird hier der Moment festgehalten, in dem das Subjekt noch auf dem festen Grund der Wirklichkeit steht und in den Raum zukünftiger Möglichkeiten blickt. Anders als Spiegelbergs Metapher, die eine auch aus Sicht der Figur rein fiktive Szene beschreibt, entspricht der in Franz Moors Bild gefasste Moment jedoch zudem der Position, in der sich Franz im Moment der Artikulation der Metapher real befindet: Eine Position, in der das Subjekt sich von den Fixierungen der Vergangenheit zu lösen bemüht und Gestaltbarkeitspotentiale zu erringen versucht. Konsequenterweise überträgt Franz in der darauf folgenden Passage die gewonnenen Einsichten von der individuellen auf eine soziale Ebene, indem er diejenigen Institutionen in den Blick nimmt, über die sich die geltenden, ihn benachteiligenden Verhältnisse der Gesellschaft um 1800 stabilisieren. Die „gemeinschaftliche Pakta, die man geschlossen hat, die Pulse des Weltzirkels zu treiben“ (I, 500) sind es, in welchen Franz eine normative Hemmnis seines Vorhabens ausmacht, sich mit Gewalt zu verschaffen, was ihm durch die Natur verwehrt geblieben ist. Parallel zu der anthropologischen Betrachtung der natürlichen Entstehungsbedingungen seiner Defizite fragt er daher nach den Entstehungsbedingungen seiner sozialen Benachteiligung, indem er das Motiv des am Beginn der Gemeinschaftsbildung stehenden Akts des Gesellschaftsvertrags aufruft und mit einer funktionalen, auf Machtausübung gerichteten Deutung versieht. Auch wenn sein Agieren im weiteren Verlauf des Stückes die Form verdeckt strategischen Handelns annimmt und damit das Rousseau’sche Authentizitätspostulat verletzt, rekur



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riert Franz’ Analyse an diesem Punkt durchaus auf Rousseaus Überlegungen100 – hier zeigt sich schon eine Konstante, die das gesamte Drama bestimmt: Franz Moor folgt Rousseaus Analyse der gesellschaftlichen Missstände seiner Zeit, ohne jedoch dessen deontologisch-idealistische Konklusionen mitzuvollziehen. Ihn interessieren die Dysfunktionalitäten der Gesellschaft, in der er lebt, und nicht, wie er dazu beitragen könnte, eine bessere Gesellschaft in der Zukunft zu schaffen. Konkret macht er vor allem im sozialen Konstrukt des „[e]hrliche[n] Name[ns]“ sowie in der sozialpsychologisch konturierten Instanz des „Gewissen[s]“ Hemmnisse für seine revolutionären Pläne aus. Beide Instanzen entlarvt er dabei als Stabilisatoren oder gar Katalysatoren sozialer Ungleichheit: „Ehrlicher Name! – Wahrhaftig, eine reichhaltige Münze, mit der sich meisterlich schachern lässt, wers versteht, sie gut auszugeben. Gewissen, o ja freilich! Ein tüchtiger Lumpenmann, Sperlinge von Kirschbäumen wegzuschröcken!“ (I, 500f.)101 Entscheidend an dieser Stelle ist – das sei hier nochmals hervorgehoben –, dass Franz Moor eben nicht Rousseaus Schritt von einer allgemeinen Gesellschaftskritik hin zu der Überlegung, wie eine für die Allgemeinheit gerechtere Gesellschaft auszusehen habe, mitvollzieht. Während Rousseau die gesellschaftskritischen Analysen seiner beiden Discours konstruktiv mit dem Contrat sociale erweitert, der die Verfassung eines modernen, frei von Partikularinteressen regierten Staates beschreibt, fällt Franz in eine Rechtfertigung subjektiver Gewalt zurück. In einer Präfiguration sozialdarwinistischer Argumentationsweisen affirmiert er ein Recht des Stärkeren. Im Weltozean „[s]chwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump ist, gehe unter!“ Die Meeresme

100 Als Referenzstelle bei Rousseau bietet sich die Einleitung zum zweiten Discours an: „Ich erkenne in der

menschlichen Gattung zwei Arten von Ungleichheit [inegalité]: die eine, welche ich die natürliche [naturelle] oder physische [physique] nenne, weil sie von der Natur eingerichtet ist, und die im Unterschied des Alters, der Gesundheit, der Kräfte und der Eigenschaften des Geistes oder der Seele besteht; die andere, die man gemeinhin die gesellschaftliche [morale] oder politische [politique] Ungleichheit nennen kann, weil sie von einer Art Übereinkunft abhängt und durch die Zustimmung des Menschen eingerichtet oder wenigstens gebilligt wird. Die letztere besteht in verschiedenen Privilegien, die einige auf Kosten der anderen genießen, wie reicher, geehrter, mächtiger zu sein als diese oder sich sogar bei ihnen Gehorsam zu verschaffen.“ Auch Franz Moors Einsicht, dass nach dem Wesen natürlicher, nicht sozial generierter Ungleichheiten zu suchen nicht weiter führt, ist in dieser Rousseau-Stelle schon festgehalten: „Man kann nicht danach fragen, was die Quelle der natürlichen Ungleichheit ist, weil sich die Antwort in der einfachen Definition des Wortes ausgesprochen fände.“ Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen 1998, S. 31. 101 Auffallend ist die Ähnlichkeit der Kritik am „ehrlichen Namen“ mit der Kritik an der „Großmütigkeit“ in Eine großmütige Handlung. In beiden Fällen wird nicht das Phänomen selbst kritisiert, sondern sein Potential, in idealer Weise für egoistische Ziele instrumentalisiert werden zu können. Franz’ Einsicht, dass sich die gesellschaftliche Ordnung sowohl über äußere wie auch über innerlich wirkende Disziplinierungspotentiale gegenüber Umwälzungsbestrebungen immunisiert, erinnert wiederum an Schillers Überlegungen in der zweiten Festrede, die ebenfalls innere Seelenzustände mit äußeren Gegebenheiten verbinden und ließe sich über die konzeptionelle Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen näher beleuchten. Vgl. zu diesem theoretischen Zugriff Benthien, Tribunal der Blicke 2011.





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taphorik an dieser Stelle evoziert einen Rückfall in einen Urzustand, der jedoch nicht dem (als friedlich-natürlichen gedachten) Urzustand Rousseaus entspricht, sondern vielmehr dem Urzustand, den Hobbes und Locke im Sinne hatten, wenn sie beschreiben, dass dort ein permanenter Kampf der Individuen untereinander herrscht, ein Zustand, den zu überwinden sie als die maßgebliche Funktion des Gesellschaftsvertrages betrachten. Was Franz Moor hier also argumentativ vollzieht, ist zweierlei und durchaus voraussetzungsreich: Angelehnt an das Rousseau’sche Geschichtsmodell ist die triadische Struktur mit einer Negativkonnotation der Gegenwart und der Emphase einer Vergangenheit, zu der es zurückzukehren gilt. Die Beschreibung des Urzustandes vor dem Gesellschaftsvertrag als eines chaotischen, von Kontingenzen, Gewalt und Anarchie geprägten Verhältnisses ruft hingegen die klassischen Konzepte von Hobbes und Locke auf. Die sich daraus ergebende Positivbewertung von Desorganisation und ubiquitärer Bedrängnis wird gerechtfertigt über das Bild der Selektion der Schwimmenden. Der ordnungslose Urzustand bildet damit einen Möglichkeitsraum, in welchem die natürlichen Unterschiede unter den Menschen nicht zivilisatorisch überformt werden und sich derjenige, dem die Natur das größere Macht- und Gewaltpotential verliehen hat, im Konkurrenzkampf durchsetzen kann. Auch wenn diese Affirmation der Gewalt den Vorstellungen Rousseaus fundamental widerspricht, der Wunsch einer Überwindung angenommener Defizienzen der zivilisierten Moderne mag dadurch, dass er sich sehr wohl auf Rousseau berufen kann, in den 1780er Jahren Überzeugungskraft entwickelt haben. Ähnlich wie später im Sozialexperiment der Anekdote Eine großmütige Handlung liegt im Kern des Bildes der im Meer der Möglichkeiten konkurrierenden Schwimmer auch das Motiv einer aufklärerischen Methodik eingeschlossen, wird doch hier ein Analyseprozess abgebildet, in welchem ein latentes Potential über die methodischen Schritte der Differenzierung und des Vergleichs102 sichtbar gemacht (beziehungsweise ins Manifeste überführt) wird. Der Stärkere ist als solcher eben nicht von vornherein erkennbar. Seine ihn von den Anderen abhebende Potenz und seine daraus resultierende Überlegenheit werden erst sichtbar in einer Situation, in der er sich beweisen muss. Mit diesem Bild wird somit auch eine Antwort auf Rousseaus Frage aus dem zweiten Discours gegeben: [E]s ist kein leichtes Unternehmen, auseinanderzuhalten, was in der heutigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist [...] Welche Experimente wären nötig, um zur Erkennt-

102 Vgl. hierzu auch Kapitel 1.2.1.





1.1.1 Meer und Fluidität …

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nis des Naturmenschen [homme naturel] zu gelangen; und welches sind die Mittel, um diese Experimente im Innern der Gesellschaft durchzuführen?103

Indem aber sowohl das Bild der Schwimmenden in Die Räuber als auch das spätere Sozialexperiment in der Anekdote von 1784 sich als verfehlte Antworten herausstellen, erweisen Schillers Texte die Frage Rousseaus als zu einseitig. Auch wenn man Rousseau zugutehalten muss, dass er die Problematik seiner Frage durchaus selbst gesehen hat,104 kann konstatiert werden, dass Schiller schon in den 1780er Jahren förmlich mit Rousseau über Rousseau hinaus geht: Seine frühen Texte schließen an Rousseaus Überlegungen an, unterziehen diese einer differenzierenden Kritik und leisten so ihren eigenen Beitrag zum reflexiv gewordenen Diskurs der Aufklärung. Die dichotomische Struktur der sich in verschiedener Weise auf Widerfahrnis- und Gestaltbarkeitskontingenz beziehenden Meeresmetaphorik zeigt sich indes nicht nur in diesen beiden wichtigen Passagen der Räuber, sondern vielmehr in einem über Schillers frühe Dramen verteilten Geflecht von Textstellen. Wenn etwa Amalia in der Anagnorisis-Szene IV,4 den scheinbar abwesenden Karl mit den Worten „Er segelt auf ungestümen Meere“ (I, 583) charakterisiert, ist dies zugleich eine Zuschreibung von Mut beziehungsweise Risikobereitschaft wie ein Ausdruck von Sorge um den Geliebten. Dass wiederum der „Stammvater des gräflichen Hauses [Moor] [...] den Adel vom Barbarossa [erhielt], dem er wider die Seeräuber diente“ (I, 570) ist wiederum eine Betonung der Ordnungsseite einer entlang der Differenz von Ordnung und Kontingenz vollzogenen Unterscheidung.105 Der Ahnherr Karls wird hier als Person präsentiert, deren Vorbildlichkeit auf einer Bewältigung des (über die Meeresmetaphorik auf die soziale Gruppe der Seeräuber übertragenen) Prinzips des Kontingenten beruht. Karl und den Leserinnen des Dramas wird dadurch auch der unwiederbringliche Bruch,106 den Karls Räuberexistenz in der Genealogie seiner Familie hervorruft, vor Augen geführt. Karls biographischer Übergang vom Lebensstadium des Studierenden zu dem des Räuberhauptmanns kreuzt sich mit seinem Ausscheren aus der genealogischen Tradition einer Familie, die gerade in der Bekämpfung von Räuberaktivitäten im Dienste der politischen Ordnung ihre Konturen bekam. Anders als sein Ahnherr wird Karl seine Aufgabe nicht 103 Rousseau,

Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen 1998, S. 23. 104 Vgl. ebd. S. 22–23. 105 Dass der Zusammenhang aus Kontingenz und Ordnung in Schillers Denken fest verankert ist, wird in den Kapiteln zu seinen historischen Schriften, insbesondere in demjenigen zur Universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzügen noch eingehender thematisiert werden. 106 Das Konzept des Bruchs (auch in seiner Funktion als Kontingenzmarker) wird später den Kern der Schiller’schen Theorie des Erhabenen bilden. Es wird in dieser Arbeit in den Analysen zu Schillers klassischer Ästhetik und zur Braut von Messina noch eine bedeutsame Rolle einnehmen.





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mehr in der Bewältigung von Kontingenz sehen, sondern im Gegenteil die Grundlagen seiner Existenz gerade in der Schaffung neuer Kontingenzen für die Gesellschaft finden.107 Mehrfachmodalisierung und durchkreuzte Pläne (Kosinsky) Karl Moors Spiegelfigur Kosinsky gewinnt hingegen die für seine angestrebte Aufnahme in die Räubergemeinschaft hinreichende Sympathie, indem er von seinen gescheiterten Lebensplänen berichtet. Seine Antwort auf die Frage, was ihn zu der Räuberbande führe, beinhaltet ebenfalls das Bild des Einzelnen im Kampf mit der See: O Hauptmann! mein mehr als grausames Schicksal – ich habe Schiffbruch gelitten auf der ungestümen See dieser Welt, die Hoffnungen meines Lebens hab ich müssen sehen in den Grund sinken, und blieb mir nichts übrig als die marternde Erinnerung ihres Verlustes, die mich wahnsinnig machen würde, wenn ich sie nicht durch anderwärtige Tätigkeit zu ersticken suchte. [...] Ich wurde Soldat. Das Unglück verfolgte mich auch da – ich machte eine Fahrt nach Ostindien mit. Mein Schiff scheiterte an Klippen – nichts als fehlgeschlagene Plane! (I, 564)

Dieses sehr aufschlussreiche Zitat zeigt exemplarisch die Mehrdimensionalität, mit welcher Schiller bereits in den 1780er Jahren Kontingenz und Zeit miteinander verbindet. Zunächst wird der Schicksalsbegriff hier nicht mehr in einer Providenz, sondern stattdessen in einer Widerfahrniskontingenz anzeigenden Bedeutung gebraucht; es geht hier ganz explizit nicht um ein prädeterminiertes Schicksal, sondern um eine Begebenheit, die auch anders hätte kommen können.108 Dabei wird das Motiv des Schiffbruchs in der Figurenperspektive zunächst als recht unspezifische Metapher für einen als Widerfahrnis erlebten Vorfall in Kosinskys Leben verwendet. Das darauf folgende Bild der auf den Grund des Ozeans sinkenden Hoffnungen verdeutlicht dann jedoch, dass die spezifische Bedeutung dieses Ereignisses nicht in erster Linie in der Ereignissituation selbst liegt, sondern darin, dass in dem Moment seines Eintretens Hoffnungen vereitelt und Pläne durchkreuzt worden sind, dass also vorher noch mögliche und angestrebte Zukunftssituationen unmöglich geworden sind, demnach Kontingenz im Zeitverlauf geronnen ist. Dabei markiert schon der Begriff der ‚Hoffnung’ die Verschränkung der Komplexe Psy 107 Wie dieser doppelte Bruch im Stück dann auch performativ herausgehoben wird, soll in Kapitel 1.1.3

gezeigt werden.

108 Vgl. zu diesem Verständnis von ‚Schicksal’ etwa Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 3,

1798, Sp. 1439-1440. Dort heißt es, ‚Schicksal’ handle „[v]on Begebenheiten und Veränderungen eines Dinges, welche nicht in dessen Willkühr stehen, welche ohne dessen Zuthun in einer unbekannten Ursache außer ihm gegründet sind, wo man es besonders von solchen menschlichen Veränderungen, und selbst von solchen gebraucht, deren Grund in dem vorher gehenden Verhalten des Menschen man nicht einsiehet, wenn sie gleich wirklich in demselben gegründet sind.“ Zedlers Universallexicon enthält hingegen keinen Eintrag zu ‚Schicksal’ und behandelt das Thema über das Lemma ‚Fatum’, was jedoch im Vergleich zu Adelung und auch zu der Verwendung bei Schiller das Phänomen auf eine stark providentielle Lesart verengt.





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chologie und Zeitlichkeit. In Bezug auf einen vergleichbaren Kontext betont Rüdiger Campe, dass „Hoffnung [...] der psychologische Ausdruck oder die seelische Metapher der günstigen Fälle in Relation zu allen möglichen Fällen“ ist.109 Bei der Hoffnung handelt es sich damit schon per se um eine Emotion, die auf die Kalkulation einer offenen und damit mit Kontingenz gefüllten Zukunft ausrichtet ist. Indem hier aber die zeitlich über den singulären Moment hinausgehende Emotion der Hoffnung Kosinskys durch den abrupten Affekt der Enttäuschung gekappt wird, verschränkt Schiller zwei voneinander zu unterscheidende psychologische mit zwei zu unterscheidenden zeitlichen Dynamiken, nämlich Hoffnung/Enttäuschung und Zustand/Bruch. Entscheidend ist nun: In beiden sich überlagernden Dichotomien manifestieren sich gleichzeitig auch die Formen Gestaltbarkeit/Widerfahrnis, sodass hier schon ein differenziertes Nachdenken über Kontingenzphänomene sichtbar wird. Bedeutsam ist dabei aber vor allem, dass Kosinsky seine Erlebnisse berichtet, dass also Vergangenes hier nicht einfach auf Heutiges – aus der Sicht der Vergangenheit: die Zukunft – bezogen wird, sondern auf eine in der Vergangenheit mögliche, nun aber nicht wirklich gewordene Zukunft, wobei das Widerfahrniserleben Kosinskys genau mit dem Moment verknüpft ist, an dem sich die Unmöglichkeit dieser Zukunft herauskristallisiert. Was im Text vollzogen wird, entspricht damit exakt dem, was Luhmann „Mehrfachmodalisierung oder reflexive Modalisierung“110 nennt, nämlich dass Modalbestimmungen wiederum modalisiert werden können. Man kann über die Möglichkeit von Wirklichkeiten und über die Wirklichkeit von Möglichkeiten sprechen, wohl auch über die Möglichkeit von Möglichkeiten, die Möglichkeit von Notwendigkeiten usw.; [...] Das gleiche gilt für temporale Modalitäten.111

Vollzieht sich die Mehrfachmodalisierung unter Einbezug der Zeitdimension, wie im Falle des Konsinsky-Zitats, spricht Luhmann unter Bezug auf Werner Gent von „Historisierung der Zeit“.112 Indem also Kosinsky die Vergangenheit als vergangene Gegenwart erinnert, verleiht er ihr eine Bedeutung, welche in der für die Aufklärung gängigen Vorstellung von Vergangenheit als Präzustand einer prioritär gesetzten Gegenwart üblicherweise nicht zukommt.113 Die „Historisierung der Zeit“, die Kosinsky hier anlässlich seiner Lebensgeschichte vornimmt, avanciert etwa zwei Jahrzehnte nach Schillers Text zu einem der Grundprinzipien der sich unter dem Namen des ‚Historismus’ formierenden 109 Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist 2002, S. 124–

125. 110 Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 2, 1975, S. 140. 111 Ebd.

112 Vgl. ebd. 113 Vgl. hierzu auch die Kapitel zu Geschichtsdenken Schillers in dieser Arbeit.





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neuartigen Geschichtsbetrachtung. Dieses Prinzip zeigt sich dann insbesondere in der Anerkennung der Spezifizität der vergangenen Einzelereignisse und ihrer jeweiligen Zeithorizonte.114 Eine derartige Aufwertung vergangener Gegenwarten gegenüber der gegenwärtigen Vergangenheit bringt jedoch auch Zumutungen mit sich: Kosinsky muss ertragen, dass unter den ehemals zahlreichen Zukünften, eine aus seiner Sicht defiziente Zukunft zur Gegenwart geworden ist; genau deswegen muss er seine Erinnerung mit einem Latenzschutz115 überziehen, da sie ihn „sonst wahnsinnig machen würde“. Im weiteren Verlauf seiner Lebensgeschichte wird er Soldat und erneut kommt es zum Schiffbruch – anders als im vorangehenden Fall jedoch nicht mehr metaphorisch innerhalb seines Berichts, sondern als reales Ereignis eines auf dem Weg nach Ostindien116 an Meeresklippen scheiternden Schiffes. Nochmals wird hier betont, dass Kosinsky vor allem die sich auf erneute Weise zeigende Vergeblichkeit eines im Vorfeld gefassten Planes bewegt. Das ist insofern von besonderer Relevanz, weil genau hierin die spezifisch moderne Betrachtung des Phänomens der Widerfahrniskontingenz liegt. Wenn Stella Butter den Begriff ‚Widerfahrniskontingenz’ dadurch definiert, dass er sich „auf das Unvorhergesehene und Unkontrollierbare (z. B. Zufall oder Krankheit), das vom Subjekt als Widerfahrnis erlebt wird“ bezieht, dann ist dies eine Beschreibung, welche zunächst historisch ohne konkrete Verortung bleibt, also zu allen Zeiten Gültigkeit erlangen kann. Ein Ereignis, das jedoch nicht nur selbst unvorhergesehen und auf unkontrollierte Weise eintritt, sondern sogar Vorgesehenes durchkreuzt und Kontrollüberzeugungen als bloße Täuschungen entlarvt, hat demgegenüber eine weitere Dimension – es ist eine Erscheinungsform von Widerfahrnis, die sich passgenau in eine Welt einfügt, die nicht mehr einer Ordnung folgt, in welcher der Mensch sich seinem Schicksal fügt, sondern die in einer Welt, in welcher er nach immer größerer Gestaltungsreichweite, nach immer größerem Weltzugang strebt, erst ihre eigentliche Virulenz erlangt. Kontingenz wird dann nicht mehr etwa in ihrer Erscheinungsform als Krankheit interessant sein, sondern muss, indem sie auch in ihrer Widerfahrnisdimension bevorzugt an menschliches Handeln gebunden wird, vor allem als soziales Phänomen betrachtet werden.

114 Vgl. ebd.

115 Zum Begriff des Latenzschutzes vgl. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 2 1993, S. 27. Mit

dem Begriff Latenzschutz bezeichnet Luhmann das gezielte Ignorieren bestimmter, in der Regel stark irritierender, Informationen durch ein System. Dies erleichtert in vielen Fällen ein fortlaufendes Prozessieren in den Strukturen des Systems und verhindert einen sonst notwendigen Umbau der Strukturen. 116 Niederländisch-Indien mit dem Hauptstützpunkt der Niederländischen Ostindien-Kompanie, der Stadt Batavia (dem heutigen Jakarta), spielt auch in Schillers Anekdote Eine großmütige Handlung eine wichtige Rolle.





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Ein Denken, in welchem Widerfahrnisse und menschliches Handeln miteinander einhergehen, existiert zwar durchaus auch schon vor der Spätaufklärung. In der sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft um 1800 erlangt es aufgrund der extrem zunehmenden Komplexität, in der sich soziales Handeln vollzieht, jedoch eine Bedeutung, die es vorher nicht haben konnte. Zu beachten an der vorliegen Textstelle ist zudem: Der Schiffbruch in Kosinskys Rede interessiert die Rezipienten nur in seiner metaphorischen Bedeutung. Selbst beim zweiten Schiffbruch seiner Rede, dem bei der Rückkehr aus Ostindien auf Klippen auflaufenden Schiff, ergänzt Kosinsky, dass es ihm eigentlich um das Scheitern eines Planes, nicht um das existentielle Widerfahrniserleben während des Unglücks selbst geht. Auch hier fungiert der Schiffbruch also nicht in erster Linie als intradiegetisch reales Ereignis, sondern vor allem als extradiegetischer Bestandteil eines Archivs von Kontingenzmetaphern.117 Die Metaphorik des Schiffsbruchs tilgt förmlich das der Rede hier zugrunde liegende reale Ereignis.

Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle bleiben, dass die hervorgehobene Spezifität

eines Einzelerlebnisses von Schillers Text hier gleichzeitig in ein Spannungsverhältnis zum Ordnungsprinzip der Ähnlichkeit gesetzt wird. So spezifisch die Einzelereignisse der Biographie Kosinskys ihm auch subjektiv erscheinen mögen, es sind eben keine Singularitäen, sondern Ereignisse, die gerade über ihre erstaunliche Parallelität zu Karl Moors Leben dramatische Relevanz gewinnen. Die sich bis hin zur Namensidentität ihrer Geliebten steigernde unwahrscheinliche Ähnlichkeit zwischen Kosinsky und Moor intensiviert die durch die „Historisierung der Zeit“ gewonnene Betonung des Spezifischen und unterläuft sie zugleich. Die in ihrer Zuspitzung über Aristoteles’ Diktum, dass es „wahrscheinlich [ist], daß sich vieles gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt“118 noch hinausgehende Zufälligkeit des Aufeinandertreffens zweier identischer Lebenserfahrungen reproduziert die Kontingenz der vergangenen Erlebnisse in der Gegenwart – und dies innerhalb des Ordnungsverfahrens der Ähnlichkeit. Die Ähnlichkeitskonstellation relativiert nun zwar die Spezifität der beiden individuellen Lebensgeschichten, jedoch ohne deren Einzigartigkeit vollständig zu tilgen. Sie verleiht den persönlichen Prägun 117 Indem

die Meeresmetaphern über die Reden verschiedener Figuren und Szenen verteilt sind, erschließt sich der über sie entspannte Kontingenzdiskurs den Leserinnen und Zuschauern viel stärker als den Figuren. Über die sprachliche Seite des Textes werden so Informationen an die Rezipienten vergeben, die sich aus der Handlung selbst nicht erschließen lassen. Diese Technik, über Kontingenzmetaphern Figuren- und Rezipientenperspektive auseinanderzudividieren, wird Schiller in seinen späteren Texten (insbesondere zur Umsetzung subjektästhetischer Zielsetzungen) erneut fruchtbar machen. Vgl. dazu insbesondere die Analysen zur Braut von Messina in dieser Arbeit. 118 Aristoteles, Poet. 1456a.





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gen der beiden Figuren eine überindividuelle Relevanz und verweist auf eine Gesellschaftsordnung, in der Erlebnisähnlichkeiten in erster Linie nicht über Kollektivereignisse, sondern über vergleichbare Mikrosituationen zustande kommen. Gerade in der Unwahrscheinlichkeit der Identität beider Lebensläufe kommt dabei performativ zum Ausdruck, dass Lebenssituationen sich in der um 1800 neu formierenden Gesellschaft in der Regel nicht vollständig parallelisieren lassen, dass es sich – sollte dies dennoch einmal möglich sein – dabei um extreme Zufälle handelt. Dennoch ist diese vom Text konstituierte strukturelle Ähnlichkeit geeignet, die Rezipierenden dazu zu bewegen, intuitiv nach Ähnlichkeiten zwischen ihrer Biographie und derjenigen der Figuren zu suchen, die dann auch weniger stark ausgeprägt sein müssen als diejenige zwischen den beiden Figuren, sodass Widerfahrnis- und Gemeinschaftserleben auch in der Wirkungsdimension des Textes zusammenfallen, indem sie den jeweiligen Rezipienten erfahren lassen, dass die Figuren vergleichbare Planstellen im gesellschaftlichen Gefüge einnehmen.

Das Phänomen der Durchkreuzung im Vorfeld gefasster Pläne beziehungsweise

der Enttäuschung subjektiver Erwartungen ist jedoch nicht nur auf die Kosinsky-Szene beschränkt. Unter Rückgriff auf die Metaphorik des Fluiden verwenden Spiegelberg in Die Räuber wie auch Gianettino Dorias Vertrauter Lomellin in der Verschwörung des Fiesko ein ähnliches Bild, um die Widerständigkeit einer kontingenten Wirklichkeit gegen die gestalterischen Zugriffe menschlich-planvollen Handelns zu verdeutlichen. Nachdem Fiesko von Lavagna in einem Akt charismatischen Handelns sich der Sympathien der Genueser versichern konnte – er begnadigt den von Gianettino Dora beauftragten Attentäter Muley Hassan und kann so großmütig auf das Volk wirken, „ein Herzstoß“ (I, 686) für seine Gegner – fassen diese einen neuen Plan zur Umkehrung dieses Momentums: Nicht nur Fiesko, auch elf weitere Senatoren sollen in der Signora ermordet und Doria zum Herrscher ausgerufen werden. Lomellin gibt sich jedoch skeptisch und warnt davor, dass Gianettino „sich über diesem schwarzen Stein“ – bekanntlich eine Anspielung auf Fieskos Familiennamen Lavagna, der im Wortsinn italienischen Schiefer bezeichnet – „noch den Hals brechen“ werde (I, 687). Der neue Plan, mit dem das Scheitern des alten kompensiert werden soll, droht in den Augen Lomellins ebenfalls durchkreuzt zu werden, und Lomellin weiß auch schon weshalb: „Ein Loch im Faß Prinz! Fiesko besucht keinen Senat mehr!“ (I, 688). Auch in diesem Fall liegt eine Verbindung einer Metapher des Fluiden mit der Zeitdimension vor. Das Vorhaben hätte zu einem früheren Zeitpunkt funktionieren können, die gegenwärtige Realität entzieht sich seinem vollständigen Zugriff jedoch. Anders



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als im Fall geronnener Kontingenz, in der sich vormals Kontingentes als nun generell nicht mehr veränderbar erweist, wird mit der Wendung „Loch im Faß“ hier jedoch eine etwas verschobene Sachlage bezeichnet, in welcher sich eine Situation nicht als generell fixiert darstellt, sondern sich lediglich dem Zugriff einer bestimmten Methodik menschlichen Handelns, eines spezifischen Plans, entzieht. Ein recht ähnliches Bild wie Lomellin gebraucht auch Spiegelberg nach seiner Enttäuschung über sein durchkreuztes Vorhaben, selbst Räuberhauptmann zu werden, wenn er Karl Moor unterstellt, seinerseits nicht den Gesamtüberblick über das Geschehen zu besitzen: „Dein Register hat ein Loch – du hast das Gift weggelassen“ (I, 516).119 Auch Hermann, eine Spiegelfigur Franz Moors, muss sich mit gebrochenen Erwartungen abfinden, was ihm durch Franz, ebenfalls unter Rückgriff auf ein Bild aus dem Umfeld der Meeresmetaphorik, vor Augen geführt wird: Karl Moor habe Hermann die von beiden begehrte Amalia nämlich „weggefischt“ (I, 524). Mit der Erinnerung an diese Widerfahrnissituation gelingt es Franz, Herrmann zu affizieren und so als Werkzeug für die Agenda gegen seinen Bruder zu gewinnen.

In Karl Moors Reflexionen wird die Erscheinungsweise von Widerfahrniskontin-

genz jedoch nicht nur auf Brüche in subjektiven Erwartungsstrukturen bezogen, sondern stark an unintendierte Folgen subjektiven Handelns gebunden. Dies liegt durchaus nahe beisammen, ist die Voraussetzung für individuelle Handlungen doch in vielen Fällen eine Intention und damit eine Erwartung des durch dieses Handeln zu realisierenden Ergebnisses. Der Unterschied zum Widerfahrniserleben in Momenten reiner Erwartungsenttäuschung beruht hier aber darauf, dass das unintendierte und Widerfahrnischarakter annehmende Moment nicht auf eine externe Ursache zurückzuführen ist, sondern durch das Agieren des Subjekts ungewollt selbst hervorgerufen wird. Dabei kann es theoretisch auch dazu kommen, dass der Hauptzweck einer Handlung erfüllt wird, dass gleichzeitig aber nicht-antizipierte beziehungsweise unintendierte Nebenfolgen dieser Handlung eintreten. Karl Moor möchte nun eben dieses Phänomen als Entschuldungsargument für die Untaten seiner Räuberbande gebrauchen, indem er es in durchaus egoistischer Absicht zu einem Prinzip aufwertet, dessen allgemeiner Wirkmächtigkeit sich nicht einmal Gott entziehen könne: Höre sie nicht, Rächer im Himmel! – Was kann ich dafür? Was kannst du dafür, wenn deine Pestilenz, deine Teurung, deine Wasserfluten, den Gerechten mit dem Bösewicht auffressen? Wer kann

119 Im Grunde liegt hier zwar keine Metaphorik des Fluiden vor. Das „Loch im Register“ einer Orgelpfeife,

auf das Spiegelberg hier abhebt, verweist in seiner Verbildlichung eines Momentes der Disharmonie jedoch in deutlicher Weise auf das Kontingenzparadigma.





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der Flamme befehlen, daß sie nicht auch die gesegneten Saaten wüte, wenn sie das Genist der Hornissel zerstören soll? Wie beugt mich diese Tat! Sie hat meine schönsten Werke vergiftet.“ (I, 547f.)

Interessant ist, dass die Gleichsetzung mit einem Gott, der die Wirkungen seines göttlichen Handelns nicht vollständig kontrollieren kann oder will, einem impliziten Eingeständnis der Verantwortung Moors für die Taten seiner Bande gleichkommt. Moor empfindet sich also mindestens unbewusst verantwortlich für Aktionen der Räuber. Eine Identifikation mit ihnen entsprechend des im ersten Akt des Stücks konstituierten Isomorphismus120 und eine Distanzierung von ihren Taten stehen hier in einem kaum auflösbaren Spannungsverhältnis und verdeutlichen die innere Zerrissenheit des Protagonisten, der einen Ausweg nur in dem Phantasma einer regressiv gefärbten Selbstexklusion aus der Gesellschaft erblickt: „[H]ier entsag ich dem frechen Plan, gehe mich in irgendeine Kluft der Erde zu verkriechen“ (I, 548). Suche, Affirmation und Anerkennung von Kontingenz Wie bereits angedeutet, müssen die mit dem Begriff der Widerfahrniskontingenz erfassten Phänomene Risiko, Plötzlichkeit, Überraschung und Unverfügbarkeit nicht zwingend negativ bewertet werden. Eine Affirmation von Widerfahrnis zeigt etwa der ältere Bruder in der Anekdote Eine großmütige Handlung.121 In den frühen Dramen Schillers finden sich aber ebenfalls Situationen, in welchen sich Figuren Kontingenzen dieser Art bewusst aussetzen, weil sie kalkulierend zu der Auffassung kommen, dass die Chancen, die sich dadurch für sie ergeben, gegenüber den Gefahren überwiegen, weil diese Überschreitung ihnen alternativlos erscheint oder gar mit dem Versprechen lustvollen Erlebens verbunden ist. Auch derartige Haltungen gegenüber Kontingentem finden in den frühen Dramen Schillers in der Metaphorik des Meeres, der Meerfahrt und des Fluiden ihr Abbild. So drückt etwa Fiesko die günstige Gelegenheit, die sich ihm durch seine charismatische Wirkung auf die Verschwörer bietet, dadurch aus, dass er „diesen Wind benutzen“ müsse (I, 681).122 In ähnlicher Diktion beschreibt Miller in der ersten Szene von Kabale und Liebe die Motivation Ferdinands, der sich seines Erachtens ohne Bedenken dem Begehren für Millers Tochter Luise hingebe, mit dem Motto, „nun müssen alle Segel dran und drauflos“ (I, 1). Hier wird allerdings schon eine Perspektivendifferenz einge 120 Vgl. das Kapitel zur den Inklusions- und Exklusionsdynamiken der Räuber in dieser Arbeit. 121 Vgl. hierzu Kapitel 2.7. 122 Bei der Formulierung den „Wind [zu] benutzen“ handelt es sich genau genommen nicht um eine Meta-

pher des Meeres oder des Fluiden. Der Kontext des Segelns, in dem die Formulierung steht, lässt das Meer jedoch durchaus ihrem Assoziationsfeld erscheinen.





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zogen; Miller lehnt Ferdinands Werben aus Furcht vor Enttäuschung ab, gesteht diesem jedoch durchaus eine Perspektive zu, aus der das Werben um Luise Nachvollziehbarkeit gewinnt: „Ich verdenks ihm gar nicht. Mensch ist Mensch. Das muß ich wissen“ (I, 758). Auch Fiesko zeigt ein Bewusstsein für die Ambivalenzen des Phänomens der Widerfahrniskontingenz. So beschreibt er seine Sehnsucht nach Herrschaft über Genua mit dem spannungsgeladenen und hin zu anomischer Selbstauflösung tendierendem Bild, „all die kochenden Begierden – all die nimmersatten Wünsche in diesem grundlosen Ozean unterzutauchen“ (I, 698). Gegenüber Muley Hassan erklärt er hingegen, „[n]ichts kann zu ehrwürdig sein, das du nicht in diesen Morast untertauchen sollst, bis du den festen Boden fühlst“ (I, 689). Während in der ersten Textstelle das Untertauchen im Meer eine Befriedigung der Begierden repräsentiert und damit selbst Begehrenscharakter annimmt – das Begehren so auf paradoxe Weise also zugleich aufnimmt und befriedigt – ist in der zweiten das Untertauchen im Morast eine Notwendigkeit, um ein Reales zu erfassen, das sich latent hinter den Kontingenzen der Oberfläche verbirgt. Im Bild des Morastes, den zu durchtauchen es gilt, fallen Handlungstheorie und Epistemologie zusammen, Trübung und Viskosität des Morasts verunmöglichen zielgerichtetes menschliches Handeln und beeinträchtigen zugleich visuelle Wahrnehmung und damit metaphorisch auch intellektuelle Erkenntnis in erheblichem Maße. Nicht zufällig wird Kant später in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von einem „bloße[n] Herumtappen“ sprechen, zu dem es kommt, wenn der Erkenntnisprozess nicht wissenschaftlicher Stringenz folgt, sondern „nach viel gemachten Anstalten und Zurüstungen, so bald es zum Zweck kommt, oder, um diesen zu erreichen, in Stecken gerät, öfters wieder zurückgehen und einen andern Weg einschlagen muß.“123 Die Gefahr, dass derartiges „Herumtappen“ im Trüben dennoch zu einem ihm unerwünschten Zufallserfolg seines Bruders führen kann, sieht Franz, wenn er befürchtet, „daß mir zuletzt dieser unstete Landstreicher durch meine künstlichen Wirbel tölple“ (I, 572). In der Reflexion der nun zu ergreifenden Gegenmaßnahmen gebraucht Franz dann eine an die Bildlichkeit des Morastes angelehnten Semantik, indem er konstatiert, „doch ohnehin schon bis an die Ohren in Todsünde gewatet [zu sein], dass es Unsinn wäre zurückzuschwimmen, wenn das Ufer schon soweit hinten liegt“ (I, 572). Über den Bezug zu den Kategorien der Sünde und der Schuld wird die Metaphorik des Fluiden moralisch aufgeladen. Gleichzeitig werden Franz’ Normverstöße dabei aber auch implizit als eher unintendierte Sekun 123 KrV B VII.





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därfolgen eines (Land-)Grenzen überschreitenden Wagnisses eingestuft. Zudem kommt es in der Zeitperspektive zu einer recht interessanten Situation, denn die Erörterung der gegenwärtigen Handlungsoptionen – Franz spricht hier tatsächlich von „Spielarbeit“ (I, 572)124 – wird in Bezug zu vergangenen und nun nicht mehr realisierbaren Möglichkeiten, also in Bezug zu geronnener Kontingenz gesetzt: Zu einem früheren Zeitpunkt hätte er eben sehr wohl noch umkehren können. Recht ähnlich formuliert übrigens Fiesko die Unumkehrbarkeit der sich immer stärker verselbstständigenden und seiner Kontrolle entziehenden Entwicklungen im vierten Akt gegenüber seiner ihn über die wahre Bedeutung seines Handelns aufklärenden Gattin: „Leonore, hör auf! Die Brücke ist hinter mir abgehoben.“ (I, 732). Die Morastmetaphorik der Räuber gipfelt schließlich in einem anthropologischen Pessimismus, der hin zu einer nihilistischen Weltauffassung hypertrophiert: Es war etwas und wird nichts – Heißt das nicht ebenso viel als: es war nichts und es wird nichts und um nichts wird kein Wort mehr gewechselt – der Mensch entsteht aus Morast und watet eine Weile im Morast, und macht Morast, und gärt wieder zusammen im Morast, bis er zuletzt an den Schuhsohlen seines Enkels unflätig anklebt. (I, 577)

Diese Vorstellung eines ewigen, sinnlosen Kreislaufs der Materie verbunden mit der Reduktion des Menschen auf dessen leibliche Dimension wird Schiller in der im Umfeld seiner frühen Dramen entstandenen philosophisch-dramatischen Erzählung Der Spaziergang unter den Linden erneut verhandeln, einem Text, der im Übrigen als dezidierte Reflexion von Kontingenz und Zeitlichkeit gelesen werden kann und von der Metaphorik des Meeres und der Seefahrt geradezu beherrscht wird. Weltwahrnehmung im Modus der Kontingenz und Perspektivendifferenzen Hervorzuheben ist jedoch vor allem, dass in dem Franz-Zitat ein Bezug von einer Reflexion der eigenen Handlungsmöglichkeiten hin zu einer spezifischen Form der Welterklärung hergestellt wird. Dies ist insofern bedeutsam, weil es, wie Makropoulos betont, „[e]ntscheidend für das neuzeitliche Kontingenzbewusstsein ist“, dass „Kontingenz [...] – anders als in der Antike und noch im Mittelalter – nicht nur das menschliche Handeln [charakterisiert], sondern [...] gleichsam auch die Wirklichkeit [erfasst], in der sich dieses Handeln realisiert.“125 Handlungstheorie und Epistemologie werden gleichermaßen 124 Eine Nähe der Wendung zum späteren Spielbegriff der Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des

Menschen ist hier durchaus gegeben, da in Franz’ Aussage nicht nur ‚Spiel’ in Sinne eines unernsten ‚ludus’, sondern auch im Sinne eines unsystematischen, aber dennoch produktiven Umgangs mit Möglichkeitsräumen gemeint ist. 125 Makropoulos, Meer 2007, S. 7.





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als Gegenstandsbereiche ausgewiesen, die nun im Gegensatz zu früheren Epochen von Kontingenz erfasst werden. Im Spaziergang unter den Linden wird Schiller daher die pessimistisch-materialistische Weltbetrachtung, die auch Franz Moor in seinem MorastBild zum Ausdruck bringt, einer kritischen Reflexion unterziehen. In seinen frühen Dramen hingegen wird die Thematik kontingenter Perspektiven auf die Wirklichkeit in anderen Zusammenhängen behandelt. Insbesondere die Wahrnehmung wird dort als ein für Kontingenzen anfälliger Prozess beschrieben, der Zugriff des Subjekts auf die Wirklichkeit hinterfragt. So erklärt etwa Fiesko in der Szene III/10 der Verschwörung des Fiesko zu Genua – sexuelles Begehren und politische Intrige miteinander assoziierend –, dass „[d]ie Sinne [...] immer nur blinde Briefträger sein [müssen] und nicht wissen [dürfen], was Phantasie und Natur miteinander abzukarten haben“ (I, 712). Fiesko, der diese Äußerung just in dem Moment trifft, in dem er Julias Dekolleté verdeckt, schafft so einen doppelten Bezug und verbindet die erotisierende Wirkung eines Kleidungsstils, der statt auf Freizügigkeit auf eine die (männliche) Phantasie anregende Wirkung setzt, mit seiner klandestinen Agenda zur Erlangung der Herrschaft in Genua. Wenige Zeilen vorher wird dieser Zusammenhang schon angelegt, indem Fiesko die „hinaufgezwungene[n] Haare Julias mit den Worten öffnet, er verwirre beides gleichermaßen gerne, „Haare und Republiken“ (I, 711). Wenn Fiesko in dem Textumfeld dann auch betont, dass „[u]nsere Sinne [...] nur die Grundsuppe unserer inneren Republik“ sind (I, 712), so wird ein weiterer Bezug zur Dimension der psychologisch-anthropologischen Verfassung des Menschen eröffnet, welcher insbesondere durch die Textnähe zur vorangehenden politischjuristischen Verwendung des Begriffs „Republik“ eine isomorphe Strukturierung der inneren Verfasstheit des Subjekts und der gesellschaftlich-staatlichen Welt nahelegt. Seine innerpsychische Verfasstheit gestaltet sich dem erkennenden Subjekt in dieser Vorstellung also als in weiten Teilen ebenso unverfügbar wie die immer komplexer werdende Gesellschaft. Beide Sphären entziehen sich gleichermaßen einem vollumfänglichen subjektiv-beobachtenden wie gestaltenden Zugriff. Das Empirische kann also nur „die Grundsuppe“ der Erkenntnis bilden, auf der mit einer kreativ-konstruktiven Leistung aufgebaut werden muss, wenn weitergehende Aussagen über das psychologische Innere beziehungsweise über gesellschaftliche Zusammenhänge getroffen werden sollen. Fokussiert werden hier also genau die Momente, aus denen sich Möglichkeiten für Manipulationen ergeben. Das Bild des von Fiesko verhüllten weiblichen Körpers repräsentiert eine Gestaltung der Möglichkeiten visuellen Erkennens, die auf der Beobachterseite eine Konstruktionsleistung provozieren, deren Reiz gerade in ihrer zwangsläufigen



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Ungenauigkeit liegt. Analog dazu ist Fieskos politische Intrige verfasst, die im Wesentlichen darauf beruht, dass Fiesko seine Gegenspieler zu Fehlinterpretationen bewegen will. Sowohl über die Objektivierung des weiblichen Körpers wie auch über die Affirmation verdeckt strategischen Handelns anhand bewusster Täuschung und schließlich über ihren sexualisierten Willen zur Macht wird die Figur des Fiesko implizit einer negativen Bewertung unterzogen, die jedoch über die gleichzeitige Anwesenheit des im Stück geradezu als schematischen Bösewicht gezeichneten Antagonisten Gianettino in der Szene eine gewisse Relativierung erfährt. Bei diesem Verfahren uneigentlicher beziehungsweise uneindeutiger Zurücknahme handelt es sich um eine von Schiller gerne gebrauchte Methode zur Herstellung von textueller Kontingenz, mit dem simplifizierende normative Lesarten in ihrer Eindeutigkeit erschwert werden.126

Wichtiger an dieser Textstelle ist jedoch, dass sie die Kontingenz der empirisch

wahrnehmbaren Welt in Verbindung bringt mit der Möglichkeit, diese Kontingenz erst zu generieren, zu bearbeiten und zu rahmen. Was sich dem einzelnen Subjekt als Widerfahrnischarakter der ihn betreffenden Erfahrungen beziehungsweise der ihn umgebenden Welt darstellt, kann so auf die Sozialdimension transponiert werden, auf die Konstruktionsleistung eines anderen Subjekts. In dieser Betrachtungsweise wird Kontingenz aus ihren noch bei Leibniz so zentralen providentiellen Bezügen127 gelöst und – das ist der Unterschied zur Frühaufklärung – vollumfänglich im Bereich menschlichen Handelns platziert.128 Auf scheinbar paradoxe Weise wird Kontingenz dadurch auf scheinbar paradoxe Weise gestaltbarer, obwohl sie so unverfügbar bleibt wie zuvor. Notwendig für die Auflösung dieser vermeintlichen Paradoxie ist eine Einsicht in die Bedeutung von Erlebens- und Perspektivendifferenzen in komplexeren Gesellschaftsformationen. Eine solche zeigt Schiller etwa in Kabale und Liebe, wenn Luise Meeresmetaphorik und Insektenblick (in einer Art platonischem Denken) in einen Zusammenhang bringt und damit das Phänomen der Kontingenz mit der Gebundenheit des eigenen Erlebnis- und Welthorizonts an die Perspektivität subjektiver Konstruktionsleistungen verbindet: „Fühlt sich doch das Insekt in einem Tropfen so froh und selig, als wär es ein Himmelreich, bis man von einem Weltmeer erzählet, worin Flotten und Walfische spielen“ (I, 828). 126 Vgl. dazu auch das Kapitel zu Eine großmütige Handlung in dieser Arbeit. 127 Vgl. hierzu generell Vogl, Poetologien des Wissens um 1800. 128 Anzumerken ist jedoch, dass Schiller hier noch keinen konsequenten Vollzug hin zu einem rein profa-

nen Weltbild vollzieht. Wie unter anderem der Schaubühnenaufsatz zeigt, werden die Instanzen der Religion und der weltlich-sozialen Interaktion eher additiv als substituierend aufeinander bezogen. Man kann hier durchaus eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Schillers frühen Texten ausmachen.





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Im Wirkungskreis dieser übergeordneten Einsicht in die Abhängigkeit des eige-

nen Weltbildes von den Konstruktionen und Rahmungen anderer Subjekte steht auch der Schillers frühen Dramen immanente Misstrauensdiskurs. Dieser zeigt sich beispielsweise im ersten Auftritt der fünften Szene über die Warnung, mit welcher der maskierte Fiesko seinen Gegenspieler Andreas Doria vor „eine[m] Mann furchtbarer als deine [Dorias] zürnende See. Johan Ludwig Fiesko“ (I,734) warnt – also vor sich selbst! Dorias gelassene Reaktion beantwortet Fiesko mit einer Intensivierung der – Schillers Tigermetapher aus der Vorrede zur ersten Auflage der Räuber in eine Latenz- und Kontingenzsemantik überführenden – Warnung: „Unglücklicher alter Mann – traue der Schlange nicht. Sieben Farben ringen auf ihrem spiegelnden Rücken – du nahst und gählings schnürt dich der tödliche Wirbel.“ (I, 734).129 Schon in der Regieanweisung der kurzen Szene ist die Meeresmetaphorik stark hervorgehoben: „Im Hintergrund der Bühne sieht man das Thomastor, das noch geschlossen ist. In perspektivischer Ferne die See. [...] Alles ist ruhig. Nur das Meer wallt etwas ungestüm“ (I, 733). Im Bild des latent bedrohlichen Meeres ist die Potentialität kommenden Unheils zu erahnen. Das Misstrauen der Figur und die darin eingeschlossene Furcht vor zukünftigen Widerfahrnissen (beziehungsweise genereller: vor der Widerfahrniskontingenz selbst) erhalten in dieser Meeresmetapher eine konkrete (und poetische) Gestalt. Das Thomastor wird bereits im dritten Aufzug als der „wichtigste“ der „festen Plätze der Stadt“ bezeichnet, weil „es zum Hafen führt und unsere [der Verschwörer] Seemacht mit der Landmacht verknüpft“ (I, 707). Das Thomastor als der Ort, an dem ähnlich einer Landgrenze, Möglichkeit und Wirklichkeit beziehungsweise Potentialität 129 Die vielzitierte Stelle aus den Räubern lautet: „Wenn es mir darum zu tun ist, ganze Menschen hinzu-

stellen, so muß ich auch ihre Vollkommenheiten mitnehmen, die auch dem Bösesten nie ganz fehlen. Wenn ich vor dem Tiger gewarnt haben will, so darf ich seine schöne blendende Fleckenhaut nicht übergehen, damit man den Tiger nicht beim Tiger vermisse“ (I, 487). Hier schichtet der Text mehrere Ebenen des Imaginären über einen im Wesen egoistisch motivierten Sachverhalt. Fieskos Beweggrund zu der widersprüchlichen Aktion, Doria vor sich zu warnen, liegt in seinem Begehren, diesen auch an Großmut zu übertreffen. Im Kern handelt es sich also nur um ‚scheinbare Großmütigkeit’. Zum Begriff der ‚Großmütigkeit’ vgl. auch das Kapitel zur Anekdote Eine großmütige Handlung in dieser Arbeit. Dass Fiesko und Doria die einzigen in der Szene auftretenden Figuren sind, die angestrebte großmütige Wirkung sich also nicht in einem sozialen Raum entfalten kann, offenbart, dass hier innerpsychische Dynamiken Fieskos verhandelt werden. Die Figur Fiesko formt performativ ihr eigenes Gewissen und greift dabei in doppelter Weise auf Techniken theatraler Konstruktion zurück: zum einen verschleiert sie ihre Identität durch die Maske nach außen – ein notwendiger Latenzschutz als Bedingung der Möglichkeit, dass Doria der Warnung überhaupt Glauben schenken kann – zum anderen etabliert sie einen innerpsychischen Latenzschutz gegenüber der Einsicht, dass ihr Handeln nicht durch ‚wahre’, sondern durch ‚falsche Großmütigkeit’ motiviert ist. Es fallen hier zwei Paradoxien zusammen: äußerlich die Gefährdung des egoistischen Ziels politischer Herrschaft durch das egoistische Ziel, großmütig scheinen zu wollen, und innerlich die Verschleierung der egoistischen Motivation eines Willens zur Macht durch eine Großmut, deren egoistischer Ursprung ebenfalls verschleiert wird bzw. werden muss.





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und Aktualität aufeinander bezogen werden, wird dann am Ende der Szene V,1 zum Schauplatz des ersten Gefechts der Revolte: „Das Tor wird gesprengt und öffnet die Aussicht in den Hafen, worin Schiffe liegen, mit Fackeln erleuchtet.“ (I, 734) Auch hier gehen also Meeresmetaphorik und Kontingenzdenken miteinander einher. Hier zeigt sich darüber hinaus aber bereits eine Perspektive auf das Phänomen der Kontingenz, in welcher dieses verstärkt dynamische Qualitäten aufweist: Zum einen erkennbar in der im Text zweifach vollzogenen Bewegung von den Plätzen der Stadt über das Thomastor zum Meer, zum anderen in der Dynamik ausdrückenden Vorstellung des Durchbruchs durch das Tor.130 Metaphoriken der Ingestion Der in der Schlangenmetapher anklingende Misstrauensdiskurs zeigt sich auch an anderen Stellen in Schillers frühen Dramen, so etwa in der Furcht Franz Moors davor, vergifteten Wein gereicht zu bekommen (vgl. I, 573). Überhaupt bekommt das Motiv des Trinkens im Kontext der Metaphorik des Meeres und des Fluiden in Schillers frühen Dramen besondere Relevanz. Nicht nur der Doppeltod von Ferdinand und Luise ist auf das Trinken süßer Limonade zurückzuführen, von deren verborgenen Giftinhalt jedenfalls Luise nichts wissen kann. Auch Leonore wird von ihrer Konkurrentin Julia durch das heimliche Auflösen von Gift in der täglichen Trinkschokolade Schaden zugefügt. Im Bild der unbewussten Ingestion einer giftigen Substanz über eine damit kontaminierte Flüssigkeit wird ein für die menschliche Wahrnehmung unverfügbarer Ausschnitt der Realität – hier die in der Schokolade oder Limonade unsichtbar enthaltene Substanz – ursächlich für den auf die Konsumption folgenden Zusammenbruch der Wahrnehmung und des Bewusstseins. Diese Gefahr eines Risses in der adaequatio rei et intellectus wird auch in der fünften Szene des dritten Aktes von Kabale und Liebe reflektiert. Luise versucht dort ihre Ängste zu rationalisieren, indem sie unter Verwendung der Metaphorik des Trinkens auf eine psychische Infektion durch ein Phantasma abhebt: „Es ist nichts Wirkliches – es ist das schaudernde Gaukelbild des erhitzten Gemüts – hat unsere Seele nur einmal Entsetzen genug in sich getrunken, so wird das Aug in jedem Winkel Gespenster sehen.“ (I, 810) Die ein intellektuelles Ordnen der Wahrnehmungen verunmöglichende Konsumption von Kontingenz lässt das Subjekt hier ins Bodenlose fallen. Die Erkenntnis,

130 Eine ähnliche Bewegung des Beobachtungsfokus’ findet auch an entscheidender Stelle in der Braut von

Messina statt (genauer: in der Regieanweisung nach V. 980). Vgl. dazu Kapitel 4.3 dieser Arbeit.





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dass jede Erkenntnis trügerisch sein beziehungsweise auch anders ausfallen kann, verweist auch reflexiv auf sich selbst. Inwieweit der Figur die Gefahr eines derartigen ‚infiniten Regresses’ bewusst ist, lässt sich durch den Text nicht abschließend ermitteln. Möglich wäre durchaus, dass die Figur einen Latenzschutz in diese Denkfigur einzieht, dass sie den in der Denkfigur logisch angelegten Abgrund absoluter Kontingenz also ignoriert und so performativ eine beruhigende Wirkung auf sich selbst evoziert. Für die Leserin oder den Zuschauer liegt jedoch die Schlussfolgerung nahe, dass sich hier ein sich selbst beobachtendes Subjekt der Existenz eines blinden Flecks bewusst wird, jedoch gleichzeitig der Unmöglichkeit unterliegt, diesen fixieren zu können.

Diese Tendenz des Kontingenzparadigmas hin zum Absoluten verdeutlichen

Schillers frühe Dramen auch in ihrer dynamischen Zusammenführung von Subjektivität und Meeres- bzw. Flussmetaphorik im Bild des Suizids im Fluss. So spricht Lady Milford als einziger Charakter des Stückes mit einer das Fragmentarische übersteigenden Biographie davon, dass sie verzweifelt und allein in einem für sie fremden deutschen Staat dem Selbstmord nahe war: „[E]ine ausländische Waise kam ich nach Hamburg [...] Ich spazierte damals an den Ufern der Elbe und fragte mich, ob dieses Wasser oder mein Leiden das tiefste wäre.“ (I, 786) Fließendes Gewässer und subjektives Leid beziehungsweise Unglück werden hier als spezifische Formen der Verzeitlichung von Kontingenz zusammengebunden. Dass die Szene durch Kontingenzreflexionen bestimmt ist, zeigt sich darüber hinaus auch darin, dass Lady Milford durch eine Zufallsbegegnung aus ihren düsteren Gedanken gerissen und so die Möglichkeit eines Suizidvollzugs durchkreuzt wird: „[U]nd jetzt führte das Schicksal Ihren Herzog nach Hamburg“ (I, 786). Der Herzog spricht die Lady also just in dem Moment ihrer suizidalen Gedanken an. Im Zuge der sich nun zwischen beiden entwickelnden (Liebes-)Beziehung folgt Milford dem Fürsten in dessen Kleinstaat, wo sich der scheinbare Retter jedoch wider Erwarten als ein Regent mit despotischen Zügen entpuppt. Providenzsemantik, zufälliges Aufeinandertreffen, durchkreuzter Plan und schließlich die Erwartungsenttäuschung in Bezug auf die Person des Herzogs werden hier zusammen mit der Suizidalität und der Flussmetapher in ein ganzes Spektrum an Erscheinungsformen des Kontingenten und der Kontingenz überführt. Die Konkretisierung eines Suizids über die Metaphorik des Ertrinkens im Fluss wird jedoch noch deutlicher in der ersten Szene des fünften Aktes herausgestellt. Luises Verlangen, „in den Fluss [zu] springen und im Hinuntersinken Gott den Allmächtigen um Erbarmung [zu] bitten“ (I, 838), verbindet die anomischen und fatalis-





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tischen,131 aufs Kontingente verweisenden Eigenschaften des Suizids durch Ertrinken mit einer rational kalkulierenden Praxis strategischen Handelns. Im Prozess des Sterbens soll noch mit Gott verhandelt werden – die Imagination einer Praxis, die von Miller mit dem Verweis auf die Unmöglichkeit, Gott zu täuschen, auch umgehend dekonstruiert wird. Die Metaphorik der Ingestion in Schillers frühen Dramen beschränkt sich jedoch nicht auf die unbewusste Einnahme einer schädlichen Substanz und die im Suizidmotiv verhandelte Anomiethematik. Entsprechend der Zweiseitigkeit des Kontingenzparadigmas beschreiben Schillers Texte auch die Gestaltbarkeitsmöglichkeiten, die sich dem Einzelnen in einer aufs Soziale geweiteten Perspektive ergeben. Schon im Suizid in seiner Eigenschaft als einem durch eigenes Handeln aktiv hervorgerufenen Widerfahrnismoment ist diese Doppelseitigkeit angelegt. Die unbewusst erfolgende Einnahme von Gift verweist wiederum implizit auf einen Anderen, der das Gift in der Regel bewusst verabreicht – auch hierin fallen also Widerfahrnis und Gestaltbarkeit zusammen, nur dass die beiden Phänomene (anders als bei Suizid) sich hier auf verschiedene Subjekte verteilen. Diese Trennung eröffnet dem Dramatiker wiederum ästhetische und poetische Potentiale, da sie auf den Prinzipien der Perspektivendifferenz bzw. Informationsasymmetrie, also klassischen dramentechnischen Mitteln, beruht. Diese Mittel sollten jedoch nicht den Blick auf die (die reinen rezeptionsästhetischen Wirkungen überteigende) analytische Qualität der Schiller’schen Kontingenzreflexionen verstellen. Bemerkenswert ist, wie variantenreich Schiller die Konstellationen aus Gestaltbarkeit und Widerfahrnis in seinen frühen Dramen gestaltet. Während im Fall des Suizidmotivs eine Identität beider Kategorien vorliegt – die Widerfahrnis wird willentlich hervorgebracht und demgemäß auch affirmiert, wird im zweiten Fall die Differenz der Kategorien auf verschiedene Subjekte verteilt: eben auf das Widerfahrnis produzierende und auf das Widerfahrnis erleidende Subjekt. Schillers Dramen zeigen jedoch auch Figuren, die Widerfahrnisse zu bewältigen suchen oder sich gar im Unsicheren über ihre Rollen als potentielle Widerfahrnisse (für andere) verursachende Personen befinden.



131 Inwieweit der Charakter von Luises Suizidalität mit den Kategorien Durkheims zu fassen ist, wäre ei-

ner eingehenderen Untersuchung zu unterziehen. Dass Luises Reflexionen fatalistische Züge tragen, liegt nahe; dennoch lassen sich – etwa in der bürgerlich-ökonomischen Dimension ihres Denkens – auch egoistische Tendenzen ausmachen. Altruistische Neigungen – wie beispielsweise in ihrem punktuell durchaus auf Verzicht ausgerichtetem Handeln – sind Luises Charakter ebenfalls nicht fremd. Anzunehmen ist jedoch, dass – vor allem über die Flussthematik – Anomie verhandelt wird. Zu den Kategorien des Suizids vgl. Durkheim, Der Suizid 1973, S. 318 FN29 und S. 319-340.





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So versucht Brutus in Karl Moors Lied von Cäsar und Brutus die Geistererscheinung seines Antagonisten mit dem Imperativ „Kreuch zurück in deine Flut!“ (I, 590) zu bannen. Die irreale Erscheinung soll dadurch zurückgetrieben werden in die vom anschwellenden Wasser verkörperte Sphäre des Möglichen und Nicht-Wirklichen und sich dort auf anomische Weise auflösen. Zweifel an seiner Rolle eines Widerfahrnisse bei Anderen auslösenden Subjekts überkommen hingegen Ferdinand in Kabale und Liebe, wenn er im Blick auf seine Geliebte, Luise, – die schon in den Räubern so dominante Teufelsmetaphorik mit der Metaphorik des Trinkens verbindend – fragt: „Die Hölle soll ich in diesen himmlischen Busen schütten?“ (I, 788). Hier wird die Spannung aus Kontingenz und Ordnung auf doppelte Weise herausgestellt. Die statische Opposition Hölle/Himmel und damit Chaos/Eunomie wird gekreuzt durch den dynamischen Prozess der gewaltsamen Ingestion einer vergifteten Flüssigkeit. Dass diese Textstelle – wie auch die bereits thematisierte Metaphorik des Giftes – damit Bezüge zu dem medizinisch-anthropologischen

Hygiene-

und

Infektionsdiskurs

des

ausgehenden

18. Jahrhunderts mit seinen vielfältigen Implikationen aufweist, liegt auf der Hand.132 Gleichzeitig schließt sie an die Diskussion empiristischer und rationalistischer Denkweisen, die im 18. Jahrhundert häufig über die Differenz Chaos/Himmel verhandelt wird, an.133 Die in diesen extremen Oppositionen angelegte Tendenz der frühen Dramen Schillers, ihre Themen mit Blick auf das Äußerste zu verhandeln, ist zum einen ihrer kontextuellen Verortung in der Geniezeit geschuldet. Zum anderen wird dieses Moment des Exzesses so weit getrieben, dass es zu einer eigentümlichen Zwischenpositionierung der Texte zwischen Affirmation und Kritik des Geniekultes, einer Positionierung im Unscharfen und Uneindeutigen, im Kontingenten kommt. 132 Vgl. dazu Zumbusch, Immunität der Klassik 2011, u.a. S. 53–54. Auch schließt Textstelle über die Expli-

zierung, dass die „Hölle“ hier einem weiblichen Körper eingeflößt werden soll, an den in Kabale und Liebe virulenten Diskurs des Verlustes weiblicher Virginität an. Dabei ist gerade Ferdinand diejenige Figur, welche den Zusammenhang zwischen Reinheit und Jungfräulichkeit am intensivsten herstellt. Gegenüber dem Hofmarschall äußert er sich dahingehend: „Zuletzt erstaunt man über die große Polizei der Vorsicht, die auch in der Geisterwelt ihre Blindschleichen und Taranteln zur Ausfuhr des Gifts besoldet. – Aber (indem seine Wut sich erneuert) an meine Blume [Luise, MK] soll mir das Ungeziefer nicht kriechen“ (I, 821). Kurz darauf konkretisiert er seine Befürchtungen, auch hier einen Zusammenhang zwischen Hygienediskurs und Himmel/Hölle-Opposition herstellend: „Bube! Wenn sie nicht rein mehr ist? Bube! Wenn du genossest, wo ich anbetete? (Wütender) Schwelgtest, wo ich einen Gott mich fühlte? (Plötzlich schweigt er, darauf fürchterlich) Dir wäre besser, Bube, du flöhest der Hölle zu, als daß dir mein Zorn im Himmel begegnete“ (ebd.). Derartige Stellen in Schillers frühen Texten werden häufig herangezogen, um dem Autor eine sexuelle Fixierung zu unterstellen, die darüber hinaus auch noch den traditionell-feudalen Sexualnormen verhaftet sei. Wie wichtig jedoch eine distinkte Differenzierung zwischen Autor- und Figurenebene ist, lässt sich anhand von Schillers Anekdote Eine großmütige Handlung zeigen. Vgl. Kapitel 2.7. 133 Beispielsweise mehrfach auch in Schillers Diskurs über Tugend und Liebe. Vgl. dazu das zweite Kapitel dieser Arbeit.





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Die in Bezug auf die Metaphorik des Trinkens vielleicht stärkste Metapher mag dies verdeutlichen. Sie findet sich gleich im ersten Akt der Räuber. Karl Moor agiert seine Erwartungsenttäuschung über die väterliche Verstoßung bekanntlich in Form eines, wie Schiller in seiner Selbstbesprechung der Räuber schreibt, „Universalhaß[es] gegen das ganze Menschengeschlecht aus“ (I, 625).134 Im Anschluss an diese Äußerung zitiert die Selbstbesprechung nicht zufällig die folgende Meeresmetapher aus besagter Stelle des ersten Akts der Räuber: Ich möchte ein Bär sein, und die Bären des Nordlands wider dies möderische Geschlecht anhetzen – Reue, und keine Gnade! – Oh, ich möchte den Ozean vergiften, daß sie den Tod aus allen Quellen saufen! Vertrauen, unüberwindliche Zuversicht und kein Erbarmen! (I, 514)

Narzisstisch gekränkt durch die konstatierte Imbalance zwischen gezeigter Reue und verweigerter Gnade perpetuiert Karl Moor hier einen durch Erwartungsenttäuschung hervorgerufenen Verlust emotionaler Stabilität zu einer dissozialen und aggressivdestruktiven Manie. Zusammengebunden werden in diesen wenigen Zeilen die Phänomene der Reue, der Erwartungsenttäuschung, die Metaphorik des Meeres und des Trinkens, die Motivik des Begehrens, der Triebhaftigkeit und der Natur zu einem schillernden und komplexen Bild des Exzesses und der Kontingenz. Perspektiviert wird die Metaphorik der Ingestion in Schillers frühen Dramen jedoch auch noch auf eine andere Weise. Eine Erweiterung erfährt die Unterscheidung von unbewusster Aufnahme und willentlicher Einflößung eines Liquids nämlich auch in der Unterschiedlichkeit der Bewertung dieses Aktes durch das die jeweilige Flüssigkeit aufnehmende Subjekt. Schillers frühe Dramen stellen eben nicht nur Negativerfahrungen in Form von Widerfahrniserlebnissen beim trinkenden Subjekt vor, sondern zeigen auch – unter anderem etwa im großen Fiesko-Monolog des zweiten Auftritts im dritten Aufzug des Stückes –, dass eine Ingestion darüber hinaus als Auslöser leidenschaftlichtransgressiver Ekstase fungieren und positiv bewertet werden kann. Der von seinen Machtgelüsten euphorisierte Fiesko verkündet dort, „den ersten Mund am Becher der Freude“ (I, 698) zu haben. Auch ist diese Textstelle wiederum eingebettet in einen erweiterten Metaphernkomplex, mit welchem die Selbsterhebung Fieskos aus den Kontingenzen der gewöhnlichen Welt beschrieben wird: (Mit erhabenem Spiel) Zu stehen in jener schröcklich erhabenen Höhe – niederzuschmollen in der Menschlichkeit reißenden Strudel, wo das Rad der blinden Betrügerin Schicksale schelmisch wälzt. (I, 698)



134 Vgl. dazu auch die immer noch einschlägigen Arbeiten von Schings, insbesondere Schings, Schillers

‚Räuber’. Ein Experiment des Universalhasses 1982, S. 1–21.





1.1.1 Meer und Fluidität …

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In einem Akt der Selbst-Exklusion erhebt sich das Subjekt hier aus dem für gewöhnlichen Genueser geltenden Wirkungsbereich Fortunas, als der Gesellschaft selbst.135 Das Herablächeln auf die Anderen stiftet darüber hinaus ein Moment stärkster Distinktion. Bei dieser Textstelle handelt es sich um eine Variante der von Hans Blumenberg so eingehend diskutierten Metapher vom Schiffbruch mit Zuschauer. Der mit Verweis auf eine Passage bei Galiani explizierte Zusammenhang, den Blumenberg zwischen dem Bild eines im Trockenen befindlichen Beobachters des tragisch endenden Kampfes einer Schiffsbesatzung mit den Naturkräften des Meeres auf der einen und der Situation des Zuschauers während der Theateraufführung auf der anderen Seite herausarbeitet,136 ist auch hier einschlägig. Dem Blick Fieskos auf die Genueser entspricht der Blick des Zuschauers auf die Bühnenfigur Fiesko. Figur und Zuschauer befinden sich also in einer ästhetisch analogen Situation. Zudem, auch darauf weist Blumenberg hin, wird im Bild des Schiffbruchs mit Zuschauer die Position des Zuschauers durch das Ereignis des Schiffbruchs als kontingent ausgewiesen. Der Schiffbruch Alters und die Sicherheit Egos erinnern Ego daran, dass seine Sicherheit nur eine trügerische ist. Das Bild beschreibt also „eine didaktische Situation,“137 in welcher der Beobachter und gleichzeitig der Beobachter dieses Beobachters – der Zuschauer im Theater – vorbereitet wird, auf das, was ihm potentiell zustoßen könnte: Schiffbruch und Zuschauer, das ist hier nur die vordergründige Verbildlichung der Situation; dahinter ist der Schiffbruch ein Lehrstück, das von der Vorsehung gespielt wird. Die Sicherheit des Zuschauers ist durch die Gestalt des bösen Genius bedroht, der ins Meer stürzen könnte – im Rahmen dieses Dualismus von Vorsehung und bösem Geist wird das Ganze ausgetragen. Die Metapher ist nur die Übertragung einer Übertragung.138

Der durch diese Parallelisierung angelegten Gleichsetzung des Theatergängers mit einer Figur, deren Verstöße gegen die geltenden Normen sich gerade auch darin zeigen, dass sie ihre Unbetroffenheit von den Schrecknissen der anderen mit Genuss erlebt, wohnt auch ein Moment der Gewalt inne: Im Fall des Fiesko werden die Leserinnen und die Zuschauer in eine Identifikation mit einem Verbrecher gedrängt. „Der Zuschauer genießt das [...] Selbstbewusstsein gegenüber dem Atomwirbel, aus dem alles besteht, was er betrachtet, sogar er selbst,“139 schreibt Blumenberg über diesen Zusammenhang. Gleichzeitig führt gerade dieses Selbstbewusstsein in der Verschwörung des Fiesko zu Genua

135 Das Gegenbeispiel dazu bildet Luise, für welche die Distanz dem, was gesellschaftlich als Norm gilt, zu

ihren Leidenschaften und Unsicherheiten kein Glücksmoment darstellt, sondern eine leidvolle, deprimierende Erfahrung: „Warum bin ich auch so fühllos, mitten im Wonnewirbel so kalt?“ (I, 612). 136 Vgl. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer 1979, S. 41–51. 137 Ebd., S. 51. 138 Ebd. 139 Ebd., S. 31.





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am Ende zum Tod des Verschwörers. Die mit der Empathie des Zuschauers geadelte Figur wird am Ende von ihrem Freund und Gegenspieler ins Meer gestoßen, wo sie hilflos ertrinkt. Die Schaubühne wirkt hier – und zwar auch auf performative Weise eine Katharsis hervorrufend – durchaus als moralische Anstalt. Die Zuschauer werden förmlich von ihrer Empathie für den Verbrecher Fiesko gereinigt, allerdings ohne dass der Text dies explizit herausstellen müsste.

Insgesamt zeigt sich damit, dass die hohe Varianz der Meeresmetaphoriken in

Schillers frühen Texten bereits eine nicht zu unterschätzende Breite seines Kontingenzdenkens verdeutlicht. Die Art und Weise, mit der die Einzelmetaphern jeweils das Phänomen der Kontingenz abbilden zeigt – insbesondere in ihrem Zusammenspiel mit Modalsierungen über das Phänomen der Zeit – darüber hinaus schon eine beachtliche Reflexionstiefe im Kontingenzdenken des jungen Schillers.







1.1.2 (Glücks-)Spiele

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1.1.2 (Glücks-)Spiele Dass der Spielbegriff für die Interpretation der Texte Schillers von zentraler Bedeutung ist, bedarf wohl keiner eingehenderen Begründung mehr. Schillers Überlegungen und Reflexionen zum Spiel, insbesondere zum ästhetischen Spiel, gehören zu den am häufigsten zitierten seines Werkes, bei dem bekannten Zitat aus der Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen, „der Mensch spielt nur, wo er in der vollen Bedeutung des Worts Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (V, 618), dürfte es sich um eines der meistbemühten Zitate der deutschen Literaturwissenschaft überhaupt handeln.140 Diese herausgehobene Stellung der Schiller’schen Theorie des ästhetischen Spiels führte jedoch auch dazu, dass sich in der Forschung eine Tendenz herausbildete, Phänomene, Motive und Semantiken des Spiels verstärkt auf den maßgeblichen Text von 1795 zu beziehen oder von diesem her zu deuten.141 Dieses Vorgehen soll hier nicht generell infrage gestellt werden – es ist sicherlich geeignet, bestimmte Aspekte auch von Schillers frühen dramatischen Arbeiten verständlich zu machen. Die methodischen Risiken eines solchen Vorgehens sollten jedoch nicht unterschätzt werden.142 Auf die sich dadurch vollziehende Überschreitung von Gattungsdifferenzen macht unter anderem etwa Daniel Fulda aufmerksam.143 Für die vorliegende Arbeit ist jedoch die Tatsache von Bedeutung, dass ex-post-Erklärungen dazu neigen, historische Spezifität zugunsten einer Entwicklungstendenz einzuebnen und damit der geschichtlichen Situation nicht gerecht zu werden.144 Fulda etwa wendet sich gegen eine Dominantsetzung der ästheti 140 Dennoch gibt es in Bezug zu Schillers vielschichtiger Theorie des äthetischen Spiels immer wieder neue

Zugänge, Deutungen und Kontextualisierungen. Wie sich Schillers ‚ästhetisches Spiel’ in seiner Lesart als Praxis der Autonomie in eine längere Semantik des Spiels einfügt, zeigt etwa sehr differenziert Stefan Matuschek. Vgl. Matuschek, Literarische Spieltheorie 1998, hier vor allem S. 183–214. 141 Exemplarisch hierfür ist etwa Hinderer, Von der Idee des Menschen 1998. Die Seiten 203–252 dieser Aufsatzsammlung behandeln die Verschwörung des Fiseco zu Genua. Auf den Seiten 215-227 werden jedoch ausschließlich theoretische Texte diskutiert, wobei auch hier der Schwerpunkt auf der Abhandlung Über ästhetische Erziehung des Menschen liegt. 142 Wichtig in dem vorliegenden Zusammenhang ist jedoch noch der Hinweis auf Peter Schnyders interessante Beobachtung, dass der Spielbegriff in Schillers Kulturtheorie, in der obiges Zitat einen wichtigen Gravitationspunkt bildet, zwar eigentlich nichts mit dem Komplex des Glückspiels (um den es in dem vorliegenden Kapitel gehen soll) zu tun habe, dass Schiller aber Kartespiele wiederum explizit nicht den ‚frivolen’ Glücksspielen zugerechnet habe. Vgl. Schnyder, Alea 2009, S. 15 FN 29 und S. 95 FN 166. 143 Vgl. Fulda, Komödiant vs. Kartenspieler 2013, S. 30. 144 Ohne dass dies an dieser Stelle von entscheidender argumentativer Relevanz wäre, sei hier dennoch darauf hingewiesen, dass diese Einsicht schon den frühen Texten Schillers eingeschrieben ist. Vgl. hierzu das – etwa in der Kosinsky-Szene der Räuber eingeschlossene – Wissen über das Phänomen der ‚Vergangenen Gegenwart’. Die entsprechende Szene wurde in dieser Arbeit bereits eingehender im Kapitel 1.1.1 zur ‚Metaphorik des Fluiden’ behandelt. Die vorliegende Arbeit folgt generell der methodischen Prämisse, frühe Arbeiten nicht über spätere zu deuten. Derartige Ansätze sind nicht nur unhistorisch, sie neigen eben auch dazu, der künstlerischen Eigenständigkeit der früheren Texte nicht gerecht zu werden. Aus dieser methodischen Überlegung heraus ergibt sich – wie bereits in der Einleitung beschreiben – auch der chronologische Aufbau dieser Arbeit. Wichtig wird diese – genau genommen historistische – Prämisse





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schen Abhandlungen bei der Analyse des Spielbegriffs und der Spielmetaphorik in Schillers Werken.145 In seinem Aufsatz argumentiert er daher überzeugend anhand der Leitdifferenz von strategischem und ästhetischem Spiel und stellt dabei am Beispiel der Wallenstein-Trilogie eine gegenseitige „Einschachtelung“ der spielerisch-ästhetischen Form und der inhaltlichen Thematik strategischer Spiele fest. Anhand der Verschwörung des Fiesko zu Genua belegt er die inhaltliche Dominanz egoistisch-strategischer Spiele, die lediglich durch den höfischen Habitus des „guten Tons“ kontrastiert werde.146 Anhand der Wallenstein-Trilogie zeigt er aber zudem auf, dass ästhetische Spiele bei Schiller durchaus auch auf der Inhaltsebene verhandelt werden können, dann aber „nur in einer allen Mitspielern bewussten Ausnahmesituation,“ denn der „Normalfall menschlicher Interaktionen sind – wie es sich im Wallenstein darstellt – die strategischen Spiele.“147

Anders als Fulda möchte diese Arbeit jedoch nicht die Varianten des Schil-

ler’schen Spielbegriffs in einer das Gesamtwerk überspannenden Betrachtung untersuchen. Texte, die merklich nach den Jugenddramen entstanden sind, sollen auch in diesem Kapitel nicht deutungsleitend sein. Hier soll es vor allem darum gehen, das strategische Spiel in seiner maßgeblichen Erscheinungsform, dem Glücksspiel, aus der Diskursgeschichte des Spielbegriffs im 18. Jahrhundert heraus zu beschreiben und zu interpretieren. Fuldas Leitunterscheidung von strategischem und ästhetischem Spiel soll dabei nicht aufgegeben werden. Insbesondere sollen die von Fulda konstatierten „Schwierigkeiten“, welche sich aus der „Materialfülle“ der in Schillers Werk enthaltenen Spielsemantiken und -motiven ableiten und die Tatsache, dass „der Spielbegriff in so diversen und unterschiedlichen Zusammenhängen und in so unterschiedlicher Weise zum Einsatz kommt,“148 produktiv gemacht werden, um von ihnen ausgehend zu erfassen, welche Kontexte Schiller in den frühen 1780er Jahren mit dem Begriff des ‚Spiels’ verhandelt beziehungsweise welche Vorstellung von ‚Spiel’ dem von Schiller in seinen Jugenddramen entfalteten Diskurs über das Glücksspiel zugrunde liegt. Leitgebend ist dabei natür-

dann nochmals in der Diskussion der Forschungsposition von Wolfgang Riedel zur Entwicklung eines teleologischen hin zu einem skeptizistischen Denken in Schillers Werk werden. Vgl. dazu Kapitel 4.2. Die Ablehnung einer Analyse Schillers älterer Texte mittels seiner jüngeren Texte heißt jedoch nicht, dass in den Analysen der ersteren Verweise auf die spätere diskursive Weiterverarbeitung ihrer Aussagen und Denkweisen unterbleiben müssten. 145 Vgl. Fulda, Komödiant vs. Kartenspieler 2013, S. 26. 146 Vgl. ebd., S. 37–40. 147 Ebd., S. 28. 148 Ebd., S. 19.





1.1.2 (Glücks-)Spiele

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lich stets eine Rückbindung der Analysen zum Glückspiel auf den Untersuchungsgegenstand, die Dimensionierung von Kontingenz und Zeitlichkeit in den Texten Schillers. Zum Glücksspieldiskurs im 18. Jahrhundert

Zur historischen Verortung der Glücksspielsemantiken und -motive in Schillers

frühen Dramen soll maßgeblich auf einen aufschlussreichen Aufsatz zur „Darstellung von Glücksspielern im Drama des 18. Jahrhunderts“149 von Bernhard Jahn zurückgegriffen werden. Die um 1800 tätigen Dramatiker können nämlich, wie Jahns Beitrag zu entnehmen ist, durchaus schon auf eine längere Tradition der Semantik und Motivik des Glücksspiels zurückblicken, die geeignet ist, gesellschaftliche und ideengeschichtliche Veränderungen zwischen dem Ende der Frühen Neuzeit und dem Beginn der Moderne sichtbar zu machen. Jahn skizziert eine dreistufige Entwicklung, die wesentliche Veränderungen in dem Diskursgefüge aufzeigt, welches sich um die Figur des Glücksspielers und die Praxis des Glücksspiels im Drama des 18. Jahrhunderts formiert. Spieler und Spiel werden Jahn dabei auch in Bezug zur Liebesthematik und zu den Handlungsstrukturen ausgewählter Dramen gesetzt. In Übereinstimmung mit den einschlägigen Arbeiten zum Glücksspiel in der Epik150 macht Jahn für die Zeit um 1700 eine diskursive Formation aus, die durch eine Bewertung des Spiels als eines relativ harmlosen Zeitvertreibs gekennzeichnet ist. In den Dramen dieser Zeit rekurriert die Praxis des Spielens als eine Leidenschaft unter vielen. Entsprechend dem zeitgenössischen Liebesideal der galanten Liebe ist die Parallelisierung von Spiel und Liebe in dieser Phase auch kein Widerspruch, sondern eine durchaus naheliegende und dementsprechend vielfach gebildete Assoziation.151 In anderen Worten: galante Liebe und Glücksspiel werden in den Dramen am Ende der Frühen Neuzeit im Modus der Kontingenz gedacht. Das heißt, sie werden als statthafte Praktiken des Umgangs mit (und der Erfahrung von) Kontingenz anerkannt. Ihren Charakteristika des Versuchs und Irrtums, des Kalküls und der Manipulation, der Hoffnung und Enttäuschung haftet stets das Signum des Unernsten (eben Spielerischen) an. Nie geht es dabei um Intensität im Erleben oder um existentielle Erlebnisqualitäten. Das Verhältnis von Spiel und dramatischer Handlung in den Dramen um 1700 beleuchtet Jahn entsprechend seines eigentlichen Fokus’ auf die Differenz zwi 149 So der Untertitel von Jahn, Das Spiel des Zufalls und die Ökonomie des Dramas 2010, S. 133–150. 150 Hier sind vor allem die beiden Monographien Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit 2002 und Schnyder,

Alea 2009 zu nennen.

151 Vgl. Jahn, Das Spiel des Zufalls und die Ökonomie des Dramas 2010, S. 140.





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schen dem Drama der Früh- und dem der Spätaufklärung jedoch nicht genauer. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die dramatische Ökonomie von Texten durch das Spielmotiv eher wenig beeinflusst wird, wenn dieses selbst keine spezifische oder Bedeutung in ihnen entwickeln kann.

Dass aber im Zuge der mit der beginnenden Aufklärung einsetzenden diskursiven

Zuspitzung, in welcher die Repräsentanten des Ancien Régime mit all ihren Praxen des Lebensvollzugs in Verruf geraten, auch eine Neubewertung der Motivik und der Funktion des Glücksspiels erfolgt, ist kaum verwunderlich. Das Glücksspiel als eine spezifisch mit den Hofgesellschaften assoziierte – wenn auch natürlich nicht ausschließlich auf sie beschränkte – Praxis gerät nun in Opposition zu bürgerlichen Werten und somit geradezu zwangsläufig in strenge Opposition zu der Umcodierung der Liebe zu einem auf Dauer zu stellenden Programm. Die Liebe wird zu einem genuin ernsthaften Konzept, sie soll nicht mehr im Modus der Kontingenz gedacht werden und die, die das noch immer tun, die Adligen nämlich, werden charakterisiert über ihre Neigung zum Glücksspiel. Spiel und Galanterie haben sich durch ihre Eigenschaft der Unernsthaftigkeit im rationalistisch dominierten Aufklärungsdiskurs vollständig desavouiert. Dementsprechend stellt Jahn auch eine nun einsetzende Dämonisierung der Spielerfiguren fest.152 Dies fügt sich nahtlos ein in Rüdiger Campes Darstellung der Semantikgeschichte des Glücksspiels153. Campe zeigt nämlich auf, dass die sprichwörtliche Verteufelung des Spiels eine lange Tradition hat, deren Grundlagen bis zu Augustinus zurückreichen. Im 17. Jahrhundert sei es dann jedoch zu einer Verschränkung zweier gegen das Spiel gerichteter Diskursstränge gekommen, in deren Folge die Vorstellung des Spiels als einer diabolischen Praxis eine neue Qualität erlangte: Zum einen die Auffassung vom Spiel als eines Eingriffs in die souveräne Herrschaft Gottes über den Phänomenbereich der Kontingenz154 und zum anderen die Kritik zahlreicher (ebenfalls) als lasterhaft geltender Verhaltensweisen (oder eben ‚Unernsthaftigkeiten’) im Umfeld des Spiels, Campe nennt hier vor allem „Völlerei und Hurerei, Raub und Mord“ sowie weitere „Betrügereien.“155 In der vernunftbestimmten Weltbetrachtung haben der Zufall und die Unernsthaftigkeit naturgemäß keinen moralisch sanktionierten Ort. Im Gegenteil: Sie werden zu Infragestellungen einer göttlich garantierten Ordnung und damit wird auch das „Spiel [...] für christliche Ord 152 Vgl. ebd., S. 134. 153 Vgl. Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit 2002, S. 25–28. (ebd., S. 27).

154 Anders gesagt, handelt es sich damit um eine Infragestellung christlich gedachter Providenz. 155 Ebd., S. 27.





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nungshüter [zur] Allegorie des Gesetzesbruchs.“156 Folglich müssen die in den klassischen Aufklärungsdramen als „abgrundtief bösen Schurken gezeichnet[en]“157 Spielerfiguren durch den Handlungsverlauf notwendigerweise entlarvt, bestraft oder bekehrt werden – sonst wären die Stücke selbst als Affirmation des Glücksspiels und damit als Verstöße gegen die providentielle Ordnung lesbar.158

Anhand von Maximilian Klingers 1782 entstandenem Stück Die falschen Spieler

zeigt Jahn schließlich die Neuausrichtung des Diskurses um Spiel und Spieler gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf. Klingers Text weist, wie Jahn bemerkt, inhaltlich „eine frappante Ähnlichkeit mit Schillers Räubern“ auf,159 die bis hin zu der Namensgebung des im Zentrum des dramatischen Konfliktes stehenden und um das väterliche Erbe konkurrierenden Bruderpaares Franz und Karl reicht. Entscheidend ist hier jedoch, dass das Glücksspiel in Klingers Stück zu einem gerechten Werkzeug wird, mithilfe dessen eine soziale Balance wiederhergestellt wird, die zuvor durch die unberechtigte Ungleichverteilung von Vermögen in der Feudalgesellschaft in Schieflage geraten ist. Es werden also Betrüger unter Zuhilfenahme des Glücksspiels ihrerseits betrogen, sodass mit der generellen Abwertung des Glücksspiels gebrochen und dessen moralische Betrachtung nunmehr an seine spezifische kontextuelle Verortung gebunden wird. Die Bewertung des Spiels und des Spielers wird somit ambivalent oder anders formuliert, es kommt zu einer reflexiven Differenzierung der Domänen von Spiel und Moral. Beide Bereiche werden weder (wie in der Frühen Neuzeit) ohne Kontakt zueinander gedacht, noch (wie in der Frühaufklärung) als Gegensätze. Ihr spezifisches Verhältnis muss nun im Einzelfall bestimmt werden, das Spiel kann jetzt je nach Perspektive affirmiert und/oder verteufelt werden. Dies entspricht nicht zufällig genau der Entwicklung, die Luhmann für den Liebesdiskurs beschreibt, der am Ende des 18. Jahrhunderts ein Konzept reflexiver Liebe hervorbringt, in welchem die Liebe aus dem spezifischen Verhältnis zweier Liebender entsteht und in dem die Liebeskommunikation von doppelter Kontingenz bestimmt ist. Die Liebe selbst wird in der Folge mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer sowohl als singulär wie auch als prekär erfahrenen Sozialbeziehung.160

Die nun konstatierte Beobachterabhängigkeit jeglicher Bewertung des Glücks-

spiels rückt dieses nahezu zwangsläufig in eine Nähe zu den ästhetischen Diskursen des 156 Ebd. 157 Jahn, Das Spiel des Zufalls und die Ökonomie des Dramas 2010, S. 134. 158 Vgl. ebd. S. 144. 159 Ebd., S. 145.

160 Vgl. Luhmann, Liebe als Passion 1982, S. 175.





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ausgehenden 18. Jahrhunderts. Jahn verdeutlicht dies auch konkret anhand einer Textstelle aus Die falschen Spieler, aus der er schließt, dass das Spielerdasein [...] bei Klinger damit eine ästhetische Dimension gewonnen [hat], nicht unähnlich den in etwa gleichzeitigen Konzeptionen des Spielens in der Philosophie bei Kant und Schiller. Nur haben die beiden Klassiker einen von der Praxis des Glücksspiels gereinigten Spielbegriff, während bei Klinger beide Seiten [also das Glücksspiel und das Theaterspiel, M.K.] im Drama präsent bleiben.161

Dieses Argument erfolgt mit Blick auf Schillers Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen, deren Diskussion des Spielbegriffs – wie bereits erwähnt – zu den bekanntesten Aspekten von Schillers Werk gehört. Da hier jedoch gerade auch ein Blick auf Schillers Verhandlung und Dimensionierung des Phänomens der Kontingenz vor den großen philosophischen Abhandlungen der 1790er Jahre geworfen werden soll, wird im Folgenden zu zeigen sein, dass Schillers frühe Dramen, auch wenn sie nicht primär das Motiv des Glücksspiels fokussieren, dennoch von einer elaborierten, aber durchaus spezifischen Spielsemantik durchzogen sind. Dabei erlaubt Schiller gerade die Tatsache, dass das Glücksspiel nicht im Zentrum seiner frühen Dramen steht, verschiedene (zeitlich eigentlich unterschiedlichen Diskurszuständen entsprechende) Vorstellungen des Motivs zu gebrauchen und zueinander in Bezug zu setzen. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Spielsemantik gilt es im Folgenden sichtbar zu machen und zu reflektieren. Dazu bietet Jahns triadisches Modell des Spieldiskurses im 18. Jahrhundert eine geeignete Folie. Wie gezeigt werden soll, greift Schiller in seinen Jugenddramen nämlich auf die Spielvorstellungen aller drei Phasen aus Jahns Schema zurück. Allokation sozialer Rollen (l’Hombre-Spiel)

Das voraufklärerische Glücksspiel-Verständnis zeigt sich am eindringlichsten in

Form der Figurenzeichnung des Hofmarschalls von Kalb in Kabale und Liebe. Bei von Kalb handelt es sich im Prinzip um eine Comedia-dell-arte-Figur, die in einem Drama der Spätaufklärung unzeitgemäß wirken muss.162 Dieser Anachronismus bietet jedoch die

161 Ebd., S. 149.

162 Schiller war sich durchaus bewusst, dass dies einen Anhaltspunkt für mögliche Kritiken bietet, wie sein

Brief an Dalberg vom 3. April 1783 belegt, mit welchem er dem Mannheimer Intendaten nach den Schwierigkeiten mit dem Fiesko für sein Stück gewinnen will: „Außer der Vielfältigkeit der Karaktere und der Verwiklung der Handlung, der vielleicht allzufreien Satyre, und Verspottung einer vornehmen Narren- und Schurkenart hat dieses Trauerspiel auch diesen Mangel, daß Komisches mit Tragischem, Laune mit Schreken wechselt, und, ob schon die Entwiklung tragisch genug ist, doch einige lustige Karaktere und Situationen hervorragen.“ (NA 23, S. 77). Ähnlich wie in der Selbstbesprechung und in der anonymen Selbstkritik der Räuber äußert sich Schiller hier extrem kritisch über seinen eigenen Text, sodass die





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Möglichkeit, für die Spätaufklärung aktuelle Phänomene kontrastiv herauszustellen. Zur Anwendung bringt Schiller dieses Prinzip im vierten Akt des Dramas, in welchem der die Antiquiertheit des Ancien Régime repräsentierende Hofmarschall und die modernere Figur des schwärmerisch-affektierten Ferdinand von Walter aufeinandertreffen. Zunächst verfehlt der von Wut und Enttäuschung erfüllte Ferdinand jedoch seinen vermeintlichen Nebenbuhler, da, wie dessen Kammerdiener verlauten lässt, „[d]er gnädige Herr [...] oben am Pharotisch [sitzt]“ (I, 817). Das Pharospiel – nach Jahns Modell sonst durchaus geeignet zur Charakterisierung einer Gottlosigkeit des Spiels – dient hier als Attribut einer vergleichsweise harmlosen Dekadenz der Adelsgesellschaft. Von Kalb jedoch als ein lächerlicher, satirisch überspitzt gezeichneter Vertreter sinnentleerter höfischer Rituale könnte vom abgrundtief bösen, aber gleichzeitig die Zuschauer und Leserinnen faszinierenden Spielertypus der klassischen Aufklärungsdramen nicht weiter entfernt sein. Strategisches Spiel und Commedia-dell-arte-Figur werden hier in eine irritierende Verbindung gebracht. Recht ähnlich verhält es sich auch mit der Empfehlung der Kammerjungfer Sophie an Lady Milford, diese solle, wenn sie sich nicht in der Lage sähe, Ferdinand von Walter zu treffen, doch „Assemblee hier zusammen[rufen] [...], den Herzog hier Tafel halten oder die l’Hombretische vor ihren Sofa setzen“ lassen (I, 777). Das l’Hombrespiel wird damit in Kontrast gesetzt zu der bevorstehenden ernsthaften und selbstwertgefährdenden Situation eines Aufeinandertreffens mit dem potentiellen Ehemann, dessen Haltung zu der arrangierten Ehe sich Milford zu diesem Zeitpunkt kaum sicher sein kann. Das Kartenspiel bildet damit ähnlich wie im Falle des Hofmarschalls zunächst also einen Gegensatz zu einer für die Figuren bedeutsamen Situation mit hoher Tragweite. Es repräsentiert eine Unernsthaftigkeit, die im Falle des Hofmarschalls statisch als Lebensfremdheit, im Falle Mildfords dynamisch als regressiv-sedative Weltflucht erscheint.163 In beiden Fällen konturiert die Spiel/Ernst-Differenz einen Kontrast zwischen einer mit dem Kartenspiel in Verbindung gebrachten Figur und dem jugendlich-stürmerischen Ferdinand von Walter, welcher so zum Repräsentanten eines für die Spielerin bzw. den Spieler drohenden Widerfahrniseinbruches avanciert.

überzogen wirkende Kritik eher als implizite Rechtfertigung erscheint. Was den Brief an Dalberg angeht, so ist die Betonung der Komplexität des Figurentableaus und der Handlung hervorzuheben sowie die Tatsache, dass Schiller die typenhaft gezeichneten „lustigen Figuren“ als Kontrapunkte zur tragischen Handlung sieht, ihnen also eine dezidiert dramaturgische Funktion zuschreibt. 163 Dass Milford hier ein Handlungsspielraum zur Verfügung steht, wo von Kalb nur einen ihm zugewiesenen Platz einnimmt, weist diese Figuren als Repräsentanten unterschiedlicher Epochen aus. Die noch für Kalb geltenden Umstände sind für Milford nicht mehr zwingend. Sie sind aber auch nicht suspendiert, sondern stehen ihr als temporäre Wahlmöglichkeit zur Verfügung.





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In der Sophie-Milford-Szene erfüllt das Kartenspiel jedoch auch eine metapoetische Funktion, indem es die in der Dramenhandlung verhandelte Figurenkonstellation in ein Bild bringt. Auffallend ist dabei, dass entgegen der Gepflogenheiten des Dramas im 18. Jahrhundert,164 an die Schiller mit der Semantik des Spiels in seinen frühen Dramen sonst nahezu durchgehend anknüpft, hier nicht von Pharo, sondern ausnahmsweise von l’Hombre, genauer von den l’Hombretischen, die Rede ist. Der l’Hombretisch ist nach Zedlers Universallexicon ein „kleiner, niedriger und dreyeckiger, meistentheils mit Tuch beschlagener, und mit drey Beuteln versehener Tisch, worauf man Lombre zu spielen pfleget,“165 ein Kartenspiel für in der Regel drei Personen, dessen wesentliche Ausgangssituation dadurch zustandekommt, dass zunächst, ähnlich wie beim historisch jüngeren Skat, ermittelt wird, wer gegeneinander antritt, wobei immer ein Einzelspieler, der sogenannte ‚Hombre’, den beiden übrigen Spielern gegenübersteht.166 Im l’Hombrespiel wird damit sui generis ein Allokationsverfahren von im Prinzip kontingenten sozialen Rollen und Beziehungen innerhalb einer Dreierkonstellation vollzogen, welches zudem im für die Spielpraxis wahrscheinlichen Fall einer Durchführung mehrerer Spieldurchgänge immer wieder aufs Neue abläuft. Die Erwähnung des l’Hombrespiels in der Szene II/I von Kabale und Liebe nimmt damit den Verlauf der Szene II/3, in welcher Milford und Ferdinand von Walter dann tatsächlich aufeinandertreffen, proleptisch vorweg. In dieser Szene wird dann ja wesentlich die Frage nach den möglichen Liebesbindungen innerhalb des Dreiecks Milford–Ferdinand–Luise verhandelt, wobei verschiedene Varianten zueinander in Opposition gebracht werden, ehe am Ende Lady Milford konstatieren muss, dass eine für alle zufriedenstellende Lösung nicht möglich ist, und Ferdinand beklagt, dass Milford „sich und mich und noch eine Dritte [Luise, M.K.] zugrund richten“ wird (I, 789). Die so konstruierte Überlagerung des l’Hombrespiels mit der Lebensrealität des Figurentableaus oszilliert damit zwischen der strukturellen Identität beider Konstellationen und der fundamentalen Differenz zwischen der Harmlosigkeit des Spiels und der Tragik des Konflikts. Hinzu kommt, dass in der Szene II/3 gewichtige Informationsdefizite auf beiden Seiten aufgelöst werden. Milford wird nun mit der Liebe Ferdinands zu Luise, Ferdinand hingegen mit der bedingungslosen Bereitschaft Milfords, eine Ehe zu erzwingen, konfrontiert. Beide finden sich so in einer Situation wieder, in der sie zum Gegenstand unverfügbarer, aber mit unumgänglicher Gewalt auf sie hereinbre 164 Jahn spricht von einer absoluten Dominanz des Pharo- oder Pharao-Spiels. Vgl. Jahn, Das Spiel des Zu-

falls und die Ökonomie des Dramas 2010, S. 135.

165 Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 18, Sp. 323. 166 Vgl. dazu ebd., Sp. 321–323.





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chender Entwicklungen werden. Die passenden Worte dazu findet Ferdinand am Ende des Stückes: „Seltsam, so unbegreiflich seltsam spielt Gott mit uns“ (I, 844). Es wird hier also die Grenze zwischen Leben und Spiel dadurch überschritten, dass das eigene Leben als Spielfläche unbeherrschbarer Kräfte erfahren wird, auf welcher das Subjekt nicht unkalkulierbaren Widerfahrnismomenten ausgesetzt ist. Beim l’Hombrespiel selbst mag es sich um eine harmlose Veranstaltung handeln, es mag, wie es im Zedler heißt, „für eines der lustigsten und sinnreichsten Kartenspiele gehalten“ und deshalb auch „mit Wohlgefallen getrieben“ werden.167 Wenn die reale Welt selbst jedoch – von den Handelnden ungewollt – den Gesetzen des Spiels unterliegt, so zeigt Schillers Text, gestaltet sie sich für die Menschen als bedrohlicher Ort voll von Widerfahrnissen und Unverfügbarkeiten. Kontingenzsuche und Herausforderung Gottes Schiller interessiert jedoch noch die dazu komplementäre Perspektive, in welcher die Grenze zwischen Spiel und Leben subjektseitig und willentlich überschritten wird. Diese Perspektive ist etwa diejenige Fieskos von Lavagna, sie lässt sich auch besser mit dem Motiv des Pharo-Spiels als mit dem Motiv des l’Hombrespiels einfangen. Beim PharoSpiel muss die Rollenverteilung der Spieler nämlich in der Ausgangssituation nicht erst ermittelt werden, sondern ist per se schon festgelegt. Einem Banquier stehen in der Regel vier Pointeure gegenüber,168 wobei jeder der Pointeure für sich spielt und damit in Konkurrenz zu den anderen – und im Prinzip auch in Konkurrenz zur Bank – steht. Anders als das l’Hombre-Spiel repräsentiert Pharo somit eine Sozialsituation, in der jedes Individuum seinen Eigennutzen (ohne eine Kooperation mit anderen) zu maximieren sucht. Dies und die hohe Anfälligkeit des Spiels für Betrug sowie die Tatsache, dass beim Pharo neben dem taktischen Kalkül auch dem Zufall eine große Bedeutung zukommt,169 machen diese Variante des Kartenspiels zu einem besonders geeigneten Mittel der Charakterisierung von Figuren mit moralischen Defizienzen und egoistischen Agenden.170 Die literarischen Darstellungen derartiger Spieler greift also auf das zurück, was Daniel Fulda mit seiner Kategorie des ‚strategischen Spiels’ beschreibt. 167 Ebd., Sp. 323. 168 Vgl. Jahn, Das Spiel des Zufalls und die Ökonomie des Dramas 2010, S. 136. 169 Vgl. ebd. 170 Dabei handelt es sich also um eine Zuspitzung des Verdachts der Unmoral dem das Spiel ja (wie bereits

unter Bezug auf Rüdiger Campe erwähnt) per se schon seit langem ausgesetzt ist. Vgl. nochmals Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit 2002, S. 27.





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Um exakt einen solchen strategischen Spieler handelt es sich bei Fiesko von Lavagna, der, nachdem er sich der bedingungslosen Gefolgschaft seiner Mitverschwörer versichert und mit ihnen den Plan zur Beseitigung des im Personenverzeichnis unhistorisch als „Dogen“ titulierten Andreas Doria ausgearbeitet hat, erklärt: „Ich selbst werde auf den Abend alles berichtigt haben, und noch überdies, wenn das Glück will, die Bank im Pharao sprengen. Schlag neun Uhr ist alles im Schloß, meine letzten Befehle zu hören“ (I, 708). In Fieskos Erwartung des Höchstgewinns beim Pharospiel noch am Abend vor seinem Staatsstreich fallen somit Risikoaffirmation, ökonomisches Kalkül und Wille zur Macht zusammen. Die von Fiesko persönlich geschaffene Dopplung von Pharospiel und politischem Coup erlaubt es ihm, sich selbsttechnisch schon am Vorabend mit der gesteigerten Erlebnisintensität des erwarteten großen Moments zu infizieren. Er wird zum Demiurgen einer extremen Verdichtung von Erlebnisinhalten, über die sich ein Begehren nach Beschleunigungs-, aber gleichzeitig auch nach Wirksamkeitserfahrungen Ausdruck verleiht. Fiesko verkörpert somit das, was Jahn den ‚dämonischen Spielertypus’ des klassischen Aufklärungsdramas nennt. Deutlich wird dies auch in der Fremdbeschreibung Fieskos durch Leonore, die, nachdem sie von seinen Plänen, die Herzogswürde an sich zu reißen, erfährt, Fieskos prekäres Spielerverhalten in die Nähe einer Herausforderung Gottes rückt: So zuversichtlich ruft Fiesko den Himmel heraus? Und wäre der tausendmaltausendste Fall nur der mögliche, so könnte der tausendmaltausendste wahr werden, und mein Gemahl wäre verloren – denke du spielst um den Himmel, Fiesko. Wenn eine Billion Gewinste für einen einzigen Fehler fiel, würdest du dreust genug sein, die Würfel zu schütteln und die freche Wette mit Gott einzugehen? Nein, mein Gemahl! Wenn auf dem Brett alles liegt, ist jeder Wurf Gotteslästerung. (I, 730)

In dem hier in doppelter Bedeutung gebrauchten Begriff „Himmel“, einmal metonymisch für die göttliche Instanz, einmal metaphorisch für das Ganze beziehungsweise Äußerste stehend, kommt auch eine Reflexion verschiedener Zeitlichkeitsformen zum Ausdruck. Das Absolute beziehungsweise Äußerste gehört, wie aus Leonores Perspektive zumindest implizit deutlich wird, seinem Wesen nach in den Wirkungsbereich Gottes und dessen Zeitregime des Ewigen. Wer in einem Moment das Äußerste aufs Spiel setzt, maßt sich eine Rolle an, die in christlicher Perspektive nur Gott selbst vorbehalten ist. Kontingenz und Providenz geraten somit in ein unauflösbares Spannungsverhältnis. Für diese Praxis, einen singulären Moment über Fragen von äußerster Bedeutsamkeit entscheiden zu lassen, gebraucht Schiller konsequenterweise dann auch nicht die Metaphorik des Karten-, sondern die des Würfelspiels. Immerhin ist dieses mehr noch als die von takti-





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schen Erwägungen und perspektivischem Denken durchdrungene Praxis des Kartenspiels geeignet, absolute Zufälligkeit auszudrücken. Nun sind Zufall und Kontingenz, wie bereits in der Einleitung beschrieben, bei genauer Betrachtung klar voneinander zu unterscheiden, da es sich beim Zufall um eine Ereignis- und bei Kontingenz um eine Modalkategorie handelt. Ein zufälliges Ereignis gewinnt seinen Charakter (wie beschrieben) darüber, dass es den Beobachter überrascht und damit als etwas erscheint, das auch anders (oder eben: nicht) hätte eintreten können. Was in der vorliegenden Passage des Fiesko nun passiert, ist, dass mittels des poetischen Verfahrens, Würfelspiel und Fieskos Umsturzpläne zusammenzudenken, das per se wirkliche Ereignis des Zufalls und die fiktive Praxis perspektivischen Denkens aufeinander bezogen werden, wodurch gerade der Wirklichkeitscharakter des Zufalls abgespalten und der Zufall auf seinen abstrakten Modus der Kontingenz reduziert wird.171 Anders gesagt: Leonore differenziert Zufall und Kontingenz, Fieskos Umsturzpläne werden ihr eben nicht als dem Zufall unterworfen skizziert, stattdessen betont sie das Risiko der Pläne, die Unkontrollierbarkeit ihrer Ergebnisse, schlicht: die Kontingenz ihrer Verwirklichung. Verdichtung von Zeit und diskursiver Kontext (Liebe, Authentizität) Hinzu kommt: Die der Metaphorik des Würfelspiels inhärente Verdichtung der Zeit auf einen einzig entscheidenden und prekären Moment ist auch aus dramaturgischer Sicht interessant, da hierüber das tragödientheoretische Element der Peripetie konkretisiert und auf durchaus wirkmächtige Weise an Einzelfiguren gebunden wird, da sich so mit dem Bild des Spiels also auch von den Figuren ausgehend auf die Handlungsstrukturen des jeweiligen Stückes reflektieren lässt.172 Dass Spielerfiguren als Handlung vorantreibende und Handlungsumschläge hervorrufende Faktoren ausgewiesen werden, hat daher auch Auswirkungen auf die dramatische Ökonomie der frühen Stücke Schillers. Während Kabale und Liebe noch am ehesten dem von Jahn für das klassische Aufklä 171 Eben um dieses Phänomen wird Schillers Bearbeitung des Zufallsbegriffs in der Geschichte des Abfalls

der Niederlande kreisen. Vgl. dazu Kapitel 3.3.

172 Etwas anders argumentiert Koopmann. Dieser führt die Handlungsumschwünge in Schillers Jugend-

dramen produktionsästhetisch auf dessen Praxis zurück, „Handlungsstränge und Motivkomplexe aus unterschiedlichsten Traditionen“ ineinanderzufügen, und stellt unter Verweis auf die ältere Forschung fest, dass Schiller „mehr von den Konstellationen als von den Charakteren her gedichtet“ hat. Siehe Koopmann, Schiller und die dramatische Tradition 1998, S. 138. Selbst wenn man Koopmanns Lesart teilen möchte, mit der die Umschwünge als bloße Unstimmigkeiten interpretiert werden – es muss doch zur Kenntnis genommen werden, dass das stellenweise (scheinbar) gegen psychologische Wahrscheinlichkeiten erfolgende Figurenhandeln durch die Spielermotivik plausibler wird.





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rungsdrama geltend gemachten Schema entspricht, im welchem intrigant gezeichnete ‚strategische’ Spieler über das Mittel eines strikten Handlungsverlaufs schlussendlich in ihre Schranken gewiesen beziehungsweise bestraft oder entlarvt werden, so gilt das für Die Räuber und Die Verschwörung des Fiesko zu Genua nur bedingt. Die Fiesko-Handlung ist letztlich so konstruiert, dass es dem Autor möglich war, zwei vollkommen gegensätzliche Schlüsse anzubieten,173 was wiederum als Indiz dafür gelten kann, dass dem Handlungsende von Schiller keine entscheidende Bedeutung für das Stück zugemessen wird. Die Handlungsökonomie des Stücks ist vielmehr so offen gestaltet, dass der Schlussinhalt kontingent wird. Auch die Ereignisse des fünften Aktes der Räuber sind durch die vorangehende Handlung allein kaum ausreichend motiviert. Dass das Stück mit einer Läuterung Karls in Form seiner Selbstauslieferung an die Justiz endet, ist dann auch nicht einer stringenten Handlungsökonomie geschuldet, sondern vielmehr der Tatsache, dass die Figur (die zuvor für den Zuschauer oder die Leserin doch relativ überraschend) von blindwütigem Wahn erfasst wurde, nun eine zweite durch die Handlungsökonomie selbst kaum motivierte Wandlung zum einsichtig-reflektierten Büßer vollzieht. Die Handlung ist also gerade nicht notwendig und stringent, sondern sie bedarf sogar eines doppelten Bruchs mit der Wahrscheinlichkeit, um am Ende nicht die unmoralische Botschaft einer Affirmation des Verbrechertums zu transportieren.

Generell liegt eine Parallele zu Jahns drittem Typus des Spielers – welcher ja

dadurch gekennzeichnet ist, dass er das eigentlich unmoralische ‚strategische Spiel’ als Instrument zur Etablierung von Gerechtigkeit und Freiheit benutzt – schon in der anfänglichen Rationalisierung und Positivrahmung der Räuberexistenz durch Moor.174 Die 173 Vgl. dazu auch Roßbach, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua 2005, S. 60–61. Roßbach weist darauf

hin, dass der „Verlust einer final ausgerichteten dramatischen Notwendigkeit [...] von einer SchillerForschung häufig bemängelt wurde“ (ebd., S. 60), welche dementsprechend auch keine der beiden Schlussvarianten des Fiesko, also weder den tragischen Schluss des Erstdruckes, noch den der Mannheimer Bühnenfassung mit seinem „harmonisch-rührselige[n] Happy-End[]“ (ebd., S. 61) „als befriedigend angesehen“ (ebd., S. 60) habe. Auch Roßbach sieht, dabei auf einen Aufsatz von Georg-Michael Schulz verweisend, als maßgebliche Ursache für die Diskrepanz der Schlussvarianten des Fiesko die im Drama der Spätaufklärung an Komplexität gewonnenen Figuren an, die dramaturgisch „zu Misch- und Zwischenformen und zu einer signifikanten Häufung doppelter Schlüsse“ (ebd.) geführt hätten. Vgl. dazu auch Schulz, Das Lust- und Trauerspiel oder die Dramaturgie des doppelten Schlusses 1991, S. 111-126. Dazu passt auch die vielzitierte Stelle aus der Vorrede zu Die Räuber, in welcher Schiller erklärt, dass er „die Fülle ineinandergedrungener Realitäten,“ die er in seinem Drama darstellt, „unmöglich in die allzu enge Palisaden des Aristoteles und Batteux einkeilen konnte.“ (I, 485) Dem kommt auch Jakob Michael Reinhold Lenz’ Vorgehen nahe, das – wie Hand-Gert Winter formuliert – „moderne Charakterdrama dem antiken Schicksalsdrama“ gegenüberzustellen, was in der Folge zu „einer antiaristotelischen Dramaturgie“ führe. Siehe Winter, Lenz in der Wissenschaft 2017, S. 487. 174 Dies zeigt sich etwa in dem Robin-Hood-Motiv, auf das sowohl Jahn bei der Beschreibung seines dritten Spieler-Typus als auch Alt bei der Charakterisierung des Räuber-Daseins Karl Moors zurückgreifen, um





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Schlussszene der Räuber reflektiert jedenfalls auf die Verhandlung von Zweck-MittelRelationen in den frühen Szenen des Stücks, in welchen etwa der Zweck des Raubens als Mittel zur Herstellung gesellschaftlicher Gerechtigkeit gezeichnet und damit eine fremdschädigende Handlung aufgrund ihres höheren gesellschaftlichen Nutzens gerechtfertigt wird. In der Schlussszene der Räuber wird eben jene Denkfigur aufgegriffen und das Mittel der Zweck-Mittel-Relation vom Sozialen ins Subjektive geschoben. Bei der Selbstauslieferung Moors liegt der Zweck zunächst in der Herstellung einer höheren Gerechtigkeit, das Mittel dazu ist jedoch nicht das des Raubes, sondern das des persönlichen Opfers und damit einer primär selbstschädigenden Handlung, die durchaus Tendenzen hin zum Typus des altruistischen Selbstmords aufweist, ohne jedoch zu einer Entsubjektivierung oder einem „konturlosen Selbst“ zu führen.175 Dass Moor sich nicht direkt der Justiz übergibt, sondern einem Notleidenden die Gelegenheit bietet, das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld zu erlangen, unterstreicht seinen Versuch einer Relativierung der vorangegangen Verbrechen durch eine finale großmütige Handlung. Die reflexive Logik, negative Sachverhalte in einer Zweck-Mittel-Relation auf sich selbst zu beziehen und damit ins Positive zu transponieren, findet neben der oben beschriebenen Spieler- und Räubermotivik auch eine diskursive Ausgestaltung in der Verhandlung von Lüge und Authentizität in Schillers frühen Dramen. Die traditionelle Wertung des Lügens als Laster und der Authentizität als Tugend wird dabei von Lady Milfords Argumentation in der Szene II/1 von Kabale und Liebe unterlaufen. Zunächst setzt Milford die beiden (dem Drama seinen Titel gebenden) Phänomene der Kabale und der Liebe in ein Spannungsverhältnis: „Die Verbindung mit dem Major – Du und die Welt stehen im Wahn, sie sei eine Hofkabale [...] sie ist das Werk – meiner Liebe.“ (I, 770). Dieser noch der (im Sturm- und Drang üblichen) Zuordnung Kabale/Laster und Liebe/Tugend entsprechenden Aussage folgt nun jedoch eine Reformulierung dieser Zuordnung: „Sie ließen sich beschwatzen, Sophie – der schwache Fürst, der hofschlaue Walter – der alberne Marschall [...] – Belogene Lügner! Von einem schwachen Weib darüber die sozialrevolutionäre Komponente hervorzuheben, die in der ökonomischen Umverteilung beider Praxen liegt. Vgl. Jahn, Das Spiel des Zufalls und die Ökonomie des Dramas 2010 und Alt, Schiller Bd. I., S. 296. 175 Den Zusammenhang aus altruistischem Selbstmord und konturlosem Selbst, den Hartmut Rosa als Muster stark macht, unterläuft Schillers Text förmlich, indem er Karl Moors Selbstauslieferung als Wiedergewinnung subjektiver Verfasstheit nach einem sich vorher ereigneten Ich-Verlust, also als Subjektivierungsstrategie inszeniert. Zu Rosas Modell vgl. Rosa, Resonanz 2016, S. 187–210. Vielmehr kann – wie die Forschung bemerkt hat – ein Drang nach Selbstüberhöhung, ein Begehren nach Bewunderung als plausibles Handlungsmotiv für Moors Selbstauslieferung angeführt werden. Vgl. dazu etwa Alt, Schiller, Bd. I. 2000, S, 301f. Dies rückte Moors Opfer in die Nähe von Durkheims Kategorie des egoistischen Selbstmordes.





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überlistet! – Ihr selbst führt mir jetzt meinen Geliebten zu“ (I, 780). Indem hier nun also eine Kabale – die Urkabale Lady Milfords – der Verwirklichung einer Liebe dient,176 wird das Laster zur Ermöglichungsbedingung der in der Geniezeit als Tugend gedachten Liebe. Die lustvolle Affirmation des eigenen Vorgehens über den an die ‚betrogenen Betrüger’ beziehungswiese die ‚ausgeraubten Räuber’ anschließenden Ausruf „Belogene Lügner“ bringt diese scheinbare Paradoxie auf den Punkt. Was die Texte hier also im Kern aufzeigen, ist eine Neuausrichtung der normativen Ordnung in dem Sinne, dass die einzelnen Handlungspraxen ihre vormals notwendigen und persistenten Wertzuschreibungen verlieren, indem nun ihre Bewertungen an ihre jeweils spezifischen Kontexte gebunden werden. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass sich dies unter einem Primat der Verantwortungsethik oder sogar der instrumentellen Vernunft vollzieht. Normative Bewertungen von Zweck-Mittel-Relationen weisen derartigen Kontexten bekanntlich generell eine Dominanz ihrer Zweck- gegenüber ihrer Mittel-Seite auf und auch Schillers frühe Texte rücken auf diese Weise Milfords, Karl Moors und Fieskos Handlungsweisen in die Nähe der Franz-Monologe aus Die Räuber mit ihrer Affirmation eines Rechts des Stärkeren.177 Normativität wird also einerseits eng an spezifische Situationen gebunden und damit als kontingent ausgewiesen, die Instrumentalisierung der sich so öffnenden individuellen Spielräume für egoistische Agenden jedoch anderseits konsequent mit einer kritischen Bewertung versehen. In Bezug auf die Milford-Szenen ist noch zu betonen, dass der Text großen Aufwand betreibt, um Lady Milford trotz ihrer Zugehörigkeit zum Adel als Vertreterin einer bürgerlichen Liebesauffassung und dabei – gerade zu Beginn dieser Szene II/1 – als Kritikerin der Hofgesellschaft zu zeigen. Dass hier also Liebe und Intrige so eng und ambivalent zusammengedacht werden, ist nicht im Kontext einer schon für die Frühaufklärung gewöhnlichen Kritik an feudalen Strukturen zu sehen, in welchen es üblich ist, sowohl Liebe als auch Intrige im Modus des harmlosen Spiels zu denken. Im Gegenteil: Hier werden gerade diejenigen Phänomene reflexiv aufeinander bezogen, deren Ernsthaftigkeit sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts so verabsolutiert hat, dass sie frei von allem Spielerischen gedacht werden mussten. Die Paradoxie liegt nun darin, dass die wechselseitige Überblendung dieser beiden im Modus der Notwendigkeit gedachten 176 Genau genommen ist das Verhältnis aus Kabale und Liebe hier noch etwas komplexer konstruiert. Mil-

fords Liebe (als Emotion) wird zur Ursache einer Kabale, welche ihrerseits wiederum zur Bedingung der Möglichkeit einer Liebe (in Form einer Partnerschaft mit Ferdinand von Walter) gerät.

177 Nicht ganz überflüssig scheint der Hinweis, dass die Texte selbst damit noch keine Wertung instrumen-

teller Vernunft vornehmen.





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Prinzipien ihre normative Eindeutigkeit unterläuft. Kabale kann nun, wie die MilfordSzenen beweisen, tugendhaft oder untugendhaft sein und die schwärmerischauthentische Liebe kann – wie im Prinzip alle drei Dramen zeigen – auch als Phänomen gelten, das zumindest unintendiert-negative Nebenfolgen zeitigt. Die vormals fixe normative Ordnung wird damit zwar nicht generell in Frage gestellt, in gewisser Weise wird ihr jedoch das Siegel der Kontingenz aufgedrückt. Dämonische Spiele und Lotto-Motivik Die Reflexion der frühaufklärerischen Vorstellung des dämonischen Spiels und der dann in der Spätaufklärung stattfindende Differenzierungsvorgang, in dessen Zuge Spiel und Moral voneinander gelöst und normative Zuordnungen als variabel gezeigt werden, werden nicht nur in den drei oben hauptsächlich diskutierten Textstellen der frühen Dramen Schillers virulent. Die Verhandlung dieser beiden Varianten des Spielmotivs – also der normativ bis zum Absoluten aufgeladenen des dämonischen Spiels und derjenigen, deren normative Einordnung im Modus der Kontingenz stattfindet – schreibt sich tief in die Semantik der drei Stücke ein. Insbesondere der Dämonisierung des Spiels wird dabei Raum gegeben, um einen Diskursstand abzubilden, der in der Folge reflexiv weiterbearbeitet werden kann. So verwendet Verrina in der Szene V/16 der Verschwörung des Fiesko zu Genua das Bild vom „Wurm des Paradieses, der ersten falschen Wurf in der Schöpfung tat, worunter schon das fünfte Jahrtausend blutet“ (I, 749), um anzudeuten, dass die Freundschaft zu Fiesko latent immer schon vor ihrem Zusammenbruch stand. Teufelsmetaphorik, Glückspielbegriff und Kontingenzsemantik178 werden hier im Finale des Stücks miteinander verbunden, bevor Verrina kurz darauf auch die zweite Hauptbedeutung von ‚Spiel’ – das theatrale Spiel – gebraucht und in einen Kontrast zur göttlichen Entscheidungsgewalt setzt: „Das fürstliche Schelmenstück drückt wohl die Goldwaage menschlicher Sünden entzwei, aber du hast den Himmel geneckt, und den Prozeß wird das Weltgericht führen“ (I, 750). Die hier thematisierte Verhaltensweise des „Neckens“ kann aufgrund ihrer Eigenschaften der Unernsthaftigkeit, Momenthaftigkeit und Lustorientierung ebenfalls als (implizite) Spielmetapher gelesen werden. In einem ähnlichen Vorgehen wie bei den Meeresmetaphoriken lotet Schiller hier das semantische Spektrum des Spielbegriffs recht umfassend aus.

178 In diesem Fall – folgt man Stella Butters Kategorisierung – in Form einer ‚Kontingenz des Inkommensu-

rablen.’ Vgl. dazu Butter, Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung 2013, S. 28–30.





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Geht man nämlich davon aus, dass der Begriff „Goldwaage“ semantisch auf den wenig später fallenden Begriff „Weltgericht“ ausstrahlt, dass also durch die textliche Nähe beider Begriffe bei den Leserinnen beziehungsweise den Zuschauern die Vorstellung einer Justitia-Allegorie (mit ihren Attributen der Augenbinde, des Schwertes und vor allem der Waage) evoziert wird, so ergibt sich ein Bild zweier zueinander in ein Vergleichsverhältnis gesetzter Waagen. Dabei würde das Verhältnis performativ auf seinen Inhalt, die Waagen, reflektieren, sodass der Vorstellung ein Moment des Spielerischen innewohnte, der in der Formulierung einer ‚sich einspielenden Waage’ auch alltagssprachlich zum Ausdruck gebracht wird.179 Wichtig ist indes: Über die auch hier aufgezogene Opposition Leben/Himmel werden Fieskos sublunare Handlungserfolge relativiert und einer normativen Wertung unterzogen. Die Rede von einem „Schelmenstück“180, von „Sünde“, einem „Prozess“, dem „Weltgericht“ und vorher der den „ersten Wurf“ tätigenden „Paradiesschlange“ fügt auch diese Passage ein in einen Diskurs der Dämonisierung des Spiels. Etwas indirekter vollzieht sich dies auch in der Lottomotivik der frühen Dramen Schillers. Schon in ihrer ersten Begegnung mit Franz gebraucht Amalia das Attribut „Lotterbube“ zu dessen Charakterisierung (I, 521). Bemerkenswerterweise bezeichnet Franz dann Amalia in einer wenige Sätze später fallenden Aussage als „ein Spiel meines Willens“ (I, 525) und wendet so Amalias Aussage gegen sie selbst. Auch sein Bruder Karl beklagt die verlorenen Kontrollmöglichkeiten und scheinbar zunehmenden Unverfügbarkeiten, denen sich der Mensch an der Schwelle zur Moderne ausgesetzt sieht, mit einem ähnlichen Bild: „[D]ieses bunte Lotto des Lebens, worin mancher seine Unschuld , und – seinen Himmel setzt, einen Treffer zu haschen, und – Nullen sind der Auszug – am Ende war kein Treffer drin“ (I, 560). Karl spannt im Anschluss daran einen Bogen vom Glücksspiel zum Bereich des Theatralen: „Es ist ein Schauspiel, [...], das Tränen in deine Augen lockt, wenn es dein Zwerchfell zum Gelächter kitzelt“ (I, 560). Auch hier findet sich der Begriff des Himmels in der Aussage wieder, wenn auch verblasst in der abstrakten Bedeutung eines Absoluten und nicht direkt als konkrete Metapher für die göttliche Sphäre. Dennoch wird dadurch die theologische Zweifelhaftigkeit, die dem Lotto unum

179 Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang ist auch die Verwendung des Ausdrucks „Wagestück“ für

Fieskos Umsturzpläne (I, 690 und I, 719). 180 Zu beachten ist schon hier die Etymologie des Begriffs „Schelm“. Vor der Abschwächung der Bedeutung

zu ‚neckischer Mensch’ wurde damit im Mittelhochdeutschen zunächst ein ‚Bösewicht’, später denn der ‚Henker’ bezeichnet. Im Althochdeutschen wurde der Begriff gar in der Bedeutung ‚Todeswürger’ verwendet. Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 2011, S. 800. Die Etymologie des Begriffs ‚Schelm’ wird im folgenden Kapitel (1.1.3) dieser Arbeit erneut relevant werden, welches sich vornehmlich mit der Dimension des Theatralen in Schillers frühen Schriften befasst.





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wunden anhaftet, nochmals greifbarer. Die Schwierigkeiten, die das 18. Jahrhundert mit dem Lotto hat, zeigen sich exemplarisch etwa darin, dass die Lemmata „Lotterie“ und „Loos“ in Zedlers Universallexicon ausführlich diskutieren, inwieweit die Praxis des Lottos im Konflikt mit der göttlichen Vorsehung stehen.181 Eine generelle Verurteilung ist den Verfassern der entsprechenden Einträge dabei aufgrund der Tatsache nicht möglich, dass sich in antiken Texten und sogar in manchen Bibelstellen Beispiele für Lotto- und Losverfahren finden, die normativ nicht sanktioniert werden.182 Dennoch ermittelt der Verfasser des ‚Los’-Eintrags zumindest einen spezifischen Fall, für welchen er ein eindeutiges Urteil wagt. Beim „Berathschlagungs-Loos“ habe man nämlich grosse Vorsichtigkeit dabey zu gebrauchen, und sich dessen nicht eher zu bedienen, bis die Sache durch menschliche Ueberlegung vermittelst der Vernunft nicht kan ausgemacht werden. Denn das wäre eine Thorheit, wenn ich gute Anschläge dem Ausschlag einers Looses nachsetzen, und einen Hazard lieber als eine vernünftige Ueberlegung erwählen wollte. Schlechterdings aber sind die ‚Sortes divinatoriae’ [die göttlich-weissagenden Lose; M.K.], weil sie, ohne Gott zu versuchen, oder ohne abergläubische Mittel, nicht geschehen können.183

Deutlich wird, dass auch hier der Zufall und das Kontingente durchaus keine umfassende Ablehnung erfahren, sondern vor allem dann als problematisch gelten, wenn sie in einem oppositionellen Verhältnis zur Vernunft stehen. Gerade im Modus perspektivischen Denkens soll man sich auf rationale Techniken verlassen, Zufallsverfahren sind nur statthaft, wenn jene nicht weiterführen. Um die theologische Grundierung dieser Argumentation zu erfassen, muss man sich vergegenwärtigen, dass das 18. Jahrhundert bekanntlich Vernunft und göttliche Instanz zusammendenkt, wodurch das Unvernünftige schnell der Zuschreibung des Häretischen und Dämonischen unterliegt. In einer derartigen Diskurskursformation ist es nunmehr von nahezu zwingender Folgerichtigkeit, dass das Glücksspiel normativ einen schweren Stand hat. Und genau in diese moralisch fragwürdige Stelle des Diskursgefüges begeben sich Figuren wie Fiesko von Lavagna oder Franz Moor. Genau hierin liegt das Skandalon in Spiegelbergs Aussage, dass die Räuber „ihr Leben auf Würfel“ legen (IV, 587) – es also vom Moment des Zufalls, nicht von vernünftiger Planung leiten lassen – oder das Skandalon in Fieskos Handlungen, die Leonore mit dem Bild beschreibt, dass er „um Genua eiserne Würfel schwingt“ (I, 738). Und wenn Karl Moor im Jähzorn nach der vermeintlichen Zurückweisung durch den Va

181 Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 18, Sp. 402–412 (‚Loos’) und Sp. 564–573 (‚Lotterie’).

Anzumerken ist auch, dass der Zedler im Eintrag zu ‚Lotterbube’ einen Bezug zum Begriff ‚Schelmenstück’ herstellt und damit wie Schiller Theater und Glücksspiel mit diesen beiden Begriffen aufeinander bezieht: „Lotterbube, ist ein leichtsinniger Kerl, der alle Schelmenstücke auszuüben, kein Bedencken täget.“ Siehe Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 18, Sp. 563. 182 Zur Kritik von Losverfahren in der Tradition Calvins vgl. auch die differenzierte Darstellung in Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit 2002, S. 28–33. 183 Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 18., Sp. 403.





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ter beklagt, „die Gesetze der Welt sind Würfelspiel geworden,“ (I, 596), so nimmt er nicht nur die Perspektive desjenigen ein, der anders als Spiegelberg die Abhängigkeit des Individuums vom Zufall nicht nur als Widerfahrnis erlebt, sondern auch eine solche, in der die göttlich-vernünftige Verfasstheit der Welt als kontingent erlebt wird. Perspektivierungen des Kontingenten und das Motiv des Kinderspiels Wie bereits beschrieben, affirmieren oder kritisieren Schillers frühe Dramen jedoch nicht einfach diese Dämonisierung des Spiels. Stattdessen werden verschiedene Perspektiven auf das Phänomen der Valorisierung eingenommen und so ein textseitig nicht normativ aufgeladenes Abbild des Diskurses geschaffen. Am deutlichsten zeigt sich auch dies vielleicht in der Kosinsky-Szene der Räuber. Kosinsky beschreibt nämlich zunächst seine Motivation, sich den Räubern anschließen zu wollen, in recht allgemeinen Worten: Männer such ich, die den Tod ins Gesicht sehen, und die Schlange um sich spielen lassen, die die Freiheit höher schätzen als Ehre und Leben, deren bloßer Name, willkommen dem Armen und Unterdrückten, die Beherzten feig und Tyrannen bleich macht. (I, 563)

Hier zeigt sich ein über den Begriff der spielenden Schlange als satanisch konnotiertes Begehren nach Risiko- und gar Widerfahrniserlebnissen. Die Fiktion der Freiheit wird – ein klarer Bezug zu den Franz-Monologen – höher bewertet sowohl als die ordnungsstiftende Institution der „Ehre“ als auch als die materiell-wirklichkeitsbezogene Dimension des „Leben[s]“. An diese (implizit dem Spiel-Paradigma zuzurechnenden) Passage wird dann im weiteren Verlauf der Szene mit einer Fortführung der Spiel-Semantik angeschlossen. Karl Moor gibt sich, durchaus im Einklang mit seiner biographischen Entwicklung – skeptisch gegenüber Kosinskys Affirmation von Widerfahrniskontingenz: Wie Kosinsky? Weißt du auch, daß du ein leichtsinniger Knabe bist, und über den großen Schritt deines Lebens weggaukelst wie ein unbesonnenes Mädchen – hier wirst du nicht Bälle werfen und Kegelkugeln schieben, wie du dir einbildest. (I, 565)

Über die Bedeutung des Knaben- und Mädchenspiels konturiert Moor hier die Differenz Spiel/Ernst, mit der er Kosinsky darauf hinweist, dass dieser sich durch eine Inklusion in die Räuberbande unintendiert in einer Situation wiederfinden könnte, die er so nicht gewollt hat. Die Differenz Spiel/Ernst hat Moor vorher schon in Bezug auf sich beobachtet, nämlich als er vom Kindsmord der Räuber erfährt, und über die ungewollten Folgen der ursächlich durch ihn ausgelösten Ereignisketten mit den Worten verzweifelt: „[D]a steht der Knabe, schamrot, der sich anmaßte, mit Jupiters Keule zu spielen, und Pygmäen niederwarf, da er Titanen zerschmettern sollte“ (I, 548). Moor argumentiert hier auf der Grundlage des Aufklärungsdenkens der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Spiel



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und Ernst werden analytisch distinkt voneinander getrennt, verhängnisvolle Folgen entstehen nicht aus einem spezifischen Zusammenspiel beider Domänen, sondern dadurch, dass der Beobachter diese nicht zutreffend auseinanderhält. Im Nichterkennen der ernsthaften Folgen, zu denen das eigene Handeln führen kann, liegt auch das tragische Potential und literarisch Interessante dieser Konstellation, die Figuren hervorbringt, welche die Maßstäbe des klassischen Typus des schuldlos schuldig werdenden Helden erfüllen. Indem Moor nun aber Kosinsky über diese Differenz aufklärt, hebt er den Diskurs auf ein anderes Niveau. Kosinsky kann nicht mehr unbewusst in eine Situation hineingeraten, deren Ernsthaftigkeit er im Vorfeld nicht erfasst. „Denk, ich rate dir als ein Vater“, erklärt Moor: [L]ern erst die Tiefe des Abgrunds kennen, eh du hineinspringst! Wenn du noch in der Welt eine einzige Freude zu erhaschen weißt – es könnten Augenblicke kommen, wo du aufwachst – und dann möchte es zu spät sein – Du trittst hier gleichsam aus dem Kreis der Menschheit – entweder du musst ein höhrer Mensch sein, oder du bist ein Teufel [...] verlaß diesen schröcklichen Bund, den nur Verzweiflung eingeht, wenn ihn nicht eine höhere Weisheit gestiftet hat. (I, 566)

Wenn dem Handelnden, wie in diesem Fall Kosinsky, die Gefahren seines Handelns aufgezeigt werden, hat er nur noch die Wahl, die Handlung dennoch zu vollziehen oder von ihr abzulassen. In jedem Fall wird eine derartige Entscheidung aber vor dem Wissen um die möglichen Handlungsfolgen getroffen. Nimmt der Handelnde diese Folgen dennoch willentlich oder billigend in Kauf, ist er auch in einem höheren Maße für sie verantwortlich zu machen, er setzt sich auf diese Weise der Möglichkeit aus, bewusst Schuld auf sich zu laden. Indem hier Moor Kosinsky über die Dichotomien höherer Mensch/Teufel und höhere Weisheit/ Verzweiflung deutlich macht, dass eine Inklusion in die Räuberbande ein Wagnis, ein Risiko ist, in welchem es ums Äußerste geht, versetzt er ihn in die Lage, sich willentlich dafür entscheiden zu können, das ernsthafte Leben mit den Mitteln des Spiels zu gestalten. Damit erfährt der Moment der Entscheidung, Moors Bande beizutreten, auch eine extreme zeitliche Verdichtung und hebt sie gleichzeitig in eine Situation von existentieller Bedeutung. Die Vergangenheit in Form von Kosinskys Biografie trifft auf mögliche Zukünfte, die mit extremen, aber eindeutigen Valorisierungen aufgeladen werden. Kosinsky sieht sich nun also in eine Position versetzt, in welcher er sich zu einer inhaltlich und kontextuell dem Spielparadigma zuzurechnenden Entscheidungssituation verhalten muss. Die Bewertung des Spiels beziehungsweise der das Leben wie ein Spiel führenden Bande ist nicht mehr zwangsläufig negativ – Moor zeigt explizit die Möglichkeit auf, dass hier ein höherer Zweck walten könnte – sie wird aber dem für sich selbst entscheiden



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den und damit autonomen Subjekt zugerechnet. Über die Reflexivität der Szene, in der Kosinsky sozusagen vor der Spielentscheidung steht, ob er sich einem Spielerdasein hingeben möchte, liegt auch eine Auflösung der strikten normativen Gleichsetzung von Spiel und Gottlosigkeit. Anders gesagt: Die Gottlosigkeit ist dem Spieler nun zwar nicht mehr sicher, unmöglich ist sie deshalb aber auch noch nicht geworden. Auch hierin zeigt sich Schillers Bewusstsein für die gesellschaftlichen Differenzierungstendenzen seiner Zeit mit ihren Auflösungswirkungen gegenüber den normativen Codes der alten Feudalordnung. Diese Ausdifferenzierung erlaubt es dann aber auch, Moral und Eigeninteresse nicht mehr so streng zusammenzudenken wie in den menschliches Handeln prinzipiell auf ein Jenseits beziehenden Ideenwelten der Frühen Neuzeit. Nun ist es, wenn nicht sanktioniert, so doch überhaupt denkbar, sich bewusst gegen etablierte Normen zu wenden, wenn diese keine Leistung für die eigene egoistisch fundierte Agenda bereitstellen. Ferdinand von Walter bringt genau dies auf den Punkt, wenn er gegenüber seinem Vater erklärt: „Kein menschliches Mittel ließ ich unversucht – ich muss zu einem teuflischen schreiten“ (I, 798). Die normative Ordnung wird auch hier nicht generell infrage gestellt, ihre Geltung wird jedoch an Voraussetzungen gebunden und damit als kontingent ausgewiesen. Zwischenfazit Blickt man nun zusammenfassend auf die Semantik und Motivik des Spiels in Schillers frühen Dramen, so zeigt sich zunächst, dass Schiller auf verschiedene Formen des Spiels, vom Kartenspiel in seinen Varianten des l’Hombre- und des Pharospiels über das Würfelspiel und die Lotterie bis hin zum allgemeinen Spiel des unreifen Kindes zurückgreift, um dadurch zu einer differenzierten Darstellung verschiedener Handlungsformen im Umgang mit Kontingenz zu gelangen. Die so erarbeitete Phänomenologie des Spiels erlaubt es den Texten, Wesensmerkmale von Kontingenz und Zufall und ihre Valorisierungen und sozialen Relevanzen konkret zu veranschaulichen und auf diese Weise etwa den Zumutungen der vernunftmäßig zu bearbeitenden Lebenswelt einen Bereich des regressiv-Harmlosen und Unernsten gegenüberzustellen oder aber die Praxis kühl kalkulierenden, auf egoistische Nutzenmaximierung gerichteten Verhaltens in ein spezifisches Bild zu fassen. Auch unintendierte Konsequenzen bestimmter Handlungen oder extremes Risikoverhalten werden in Semantiken und Motiven des Spiels gebunden und in ihren Zeitstrukturen reflektiert. Gleichzeitig greift Schiller auf Spielkonzepte verschie



1.1.2 (Glücks-)Spiele

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dener Diskursstände zurück. Alle drei von Bernhard Jahn beschriebenen Spiel- und Spielervorstellungen finden sich in den frühen Dramen, sodass den Texten eine Reflexionstechnik zugeschrieben werden kann, welche darauf beruht, Gegenwärtiges zu befragen, indem sie es mit Vergangenem in Beziehung setzt. Dies führt nicht zuletzt dazu, dass die Texte, obwohl sie – ihrer stellenweisen Affirmation des Affektiven gemäß – in einzelnen Figurenreden durchaus extreme Valorisierungen zeigen,184 selbst Fixierungen zu vermeiden suchen und normative Vorstellungen des sich dem Ende zuneigenden 18. Jahrhunderts weder einfach bestätigen noch generell ablehnen, sondern deren Kontingenz und Beobachterabhängigkeit zum Ausdruck bringen. Dies gilt für das Glücksspiel wie auch für die Liebecodes oder die Frage nach Authentizität und Täuschung gleichermaßen. Dass dies keine Nebensächlichkeit ist, zeigt sich schließlich darin, dass dieser Prozess des kontingent-Werdens von den Figuren ausgehend auch die Handlungsökonomien der Dramen erfasst und damit zu den in der Forschungsgeschichte so vieldiskutierten Enden gerade der Räuber und des Fiesko führt.

Schließlich sei noch auf die begriffliche Heterogenität des Spielbegriffs in Schil-

lers Jugenddramen hingewiesen. Auch Daniel Fulda stellt angesichts der vorliegenden Diversität des Materials die Frage, ob es sich bei dem strategischen und dem ästhetischen Spiel „überhaupt um ein und denselben Spielbegriff handelt.“185 Am Ende seines Aufsatzes beantwortet er diese Frage dann mit der Feststellung einer Komplementarität beider Konzepte bei Schiller.186 In Anbetracht der Bandbreite, mit der Schiller die verschiedenen Kontexte und Bedeutungsvarianten des Spielbegriffs auslotet, ließe sich jedoch ein noch weitergehender Schluss ziehen. Man könnte durchaus vermuten, dass hinter der Heterogenität der Begriffsverwendung und der Tatsache, dass in Schillers Jugenddramen kaum eine Wiederholung der selben Bedeutungsvariante von ‚Spiel’ auszumachen ist, ein systematisches Vorgehen liegt. Auch der Umstand, dass man in Bezug auf die Meeresmetaphorik ebenfalls eine konsequente Variation der Bedeutungsinhalte und Kontexte ausmachen kann, legt nahe, dass das Denken des jungen Schiller sich stellenweise an den Begriffen selbst festmacht, dass Schiller also von den Begriffen ausgehend beziehungsweise über diese hinaus auf die sie jeweils umgebenden Kontexte blickt. Dieser Praxis wohnte dann selbst etwas Experimentelles beziehungsweise Spielerisches inne. 184 Das deutlichste Beispiel ist hier sicherlich die Semantik des Satanischen Vgl. dazu v.a. Brittnacher, Die

Räuber 1998, S. 326–353.

185 Fulda, Komödiant vs. Kartenspieler 2013, S. 19–20. 186 Vgl. ebd., S. 43–44.





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Viel mehr noch kann man aber in Anschluss an Kosellecks Methode der Begriffsgeschichte oder an Luhmanns Vorgehen, Gesellschaftsstruktur und Semantiken zusammenzudenken, noch etwas anderes darin sehen: Nämlich eine Praxis des Denkens, die auf besondere Weise geeignet ist, gesellschaftliche Differenziertheit und – wenn man die Zeitperspektive mit miteinbezieht – gesellschaftliche Ausdifferenzierung zu beobachten und zu beschreiben. Die Schiller’schen Zentralbegriffe wie ‚Liebe’ oder ‚Spiel’, aber auch die Meeresmetaphorik oder kleinere Textstellen, sind dann als Werkzeuge der Weltbeschreibung aufzufassen, deren Grad an Differenz in einer gewissen Proportionalität zur Komplexität der beobachteten Gesellschaft steht. Dass Schillers Texte eben solche Perspektiven auf die sich funktional ausdifferenzierende Gesellschaft einnehmen, sollte dieses Kapitel und – dann über die Semantik und Motivik des Glücksspiels hinausgehend – auch die gesamte vorliegende Studie aufzeigen.







1.1.3 Theatralität

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1.1.3 Theatralität Kontingenz ist in Schillers frühen Texten nicht nur in thematischer oder wissenspoetologischer Hinsicht virulent. Über derartige Perspektiven hinaus geht insbesondere Schillers Nachdenken über die Bedeutung des Kontingenten und der Kontingenz in der Literatur und im Dichtungsprozess. Hierum entspannt sich bereits in Schillers frühen Texten ein metapoetischer Diskurs, an den er – dies ist eine der zentralen Thesen der vorliegenden Arbeit – in seinen späteren Arbeiten zur Ästhetik des Schönen und insbesondere des Erhabenen wieder anschießen wird.

Das vorliegende Kapitel verfolgt daher ein doppeltes Ziel. Zum einen soll versucht

werden, eben diejenigen Zusammenhänge, aus denen wichtige Stränge der späteren Theoriebildung Schillers erwachsen, zu fokussieren. Zum anderen sollen die frühen Texte als eigenständige und für sich stehende ästhetische Produkte betrachtet und auch in diesem Sinne untersucht werden. Dies ist schon allein deshalb notwendig, da sich dichtungstheoretische und metapoetische Bedeutungsgehalte naturgemäß kaum von den Inhalten, formalen Strukturen und wissenspoetologischen Ansätzen der Texte, in denen sie rekurrieren, trennen lassen, sondern als vielfach mit diesen Kontexten verwobene und mit diesen kommunizierende Reflexionen erscheinen. Spiegelberg als Künstlerfigur Die schon Schillers frühen Texten eingeschriebene Literarizität zeigt sich etwa in der Szene II/3 der Räuber, in welcher ein Selbstvergewisserungs- und Identitätsbildungsprozess der Räuberbande und ihres Hauptmanns auf die Bühne gebracht und metapoetisch reflektiert wird. Der Handlungsverlauf dieser Szene unterliegt einer klaren Steigerungslogik, welche sich an (in anekdotischer Form präsentierten) Erlebnissen Spiegelbergs, Karl Moors und der Bande entzündet und dann durch einen Botenbericht Rollers in einem (auch dramaturgisch klar akzentuierten) Höhepunkt kulminiert: der Konfrontation der Räuber mit den böhmischen Reitern inklusive des berüchtigten Streitgesprächs zwischen Karl Moor und dem inquisitorisch argumentierenden katholischen Pater. Sowohl aus zeitlicher Perspektive als auch in dramaturgischer Hinsicht rückt die Szene den Konflikt zwischen der devianten Gemeinschaft um Karl und der staatlichen Ordnungsmacht sukzessive immer näher an die Figuren und die Zuschauer beziehungsweise Leserinnen heran, bis sich die Situation in einem prekären Moment auf recht unwahrscheinliche Weise löst und die etwa 80 Mann umfassende Räuberbande geradezu



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wundersam einer Umzingelung durch „[v]iele tausend Husaren, Dragoner und Jäger“ (I, 548) entkommt. Am Ende der Szene – und auf dieses Telos ist die gesamte dramatische Ökonomie der Szene auch ausgerichtet – steht dann aber eine gestärkte Gruppenidentität und eine Vergewisserung der Binnenmoral der Räuberbande: Seine Anhänger haben eben nicht Karl ausgeliefert, um ihr eigenes Leben zu retten, sondern ihr Leben riskiert, um sich gemeinsam mit ihm den Repräsentanten der ordentlichen Justiz entziehen zu können.

Ein wichtiges Mittel zu diesem Erfolg bilden dabei – nebenbei bemerkt – Pfeifen,

mit denen die Räuber ihre Gegner täuschen und verwirren (Vgl. I, 549), mit denen sie also gleichsam eine Art akustisches ‚Schauspiel’ inszenieren.187 Interessant ist jedoch vor allem ein Blick auf den Beginn der Szene und die erste der drei angeführten Anekdoten. Eingekeilt zwischen Razmanns auf die Identität seines Gegenübers Spiegelberg abzielender Frage, „bists wirklich“ (I, 536) und der entsprechenden Antwort, „[d]u bist eben immer noch der alte“ samt Spiegelbergs Bestätigung „[d]as bin ich, wie du siehst, an Leib und Seel“ (I,537) wird eine Episode aus Spiegelbergs jüngerer Vergangenheit präsentiert, in der Literatur und Schauspiel mit den Themenkomplexen Identität und Realität verwoben werden.

Vor allem „[r]uinierte Krämer, rejizierte Magister und Schreiber“ (I, 536) habe er

für die Räuberbande angeworben, berichtet Spiegelberg – ein Umstand, durch welchen nicht nur deutlich wird, dass der junge Schiller gut im Bilde über diejenigen Sozialisationsfaktoren war, die um 1800 randständige Existenzweisen und Devianz begünstigten: Dass gerade „akademische Paupers [...] ein Element des damaligen Bandenwesens [bildeten]“ wird in der Literatur zu den Räubern häufig betont. 188 Die ehemals schreibend und nun raubend und plündernd tätigen Individuen können überdies zunächst auch als eine Repräsentation der säkularen Entwicklung, die das 18. Jahrhundert aus der Perspektive der Geniezeit genommen hat und die Karl Moor so nachdrücklich einfordert, gelesen werden: der Ablösung der Reflexion durch die Tat. Auf einer tieferen Ebene aber werden die Handlungen durch die Erwähnung der ehemaligen Professionen der Handelnden auf eine spezifischere Weise konnotiert. Von ehemaligen Schreibern und Akademikern sind Handlungen zu erwarten, die zu einem gewissen Ausmaß einen kreativen, zumindest aber einen konstruktivistischen Charakter 187 Zur Rolle der Musik in den Räubern, insbesondere zu den Bezügen des Dramas zur Operntradition vgl.

die immer noch gültige Studie: Michelsen, Der Bruch mit der Vater-Welt 1979. Zum Zusammenhang aus Akustik und Kontingenzdarstellung vgl. auch das Kapitel zur Braut von Messina in dieser Arbeit. 188 Hier Sautermeister, Die Räuber, in: Schiller Handbuch 2005, S. 7.





1.1.3 Theatralität

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aufweisen und sich in diesem Sinne in einer Assoziationsnähe zur Praxis künstlerischen Schaffens befinden. Dies tritt im Text nicht sehr deutlich hervor – bilden doch die namenlosen Räuberpersonen keinen wichtigen Bestandteil der weiteren von Spiegelberg erzählten Anekdote. In der folgenden Engführung der Erzählung setzt Spiegelberg jedoch genau an dem Zusammenhang aus Literatur und Konstruktion an. Er beschreibt, wie sein und der Räuber „Renommee vierzig Meilen weit“ reicht, obwohl dies „nicht zu begreifen ist“ (I, 536). Verantwortlich dafür sind bezeichnenderweise die „Zeitung[en]“, die einerseits ein genaues Abbild seiner Erscheinung in Umlauf gebracht und andererseits in einer Vielzahl von „Artikelchen“ (ebd.) eben zu der Verbreitung einer imaginierten Identität des Verbrechers beigetragen haben. Der Dramentext beschränkt sich dabei keineswegs auf die bloße Darstellung der Ausbreitung eines Wissens über eine Künstlerfigur durch ein im weitesten Sinne künstlerisches bzw. sprachlich-konstruktives Medium. Er bindet vielmehr beide Bereiche, Figur und Medium, zusammen, indem er aufzeigt, wie erstere auf letzteres Einfluss nimmt: Ich [Spiegelberg, M.K.] geh letzthin in die Druckerei, geb vor, ich hätte den berüchtigten Spiegelberg gesehn, und diktier einem Skrizler das leibhafte Bild von einem dortigen Wurmdoktor in die Feder, das Ding kommt um, der arme Kerl wird eingezogen, par force inquiriert, und in der Angst und in der Dummheit gesteht er dir, hol mich der Teufel! gesteht dir, er sei der Spiegelberg [...] drei Monat drauf hangt er. (I, 536)

Spiegelberg hat also Macht über die ‚Beschreibung’ von Wirklichkeit übernommen und ‚gestaltet’ gerade dadurch in der Folge Wirklichkeit. Seine theatralen Handlungen und die katalysierende Wirkung der Druckerpresse führen – bezeichnenderweise in dieser Qualität unintendiert – zur realen Hinrichtung eines eigentlich unschuldigen Arztes. Die hier aufgezeigte Wechselwirkung zwischen Literatur, theatralem Spiel und Welt ist somit nicht mehr abschließend mit den distinkten Differenzen Fiktion/Realität oder Sein/Schein zu erfassen. Gezeigt wird vielmehr ein Verschwimmen der beiden Einheiten. Literatur ist deshalb noch lange kein Ding in der Welt, kein Ding an sich, nichts Materielles; aber die Episode zeigt, dass Karl Moors Differenzierung von weltabgewandten Schreibern und tatkräftigen Selbsthelfern zu grob, zu schematisch ist und der Komplexität der gesellschaftlichen Realitäten um 1800 nicht mehr gerecht wird. Die Aporie eben dieser Dichotomisierung von Denken und Handeln, von Literatur und Realität, wird schon in der entsprechenden vielzitierten Passage deutlich, in der Karl seinen Ekel vor dem „tintenklecksenden Säkulum“ gerade mit einem Verweis auf die Lektüre von Büchern begründet – sind doch die Biographien des Plutarch mit ihren Beschreibungen „von großen Menschen“ (I,502) überhaupt erst die Ermöglichungsbe-





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dingung für Moors kritische Reflexion auf sein Zeitalter189 – wodurch sie in der Folge auch zu einer notwendigen Voraussetzung all seiner Tathandlungen als Räuberhauptmann geraten. Auch die Zusammensetzung der Räuberbande aus Magistern und Schreibern sowie Spiegelbergs Anekdote zeigen auf, dass die Literatur in der Perspektive der Spätaufklärung gerade nicht an Wirkmächtigkeit verloren hat. Schillers Text stellt vielmehr heraus, dass der Forderung der Geniezeit nach einer Suspension des Denkens und der damit verbundenen Hoffnung auf ein neues Zeitalter der Tat unterkomplexe, geradezu banale Auffassungen des Verhältnisses von Realität und Fiktion (und damit von Wirklichkeit und Möglichkeit) zugrunde liegen. Diesen vereinfachten literaturkritischen Auffassungen stellt er in seinen frühen Dramen die Einsicht von den in der realen Welt durchaus Wirksamkeit entfaltenden Potentialen der Literatur gegenüber. Dies ist insofern bemerkenswert, da – wie Susanne Lüdemann unter Bezugnahme auf Klaus Weimar herausstellt – die Räuber an der Figur des Karl Moor gleichzeitig verdeutlichen, wie der Rückgriff auf literarische Vorbilder zwar zur kurzfristigen Selbstvergewisserung taugen mag, im Zeitverlauf jedoch zwangsläufig in die Irre führt.190 So wechselt Karl Moor je nach Situation sein literarisches Vorbild. Während er sich zunächst als eine Art neuer Robin Hood begreift, geht er nach der dieses Modell disqualifizierenden Verwüstung einer Stadt dazu über, sich in die Tradition des reumütigen Teufels aus Klopstocks Messias zu stellen, um schließlich seine Rückkehr in die Vaterordnung über das Bild des verlorenen Sohnes rechtfertigen zu wollen.191 All diese Versuche, sich die Identität eines literarischen Vorbilds überstülpen zu wollen, stellen sich jedoch als vergebens heraus. Die Räuber zeigen vielmehr, so Lüdemann, das „Drama einer scheiternden Subjektwerdung (Karls), die sich mit jedem Schritt, durch den sie dem kulturellen Paradigma zu entrinnen sucht, nur desto tiefer in dessen Verästelungen, Varianten und Umkehrungen verstrickt.“192 Dieser Diagnose schreibe Schiller dann auch eine deterministische Komponente ein: Die normativen Texte der Überlieferung [...] werden von Schiller als kulturelle Fata dargestellt, als kollektive Schicksalssprüche, die die möglichen Ordnungen von Lebensgeschichten im Vorherein festlegen und denen man weder mit Gewalt, noch mit List oder schlechten Analphabetismus entrinnen kann – und sei es nur, weil es nicht möglich ist, eine schlechthin neue Geschichte zu erfinden.193



189 Eine intensive Auseinandersetzung mit der durch das Plutarch-Zitat in das Drama eingebrachten Zeitlichkeit findet sich in Boyken, Über die „Helden des Alterthums“ 2018, S. 35–73. 190 Vgl. Lüdemann, Zwischen Vaterordnung und Brüderbund. In: Der fiktive Staat. Hg. Von Albrecht Koschorke et al. 2007, S. 296–297. 191 Vgl. ebd. 192 Ebd. 193 Ebd.





1.1.3 Theatralität

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Jedenfalls, so könnte man ergänzen, ist dies Karl Moor nicht möglich. Die Räuber, so die These an dieser Stelle, präsentieren eben beides: Anhand der Figur Spiegelberg die Gestaltungspotentiale genuin literarischer Praktiken und anhand der Figur Moor die schicksalhafte Unentrinnbarkeit des Subjekts aus der Wirkungsmacht der die gesellschaftliche Ordnung hegemonial beschreibenden Texte. Dies hieße dann, dass die Räuber hier nicht nur Literatur und Realität in ein Spannungsfeld setzen, sondern auch zwei gegenläufige Literaturauffassungen. Die sich in Spiegelbergs quasi-literarischen Handlungen offenbarenden Gestaltbarkeitsmöglichkeiten und Karl Moors (den kulturellen Mustern seiner Zeit nicht entkommenden) fatalistisch endende Subjektivierungsversuche zeigen beides: Die Wirkmacht und die Ohnmacht des Literarischen. Dass diese beiden Kategorien mit den Begriffen der Gestaltbarkeit auf der einen und (wie von Lüdemann gebraucht) des „Fatums“ und des „Schicksalsspruchs“, der „Festlegung“ und der „Gewalt“ auf der anderen Seite angemessen beschrieben werden können, zeigt, dass hier von typischen Erscheinungsformen der Kontingenz (bzw. der Providenz) die Rede ist, wobei Schiller offenzulassen scheint, welche der beiden Formen er dominant setzt, und stattdessen beide Auffassungen experimentell nebeneinander stellt. Reflexionen über und Experimente mit theatrale(n) Wirkungen Die Fragen, die sich nun, gegen Ende des 18. Jahrhunderts stellen, sind (dies ist der hier relevante Kontext) auch darauf gerichtet, ein Verständnis von der Art Literatur und Theater zu gewinnen und solche poetischen Form zu entwickeln, mit welchen Wirkungen auch in der realen Welt erzielt werden können, die ihrerseits dann sekundär auch zum Wohle der Gesellschaft beitragen. Oder anders gesagt: Auch für Schiller geht es nun darum, Formen des Literarischen zu finden, die Wirksamkeitspotentiale entfalten und nicht Handlungsrestriktionen verursachen. Eben derartige Überlegungen stehen daher nicht zufällig auch im Zentrum von Schillers frühester dramentheoretischer Schrift, dem im Umfeld der Jugenddramen entstandenen Aufsatz Über das gegenwärtige deutsche Theater. In diesem Text diagnostiziert Schiller eine zwar zunehmende Popularität des Theaters in Deutschland. Gleichzeitig konstatiert er aber, dass die zeitgenössische Bühne weiterhin keine Wirkung auf die gesellschaftlichen Umstände entfalten würde. Sie sei demnach davon geprägt, dass sie die ihr durchaus zueignen gesellschafts- und wirklichkeitsverändernden Potentiale nicht abzurufen vermag. Schiller führt diese geringe Reichweite der Bühne insbesondere darauf zurück, dass die zeitgenössischen Stücke



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eine zu eingeschränkte Perspektive einnähmen und immer nur einzelne Laster oder einzelne Tugenden isolierten, wodurch sie nicht geeignet seien, der gesellschaftlichen Komplexität als Ganzes Rechnung zu tragen. Dass es Schiller gerade um die zunehmende Komplexität der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft geht, zeigt sich in seiner Charakterisierung des idealen Theaters als ein offener Spiegel des menschlichen Lebens, auf welchem sich die geheimsten Winkelzüge des Herzens illuminiert und fresko zurückwerfen, wo alle Evolutionen von Tugend und Laster, alle verworrenensten Intrigen des Glücks, die merkwürdige Ökonomie der obersten Fürsicht, die sich im wirklichen Leben oft in langen Ketten unabsehbar verliert, wo, sage ich, dieses alles in kleinern Flächen und Formen aufgefaßt, auch dem stumpfesten Auge übersehbar zu Gesichte liegt. (V, 811)

Die Adjektive dieser Passage verdeutlichen Schillers Wahrnehmung der Welt als ein komplexes, nicht leicht zu erfassendes, geradezu labyrinthisches Gebilde. Die sich ausdifferenzierende Gesellschaft abzubilden, dies zwar auf verkleinerte, also reduzierte Weise, aber dennoch auf das Ganze abzuheben und nicht nur einen spezifischen Ausschnitt herauszugreifen, sieht er als eigentliche Aufgabe eines Theaters an, wie er es im Sinn hat. Auf dieses Weise scheint es ihm gar möglich, nicht nur unkalkulierbare Zufälle, also „Intrigen den Glücks“, sondern auch „im wirklichen Leben“ rational nicht zu erfassende providentielle Eingriffe, eben „die merkwürdige Ökonomie der obersten Fürsicht“ nachvollziehbar abzubilden. Bemerkenswert ist, wie eng schon hier (ganz ähnlich den späteren Texten Schillers) Providenz und Kontingenz aneinander gerückt werden. Die providentielle Figur der ‚Chain of Being’ ist für Schiller offenbar (ontisch) analog strukturiert wie die Kontingenz- bzw. Fortunafigur eines Intrigen spinnenden Glücks, nämlich unübersehbar, überkomplex und „verworren[].“ Inhaltlich scheint auch hier offen gelassen, ob für Schiller die Welt nun dominant durch Providenz oder durch Kontingenz bestimmt wird. Man kann zwar argumentieren, dass die Aufrufung des Providenzprinzips schon eine Affirmation desselben beinhaltet, dass sich parallel zur Existenz einer providentiellen Instanz manifestierende Kontingenz also logisch nur als Derivat dieser Providenz denken lässt. Von Kontingenz würde dann generell nur deshalb gesprochen werden können, weil die (menschlichen) Beobachter das eigentlich providentielle Wesen der jeweiligen Zusammenhänge nicht erfassen würden und etwa providentiell veranlasste Ereignisse fälschlicherweise als Zufälle auffassen würden. Dass Schiller eine solche Auffassung vertritt, ließe sich dann dadurch stützen, dass er (etwa in dem vorliegenden Zitat) explizit auf die Komplexität und Unüberschaubarkeit dieser Zusammenhänge verweist. Man kann demgegenüber jedoch auch darauf verweisen, dass es förmlich ins Auge springt, dass die Problematik des unzureichenden Beobachterstandpunktes zur Klärung der großen Frage nach Kontingenz oder Providenz



1.1.3 Theatralität

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auch für Schiller selbst gilt, dass bezweifelt werden kann, dass Schiller sich dessen nicht bewusst war. Dass er beide Phänomene schlicht nebeneinander stellt, ohne ein klares Votum für das eine oder andere abzugeben, ist dann als eine eher indifferente, unentschiedene Haltung Schillers zu betrachten. Eine derartige Offenheit gegenüber der doch bedeutsamen Frage nach dem Ausmaß göttlicher Einflussnahme auf die Welt fügt sich bezeichnenderweise nicht nur in die in der deutschen Spätaufklärung herrschenden Diskusstände zu dem Thema ein, sondern zieht sich auch durch Schillers spätere Texte.194 In methodischer Hinsicht kann dieses textlich durchaus exponierte Offenlassen einer so wichtigen Frage auch als eine Form der Kontingenzanerkennung gewertet werden. Damit lässt sich nun zwar keinesfalls eine inhaltliche Entscheidung Schillers für die Kontingenzseite in der Kontingenz/Providenz-Dichotomie ableiten – zu verweisen ist hier im Übrigen auch darauf, dass sich Schiller stets gegen atheistische Positionen ausspricht.195 Es zeigt jedoch, wie sehr Schillers Denken bei aller Annahme einer providentiellen Letztinstanz im Formalen dem Kontingenzparadigma folgt.196 Ob Schiller nun also von einer gleichrangingen Koexistenz von Providenz und (letztlicher) Kontingenz ausgeht oder ob er jegliche Kontingenz letztlich doch der providentiellen Instanz unterordnet, wird sich anhand der Offenheit seiner Texte in dieser Frage nicht abschließend klären lassen. In inhaltlicher Hinsicht relevant – und das soll im Folgenden im Zentrum stehen – scheint ihm nur, dass das Theater dazu befähigt ist, beide komplexen Phänomene in didaktischer Reduzierung einem gebildeten Publikum verständlich vor Augen zu führen. Ein solches Theater, das eher „Schule als Zeitvertreib“ (V, 813) wäre, stellt dementsprechend zwar einerseits hohe Voraussetzungen an das Publikum, welches notwendigerweise über bestimmte Deutungsfähigkeiten verfügen muss, um die dargestellte Komplexität des Werkes adäquat zu erfassen und nicht Nebensächlichkeiten überzubewerten. Andererseits vermittelt es diese Komplexität auch so anschaulich, dass sie „selbst dem stumpfesten Auge“ erkenntlich werden kann. Dass Schiller hinsichtlich der Erkenntnisfähigkeiten seiner Zeitgenossen prinzipiell skeptisch ist, belegt gerade der Aufsatz Über das gegenwärtige deutsche Theater sehr deutlich.197 Dort konstatiert Schiller: „Bevor das Publikum für seine Bühne gebildet ist, dürfte wohl schwerlich die Bühne ihr Publikum bilden“ (V, 813). Nimmt man die beiden Passagen des Aufsatzes also zusammen, so wird deutlich: Schiller geht hinsichtlich der Bildung 194 Vgl. hierzu auch das Kapitel zur historischen Semantik und zum Geschichtsdenken in dieser Arbeit. 195 So zum Beispiel in der Philosophie der Physiologie. Vgl. hierzu V, 250 und auch das folgende Kapitel.

196 Vgl. ebd.

197 Vgl. V, 812, 813 und 818.





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des Publikums durch die Bühne von einer intellektuellen Schwelle aus, die dieses zunächst fähig sein muss, selbstständig zu überschreiten. Durch die Anschaulichkeit des Dargestellten auf der Bühne ist diese Schwelle jedoch relativ niedrig und ist sie erst überschritten, so setzt ein reflexiver Bildungsprozess ein, mittels dessen das Publikum über die Bühne für die Bühne und darüber hinaus gebildet werden kann. Damit setzt eine Steigerungs- oder Beschleunigungslogik ein, über welche das Publikum auch befähigt wird, die zunehmende Komplexität der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft zu erfassen. Die Frage, die sich an dieser Stelle förmlich aufdrängt, ist die nach der Art und Weise, wie Schiller sich eine derartige Bildung des Publikums konkret vorstellt.

Hier setzt Steffen Martus mit seiner überzeugenden Beobachtung an, dass Schil-

lers frühe Stücke generell den Anspruch entwickeln, „Metatheater“ zu sein, indem sie „im Vollzug jene Einstellungen erzeugen, auf denen [sie] erfolgreich kommunizier[en] und operier[en].“198 Dies geschehe, so Martus, dadurch, dass die Texte ihren Rezipienten vorführen, dass sich deren Urteilsbildung oft voreilig vollzieht und damit am Eigentlichen vorbeigeht. Das Ziel dieser Textstrategie dürfte darin liegen, die Rezipienten zur Reflexion eigener Ansichten und Denkweisen zu bewegen. Konkret zeigt sich dieses Verfahren in den Texten etwa anhand der zentralen Stellung des Prinzips der Erwartungsenttäuschung. Martus verdeutlicht insbesondere anhand der Eröffnungsszene der Räuber, dass dies nicht nur im Hinblick auf die Figuren, sondern vielmehr auch in Hinblick auf die Rezipienten gilt.199 Nicht nur der alte Moor allein wird von Franz getäuscht, auch die Leserinnen beziehungsweise die Zuschauer des Stücks werden in die Irre geführt und müssen bis zu Franz’ wahre Absichten enthüllendem Monolog am Ende der Szene von einer moralischen Unbescholtenheit der Figur ausgehen. Im Moment der Offenbarung von Franz’ egoistischer Agenda wird dem Rezipienten, so die stringente Argumentation Martus’, vor Augen geführt, dass seine bisherigen Annahmen unbedacht und überhastet getroffen wurden. In der Folge führe dies dann dazu, dass die Zuschauer und Leserinnen dazu konditioniert werden, ihre Wahrnehmungsmuster reflektierend zu verfeinern und die ‚Gerechtigkeit gegenüber dem Dichter’ walten zu lassen, die Schiller in praktisch allen Paratexten zu seinen Jugenddramen einfordert. Die Rezipienten würden damit dazu bewegt, das Ganze des Werkes im Auge zu behalten und dabei dennoch einen Blick für die Details zu entwickeln, die auf nicht unwesentliche Weise zur Bedeu

198 Martus, Schillers Metatheater in ‚Die Räuber’ 2013, S. 127. 199 Vgl. ebd., S. 126–130.





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tungskonstitution beitragen.200 Man kann dies noch stärker als Martus herausstellen: Die systematische Implementierung von Erwartungsbrüchen in Schillers frühe Dramen hat eine gewichtige performative Wirkung. Es werden nicht nur alte obsolet gewordene Vorstellungsinhalte suspendiert, die dann nach einem mechanischen Einsatz adäquaterer Denkauffassungen vergessen werden können, sondern es ist der Bruch selbst, die Friktion beziehungsweise die überraschend eintretende Erfahrung von Erkenntnis, die in den Mittelpunkt der Stücke gehoben wird.201 Es handelt sich dabei im Grunde um die performative Darstellung eines Zusammenfalls von Widerfahrniskontingenz und Erkenntnisprozess. Ein überraschender von außen auf das Subjekt einbrechender Reiz fungiert als Auslöser eines Offenbarungs- oder eines Aufklärungserlebnisses und wird demnach mit einer positiven Valorisierung versehen. Auch wenn diesem Vorgang auf latente Weise ein gewisses Moment subtiler Gewalt innewohnt,202 belegt er doch, dass Schiller im Kern Kontingenzphänomene in unterschiedlichsten Bewertungszusammenhängen darstellt, sie also aus vermeintlich fixen Verbindungen, etwa derjenigen von Widerfahrnis und Schrecken löst und Kontingenz so als eine normativ zunächst neutrale Erscheinung entwirft. Die wissenspoetologische Ergründung des Phänomens kann so in analytischer und in variabler Perspektive erfolgen. (Widerfahrnis-)Kontingenz kann etwa in ihrer Erscheinungsforma als Heimsuchung oder Schrecken mit ihrer Erscheinungsform als geniehafter Einfall oder plötzliche Erkenntnis in einen Zusammenhang gebracht werden, was wiederum neuartige Blickwinkel auf die Verhandlung von Kontingenz im Speziellen und die Reflexion des Aufklärungsprozesses im Allgemeinen ermöglicht. Die Vielfältigkeit der Darstellungen von Kontingenzphänomenen auf der Handlungsebene der frühen Dramen Schillers kovariiert damit mit der bereits beschriebenen Vielfältigkeit ihrer Kontingenzsemantiken und -motive. Kontingenz, Kunst und „Metatheater“ Dass Schiller sich mit seinen Jugenddramen auf sehr bedachtsame und reflexive Weise im Aufklärungsdiskurs positioniert, verdeutlicht auch die oben bereits genannte Abhandlung Über das gegenwärtige deutsche Theater. Zum einen wendet er sich dort gegen 200 Vgl. ebd.

201 Dieses Prinzip wird später zum Kern von Schillers Ästhetik des Erhabenen. Vgl. dazu des vierte Kapitel

in dieser Arbeit. 202 Auch dieses Moment der Gewalt wird Eingang in die Ästhetik des Erhabenen finden. Vgl. dazu ebenfalls

das Kapitel zur Erhabenheitsästhetik Schillers in dieser Arbeit. Zum Zusammenhang aus Gewalt und Rezeptionsästhetik in Schillers frühen Dramen vgl. auch das Kapitel zu den Inklusions- und Exklusionsdynamiken in den Räubern.





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die übliche Praxis schulmeisterlich-heteronomer Belehrung, für die noch sein Mentor Jacob Friedrich Abel steht.203 Zum anderen geht es ihm dennoch um eine Erweiterung und Reichweitenvergrößerung aufklärerischer Einsichten und Praktiken. Diese Doppelperspektive auf das Theater entwickelt Schiller dann auch nicht zufällig anhand der Kontingenzsemantik des Meers und des Fluiden. Das Theater seiner Zeit, so Schiller, erzeuge Situationen voll schwankender Erwartung, die den leisern Odem fesselt und das beklommene Herz in ungewissen Schlägen wiegt. – Alles dieses, was wirkt es denn mehr als ein buntes Farbenspiel auf der Fläche, gleich dem lieblichen Zittern des Sonnenlichts auf der Welle. – Der ganze Himmel scheint in der Flut zu liegen. – Ihr stürzt euch wonnetrunken hinein – und tappt in kaltes Wasser. (I, 812)

Das Problem des klassischen Aufklärungstheaters liegt in den Augen Schillers wie bereits angedeutet darin, dass es nur oberflächlich wirke und seines Erachtens nicht entscheidend auf die Lebenswirklichkeiten der Menschen durchzugreifen vermag. Die Grenze zwischen den Fährnissen des Lebens und dem schillernd-optimistischen Aufklärungsdiskurs werde auf den zeitgenössischen Bühnen nicht ausreichend überschritten. Das Aufklärungstheater schaffe somit mehr eine Illusion von Aufklärung, gleich der Illumination der Wasseroberfläche durch die einfallenden Sonnenstrahlen. Aber so wie es diesen nicht gelinge, bis zum Grund des Ozeans durchzudringen, vermöge es jenes nicht, in die Tiefe der Gesellschaft zu wirken. Die sich daraus ergebende Konsequenz liegt auf der Hand. Es geht Schiller also um die Überwindung dieser starren Grenze zwischen den Sphären der Kontingenz und der Vernunft, wobei seine Methode darin liegt, die Gestaltungmöglichkeiten der Aufklärungspraxen hinsichtlich des bisher Unverfügbaren und Kontingenten auszuweiten bzw. Literatur und Theater für Kontingenzen zu öffnen. Kurz: Das Theater muss den gesellschaftlichen (und kontingenten) Realitäten ähnlicher werden, um die Gesellschaft den (normativ-ordnenden) theatralen Ansprüchen zugänglicher zu machen. Es kann nicht mehr darum gehen, Normen einfach dozierend mit dem erhobenen Zeigefinger zu oktroyieren, sondern darum, die Rezipienten auf subtilere Weise zur Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge zu verhelfen, sodass diese dann befähigt werden, sich selbst gültige Normen zu geben: „Beschreiet den Geist nicht! ist die ewige Bedingung des Beschwörers – Mit Stillschweigen erhebt man das Gold – ein Laut über die Zunge, und hinunter sinkt zehntausend Klafter die Kiste“ (I, 811). Literatur 203 Exemplarisch zeigt sich die Differenz zwischen Abel und Schiller an deren Bearbeitungen der Verbre-

cherthematik um den Sonnenwirt Friedrich Schwan. Peter André Alt erläutert dies mit Blick auf die Erzählperspektive in Schillers Verbrecher aus Infamie und Abels Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben: „Während Schillers Erzähler eine kühle Beobachterhaltung wahrt, tritt hier [also bei Abel, M.K.] ein belehrender Berichterstatter mit pädagogischem Ehrgeiz auf.“ (Alt, Schiller Bd. I., S. 513).





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muss dieser Logik nach subtiler wirken und Verständnisprozesse anregen. Sie kann nicht mehr in plump-dozierender Manier auftreten, will sie nicht zu völliger Wirkungslosigkeit verurteilt sein. Sie darf ihre Botschaften nicht direkt aussprechen, nicht „beschreien“, kann aber Inhalte, Themen, Stoffe vorführen, präsentieren, zeigen, die dann variable Deutungen und Anschlusskommunikationen ermöglichen. Literatur und Theater werden in diesem Sinne als Praxen verstanden, die gegenüber der strikten Belehrung einen größeren Grad an Kontingenz zulassen, weil der Verzicht auf Determination bei der Literaturproduktion den Rezipierenden Gestaltungsräume (im Sinne von Interpretationsmöglichkeiten) gewinnen lässt.

In ähnlichem Zusammenhang steht auch Martus’ Deutung der metatheatralen

Techniken in Schillers Jugenddramen, insbesondere dessen, was als ein Prinzip der Erwartungsenttäuschung nennen könnte. Martus identifiziert Erwartungsbrüche nicht nur hinsichtlich des Figurenhandelns, sondern stellt solche auch hinsichtlich der mit den Theaterkonventionen des 18. Jahrhunderts brechenden Handlungsverläufe der Jugenddramen Schillers fest.204 Dass diese Erwartungsbrüche keineswegs nur unbedeutende Theatereffekte darstellen, sondern auch direkt auf die Wahrnehmung der theatralen Situation in der Aufführung zurückwirken, vollziehe sich nun darüber, dass die Texte diese Erwartungsbrüche häufig in die Nähe von Theatermotiviken bzw. theatrales Spiel imitierenden Handlungen rücken.205 Die zentrale Aussage in Martus’ Argumentation besteht dementsprechend darin, dass die Rezipienten sich in Schillers Theaterstücken im Moment der Erwartungsenttäuschung in einer Situation befinden, die sich mit derjenigen der Figuren auf der Bühne deckt, und dass aus der Betrachtung der im Theater bzw. im Text gezeigten Widerfahrnismomente dann auch ein gesteigertes Verständnis und eine differenziertere Wahrnehmung theatraler Darstellungsweisen resultiert.206 Theater und Lebensrealität werden so wechselseitig aufeinander bezogen, dass die Rezipienten anhand dieses dynamischen Verhältnisses durch das Theater fürs Leben und durch das Leben fürs Theater gebildet werden. Der maßgebliche Lerneffekt hinsichtlich der Lebensrealität der Rezipienten besteht dann, so könnte man mit Martus sagen, darin, sie auf Widerfahrnisse vorzubereiten und für Verschleierungen, Täuschungen und Intrigen zu sensibilisieren. 204 Martus, Schillers Metatheater in ‚Die Räuber’ 2013, S. 126–130. 205 Vgl. ebd.

206 Diese literarische Technik bleibt in Schillers Werk durchgehend virulent. Auf sie wird in den Analysen

zur Braut von Messina zurückzukommen sein. Vgl. hierzu Kapitel 4.3.





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In der für Martus’ Argument entscheidenden rezeptionsästhetischen Perspektive

gewinnt folgerichtig die Praxis des Schauspielens besondere Bedeutung. Die Rezipienten werden daran gewöhnt, den Äußerungen der Figuren kritisch gegenüberzustehen. Die Erwartungsenttäuschungen, denen die Figuren und die Rezipienten selbst ausgesetzt werden, sind ja auch zu einem großen Teil auf Täuschungen, Konstruktionen uneigentlicher Rollenidentitäten, und damit in gewisser Weise auf schauspielerisches Verhalten anderer Figuren zurückzuführen. Eben derartige Strategien des Täuschens zu verstehen, zu durchschauen und nicht in Widerfahrnismomente ausarten zu lassen, ist das Bildungsziel, welches die frühen Dramen (aber zum Beispiel auch Schiller Roman Der Geisterseher) für ihre Rezipienten anvisieren. Daher ist die Schauspielmotivik und -semantik in den Stücken auch so deutlich ausgeprägt. Martus führt, wie bereits erwähnt, hier insbesondere die Eröffnungsszene der Räuber an. Er verweist aber auch auf die vielfach von Fiesko Lavagna instrumentell gebrauchten theatralen Mittel sowie auf die Tatsache, dass die ersten Szenen der Verschwörung des Fiesko zu Genua auf einem Maskenball spielen und die Zuschauer beziehungsweise Leserinnen bis zur 8. Szene des Stücks im Unwissen über die wahren Absichten des Grafen gehalten werden – ein durchaus bemerkenswerter Bruch mit den dramatischen Gepflogenheiten des 18. Jahrhunderts.207 Zuschauende zwischen Einfühlung und Reflexion Noch komprimierter als in Martus’ Beispielen zeigt sich diese auf Prinzipien der Kontingenzanerkennung und -darstellung beruhende Textstrategie aber in der Szene V/8 des Dramas. In dieser trifft Bougognino während der Wirren der von Fiesko ausgelösten Revolte auf Berta, ohne seine kostümierte Geliebte jedoch zu erkennen:

Bourgognino. Berta verkleidet. BOURGOGNINO. Hier ruhe aus, lieber Kleiner. Du bist in Sicherheit. Blutest du? BERTA (die Sprache verändert). Nirgends. BOURGOGNINO (lebhaft). Pfui, so steh auf. Ich will dich hinführen, wo man Wunden für Genua erntet – Schön, siehst du? Wie diese. (Er streift seinen Arm auf) BERTA (zurückfahrend). O Himmel! BOURGOGNINO. Du erschrickst? Niedlicher Kleiner, zu früh eilest du in den Mann – Wie alt bist du? BERTA. Funfzehn Jahr. (I, 739)

Bei der Betrachtung der Wirkung dieser Passage kann man zwar durchaus zwischen den Rezeptionssituationen der Aufführung auf der Bühne und dem Lesen des Textes unter 207 Vgl. ebd., S. 132.





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scheiden. Auch wenn die hier dargestellte Missverständnis-Situation im Theater noch stärkere Wirkung entfalten wird, da die Regieanweisungen in der Lesefassung doch eindeutiger sind als die aufwändiger zu entschlüsselnde Semiotik der Bühne, wird sich auch im Leseakt eine Irritation einstellen. In beiden Fällen wird der Rezipient in die paradoxe Situation versetzt, dass er die Figur Berta anhand der Person der Schauspielerin bzw. anhand des Nebentextes identifizieren kann, gleichzeitig aber beobachten muss, dass sie von ihrem Geliebten nicht erkannt wird. Von ihrer Konstruktion her parallelisiert diese – das Wahrscheinlichkeitsgebot der zeitgenössischen Dramentheorie verletzende – Szene damit die Wiederbegegnung zwischen Karl und Amalia in den Räubern. Wie in den Räubern können der Zuschauer beziehungsweise die Leserin auch hier nur sukzessive Einsicht in die tatsächlich gezeigten Gegebenheiten gewinnen. Zunächst vollzieht sich jedoch eine systematische Überforderung der Rezipienten statt, die sich erst über die Häufung von Hinweisen wie etwa der Verkleidung Bertas, ihrer Bezeichnung als ‚Kleiner’ und als ‚Mann’ und schließlich ihrer offenkundig falschen Altersangabe hin zu der Einsicht auflöst, dass Berta hier ihrem Geliebten bewusst eine falsche Identität vorspielt. Die genannte Paradoxie, dass Berta Bourgognino, nicht aber den Rezipienten täuschen kann, plausibel aufzulösen, erfordert eine Einsicht in den Konstruktionscharakter des Stückes. Die Rezipienten müssen also verstehen, dass ihnen hier etwas gezeigt wird: dass sie die Handlungslogik nicht von ihrer Position aus als unwahrscheinlich bewerten können, sondern dass das Theater ihnen ein Nicht-Erkennen der Figuren nur dadurch vermitteln kann, dass es sie in eine gegenüber den Figuren privilegierte Position versetzt. Damit durchbricht das Stück bewusst die Einfühlungssituation und das Konzept eines Illusionstheaters. Die Kausallogiken der Dramenhandlung entfalten also Geltung für die handelnden Figuren, nicht aber für den Beobachter, welcher, um die blinden Flecken der Figuren sehen zu können, aus der Handlung herausgenommen wird, seine Beobachterposition aber auch begreifen und annehmen muss. Anders gesagt: Um die Kontingenzsituation, die Irritation Bourgogninos und das Widerfahrniserleben Bertas auf der Handlungsebene überhaupt erst erfassen zu können, muss den Rezipierenden der Konstruktionscharakter des Stückes ins Bewusstsein gerufen werden. Die Kontingenz auf der (Mikro-)Ebene des Stückes wird erst durch eine Beobachtung zweiter Ordnung sichtbar. Nebenbei zu erwähnen ist zudem, dass in der Szene Kontingenz anhand einer für gewöhnlich eigentlich kontingenzreduzierenden Technik, nämlich der Anagnorisis, entfaltet wird. Statt dass hier jedoch eine eine Unklarheit aufgelöst und sich zwei Personen schlicht wiedererkennen, wird das auch-anders-möglich-Sein des Wiedererkennens



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durch Bourgogninos nicht-Erkennen Bertas und Bertas Widerfahrniserleben im Wiedererkennen gleich doppelt markiert. Wichtig ist hier jedoch vor allem auch die Zeitgestaltung der Szene (inklusive ihrer rezeptionsästhetischen Komponente). Die Rezipierenden durchlaufen zwar einen kognitiven Prozess, der sie ausgehend von einem Irritationsmoment zu einer Verständnisleistung führt, welche sie aus der Immersion in die Dramenhandlung heraushebt und in die Position verstehender Beobachter versetzt. Die eigentliche Wirkung der Szene besteht nun aber darin, dass die Handlung weiterläuft und die Figuren (genauer: Bourgognino) den Verständnisprozess der Rezipierenden zeitverzögert nachvollziehen, sodass die Rezipierenden zu Beobachtern dessen werden, was sie soeben selbst erlebt haben: Erst in einer Art Ratespiel – auch dies ist eine Parallele zu der Szene IV/II der Räuber – wird sich Bourgognino sukzessive wie schon kurz vorher die Rezipierenden der Identität Bertas bewusst. Die Passage endet schließlich in einer rührend-schwülstigen Anagnorisis-Szene, holt aber auf diese Weise die vorher distanzierten Rezipierenden wieder in den Zustand der Einfühlung zurück, ehe das Ende der Szene und damit auch das sich zu Ende neigende Liebesglück der Figuren durch das „Sturmläuten in der Vorstadt“ (I,740) angekündigt wird.

Indem der Text hier mit der Beobachterperspektive der Rezipierenden spielt,

diese aus der Handlung heraus- und wieder hineinnimmt, lässt er sie zunächst affektiv an den Figurenhandlungen und -erlebnissen teilhaben, versetzt sie dann aber in die Lage, diese auch zu reflektieren und kognitiv zu verarbeiten. Dieses Spiel mit der Beobachterposition des Zuschauers oder der Leserin soll diese auch für die Konstruiertheit des Stückes sensibilisieren und geht damit sogar noch ein Stück über das hinaus, was Martus mit seinem Begriff des ‚Metatheaters’ zu fassen versucht. Bezogen auf die inhaltlich in der Passage verhandelte Identitätsthematik wird der Lerneffekt der Zuschauer darin bestehen, dass sie Skepsis bzw. Misstrauen gegenüber den scheinbaren Identitäten seiner Mitmenschen entwickeln oder, positiver formuliert, dass sie in die Lage versetzt werden, mit derartigen Täuschungen zu rechnen bzw. sie zu durchschauen. Ihnen wird über ein Spiel mit Perspektiven, über die Einfühlung in die Figuren, über deren Beobachtung in zweiter Ordnung und über Selbstbeobachtungsanreize also ein Bewusstsein für die Kontingenz bzw. Konstruiertheit etwa von Identitäten vermittelt und als Gegenmittel eine analysierende und interpretierende Haltung nahegelegt. Es ist vor allem dieser Punkt (und nicht etwa die Artikulation von Normen) im welchem Schillers frühe Dramen ihre aufklärerische Programmatik offenbaren.



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Dramenaufbau und Poetizität im Zeichen der Kontingenz Die Texte verfolgen jedoch nicht nur wirkungsästhetische oder pädagogische Zielsetzungen. Sie versuchen – so die These an dieser Stelle – auch die Entstehungsbedingungen der in ihr thematisierten Phänomene wissenspoetologisch zu ergründen. Es geht ihnen also nicht nur darum, Wissen über und Einsicht in Kontingenzphänomene zu vermitteln, sondern eine ihrer wesentlichen Zielsetzungen liegt auch darin, beides gleichzeitig überhaupt erst zu gewinnen. Gerade wenn man Täuschungen und Manipulationen als Verstöße gegen das Rousseau’sche Authentizitätsgebot und damit als wesensmäßig antisoziale Laster liest – eine Lesart, die sicherlich auf Fieskos und Franz Moors Handlungen stärker als auf die in der Sache eher harmlose Verkleidung Bertas zutrifft – lassen sich Schillers analytische Absichten anhand der Vorrede zur ersten Auflage der Räuber exemplarisch aufzeigen. Dort erklärt er bekanntlich mit Blick auf Franz Moor, er „habe versucht, von einem Mißmenschen dieser Art ein treffendes lebendiges Konterfei hinzuwerfen, die vollständige Mechanik seines Lastersystems auseinanderzugliedern – und ihre Kraft an der Wahrheit zu prüfen“ (I, 486f.). Für den hier diskutierten Zusammenhang bedeutet dies, dass die Texte nicht nur vom Schein auf die Wahrnehmung dieses Scheins reflektieren, dass sie nicht bloß die Täuschung von Figuren mit der Täuschung der Rezipienten parallelisieren – sondern dass sie vielmehr auch die Entstehungs- und Möglichkeitsbedingungen dieser Täuschungen und Manipulationen untersuchen. Es geht ihnen demnach nicht nur um die Wirkungen von Theatralität, sondern darum, wie diese in die Welt gelangen. Und wenn Martus sich, seinem Fokus auf erstere entsprechend, eingehend mit der Rolle des Schauspielers und mit dem Phänomen der Theatereffekte befasst,208 so ist es die Rolle des Dichters, die geeignet ist, letztere zu beleuchten. Dass Schillers frühe Texte eine klare Trennung zwischen der konzeptionellen Konstruktionsleistung der Täuschungen und deren performativer Ausführung vollziehen, zeigt sich etwa an einer Äußerung Franz Moors. In dem Moment, in dem er die Maskerade seines Bruders durchschaut, reflektiert er seine Situation und kommt zu dem Schluss: „Es ist nur noch Spielarbeit übrig“ (I, 572). Die Handlung des Schauspielens wird hier morphosemantisch mit dem Wort ‚Arbeit’ verbunden, dessen etymologische Wurzel, das mittelhochdeutsche ‚arebeit’ mit seiner Hauptbedeutung „Mühsal“209 bereits Aspekte wie Heteronomie, Notwendigkeit, Anstrengung oder die willentliche Unterwer

208 Vgl. ebd., S. 129–141.

209 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 2011, S. 57.





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fung unter als zweckmäßig empfundene Strapazen thematisiert. „Spielarbeit“ ist damit ein spannungsvolles, ja fast schon paradoxes Kompositum, verweist doch dessen Erstglied „Spiel“ semantisch exakt auf das Gegenteil des Zweitgliedes „Arbeit“: auf Autonomie, Kontingenz, Lustempfinden und Zwecklosigkeit. Dass hier dennoch die „Arbeit“ gegenüber dem „Spiel“ dominant gesetzt ist, liegt zum einen an ihrer Positionierung als Zweitglied und damit als bedeutungstragendes Element des Determinativkompositums, zum anderen aber auch an der Fokuspartikel „nur“, welche den gesamten Begriff „Spielarbeit“ mit einer eher profanisierenden Konnotation versieht. Das Adverb „noch“ schließlich zeigt auf, dass diese Profanisierung oder Entvalorisierung des Spiels daher rührt, dass der eigentlich relevante und entscheidende Akt bereits im Vorfeld vollzogen wurde. Bei diesem kann es sich folgerichtig also nur um die kreativ-schöpferische Tätigkeit der Konzeptionierung und Planung dessen, was als Spielarbeit nun lediglich noch auszuführen ist, handeln. Wenn man in der theatralen Begrifflichkeit bleiben möchte, also um nichts weniger als um den Akt der Dichtung. Literatur wird hier in ihrer konzeptionellen Dimension erfasst, als ein Vorgang perspektivischen Denkens und als Bedingung der Möglichkeit späterer Performanz. Die Reflexion wird anders als bei Karl Moors schematischer Ablehnung des Schreibens hier durchaus affirmiert. Gerade Franz Moor ist ein schlagendes Beispiel dafür, dass konzeptionell-überlegtes Vorgehen in Schillers Jugenddramen eben keineswegs als wirkungslos beschrieben wird, sondern dass im Gegenteil gezeigt wird, wie dieses auf sehr wirkungsvolle Weise auf die Lebensrealität der Figuren durchgreifen kann. Gleichzeitig ist Franz aber auch ein Beispiel für die Ambivalenz des hier als rational-konzeptionelle Praxis dimensionierten Dichtungsprozesses. In seiner Figur und seinen Plänen verortet das Drama den Quell der komplexen und für die anderen Figuren so schwer zu durchschauenden Wirklichkeit. Im Räsonieren Franz’ emergiert, so könnte man sagen, ein Großteil der Kontingenzen der im Drama dargebotenen Welt, eben derjenigen Kontingenzen, welche in der Folge bei dem übrigen Figurentableau zur Notwendigkeit von Anerkennungs- oder Bewältigungsleistungen führen. Künstlerisch-kreatives Denken (und Handeln), so zeigen Schillers Texte, kann auch instrumentell zur Verwirklichung egoistischer Agenden benutzt werden und damit moralische Fragwürdigkeit erlangen. Dass in den Räubern (und dort vor allem über die Figur des Franz Moor) perspektivisches Denken und das Feld der Kunst und des Kreativen ineinanderfließen, zeigt sich auch darin, dass Franz in seinem Monolog der Szene II/3 die Grazien anruft, wenn es ihm darum geht, sich des Gelingens des Mordanschlages auf seinen Vater zu versichern:



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Und kommt auch ihr mir zu Hülfe wohltätige Grazien selbst, sanftlächelnde Vergangenheit, und du mit dem überquellenden Füllhorn, blühende Zukunft, haltet ihm in euren Spiegeln die Freuden des Himmels vor, wenn euer fliehender Fuß seinen geizigen Armen entgleitet – so fall ich Streich auf Streich, Sturm auf Sturm dieses zerbrechliche Leben an, bis den Furientrupp zuletzt schließt – die Verzweiflung! Triumph! Triumph! – Der Plan ist fertig – schwer und kunstvoll wie keiner – zuverlässig – sicher – denn (spöttisch) des Zergliederers Messer findet ja keine Spuren von Wunde oder korrosivischem Gift. (I 523)

Die Grazien oder Chariten, so Hederichs Gründliches mythologisches Lexicon, sind „drey schöne Jungfrauen“, welche „sämmtlich in einander geschlossen, lacheten, und [...] in einem Kreise zu tanzen [schienen].“210 Ihr wesentliches Charakteristikum, der Tanz, kann dabei als Repräsentation von Performativität gelesen werden.211 Während die Musen nämlich als diejenigen göttlichen Entitäten gelten, welche die kreativ-konzeptionelle Tätigkeit des Künstlers begleiten und anregen, sind die Grazien traditionell an der anschließenden sinnlich-performativen Realisierung der künstlerischen Ideen beteiligt.212 So kann Franz auch schon rufen, „Der Plan ist fertig“ – zu seiner Verwirklichung wird er dennoch die Hilfe der Grazien benötigen. Hinzu kommt, dass Franz hier auch noch die Zukunft – über das Attribut des Füllhorns in ihrer Erscheinungsform als ‚Fortuna’ kenntlich gemacht – adressiert, womit der Text eben jenen Moment der Kontingenz fokussiert, in welchem Franz’ Plan zwar gefasst, seine Umsetzung jedoch noch nicht vollzogen ist. Die hier gezeigten konzeptionellen Überlegungen Franz’ zielen damit darauf ab, seinen Vater mit Schrecken und Verzweiflung zu affizieren. Dies soll dadurch zustande kommen, dass dem Alten Moor zunächst eine hoffnungsvolle Zukunft aufgezeigt, diese ihm dann aber – eben davon spricht das Bild der fliehenden Fortuna – (gewaltsam) entzogen werden soll. Im Prinzip der künstlich herbeigeführten hoffnungsvollen Erwartung und ihrer ebenso künstlich hervorgerufenen Enttäuschung liegt also zunächst der Schlüssel, mit dem Franz seinen Vater zu Tode bringen möchte. Zum einen wird hier über Franz’ Reflexion affektiver Wirkungen bekanntlich an den Theater- und Anthropologiediskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts angeschlossen. Zum zweiten wird der Rezipient in dieser Passage aber auch zur Beobachtung eines blinden Flecks in Franz’ Argumentation bewegt. Die Zukunftserwartung, die der Alte Moor entwickeln soll – im

210 Hederich, Gründliches mythologisches Lexicon 1770, Sp. 1176-1177. 211 Nebenbei bemerkt handelt es sich dabei auch um ein geradezu emblematisches Beispiel dafür, wie

Schillers Texte Autoreflexivität inszenieren beziehungsweise sich diese, wie in diesem konkreten Fall, aneignen. 212 „Die Chariten [...] sind Freundinnen des Gesanges und des Chorreigens und verkehren daher gern mit den Musen, mit denen sie auf dem Olympos zusammen wohnen [...]. Die Musen begeistern den Dichter zum Schaffen der Gesänge, während die Chariten diese zur Verherrlichung der Feste aufführen im Chortanz und im Aufzug.“ Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie Bd. I, 1884-1890, Sp. 875.





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merhin notwendige Bedingung der Möglichkeit seiner späteren Erwartungsenttäuschung –, bleibt im Text blass und abstrakt. Die vorliegende Passage, im Prinzip sogar der gesamte Franz-Monolog, kreist vielmehr um die Entwicklung einer spezifischen Zukunftserwartung von Franz, um das „Originalwerk“ (I, 522), die „Kunst, die es verdiente, [Franz selbst] zum Erfinder zu haben“ (ebd.), eben den „Plan“, der „schwer und kunstvoll wie keiner“ zum anvisierten Ziel, nämlich den Tod des Vaters führen soll. Aus der Beobachterperspektive liegt es daher nahe, die über das Beschwören Fortunas und der Grazien angezeigte Kontingenz einer Zukunftserwartung eher auf Franz’ Plan als auf eine potentielle Erwartung des Vaters zu beziehen. Es ist Franz’ Glaube an einen sich notwendigerweise einstellenden Erfolg seines Vorhabens, der aus der Position der Leserin oder des Zuschauers in Zweifel gezogen werden muss. Dramaturgisch ist dies als Prolepse auf Franz’ sich im Verlauf des Stückes ja tatsächlich nicht erfüllende Hoffnungen zu sehen.213 Psychoanalytisch könnte man von einer Projektion der eigenen Angst vor Erwartungsenttäuschung auf den Vater ausgehen. In diesem Fall muss dann allerdings eine paradoxe Wechselwirkung zwischen der Entstehung von Franz’ Plan und der Entstehung der Angst vor dem Scheitern dieses Planes erklärt werden, was sinnvoll nur über die Identifikation eines einflussreichen Drittfaktors möglich wäre.214 Entscheidend für den hier im Zentrum stehenden Zusammenhang ist jedoch die implizite Diskussion wirkungsästhetischer Verfahren, da über diese die Dramenhandlung (und im Speziellen Franz’ Intrige) reflexiv auf den Kunstdiskurs zurückgebunden wird.

Als Poetizitätsdiskurs gelesen verortet die Textstelle damit die Auffassung, Kunst

erziele notwendigerweise und präzise die in ihrem Schaffensakt perspektivisch einkalkulierten Wirkungen, als den blinden Fleck der Literatur und des Theaters der (Früh-)Aufklärung. Der Blick Franz Moors richtet sich auf den „Zergliederer“, also den Arzt. Von diesem nimmt Franz an, er könne die wahre Urheberschaft für den Tod des Alten Moors unmöglich ermitteln und müsse daher notwendigerweise der Illusion von dessen natürlichem Tod aufsitzen. In der Lesart der Textstelle als Literarizitätsreflexion wird die Leserin oder der Zuschauer in die Rolle des Arztes gerückt;215 und darüber hin

213 Wenngleich seine Vorstellung, der Vater könnte am Affekt des Schreckens sterben, sich sehr wohl er-

füllt; nur kann Franz davon nicht wie anvisiert profitieren, der Tod des Alten Moor ereignet sich vielmehr vollkommen entkoppelt von Franz’ Bestrebungen, die alleinige Familienherrschaft zu erlangen. 214 Hierzu könnte die Biographie Franz Moors herangezogen werden, die vielfache Erfahrungen von Erwartungsenttäuschungen aufweist. 215 Vgl. hierzu auch die Interpretation zur Braut von Messina in dieser Arbeit. Dort wird anhand einer intertextuellen Bezugnahme zwischen dem Stück und der Fieberschrift vorgeschlagen, die Beobachterposition des Rezipienten dieses späten Schiller-Dramas als diejenige des diagnostizierenden Arztes zu begreifen.





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aus belegen die in der Passage latent eingearbeiteten Zweifel daran, dass es notwendigerweise so kommen wird, wie Franz glaubt, sowie der weitere Verlauf des Stückes, dass Schiller hier das Selbstbewusstsein des aufklärerischen Illusionstheaters, zielgenau auf die Gesellschaft einwirken zu können, dekonstruiert. Die Botschaft lautet demnach: Auch die Kunst kann ihre Effekte nicht vollständig kontrollieren. Auch sie kann nur Leistungen bereitstellen, welche dann von anderen Feldern der Gesellschaft und darüber hinaus auch nur nach deren eigenen Regeln aufgenommen, verarbeitet oder gar ignoriert werden. Der Künstler kann seine Wirkungen nicht zielgenau kalkulieren und sollte sich bewusst sein, dass er den Rezipierenden lediglich Angebote für die Bildung eigener Ansichten machen kann. Deshalb betont Schiller in der Vorrede zur ersten Auflage der Räuber auch, dass zu einer gelingenden Kommunikation „beiderseits, beim Dichter und seinem Leser, Geisteskraft dazu[gehört]“ (I, 487). Über die dementsprechenden Analysefähigkeiten und die daraus folgenden Konstruktionsleistungen der Leserinnen kann der Dichter nicht verfügen und muss daher anerkennen, dass die Wirkungen seiner Texte notwendigerweise zu einem gewissen Grad selbst dem Prinzip der Kontingenz unterworfen sind. Die Rollenverteilung, die Schiller also vorschwebt, definiert sich dadurch, dass der Dichter eine facettenreiche literarische Welt schafft, die der Leser dann analysiert und zu einem Eigenen synthetisiert. Der so arbeitende Dichter schafft zunächst Komplexität, die Leserin oder der Zuschauer reduziert diese dann wieder auf eine jeweils eigene und inkommensurable Weise. Das von einfachen Kausalwirkungen ausgehende Selbstbewusstsein (früh-)aufklärerischer Dichtungstheorien wird in dieser Perspektive folglich als naive Kontrollillusion entlarvt.

Dass Schillers frühe Texte die Kunst in ihren Wirkungen als ein heikles Unterfan-

gen konturieren, zeigt sich semantisch sehr häufig dann, wenn sie ihren metapoetischen Diskurs entweder mit rational-kalkulierendem Denken und Handeln oder mit einer unsicher gewordenen Weltwahrnehmung zusammenbringen. Ersteres spiegelt sich beispielsweise in dem wiederholten Gebrauch des Begriffes ‚Wagestück’ in der Verschwörung des Fiesko zu Genua wieder. Fiesko befindet sich generell in einer vergleichbaren Situation wie Franz Moor; sein Umsturzplan gegen den Dogen Andreas Doria ist gefasst, jedoch noch nicht umgesetzt. In dem Monolog der Szene II/16 richtet er sich fordernd an seinen (hier jedoch abwesenden) Gegenspieler: „Itzt, Doria, mit mir zum Kampfplatz! Alle Maschinen des Wagestücks sind im Gang. Zum schaudernden Konzert alle Instrumente gestimmt“ (I, 690); und gegen Ende des Stückes, in der Szene IV/6, greift er den Begriff in einem Akt der Selbstvergewisserung erneut auf: „Der Erfolg wird das Wage



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stück begünstigen, denn meine Anstalten sind gut.“ (I, 719). Zu beachten ist hierbei die etymologische Verwandtschaft des Erstglieds von ‚Wagestück’ mit dem Wort ‚Waage’; beide sind zurückzuführen auf das mittehochdeutsche Verb ‚wāgen’, welches die Bedeutung „unsicherer Ausgang“216 hatte und damit eine Handlungsfolge oder einen Prozess mit dem Signum des Kontingenten versah. Das Zweitglied „Stück“ kann durchaus auf das zur Bühne zu bringende Drama bezogen werden, sodass im Begriff ‚Wagestück’ Kontingenz und Theatralität zusammengebunden werden. Darauf, dass das Motiv der Waage auch über seinen Bezug zum ‚Spiel’ als Kontingenzmarker fungiert, wurde schon an anderer Stelle hingewiesen.217 Entscheidend ist jedoch die Tatsache, dass der Begriff ‚Wagestück’ hier dazu dient, der Unsicherheit über die Realisierung eines konzeptionell bereits ausgearbeiteten Planes Ausdruck zu verleihen und diese zudem noch mit dem Index des Theatralen zu versehen. Ein derartiges (metapoetisches) Ineinanderfallen von Kontingenz, Theatralität und Wirklichkeit findet sich auch in Fieskos Beschreibung der politischen Situation zum Zeitpunkt vor seinem Staatsstreich wieder: „Der Staat“ nämlich, so der Verschwörer, „gaukelt auf einer Nadelspitze“ (675) und nur wenige Zeilen später bestätigt der „Mohr“ Hasan Muley – in diesem Fall allerdings nicht unter Verwendung von Theater-, sondern von Naturmetaphorik –, dass sich nicht nur der Staat in einer prekären Situation befindet, sondern dass auch die Umsetzung von Fieskos Plänen in hohem Maße dem Prinzip der Kontingenz unterworfen ist: „Was die Ameise Vernunft mühsam zusammenschleppt, jagt in einem Hui der Wind des Zufalls zusammen“ (I, 675). Dass Schiller mit den Bedeutungsvarianten des Begriffs „gaukeln“ spielt, um Kontingenz beziehungsweise Balance mit der Domäne des Theatralen in Berührung zu bringen, belegt darüber hinaus auch die Szene IV/14 der Verschwörung des Fiesko zu Genua. Dort zeigt Fiesko seinen Unwillen gegenüber einem Status Quo, in dem sich seine Reputation lediglich auf seine Herkunft stützt und nicht auf eigene Verdienste, in dem er also jemanden spielt, der er dieser Logik nach nicht ist: Soll ihr [Leonores] Gemahl nur geerbten Glanz von sich werfen? (Lebhafter) Soll er sich für all seine Hoheit beim gaukelnden Zufall bedanken, der in einer erträglichen Laune aus modernden Verdiensten einen Johann Ludwig Fiesko zusammenflickte? Nein, Leonore! Ich bin zu stolz, mir etwas schenken zu lassen, was ich noch selbst zu erwerben weiß – Heute nacht werf ich meinen Ahnen den geborgten Schmuck in ihr Grab zurück.“ (I, 730)

Fiesko reproduziert hier Franz Moors Argument, mit dem von der Zufälligkeit im Zeugungsakt auf die generelle Kontingenz menschlicher Existenz geschlossen wird, und

216 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 2011, S. 699. 217 Vgl. das Kapitel zur Metaphorik des Glücksspiels in dieser Arbeit.





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führt dieses mit dem Leistungsethos der sich um 1800 formierenden bürgerlichen Gesellschaft zusammen. Den „Schmuck zurückwerfen“ bedeutet hier, sich vom Schein des Theatralen zu lösen und seiner Reputation eine authentischere, weil selbst geschaffene, Grundlage zu geben. Es geht hier Fiesko also tatsächlich um eine Kontingenzbewältigung oder Kontingenztilgung. Das Gaukeln des Zufalls ist ihm doppelt unerträglich, zum einen aufgrund seiner unsicheren Tendenz zur Imbalance und zum anderen aufgrund seiner Scheinhaftigkeit und seines Täuschungspotentials. Beides ist sich von der Sache her durchaus sehr nahe, jedoch betont ersteres eher den Möglichkeitsraum menschlicher Lebensentwürfe vom Zeitpunkt der Zeugung aus betrachtet und stellt damit eine Modalisierung der Wirklichkeitsstruktur dar, wohingegen zweiteres eher die Unfähigkeit des Individuums fokussiert, diesen Möglichkeitsraum vollständig zu erfassen, sodass darüber auf ein Nicht-Wissen bzw. eine Täuschung des Beobachters, also auf einen innerpsychischen Prozess, referiert wird. Figurenpsychologisch ist dies übrigens durchaus bemerkenswert. Es macht Fiesco zu einem ambivalenten Charakter, der einerseits den Zufall als Grundlage seines Status’ ablehnt, andererseits aber – wie das vorangehende Kapitel gezeigt hat – seine politischen Ambitionen (als Spielerfigur) eng an den Zufall bindet.

Bezogen auf die wissenspoetische Ergründung des Kontingenzphänomens in

Schiller frühen Arbeiten lässt sich also sagen: Gerade indem die Texte vielfach solche Konnotationen ineinanderschieben oder aufeinander beziehen, loten sie feine Differenzen des Kontingenzparadigmas aus. Indem auch das Theatrale semantisch in die Verhandlung der Kontingenzthematik eingebunden wird, entwerfen die Texte durchaus komplexe Selbstreflexionen und schaffen neue Uneindeutigkeiten, da ihre Aussagen sowohl auf die innerdramatischen Handlungsabläufe bezogen als auch als Metareflexivität über das Theater und das Dichten bzw. die Rezeption von Dichtung gelesen werden können. Dass es dabei ganz vornehmlich um derartige Uneindeutigkeiten und Kontingenzen geht, dass also die Kontingenzthematik nicht einfach neben der eigentlichen Handlung mitläuft, darauf deutet auch die Tatsache hin, dass nicht nur semantisch auf diese referiert wird, sondern dass das Fortuna-Motiv als Allegorie der Kontingenz in eben solchen Kontexten rekurriert. Als Beispiel hierfür kann wiederum Franz Moors Selbstberuhigung gelten, mit welcher er der unausgesprochenen Furcht zu begegnen versucht, seine Pläne könnten doch noch scheitern (s.o.). Demgemäß ist Fortuna auch in der hier zitierten Fiesko-Szene präsent. Leonore spricht nämlich von „der Betrügerin“ (I, 730), um Fiesko von seinem naiven Glauben an die Notwendigkeit des Gelingens seiner



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Pläne abzubringen. In dieser Wendung liegt – für die Fortuna-Motivik durchaus typisch – ein doppelter Verweis: Der über die Fortuna-Anspielung selbst erfolgende Verweis auf zukünftige Möglichkeiten und der über den ‚Betrug’ erfolgende Verweis auf gegenwärtige Täuschungen hinsichtlich der zukünftigen Realität. Herausgestellt wird hier also, wie sich die in der Phantasie vorgestellten Zukunftsmöglichkeiten (die gegenwärtigen Zukünfte) von der tatsächlich eintretenden Zukunft (der zukünftigen Gegenwart) unterscheiden, wie aktuelle Kreativität und kommende Realität auseinanderfallen. Dichtung als Provokation Entscheidend ist: Das Fluide, das Glücksspiel und das Theatrale in Schillers frühen Dramen sind nicht als voneinander distinkt zu lesende Motive und Semantiken zu begreifen, sondern als ineinander übergehende und miteinander verschränkte Komplexe, die stets auch mit ihren jeweiligen Kontexten verschmelzen und so eine Fülle singulärer Textstellen produzieren, die jeweils im Einzelfall betrachtet werden müssen. Stets aufs Neue werden diese Semantiken aber auch in Bezug zueinander und in Bezug zu den Handlungen der Dramen gesetzt, sodass sich jenseits des Nahkontextes der Einzelstellen ein weiteres Geflecht aus Bezügen entspannt. In der Gesamtschau wird gerade in der Betrachtung dieses über die Texte verteilten Stellenarsenals an Kontingenzmetaphern, -motiven und -semantiken eine beachtlichen Ausdifferenzierung des Kontingenzparadigmas in Schillers frühen Texten sichtbar – eine Praxis, an welche die spätere Theoriebildung Schillers, insbesondere seine Erhabenheitsästhetik nahtlos anschließen wird.218 Eine der wesentlichsten Funktionen dieses Paradigmas in Schillers Jugenddramen besteht in darüber vollzogenen metapoetischen Reflexionen, wodurch Schillers Stücke sozusagen nicht nur als Metatheater, sondern auch allgemeiner als Metadichtung betrachtet werden können. Wo sich dies anhand von Künstlerfiguren vollzieht, die nicht selten gleichzeitig auch als Glücksspieler erscheinen, entwickeln Kabale und Liebe, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua und ganz besonders Die Räuber eine kritische Perspektive auf die Kunstproduktion, das Dichten und den Dichter. Die ersten dramentheoretischen Überlegungen Schillers verweisen darauf, dass er bereits in jungen Jahren zu einem für seine Zeit durchaus avancierten Dichtungsverständnis gelangt, indem er davon ausgeht, dass der Dichter komplexe Wirklichkeiten schafft, die dann von der Leserin oder dem Zuschauer unter kognitiver Eigenleistung analysiert und angeeignet werden

218 Vgl. hierzu den letzten Teil dieser Arbeit.





1.1.3 Theatralität

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müssen – ein Prozess, in dem die Rolle des Dichters in gewisser Weise eine Entlastung oder einen gewissen Bedeutungsverlust erfährt, da dieser die Wirkungen seines Textes nicht mehr vollständig kontrollieren kann/muss, sondern zu einem gewissen Ausmaß ins ihm Unverfügbare entlassen muss/kann. Auf der anderen Seite führt dieses Verständnis von Dichtung und Dichten jedoch zu einer – wahrscheinlich im Vergleich auch bedeutsameren – Aufwertung des künstlerischen Schaffens. Der Dichter rückt in die Rolle eines Demiurgen, der für seine Leser komplexe (und damit der sich modernisierenden und differenzierenden Gesellschaft analoge) Wirklichkeiten schafft. Er wird in den in leicht anderem Kontext getroffenen Worten Hans-Jürgens Schings’ zum Besitzer „einer ‚Real-Idee’ der wirkenden Allmacht [,was] tatsächlich nichts anderes bedeuten [würde,] als selbst Schöpfer zu sein, wie der Allmächtige zu sein.“219 Der entscheidende Punkt – das sollte hier gezeigt werden – ist, dass Schiller diesen Gedanken oder Anspruch nicht nur inhaltlich behandelt, sondern ihm in seinen Texten etwa über Künstlerfiguren eine performative Qualität verleiht, die wiederum metareflexiv auf die Dichtungstätigkeit selbst verweist. Dass Dichtung in diesem Sinne dann auch notwendigerweise zur Provokation der göttlichen Ordnung wird, zeigt sich vor allem in der Teufelsmetaphorik, die sich in Schillers Jugenddramen nicht nur auf den Aspekt des Glücksspiels allein beschränkt, sondern die auch auf das gestaltende, theatralische und schauspielerische Handeln bestimmter Figuren übergreift. Deutlich spricht dies etwa Pater Moser in der Szene V/1 der Räuber aus, wenn er – ähnlich wie Leonore dämonisches Spiel und göttliche Instanz in ein antagonistisches Verhältnis bringend – sein Urteil über den kurz vor dem fatalistischen Suizid stehenden Franz fällt: Glaubt Ihr wohl, diese neunhundertneunundneunzig [von Tausend, die Franz elend machte; M.K. ] seien nur zum Verderben, nur zu Puppen Eures satanischen Spiels da? Oh, glaubt das nicht! Er wird jede Minute, die Ihr ihnen vergiftet, jede Vollkommenheit, die Ihr ihnen versperrt habt, von Euch fodern dereinst. (I, 605)

Die Anmaßung, sich als Regisseur in einer Art theatralen Spiels zum Urheber von Widerfahrnissen anderer aufzuschwingen, ihr perfektibles Streben nach Selbstverbesserung zu durchkreuzen und ihre Handlungen zu kontrollieren, wird von Moser hier mit dem Begriff des Satanischen versehen. Auch Gianettio, ein strategisch-kalkulierender Spieler wie Fiesko, führt die Motive des Theatralen und der Herausforderung Gottes zusammen, wenn er betont, „[d]er Teufel, der in mir steckt, kann nur in Heiligenmaske inkognito bleiben.“ (I, 687) Die in Schillers Jugenddramen in Kontrast zur göttlichen Instanz gesetzten Schelmen-Metaphern zeugen ebenfalls von einer semantischen Kreuzung des

219 Schings, Schiller Räuber: Ein Experiment des Universalhasses 1982, S. 4.





Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

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Theatralen mit dem Unmoralischen, bedenkt man, dass der Begriff ‚Schelm’ (ehe er durch „scherzhafte Übertreibung [...] später abgeschwächt wird zu ‚neckischer Mensch’“,220 wodurch er nebenbei bemerkt auch in einen spielerisch-theatralen Kontext gebracht wird) zunächst noch die Bedeutung „’Bösewicht’, metonymisch auch [...] ‚Abdecker, Schinder’ und danach ‚Henker’ getragen hat.“221 Wenn also Fiesko nach den „Gesetzen und Rangordnung“ der „Schelmen“ (I, 569) fragt oder Karl Moor nach seinem Mord an Amalia von einem „ungleiche[n] Tausch“ spricht, in dem „das Leben einer Heiligen um das Leben der Schelmen“ eingelöst werde, dann klingt der Zusammenhang aus theatraler Täuschung und Infragestellung der göttlichen Ordnung subtil an.

Die Kunst und das Theater werden in Schillers frühen Dramen also einerseits auf

ihr provokatives Potential hin befragt. Die Texte belegen, dass ein Verzicht auf eine mögliche Provokation der normativ-göttlichen Ordnung ebenso keine Lösung darstellt wie eine Weiterführung der alten aufklärerischen Praxis, in der Rolle des dozierenden und auf normativ sicherem Boden wandelnden Lehrmeisters zu verharren. Die Kunst kann dieser Logik nach gar nicht umhin, Risiko und Kontingenz als bestimmende Merkmale in sich (in ihre Semantiken und ihre Strukturen) aufzunehmen – eine Einsicht, welche die späteren Texte Schillers noch bestimmend prägend wird.222 Eine derartig verfasste Kunst kann also nicht mehr umhin, die (ihr eingeschriebenen) Zweifel an der Vorstellung einer allgültigen göttlich-prädeterminierte Ordnung zu verleugnen. Auch ohne dass inhaltlich dies expliziert werden müsste, entfalten die Texte ein kritisches Potential, das sich aber weniger in explizit formulierten Sentenzen artikuliert, sondern vielmehr in ihrer Machart, in ihren poetischen und ästhetischen Mitteln zu verorten ist. Ein Beispiel dafür vollzieht Schiller in seinen frühen Dramen eben anhand der Zusammenführung der Semantiken des Theatralen und des Satanischen.223 Bemerkenswert bleibt dennoch, dass sich Schillers Texte in dieser Frage systematisch einer eindeutigen Festlegung entziehen. Ihre formalen Strukturen und ihre Semantiken des Risikos und der Kontingenz tangieren die althergebrachten Ordnungsvorstellungen. Klar und unmissverständlich artikulierte atheistische Positionen machen sich Schillers Texte jedoch niemals zueigen. Ob dies auf eine unausgesprochene religiöse Unsicherheit des im Grunde bei allem Willen zur Sozialkritik doch in Grundzügen christlichen Autors 220 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 2011, S. 800. 221 Ebd. 222 Vgl. hierzu insbesondere das Kapitel zur Braut von Messina in dieser Arbeit.

223 In seiner späteren Theoriebildung schließen sich an diesem Punkt Überlegungen zu einer Ästhetik des

Bösen an. Vgl. hierzu das Kapitel zu Schillers Ästhetik der Kontingenz in dieser Arbeit.





1.1.3 Theatralität

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verweist oder eher auf künstlerische Erwägungen zurückzuführen ist, muss am Ende offen bleiben. Jedenfalls handelt es sich dabei, und darum soll es hier nicht zuletzt gehen, selbst um einen (authentischen oder gezeigten) Akt der Kontingenzanerkennung.







Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

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1.2 Strukturen und Prozesse des Kontingenten Während die Analysen der Kontingenz und des Kontingenten inklusive ihrer Modalisierungen und Verzeitlichungen in den Kapiteln 1.1.1 bis 1.1.3 von der Beobachtung motivischer und vor allem semantischer Phänomene ausgingen, werden sich die folgenden Kapitel mit den Strukturen der Kontingenz und deren anhängigen Zeitregime in Schillers frühen Texten befassen. Schon die vorhergehenden Abschnitte haben Strukturelles in den Blick genommen, etwa wenn es in 1.1.2 um den Zusammenhang zwischen dem Glücksspielmotiv und den Handlungsstrukturen der frühen Dramen Schillers ging oder wenn in 1.1.1 festgestellt werden konnte, dass die die Jugenddramen Schillers durchdringende Meeresmetaphorik, als Ganzes betrachtet, geeignet ist, das Kontingenzparadigma, wie es in den Texten Blumenbergs und Makropoulos beschrieben wird, adäquat abzubilden, dass die Kontingenzdarstellung in den Jugenddramen Friedrich Schillers also im Grunde auch aktuellen Maßstäben genügen kann. Dennoch lag der methodische Ausgangspunkt der Arbeit bisher stets in der sprachlichen und motivischen Verfasstheit der Schiller’schen Texte – erst davon ausgehend wurden strukturelle Phänomene in die Beobachtungen miteinbezogen. Die folgenden Kapitel wählen demgegenüber eine andere Perspektive: Jedes der drei Kapitel behandelt ein strukturelles Phänomen, über welches sich ein tieferer Einblick in die Handhabung der Modalitäten Kontingenz und Zeitlichkeit durch den jungen Schiller gewinnen lässt. Dieser im Vergleich zu den ersten drei Kapiteln veränderte methodische Zugriff bringt verschiedene Konsequenzen für die Gestalt der Arbeit mit sich. Während die vorangehenden Abschnitte mit ihrem Fokus auf sprachliche Phänomene immer auch den Charakter quantitativer Analysen hatten – galt es doch herauszustellen, dass die untersuchten sprachlichen Phänomene Muster bzw. sogar Paradigmen bilden und keine idiosynkratrischen Einzelphänomene darstellen, wie sie in jedem Text vorkommen können –, werden nun qualitativ bedeutsame Strukturen der Schiller’schen Texte, die aber nicht unbedingt gehäuft auftreten müssen, eingehender beschrieben. Die Kapitel unter 1.1 und diejenigen unter 1.2 sollen als sich gegenseitige ergänzende Darstellungen betrachtet werden, sodass sich in der Gesamtschau klarere Konturen und eine differenziertere Gesamtschau von Kontingenz und Zeitlichkeit in Schillers frühen Texten beobachten lassen. Dementsprechend komplementär sind die Kapitel auch aufgebaut. Wird in 1.1.1 mit der Meeresmetaphorik ein Phänomen ausgelotet, welches in der Fläche des Gesamttextes der Jugenddramen in Erscheinung tritt, so entspricht dies der Analyse der – ebenfalls die Texte in ihrer Gesamtheit prägenden – Ver



1.2.1 Methodische Perspektivierungen …

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fasstheit der Handlungsstrukturen in 1.2.1. Und während in 1.1.2 spezifische Momente der Kontingenz untersucht werden, zeigt 1.2.2, wie der junge Schiller mithilfe von Reframing-Techniken diese singulären Zeitpunkte sowohl in retro- als auch in prospektiver Richtung auf größere Text- und Handlungsabschnitte extrapoliert. In 1.1.3 wurden Phänomene und Semantiken des Theatralen untersucht. Dies wird in 1.2.3 anhand der kontrastiven Gegenüberstellung zweier Textauszüge aus Schillers Frühwerk vertieft, wobei sich der Kern der Argumentation um die Frage nach dem Zusammenhang von Dramentheorie und Gesellschaftsanalyse in Schillers frühen Texten drehen wird.

1.2.1 Methodische Perspektivierungen (medizinische Schriften, Kabale und Liebe) Im Zentrum des folgenden Kapitels sollen Überlegungen zu den Handlungsstrukturen und zur Dramentektonik der frühen Theaterstücke Schillers stehen. Bevor jedoch die Dramentexte einer dahingehenden Betrachtung unterzogen werden, lohnt sich ein Blick auf eine Gattung von Texten, die zwar etwa zur selben Zeit wie die Jugenddramen Schillers entstanden, die jedoch thematisch gänzlich anders zu verorten sind: Auf die medizinischen Schriften der Karlsschulzeit.

Interessant ist hierbei zunächst, dass Schiller in seiner Rolle als Arzt eben die Be-

obachterposition einnimmt, die er als Dichter naturgemäß seinen Leserinnen beziehungsweise Zuschauern zuschreibt, stehen doch der Arzt wie auch die Rezipierenden dichterischer Werke gleichermaßen vor der Aufgabe, einen sich ihm darstellenden komplexen Zusammenhang verschiedener Erscheinungen bzw. Beobachtungen zu interpretieren und diesen dann zu einem möglichst schlüssigen Ganzen zusammenzufügen. Dass eine derartige Parallelisierung von Arzt und Leserin bzw. Zuschauer von den Texten Schillers ganz explizit vorgenommen wird, zeigt die bereits an anderer Stelle angeführte Äußerung Franz Moors,224 der seine Täuschungen metaphorisch als für den „Zergliederer“ nicht zu durchschauen bezeichnet. In der Metaphorik des Zergliederns überlagern sich damit das Bild des sezierenden Pathologen mit demjenigen des Beobachters von Franz’ Handlungen, womit zunächst zwar ein intradiegetischer Arzt gemeint ist, implizit aber auf die Interpretationsleistung extradiegetischer Beobachter ab-

224 Vgl. hierzu das Kapitel zur Semantik und Metaphorik des Theatralen in dieser Arbeit. Auch in dem Ka-

pitel zur Braut von Messina wird noch auf die Analogie aus diagnostizierendem Arzt und die Bühnenhandlung beaobachtenden Theatergänger einzugehen sein.





Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

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gehoben wird.225 Ihre ontologische Grundlage findet diese Parallelisierung des Theatralen mit dem Medizinischen in Schillers Aneignung der zeitgenössischen Affektlehre, in welcher die für das Theater so wichtige Kategorien der Emotion, des Affekts und des Gefühls mit ihren Ursachen und Erscheinungsformen in sehr starker Weise an physiologische Prozesse gebunden wird.226 In seiner dritten Dissertation, dem Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, wird dies sogar zum Hauptthema. In nuce zeigt sich die Vorstellung eines solchen engen Zusammenhangs aus Physis und Psyche etwa zu Beginn von §14 Geistiger Schmerz untergräbt das Wohl der Maschine dieses Textes. Dort heißt es, dass beim unangenehmen Affekt [gilt, dass man] die Ideen, die sich beim Zornigen oder Erschrockenen so intensiv stark herausheben, [...] mit eben dem Recht, als Plato die Leidenschaften Fieber der Seele nannte, als Konvulsionen des Denkorgans betrachten [könnte]. Diese Konvulsionen pflanzen sich schnell durch den ganzen Umriß des Nervengebäudes fort, bringen die Kräfte des Lebens in jene Mißstimmung, die seinen Flor zernichtet und alle Aktionen der Maschine aus dem Gleichgewicht bringt. (V, 308)

Deutlich wird hier schon die für Schiller charakteristische „Montagetechnik und Kombinationsfähigkeit“227, mit der die theatralen Affekte des Zorns und des Schreckens zum einen über ein Plato-Zitat mit der Fieber-Thematik der zweiten Dissertation und zum anderen mit dem Hauptthema des Textes, der Erörterung des physisch-psychischen Zusammenspiels von Körper und Geist verbunden werden.228 Entscheidend ist dabei vor allem, dass die medizinischen Schriften einen Aufschluss darüber geben können, wie Schillers den Erkenntnisprozess des Arztes, also die Diagnose beziehungsweise Analyse der Krankheiten reflektiert, und mit welchen methodischen Ansätzen er dieses Feld bearbeitet. Daraus – so die Hypothese – lassen sich dann Schlüsse hinsichtlich dessen ziehen, wie der Dichter Schiller sich seine Leser bzw. Zuschauer vorstellt, welche er mit seinen Werken vor eine Situation stellt, die seiner Auffassung nach der des Arztes durchaus nahe kommt. Dies kann dann in einem nächsten Schritt einen Ansatzpunkt für ein besseres Verständnis der Strukturen in Schillers frühen Dramen darstellen. 225 Vgl. ebd. 226 Vgl. u.a. Riedel, Schriften der Karlsschulzeit 1998, S. 547–559. 227 So der sich auf die Jugenddramen beziehende Untertitel von Koopmann, Schiller und die dramatische

Tradition 1998 S. 137–154.

228 Vgl. hierzu ebenfalls das Kapitel zur Braut von Messina in dieser Arbeit.





1.2.1 Methodische Perspektivierungen …

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Kontingenzanerkennung und Wahrscheinlichkeit Hervorzuheben ist an dieser Stelle zunächst, dass Schillers medizinische und physiologische Schriften eine große Sensibilität für die Kontingenz aufweisen, der die Beobachtungen, Analysen und Diagnosen des Arztes unterliegen. Auch wenn, wie es zu Beginn der Philosophie der Physiologe heißt, „[d]as Universum das Werk eines unendlichen Verstandes sei und entworfen nach einem trefflichen Plane“ (V, 250), ihm demnach also eine providentiell gestiftete Vernunftordnung zugrunde liegt, ist es – Schillers Auffassung nach – dem Beobachter nicht unbedingt gegeben, diese sofort zu begreifen. Ganz sensualistisch argumentiert Schiller nämlich, dass der Mensch diese sinnvolle Ordnung der Welt zwar intuitiv schon erahnen kann, dass er aber „bestimmt [ist] zur Überschauung, Forschung, Bewunderung des großen Planes der Natur“ (V, 251). Im Prinzip handelt es sich dabei um ein typisches Aufklärungsprogramm: Die Ordnung der Welt offenbart sich nicht von selbst, sondern muss erst, und Schiller erhebt dies in den Rang einer Pflicht, aufwendig erschlossen werden. Die Annahme, dass solche Bemühungen Unsicherheiten oder Kontingenzen unterworfen sind, schließt sich direkt an die (im vorangehenden Kapitel beschriebene) Zurückhaltung Schillers in der Frage nach der Dominanz von Providenz oder Kontingenz wie auch an seine frühen Überlegungen zur Rolle des Theaters an. Derartige Kontingenzanerkennungen werden auch in den medizinischen Schriften deutlich. Im Bericht Über die Krankheit des Eleven Grammont wird etwa mit Blick auf das bereits angesprochene Thema einer Wechselwirkung psychischer und physischer Prozesse konstatiert, dass „[d]as genaue Band zwischen Körper und Seele [es] unendlich schwer [macht], die erste Quelle des Übels ausfindig zu machen, ob es zuerst im Körper oder in der Seele zu suchen sei“ (V, 269). Das ist zwar etwas hölzern formuliert, argumentativ jedoch stringent: Wechselwirkungen führen logisch zu Komplexität und in der Folge dazu, dass die Beobachtung des entsprechenden, (komplexen) Zusammenhangs dem Prinzip der Kontingenz unterliegen muss.

Ähnlich verhält es sich bei Schillers Lösungsansatz hinsichtlich der zentralen Fra-

ge in seinem Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. Die Vermittlung zwischen Psyche und Körper, um die sich diese Schrift im Westlichen ja dreht, vollziehe sich, so Schiller, über eine dritte, von beiden Bereichen klar zu unterscheidende Instanz, die er als „Mittelkraft“ definiert (vgl. V, 253f.). Schiller ist sich durchaus bewusst, dass es sich dabei um eine nicht ganz unproblematische Setzung handelt, die mit dem medizinischen Wissen seiner Zeit nur mühevoll zu vereinba



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Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

ren ist und formuliert dementsprechend defensiv: „Ganz philosophisch unmöglich ist sie [die Mittelkraft] also nicht, und wahrscheinlich braucht sie nicht zu sein, wenn sie nur wirklich ist. Die Erfahrung beweist sie. Wie kann die Theorie sie verwerfen.“ (V, 254). In wenigen Zeilen werden hier die für das Kontingenzparadigma konstitutiven Phänomene der Unmöglichkeit, der Wahrscheinlichkeit und der Aktualität oder Wirklichkeit zusammengebracht und auf die Leitdifferenz der Aufklärung Empirie/Ratio bezogen. Hervorzuheben ist die Anführung und gleichzeitige Abwertung der Kategorie des Wahrscheinlichen. Man könnte an die Aristotelische Poetik denken, in der bekanntlich betont wird, „es ist wahrscheinlich, daß sich vieles gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt“229 – wenn diese von Schiller nicht erst 1797 rezipiert worden wäre. Entscheidend ist aber, dass die Textstelle einen Aufschluss über die Bedeutung der Kontingenzthematik für das Denken des jungen Schiller gibt. Darüber, dass hier die Kategorie der Wahrscheinlichkeit in Opposition zu derjenigen der Unmöglichkeit gesetzt wird, erfolgt eine Auflösung der klassisch-binären Codierung des Möglichkeitsparadigmas. In die übliche Differenzierung möglich/unmöglich, die nur eindeutige Zuordnungen zulässt, wird mit der Kategorie des Wahrscheinlichen ein Bereich des Ungenauen, Unbestimmten, Kontingenten eingefügt, dessen Bedeutung eben durch die Aussage, dass gegen die von ihm angezeigte Tendenz verstoßen werden kann, – in diesem Fall, dass das Unwahrscheinliche wirklich ist – noch einmal besonders aufgewertet wird. Im Prinzip könnte man sagen, dass ‚Wahrscheinlichkeit’ als modal-ontologische Kategorie in etwa dem entspricht, was ‚Risiko’ im perspektivischen Denken bezeichnet: eine Grauzone, ein nicht vollständig Verfügbares, etwas, das durch Kalkül und Ratio bearbeitet230 und gestaltet, niemals jedoch vollständig kontrolliert werden kann, das aber genau dadurch auch einen gewissen Reiz gewinnt, ein gewisses Interesse weckt und das eine Bedingung der Möglichkeit von Erwartungsenttäuschungen darstellt, die ihrerseits dann als positiv oder negativ, also als Widerfahrnis oder als (freudige) Überraschung empfundenen werden kann. 229 Aristoteles, Poet. 1456a. 230 Diesem Zusammenhang geht Rüdiger Campe in seiner umfassenden Monographie zur Kalkulation von

Wahrscheinlichkeit in der Literatur nach. Vgl. Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit 2002. Bemerkenswert scheint an dieser Stelle, dass Schillers Texte sich weniger als die von Campe untersuchten mit einer wissenspoetisch systematischen Analyse der Kontingenzform Wahrscheinlichkeit zu befassen scheinen, als vielmehr – dies ist ja auch der Kern der vorliegenden Studie – mit einer Darstellung der Variabilität von Kontingenzformen und einer Beschreibung von Wechselverhältnissen aus verschiedenen Kontingenzphänomenen. Als eine der – so die These: wenigen – Ausnahmen hierzu kann jedoch die Anekdote Eine großmütige Handlung angesehen werden, die tatsächlich die Unmöglichkeit eines störungsfreien Sozialexperiments zur Berechnung einer Kontingenzmanifestation, nämlich der Liebe, aufzeigt. Vgl. das entsprechende Kapitel in dieser Arbeit.





1.2.1 Methodische Perspektivierungen …

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Wie bereits in 1.1.1 beschrieben, ist zur semantischen Markierung derartiger Bereiche des Gestaltbaren, aber nicht vollends Kontrollierbaren die Metaphorik des Meeres und des Fluiden besonders geeignet. Ähnlich den frühen Dramen sind auch die medizintheoretischen Schriften des jungen Schillers von einer derartigen Semantik durchzogen. Bereits in der Philosophie der Physiologie greift Schiller auf die Motivik des Meeres zurück, um eine zeitgenössische Theorie, welche die Zufälligkeit von Assoziationsfolgen auf Nervenfibern im Gehirn zurückführt, zu beschreiben und schließlich zu dekonstruieren: Gesetzt also, ich sehe das Meer. Das Meer erinnert mich an ein Schiff. Das Schiff an den amerikanischen Krieg. Die Fibern dieser verschiedenen Ideen müssten als sich irgendwo gleich sein, daß die eine die andere in Bewegung setzt. Gesetzt aber, ich hätte noch kein Schiff gesehen, ich hätte noch nie vom amerikanischen Kriege gehört. So müsste ich mich also, wenn die Meerfiber in Bewegung kommt, an ein Schiff, an den amerikanischen Krieg erinnern, ehe ich sie sinnlich empfunden habe. (V, 264)

Die Emergenz der Assoziationsübergänge müsste also Schillers Meinung nach in dieser Theorie unmotiviert quasi aus dem Nichts erfolgen – ein Ausmaß an Kontingenz, das die Theorie in seinen Augen dann auch disqualifiziert. Gegenüber Medizinern, die sich aus Furcht vor einer Enttäuschung ihrer Ansichten nicht mit den Schwächen ihrer Theorien auseinandersetzen wollen, hat Schiller zudem wenig Verständnis: „Freilich ist es wahr, daß mancher vermeiden wird, darüber zu denken, um die Blöße seiner Meinung nicht sehen zu dörfen und den Anker seines Verstandes in diesem sternlosen Meer nicht vollends zu verlieren“ (V, 265).231 Lieber ist ihm eine gewagte These, die mit der Bereitschaft sich korrigieren zu lassen, getroffen wird, als dass jemand an einer zweifelhaften Ansicht lediglich aus Furcht vor Widerfahrnis festhält. Die hier ebenfalls gebrauchte Meeresmetaphorik bringt dies recht anschaulich auf den Punkt. Auch in dem Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen greift Schiller auf Meeres- und Seefahrtsmetaphern zurück. In § 11, der die Überschrift Aus der Geschichte des Menschengeschlecht trägt, entwirft er eine Genealogie der menschlichen Gesellschaften, die ihren Höhepunkt im Wagnis der Seefahrt auf unbekannten Gewässern finde: Der Drang einer innern tätigen Natur, verbunden mit einer Dürftigkeit der mütterlichen Gegend, lehrte unsere Stammväter kühner denken und erfand ihnen ein Haus, worin sie im Geleit der Gestirne auf Flüssen und Ozeanen sicher dahinglitten und neuen Zonen entgegenschifften. Fluctibus ignotis insultavere carinae

(V, 303)

Abgesehen von der überzogen und ungeschickt wirkenden Verbindung von Haus- und Meeresmetaphorik zeigt sich anhand der – wohlgemerkt innerhalb eines wissenschaftli 231 Vgl. die Nähe zu dem später in der historischen Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende stu-

diert man Universalgeschichte behandelten Typus des ‚Brotgelehrten’.





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Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

chen Textes verwendeten und durch das Latein des Ovid-Zitats nochmals unterstrichenen – Bildlichkeit, dass Schiller sich in die Tradition der Bearbeitung und Erforschung bisher unbekannter oder unverfügbarer Sachverhalte stellt und dies auch gewillt ist, explizit zu betonen. Die Geschichte der Menschheit wird als Erfolgsgeschichte beschrieben, die darin mündet, dass „die Adern der Erde durchwühlt, [... ] der Grund des Meeres betreten [wird], Handel und Wandel blühen“ (V, 304). Und nochmals betont der junge Schiller, diesmal anhand eines Vergil-Zitats und metaphorisch auf die Rolle des modernen Menschen in der Welt bezogen, dass sich – quasi als Bereich des Gestaltbaren und als Quelle der Widerfahrnis – unter den festen Planken der Schiffe das unerforschte und unverfügbare Meer befindet: „Latet sub classibus aequor“ (V, 304).

Man könnte dies noch weiter vertiefen und ähnliche Textstellen anführen. Das

Prinzip dürfte jedoch deutlich geworden sein: Bereits Schillers medizinische Schriften sind von einer dezidierten Kontingenzmetaphorik durchzogen und weisen eine ausgeprägte Bewusstsein für die Kontingenzthematik in ihren verschiedensten Ausprägungen und Zusammenhängen auf. Der eigentlich aufschlussreiche Punkt in Bezug auf die medizinischen Schriften Schillers liegt jedoch darin, dass diese anders als die literarischen Texte Aufschluss darüber geben können, welche methodischen Herangehensweisen Schiller zur Bearbeitung der hier ausgemachten Gestaltbarkeitskontingenz für geeignet erachtet und zur Anwendung bringt. Im Prinzip – so die im Folgenden zu belegende These – folgt Schiller immer wieder dem gleichen methodischen Programm. Zunächst wird der zu erforschende Sachverhalt analytisch stark differenziert, sodass der vorliegende Zusammenhang bzw. die zu bearbeitende Frage, nochmals deutlich an Komplexität gewinnt. Erst auf dieser Grundlage setzt dann eine Synthese beziehungsweise ein Interpretationsvorgang ein, wobei in den medizinischen Schriften ein merkbares Bemühen auszumachen ist, das jeweilige Resultat dieses Analyse- und Interpretationsprozesses stets als ein lediglich wahrscheinliches und damit zu einem gewissen Maße auch Kontingentes auszuzeichnen, also als eine Schlussfolgerung, die man auch anders hätte treffen können. Dieses dem medizinischen Feld entnommene Bemühen strahlt dann – so die These – auch auf die anderen Felder aus, in denen Schiller tätig ist. Es findet sich (wie schon beschrieben) in seinen frühen Überlegungen zum Theater wieder, es wird sich aber unter andere, auch in seiner historischen Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1789





1.2.1 Methodische Perspektivierungen …

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eine wichtige Rolle spielen. Und nicht zuletzt wird es den Kern seiner Ästhetik des Erhabenen ausmachen.232 Schillers Methodik im Detail Die dabei von Schiller gebrauchten analytischen und interpretativen Techniken und Vorgehensweisen treten in den medizinischen Schriften recht deutlich zutage. Auffallend ist, dass Schiller dazu neigt, zunächst verschiedene Sachverhalte zu beschreiben, beziehungsweise einen zur Untersuchung stehenden Komplex so zu differenzieren, dass verschiedene Einzelphänomene beobachtbar werden, welche dann isoliert weiter untersucht werden können. In einem zweiten Schritt wird dann in der Regel der Versuch unternommen, die disparaten Details zu einer neuen Theorie zusammenzufügen. Mit welchen Mitteln Schiller dies vollzieht, soll im Folgenden dargelegt werden.

Der erste Schritt der Differenzierung kann sich dabei sowohl auf verschiedene

empirische Beobachtungen als auch auf voneinander abweichende Forschungsmeinungen oder sogar auf disparate Ansätze eigener Theoriebildung beziehen. Letzteres findet sich etwa zu Beginn der Philosophie der Physiologie. Zur Beantwortung der Frage, wie die Materie auf den Geist wirke, führt Schiller zunächst drei mögliche Erklärungen an: So müsse „entweder der Geist undurchdringlich sein [...], ohne Materie zu sein“ (V, 252), um die Wirkungen der Materie mit ihrer wesentlichen Eigenschaft der Substanzialität (hier: Undurchdringlichkeit) aufnehmen zu können, aber doch von der Materie unterscheidbar zu bleiben. Oder aber der „Geist [müsse] selbst Materie sein“ (V, 252). Oder, so Schiller, es „muss eine Kraft vorhanden sein, die zwischen den Geist und die Materie tritt und beede verbindet“ (V, 253) – eben die ominöse, von Schiller mit dem Begriff ‚Mittelkraft’ versehene Potenz, deren Wirkungsbereich seiner Auffassung nach in den Nervenkanälen liegen soll (vgl. NA 20, 16). Entscheidend ist an dieser Stelle nicht, dass sich Schiller hier in einem für die Spätaufklärung hoch bedeutsamen Feld zu positionieren versucht; immerhin schließt er an die im 18. Jahrhundert viel diskutierte Frage an, wie der Mensch als eine Entität, in der sich Materie und Geist verbinden, denkbar ist, wenn die von Descartes eingeführte vollständige Trennung der beiden Bereiche weiterhin Gültigkeit beanspruchen soll.233 232 Vgl. hierzu die entsprechenden Kapitel in dieser Arbeit. 233 Vgl. Riedel, Schriften der Karlsschulzeit 1998, S. 551. Riedel zeigt auch, dass Schiller an die im 18. Jahrhundert viel diskutierte Mittelding-Theorie anschließt, in welcher der Mensch als ein Wesen betrachtet wird, das zwischen Geist und Materie einzuordnen sei; Schiller modifiziert diese durchaus um-





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Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ... Wichtig ist vor allem, dass Schiller dadurch zu der Annahme seiner Mittelkraft ge-

langt, dass er über sie zwei seines Erachtens weniger befriedigende Alternativerklärungen ausschließen kann. Das vollständige Fehlen jeglicher empirischer Grundlage für das Postulat einer solchen Kraft wird also dadurch kompensiert, dass die Erfindung einer ‚Mittelkraft’ der beste Schiller zur Verfügung stehende Erklärungsansatz zu sein scheint. Die Tatsache, dass die Methode einer vergleichenden Differenzierung mit anschließender Selektion eher rhetorischen als wissenschaftlichen Anforderungen genügt, war Schiller interessanterweise durchaus bewusst. Eben hieraus entsteht die – oben bereits beschriebene – defensive Haltung gegenüber seinen Erkenntnissen und seiner Methodik. Eben genau auf diesen Punkt zielt auch die harsche Kritik der Gutachter von Schillers Dissertation, die ihn mit der Arbeit vor allem deshalb durchfallen ließen, weil sie in dieser „dunkel gelehrte Wildnisse“ ausmachten und Auffassungen, welche „auch für einen Dichter zu kühn“ seien (NA 21, 114 –115) – ein doch vernichtendes Urteil für eine Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch. Der fundamentale Dissens zwischen Schiller und seinen Gutachtern entspannte sich interessanterweise also genau an dem Punkt der Kontingenzaffirmation in dessen methodischem Vorgehen. Aus dem Bewusstsein des Kandidaten für das wissenschaftliche Wagnis, dass er mit seinen Spekulationen eingeht, erklärt sich jedoch auch die oben beschriebene Kontingenz- und Meeressemantik, die dem Text schon dieser ersten Dissertation eingeschrieben ist. Bei der hier behandelten Textstelle handelt es sich – aufgrund der drastischen Setzung der Mittelkraft quasi aus dem Nichts – um ein extremes Beispiel für die methodische Schwäche in Schillers wissenschaftlichem Vorgehen. Hier soll es jedoch nicht darum gehen, Schillers medizinwissenschaftliche Theorien vom Standpunkt heutigen Wissens aus zu dekonstruieren. Vielmehr soll dargelegt werden, dass seine Methodik der Wissensbildung und Erkenntnisgewinnung ganz wesentlich auf dem Zusammenspiel der beiden Techniken der Differenzierung und des Vergleichs beruht und eben darüber in einem engen Bezug zu seinem Kontingenzdenken steht. Neben dieser die Argumentation in Schillers erster Dissertation eröffnenden Textstelle finden sich in seinen medizinischen Schriften zahlreich weitere Belege, über welche sich die Annahme, seine Methodik beruhe ganz wesentlich auf diesen Prinzipien (der Differenzierung und des Vergleichs) konkretisieren lässt. Auch hinsichtlich der Frage, „was sind die materielle strittene Theorie aber dahingehend, dass er die Zwischenposition vom Menschen selbst auf dessen Nervenflüssigkeit verschiebt, in welcher die von ihm per Setzung in Spiel gebrachte ‚Mittelkraft’ dann auch wirken soll. (vgl. ebd., S. 552).





1.2.1 Methodische Perspektivierungen …

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Ideen des Denkorgans oder der Phantasie, und wie werden sie von den materiellen Ideen der Sensation erzeugt“ (V, 259) vergleicht Schiller drei verschiedene Theorien.234 Am Ende genügt keine der drei Theorien seinen Ansprüchen, die dritte, die von sensorischen „Fibern“ im Gehirn ausgeht, welche ihrerseits von Schwingungen in der materiellen Welt in Bewegung gesetzt werden könnten, vor allem auch deswegen nicht, weil „die Zergliederungskunst und die Analogie und nichts im ganzen Bau des Menschen nur einen Wink zu dieser Theorie gegeben“ haben (V, 261). Mit der Bezugnahme auf die Techniken der Sektion und des Analogieschlusses wiederholt sich auf einer untergeordneten Ebene die formal generell auf Differenzierung und Vergleich basierende Argumentationstechnik des Schiller’schen Textes. Das Doppel derartiger Strukturen auf unterschiedlichen Textebenen, auf Inhalts- und Formebene oder auf Inhaltsebene und in der Methodik findet sich – so die These hier – gehäuft in Schillers theoretischen und literarischen Texten.235 Über sie konstituieren sich die Komplexität und Selbstreflexivität der Schiller’schen Texte, die dann durch den Beobachter, in der Regel die Leserin oder den Leser, wieder aufzulösen sind. In ihr enthalten ist jedoch auch ein Residuum der von Schiller vielfach geäußerten Auffassung, die Welt wäre bei all ihrer Vielfältigkeit und Kompliziertheit auf der Grundlage eines vernünftigen Plans konstruiert.236 In den zueinander analogen und auf verschiedenen Textebenen immer wieder auftretenden Formen und Strukturen ist dann durchaus ein Muster zu sehen, welches implizit auf eine providentiell gestiftete Ordnung verweist. Eine dem entsprechende Mustererkennung wäre dann die Aufgabe, die dem jeweiligen Beobachter auferlegt ist, sei es dem Arzt, der Leserin, später dem Historiker oder sogar dem Menschen im Allgemeinen. In bemerkenswerter Weise greifen hier Schillers (im vorangehenden Kapitel beschriebene) literaturtheoretische und seine medizinwissenschaftlichen Überlegungen ineinander und nicht verwunderlich ist, dass dies auch auf seine literarischen Texte ausstrahlt. 234 Diskutiert wird, ob die sinnlichen Vorstellungen (a) durch mechanische Eindrücke im Nervenkanal

zustande kommen, ob sie (b) über eine isomorphe bzw. analoge Bewegung des ‚Nervengeistes’ mit den Erscheinungen der äußeren Welt gebildet werden oder ob sie (c) durch „Schwingungen saitenartig gespannter Fibern, deren Summe und Zusammenhang das Denkorgan ausmacht“ (V, 261) entstehen. 235 Vgl. hierzu etwa auch die Diskussion zur Metatheatralität in Schillers frühen Dramen im Kapitel zur Semantik und Motivik des Theatralen in dieser Arbeit. 236 So zum Beispiel zu Beginn der Philosophie der Physiologe: „Soviel wird, denke ich, einmal fest genug erwiesen sein, daß das Universum das Werk eines unendlichen Verstandes sei und entworfen nach einem trefflichen Plan. / So wie es itzt durch den allmächtigen Einfluss der göttlichen Kraft aus dem Entwurfe zur Wirklichkeit hinrann, und alle Kräfte wirken und ineinanderwirken, gleich Saiten eines Instruments tausendstimmig zusammenlautend in eine Melodie: so soll der Geist des Menschen mit den Kräften der Gottheit geadelt, aus den einzelnen Wirkungen Ursach und Absicht, aus dem Zusammenhang der Ursachen und Absichten all den großen Plan des Ganzen entdecken“ (V, 250).





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Aufmerksamkeitslenkung und Dopplung aus Inhalt und Form Der hier behandelte zweistufige Prozess aus Differenzierung und Vergleich tritt wie bereits gesagt in den medizinischen Schriften durchgehend auf. Schillers zweite Dissertation, die Fieberschrift, beruht im Prinzip vollständig auf diesem Prinzip. Auch wenn hier nicht alle entsprechenden Textstellen umfassend behandelt werden können, soll noch ebenfalls ein aus der Philosophie der Physiologie stammendes Beispiel angeführt werden, belegt dieses doch, dass es sich bei der hier beobachteten Methodik des Unterscheidens und Vergleichens – Schillers Auffassung nach – nicht nur um eine Kulturtechnik zur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung handelt, sondern um ein Prinzip, welches in Analogie dazu auch die physische Informationsübertragung und -verarbeitung im menschlichen Körper prägen würde. Wie beschrieben, verwirft Schiller drei zeitgenössische Erklärungsansätze für die Frage, wie ein Abbild der natürlichen Dinge im Gehirn entsteht. Er sieht sich jedoch außerstande, selbst eine überzeugendere Theorie hinsichtlich dieses Vorgangs aufzustellen.237 Anstelle sich in der Folge also mit der Frage zu befassen, wie die Repräsentation konkreter Objekte im Bewusstsein zustande kommt, entwickelt er für diesen – ihm nicht durchschaubaren – Vorgang die Kategorie eines „Mechanismus des Denkorgans“ (V, 265) und richtet sein Augenmerk nicht auf die sensorische Informationsgewinnung, sondern auf die Art und Weise sowie die Folgen der Weiterverarbeitung der bereits im Bewusstsein enthaltenen „materiellen Ideen“: Die materielle Assoziation ist der Grund, auf welchem das Denken ruht. Der Leitfaden des schaffenden Verstands. Durch sie allein kann er Ideen zusammensetzen und sondern, vergleichen, schließen und den Willen entweder zum Wollen oder zum Verwerfen leiten. Diese Behauptung dörfte vielleicht der Freiheit gefährlich scheinen. Dann wann die Folge der materiellen Ideen durch den Mechanismus des Denkorgans, der Verstand aber durch die materiellen Ideen, der Wille durch den Verstand bestimmt wird, so folgte, daß zuletzt der Wille mechanisch bestimmt würde. (V, 265)

Nach Schillers Auffassung vollzieht sich die Repräsentation von Objekten im Bewusstsein also über folgende Schritte: Das Objekt werde dort – nach einem nicht näher beschreibbaren Durchlauf durch den als ‚Mechanismus der Denkorgane’ bezeichneten Wahrnehmungsprozess – als materielle Idee abgebildet. Diese materielle Repräsentation werde dann assoziativ mit anderen Objekten bzw. Ideen verbunden und könne in der Folge vom Verstand konstruktiv weiter analysiert und etwa über die Methode des Ver 237 „[D]ie Assoziation muß schlechterdings in den materiellen Ideen ihren Grund haben, wenn wir sie

schon nicht nach unseren mechanischen Gesetzen erklären können. Aber es verrät einen kranken Verstand, nur ein Bestreben zu äußern, diesen Mechanismus zu finden. Ihm aber wirklich weiter nachzuhängen, wäre der nächste Weg, ihn vollends zu verlieren. In der Tat, ich habe den Kitzel nicht, und finde es meiner Absicht gemäßer, Theorien umzustoßen, als neuere und bessere zu schaffen oder schaffen zu wollen“ (V, 265).



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gleichs zu geistigen Ideen verarbeitet werden. Diese Bearbeitung habe schließlich Folgen für die affektiv-emotionale Verfassung des Menschen. Auch in dem so gestalteten Modell des Bewusstseins finde demnach zunächst eine Anreicherung mit Komplexität statt, die dann durch den analytischen Verstand differenziert und mit anderen Ideen verglichen werden könne. Da Schiller der Ablauf dieses Prozesses jedoch noch immer zu mechanisch erscheint und damit eine Bedrohung für die Vorstellung eines freien Willens darstellt, integriert er mit der Seele beziehungsweise dem Prinzip der Aufmerksamkeit noch einen weiteren Einflussfaktor, über den sich die Kontingenz des ablaufenden Prozesses nochmals erhöht: „Die Seele hat einen tätigen Einfluss auf das Denkorgan. Sie kann die materiellen Ideen stärker machen und nach Willkür darauf haften, und somit macht sie auch die geistigen Ideen stärker. Dies sei das „Werk der Aufmerksamkeit“ (V, 266). Die von der Seele gelenkte Aufmerksamkeit, so schreibt Schiller in der Folge, könne nicht nur Ideen intensivieren, sie könne sie auch assoziativ miteinander verknüpfen und so eine komplexe und aus der Beobachterperspektive kontingente Gemengelage schaffen. (Vgl. V, 266) Die Seele könne jedoch durch ihr Vermögen der Aufmerksamkeitssteuerung auch einzelne Ideen aus ihren Assoziationszusammenhängen isolieren und herauslösen und somit bestimmbar machen. Besonders aussagekräftig ist die Semantik, mit der Schiller diese beiden innerpsychischen Techniken, diejenige des Anreicherns mit Komplexität und diejenige der Komplexitätsreduktion, versieht: Wenn die Seele ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Ideen heftet und solche in andere Assoziationen bringt, so sagt man: sie erdichtet. Wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf einzelnen Bestimmungen mehrerer Ideen ruhen läßt und solche aus ihren Assoziationen herausdenkt, so sagt man: sie sondert ab. (V, 266)

Nicht nur liegt schon mit dem Prinzip der Aufmerksamkeitslenkung hier eine Bezugnahme zum Bereich des Dramas und des Theaters vor. Für den Vorgang der assoziativen Verknüpfung von Ideen und damit der Schaffung eines komplexen nicht einfach zu analysierenden Zusammenhangs verwendet Schiller explizit den Begriff des Dichtens für den reduktiven, sich in geläufiger Richtung vollziehenden Vorgang den der Absonderung. Dichten ist diesem Verständnis nach als eine Praxis der Erhöhung (oder der Schaffung) von Kontingenz zu begreifen,238 der mit dem Begriff der „Absonderung“ bezeichnete rationale Akt (wissenschaftlicher) Festlegung und exakter Unterscheidung hingegen als eine Praxis der Kontingenzreduktion. Schillers methodisches Vorgehen ließe sich demnach als eine Art Steuerung von Kontingenzen239 sehen, als einen gestalterischen 238 Auch hier ist auf die Analogien in Schillers späterer Ästhetik zu verweisen. Vgl. insbesondere das Kapi-

tel zu ‚Ästhetik und Kontingenz’ in dieser Arbeit.

239 Vgl. hierzu auch generell Hahn/Kleinschmidt/Pethes (Hrsg): Kontingenz und Steuerung 2004.





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Umgang mit dem jeweils zur Disposition stehenden Ausmaß des Kontingenten und der Kontingenz, welches entweder angereichert oder aber reduziert wird. Die Prinzipien der Steigerung und Verdichtung auf der einen und der sich daran anschließenden Differenzierung und Reduktion auf der anderen Seite finden sich somit in Schillers methodischem Vorgehen innerhalb seiner medizinischen Schriften. Sie finden sich aber gleichfalls auf deren inhaltlicher Ebene wieder, immerhin arbeiten seiner Auffassung nach sowohl der Verstand als auch die (die Aufmerksamkeit steuernde) Seele exakt nach dieser Praxis. Damit liegt auch die Annahme nahe, dass Schillers Verständnis des Dichtungsaktes und der Dichtungsrezeption eben eine solche zweistufige Praxis zugrunde liegt. Davon zeugen die Verwendung des Dichtungsbegriffs in der Philosophie der Physiologie für einen komplexitätssteigernden Vorgang oder die Tatsache, dass – wie oben deutlich gemacht werden sollte – Schillers Denken ganz wesentlich auf einer Reproduktion bestimmter Muster oder abstrakter Figuren auf unterschiedlichsten Textebenen beruht, wodurch seine Texte nicht unwesentlich mit Reflexivität aufgeladen werden. Dies führt auf der anderen Seite jedoch auch zu thematischen Verschiebungen, inhaltlichen Leerstellen und komplexen Bedeutungsgeflechten, die ihrerseits aber wiederum zu quasi-mimetischen Abbildern einer göttlich gestifteten, aber dennoch schwer zu durchschauenden Ordnung werden und die Rezipierenden einer entsprechend konzipierten Literatur über die nun für notwendige Analyse- und Deutungstätigkeit in eine analoge Position wie beim Versuch einer Deutung der Kontingenzen des (providentiell gesteuerten) Weltplanes setzen. Dichotomische Dramenstrukturen Eben von dieser Absicht zeugt – so die Hauptthese dieses Kapitels – die Konstruktionsweise der frühen Dramen Schillers. Auffallend ist nämlich, dass die Handlungsstrukturen bzw. der Plot in allen drei Jugenddramen Schillers einer je spezifischen Konstruktionsweise unterliegt, die sich von den poetologischen Vorgaben des 18. Jahrhunderts abhebt und in der literaturwissenschaftlichen Forschung vielfach Irritationen und Anlass zur Kritik ausgelöst hat. Den Räubern etwa liegt bekanntlich eine augenfällige Parallelstruktur zwischen der Karl-Handlung und der Franz-Handlung zugrunde, wobei die Besonderheit des Stückes gerade darin liegt, dass beide Handlungsstränge entgegen dem Erwartbaren nicht ineinandergeführt werden, sondern gleichsam berührungslos aneinander vorbeilaufen. Exemplarisch für eine Kritik an dieser Doppelhandlung kann



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Helmut Koopmanns Beschreibung der Komposition des Dramas stehen. Koopmann sieht im Aufbau des Textes die Folge eines dichterischen Defizits. Der noch junge Autor sei zwar originell in der verbindenden Rezeption zahlreicher Vorlagen, also „in der Komposition, die mehr vom Montagecharakter an sich hat, als das flüchtige Lesen erkennen läßt“240. Dieses, „der Philosophie des Sturm und Drang eigentlich völlig entgegengesetzt[e]“, Vorgehen könne zwar als bemerkenswerte Leistung gelten, die „verschiedenen Einflüsse“ brächten jedoch den „Preis“ mit sich, „dass Schillers erstes Drama in verschiedene Handlungsstränge zerfällt.“241 Nicht unähnlich liest sich zunächst auch Nikola Roßbachs Forschungsüberblick zur Verschwörung des Fiesko in Genua. Dort konstatiert Roßbach, dass Schillers zweites Drama „vor allem von der älteren Forschung [...] vielfach harsch kritisiert“ wurde und dies auch deshalb, weil „die Handlungsstruktur [...] inkonsequent“ sei.242 Doch, so Roßbach, auch die neuere Forschung [...] setzt sich mit ähnlichen Problemen auseinander – wenn etwa das ‚Neben- und Gegeneinander von höfischer Intrigenhandlung und Familienstück’ [...] also von republikanischem Trauerspiel und Familiendrama, als gescheitert angesehen wird.243

Im Fiseco wird also ebenso wie in den Räubern eine Doppelstruktur verortet, die zwar nicht an einzelne Figuren gebunden ist, die dennoch aber den Inhalt (besser: die Inhalte) des Stücks betrifft. Und was Kabale und Liebe betrifft, so war die Forschung laut Helga Meise „bis in die 1970er Jahre hinein“ von der „Konfrontation zweier kanonisch gewordener Positionen“ geprägt, „der Auffassung von Kabale und Liebe als ‚Drama des Ständekonfliktes’, als politisches Drama auf der einen und der von seiner ‚theologischen und existentiellen Substanz [...] auf der anderen Seite“244. Meise hebt zwar hervor, dass „[d]ie jüngere Forschung [...] nicht nur die Gegenüberstellung dieser Positionen infrage gestellt, sondern auch nach den Übergängen und Zusammenhängen zwischen ihnen gesucht [hat]“245. Dieter Liewerscheidt etwa führt neuerdings in einer grundsätzlich recht überzeugenden Analyse vor, wie sich die komplex gezeichneten Figuren und spannungsreich konstruierten Handlungsstrukturen in Kabale und Liebe der gängigen Dichotomisierung in eine metaphysische und eine sozialkritische Lesart entziehen.246 Dabei stellt er insbesondere die Zuschneidung der Einzelszenen des Stückes hin zu einer je spezifischen und

240 Koopmann, Schiller und die dramatische Tradition 1998, S. 139. 241 Ebd. 242 Roßbach, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua 2011, S. 57–58. 243 Ebd., S. 58. 244 Meise, Kabale und Liebe 2011, S. 84. 245 Ebd.

246 Vgl. Liewerscheidt, Die Macht der Bühne 2014, S. 176–188.





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intensivierten Wirkung auf den Zuschauer heraus. Gerade durch Mitleiden der unter extremen Qualen stehenden Figuren werde eine Parallelisierung von Zuschauer- und Figurenempfinden geschaffen. Auch Spannungserzeugung und Bewunderungsdramaturgie seien Mittel, mit denen Schiller zuallererst auf eine intensive Affizierung der Theaterzuschauer abziele.247 Dies ist sicher richtig und von Liewerscheidt auch detailliert und überzeugend aus dem Text des Stückes herausgearbeitet. In der Diagnose, dass all die Ambivalenzen – und man darf ergänzen: Kontingenzen – des Stückes lediglich auf eine affektive Bewegung des Zuschauers ausgerichtet seien, greift Liewerscheidt – so die These an dieser Stelle – jedoch zu kurz. Eine solche Deutung reduziert die Offenheit und Komplexität des Stückes fast ausschließlich auf die Intention, bloße Theatereffekte zu produzieren. Die Wirkungsorientierung der Jugenddramen soll gar nicht in Abrede gestellt werden. Ihr widmeten sich unter andern auch die vorangehenden Kapitel mit ihren Analysen des Theatralen und der Theatralität. Man sollte jedoch immer mitdenken, dass Schiller sich gegen eine Beschränkung des Theaters auf dessen Potenz, Affekte und Leidenschaften zu erregen, stets vehement ausgesprochen hat. Die Tragöde, so argumentiert er in Über das gegenwärtige deutsche Theater, solle eben keine „Gelegenheitsmacherin verwöhnter Wollüste spielen“ und das Theater solle eben nicht nur dazu dienen, „die eingähnende Langeweile zu beleben“, unter der das Publikum sonst zu leiden hätte (V, 813). In der Vorrede zur ersten Auflage der Räuber begründet er seine Auffassung, das Stück eigne sich eher als Lese- denn als Bühnendrama mit der Skepsis gegenüber einer häufig bloß auf Affizierung abzielenden Institution. Die Räuber versuchten eben nicht wie viele andere zeitgenössischen Stücke, „nach dem so zweifelhaften Gewinn bei theatralischer Verkörperung zu geizen“ (I, 485). Schiller hat schon seine frühen Dramen – und davon zeugen praktisch alle ihre einschlägigen Paratexte – immer auch als Werke begriffen, die intellektuelle beziehungsweise aufklärerisch-pädagogische Zwecke verfolgten. Es stimmt – wie schon angedeutet – zwar, dass seine Stücke eine starke Wirkungsorientierung aufweisen und teilweise sogar in recht deutlicher Weise auf einer Generierung von einschlagenden theatralen Effekten setzen. Davon zeugt nicht zuletzt Michelsens immer noch maßgebliche Studie zu den Einflüssen der Oper in den Räubern.248 Schon in Schillers frühen Dramen ist aber – nimmt man beides zusammen – der Anspruch einer Einlösung der klassische Wirkungstrias aus ‚delectare’, ‚movere’ und

247 Vgl. ebd., S. 187.

248 Michelsen, Der Bruch mit der Vater-Welt 1979.





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‚prodesse’ erkenntlich. Während etwa Liewerscheidts Argumentation das ‚movere’ und implizit auch das ‚delectare’ als intendierte Wirkungen der komplexen Struktur insbesondere von Kabale und Liebe anführen, will dieses Kapitel nahelegen, dass die eigentümlichen Handlungsökonomien der Jugenddramen sich eher die methodische Vorgehensweise in Schillers medizinischen Schriften inklusive der dort skizzierten Theorie des Bewusstseins verhalten und dem Leser oder der Zuschauerin seiner Stücke darüber auch und vor allem eine besondere Erfahrung des ‚prodesse’ ermöglichen. Rezeptionsästhetische Konsequenzen Gerade in der schon in den frühen Dramen so auffallenden Dichotomisierung249 ist dann ein Strukturierungsverfahren zu sehen, mit dem nicht der Dichter schon die Deutung der Handlung vorgibt, sondern diese bewusst zu weiten Teilen seinen Rezipierenden überlässt. Statt, wie in den Dramen des 18. Jahrhunderts vielfach üblich, das Figurenverhalten durch den Verlauf der Handlung einer naheliegenden und eindeutigen Bewertung zuzuführen, werden in den Räubern zwei Handlungen parallelisiert. Die Leserinnen oder Zuschauer werden so zwar implizit, aber doch gleichzeitig auch mit gewissem

249 Dabei sind Doppelstrukturen in Dramenhandlungen keineswegs eine Erfindung Schillers, sie sind viel-

mehr als Formprinzip bereits in den Dramen des spanischen Siglo de Oro, etwa in Calderons um 1630 entstandenem Stück Das Leben ein Traum, zu finden. Die deutsche Calderon-Rezeption setzt zwar in großer Breite erst durch Tiecks 1799 stattgefundene Lektüre der Andacht zum Kreuze und August Wilhelm Schlegels 1803 verfassten Aufsatz über das spanische Theater ein. Belegt ist jedoch, dass schon Lessing und Herder Calderons Texte rezipiert haben. Die Schiller-Forschung hat Bezüge zu Calderon bisher nicht eingehender untersucht. In der Calderon-Forschung ist man sich jedoch eines Einflusses der Andacht zum Kreuze auf Die Räuber sicher. Die Stücke seien sich „hinsichtlich Handlungsaufbau, Hauptfiguren, Pathos und Ethik [...] sehr ähnlich, meint Angeles Cardona-Castro“ (Strosetzki, Calderon 2001, S. 165). Ins Auge fällt auch eine Textstelle aus dem Fiesko, welche als Anspielung auf Titel und Höhepunkt von Calderons bekanntestem Werk gelesen werden kann: „Aber Fiesko [hat] nichts an der großen Welt. Leben heißt träumen; weise sein, Lomellin, heißt angenehm träumen.“ (I, 652–653). Führt man sich Calderon’sche Motive und Themen vor Augen, wie die Spannung aus Wirklichkeit und Phantasie, die Verkleidung von Frauen mit Männerkleidern, die Einkerkerung einer Hauptfigur in einem abgelegenen Turm, den Bruderkonflikt oder die Gründung einer Räuberbande durch eine der Hauptfiguren, so scheint eine CalderonRezeption in den Räubern und in Fiesko noch plausibler. Für die Argumentation dieses Kapitels bedeutet dies, dass Schiller in den parallel strukturierten und nicht auf eine zentrale Aussage hin zulaufenden Handlungsstrukturen etwa des Calderon’schen Dramas Das Leben ein Traum eine Vorlage für seine (auf Offenheit für die Leserinnen und Zuschauer seiner Stücke setzende) Dramaturgie gefunden haben könnte. In der nach Tieck und Schlegel einsetzenden Calderon-Diskussion wird immer wieder die Unverbundenheit der Handlungsstränge in den Calderon’schen Dramen angeführt. Körner etwa verweist in seinem Brief an Schiller vom 9. Oktober 1803 auf „das Regellose des Plans“, das Calderon etwa von Shakespeare unterscheide. (NA 40.I, 131) Auch Schiller betont in seiner Antwort vom 16. Oktober des gleichen Jahres, dass bei Calderon das, „was als regellos ins Auge fällt [...] von einer großen Einheit zusammengehalten“ wird (NA 32, 80). Er verweist also auf eine implizite Ordnung hinter den chaotischen, von Kontingenzen bestimmten Inhalten seiner Stücke. Interessant ist auch, dass Goethe – im Glauben Schiller habe Calderon nicht gekannt – im Gespräch mit Eckermann vom 30. März 1824, welches auch Calderon zum Inhalt hatte, möglicherweise nicht zufällig eine Parallele zu Schiller zieht: „So hat Calderon [...] auf mich gar keinen Einfluss gehabt [...]. Schillern aber wäre er gefährlich gewesen, er wäre an ihm irre geworden“ (FA 157).





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Nachdruck dazu bewegt, die beiden Handlungsstränge zueinander in Bezug zu setzen, sie zu vergleichen und nach Differenzen und Identitäten zwischen ihnen zu suchen. Im Prinzip wird das in Schillers medizinischen Schriften vollzogene zweischrittige Vorgehen von Komplexitätssteigerung mit anschließender Komplexitätsreduktion anhand der Techniken von Analogie und Vergleich hier erneut aufgegriffen. Was dort jedoch von ein und demselben Beobachter – dem diagnostizierenden Arzt – durchgeführt wird, wird hier auf zwei Beobachtungsinstanzen disponiert: den Dichter und die Leserin beziehungsweise den Zuschauer. Die Rezipienten werden also schon von Beginn an als am Endprodukt des Kunstwerks notwendigerweise Mitwirkende eingeplant. Die Ermöglichung einer Konstruktionsleistung bei den Rezipierenden erfordert aber ein Kunstwerk, welches eine gewisse Offenheit und Kontingenz in seinen Inhalten und in seiner Form aufweist und eine Bereitschaft beim Dichter, seine Rezipienten auch als am Kunstwerk Mitwirkende anzuerkennen. Als eine derartige Aussage kann auch das viel zitierte Schlusswort der 1784 verfassten Ankündigung der Rheinischen Thalia verstanden werden, in dem Schiller eine Gemeinschaft aus Schriftsteller und Leser entwirft: Den Schriftsteller überhüpfe die Nachwelt, der nicht mehr wert war als seine Werke – und gerne gestehe ich, daß bei Herausgabe der Thalia meine vorzügliche Absicht war – zwischen dem Publikum und mir ein Band der Freundschaft zu knüpfen. (V, 860)

Generell gilt, dass das Konzept der Freundschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr zu einer Praxis inter-individueller Selbstreflexion wird. Der Freund spiegelt und kritisiert das Ich, schafft Neurahmungen bereits gefasster Vorstellungen, zeigt dem Subjekt seine blinden Flecke und arbeitet so konstruktiv an dessen Selbstbild und Weltwahrnehmung mit.250 Sich auf Freundschaften einzulassen, bedeutet also, sich darüber bewusst zu werden und zu akzeptieren, dass gemeinschaftliche und wechselseitige Einflussnahme und Kritik Beobachtungen und Erkenntnisse möglich machen, die dem isolierten Ich sonst unverfügbar wären. Kurz: Gerade in der Bereitschaft, andere Perspektiven zuzulassen (was wiederum eine soziale Einbindung des Subjekts erfordert), wird Kontingenz verstärkt erfahrbar. Eben hierzu – so die These – leisten die offenen, nicht auf eine eindeutige Lösung hinlaufenden Handlungsstrukturen und Themenkomplexe der frühen Dramen Schillers ihren Beitrag. Die Fragen danach, ob Kabale und Liebe in erster Linie eine standes- und gesellschaftskritische oder eine metaphysische Aussage vermittelt, ob Die Verschwörung des Fiesko zu Genua eine politisch-revolutionäre oder 250 Zur Bedeutung des Freundschaftsbegriffs beim jungen Schiller, auch unter Bezugnahme auf die zitierte

Textstelle aus der Ankündigung der Rheinischen Thalia, vgl. Martus, Schillers Metatheater in ‚Die Räuber’ 2013, S. 143–144.





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eine innerfamiliale Konfliktsituation verhandelt und ob Die Räuber eine Kritik an der durch Franz Moor verkörperten Rationalität der Frühaufklärung oder an der durch Karl Moor repräsentierten Leidenschaftlichkeit der Genieperiode vollziehen, laufen dieser Lesart nach ins Leere. Stattdessen scheint es plausibel, dass es den Texten darum geht, ihren Rezipienten mithilfe des Textmaterials Möglichkeiten zu bieten, diese Komplexe selbst analytisch vergleichend in Bezug zueinander zu setzen. Die These, dass die Konstruktionsweise der frühen Dramen Schillers eine bewusst offene ist und die fehlende Engführung der Handlungen nicht unbedingt als dichterisches Defizit gewertet werden muss, lässt sich doch stark plausibilisieren: Die so ermöglichte Erfahrbarmachung von Kontingenz kann als wichtiges Programm Schillers betrachtet werden. Ach werden seine geschichtswissenschaftlichen Texte vielfach einem analogen Strukturierungsprinzip folgen.251 Und nicht zuletzt kann auch mit verschiedenen Beispielen aus den frühen Dramen selbst dafür argumentiert werden. So lässt sich eine willentliche Entscheidung für eine derartige Offenheit etwa gerade durch dasjenige Beispiel belegen, das in der Forschung am häufigsten für Konstruktionsfehler in Schillers Jugenddramen in Anschlag gebracht worden ist. Dass in den Räubern die verfeindeten Brüder in keiner Szene persönlich aufeinandertreffen und der naheliegende Höhepunkt des Stückes damit, so die gängige Kritik, verschenkt wird, ist dem Dichter nur unter Anstrengungen möglich, denn der Handlungsverlauf bis zum Ende des dritten Aktes drängt mit großer Macht auf eben die zu erwartende Konfrontation zwischen Franz und dem ins elterliche Schloss zurückkehrenden Karl. Schiller muss den kaum motivierten Entschluss des Tatmenschen Karl Moor einbauen, seinen Vertrauten Schweizer mit der Richtung des Bruders zu beauftragen, statt diese selbst zu vollziehen, um eine Konfrontation der Brüder zu vermeiden. Karl verbleibt daher, statt seinerseits zu agieren, untätig im Wald, während Schweizer auf den sich suizidierenden Franz trifft. Dem aus der editionsphilologischen Textkritik bekannten Prinzip der lectio difficilior entsprechend kann also davon ausgegangen werden, dass es sich bei der aufwendig in die Handlung eingeführten Vermeidung einer solchen Begegnung der beiden Hauptfiguren um eine konzeptionelle und damit bewusst getroffene Entscheidung Schillers gehandelt haben dürfte. Deren Ziel, so sollte hier deutlich gemacht werden, könnte dann darin liegen, den Rezipierenden ein Textmaterial als Angebot zu überlassen, das diese dazu anregt, eigene Schlüsse zu ziehen und selbstständige Deutungen vorzunehmen, und sich ihnen gegen

251 Vgl. hierzu das Kapitel zur Universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzügen.





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über als ein kontingentes und komplexes, nicht einfach zu entschlüsselndes Gebilde darstellt. Eben dadurch wird die Leserin oder der Zuschauer der Schiller’schen Dramen in eine dem Beobachter der modernen Gesellschaft analogen Position versetzt. Die Beobachtungen und Deutungen sind in beiden Fällen notwendigerweise mit Unsicherheiten behaftet. Die Texte als Grundlagen dieser kontingenten Beobachtungen erkaufen dies mit einem Verzicht auf eindeutige Botschaften und Lehren, mit einem Verzicht auf eine stringente Engführung der Handlungen hin zu klar umrissenen Aussagen oder Pointen.252 Sie gewinnen auf der anderen Seite an Komplexität und damit auch die Möglichkeit, Unauflösbares, nicht-Synthetisierbares und Inkommensurables aufs Spiel zu setzen – also nichts weniger als die Brüche einer in unterschiedliche Kommunikationsstrukturen bzw. Systeme zerfallenden modernen Welt. Dabei wurde die konzeptionelle Anlage der Stücke als bewusste Offenhaltung ihrer Handlungen von der Forschung bisweilen durchaus gesehen und nicht immer nur als Defizit betrachtet. Sehr prominent findet sich eine derartige Einschätzung bereits in Hans-Jürgen Schings einflussreichem Aufsatz zur Darstellung eines Universalhasses in den Räubern: Die dramatischen Ungereimtheiten und Brüche, häufig analysiert, insbesondere der merkwürdige Umstand, daß die feindlichen Brüder auf der Bühne nicht aufeinandertreffen, nicht einmal zum rhetorische Duell – dies alles verweist auf eine konstruktive Anlage, die die thematische Parallelität ausprägt. Die dramatischen Energien der beiden Moors werden nicht gegeneinander geführt und im Konflikt der beiden Brüder aufgebraucht. Sie gehen vielmehr eine Parallelaktion ein, die wiewohl kontrastiv gegeneinander abgesetzt, dennoch das gleiche Ziel verfolgt: die vorgegebene Gesellschafts- und Weltordnung aus den Angeln zu heben.253

Im Prinzip formuliert Schings hier den entscheidenden Punkt, seiner Argumentation fehlt lediglich – und das ist an dieser Stelle entscheidend – die Rückbindung an die rezeptionsästhetischen Überlegungen und Methodenreflexionen des jungen Schiller. In der Parallelität der Handlungsstränge in den Räubern – und derjenigen der Thematiken im Fiesko und in Kabale und Liebe – ist eine Vorlage für die rezeptionsseitig durchzuführende und schon in den medizinischen Schriften angewandte und reflektierte Methodik des Vergleichs zu sehen. Die Forschung, die bis in die Gegenwart eine Neigung zur Kritik an einem vermeintlich unausgereiften Aufbau der Dramen nicht ablegen konnte, hat dies häufig nicht sehen wollen. Und dennoch ist sie nolens volens, die Parallelität der Handlungen und Themen analysierend, vergleichend und bewertend, dem in den Strukturen der Dramen angelegten Programm oftmals gefolgt.



252 Daher sieht sich Schiller konsequenterweise in der Vorrede zur ersten Auflage der Räuber gezwungen,

die Moralität seines Stückes zu betonen und zu erklären – die Offenheit der Handlungsstruktuen birgt immerhin die Gefahr, dass dem Text nicht zwangsläufig der anvisierte „Platz unter der moralischen Büchern“ (I, 488) zugebilligt wird, der ihm Schillers Auffassung nach zustehen soll. 253 Schings, Schillers ‚Räuber’: Ein Experiment des Universalhasses 1982, S. 9.





1.2.2 Zeitlichkeit und Reframing …

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1.2.2 Zeitlichkeit und Reframing (Fiesko, Kabale und Liebe) Im folgenden Kapitel soll ein bereits in 1.1.2. angerissener Zusammenhang weiter vertieft und expliziert werden. Ging es dort um die Glücksspielsemantik, über welche Schillers frühe Dramen die Kontingenz spezifischer Momente sowie die Extrapolation dieser ‚situativen Kontingenz’ auf eine jeweils nun als offen wahrgenommene Zukunft vollziehen (was dann wiederum mit dem Begriff des ‚Risikos’ zu fassen war), so soll hier aufgezeigt werden, dass und wie Schillers Jugenddramen diesen Prozess der Extrapolation auch von einer anderen Perspektive aus beleuchten und damit als durchaus ambivalent modellieren. Der über die Glücksspielsemantik verbildlichten Thematik spezifischer Zeitpunkte mit besonderer Bedeutsamkeit haften – wie beschrieben – stets Konnotationen des Prekären, Ephemeren und Unkontrollierbaren an,254 Eigenschaften, die von Schiller in der Regel zur Beschreibung von Subjekt-Welt-Verhältnissen gebraucht werden und welche bei der Charakterisierung der typischen Sturm-und-Drang-Figuren seiner Dramen, also etwa bei Karl Moor, Fiesko oder Ferdinand Anwendung finden.

Hier nun soll es darum gehen, die literarische Verwendung solcher Extrapolati-

onstechniken, mithilfe derer spezifische Momenten zu weiter zu fassenden Strukturen gedehnt werden, auch abseits von spezifischen Semantiken und Motiven des (Glücks-) Spiels in den Jugenddramen Schillers zu beschreiben. Dazu werden zwei Schlüsselszenen aus den frühen Dramen, eine aus der Verschwörung des Fiesko zu Genua und eine aus Kabale und Liebe analysiert, anhand welcher sich aufzeigen lässt, dass dieses spezifisch literarische Verfahren von Schiller insbesondere zu einer anspruchsvollen Reflexion von Zeit und Zeitlichkeit genutzt und zudem rückgebunden wird an die im Kapitel 1.1.2 über die Semantik des Glücksspiels beschriebene Momenthaftigkeit, diese jedoch überschreitet und komplementiert. Es wird auch zu zeigen sein, dass nun – vor allem über die Einbindung von Frauenfiguren – Subjekt-Subjekt-Verhältnisse ausgestaltet und sogar davon abstrahierend Welt-Welt-Verhältnisse verhandelt werden können. Fieskos Aufklärung durch Leonore In der Verschwörung des Fiesko zu Genua wird dies vor allem in der Szene IV/14 deutlich. In dieser diskutieren – wie in 1.1.2 beschrieben – Leonore und Fiesko, ob Fieskos Plan, nach der Herzogswürde zu greifen, ein kalkulierbares Risiko sei oder ein Wagnis,

254 Diese Eigenschaften werden übrigens später auch in der vom Standpunkt des Erhabenen entwickelten

Perspektive auf das Schöne zentral sein. Vgl. dazu das vierte Kapitel dieser Arbeit.





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das den Keim einer Gotteslästerung in sich trägt. Interessant ist aber eine Betrachtung des Aufbaus der gesamten Szene: Zu Beginn ist es noch Leonore, die sich irritiert über das Verhalten ihres Ehemanns zeigt und „sich ihm ängstlich näher[nd]“ einer noch vagen Befürchtung Ausdruck verleiht, dieser könnte tatsächlich zur Rebellion rüsten: „Fiesko? – Fiesko? – Ich verstehe Sie nur halb, aber ich fange an zu zittern“ (I, 729). Es folgt der in 1.1.2 analysierte Diskurs über Spiel, Risiko und Gotteslästerung, welcher zwar Fieskos Willen verdeutlicht, mit seiner Familientradition zu brechen und Neues, noch nie Dagewesenes anzustreben, in welchem es jedoch Leonore (zunächst) nicht gelingt – und dies obwohl sie mit der Bezugnahme auf die Sündenfallthematik durchaus zu drastischen Mitteln greift – Fiesko zu einer Revision seiner Absichten zu bewegen.255 Dies liegt auch daran, dass Fiesko Leonores Kritik bereits im Vorfeld schon erahnen und ins Kalkül ziehen hat können. Von einem derartigen Wissen Fieskos um Leonores Opposition zu seinen Plänen zeugt unter anderem auch die Tatsache, dass er Leonore bis zum Ende des vierten Aktes bewusst im Unwissen über seine Absichten lässt, worüber er sich einerseits so lange wie möglich davor schützt, in seinen Plänen umgestimmt zu werden, sich andererseits aber auch einen Vorteil in der nun folgenden Auseinandersetzung verschafft. Leonores anfänglicher Misserfolg bei dem Versuch, Fiesko von seinen politischen Plänen abzubringen, ist daher zunächst auch nicht überraschend. Der entscheidende Punkt an dieser Stelle ist: Leonore erlangt die dominierende Sprecherposition in der Auseinandersetzung mit ihrem Mann nicht nur dadurch, dass es ihr möglich ist, ein inhaltlich überzeugendes Argument anzuführen. Sie erlangt sie vor allem auch dadurch, dass sie Fiesko damit ganz unvorbereitet trifft, ihn förmlich überrascht, sodass hier nicht die kommunizierte Information, sondern die Art ihrer Vergabe, nicht der kommunizierte Inhalt allein, sondern die sprachliche Performanz von entscheidender Wirkung sind. Eben darauf wird in Verlauf dieses Teilkapitels noch intensiver einzugehen sein. An dieser Stelle ist zunächst jedoch relevant, dass Leonore während der sich nun ereignenden Konfrontation mit ihrem Ehemann keineswegs kleinbeigibt – sondern ihre Gesprächsstrategie situativ ändert und ein für Fiesko überraschendes Reframing seiner Pläne vornimmt, womit sie den inhaltlichen Diskurs von der Thematik einer durch Risikobereitschaft gestifteten männlichen Größe hin zu der Differenz aus Liebe und Herrschaft verschiebt: 255 Vgl. zu all dem Kap. 1.1.2.





1.2.2 Zeitlichkeit und Reframing …

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LEONORE. Größe, Fiesko? – Daß dein Genie meinem Herzen so übel will! Sieh! Ich vertraue deinem Glück, du siegst will ich sagen – Weh dann mir Ärmsten meines Geschlechts! Unglückselig, wenn es mißlingt! wenn es glückt, unglückseliger! Hier ist keine Wahl, mein Geliebter. Wenn er den Herzog verfehlt, ist Fiesko verloren. Mein Gemahl ist hin, wenn ich den Herzog umarme. FIESKO. Das verstehe ich nicht. (I, 731)

Dass sich hier in Kontrast zum Szenenbeginn ein Wechsel im diskursiven Machtverhältnis der beiden Figuren vollzieht, dass die dominante Sprechrolle nun von Fiesko auf Leonore übergegangen ist, zeigt sich deutlich an dem gespiegelten Verhältnis des NichtVerstehens. Wo Leonore es anfangs noch war, die „nur halb verstehe[n]“ konnte, was vor sich geht, ist es nun Fiesko, der unfähig ist zu „verstehe[n]“. Leonore gelingt dieser diskursive Coup, indem sie Fieskos Entscheidungsgrundlagen einer Neurahmung unterzieht und ihm verdeutlicht, dass der Plan seines politischen Coups nicht die Gefahr eines Scheiterns und die Chance eines Gelingens aufweist, sondern dass er in beiden Fällen ins Verderben führen wird.

Argumentativ (also in inhaltlicher Hinsicht) unterlaufen wird damit Fieskos

Glaube daran, dass es wünschenswert sei, sich die soziale Stellung zu verdienen, die ihm die feudale Ordnung über sein Geburtsrecht bereits a priori zugewiesen hat.256 Seine Affirmation des bürgerlichen Leistungsprinzips ermöglicht ihm dabei sogar den Bruch mit feudalen Ordnungsprinzipien und die Einnahme einer sozialen Position (der des Volkstribunen), die ihm das Prinzip der Erbfolge allein so nicht bieten kann (auch wenn er von diesem persönlich bisher profitiert hat). Der entscheidende Punkt ist, dass an eben dieses bürgerliche Selbstverständnis auch Fieskos Liebeskonzeption gebunden ist. Leonore – so scheint er zu glauben – wird ihn deswegen mehr lieben, weil er mehr leistet.257 Auch dies nimmt er zum Anlass, sich also die Herzogskrone zu nehmen, statt nur den ihm durch seine Geburt zugefallenen Grafentitel zu behalten. Die Regieanweisung, die seine Sprechhaltung als „wichtig“ bezeichnet (I, 729), sowie die Pause, bevor er Leonore verkündet, „morgen will ich – die Herzogin wecken“ (ebd.), belegen recht deutlich das entsprechende Begehren nach einer derartigen Verbesserung seiner Sozialposition 256 Schillers Auswahl des Stoffes wird an dieser Stelle besonders interessant, da das Dogenamt in Genua

über die Wahl eines Adligen besetzt wurde, sodass hier das (wenigstens auch) leistungsbezogene Verfahren der Wahl und das feudale Prinzip der Geburt aufeinandertreffen. Die im Vergleich größere Anzahl an Wahlmännern führte auch dazu, dass anders als bei der Wahl des Kaisers im Heiligen Römischen Reich nicht ausschließlich die im Vorfeld feststehenden politischen Machtverhältnisse entscheidend für die Wahl des jeweiligen Amtsträgers waren. Zur Geschichte und der Verfassung Genuas vgl. Pittoni, Genua – die versteckte Weltmacht 2011. Für eine Verhandlung der sich um 1800 zuspitzenden werdenden Spannungen aus bürgerlichem Leistungsethos und feudalem Geburtsrecht, wie sie Schiller in seinem Drama auch im Sinn hat, bildet dieser historische Kontext also eine durchaus geeignete Vorlage. 257 Diese leistungsbezogene Liebesvorstellung wird Schiller auch in der Anekdote Eine großmütige Handlung kritisch verhandeln. Vgl. dazu Kapitel 2.7.





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und die damit implizit einhergehende Vorstellung, diese Form sozialer Mobilität würde von Leonore auch romantisch goutiert werden.

Leonores Dekonstruktion dieser Vorstellung beruht nun auf einer nicht unerheb-

lichen Differenzierungsleistung gegenüber Fieskos binären Schematismus. Zum einen vollzieht sie eine Lösung der von ihm vollzogenen Kopplung von Leistung und Liebe. Der Leistungskomplex wird von Leonore nämlich gerade als ein Bereich ausgewiesen, in dem es eben nicht entweder alles zu gewinnen oder alles zu verlieren gibt. Stattdessen käme es – wie Leonore in der Folge argumentiert – in jedem Fall zu erheblichen Kosten: Entweder Fiesko verzichtet auf seine politisch-revolutionären Pläne, behielte dann aber ihre Liebe, oder aber er verliert seine Liebe zu ihr, hätte dann aber die Chance auf die Herrschaft über Genua (könnte dies aber auch mit dem Tod bezahlen). Die von Fiesko hergestellte Kopplung beider Komplexe (im Sinne von: wer mehr leistet, wird stärker geliebt) wird von Leonores Argumentation also klar durchbrochen.258 Da Leistung und Liebe in dieser Logik als distinkte Gegensätze begriffen werden, bedeutet dies, dass Fiesko nun nicht in erster Linie kalkulieren muss, ob sein Coup an den Zufällen und Unberechenbarkeiten der Welt scheitert. Er kann demnach seine Entscheidung zur Revolte nicht von den Erfolgschancen dieser Revolte allein abhängig machen. Stattdessen muss er sich gemäß Leonores Argument vor allem entscheiden, ob er bereit ist, die unausweichlichen Kosten seines Vorhabens zu tragen. In ihrer Perspektive sind diese zweifellos (zu) hoch: Indem er zwischen der bloßen Möglichkeit, die Herzogswürde zu erlangen, und der real-existierenden Liebe Leonores zu wählen hat, muss er reale Kosten schon in der Gegenwart für potentielle Vorteile in der Zukunft tragen. In der zeitlichen Folge der hier verhandelten primären Entscheidungssituation Fieskos, nachdem dieser sich also für eine Revolte entschieden hat, wird in Leonores Augen dann gar „keine Wahl“ mehr existieren. Es wird ihres Erachtens dann schon eine tragische Situation eingetreten sein, in der die Trennung der Eheleute unwiederbringlich feststeht. Ob dies existentiell durch den Tod Fieskos oder sozial-emotional durch die charakterverändernde Wirkung des Dogenamts geschehen wird, ist dann nur noch von sekundärer Bedeutung.

258 Dem ist auch eine Einsicht in die Sinnlosigkeit des (vorher in dieser Arbeit diskutierten) Glücksspiel-

diskurses eingeschrieben, da dieser ja in großen Teilen (nicht generell) noch die Kontingenzthematik in Form eines binären Verständnisses von Chance und Risiko verhandelt – jedenfalls immer dann, wenn es darum geht, dass der Spieler alles auf eine Karte setzt.





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Leonore zeigt hier also ein tieferes Verständnis des zur Diskussion stehenden Kontingenzbaumes als ihr Gemahl. Während Fiesko nur die Chancen und Risiken einer politischen Handlungsoption zu kalkulieren versucht, verweist Leonore auf unintendierte Nebenfolgen dieser Option im Feld der Liebe. Mit Fiesko ist sie sich zwar einig, dass dessen Entscheidung für oder gegen eine Rebellion den entscheidenden Kontingenzmoment bildet. Anders als dieser erkennt sie aber, dass die hier maßgebliche Kontingenz bereits in dem Moment der Entscheidung selbst gerinnt; dass in diesem Moment bereits festgelegt wird, ob die Liebe zwischen den Eheleuten fortbesteht oder geopfert wird. Fiesko glaubt hingegen noch, dass sich die Entscheidung erst durch den Erfolg oder den Misserfolg im Nachgang des Entscheidungsmomentes als richtig oder falsch erweisen wird, dass sich die Kontingenz erst auflöst, wenn er Herzog von Genua ist oder bei dem Umsturzversuch stirbt. Leonore kann Fieskos Kalkulation gegenwärtiger Zukünfte also nicht nur mit ihrem Wissen um die entsprechenden zukünftigen Gegenwarten begegnen, sie kann Fiesko auch aufzeigen, dass die Teilnahme an verschiedenen gesellschaftlichen Systemen (hier: der Familie und der Politik) in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft nahezu zwangsläufig zu unauflösbaren Rollenkonflikten für das Individuum (hier: für Fiesko) führen muss. Fieskos blinder Fleck wird hier schonungslos mittels einer Beobachtung zweiter Ordnung offengelegt. Der metapoetische Clou liegt zudem darin, dass sich diese Beobachtung ihrerseits innerhalb des Kommunikationssystems Theater vollzieht und der Beobachtung durch die Zuschauenden ausgesetzt ist, sodass also nicht nur Fieskos Unwissenheit zu Schau gestellt, sondern die Komplexität moderner Gesellschaften erfahrbar wird. Zeitlichkeit, Performanz und Identitätskonstruktion (Leonore) Fieskos und Leonores Diskussion liegt nicht zuletzt aber auch eine bemerkenswerte argumentationsstrategische Gestaltung von Zeitverhältnissen zugrunde, die sich über eine Verhandlung dreier unterschiedlicher Vorstellungen von Gegenwart herausbildet. Darüber hinaus werden – wie bereits angedeutet – Informationsasymmetrien zur Überraschung und Irritation des Gegenübers und damit Effekte des Performativen zur Erzielung eines Vorteils im agonalen Diskurs genutzt. Gerade über Betrachtung solcher nicht in erster Linie über ihren Inhalt, sondern über ihre Performativität laufenden Momente kann der Fokus der Analysen dieses Kapitel erweitert werden.



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Die Neuheit der Information für Alter (zunächst für Leonore, dann für Fiesko) verschafft Ego (zunächst Fiesko, dann Leonore) eine privilegierte Ausgangssituation im diskursiv ausgetragenen Konflikt. Sie erlaubt Ego einen Sprechakt des Erklärens und Belehrens, durch welchen er nicht zuletzt eine dominante Sprecherposition gegenüber Alter einnehmen kann. Gleichzeitig wird der Moment der Informationsvergabe selbst als entscheidend und bedeutsam markiert, da deutlich wird, dass die Art der Informationsvergabe, ihre Neuheit für den Empfänger und dessen mit ihr einhergehende Überraschung, mindestens ebenso wichtige Wirkungen entfalten wie der Informationsinhalt selbst – wodurch nebenbei bemerkt auch eine starke theatrale Wirkung und eine Affizierung von Alter und Publikum zugleich erzielt werden kann. Nicht über die Information allein also, sondern vor allem über die Art der operativen Weitergabe der Information wird hier der gegenwärtige Moment auf deutliche Weise aufgewertet. Die Plötzlichkeit und die ihr folgende Irritation Alters machen dann dessen Antizipationen hinsichtlich des Kommunikationsverlaufs und seine jeweilige Argumentationsstrategie zunichte. Im Fall Fieskos zeigt sich dies insbesondere über dessen oben bereits behandeltes NichtVerstehen. Über die (in einer Art performativem Akt gezeugte) kommunikative Irritation erfolgt so eine Aufwertung der Gegenwart und damit einhergehend ein obsolet-Werden der von Alter im Vorfeld gefassten Bewusstseinsinhalte. Das betroffene Subjekt muss unmittelbar neue Informationslagen verarbeiten und seine Argumentation umgehend anpassen. Wem dies besser gelingt, der erlangt Vorteile in der Auseinandersetzung. In Leonores Fall geschieht dies dadurch, dass sie ihre Argumentationsstrategie ohne Umstände in dem Moment anpasst, in dem sie die Wirkungslosigkeit ihres anfänglichen Arguments erkennt (s.u.). Die durch den performativen Effekt der Überraschung bei Fiesko erzielte Wirkung darf dabei keinesfalls unterschätzt werden: Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang daran, dass der Dramentext der Verschwörung des Fiesko zu Genua seinen Protagonisten von Beginn an als eine Figur zeigt, welche die zukünftige Handlung des Stücks planvoll gestaltet und wichtige Informationen vor anderen Figuren zurückhält – man denke etwa an die vermeintliche Affäre mit der Gräfin Imperiali, deren unauthentischen Charakter Fiesko sowohl Imperiali als auch Leonore vorenthält, als eine Figur zudem, die oftmals auch die Handlungen ihrer Mitverschwörer wie ein Regisseur orchestriert. Fiesko wird von Schiller als ein Charakter gezeichnet, der zwar einem ursprünglichen Begehren folgt, der aber seine Aktionen, darin Franz Moors sehr ähnlich, kühl kalkulierend vorausberechnet oder – wie es wie es in der Vorrede heißt – „die kalte



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unfruchtbare Staatsaktion aus dem menschlichen Herzen herauszuspinnen“ gewohnt ist. Fiesko ist die Figur, die immer wieder strategische Vorteile über die überraschende Auflösung von Informationsasymmetrien erlangt – diese Technik ist im Grunde gar seine bevorzugte Methode im politischen Machtkampf. Für seine Gegenspieler (aber auch für ihn nahestehende Figuren wie Leonore) wird Fiesko so zum Verursacher von Widerfahrnissen, von plötzlich hereinbrechenden Überraschungen und Schockmomenten. Die rationale Kontrolle der Ereignisse über das Ausspielen von Informationsüberschüssen gegenüber Anderen ist als Muster so deutlich in Fieskos Verhalten erkennbar, dass man – so die These – hierin eine Charaktereigenschaft und auch einen Teil von Fieskos Selbstverständnis, von Fieskos Subjektivität sehen kann. Indem er die entscheidenden Geschehnisse rational vorausberechnet und somit kontrolliert, sichert er sich selbst eine stabile Identität, evoziert aber gleichzeitig immer wieder affektiv-emotionale, identitätserschütternde Schockwirkungen bei Anderen.259 Eben dieses subjektivitätsstiftende Verhältnis wird nun von Leonore gekippt. Fiesko muss in der diskursiven Auseinandersetzung mit seiner Frau erfahren, dass ihm die Geschehnisse entglitten sind, dass er wichtige Informationen übersehen hat, die einer anderen aber deutlich vor Augen standen. Seine Sprachlosigkeit und sein Nicht– Verstehen sind damit – so die These – Ausdruck einer tiefgreifenden Erschütterung seiner Identität, eines Verlustes seiner ihm selbst zugeschriebenen Rolle. Statt subjektiver Gestalter von Widerfahrnissen für andere, muss Fiesko selbst einen Widerfahrnismoment erleben und damit verbunden einen im Vorfeld nicht für möglich gehaltenen Verlust von Kontrolle erfahren. Schillers Text zeigt hier eine nach Luhmann für die Genese eines modernen Zeitbewusstseins konstitutive Auffassung von Gegenwart und Vergangenheit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Zeit [...] nicht mehr nur thematisch, sondern viel tiefer greifend auch operativ in die Selbstbeschreibung der Gesellschaft und ihrer Welt eingebaut [ist]. Man kann dann eigentlich nicht mehr daran festhalten, daß Identitäten, seien es Objekte, seien es Subjekte, der Zeit vorgegeben sind. Vielmehr werden sie mitten in der Zeit und je gegenwärtig konstituiert und reproduziert, um für eine gewisse Zeit Zeitbindungen zu erzeugen, die zwischen den extremen Zeithorizonten Vergangenheit (Gedächtnis) und Zukunft (Oszillation in allen beobachtungsrelevanten Unterscheidungen) vermitteln.260

Eine entsprechende Lesart von Schillers Texten als Selbstbeschreibungen der Gesellschaft macht deutlich, dass diese das Neue in seiner Eigenschaft als Neues nicht nur in 259 Sehr ähnlich ist die Figurenpsychologie Wilhems von Oranien konstruiert. Vgl. dazu das entsprechende

Kapitel in dieser Arbeit.

260 Vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft 1998, S. 1015.





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Form von (inhaltlichen) Brüchen mit der Vaterwelt, sondern auch über ihre Operationen, über systematisch in die Stücke integrierte (und als performativ zu lesende) Momente der Plötzlichkeit und Irritation in Erscheinung treten lassen. Dies wiederum kann als Darstellungsmittel zum Ausdruck der Veränderlichkeit von Subjekt– und Zeitverständnissen gedeutet werden. Man muss dabei nicht so weit gehen wie Luhmann und personale Identitäten schon generell zur Disposition stellen, nur weil deren Bewusstseinsinhalte und die Konzepte, auf welche sie ihre Subjektivität gründen, nunmehr als sich rapide und massiv ändernd begriffen werden. Schillers Text zeigt aber auf, dass Identität – hier diejenige Fieskos – in solchen Zusammenhängen „situativer“ wird.261 Schillers Text präsentiert in Fiesko eine Figur im Durchlaufen des Erkenntnismoments, nicht das Subjekt zu sein, für das sie sich gehalten hat. Fiesko ist nicht der potentielle Befreier, nicht einmal der Kämpfer für die Freiheit der Stadt (was ihn in jedem Fall zu einem Helden machte). Vielmehr wird er als ein Subjekt in dem prekären Moment gezeigt, in dem Begehrensgehalte zu priorisieren sind und unter Zeitdruck eine Entscheidung zwischen sich daraus ergebenden Zielkonflikten gefällt werden muss. Deutlich wird auch, dass es dem Text ganz wesentlich um die Vorführung eines spezifischen Prozesses der Subjektivierung und der Identitätsbildung geht, da das Thema in dieser Szene nicht nur auf einer operativen oder performativen, sondern auch auf einer inhaltlichen Ebene virulent wird. Die situative Irritation Fieskos resultiert ja nicht nur aus der Plötzlichkeit, mit der sich ihm die neue Perspektive auf ihn selbst darstellt, sondern auch aus dem Inhalt von Leonores Sprechakt. Verwirrt ist Fiesko zunächst vor allem auch deshalb, weil er sich vor die Wahl zwischen zwei Subjektformen gestellt sieht, die ihm bis dahin untrennbar miteinander verbunden schienen: Derjenigen des leistungs- und statusorientierten Amtsträgers und derjenigen des liebenden Ehemanns. In rein inhaltlicher Betrachtung wird Fiesko in einem spezifischen Moment der double-bind zwischen seiner Menschlichkeit und seiner Rolle als Politiker ins Bewusstsein geführt. Indem Schillers Text aber Inhalt und Weise der Informationsvermittlung untrennbar miteinander verbindet, thematisiert er diese Problematik in der Subjektivierung der Figur nicht nur, sondern macht sie Rezipienten auch affektiv erfahrbarer. Auch in der Präsentation dieses Themas individueller Subjektivierung führt Schiller damit das Erleben der Figuren mit dem der Rezipierenden zusammen.

261 Vgl. zu dem Begriff der „situativen Identität“ Rosa, Beschleunigung 2005, S. 352–390. Hier vollzieht sich

die situative Identitätsbildung Fieskos über eine Fremdzuschreibung (durch Leonore).





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Die Problematik des Entscheidens In der doppelten Erscheinung der (über zweierlei Konzepte des Bruchs, einem auf der operativen und einem auf der inhaltlichen Ebene des Textes, vermittelten) Identitätsthematik ist somit ein Beispiel für die der Verschwörung des Fiesko zu Genua zueigne Reflexivität und Komplexität zu sehen. Diese beruht ganz wesentlich darauf, dass Ähnlichkeiten (hier: die Thematik situativer Identitätsbildung) auf unterschiedlichen Textebenen erscheinen, wodurch sich eine komplexe, und von den Rezipienten erst zu deutende, Verweisstruktur entspannt. Wie bereits angedeutet, wird die Fokussierung auf den überraschenden Moment (begriffen als in gewisser Weise performativ herausgestellte Bruchsituation) mit all ihren Folgen als eine Aufwertung der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit lesbar. Die Besonderheit der Textstelle liegt nun darin, dass diese aufgewertete Gegenwart von Leonore gerade nicht gegenüber jener auf einer Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beruhenden traditionalen Zeitvorstellung ausgespielt wird. Derartig argumentiert Leonore zwar noch im Glücksspieldiskurs zu Beginn der Szene, indem sie Fieskos Handeln als Herausforderung der göttlichen Ordnung bezeichnet (Vgl. I, 730). Da sie – wie beschrieben – mit dieser traditional ausgerichteten Argumentation jedoch keine Wirkung bei ihrem Gatten erzielt, der selbst eine Idee vertritt, die ganz wesentlich auf einen disruptiven Bruch mit Traditionen und der Generierung von Neuem ausgerichtet ist, wechselt sie ihr argumentatives Register hin zu einer Beschreibung unintendierter Nebenfolgen seines Planes. Statt normativ wird nun funktional argumentiert. Während dem traditionalen Argument ein heteronomes Moment innewohnt – wer Gott herausfordert, wird bestraft werden müssen – wird hier die Autonomie Fieskos geachtet; es wird Fiesko aber auch aufgezeigt, dass er zwar die Möglichkeit hat, jedes seiner Ziele zu verwirklichen, jedoch notwendigerweise nicht alle (dass er mit manchen brechen muss). Leonores Rede verdeutlicht, dass Fieskos Dilemma in seiner Entscheidungsfreiheit liegt. Er muss zwischen zwei Kommunikationscodes wählen und damit auf einen dauerhaft verzichten: „Das Herz eines Menschen [...] ist zu enge für zwei allmächtige Götter – Götter die sich so gram sind. Liebe hat Tränen und kann Tränen verstehen; Herrschsucht hat eherne Augen, worin ewig nie eine Empfindung perlt“ (I, 731). Diese Dichotomie birgt – so könnte man sagen – die eigentliche Tragik des Stücks. Die Ausdifferenzierung der Kommunikation in zwei sich entkoppelnde Sphären, die, um die Worte Leonores zu gebrauchen, sich nicht „verstehen“ können, weil sie ihren je eigenen Kommunikationscode verlangen, führt zu einer spezifisch



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neuen Perspektive auf die Kontingenzthematik: Fiesko steht eben nicht, wie er zunächst glaubt, vor der Frage, inwieweit die zukünftige Verwirklichung seiner Vorhaben und Pläne dem Modus der Kontingenz ausgesetzt ist. Er muss auch nicht, wie etwa Kosinsky oder Karl Moor, die Problematik, dass ehemals bestehende Möglichkeiten gegenwärtig nicht mehr verfügbar sind, sprich das Phänomen geronnener Kontingenz, bewältigen. Er befindet sich stattdessen vor der Herausforderung, entscheiden zu müssen, welcher von zwei sich ausschließenden Möglichkeiten er den Vorzug gibt und welche er bereit ist (zukünftig) in den Modus geronnener Kontingenz übergehen zu lassen. Was sich traditionell als die Pflicht oder der Zwang offenbart hat, das Richtige aus Vielzahl der Möglichkeiten herauszufinden, wird nun also ersetzt durch die Möglichkeit autonomen Entscheidens zwischen verschiedenen, in sich jedoch gleichwertigen Möglichkeiten. Die ehemals bestehende Heteronomie wird jedoch nicht aufgelöst, sondern lediglich auf eine höhere Ebene verlagert: in die Notwendigkeit, entscheiden zu müssen und in die Notwendigkeiten, mit den Folgen und der Unwiederholbarkeit der vollzogenen Entscheidung zu leben. Auch die Frage, ob eine Verweigerung, ein NichtEntscheiden geeignet ist, dieser Heteronomie zu entkommen, wird in Schillers Texten, etwa in der Anekdote Eine großmütige Handlung oder ganz prominent in der Wallenstein-Trilogie vielfach verhandelt. Das Ergebnis ist dabei stets das gleiche: Auch diese Haltung führt nur zu neuen Zwängen, Fremdbestimmungen und Widerfahrnissen. Auch sich nicht zu entscheiden, ist eine Entscheidung. Eine zentrale Aussage des in der breiten Öffentlichkeit – natürlich vor allem aufgrund der ästhetisch-philosophischen Schriften der 1790er Jahre – zum „Dichter der Freiheit“ verklärten Schiller bleibt: Der Mensch in der modernen Gesellschaft kann sich den Zwängen seiner Umwelt nicht entziehen, seine Freiheit besteht vielmehr und viel profaner eher darin, dass ihm die Möglichkeit gegeben ist, die Zwänge zu wählen, die zu ertragen er bereit ist. In der Verschwörung des Fiesko zu Genua wird dieser Zusammenhang in Form eines figurenbezogenen Erkenntnisprozesses präsentiert: Erst am Ende des vierten Aktes wird Fiesko selbst bewusst, dass er am Scheideweg steht. Die in der anstehenden Entscheidung zu vollbringende Sozialisationsleistung ist für ihn im Wesentlichen als Selbstsozialisation zu vollziehen.262 Das bedeutet, dass die (sich über die zeitliche Enge des Fiesko zur Verfügung stehenden Entscheidungsfensters katalysierende) Unsicherheit ganz wesentlich „auf die Figur des Subjekts abgeleitet wird.“263 Fiesko hat somit selbst

262 Vgl. hierzu Luhmann, Autopoiesis des Bewusstseins 1995, S. 81–82. 263 Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft 1998, S. 1010.





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zu wählen, wenngleich er dabei aber nicht unbeeinflusst von Erwartungshaltungen seiner Umwelt ist. Leonore erwartet, dass er sich gegen die Rebellion und für eine ‚vita contemplativa’ mit ihr entscheidet. Andere, etwa Bourgognino, Calcagno und Sacco drängen aus unterschiedlichen Gründen zu einer aktiven Umsetzung des Staatsstreichs. Der innere Zwiespalt, dem sich Fiesko hier ausgesetzt sieht, findet somit sein isomorphes Doppel in den Erwartungsregimen seiner Umwelt. Dramaturgisch kann das Bewusstsein dieser Unmöglichkeit, einer Gerinnung von Kontingenz zu entgehen, als der eigentliche tragische Höhepunkt des Stücks gelesen werden. Entscheidend ist die – wie beschrieben von Leonore auf den Punkt gebrachte – Tragik des notwendigen Verlustes entweder der Krone oder der Liebe. Damit ist es dann auch nicht mehr wesentlich für die Dramaturgie des Stückes, ob Fiesko sich letztlich für die Macht entscheidet, wie in der Textfassung, oder für einen erhabenen Verzicht auf diese, wie in der Mannheimer Bühnenfassung, – das vom Drama aufs Spiel gehobene Problem der Selbstsozialisation ist in jedem Fall umrissen und die Unmöglichkeit, beide Ziele zu erreichen, durch den Text hinreichend verdeutlicht. Von den unterschiedlichen Auswirkungen der beiden Schlüsse auf die moralische Bewertung der Figur Fiesko bleibt der Kern des Stücks im Wesentlichen auch unberührt, wenn man dieses als Selbstbeschreibung einer den Einzelnen ständig vor double-binds und sich ausschließende Handlungsoptionen stellenden Gesellschaft betrachtet. Verschiedene Zeitkonzepte Der für dieses Kapitel jedoch besonders interessante Aspekt in der Szene IV/14 der Verschwörung des Fiesko zu Genua liegt – wie bereits angedeutet – in der diskursiven Zusammenführung dreier Gegenwartsvorstellungen, die sich nochmals wie folgt zusammenfassen lässt: (1) Leonores anfängliche, im Glücksspiel-Diskurs deutlich gewordene auf einer Kontinuität aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beruhende Vorstellung. (2) Fieskos damit konfligierendes Konzept eines Bruchs mit der Vergangenheit. (3) Die normative, funktional mit dem Nutzen zweier Möglichkeitsvarianten argumentierende Vorstellung der Gegenwart als eines singulären Entscheidungsmomentes, der jedoch über die vergangene und vor allem die künftige Identität des Entscheiders bestimmt. Der Fokus des Textes auf den entscheidenden Moment entfaltet über die Figur des Fiesko auch eine bedeutungsstiftende Wirkung auf die bisherige und die kommende



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Handlung des Stücks. Auch der Leserin oder dem Zuschauer wird nun – in einem Akt des Reframings – bewusst gemacht, dass ihm bisher kein bloßes Revolutionsdrama vor Augen geführt wurde, sondern die Verirrung eines Menschen, der nicht erkennen konnte, in welch komplizierte Zusammenhänge er sich verstickt hat. Gleichzeitig wird den Rezipierenden ins Bewusstsein geführt, dass das tragische Potential in Fieskos Situation nur noch der Aktualisierung bedarf und, weil es sich nicht aus der Figurenhandlung ergibt, sondern als logisch unauflösbare Kontingenzsituation erscheint, unausweichlich auch aktualisiert werden wird. Ob Verlust der Liebe, Symbol für den Lebensinhalt, oder Verlust des Lebens selbst – die Handlung kann für Fiesko nur katastrophal enden. Die Möglichkeit, sich zu entscheiden, ist im Kern keine Chance, autonom zu handeln, da sie den Zwang in sich birgt, notwendigerweise auch gegen etwas zu entscheiden.264 Der einzige Ausweg für die Figur, die von Leonore angedeutete Möglichkeit, auf die Entscheidung zur Rebellion komplett zu verzichten, das Wagnis gar nicht einzugehen, eine vita contemplativa zu führen und einfach Graf zu bleiben, ist – und das ist den Leserinnen und Zuschauern natürlich bewusst – wiederum aus dramaturgischen Gründen verstellt. Vergleichbare gegenwartssteigernde Reframing-Momente, welche stark auf die Zukunft verweisen und gleichzeitig eine fundamentale Neubewertung der Vergangenheit vollziehen (etwa indem sie vergangene Subjektivierungen hinterfragen), finden sich mehrfach auch in Schillers späteren Stücken. Stellenweise gehören sie zu den bekanntesten Momenten seiner Stücke überhaupt, man denke nur an das Ende von Wallensteins Tod mit dem Ausruf, „Dem Fürsten Piccolomini“ (II, 547) oder an Demetrius, ein Stück dessen gesamte Anlage sich um jenen Reframing-Effekt dreht. Zu ergänzen ist allerdings, dass über die extreme Zuspitzung auf einen Moment der Entscheidung in der Szene IV/14 des Fiesko eine für die Selbstsozialisation des modernen Menschen in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft geradezu paradigmatische Situation beschrieben wird. Mit der Zuspitzung der Entscheidungssituation auf den einen markanten Moment, in dem Fiesko entweder seine politischen Ambitionen oder aber seine Liebe vollständig aufgeben muss, bildet Schillers Text zwar eine für das Leben in der Moderne archetypische Problematik ab. Nicht vergessen werden darf aber, dass in modernen Gesellschaften gerade solche double-bind-Strukturen und Zielkonflikte oft auch auf Dauer gestellt werden und damit gerade nicht an einen singulären Moment gebunden sind. Zu denken ist hier etwa an – für die Herausbildung moderner Iden

264 Entweder gegen die Liebe oder gegen die Sicherheit des eigenen Überlebens.





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titäten bedeutsame – Phänomene wie dauerhafte Rollendiffusionen, andauernde Rollenkonflikte oder sich sukzessive vollziehende Entfremdungen vom Selbst. Derartige Phänomene rekurrieren zwar mehrfach in Schillers Texten, hier wird ihnen gegenüber mit der Zuspitzung auf den alles entscheidenden Moment jedoch ein Latenzschutz eingezogen. Die im Fiesko akzentuierte Präsentation eines wesentlichen Zusammenhangs im Verhältnis zwischen modernem Subjekt und Gesellschaft geschieht, dramaturgisch durchaus produktiv, zum Preis einer selektiven, Komplexität reduzierenden Wiedergabe der gesellschaftlichen Realität. Deutlich wird hier, dass Schillers Texte (wie es diese Arbeit auch tut) zwar als Selbstbeschreibungen einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft gelesen werden können, dass jedoch schon die frühen Texte demgegenüber ästhetische oder dramaturgische Aspekte prioritär setzen. Oder anders gesagt: Man kann in Schillers Texten Versuche sehen, die Umwälzungsprozesse um 1800 abzubilden, zu verstehen und zu reflektieren. An dem Punkt allerdings, an dem diese Versuche etwa mit dramatischen Eigenlogiken konfligieren, werden sie von Schiller stets hinter diese zurückgestellt oder erscheinen – wie in diesem Fall – in Form von Schlaglichtern auf die Phänomene des Umbruchs, die nicht geeignet sind, die gesellschaftlichen Dynamiken um 1800 in ihrer Gesamtheit abzubilden. Betrachtet man jedoch nicht nur einzelne Passagen oder Texte, sondern versucht Schillers Blick auf seine Zeit werksübergreifend zu erfassen, so ergibt sich oft das Bild eines umfassenderen und nicht mehr ganz so selektiv erscheinenden Blickes auf die soziostrukturellen und sozialpsychologischen Neuerungen das ausgehenden 18. Jahrhunderts. Der in der Verschwörung des Fiesko mit ihrer Fokussierung des singulären Moments festgestellte blinde Fleck wird etwa in Kabale und Liebe erhellt. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, erfasst der maßgebliche Konflikt die Protagonistin dieses Dramas nämlich zeitübergreifend und nicht nur situationsgebunden. Der double-bind zwischen der Liebe zu Ferdinand und den Restriktionen, diese zu verwirklichen, wird dort als das Subjekt dauerhaft durchschneidende Konfliktlinie skizziert, auf die zwar immer situativ reagiert werden kann, die sich jedoch als permanente und nicht auflösbare Herausforderung manifestiert. Bevor darauf näher eigegangen wird, lohnt es sich jedoch, die in Leonores Argumentation verdeutlichte Gegenwartskonzeption nochmals genauer in Hinblick auf ihr Verhältnis zur Vergangenheit (und deren konstruktiver Gestaltung durch Leonore) zu betrachten. Leonore führt nämlich streng genommen nicht nur ein Re-Framing des Bildes durch, das Fiesko von sich und seinen bisherigen Plänen hatte. Sie führt hier mit der Verwendung des Präteritums auch im weitesten Sinne vergangene Sachverhalte an, um



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ihrer Argumentation eine stärkere Wirkung zu verleihen: Mit der Aussage „[s]elten stiegen Engel auf den Thron. Seltner herunter“ (I, 731) wird nicht nur eine durch die politische Herrschaft hervorgerufene Korrumpierbarkeit zum Ausdruck gebracht, operativ wird hier auch, wenngleich metaphorisch überformt, ein allgemeines, aber dennoch formal aus der empirischen Betrachtung der Vergangenheit gewonnenes Prinzip zur Begründung der eigenen Position verwendet und – das ist hier besonders wichtig – für eine Kalkulation zukünftiger Ereignisse gebraucht. Historisches Denken – der Unterschied ist fein, aber bedeutsam – beruht hier nicht mehr auf einer Befragung der Vergangenheit, um aus deren Beispielen Handlungsempfehlungen für die Zukunft zu gewinnen. Stattdessen wird aus der Geschichte ein Beispiel (hier: ein abstraktes Prinzip) genommen, das geeignet ist, eine bereits im Vorfeld gefasste Argumentationshaltung zu stützen. Dabei handelt es sich auf der einen Seite um eine zutiefst ahistorische Praxis, die sich im Kern nicht mehr für die genauen Gegebenheiten der Geschichte interessiert, auf der anderen Seite eröffnet diese Praxis dem Subjekt jedoch einen erweiterten diskursiven Gestaltungsspielraum in der Gegenwart. Es kann nun geschichtliches Wissen benutzen, in seinem Sinne rahmen und instrumentell auf die Zukunft beziehen. Die Neuorientierung der gesellschaftlichen Diskurse auf die Zukunft geht dabei einher mit einer Qualitäts- und einer Wesensveränderung des Vergangenen. Geschichte ist nicht mehr die Last der Vergangenheit, sondern Material für eine gestalterische, vielleicht sogar für eine spielerische Organisation des jeweiligen Diskurses. Eben dies führt Leonore in der wichtigen Szene IV/14 des Dramas vor Augen. Gestaltung von Zeitvorstellungen (Luise) Eine derartige Reorganisation des Zeitlichen zeigt sich in Schillers frühen Dramen nicht nur in der Szene V/14 des Fiesko, sondern etwa auch in der zentralen Szene III/4 von Kabale und Liebe. Auch dort ist es eine Frauenfigur, die das starre Weltbild eines männlichen Protagonisten dekonstruiert und einer Neurahmung unterzieht. Luise verdeutlicht dort ihrem Geliebten Ferdinand, dass die gemeinsame Liebe keine Zukunft hat und dies aus ihrer Sicht auch nicht zu sehr zu bedauern sei, denn „man verliert ja nur, was man besessen hat, und dein Herz gehört deinem Stande – mein Anspruch war Kirchenraub, und schaudernd geb ich ihn auf“ (I, 809). Dabei ist Luise durchaus bewusst, dass der Gebrauch dieser (ihr vorher verfolgtes Konzept der passionierten Liebe neu rahmenden) Strategie einen entscheidenden Moment in ihrer Beziehung zu Ferdinand mar



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kiert und damit weitreichende Folgen nach sich zieht: „Lass mich die Heldin dieses Augenblicks sein“ (ebd). Zwar wendet sie sich hier gegen die von beiden geführte unstandesgemäße Beziehung, wenn sie betont, dass diese „die Fugen der Bürgerwelt auseinandertreiben, und die allgemeine ewige Ordnung zugrund stürzen würde“ (ebd.) und gebraucht somit auch ein restauratives Argument. Anders als in der Fiesko-Szene werden hier jedoch nicht mehr unterschiedliche, in sich aber konsistente, Zeitverständnisse in einer Folge aneinandergereiht. Stattdessen wird Luises Argumentation schon in sich gebrochen beziehungsweise durch die Einziehung einer weiteren Ebene modalisiert: Zum einen erblickt sie in ihrer Bereitschaft, sich auf die gesellschaftlich unstatthafte voreheliche Episode mit Ferdinand eingelassen zu haben, eine sanktionierungswürdige persönliche Schuld: „Ich bin die Verbrecherin – mit frechen törichten Wünschen hat sich mein Busen getragen – mein Unglück ist meine Strafe“ (I, 809). Zum anderen aber bittet sie Ferdinand, die Trennung zu akzeptieren, jedoch nicht weiter zu thematisieren, damit ihr künftig „die süße schmeichelnde Täuschung“ bleiben könne, „dass es mein Opfer war“ (ebd.). Diese Aussage ist in logischer Betrachtung offenkundig paradox: Inhaltlich wird um das gebeten, was operativ im selben Augenblick unterlaufen wird. Wenn Luise selbst schon um die Täuschung weiß, kann sie durch Ferdinand kaum weiter getäuscht werden. In poetischer Hinsicht wird durch diese Aporie jedoch die diskursive Verfügbarkeit des Vergangenen herausgestellt. Luise präsentiert sich als Figur, die konstruktiv ihre eigene Geschichte bearbeitet, diese – mit Blick auf ihre nun (allerdings unter Zwang) gefasste Zukunftsvorstellung – rahmt und gestaltet. Anders als Fiesko steht sie jedoch nicht vor einer prekären Entscheidungssituation. Die für sie auf dem Spiel stehende Differenz präsentiert sich nicht als notwendige Wahl zwischen zwei sich ausschließenden Alternativen. Die Differenz durchschneidet stattdessen auf gewaltsame Weise das Subjekt selbst: daher auch die textliche Nähe und das inhaltliche Zusammenfallen der beiden Identitätszuschreibungen ‚Heldin’ und ‚Verbrecherin’ in Bezug auf die Person Luise. Eben hierin liegt das Komplement zur Fokussierung des einzelnen Moments im Fiesko: Nimmt man beide Texte zusammen, so erschließt sich damit der recht differenzierte Blick, den Schiller bereits in seinem Frühwerk auf die gesellschaftlichen Transformationen um 1800 einnimmt. Hervorzuheben ist auch, dass der Text die Konstruktion beziehungsweise die Gemachtheit beider Identitätsformen aufzeigt. Die im Kern authentisch liebende Luise wird erst durch Wurms Intrige dazu gezwungen, sich zu verstellen und sich explizit als



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„Verbrecherin“ an der alten providentiell gesicherten gesellschaftlichen Ordnung zu präsentieren. An den Fakten hat sich dabei wohlgemerkt nichts geändert. Luises Liebe zu Ferdinand war von jeher schon ein Verstoß gegen die Normen der Feudalgesellschaft. Was nun aber neu ist, ist Luises Rahmung dieses Verstoßes. Sie argumentiert hier nicht mehr wie zuvor verantwortungsethisch mit der Schwierigkeit, die unstandesgemäße Liebe in einer für sie feindlichen Gesellschaft auf Dauer zu stellen. Wurms Intrige zwingt Luise zu einem harten Bruch mit der Beziehung zu Ferdinand, den sie nun semantisch über die gesinnungsethisch stark aufgeladenen Begriffen „Kirchenraub“ (I, 809) und „Verbrecherin“ (ebd.) in fast schon autoaggressiver Manier vollzieht. Den Notwendigkeiten der Situation begegnet Luise also mit einer Neurahmung ihrer Selbstzuschreibung. Gleichzeitig ist erkennbar, dass sie danach strebt, einen Teil ihrer Identität zu retten, indem sie ihren Trennungsbeschluss von Ferdinand mit der Subjektzuschreibung ‚Heldin’ positiv rahmt. Schon dadurch, dass die Nennung der ersten Subjektform ‚Verbrecherin’ gesinnungsethisch auf die Vergangenheit, die zweite Zuschreibung ‚Heldin’ jedoch mit Blick auf die Zukunft (zumindest aber mit performativem Gegenwartsbezug) getroffen wird, zeigt sich, wie hier auch unterschiedliche Zeitregime in Bezug zueinander gesetzt werden. In beiden Fällen wird jedoch spontan, in der Gegenwart, über die Rahmung und Bewertung nicht nur einer Subjektform, sondern auch eines längeren Zeitabschnittes entschieden. Mit beiden Rahmungen gebraucht Luise die Gestaltungsmöglichkeiten, die mit der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft verfügbar werden, um eben diesen Ausdifferenzierungsprozess operativ zu bewältigen. Und in der Folge treibt sie diesen wiederum indirekt mit voran, indem sie ihren double-bind zwischen bürgerlicher Vaterliebe und unstandesgemäßer passionierter Liebe – wobei die passionierte Liebe auch als bürgerliches Konzept gelten muss – nicht nur in der aporetischen Selbst-Subjektivierung als Heldin und Verbrecherin reproduziert, sondern auch in ihrem Verhalten, insbesondere ihren Erwartungshaltungen gegenüber Ferdinand: Du hast ein Herz, lieber Walter – Ich kenne es. Warm wie das Leben ist deine Liebe und ohne Schranken wies Unermessliche – Schenke sie einer Edlen und Würdigern – Sie wird die Glücklichsten ihres Geschlechts nicht beneiden –– (Tränen unterdrückend) mich sollst du nicht mehr sehen – das eitle, betrogene Mädchen verweine seinen Gram in einsamen Mauren, um seine Tränen wird sich niemand bekümmern – Leer und erstorben ist meine Zukunft – doch werd ich je und je am verwelkten Strauß der Vergangenheit riechen. (I, 809)

Wie die Forderung nach einer Aufrechterhaltung der Illusion, die „Strafe“ der Trennung sei ein „Opfer“ Luises,265 ist auch dieser Appell an Ferdinands Herz ein paradoxer

265 Die Paradoxie liegt wohlgemerkt auf der Aussagebene, also im Sprechakt. Dass auch dessen Grundannahme, Luise hätte eine Strafe verdient, aus heutiger Sicht fragwürdig ist, ist hier nicht von Relevanz.





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Sprechakt. Mit der Bestätigung ihrer Kenntnis von Ferdinands „Herz“ bringt Luise den Zentralbegriff des in der Genieperiode geführten Authentizitätsdiskurses in Anschlag, um diesen dann (man kann fast schon sagen: bewusst missbräuchlich) zu funktionalisieren und damit zu unterlaufen. In dieser Passage beschwört sie zunächst Ferdinands Fähigkeit zur emotional–passionierten Liebe, um ihn dann von einer rational begründeten Partnerwahl zu überzeugen. Dem nicht genug, ruft sie mit der Evokation des ihr in diesem Fall drohenden Leids eine empathische Reaktion bei Ferdinand hervor. Luises projiziert also ihren double-bind geradezu manipulativ auf ihr Gegenüber.266 Diese Widersprüchlichkeit aus Echtheitszuschreibung und Forderung nach einer funktionalen Entscheidung dürfte den Leserinnen oder Zuschauern der ausgehenden Genieperiode allein schon aufgrund der Wirkmächtigkeit, welche der Authentizitätsdiskurs in der Rezeption Rousseaus erlangt hat, ohne weiteres deutlich geworden sein. Interessant ist die Bezugnahme Luises auf diesen Diskurs jedoch vor allem, weil er ihrer Zielsetzung zunächst zu widersprechen scheint. Das ‚Herz’ anzuführen, ist in der Formation des Liebesdiskurses um 18. Jahrhundert im Kern ein unpassendes Argument, wenn man die Absicht hat, den Geliebten dazu zu bewegen, eine Andere zu lieben. Bleibt man auf der Ebene der Figurenpsychologie, so könnte man psychoanalytisch von einer Fehlleistung Luises sprechen, in welcher sich ein (ihrer rationalen Argumentation gegenläufiges) Begehren nach einer Fortführung der Partnerschaft mit Ferdinand manifestiert. Auch die anschließende emotionalisierende Beschreibung ihres künftigen Leids, in welcher die melancholische Perspektive einer trostlosen Zukunft auf die glückliche, dann aber vergangene, Gegenwart trifft.

Abstrahiert man jedoch von der reinen Figurenebene auf eine umfassendere ge-

sellschaftliche Perspektive, so stellen sich die Paradoxien in der Selbstbeschreibung und der Erwartungshaltung Luises als Versuche dar, den widersprüchlichen Ansprüchen, die eine sich ausdifferenzierende Gesellschaft an das Individuum stellt, gerecht zu werden. Diese auseinanderdriftenden Forderungen zu integrieren, ist in diesem Sinne nun nicht mehr möglich; man muss sich nun generell damit abfinden, mit Paradoxien bzw. Aporien und double-binds zu leben. Lange funktionierende normative Konzepte geraten nun immer stärker unter Druck und gesinnungsethische Betrachtungen werden sukzessive durch einfacher funktionalisierbare verantwortungsethische Betrachtungen ersetzt. Der Dialog zwischen Luise und Ferdinand macht dies für den Komplex der Liebe um 1800

266 Dieser gestaltet sich jedoch wieder eher wie Fieskos Entscheidungssituation als Wahl zwischen Alter-

nativen, denn wie Luises anspruchsvolle Subjektivierungsherausforderung.





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deutlich, und zeigt damit auch die starke Resistenz, welche das Konzept der authentischen und passionierten Liebe gegenüber Funktionalisierungs- und Ökonomisierungstendenzen entwickelt (und auf semantischer Ebene bis heute hat)267. Luises Argumentation führt außerdem dazu, die über den gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozess entstehenden Friktionen sichtbar zu machen. Gerade ihr Versuch, Widersprüche zu integrieren, macht diese Widersprüche erst deutlich. Der Leser oder Zuschauer von Schillers Dramen kann dies zum Anlass nehmen, über gesellschaftlichen Tendenzen, die Derartiges zum Vorschein bringen, und über die gezeigten Bewältigungsstrategien der Figuren zu reflektieren. Ferdinand jedoch – strukturell in der gleichen Rezeptionssituation wie Leser oder Zuschauerin – zeigt sich der von Luise verdeutlichten Komplexität nicht gewachsen. Er ist passiv und sprachlos, die Regieanweisungen dazu lauten „steht still und murmelt düster“ (I, 809) oder „das Gesicht verzerrt und an der Unterlippe nagend.“ (ebd.). Er reproduziert Luises Aussagen (vgl. ebd.), schafft damit das Gespräch kurzschließende Redundanz und kann seine Überforderung nur durch aggressive Ersatzhandlungen wie das Zerstören einer Violine ausdrücken, wobei das Musikinstrument – dies wird häufig in der Forschung erwähnt – „ganz offensichtlich als Substitut der Frau gilt“268. Ferdinand repräsentiert damit das Gegenteil des idealen Zuschauers. Er begreift die sich ihm darbietende Situation nicht und flüchtet sich in sprachlose Gewalt. Das Ende der Szene belegt auch, woran dies liegt: Statt in den, in Luises Argumentation gezeigten, Paradoxien geeignete Möglichkeiten für Anschlusskommunikationen zu sehen und in einen reflexiven und forschenden Diskurs über die gesellschaftlichen Umstände und die Beweggründe Luises einzutreten, kann Ferdinand nur im binären Schema des Liebesdiskurses der frühen Neuzeit denken. Liebe als galante Liebe gilt dort als kontingente Erscheinung – deren eigentlichen Charakter es herauszufinden gilt, welcher aber lediglich mit dem normativen Schema wahre Liebe/vorgespielte Liebe gefasst werden kann.269 Dass Kontingenz gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr einfach nur die Bewertung der Absicht des Gegenübers bestimmt, sondern weit komplizierter im sozialen Umfeld, gar der sich dynamisierenden Gesellschaft, und ganz wesentlich auch im jeweils gebrauchten Zeitregime zu verorten ist, ist Ferdinands blinder Fleck. Der Leserin oder dem Zuschauer wird jedoch nicht nur – wie Ferdinand – Luises Argu 267 Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass nunmehr gerade diese Semantiken passionierter und au-

thentischer Liebe umfassend ökonomisiert werden. Jedenfalls führt diese Paradoxie nicht dazu, dass derartige Semantiken aus den Diskursen verschwinden, eher scheint sie diskursanregend zu sein.

268 Vgl. etwa Schößler, Dramenanalyse 2012, S. 117. 269 Vgl. Luhmann, Liebe als Passion 1982, S. 97–106.





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ment vor Augen geführt, sie können ihrerseits auch Ferdinands scheiternde Beobachtung dieses Zusammenhangs beobachten und so begreifen, dass es hier zwar auch um die Verfehlung eines Individuums geht. Dabei ist es gerade die Gegenüberstellung beider Perspektiven – derjenigen Ferdinands und derjenigen Luises – die verdeutlicht, dass hier noch viel mehr auf weit abstraktere gesellschaftliche Prozesse reflektiert wird.







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1.2.3 Soziale Dynamiken und Performativität der Darstellung (Räuber) Während die Analysen der vorangehenden Kapitel spezifische Semantiken und Textstrukturen in Schillers frühen Dramen betrachteten, über welche (oft implizit) mittels Sprache und formalen Elementen auf gesellschaftliche Komplexe referiert wird, nimmt dieses Kapitel Textstellen in den Blick, in denen Gesellschaft und Gemeinschaft, das Individuum und seine Identitätsbildung, seine Sozialisierung und die diese steuernden Instanzen ganz explizit verhandelt werden. Insbesondere soll dabei der These nachgegangen werden, inwieweit es gerade Schillers Auffassungen vom Theater und den spezifischen Mitteln der Bühnendarstellung sind, von welchen aus sich der Kontingenz und Zeitlichkeit reflektierende Blick seiner frühen Dramen auf die Umstände und Folgen der sich modernisierenden Gesellschaft um 1800 entfaltet. Dazu soll dann der Text der Räuber zunächst eingehender untersucht und anschließend in Bezug zu der Erinnerung an das Publikum, einem Paratext der Verschwörung des Fiesko zu Genua, gesetzt werden, um so das Ineinandergreifen von Gesellschaftsbeschreibung und Reflexion bzw. die Anwendung theatraler Möglichkeiten und Techniken in Schillers frühem dramatischen Schaffen zu veranschaulichen. Einschlägig für die hier zu untersuchende Thematik ist vor allem die Szene I,2 Der Räuber, in welcher die Gründung der Räuberbande mit der Ernennung Karl Moors zu ihrem Hauptmann koinzidiert. Dass dieser Szene schon generell eine entscheidende Bedeutung in Schillers erstem Drama zukommt, davon zeugt bereits dessen Titel, der eben nicht psychologisch-religiösen oder individualistische Devianz fokussierenden Diskursivierungsansätzen folgend wie zunächst geplant Der verlorene Sohn, sondern eben Die Räuber heißt und damit eher die kollektiv-soziale Dimension des Stückes hervorhebt. Performative Widersprüche Der Beginn der Szene zeigt Karl Moors Generalkritik am rationalistischen Geist der Aufklärung und Spiegelbergs oben bereits behandelte270 Reihe von Theatralität stiftenden Anekdoten. Auf formaler Ebene ist das sich entwickelnde Gespräch zwischen beiden Figuren davon geprägt, dass sich kein gewöhnlicher Dialog mit Rede und Gegenrede entspannt, sondern nur Spiegelberg auf Moors Aussagen reagiert. Karl Moors Sprechverhalten ist demgegenüber bestimmt von einem ausgeprägten Desinteresse für Spiegelbergs Sprechakte und von einer generellen Ignoranz seines Gesprächspartners. Statt in den

270 Vgl. das Kapitel „Erzeugung von Kontingenz – zur Semantik und Motivik des Theatralen“.





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von Spiegelberg angebotenen Dialog einzutreten, führt Moor einen eigenen – lediglich akzidentiell durch die Sprechakte seines Gegenübers unterbrochenen – Monolog. Karl Moors rousseauistisch konnotierte Klage über die mangelnde Authentizität seiner Gegenwart erfolgt also in der Form eines isolativen Selbstgesprächs. Seine Kritik an den Individualisierungsdynamiken der modernen Gesellschaft und an den Widersprüchlichkeiten zwischen sozial zunehmend eingeforderten Sozialnormen und -konventionen und bürgerlich-frühkapitalistischer Eigennutzoptimierung271 tritt in Kontrast zu der performativen Autoexklusion aus dem Gespräch mit Spiegelberg. Indem sich Moor redend und klagend aus der Sozialsituation herausnimmt, konterkariert er den Inhalt seiner Rede und Klage. Statt die Dynamiken einer egoistisch motivierten sozialen Isolationierung und einer diskursiven Kommentierung bereits existierender Realitäten aktiv gestaltend mittels Vergesellschaftung und mit diskursiven Entwürfen neuer Realitäten zu durchbrechen, werden eben diese Dynamiken inhaltlich zwar kritisiert, formal aber reproduziert. Die Szene zeigt zum einen auf eben diese Weise die Figur Karl Moor als widersprüchlich-modernen Charakter, dessen blinder Fleck in der aporetischen Annahme liegt, er könne den Signaturen der sich modernisierenden Gesellschaft mit den Mitteln derselben entkommen. Zum anderen liegt hier ein Textverfahren vor, mit welchem die beiderseitig bedeutungskonstituierende Wirkung von Information und Mitteilung, von Gesprochenem und Art des Sprechens wahrnehmbar gemacht und so das Medium des Theaters als Darstellungsform sichtbar wird.

Die über das Verweigern eines dialogischen Gesprächs vermittelte Abwertung

des durch den Gesprächspartner mitgeteilten Inhalts – im Prinzip wird die Selektionsleistung des Verstehens verweigert – geht auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung mit der Aufwertung der Mitteilung einher. Der Theaterbesucher wird zu einer Beobachtung des Nicht-Verstehens bewegt und weniger zu einer Beobachtung dessen, was nicht verstanden wird. Der Aporie, eine Form zu vermeiden bzw. zu kritisieren, diese dann jedoch in einer Verschiebung erneut zu reproduzieren, verfällt auch Roller mit seinem Ausspruch, „[a]uch die Freiheit muß ihren Herrn haben“ (I, 513). Roller lässt hier eine Seite der Differenz Freiheit/Herrschaft (die Herrschaft) wieder in einer Art ‚re

271 Die Menschen des gegenwärtigen Zeitalters, so Moor, wären opportunistisch, bigott, misanthropisch,

egoistisch und untertänig, sie „belecken den Schuhputzer, daß er sie vertrete bei Ihro Gnaden und hudeln den armen Schelm, den sie nicht fürchten. Vergöttern sich um ein Mittagessen und möchten einander vergiften um ein Unterbett, das ihnen beim Aufstreich überboten wird. – Verdammen den Sadduzäer, der nicht fleißig genug in die Kirche kommt, und berechnen ihren Judenzins am Altare. – Fallen auf die Knie, damit sie ja ihren Schlamp ausbreiten können – wenden kein Aug vom Pfarrer, damit sie sehen, wie seine Perücke frisiert ist. – Fallen in Ohnmacht, wenn sie eine Gans bluten sehen, und klatschen in die Hände, wenn ihr Nebenbuhler bankerott von der Börse geht.“ (I, 503).





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entry’ die andere Seite (die Freiheit) eintreten, sodass die Unterscheidung selbst fragwürdig wird. Statt einer klar-distinkt und rational konstituierten Ordnung zu folgen, verschwimmen so beide Bereiche zu einem unverfügbaren, kontingenten Gemenge. Nicht unähnlich dazu ist auch Karl Moors in die Nähe des Paradoxen geratender Ausruf, „Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen“ (I, 504). Die vergleichende Konjunktion ‚wie’ verhindert hier zwar logisch einen tautologischen Kurzschluss, Moor spricht hier von Ähnlichkeit mit sich selbst, nicht von Identität, ein Zirkelschluss wird aber zumindest angedeutet. Wichtiger noch: Auch die Kausalbeziehung zwischen den beiden Hauptsätzen ist irritierend, entsteht doch eine nicht zu übergehende Spannung zwischen der Vorstellung eines homogenen Heeres aus Karl Moor und ihm gleichen „Kerls“ auf der einen und der Heterogenität verbürgenden Regierungsform der Republik auf der anderen Seite. Darüber hinaus wird hier auch eine wesentliche Triebfeder für das Denken und Handeln Moors deutlich. Ihm geht es – und das bereits vor seinem großen Widerfahrnismoment – um die Einschränkung von Kontingenz, um eine homogenhygienische Gemeinschaft mit ihm ähnlichen Individuen. Wenn er hier von Freiheit spricht, dann von Freiheit für sich selbst und nicht von politischer Freiheit für das Land oder die Gesellschaft. Versuche sozialer Synchronisierung und Kontingenzreduktion In diesem Sinne trifft auch die Aussage des Theaterregisseurs Ulrich Rasche zu, in den Räubern werde die „Genese einer Bewegung [gezeigt], die jeder politischen Grundlage entbehrt“ 272. Das Stück, wie in der älteren Forschung noch vielfach üblich,273 als Eloge auf einen sozialrevolutionären Widerstand gegen die politische-absolutistische Gewaltordnung zu lesen und Karl Moor und seine Räubergesellen zu Sympathien gewinnenden Kämpfern eines gesellschaftlichen Fortschritts zu erklären, erübrigt sich (auch) damit.274 Interessanter ist zumal, dass Schiller hier keine Kette konsekutiv aufeinanderfol 272 Ulrich Rasche in Bezug auf seine Inszenierung der Räuber am Münchener Residenztheater. Zitiert aus

Franzen, Männer im Ausnahmezustand. In: Frankfurter Rundschau vom 25.09.2016. Rasches Zitat – so die These hier – erlangt Geltung nicht nur im Hinblick auf dessen Münchener Inszenierung, sondern eben auch im Hinblick auf Schillers Text selbst. 273 Vgl. den Forschungsüberblick in Sautermeister, Die Räuber 2005, S. 20–22. 274 Derartige Lesarten stützen sich zumeist auf die Robin-Hood-Motivik und die gesellschaftskritischen Töne in den Reden der Brüder Moor. Allerdings bleibt festzuhalten, dass das Stück keine dezidierte Agenda für politische- oder gesellschaftsbezogene Veränderungen beinhaltet, vielmehr fallen alle im Text dargestellten Bestrebungen, die sich unter dem Signum der ‚Gegengewalt’ subsummieren ließen, stets in eine subjektzentrierte-individualistische Dimension zurück.





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gender Ereignisse auf die Bühne bringt, also keine sich sukzessive eskalierende Dynamik entfalten lässt, sondern mit den Räubern den Zusammenfall verschiedener, sich unabhängig voneinander entwickelnder Auffassungen, Absichten und Gegebenheiten abzubilden sucht. So sehnt sich Karl Moor danach, die sich im Vernunftdiskurs der Aufklärung ausdifferenzierende und ins Unüberblickbare kippenden Kommunikationsstrukturen zu zerschlagen und durch eine homogene Ordnung zu ersetzen. Spiegelberg hingegen trachtet nach einer Möglichkeit sozialer Aufwärtsmobilität. Die Kommilitonen der beiden suchen wiederum nach einem Weg, ihren Tatendrang und ihre Energien aufgrund beruflicher Aussichtslosigkeit auf andere Weise verwirklichen zu können. Insgesamt entsteht so eine Gemengelage, in der das akzidentielle Ereignis des Eintreffens von Franz’ Brief ein außergewöhnliches Zusammenfallen der Interessen durch die Grünung einer devianten Gemeinschaft ermöglicht. Die Gründung der Räuberbande ist damit nicht nur ein weiterer neben der Franz-Handlung existierender Ursprung der weiteren dramatischen Handlung des Stücks, sie ist auch eine sozial-konstruktive Lösung voneinander ursprünglich entbetteter Problemlagen.275 Dass im Moment der Gründung der Räuberbande also verschiedene Interessen ineinander fallen und sich aneinander zu etwas Neuem, Unerhörten – die den Akt begleitende Teufels- und Höllenmetaphorik hebt dies deutlich hervor – entzünden, markiert erstens, wie unabsehbar und unwahrscheinlich die Emergenz dieses Ereignisses (der Bandengründung) im Vorfeld doch war. Darüber hinaus erfolgt jedoch auch ein zeitlicher Verweis zurück auf verschiedene, lange im Vorfeld geprägte Ermöglichungsbedingungen der Gemeinschaftsbildung. Zu den bereits genannten Bedingungen kommt insbesondere noch die Ausbildung von Karls Charisma, eine Eigenschaft, die im Moment der Akklamation zum Anführer nicht erst gestiftet wird, sondern, wie bereits Max Weber herausgearbeitet hat, diesem notwendigerweise vorausgeht: [Die] Akklamation durch das Volk [...] war also keine ‚Wahl’ im Sinne moderner Präsidenten- oder Abgeordnetenwahlen sondern wenigstens dem genuinen Sinn nach etwas Heterogenes: Erkennung oder Anerkennung des Vorhandenseins der durch die Wahl nicht erst entstehenden, sondern vorher vorhandenen Qualifikation, eines Charismas also, auf dessen Anerkennung umgekehrt der zu Wählende als sein Träger einen Anspruch hat.276

Um eben dieses Heterogene, von dem Weber hier spricht, soll es hier gehen. Es besteht zunächst darin, dass hier zwei Sprechakte zusammenfallen, ein konstativer Akt, in dem das bereits bestehende Charisma des zukünftigen Anführers erkannt wird, und ein performativer Akt, mit welchem die Person erst in die Rolle des charismatischen Herrschers

275 Vgl. Liewerscheidt, Die Macht der Bühne 2014, S. 176–188. 276 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1980, S. 665.





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gehoben wird. In einem aufschlussreichen Aufsatz zur Akklamation bei Kleists Robert Guiskard arbeitet Thorsten Hahn heraus, wie gerade diese Doppelnatur „akklamierender Rede“ für einen „Formgewinn“ sorgt, also die Rede selbst aus der Unsichtbarkeit der Medien heraushebt.277 Hahn spricht davon, dass die Akklamation „nichts weniger [ist] als ein Medium an der Schnittstelle von Liturgie und Recht“278 beziehungsweise „eine Schnittstelle von Politik und Theater“279 und so als gezeigte „Form keineswegs entweder auf totale Affirmation oder auf Negation der Herrschaft zielt.“280 Ihre zentrale Leistung, so Hahn, bestehe in der „Medialisierung“, also darin, dass über sie ein kommunikatives Rauschen in einen konkreten Sprechakt gewandelt wird.281 Eben diesen transformativen Prozess im Feld der Kommunikation arbeitet Schillers Text in der Szene I,2 der Räuber dezidiert heraus. Vor seiner Akklamation zum Hauptmann wird Moor erneut als entrückt, seinen solipsistischen Gedankenverläufen nachhängend und damit als unempfänglich für die Kommunikationsversuche seiner Gefährten gezeigt. Die Sprechakte seiner Umwelt – mehrere Räuber reden mit unterschiedlichen Argumenten auf ihn ein – finden keinen Anschluss in seinem Bewusstsein, werden ignoriert und stellen sich aus der Sicht des Protagonisten als Kakophonie an Stimmen, als chaotisches Rauschen, als noise, dar. Aus der Perspektive der Theaterzuschauer handelt es sich um misslungene Kommunikationsversuche, deren Scheitern auf einer ausbleibenden Verstehensselektion gründet. Erst als mehrmals und nachdrücklich die Absicht geäußert wird, eine Räuberbande zu bilden und Karl zu ihrem Hauptmann zu erheben, dringen die Aussagen der Kommilitonen in Moors Bewusstsein und das Rauschen gewinnt auch für ihn Form. Auf die Bereitschaftserklärung Karls, Hauptmann zu werden, folgt dann die Bestätigung durch Akklamation: MOOR. [...] Ja bei dem tausendarmigen Tod! Das wollen wir, das müssen wir! Der Gedanke ver dient Vergötterung – Räuber und Mörder! – So wahr meine Seele lebt, ich bin euer Hauptmann! ALLE (mit lärmendem Geschrei). Es lebe der Hauptmann! (I, 515)

Die vorher disharmonisch individuellen Stimmen synchronisieren sich im Moment der Akklamation und schaffen eben die homogene Gemeinschaft, die Karl schon vor dem Eintreffen des vermeintlich väterlichen Briefes im Sinne hatte. Die Akklamation ist somit

277 Hahn, Du Retter in der Not 2011, S. 50. 278 Ebd. 279 Ebd., S. 65.

280 Ebd., S. 59. 281 Vgl. ebd., S. 65.





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einerseits zu lesen als Akt massiver Kontingenzverringerung.282 Die Gemeinschaft der Räuber wird so schon zu ihrem Beginn als eine Sozialform präsentiert, in der die Wahrscheinlichkeit von Widerfahrnisereignissen, wie die durch Franz’ Brief ausgelöste Erwartungsenttäuschung, minimiert wird. Die theatrale Kraft der Synchronisation in dieser Massenszene ist andererseits geeignet, den Zuschauer affektiv stark zu erfassen und die im Vorfeld der Akklamation noch eminente Perspektivendifferenz zwischen Zuschauenden und Figur einzuebnen. Fragilität (Fluidität) der neuen Ordnung Auf der Handlungsebene entwickelt sich die Vergesellschaftung der Einzelinteressen dann ganz zwangsläufig in die Richtung, die Max Weber ein Jahrhundert nach Schillers Drama als charakteristisch für charismatische Herrschaften aufzeigt. Für Weber entscheidend ist die transitorische Eigenschaft des Charismas. Dieses kann zwar eruptiv massive Umwälzungsprozesse anstoßen, ist jedoch im Zeitverlauf dazu verurteilt, seine Wirkungskraft notwendigerweise einbüßen zu müssen: Das Schicksal des Charisma ist es, durchweg mit dem Einströmen in die Dauergebilde des Gemeinschaftshandelns zurückzuebben zugunsten der Mächte entweder der Tradition oder der rationalen Vergesellschaftung. Sein Schwinden bedeutet im ganzen betrachtet eine Zurückdrängung der Tragweite individuellen Handelns. Von allen jenen Gewalten aber, welche das individuelle Handeln zurückdrängen, ist die unwiderstehlichste eine Macht, welche neben dem persönlichen Charisma auch die Gliederung nach ständischer Ehre entweder ausrottet oder doch in ihrer Wirkung rational umformt: die rationale Disziplin.283

Die ursprüngliche Autoexklusion Moors aus den Kommunikationsstrukturen seiner Umwelt wird in einem spektakulären Akt in eine Gruppenexklusion der Räubergemeinschaft aus der Gesellschaft überführt. Innerhalb der Gruppe greifen dann jedoch sukzessive rationalistisch-hygienische Disziplinierungsmechanismen. Spiegelberg, der die Wahl Moors nicht anerkennt, findet sich systematisch an den Rand der Gruppe gedrängt und schließlich ermordet. Weber erklärt derartige Prozesse damit, dass die Akklamation verlange, dass „nur einer der Richtige sein [kann]. Die dissentierenden Wähler begehen einen Frevel. Von ihnen wird verlangt, sich dem nunmehr durch den Ausfall der Abstimmung erwiesenen Recht zu fügen und der Mehrheit nachträglich beizutreten.“284 Spiegelberg ist dazu nicht willens und bezahlt das Festhalten an seinen individuellen 282 Hierzu gehört auch die Tatsache, dass die Akklamation lediglich Äußerungen der Zu- bzw. Ablehnung

zulässt und damit im Kontrast zu demokratischeren Gesprächsformaten, wie der Diskussion steht. Eben diese ist es auch, die den national-konservativen Theoretiker Carl Schmitt für die Akklamation begeistert. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre 1921. 283 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1980, S. 681. 284 Ebd., S. 665.





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Zielen und Wünschen schließlich mit seinem Leben. Schon an seiner Figur zeigt sich, dass die implizit als Gegengewalt gegen die gesellschaftliche Ordnung konzipierte Räuberbande strukturell die gesellschaftliche Ordnung, gegen die sie sich richtet, repliziert. Spiegelberg nimmt in der Bande exakt die randständige Position ein, die er als jüdischer Mensch auch in der christlich-feudalen Gesellschaftsordnung des ausgehenden 18. Jahrhunderts innehat. Als ähnliche Sackgasse erweist sich die Sozialform der Räuberbande für Karl Moor selbst. Zwar rückt diese ihn, wie Susanne Lüdemann betont, in genau die dominante Position, welche in der Familie vom Vater und in der Gesellschaft vom Fürsten eingenommen wird.285 Seine Sehnsucht nach einer Ordnung, die ihm individuelle Freiheit garantiert und vor Widerfahrnisereignissen und gesellschaftlichen Zumutungen bewahrt, kann durch die Gemeinschaftsform der Räuber jedoch nicht eingelöst werden. Der Inklusionsdruck der Gemeinschaft beschert ihm zwar willfährige Gefolgsleute, erweist sich jedoch als widerständig gegenüber allem, was sozial- und individualgeschichtlich neben der Inklusion in die Gemeinschaft der Räuber identitätsstiftend für das Individuum sein kann. Die Zugehörigkeit zur Räuberbande wird nun zu eben jener „Schnürbrust“, die Karl zu Beginn des Stückes als kritische Metapher für die Disziplinierungsmechanismen der herrschenden Ordnung anführt. Am Ende befindet er sich im konfliktuösen double-bind zwischen seiner Liebe zu Amalia und den Erwartungshaltungen der Räubergemeinschaft. Die Irritation von außen, die er zunächst und vor allem mit der Gründung der Räuberbande vermeiden wollte, ist nun in Form der passionierten Liebe zu dem geworden, was Moor begehrt. Die von den Bandenmitgliedern angebotene, (grausame) Lösung, Amalia (als Objekt) in den Inklusionszusammenhang der Bande aufzunehmen, ist für Karl keine Option, sodass er zerrissen zwischen den Widersprüchlichkeiten der Räuberexistenz, seinen Begehrensstrukturen und der sich modernisierten Gesellschaft dem Wahn anheimfällt und die Gewaltdimension des Vorschlags der Räuber in verschobener Weise aufgreift, um in Verzerrung des archaischen Talionsprinzips – nach dem Motto, wenn ich nicht, dann auch ihr nicht – seine Geliebte zu töten, sich dann aus der Räubergemeinschaft selbst ausschließt und in die an

285 Vgl.

Lüdemann, Zwischen Vaterordnung und Brüderbund. In: Der fiktive Staat. Hg. Von Albrecht Koschorke et al. 2007, S. 294. Lüdemann betont explizit die Ambivalenz zwischen der Aporie einer Reproduktion der defizienten Gesellschaftsordnung in der Räubergemeinschaft auf der einen Seite und der (Sympathie bei den Rezipierenden hervorrufenden) Opposition der Bande gegen diese Ordnung auf der andern. In der begeisterten Aufnahme der Räuber durch das Publikum sieht Lüdemann überzeugend eine selektive Lesart, welche nur den Wiederstand gegen die Vaterordnung, nicht jedoch deren Reproduktion wahrnimmt. Zu den Begriffen ‚Gesellschaft’ und ‚Gemeinschaft’ und ihrer Ideengeschichte vgl. auch Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft 2004, hier insbesondere S. 101–106.





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fangs kritisierte Ordnung zurückkehrt.286 Der Logik des Stückes nach lässt sich schließen: Man kann nicht beides wollen – individuelle Freiheit mit Verwirklichung subjektiver Wünsche und gleichzeitig Schutz vor den Kontingenzen einer turbulenten Umwelt. Auch vor diesem Hintergrund repräsentiert der Mord an Amalia das vollständige Scheitern Karl Moors. Aber auch das zur Verweigerung einer Preisgabe der eigenen Identität komplementäre Vorgehen wird in den Räubern experimentell durchgespielt: Die subjektive Selbstaufgabe und bedingungslose Unterordnung unter die Disziplin der Gruppe. Am Schicksal der Figur Schweizer lässt sich ablesen, dass auch dies notwendigerweise ins Verderben führt. Ohne dass objektiv eigenes Fehlverhalten auszumachen wäre (was hätte Schweizer auch gegen den Suizid Franz’ unternehmen können? Die Verfehlung des rechten Zeitpunkts ist reiner Zufall und nicht ihm anzulasten) findet sich dieser in einer Situation wieder, in der er die Erwartungen des Hauptmanns und damit der Gemeinschaft enttäuscht. Durchaus konsequent führt dies in der Folge zu einer Flucht in einen fatalistischen Suizid. Alle Beteiligten werden – paradoxerweise jeder auf andere und damit individuelle Art – von der, von ihnen selbst in einem Akt affektiver Überwältigung angestoßenen, Dynamik eingeholt. Moors Versuch der Kontingenzreduktion und des Schutzes vor Widerfahrnissen führt unintendiert zur ultimativen Widerfahrnis, dem Tod aller Beteiligten: Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass auch Karl Moor nach seiner Selbstauslieferung an die Justiz der Henker droht. Die Erfahrbarmachung von Kontingenz Dass nun auf der Ebene theatraler Kommunikation, insbesondere in der Akklamationsszene, ebenfalls große Anstrengung unternommen wird, um das Prinzip der Überwältigung zur Geltung zu bringen, lässt sich konsequent nur als Konstruktion einer reflexiven Beziehung zwischen der Art der Darstellung und dem Dargestellten deuten. Der Zuschauer mag von der Synchronisation der Massen in der Akklamationsszene stark affiziert sein, dieses Überwältigungserlebnis ist subtil auf verschiedene Weise schon im Kern gebrochen. Die reflexive Dopplung der Formen von Mitteilung und Information, die auch der Akklamation latent zueigne Heterogenität, die nach Thorsten Hahn eine media 286 Susanne Lüdemann weist darauf hin, dass die „Heimholung“ in die Vaterordnung praktisch alle „Brü-

der“ des Dramas, Karl und Franz wie auch die gewählten Brüderschaft der Räuber ereilt, dass also „[a]lle Brüder des Dramas, die leiblichen wie die politischen [...] verlorene Söhne [bleiben].“ Lüdemann, Zwischen Vaterordnung und Brüderbund. In: Der fiktive Staat. Hg. Von Albrecht Koschorke et al. 2007, S. 294.





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lisierende Wirkung entfaltet,287 und nicht zuletzt die Figurenkommentare Spiegelbergs, der Figur, die sich dem disziplinierenden Inklusionsdruck der Vergesellschaftung entlang der Vorstellungen des charismatischen Herrscher von Beginn an entzieht, setzen subtile Kontrapunkte zur immersiven Wirkung des gleichzeitig forcierten Überwältigungseffektes.288 Spiegelbergs an Karl gerichtete Orgelmetapher am Ende der Szene bringt es auf den Punkt: „Dein Register hat ein Loch!“ (I, 516) – Die harmonische Synthese der Interessen beinhaltet schon zu Beginn einen Missklang, die Überwältigungen auf der Bühne und durch die Bühne sind bereits gebrochen und die Kontingenz der neu geschaffenen Ordnung wird bereits im Moment ihrer Entstehung angedeutet.

Die doppelte (und dennoch gebrochene) Überwältigungsstrategie eines Stückes,

welches den Inklusions- oder Anpassungsdruck, den die Räuberbande auf die Individuen ausübt, vor allem in der Akklamationsszene mit die Zuschauer stark affizierenden Mitteln begleitet, ist somit als eine Art Spiel zwischen Bühnenhandlung und Darstellungsweise zu begreifen. Die Zuschauer können sich von den Massenszenen vereinnahmen lassen oder nur den Inhalt fokussieren – ihr Rezeptionserleben kann auch zwischen beidem oszillieren. Jedenfalls werden vom Drama systematisch Beobachtungsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen angeboten. Welche Seite der Differenz aus Handlung/Form die Beobachtenden selegieren, ist letztlich – ohne dass ihnen dies zunächst

287 Hahn, „Du Retter in der Not“ 2011, S. 65.

288 Ulrich Rasches Räuber-Inszenierung fokussiert genau diesen Zusammenhang, indem sie im Prinzip Inhalte und Wirkungen des Akklamations-Moments auf die gesamte Handlung extrapoliert. Die emotional-vereinnahmende Wirkung, aber auch der latente Bruch, welche beide schon der Akklamation zu eigen sind, werden hier mittels der synchronen Skansionen der Darstellenden auf Dauer gestellt, wobei das bereits im Text enthaltene irritative Moment eines sich dem Vergesellschaftungsprozess widersetzenden individuellen Widerstandes durch die Tatsache, dass die Darstellenden auf den Laufbändern gezwungen sind, nach vorne und damit aneinander vorbeizuschauen, nochmals herausgehoben wird. Die Kommunikationsform der Skansion verhindert dialogisches Sprechen und integriert so einen – Karl Moors Selbstgespräche aufgreifenden – solipsistischen Ausbruch aus der Überwältigungsdynamik in die Bühnendarstellung. Die Besetzung der Rolle Franz’ Moors durch Valery Tscheplanowa ist ebenfalls als Bestandteil dieser Unterbrechungs- und Irritationsstrategie zu lesen, und nicht nur als willkürlicher Einbau einer „Genderkomponente“ – sie knüpft darüber hinaus intertextuelle Bezüge zu den in Schillers frühen Texten gezeigten Überschreitungen geschlechtlicher Rollenidentitäten, etwa durch Leonore im Fiesko, und kann somit als integraler Bestandteil der Verhandlung dialektischer Dynamiken aus Erstarrung und Verflüssigung, Ordnung und Kontingenzsteigerung gedeutet werden. Auch dass „Rasche radikal auf Form [setzt]“ (Franzen, Männer im Ausnahmezustand. In: Frankfurter Rundschau vom 25.09.2016) ist keine vom Text losgelöste Entscheidung eines Regietheatermachers. Die Formalisierung ist – wie dieses Kapitel zeigen sollte – dem Text der Räuber und insbesondere der Szene I,2 und dem dort gezeigten Akklamations-Akt bereits – wenn auch subtiler – eingeschrieben. Rasche fokussiert und hypostasiert diesen Effekt. Der zeitlichgesellschaftliche Kontext – die historischen Erfahrungen, die das 20. Jahrhundert mit totalisierenden Massenbewegungen gemacht hat – bilden hier ein (Schillers experimentell angelegten Versuch einer Ergründung gruppenbezogener Exklusions- und Inklusionsdynamiken) ergänzendes Irritationspotential für Zuschauer und Zuschauerinnen des 21. Jahrhunderts, das Rasche funktional in die Kalkulation der Wirkungen seiner Inszenierung miteinbeziehen kann.





1.2.3 Soziale Dynamiken und Performativität …

171

bewusst sein muss – kontingent.289 Diese Unterscheidung und damit auch deren Kontingenz werden selbst erst im Rahmen einer Beobachtung zweiter Ordnung sichtbar. Dass es Schiller auch darum geht, Derartiges erfahrbar zu machen, lässt sich sehr deutlich an einem Paratext zu der Verschwörung des Fiesko zu Genua zeigen, der eben jene Erfahrungen von homogenisierten Emotionen innerhalb der Institution des Theaters reflektiert. In seiner vor der Mannheimer Aufführung im Theater angeschlagenen Erinnerung an das Publikum schreibt Schiller: Heilig und feierlich war immer der stille, der große Augenblick in dem Schauspielhaus, wo die Herzen so vieler Hunderte, wie auf den allmächtigen Schlag einer magischen Rute, nach der Phantasie eines Dichters beben – wo herausgerissen aus allen Masken und Winkeln der natürliche Mensch mit offenen Sinnen horcht – wo ich des Zuschauers Seel am Zügel führe, und nach meinem Gefallen einen Ball gleich dem Himmel oder der Hölle zuwerfen kann. (I, 754)

Beschrieben wird hier die Synchronisation der Emotionen des Publikums nach den Vorstellungen des Dichters. Losgelöst von den Normen der gesellschaftlichen Realität ist den Zuschauenden im Theater ein natürlich-authentisches, aber auch totalisierendes Empfinden möglich. Performativ ruft der Text den Theatergängern jedoch ins Bewusstsein, dass sie nicht nur beobachtende Subjekte sondern auch Objekte von Beobachtungen (hier: des Dichters) sind. Das Publikum wird so auch an sich selbst erinnert. Auch dadurch, dass dies gerade vor der Aufführung geschieht, ergibt sich ein Anreiz zur Selbstbeobachtung. Nicht nur wird so eine Reflexion authentischen Empfindens angeregt, sondern auch ein Bewusstsein für die Kontingenz der im Beobachten gewählten Unterscheidungen geschaffen. Den Zuschauenden kann so unter anderem deutlich werden, ob sie ihre Beobachtungen an der Form oder am Inhalt des Dargestellten ausrichten. Er kann sich auf diese Weise ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass je andere Beobachtungsentscheidungen möglich wären bzw. dass das Kunstwerk eine überschüssige Komplexität beinhaltet, die variable Beobachtungen bzw. Deutungen ermöglicht (aber eben auch eine Auswahl notwendig macht bzw. eine Beobachtungsentscheidung erzwingt). Vor allem in dieser anschaulich gemachten Komplexität und den aus ihr ableitbaren Kontingenzen liegt dann auch die strukturelle Ähnlichkeit zwischen der dargestellten Welt im Stück und der gesellschaftlichen Realität außerhalb.







289 Genau genommen kann er sogar die Kontingenz selbst selegieren, indem er – wie angedeutet – auf die

Oszillation aus Inhalt und Form fokussiert





Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

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1.3 Close Reading der Anekdote Eine großmütige Handlung In den vorangehenden Abschnitten dieser Arbeit wurden Metaphern- und Motivanalysen sowie Untersuchungen spezifischer Techniken der Textorganisation wie auch die Etablierung diverser Beobachtungsperspektiven in Schillers Jugendwerk in den Blick genommen. Über diese verschiedenen methodischen Zugriffe konnte sichtbar gemacht werden, auf welch differenzierte Weise sich Schillers Bearbeitung der Kontingenzthematik bereits in den 1780er Jahren vollzog. Um kontrastiv aufzuzeigen, dass Schillers Texte Kontingenzphänomene auf verschiedenen Ebenen verhandeln – auf ihrer Inhaltsebene, über ihre Performativität, in ihren textinternen Metaphern und Motiven, aber auch über bestimmte Verzeitlichungsstrategien – bestand die Notwendigkeit, eine Vielzahl an Textstellen verschiedener Texte in Bezug zueinander zu setzen.

Zur Vermeidung des Eindrucks, dass es sich dabei um eine selektive Auswahl von

Textstellen handelt, welche die Bedeutung von Schillers Reflexionen über Kontingenz und ihrer Verzeitlichung zwar belegen, gleichzeitig aber überbetonen, scheint es sinnvoll, auch ganze Texte, nicht nur Textausschnitte, auf ihre Verhandlung von Kontingenz und Zeitlichkeit zu untersuchen. Eben dies soll der folgende Abschnitt dieser Arbeit leisten. Zu diesem Zweck sollen das Gedicht Empfindungen der Dankbarkeit und die Anekdote Eine großmütige Handlung herangezogen werden. Die Kürze beider Texte bietet dabei den Vorteil, dass Close Readings vorgenommen, gleichzeitig aber auch die diskurshistorischen Kontexte, in die sich Schiller mit diesen Texten einschreibt, berücksichtigt werden können. Dies ist insofern wichtig, weil es verdeutlicht, dass die Weiterentwicklungen und die Ausdifferenzierung des Kontingenzdenkens Schillers nicht auf ‚geniehaften’ Einfällen beruhen, sondern auf einer Fortschreibung vorgängiger Diskursstände. Kontexte I – Fieberschrift und ‚Dialogue de l’Amour et de la Raison’ Die in der medizinwissenschaftlichen Dissertation Über die Unterscheidung von entzündungsartigen Fiebern und Faulfiebern zutage getretenen Grenzen der klassifikatorischen Methode und die damit verbundene Notwendigkeit der Kontingenzanerkennung290 vollzogen sich – so die Annahme des folgenden Kapitels – im Rahmen einer umgreifenden und auch weitere Texte umfassenden Reflexion Schillers. In den Blick geraten dabei un

290 Vgl. auch Kapitel 1.2.1.





1.3 Close Reading der Anekdote Eine großmütige …

173

ter anderem die kurze, wohl im Sommer 1782 entstandene, Anekdote Eine großmütige Handlung und das Gedicht Empfindungen der Dankbarkeit. Eine Annahme der vorliegenden Arbeit lautet dabei zudem, dass wichtige diskursive Bezüge des Textes in dem seit dem 17. Jahrhundert vor allem im französischen Klassizismus virulenten ‚Dialogue de l’Amour et de la Raison’ zu suchen sind, einem literarischen Diskurs, in welchem allegorische Figurationen der Liebe und der Vernunft in einen verbalen Wettstreit treten.291 Mit dem Gedicht Empfindungen der Dankbarkeit leistet Schiller (und im übrigen auch mit dem beiden ab der Karlsschule gehaltenen Festreden) bereits sehr früh einen Beitrag zum Diskurs von Tugend und Liebe. Das Gedicht wird daher hier als Prätext zur Anekdote Eine großmütige Handlung gelesen, da es in der Diskussion des Verhältnisses von Tugend und Liebe Aporien zutage fördert, die in der Anekdote einer spezifischen Lösung zugeführt werden. Dabei interessieren die Phänomene Tugend und Liebe an dieser Stelle vor allem anhand ihrer diskursiven Zuordnungen zum Ordnungs- beziehungsweise Kontingenzparadigma. Die leitende These des Gesamtkapitels lautet, dass die Besonderheit von Eine großmütige Handlung darin zu sehen ist, dass in dieser die Zusammenführung des Liebe- und Tugenddiskurses aus dem ‚Dialogue de l’Amour et de la Raison’ (wie er in dem Gedicht) sichtbar wird mit den in der Dissertation Über die Unterscheidung von entzündungsartigen Fiebern und Faulfiebern entwickelten rationalistischen Entscheidung- und Unterscheidungsverfahren erprobt und mit der neuzeitlichen Vertragstheorie in Verbindung gesetzt wird. Dies soll Grundlage für die Fragen sein, inwieweit Schiller schon in seinen frühen Texten eine literarische Verarbeitung gesellschaftlicher Veränderungen zur Zeit der Spätaufklärung unternimmt und inwieweit er in diesen die damit einhergehende Neubeschreibung des Phänomens der Kontingenz unter Einbeziehung der Zeitdimension nachvollzieht.

Die Bezüge zwischen dem ‚Dialogue de l’Amour et de la Raison’ und den gesell-

schaftlichen Transformationsprozessen um 1800 sind von Niklas Luhmann in Liebe als Passion dezidiert beschrieben worden. Zentrales Phänomen ist dabei der Übergang von der Vorstellung einer idealen Homöostase zwischen Liebe und Vernunft hin zu einer Akzeptanz der Inkommensurabilität beider Prinzipien, die nun als vollständig voneinander entkoppelt gedacht werden.292 Das Streben nach einem Gleichgewicht zwischen ‚Raison’ und ‚Amour’ wendet sich dabei selbst gegen eine ältere Tradition, in deren Zent

291 Vgl. dazu Luhmann, Liebe als Passion 1982, S. 119-122. 292 Vgl. ebd., S. 119 und 122.





Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

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rum die Forderung nach einem Primats der Vernunft gegenüber der vor allem in der Eigenschaft des Irrationalen gezeichneten Liebe stand.293 Die Gleichgewichtsfigur steht somit für eine mittlere Phase, der die Vorstellung eines Primats der Vernunft vorangeht und der sich die Auffassung von Liebe als einem Bereich, auf den die Vernunft keinen Einfluss haben kann und darf, nachfolgt. Die Liebe soll in dieser mittleren Phase nicht mehr, wie das bis dahin der Fall war, durch die Vernunft geordnet und gebändigt werden. Stattdessen wird das rationalistische „Ideal [...] in einen Gegensatz von Vernunft und Liebe aufgelöst, der keine hierarchisch-domestizierende Lösung zulässt, sondern nur noch eine Art sozial-reflexive Spiegelung der Gegeninteressen im jeweils anderen Prinzip.“294 Angestrebt wird ein Gleichgewicht, in welchem die Vernunft anerkennen muss, dass der Liebe eine „eigene Domäne“ reserviert ist und in der die Liebe sich „bewusst [bleibt], daß sie nicht mit der Vernunft konkurrieren kann, denn diese muss eine Universalzuständigkeit wahrnehmen. Die kann ihr die Liebe nicht abnehmen.“295 Luhmann betont, dass diese Universalzuständigkeit der Vernunft im ‚Dialogue de l’Amour et de la Raison’ mit der Dimension des Gesellschaftlichen zusammengedacht wird: „Im Dialogue vertritt, und das ist der entscheidende Punkt, die Vernunft die in ihren strukturellen Erfordernissen gegebene Gesellschaft.“296 In den sozialen Anforderungen, welche die diskursive Praxis in dieser Phase bestimmen, werde die stratifikatorische Gesellschaftsgliederung der vormodernfeudalistischen Ständeordnung evident. Indem die Vernunft vor allem „[d]ie elterliche (väterliche) Bestimmung des Ehepartners für Sohn bzw. Tochter und die Schichtgleichheit der Ehe bzw. der Intimbeziehungen“297 beschreibt und vertritt, repräsentiert und stabilisiert sie eine wohlgeordnete traditionell strukturierte Gesellschaft gegenüber den kontingenten Einflüssen der Liebe. Dennoch werde die Liebe gegenüber der Vernunft nicht marginalisiert wie in früheren Zeiten, die Gleichwertigkeit beider Prinzipien zeige sich stattdessen etwa in der Überzeugung, dass „[d]ie Eltern einen Fehler begehen, wenn sie die Liebe nicht konsultieren, bevor sie über eine Ehe ihrer Kinder entscheiden.“298

In der Spätaufklärung könne diese Homöostase jedoch immer weniger überzeu-

gen; die sich funktional ausdifferenzierende Gesellschaft könne keine stabilen Forderungen an die Liebe mehr stellen und „nachdem die Vernunft, die die [sich auflösende, 293 Vgl. ebd., S. 119. 294 Ebd. 295 Ebd., S. 120. 296 Ebd., S. 119.

297 Ebd.

298 Ebd., S.120.





1.3 Close Reading der Anekdote Eine großmütige …

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M.K.] ständische Gesellschaftsordnung vertritt, Partei geworden ist, fehlt eine Instanz für die Entscheidung des Konflikts und man wird sich fragen, ob eine solche Instanz jemals wieder den Titel der Vernunft wird tragen können.“299 Nun werde Liebe als ein selbstbezügliches Konzept entworfen, das nicht mehr an externe Vernunftgründe gekoppelt werden kann. Die Liebe „möchte gewissermaßen als Unruhe in Ruhe gelassen werden.“300 Der Versuch, die Kontingenz der Liebe zu domestizieren oder wenigstens vernunftmäßig einzuhegen, werde aufgegeben, ihre Kontingenz vielmehr vollständig anerkannt, was in der Konsequenz aber auch bedeutet, dass „Sinngebung [...] in der Liebe nur noch im Moment erreicht werden“301 kann. Die Homöostase aus Liebe und Vernunft werde demnach also an der Schwelle zur Moderne transformiert zur Vorstellung einer Idiosynkrasie der Liebe.

Unmittelbar einleuchtend ist dabei, dass die Entwicklung dieses Diskurses kei-

neswegs in einer linearen Folge distinkter Phasen verläuft, sondern vielmehr geprägt ist durch Übergänge und Grauzonen. Phänomene der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen treten dabei sowohl zwischen verschiedenen Autoren als auch innerhalb des Werksverbundes eines Autors oder sogar innerhalb eines einzelnen Werkes auf. Die Frage nach der genauen Positionierung Schillers in diesem Diskurs kann dabei nicht nur zum besseren Verständnis einzelner seiner Texte beitragen, sie kann auch intellektuelle Entwicklungen innerhalb seines Werkes verständlich machen. Kontexte II – Das Gedicht Empfindungen der Dankbarkeit Bei dem ersten Beitrag Schillers zu diesem Diskurs, dem Gedicht Empfindungen der Dankbarkeit ist jedoch neben den intertextuellen Zusammenhängen auch der situative Kontext zu berücksichtigen. Das Gedicht wurde 1778 für den öffentlichen Vortrag im Rahmen der – den Werten von Tradition und Disziplin durchaus verpflichteten – Karlsschule verfasst. Der Anlass des Gedichts ist der Namenstag Franziskas von Hohenheim, der damals offiziellen Mätresse und späteren Gattin des Herzogs Carl Eugen. Der schulische Rahmen, der dem Vortrag auch den Charakter einer Prüfungssituation verleiht, sowie die Anwesenheit der Adressatin, der Lehrer und nicht zuletzt des Herzogs selbst setzen den Texten gewisse Schranken. Gerade die Liebesthematik muss dem Redner in diesem Zusammenhang ein gewisses Fingerspitzengefühl abgenötigt haben. Dem 299 Ebd., S.122.

300 Ebd., S. 122. 301 Ebd.





Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

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entsprechend hebt Peter André Alt (hier unter Bezug auf die identisch situierte erste Festrede) hervor, dass „Schiller [...] sich dessen bewußt [war], daß seine Rede keineswegs nur das Zeugnis rhetorischer Schulübungen, sondern auch das Dokument einer schalen Huldigungsszene mit festgelegten Rollen darstellte.“302 Trotz dieses nicht unproblematischen Kontexts ist das Gedicht– so die These an dieser Stelle – nicht nur als inhaltsleere Panegyrik auf Franziska von Hohenheim zu lesen, es kann durchaus auch als eigenständiger Beitrag zum ‚Dialogue de l’Amour et de la Raison’ aufgefasst werden und einen Einblick in das Kontingenzdenken des jungen Schillers liefern.

In dem zweigliedrigen Gedicht Empfindungen der Dankbarkeit beim Namensfeste

Ihrer Excellenz der Frau Reichsgräfin von Hohenheim (1778) (werden die elf vierversigen Strophen der mit der Überschrift „I. Von der Akademie“ versehenen ersten Gedichthälfte (I, 15–17, V. 1–44) mit vier zehnversigen Strophen kontrastiert, welche unter dem Zwischentitel „II. Von der Ecole des Demoiselles“ (I, 17–18, V. 45– 84) geführt werden. Das Gedicht huldigt der Adressatin also, indem es Ehrerbietungen der Karlsschüler und der Schülerinnen ihrer Partnerinstitution, deren Vorstand Franziska von Hohenheim innehatte, zur Schau stellt. Sehr deutlich treten dabei – den Stereotypen des ‚Dialogues’ sowie des 18. Jahrhunderts entsprechende – Geschlechterzuschreibungen zutage, denen gemäß die männlichen „Eleven“ der Akademie eher als Repräsentanten von Tugend und Ordnung, die „Demoiselles“ der École dagegen stärker als Vertreterinnen des ungeordnet-kontingenten Paradigmas der Liebe und des Gefühls erscheinen. Deutlich wird dies bis in die formale Struktur des Gedichts hinein. Während die elf Quartette der Akademie dem Versmaß des Endecasillabo entsprechend durchgehend in Kreuzreimen mit alternierend männlicher und weiblicher Kadenz enden und damit einen fast symmetrisch geordneten Aufbau aufweisen, besitzen die vier Dekastichen der École weder ein einheitliches Reimschema noch eine irgendwie geartete Systematik bei den Kadenzen.303 Im ersten Teil des Gedichts weisen hingegen selbst die Abweichungen vom Versmaß des 302 Alt, Schiller Bd. I. 2000, S. 104; Alt verweist dabei vor allem auf die Vehemenz, mit welcher der Text

dem potentiellen Vorwurf der Schmeichelei entgegenzuwirken versucht: „Der heftige Ton, in dem er den Verdacht der Heuchelei von sich weist, spiegelt den Zwang, dem der Rhetor bei seinem öffentlichen Auftritt gehorcht: der da auf dem Podium stand, sprach gleichsam mit gebeugtem Rücken.“ (vgl. ebd.). Eine ähnliche Argumentation findet sich auch in Friedrich Strack, Schillers Festreden 1990, S. 114. Strack geht sogar soweit zu behaupten, dass nicht mehr die Angemessenheit der Rede an ihren Gegenstand [...] das erste Postulat der rhetorischen Übung“ der Karlsschüler war, sondern dass der Inhalt hinter der Wirkung zurücktreten sollte: „[D]er Zweck der Rede war die Rede selbst“ (Vgl. ebd.). 303 Die erste Strophe besteht aus einem Schweif- und einem Paarreim, die zweite folgt überhaupt keinem klaren Reimschema, die dritte weist einen Kreuz- und einen Schweifreim auf, die vierte zwei Kreuz- und einen Paarreim (aabccbddee – abaabcdcdc – ababccdeed – ababcdcdee).





1.3 Close Reading der Anekdote Eine großmütige …

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fünfhebigen Jambus noch eine gewisse Struktur auf,304 wohingegen sich im zweiten Teil vier-, fünf- und sechshebige Jamben ohne erkennbare Systematik abwechseln. Auch auf der inhaltlichen Ebene erfolgt eine entlang der Gedichthälften verlaufende Gegenüberstellung der Topoi Ordnung und Emotionalität. Gleich im ersten Vers der zweiten Hälfte ist die Rede von „Gefühlen“ (V. 45), die des „Herzens Saiten zu Gesängen“ (V. 46) bewegen. Auch in deren weiterem Verlauf ist noch mehrfach vom „Herzen“ die Rede (vgl. V. 48, 65, 75, 82). Mit „Entzücken“ (vgl. V. 55) und „Empfindung“ (vgl. V. 60, 69, 71) werden schließlich weitere Aspekte der Emotionalität aktiviert, die auch Tränen der Rührung hervorrufen (vgl. V. 66). In Vers 76 fällt schließlich auch der wichtige Begriff der ‚Liebe’. Franziska von Hohenheim wird den im 18. Jahrhundert gängigen Vorstellungen von Weiblichkeit und Liebe entsprechend im Fortgang des Gedichtes von den Elevinnen der École dann vor allem in ihrer Rolle als liebende Mutter verehrt (vgl. V. 49, 54, 61, 70). Der den Akademieschülern zugeordnete erste Teil des Gedichts ist demgegenüber zwar keineswegs frei von emotionalen Äußerungen – hier zeigen sich schon die Einflüsse des englischen Sensualismus und der vier Jahre zurückliegenden Werther-Lektüre Schillers – er steht jedoch in deutlichem Kontrast zum zweiten Teil dominiert von einer intellektualisierten Perspektive. Diese zeigt sich insbesondere darin, dass hier nicht wie im Lob der Demoiselles die Wirkungen Franziskas auf die Affekte des Einzelnen thematisiert werden, sondern vielmehr Franziskas positiver Einfluss in die Gesellschaft hinein im Mittelpunkt steht, womit auch die für den ‚Dialogue de l’Amour et de la Raison’ so typische Identifikation von Gesellschaft und Vernunft reproduziert wird:





Sie ist der Dürftgen Trost – Sie gibt der Blöße Kleider Dem Durste gibt sie Trank, dem Hunger Brot! Die Traurigen macht ihr Anblick heiter Und scheucht vom Knabenlager weg den Tod. Ihr Anblick segenvoll – wie Sonnenblick den Fluren Wie wenn vom Himmel Frühling niederströmt, Belebend Feuer füllt die jauchzende Naturen Und alles wird mit Strahlen überschwemmt. So lächelt alle Welt – So schimmern die Gefielde, Wenn sie wie Göttin unter Menschen geht Von ihr fließt Segen aus und himmelvolle Milde Auf jeden, den ihr sanfter Blick erspäht.

304 Es finden sich Sechsheber im jeweils ersten Vers der fünften bis neunten Strophe sowie im dritten Vers

der siebten und neunten Strophe. Außerdem endet die zehnte Strophe in einem Vierheber, während die elfte Strophe die in den vorherigen schon eingeführten Abweichungen des Sechshebers im ersten Vers und des Vierhebers im letzten Vers kombiniert.





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Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ... Ihr holder Name fliegt hoch auf des Ruhmes Flügeln Unsterblichkeit verheißt ihr jeder Blick. (V. 21–34)

Entscheidend ist hier nicht die Beschreibung der Person Franziskas, die sich ja ebenfalls nicht ohne weiteres von der im 18. Jahrhunderts so wirkmächtigen stereotypisierenden Geschlechterdichotomie abhebt – mit Attributen wie ihrer „Milde“, ihrem „sanfte[n] Blick“ oder ihrem schönen „Anblick“ aktiviert Schiller hier die gängigen Elemente des damaligen Frauenbildes. Entscheidend ist aber die parallel dazu verlaufende und auch dominanter ausgeprägte Allegorisierung der Adressatin zu einer göttlichen Figur. Zudem wird das Bild der auf diese Weise idealisierten Gräfin auf pointierte Weise mit dem Tugend-Paradigma verknüpft: „Umglänzt von tausend tugendsamen Taten / Seht die belohnte Tugend – Sie!“ (V. 39–40). Indem Franziska von Hohenheim gleichzeitig mit dem Göttlichen und mit der Tugend identifiziert wird, werden Göttlichkeitsideal und Tugendparadigma zusammengerückt.305 Und wenn von den Eleven der Akademie vor allem Franziskas positive Wirkung auf die Gesellschaft betont wird, so ist es gleichzeitig auch die positive Wirkung der Tugend auf die Gesellschaft, die hier im Fokus steht. Es erfolgt hier also die klassisch-traditionelle Gleichsetzung von Tugend (und implizit der ihr zugrunde liegenden Ratio) mit der gesellschaftlichen Ordnung (und implizit ihrer Prästabilisierung durch die göttliche Instanz). Dass diese durch die männlichen Schüler vorgenommen wird, entspricht ebenfalls der gängigen diskursiven Praxis des 18. Jahrhunderts. Interessant ist hingegen die Bezugnahme dieses Komplexes auf eine weibliche Person. Sie zeigt – und darum soll es hier gehen – Schillers frühe und später immer wieder praktizierte Versuche, auf literarisch experimentelle Weise mit gängige Vorstellungen umzugehen. Die Bezüglichkeit von Tugend und Weiblichkeit in Schillers Gedicht kann indes schwerlich als Beleg für ein besonders fortschrittliches Frauenbild des jungen Schiller dienen. Gerade die Verklärung Franziska zu einer göttlichen Figur läuft dem zuwider. Franziska wird als Ausnahmeerscheinung verklärt, die ihren positiven Einfluss auf die Gesellschaft und ihre Verkörperung eines allgemeinen Tugendideals quasi nur unter Überwindung ihrer Weiblichkeit erlangt. So verstanden, ist Schillers Text eher geeignet, die Geschlechterstereotype seiner Zeit zu stabilisieren, als zu unter

305 Zu beachten ist allerdings, dass die im Liebes- und Tugenddiskurs dominanten Zuordnungen von Tu-

gend–Männlichkeit und Liebe–Weiblichkeit schon vorher (in bestimmten Kontexten) durchbrochen wurden. Sicherlich auch aufgrund empirischer Evidenz wird natürlich im Grunde nie behauptet, dass männliche Liebe oder weibliche Tugend nicht existierte. Die archetypische Zuordnung wird dadurch jedoch nicht erschüttert, was sich etwa daran zeigt, dass weibliche Tugend im Prinzip auf eine Einzelbedeutung verengt und synonym für ‚weibliche Keuschheit’ gebraucht wird. Die These an dieser Stelle ist jedoch, dass Schillers Gedicht die Zuordnungen partiell aufzubrechen beziehungsweise neu vorzunehmen versucht (ohne dabei jedoch den Geschlechterstereotypen seiner Zeit entkommen zu können!).





1.3 Close Reading der Anekdote Eine großmütige …

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laufen. Zu bedenken ist also stets, dass es Schiller in diesem Punkt (wie auch an anderen Stellen seines Werkes) mehr um das intellektuelle Spiel mit Vorstellungen und Denktraditionen geht als um eine aktive Veränderung gesellschaftlicher Normen.306 Analytisch bedeutsam ist demgegenüber jedoch, dass der Text nicht bei der abstrakten Feststellung eines existierenden Einflusses der Tugend auf die Gesellschaft stehen bleibt, sondern auch konkreten Aufschluss darüber gibt, wie die Tugend im Sozialen wirkt. In der Erläuterung, sie gebe den „Dürftigen Trost“, dem „Durste [...] Trank“, dem „Hunger Brot“, sie mache den „Traurigen [...] heiter“ und heile sogar den Kranken, wird nicht nur eine Beseitigung von Mangelerscheinungen, sondern auch die Wiederherstellung einer aus dem Gleichgewicht geratenen Ordnung skizziert. Die Tugend wirkt hier jedoch nicht nur als ordnendes Agens, sie tritt zudem selbst zusammen mit der Grazie in ein homöostatisch geordnetes Verhältnis:



Ein Fest, wo Tugenden mit Grazien Harmonisch ineinandertraten Und in dem schönsten Bunde sollten stehn. (V. 6-8)

Die Grazien sind – als Begleiterinnen der Venus – Figurationen der Liebe. In dem Gedicht können sie jedoch sowohl die Geselligkeit des Festes wie auch die Herstellung einer Harmonie auf geeignetere Weise verkörpern als die Einzelgöttin. Diese Harmonie verwirklicht auch das Gedicht in Form der von Luhmann für die hier relevante mittlere Phase des ‚Dialogues’ als konstitutiv beschriebenen Figur einer reflexiven Spiegelung von Liebe und Tugend im jeweils anderen Prinzip: Im Herzen thronet sie und Freudentränen spiegeln Franziskens holdes Himmelsbild zurück. (V. 35f.)

In den Tränen der versammelten Festgemeinde konkretisiert sich die Verbindung emotional-affektiver Innerlichkeit und göttlich-abstrakter und damit in der Logik des ‚Dialogues’ das Gesellschaftliche repräsentierender Äußerlichkeit. Der die Träne hervorbringende Gefühlsausbruch ist Ermöglichungsbedingung für die Reflexion des Tugendideals. Bemerkenswert ist jedoch vor allem, dass sich schon an dieser Stelle latent die zentrale Aporie in Schillers Vorstellung des Verhältnisses von Tugend und Liebe zeigt. Die Forderung nach einem Gleichgewicht zwischen Liebe und Tugend wird hier nämlich von der männlichen, die Tugend repräsentierenden Seite erhoben. Dies ist zunächst nicht unplausibel, berücksichtigt man, dass das Prinzip des Gleichgewichts selbst ein

306 Auch Zweiteres spielt in seinen Texten durchaus eine Rolle. Wichtig ist nur, zwischen Beidem zu unter-

scheiden und intellektuelle Spiele nicht per se für progressive Veränderungsversuche zu halten.





Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

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Ordnungsprinzip darstellt, sodass die Forderung nach seiner Etablierung konsequenterweise von Seiten der Ordnung (Tugend), nicht von Seiten der Kontingenz (Liebe) erhoben werden muss. Wenn es aber die Ordnung ist, die ein Gleichgewicht aus Ordnung und Kontingenz hervorruft, also das Verhältnis zwischen beiden Prinzipien ordnet, liegt ein Zirkelschluss vor. Die Artikulation der Forderung nach einer Homöostase aus Tugend und Liebe durch die Tugend etabliert unintendiert eine Dominanz der Tugend über die Liebe. Es handelt sich damit um ein Beispiel für das „‚re-entry’ einer Unterscheidung in das durch sie selbst Unterschiedene.“307 In einem derartigen ‚re-enty’, so Luhmann, „[kommt] [d]ie Differenz System/Umwelt [...] zweimal vor: als durch das System produzierter Unterschied und als im System beobachteter Unterschied.“308 Und Luhmann zeigt auch auf, dass dies der Moment ist, an dem rationalistische Paradigmen an ihren eigenen Voraussetzungen zerbrechen müssen: Mit dem Begriff des ‚re-entry’ zitieren wir zugleich angebbare Konsequenzen, die George Spencer Brown als Schranken eines auf Arithmetik und Algebra beschränkten mathematischen Kalküls dargestellt hat. Das System wird für sich selbst unkalkulierbar. Es erreicht einen Zustand von Unbestimmtheit, der nicht auf die Unvorhersehbarkeit von Außeneinwirkungen (unabhängige Variable) zurückzuführen ist, sondern auf das System selbst.309

Wird die Aporie erkannt, kann ihr nur mit einer weiteren Systemdifferenzierung beziehungsweise einem Wechsel in ihrer Codierung begegnet werden. Im Falle des ‚Dialogue de l’Amour et de la Raison’ geschieht dies, indem die Liebe vollständig aus den Machtbereich der Vernunft entlassen und in ihrer Einzigartigkeit, aber zum Preis uneingeschränkter Anerkennung ihrer Kontingenz beschrieben wird. Die Verortung von Schillers frühem Gedicht Empfindungen der Dankbarkeit in der diskursiven Formation des ‚Dialogues’ ist nun an dem Punkt zu suchen, an dem die Aporien der Vernunft immer stärker zutage treten und die Rede von der Dominanz des Rationalen als problematisch ausweisen, ohne jedoch schon eine Autonomie der Liebe explizit artikulieren zu können. In ihrer Form als Irritationen sind sie aber dennoch geeignet, neue Anschlussmöglichkeiten für weitere Diskurse zu eröffnen.

In die Logik einer impliziten Dominanz des Vernunftparadigmas in Schillers Ge-

dicht fügt sich zudem bruchlos ein, dass die Elevinnen der École im vierten Dekastichon implizit die Unterlegenheit des von ihnen selbst repräsentierten Liebesparadigmas einräumen, wenn sie dessen Fokussierung auf den gegenwärtigen Moment im Kontrast zur

307 Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft 1997, S. 45. 308 Ebd.

309 Ebd.





1.3 Close Reading der Anekdote Eine großmütige …

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zeitüberdauernden Verlässlichkeit von Tugend und Vertrauen als Form der Inkonstanz bezeichnen:



Doch wenn auch das Gefühl, das unser Herz durchflossen, Bei aller Liebe reichlichem Genuß, Womit Sie, Edelste, uns übergossen, Erröten und erlahmen muß – So hebt uns doch das selige Vertrauen: Franziska wird mit gnadevollem Blick Auf ihrer Töchter schweres Opfer schauen – Franziska stößt die Herzen nie zurück! (V. 75 – 83)

Der Reziprozität der Gefühle zwischen Franziska und den Elevinnen wird mit Misstrauen begegnet. Dass das dem Tugend- und Vernunftparadigma zuzuordnende Vertrauen dabei nicht nur das ökonomische Denken von Leistung und Gegenleistung, also eine Reziprozität des Verdienstes, aufruft, sondern auch mit dem theologisch aufgeladenem „selig“ versehen wird, zeigt, wie stark hier die Werte der bürgerlichen Gesellschaft affirmiert und gleichzeitig an die traditionell-religiösen Prägungen der Feudalgesellschaft zurückgebunden werden. Das Gefühl ist hier, anders als etwa bei Amalias Wiederbegegnung mit Karl Moor, kein Zeichen von Authentizität, sondern stattdessen ein Symbol für Unverlässlichkeit und prekäre Momenthaftigkeit. Mit der dazu alternativen Bezugnahme auf das Vertrauen wird ein Thema eingeführt, welches schon in der frühneuzeitlichen Vertragstheorie als vernunftmäßiger und stabilisierender Gegenpol zu der Vorstellung eines von Kontingenzen und situativer Willkür bestimmten Urzustands etabliert wird.310

Das Gedicht weist also ein inneres Spannungsverhältnis auf, indem es eine Har-

monie aus Liebe und Vernunft beziehungsweise Kontingenz und Ordnung postuliert, diese jedoch gleichzeitig in seiner strukturellen Anlage selbst wieder unterläuft. Nun könnte man in dem Kippen dieses Balanceverhältnisses311 wiederum eine Rückkehr der Kontingenz sehen. Die an ihrer eigenen Hypertrophie zerbrechende Ordnung würde dann zu einer Art neuer Balance führen, da das Zerbrechen der Ordnung als Moment eines Kontingenzeinbruchs begriffen werden kann, der die vorgängige Hypertrophie der Ordnung kompensiert. Die so neu etablierte Balance aus Ordnung und Kontingenz stellt dann ihrerseits wieder eine erneute Dominanz der Ordnungsseite dar usw. Die Diagnose dieses sich so einstellenden infiniten Regresses ist nur eine andere Perspektive auf die 310 Am deutlichsten zeigt sich dies wohl bei John Locke, der immer wieder betont, dass ein Souverän, der

willkürlich handelt, das von seinen Vertragspartnern (also der Gesellschaft) in ihn gesetzte Vertrauen bricht, und damit einen Rückfall der gesamten Gesellschaft in den chaotischen Urzustand provoziert. Vgl. u.a. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung 1997, § 222, S. 338f. 311 Eingehende Analysen zur Denkfigur der Balance finden sich in: Zumbusch/Goebel (Hg.), Balance. Figuren des Äquilibriums in den Kulturwissenschaften 2020.





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oben beschriebene Aporie eines Textes, der versucht Ordnung (Tugend) und Kontingenz (Liebe) in ein Ordnungsverhältnis zu bringen. Dem in der Folge unauflöslichen Oszillieren zwischen beiden Seiten wird Schiller in der Anekdote Eine großmütige Handlung erneut nachgehen. Forschung zur Anekdote Eine großmütige Handlung Die im Vergleich zu anderen Werken Schillers doch recht überschaubare Forschungsliteratur zu Eine großmütige Handlung behandelt diesen mit dem Untertitel aus der neuesten Geschichte versehenen Text vor allem unter der Fragestellung nach dem Spannungsverhältnis aus der (in der Anekdote selbst formulierten Ambition) realistischer Darstellung und seiner moralischen Wirkungskraft. Anlass dazu gibt die kurze programmatische Vorrede, die auch eine Reihe vergleichender Interpretationen mit dem Verbrecher aus verlorener Ehre hervorgerufen hat,312 welcher einen ähnlich verfassten Prolog zu den moraldidaktischen Möglichkeiten historischer Geschichten aufweist. Vielfach wird Schiller von der Forschung dann attestiert, dass es ihm im literarischen Teil der Anekdote nicht gelingt, dem Anspruch der theoretischen Vorrede gerecht zu werden. Im Zentrum der Kritik stehen dabei vermeintliche Widersprüche313 innerhalb des Textes. Es werden zudem eine „Desorientierung des Erzählers“314 beobachtet sowie eine unreflektierte Tugendverherrlichung durch einen noch jugendlichen Autor ausgemacht.315 Erst Marina Mertens versucht Brüche im Text ernster zu nehmen und nach deren möglichen Bedeutungen zu fragen.316 Dadurch schließt sie produktiv an Christa Bürgers und Friedrich Kittlers Überlegungen zum klassifikatorischen Denken Schillers im Umfeld seiner durch Überwachen und Strafen gekennzeichneten Zeit an der Karlsschule an.317

Ursächlich für die weitgehende Divergenz der Deutungen ist nicht zuletzt wohl

die „Form der Erzählung, [die sich] durch die Skizzenhaftigkeit ihrer Anlage [auszeichnet] und damit durch den Verzicht auf ausführliche Schilderungen und detailverliebte 312 U.a. von Gerhard Kaiser, Der Held in den Novellen „Eine großmütige Handlung, aus der neuesten Geschichte“ und „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ 1978, S. 45-58. Kaiser geht dabei anders die meisten späteren Interpreten über die textimmanente Analyse der Erzählung Eine großmütige Handlung hinaus und fragt durchaus produktiv nach deren Perspektive auf die gesellschaftlichen Strukturen um 1800. 313 So etwa bei Koopmann, Schillers Erzählungen 1998, S. 701f. 314 Dedert, Die Erzählung im Sturm und Drang 1990, S. 223. Auch bei Hofmann, Eine großmütige Handlung, aus der neuesten Geschichte 2005, S. 301 wird gefragt, ob der Text dem Willen seines Autors zuwiderlaufende Wirkungen erzielt. 315 Auch hier ist Dedert (a.a.O.) an erster Stelle zu nennen. 316 Mertens, Anthropoetik und Anthropoiesis 2014. 317 Bürger, Schiller als Erzähler 1987 und Kittler, Carlos als Carlsschüler 1984.





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Beschreibungen.“318 Neben narrative Strukturen fokussierenden Herangehensweisen319 wurden daher häufig Kontextualisierungsversuche unternommen, welche die Anekdote in Bezug zur Erzählliteratur der Aufklärung320 oder eben zum Verbrecher aus verlorener Ehre setzen und damit der inhaltlichen Offenheit des Textes mit strukturierenden Bezügen begegnen. Die vorliegende Arbeit möchte den Anschluss an beide Ansätze suchen, dabei aber unter anderem auch auf begriffsgeschichtliche Kontexte eingehen. Vor allem aber verfolgt sie den Anspruch, die diskurshistorische Verortung der Anekdote in deren Deutung miteinzubeziehen. Die Ausgangssituation in der Anekdote Am Anfang der Anekdote können unter makrostrukturellen Gesichtspunkten zwei Hinführungen zur eigentlichen Handlung identifiziert werden. Sehr markant ist der von Hofmann als „Einleitung“321 und von Mertens als „metanarrative Passage“322 bezeichnete Beginn der Erzählung, in dem narratologische Überlegungen unternommen und intertextuelle Bezüge hergestellt werden. Daran schließt sich eine Passage an, in der in großer Distanz, Nullfokalisierung und starker Zeitraffung die Anlage eines grundlegenden Konfliktes skizziert wird. Zu Beginn dieser Passage wird die den Text bestimmende Konstellation aus einer Frau und zwei diese begehrenden Männern beschrieben: „Zwei Brüder, Baronen von Wrmb., hatten sich beide in ein vortreffliches Fräulein von Wrthr. verliebt, ohne daß der eine von der Leidenschaft des anderen wußte.“ (V, 9) Der vom Erzähler betonte Wahrheitsgehalt der Geschichte (Vgl. V, 9) lässt sich – jedenfalls was die grundsätzliche Anlage der Handlung betrifft – durchaus verifizieren. Die realen Vorbilder der Charaktere sind Friedrich und Ludwig von Wurmb, die sich beide in Christiane von Werthern verliebt und diesen Konflikt über eine Auswanderung des jüngeren Bruders nach Ostindien beigelegt haben.323 Ungeachtet der Tatsache, dass sich die Namen der Personen im Text von denjenigen ihrer realen Vorbilder nur durch eine Aus 318 Hofmann, Eine großmütige Handlung, aus der neuesten Geschichte 2005, S. 300. 319 Dass diesen Ansätzen stark verhaftete Arbeiten sowohl aufschlussreiche Details offenlegen und dabei

gleichzeitig zu deutlich divergierenden Schlüssen gelangen können, lässt sich an einer Gegenüberstellung Mertens, Anthropoetik und Anthropoiesis 2014 und Dedert, Die Erzählung im Sturm und Drang 1990 leicht nachvollziehen. 320 So etwa Hofmann, Eine großmütige Handlung, aus der neuesten Geschichte 2005, S. 299f. Hofmanns Handbucheintrag erkennt jedoch auch die Polysemie von Schillers Text an und geht darin weiter als die anderen Interpreten der Anekdote. 321 Hofmann, Eine großmütige Handlung, aus der neuesten Geschichte 2005, S. 299. 322 Mertens, Anthropoethik und Anthropoiesis 2014, S. 414. 323 Vgl. Hofmann, Eine großmütige Handlung, aus der neuesten Geschichte 2005, S. 299.





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sparung der Vokale abheben, müssen die Zeitgenossen Schillers den Namen der Frau – insbesondere wenn man die analoge Verortung beider Charaktere in ihren jeweils zur Darstellung kommenden Sozialgefügen in Rechnung stellt – als intertextuelle Bezugnahme auf Goethes Werther gelesen haben.324 Damit wird Goethes Epoche machender Briefroman als impliziter, jedoch nicht konkret angeführter Intertext aufgerufen, sodass zum einen eine wirkmächtige Folie für das Verständnis der Anekdote vorliegt und zum anderen darüber hinaus auch von einer gedanklichen Nähe zu den im Gedicht Empfindungen der Dankbarkeit (aber auch zu den an der Karlsschule gehaltenen Festreden Schillers) vollzogenen Überlegungen hinsichtlich Tugend und Liebe ausgegangen werden kann. Die Besonderheit der Konstellation in Eine großmütige Handlung liegt jedoch zunächst darin, dass eine Koinzidenz zwischen der auf die gleiche Person gerichteten Liebe zweier Männer beschrieben wird, die durch ein gleichzeitig existentes Informationsdefizit auf allen Seiten – „beide verschonten das Mädchen mit einem frühen Geständnis“ (V,9) – noch eine dramatische Steigerung erfährt. Dass „[b]eide [...] ihre Neigung zur ganzen Leidenschaft aufwachsen“ (V, 9) lassen, impliziert zudem das Ablaufen einer gewissen Zeitspanne bis zur Enthüllung der tragischen Konstellation. Es liegt somit eine Fragmentierung der Informationen vor: auf der Figurenebene verfügt niemand über das notwendige Wissen, um das tragische Potential der Situation erkennen zu können. Dieses wird erst zufällig durch ein „unerwartetes Begegnis ihrer Empfindungen“, welches „das ganze Geheimnis entdeckte“ (V, 9) offenbar und besteht nun darin, dass eine Erfüllung des Begehrens der logischen Anlage der Situation nach nur für einen der beiden Brüder möglich ist, welcher dann auch noch mit dem Bewusstsein zu leben hat, dass diese Erfüllung notwendig damit einhergeht, dass dem anderen Entsprechendes verwehrt bleiben muss. Es entsteht somit eine strukturell komplexe Sachlage, in der jeder der beiden Akteure nicht-intendierte, aber absehbare Nebenwirkungen seines Handelns in ein Verhältnis zu seinen Handlungszielen setzen und in seine Überlegungen dabei auch Annahmen über die Einschätzungen und Handlungsabsichten seines Gegen-

324 Immerhin hätte Schiller ja auch auf eine Erwähnung der Namen verzichten oder eine andere Form der

Abkürzung wählen können; insbesondere, da sich spätestens seit Gottscheds Leben der schwedeischen Gräfin von G** die Praxis etabliert hat, Nachnamen durch Anführung lediglich ihres ersten Buchstabens abzukürzen, eine Praxis, die auch in Schillers weiteren Erzählungen Anwendung findet. Auch dies spricht dafür, in der in Eine großmütige Handlung auftretenden Abweichung vom Normalfall einen intentionalen Charakter zu sehen.





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übers miteinbeziehen muss.325 Dass sich die beiden Brüder ihrer jeweiligen Präferenzen selbst erst bewusst werden und zwischen Eigennutz und der Vermeidung einer Beeinträchtigung der Interessen des anderen (also zwischen Egoismus und Gemeinschaftssinn) abwägen müssen, macht diese Situation in Kombination mit der beiderseits unvollständigen Informationslage (deren Veränderung wieder auf die ursprüngliche Präferenzbildung zurückwirken kann)326 zu einem paradigmatischen Beispiel für die Verhandlung kontingenten Entscheidungsverhaltens.327 Das Prekäre dieser Situation liegt auch darin, dass das 18. Jahrhundert – jedenfalls bis zur Romantik – die Institution der Ehe in ihrer Form einer auf Dauer gestellten Entscheidung zwar durchaus hinterfragt,328 in letzter Konsequenz jedoch meist ebenso bestätigt wie die Gleichsetzung von Paarbeziehung und Ehe. So kann etwa Gellerts schwedische Gräfin nur aufgrund der Tatsache, dass ihr Nicht-Wissen über das Weiterleben des ersten Gatten als Latenzschutz in die Handlung des Romans integriert ist, zweifach heiraten, und Rousseau ist es zwar möglich, seine Träumerei von einer „Gemeinschaft zu dritt“329 mit Sophie d’Houdetot und dem Marquis de Saint-Lambert in die Konzeption der Nouvelle Heloïse einfließen lassen, ins praktische Leben überführen kann er sie nicht.330 Selbst Goethe lässt noch 1809 das derart konzipierte Experiment der Wahlverwandtschaften tragisch enden. Gerade die Literatur der 1770er und 80er Jahre interessiert sich dabei jedoch im Allgemeinen weniger für eine Auslotung der 325 Es ergibt sich zunächst eine mit dem bekannten spieltheoretischen Beispiel des Gefangenendilemmas

vergleichbare Situation mit den Möglichkeiten, (1) dass keine Ehe zustande kommt, weil beide Brüder verzichten, dass (2) der ältere Bruder heiratet, weil der jüngere verzichtet, dass (3) der jüngere heiratet, weil der ältere verzichtet, oder dass (4) keiner dazu bereit ist, Verzicht zu üben, was dann aber konsequent zu einem potentiell gewaltsamen Bruderkonflikt führen muss. 326 Denkbar ist etwa, dass das Bekanntwerden, dass Alter eine kompromisslose Agenda verfolgt, bei Ego seinerseits die Bereitschaft eines Verzichts mindert. Wissen, Erwartungen und Vermutungen über die Agenda des anderen sind also relevant für die Präferenzbildung des einen, sodass Veränderungen im Wissensstand oder in den Erwartungen beziehungsweise Vermutungen damit auch das jeweilige Entscheidungsverhalten beeinflussen. 327 Vgl. Jungermann, Helmut et. al. (Hgg.), Die Psychologie der Entscheidung 2010, S. 262. Dort wird angeführt, „daß die Präferenzen der Entscheidungssituationen oft nicht a priori gegeben sind, sondern in Abhängigkeit von einer Vielzahl von Faktoren erst gebildet werden. Man sagt, das Entscheidungsverhalten sei kontingent [Hervorhebung im Original].“ Als Kennzeichen eines aus psychologischer Sicht kontingenten Entscheidungsverhaltens führen die Autoren an, dass Präferenzen für Entscheidungen hinsichtlich dessen, ob eine Option nur bewertet oder auch gewählt wird, ebenso variieren können wie in Abhängigkeit vom Informationsstand des Entscheidenden. Auch unter Zeitdruck könne es zu einer anderen Bewertung der Präferenzen und einem abweichenden Entscheidungsverhalten kommen als in einer Situation, in der ausreichend Zeit zur Verfügung steht. 328 In Eine großmütige Handlung zeigt sich dies auch darin, „daß dem Erzähler auch die Idee einer mehrmaligen Bindung geläufig“ ist, denn, „[i]ndem er die Intensität der Liebe der Brüder darauf zurückführt, daß ‚sie die erste war, schließt er spätere Beziehungen zumindest nicht aus.“ Dedert, Die Erzählung im Sturm und Drang 1990, S. 205. 329 Rang, Einleitung zu Rousseau, Emile oder Über die Erziehung 1963, S. 62. 330 Vgl. ebd., S. 36-39.





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Schwierigkeiten, die mit Versuchen, eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung herbeizuführen, notwendig einhergehen. Stattdessen wird etwa in Leisewitz’ Julius von Tarent, Klingers Die Zwillinge und in Schillers Die Räuber verdeutlicht, wie das Verfolgen einer kompromisslosen Strategie in der brüderlichen Auseinandersetzung um eine Frau in die Katastrophe führt. Die Zwillinge (und je nach Lesart auch Die Räuber) sind an dieser Stelle auch deshalb interessant, weil sie klar vor Augen führen, dass es für das Eintreten der Katastrophe hinreichend ist, wenn bereits einer der beiden Antagonisten eine in der Liebesfrage ausschließlich am Eigennutz orientierte Agenda verfolgt. Dass es in all diesen Dramen Brüder sind, die in teils erbitterte Konkurrenz zueinander treten, verschärft die tragische Dimension der Handlung.331 Es tritt dadurch zudem aber auch die gesellschaftsschädigende Wirkung des Eigennutzes markant hervor. Zur Anwendung kommt hier eine Variante der von Fritz Breithaupt anschaulich dargelegten Ästhetik, in der „das Ich [...] schlicht der Feind des Lessing’schen Ziels einer durch Mitleid vereinten Gemeinschaft“ ist.332 Von Lessing wird Ähnlichkeit noch zur fundamentalen Ermöglichungsbedingung emphatischer Einfühlung in den anderen erhoben.333 Zudem wird „Mitleid [...] dort als das Band der Gemeinschaft eingesetzt.“334 Wenn nun in den Dramen der 70er und 80er Jahre des 18. Jahrhunderts verstärkt Personen auftreten, die sich, da Brüder, ähnlicher nicht sein können, die aber dennoch in Auseinandersetzungen auf Leben und Tod eintreten, so sei dies auch lesbar als eine Infragestellung der generellen Gültigkeit von Lessings theoretischen Annahmen. Für Breithaupt handelt es sich bei diesem Phänomen eben um den „Einsatz des Ich als Blockade von zuviel Ähnlichkeit.“335 Bei Franz und Karl Moor handelt es sich zwar um ungleiche Brüder. Die Ungleichheit resultiert jedoch nicht daraus, dass prinzipielle Schranken gegenüber einer empathischen Einfühlung in den anderen bestünden. Gerade Franz ist durchaus sehr fähig, Karls Seelenleben nachzuempfinden. Er nutzt dies jedoch nicht zur Identifikation mit dem Bruder oder zur Bildung einer brüderlichen Gemeinschaft, sondern (im Gegensatz dazu) als Instrument, um Karl zu bekämpfen und zu übervorteilen. Wenn also auch bei größtmöglicher Ähnlichkeit kein Gemeinschaftsinteresse beziehungsweise kein identifikatorisches Wohlwollen mit dem Anderen zustande kommt, erweist sich die 331 Dies bestätigt schon Aristoteles, der in Poet., 1453b betont, „wenn ein Feind einem Feinde etwas derar-

tiges [Schlimmes; M.K.] antut, dann ruft er keinerlei Jammer hervor [...]. Sooft sich aber das schwere Leid innerhalb von Naheverhältnissen ereignet (z.B. ein Bruder steht gegen den Bruder oder ein Sohn gegen den Vater oder eine Mutter gegen den Sohn [...]) – nach diesen Fällen muß man Ausschau halten.“ 332 Breithaupt, Kulturen der Empathie 2009, S. 59. 333 Vgl. ebd. S. 57. 334 Vgl. ebd. 335 Vgl. ebd., S. 60.





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Tendenz zur Individualisierung gegenüber den Mechanismen der Gemeinschaftsbildung als stärker; die ‚amour propre’ zeigt sich dann als widerständig gegenüber dem ‚volonté générale’. In der Anekdote Eine großmütige Handlung wird eben dieses Spannungsverhältnis markant hervorgehoben, indem die Beschreibung der Ähnlichkeit beider Brüder so weit getrieben wird, dass keiner „ individuelle[] Konturen“ gewinnen kann, da beide „im Hinblick auf ihre Emotionen, Affekte und Handlungen völlig parallelisiert“ werden.336 Dies geschieht vor allem über die gleich viermal in fünf aufeinanderfolgenden Sätzen zur Anwendung kommende Pronominalform „beide.“ (V, 9)337 Auf diese Weise wird sehr deutlich illustriert, dass – Lessings Mitleidstheorie entsprechend – eigentlich idealtypische Voraussetzungen für eine Überwindung der Partikularinteressen beider Brüder vorliegen. Gleichzeitig wird darüber aber auch das Ich als die einzige und entscheidende „Instanz der Nicht-Ähnlichkeit“338 ästhetisch herausgehoben. So ähnlich die Brüder sich auch generell sind, in der Liebe für dieselbe Frau bricht diese Ähnlichkeit an ihrem beiderseits bedingungslosen Eigeninteresse. Bemerkenswert ist, dass sich in dem damit verbundenen Auseinanderklaffen von Identifikation und Empathie339 die Lessing’sche Vorstellung einer Interessen bündelnden Funktionsweise der Empathie in ihr genaues Gegenteil verwandelt. Die eine gegenseitige Einfühlung fördernde Ähnlichkeit sowie das jeweilige Wissen der Brüder um die eigene, am Eigennutz orientierte Agenda müssen fast zwangsläufig zu einem Misstrauen dem anderen gegenüber führen. In der „logischen Kalkulation“ der „zu erwartenden Reaktion“340 des anderen ist also die Tendenz angelegt, auch diesem ein nicht kooperatives, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit eigennütziges Verhalten zu unterstellen. In jedem Fall kommt es zu einer weiteren Zunahme der Unsicherheit in der dargestellten Entscheidungssituation und damit verbunden zu einer zusätzlichen Steigerung von Komplexität und Kontingenz. Im Moment des zufälligen „Begegnisses ihrer Empfindungen“ (V, 9) werden die Brüder jedoch nicht nur in diese fatale Entscheidungssituation versetzt. Gleichzeitig enthüllt sich ihnen auch auf tragische Weise, dass im Zeitverlauf ein mittlerweile kaum

336 Mertens, Anthropoetik und Anthropoiesis 2014, S. 419. 337 Vgl. Dedert, Die Erzählung im Sturm und Drang 1990, S. 205. 338 Breithaupt, Kulturen der Empathie 2009, S. 64. 339 Die Brüder können sich gut in den jeweils anderen einfühlen, ohne sich mit ihm zu identifizieren. Wis-

sen um Gedanken und Gefühle des anderen liegen hier also vor, führen jedoch nicht zu Kompromissbereitschaft. Zur Divergenz von Identifikation und Empathie vgl. auch Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie 2017, S. 125–148. 340 Breithaupt, Kulturen der Empathie 2009, S. 80.





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mehr hintergehbarer Zustand erreicht worden ist, in dem Handlungsmöglichkeiten, die zu einem früheren Zustand noch existierten, anscheinend unmöglich geworden sind: Schon war die Liebe eines jeden bis auf den höchsten Grad gestiegen, der unglückseligste Affekt, der im Geschlechte der Menschen beinah so grausame Verwüstungen angerichtet hat als sein abscheuliches Gegenteil, hatte schon die ganze Fläche ihres Herzens eingenommen, daß wohl von keiner Seite eine Aufopferung möglich war. (V,10)

Die Nachträglichkeit des Erkennens wird in dieser Passage nochmals durch die zweifache Verwendung des Adverbs „schon“ herausgehoben. Zur Darstellung kommt also eine Situation des zu-spät-Kommens, in welcher den Figuren früher noch existente Handlungsmöglichkeiten bereits unverfügbar geworden sind. In der vorausgehenden Zeitspanne, in der die Brüder den tragischen Verlauf der Handlung noch durch eine Kommunikation ihres Gefühlslebens hätten vermeiden können, waren sie sich der Konsequenzen ihres (nicht-)Handelns aber tragischer Weise noch nicht bewusst. Hiermit zeigt sich die Relevanz des nicht-Wissens auch für den Handlungsverlauf beziehungsweise den Plot des Textes. In Bezug auf die Ausgangssituation in Schillers Anekdote lässt sich also zusammenfassend feststellen, dass schon an dieser Stelle sowohl eine auf die Zukunft weisende Entscheidungssituation als auch ein Moment des Erkennens vergangener und mittlerweile geronnener Kontingenz, also eine Anagnorisis, zusammenfallen – und dies an genau dem Punkt des zufälligen „Begegnis[es] [der] Empfindungen“ (V, 9) beider Brüder. In dieser Situation verdichten sich also gleich drei Formen des Kontingenten: die offene Gestaltbarkeitskontingenz der auf die Zukunft gerichteten Entscheidungssituation, die bei der Reflexion vergangener Entscheidungen in Bewusstsein drängende geronnene Gestaltbarkeitskontingenz und die Widerfahrniskontingenz des Zufallsereignisses (beziehungsweise die Koinzidenz des Zusammentreffens der Gefühlsäußerungen der Brüder).

Bei genauerer Betrachtung ist jedoch festzustellen, dass der Text, gerade was die

in die Vergangenheit gerichtete, geronnene Form der Kontingenz betrifft, eine gewisse Offenheit aufweist. Über die Abtönungspartikel „wohl“ (V, 10) erfolgt eine graduelle Distanzierung der Erzählinstanz gegenüber der Darstellung. Diese gibt hier zwar offenbar die Aussagen der Brüder wieder oder versucht sie zu interpretieren, artikuliert dabei jedoch auf durchaus subtile Weise Zweifel gegenüber deren Behauptung einer Unmöglichkeit des Verzichts. Berücksichtigt man den weiteren Verlauf der Erzählung, so zeigt sich, dass diese Zweifel nicht ganz ohne Grundlage sind, ist es dem älteren der Brüder schließlich doch möglich, sich ‚aufzuopfern‘, und lässt doch die Tatsache, dass der jünge



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re umgehend nach dem Tod der Frau wieder heiratet, darauf schließen, dass seine Liebe zu ihr realiter doch nicht so bedingungslos war,341 wie die beschriebene Ausgangssituation eigentlich vermuten ließe. Schon der Aussage, dass ein Verzicht unmöglich geworden wäre, liegt also potentiell eine am Eigennutz orientierte Strategie zugrunde. Jeder der beiden Brüder liefe ja Gefahr, sich aus dem Wettstreit sofort herauszunehmen, wenn er signalisieren würde, dass für ihn eine „Aufopferung“ durchaus möglich wäre, was ihren Wahrheitsgehalt durchaus infrage stellen lässt.

An dieser Stelle bleibt der Text jedoch letztlich offen, jede Deutung also selbst

kontingent. Nur auf diese Weise kann das für den Gesamttext so bedeutsame Motiv des Egoismus hier eingeführt werden und gleichzeitig die Tragik (oder besser Kontingenz) der Situation ästhetisch hervorgehoben werden. Eine explizite Nennung der unsolidarischen, auf das eigene Ich ausgerichteten Nutzenmaximierung würde die tragische Dimension des schuldlosen Schuldigwerdens genauso unterlaufen, wie ein kompletter Verzicht auf egoistische Motive die kritische Haltung des Textes gegenüber den beiden Brüdern verhinderte. Was hier in der Form einer Polysemie erscheint, kann also auch als eine Art ‚Ästhetik der Kontingenz’ gelesen werden, in der Kontingenz eben nicht nur inhaltlich thematisiert, sondern bewusst auch als Darstellungsform verwendet wird. Vor allem wird der Leser bzw. die Leserin des Textes dadurch in eine der Situation der Figuren vergleichbare Lage versetzt. Sie werden zur Interpretation genötigt, müssen also kalkulieren, welche der parallel möglichen Deutungen die wahrscheinlichere ist und haben dabei gleichzeitig anzuerkennen, dass ihre Deutung zwangsläufig unsicher bleiben wird. Damit stehen die Rezipierenden analog zu den Figuren vor der praktischen Herausforderung, sich notwendigerweise gegenüber einer Situation offener Kontingenz verhalten zu müssen. Hinzu kommt aber auch, dass Schillers Text hier in wenigen Zeilen ein beachtliches Maß an Komplexität entwickelt, indem er die handlungstheoretische Thematisierung offener Kontingenz auf der Figurenebene mit der Polysemie des Textes als einer ästhetischen Form offener Kontingenz zusammenbringt. Die Anekdote stellt eben nicht nur zwei ähnliche Situationen nebeneinander, sie etabliert vielmehr eine Parallelkonstitution auf unterschiedlichen Ebenen, da ihre Leser ja Beobachter der Beobachtungen der Erzählinstanz sind. Figuren, Erzähler und Leser bzw. Leserinnen sind somit in ein den sozialen Realitäten moderner Gesellschaften nahekommenden Geflecht unsicherer Beobachtungen eingebunden. Das mit dem Adverb 341 Vgl. V, 12.





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„wohl“ zum Ausdruck gebrachte Misstrauen der Erzählinstanz hinsichtlich der von beiden Brüdern artikulierten Unmöglichkeit eines Verzichts ist letztlich eine Reproduktion des Misstrauens jedes Bruders gegenüber der eben genau so formulierten Aussage seines ‚alter ego’. Sie reproduziert sich jedoch in analoger Weise auf der Leserebene. Statt einer Mitleid evozierenden Ähnlichkeit der Personen (der Leserin mit den Figuren) konstituiert der Text eine Ähnlichkeit ihrer strukturellen Position in einem anonymen Gefüge von Zeichen und Perspektiven und macht damit implizit zwei wesentliche Eigenschaften moderner Gesellschaften erfahrbar – ihre vor allem im Modus des Anonymen operierende Funktionsweise, also ihr „‚Herausheben’ sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen“342 und ihre „in Bausch und Bogen angewandte[] Reflexivität.“343 Individuelles und kollektives Entscheiden Im Zentrum des Textes stehen jedoch die von den beiden Brüdern ergriffenen Maßnahmen zur Bewältigung der kontingenten Konstellation, in ihnen liegt das eigentlich Ungewöhnliche und Interessante an der Anekdote, ihre ‚unerhörte Begebenheit’. Die Figuren stehen genau genommen vor einer typischen Situation offener Kontingenz: Die Dreierkonstellation ist derart konstruiert, dass die beiden Brüder nicht umhinkönnen, eine Entscheidungssituation zu bewältigen, ohne dass ihnen dafür hinreichende Kriterien zur Verfügung stehen. Sie sind praktisch genötigt, das Unentscheidbare zu entscheiden. Diese Unentscheidbarkeit reflektiert auch die Situierung des Textes in der spezifischen historisch-geistesgeschichtlichen Schwellensituation zwischen Feudalgesellschaft und Moderne. In dieser erweisen sich traditionelle Kriterien der Partnerallokation – wie etwa das Prinzip der patriarchalen Verfügung – bereits als obsolet. Überreste feudaler Denkweisen versperren jedoch oft noch progressivere Problemlösungsstrategien – etwa in Form von unkonventionelleren Beziehungsentwürfen.344 Diese Zeit des Übergangs, in der die Normen der Vergangenheit bereits überschritten, eine normative Neuordnung jedoch nur in vagen Konturen vollzogen ist, bietet jedoch einen produktiven Rahmen für literarische Experimente und Phantasien gerade in Bezug auf das Sujet 342 Giddens, Konsequenzen der Moderne 1995, S. 33. 343 Ebd. S. 55. 344 Keine Rolle spielen etwa Überlegungen zur seriellen Beziehungsführung, wie sie jedenfalls theoretisch

im 18. Jahrhundert durchaus schon möglich waren. Dies mag auch daran liegen, dass die entsprechenden Reflexionen üblicherweise eine Unübersetzbarkeit derartiger Modelle in die praktische Lebensführung konstatierten.





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der Partnerallokation, sodass es kaum verwundert, weshalb diesbezügliche Entscheidungssituationen im Briefroman des 18. Jahrhunderts in immer neuen Variationen durchgespielt werden – als beispielhaft hierfür kann erneut die zwischen zwei Männern stehende Protagonistin aus Hermes’ Roman Sophiens Reise von Memel nach Sachsen angeführt werden, auf welche ja schon die metanarrative Passage zu Beginn der Anekdote verweist. Eine grundlegende Neuerung der Schiller’schen Anekdote liegt nun aber darin, dass in dieser die Entscheidung durch die Person, die als einzige dazu befähigt ist, eine fundierte Wahl treffen zu können – das „Fräulein von Wrthr.“ – blockiert wird. Dieses entscheidet sich vielmehr dafür, sich nicht zu entscheiden und den Brüdern allein die Partnerallokation zu überlassen (Vgl. V, 14). Eine Diskussion dieses Verhaltens der Frau soll an späterer Stelle stattfinden. Hier ist zunächst relevant, dass das Nicht-Entscheiden gegenüber den im Briefroman dargestellten Konstellationen zu einer deutlichen Verschärfung der Kontingenzsituation führt. Geht es im traditionellen Liebesroman des 18. Jahrhunderts vornehmlich um die Problematisierung der Schwierigkeit, sich im Prozess der Partnerwahl seines eigenen Gefühlslebens bewusst werden zu müssen, wird in Schillers Anekdote das Problem der offenen Kontingenz von der individuellen auf eine soziale Ebene gehoben. Hier wird nicht mehr nur der erschwerte Zugriff des Verstandes auf die Gefühlswelt eines Individuums beleuchtet. Vielmehr gelangt in der Anekdote die Kontingenz einer Entscheidungssituation in einer Weise zur Darstellung, in der sie sich aus der Perspektive des einzelnen Subjekts in Richtung des Beliebigen zu verabsolutieren scheint, da die subjektive Introspektion nicht mehr hinreichend zur Kontingenzbewältigung taugt. Das zur Entscheidung genötigte Einzelsubjekt kann in dieser Konstellation die Entscheidung auch bei größtmöglicher Selbsterkenntnis nicht mehr fundiert treffen. Möglich wäre dies höchstens der Frau. Indem der Text aber mit der NichtEntscheidung der Frau einen Latenzschutz345 gegenüber dieser naheliegenden Lösung errichtet, präsentiert er eine Situation, in der den (die Entscheidung treffenden) Brüdern jeweils keine hilfreichen Kriterien zur Lösung des Problems zur Verfügung stehen, sodass eine Bewältigung der verfahrenen Situation nur in einem gemeinschaftlichen Vorgehen vollzogen werden kann. Diese Verschiebung des Kontingenten in den Bereich des Sozialen ist ein deutliches Beispiel dafür, wie sich Schiller einerseits in die gängigen Diskurse seiner Zeit einschreibt, indem er den Topos einer Dreierkonstellation sich Lie

345 Zur Charakteristik des Latenzschutzes vgl. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, 1981, S.

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bender aufgreift, andererseits dabei jedoch Verschiebungen vornimmt, durch welche diese Diskurse die sich gegen Ende des Jahrhunderts zuspitzenden gesellschaftlichen Transformationen hin zu einer zunehmenden Komplexität erstaunlich präzise abbilden. Es ist also so, dass der sich in der Anekdote dargestellte Konflikt aus der Dimension des abstrakt-Sozialen erwächst (statt aus einer einfachen Konfrontation von zwei Einzelpersonen). Entsprechend wird in Schillers Text auch eine Konfliktlösungsstrategie gezeigt und reflektiert, die ebenfalls über soziale Interaktion beziehungsweise Kooperation abläuft. Da die von Schiller als Repräsentanten der Aufklärung konstruierten Charaktere dem Anspruch einer auf gegenseitiger Liebe beruhenden Partnerwahl ebenso verpflichtet sind wie der Ablehnung eines gewaltsam auszutragenden Konfliktes, sind sie genötigt, einen gemeinsamen Willen zur Lösung des Problems zu entwickeln. Handlungsdruck entsteht aus der emotionalen Verfasstheit der beiden. Die gefassten Maßnahmen wirken dann jedoch ihrerseits wiederum auf das Seelenleben der Figuren zurück: Einerseits ist die Beliebigkeit (die absolute Kontingenz) der Ausgangssituation für die Handelnden kaum zu ertragen und in solchen Situationen typische Bewältigungsstrategien, etwa eine Entscheidung durch Zufall (beispielsweise durch einen Münzwurf) verbieten sich hier aufgrund der nicht zu überbietenden Relevanz der Entscheidung für alle Beteiligten.346 Der von den Brüdern gewählte innovative Ansatz zur Lösung des Problems birgt – wie sich herausstellen wird – jedoch neue Zumutungen in sich. In einer Kombination aus Experiment und Vertrag sollen gleichzeitig das Ausmaß der jeweiligen Liebe für die Frau vermessen und das Verhalten des ‚Alter Ego’ kontrolliert werden. Der Entwurf dieses Programms wird dabei vom älteren Bruder artikuliert: Sieger in diesem zweifelhaften Kampf der Pflicht und der Empfindung, den unsre Philosophen so allzeit fertig entscheiden und der praktische Mensch so langsam unternimmt, sagt der ältere Bruder zum jüngern: „ich weiß, daß du mein Mädchen liebst, feurig wie ich. Ich will nicht fragen, für wen ein älteres Recht entscheidet – Bleibe du hier, ich suche die weite Welt, ich will streben, daß ich vergesse. Kann ich das – Bruder! dann ist sie dein, und der Himmel segne deine Liebe! – Kann ich es nicht – nun dann, so geh auch du hin – und tu ein gleiches!“ (V, 10)

Martina Mertens verweist in ihrer Analyse dieser wichtigen Textstelle zu Recht auf die Struktur des „doppelten Entscheidungskampfes [...] mit sich selbst und [...] mit dem Bruder“347 Diese vertragsähnliche Vereinbarung der beiden Brüder verschiebt – wie beschrieben – die Entscheidung über die Partnerallokation in den Bereich des Sozialen. 346 Zu erinnern ist hier an das religiös fundierte Glücksspieltabu in Fragen von besonderer Bedeutung. Vgl.

das Kapitel zur Motivik des Glücksspiels in dieser Arbeit.

347 Mertens, Anthropoetik und Anthropoiesis 2014, S. 420; ähnlich auch Dedert, Die Erzählung im Sturm und

Drang 1990, S. 210.





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Nicht der singulär-emotionale Moment des Liebeserlebnisses entscheidet nun, sondern ein (vermeintlich) objektives Verfahren, dem im Vorfeld alle Beteiligten zustimmen können (wenngleich – das sollte hier betont werden – die Frau an dieser Entscheidung nicht beteiligt wird). Im Grunde handelt es sich dabei um eine Variante der von Rüdiger Campe mit Bezug auf Leibniz und Pufendorf beschriebenen Konditionalverträge.348 Diese Konditionalverträge verrechtlichen ein Feld der Kontingenz, indem sie, so Campe mit Blick auf das Glücksspiel, „eine Gradierung und Messung des Wahrscheinlichen“ vornehmen 349 und so Rechtsansprüche disponieren. ‚Konditionalverträge’ heißen diese Rechtskonstrukte deshalb, weil mit ihnen „beide Parteien ihre Verpflichtung an ein Ereignis binden, das in Zukunft eintreten oder nicht eintreten kann und auf das sie keinen Einfluss haben.“350 Nun dreht sich die Anekdote Eine großmütige Handlung auf den ersten Blick ja gerade nicht wie das Glücksspiel um ein Ereignis, auf das die beiden ‚Parteien’ keinen Einfluss haben. Die beiden Brüder können jeweils selbst agieren, um das von ihnen gewünschte Ergebnis herbeizuführen. Bei genauerer Betrachtung rückt jedoch die Limitation dieses Handelns verstärkt in den Blick, die darin liegt, dass durch das von den Brüdern gewählte Verfahren der Selbstexilierung je zwei Größen zueinander in Bezug gesetzt werden, die zwar anders als der Zufalls des Würfelwurfs in ihnen liegen, aber ähnlich diesem ihrem rationalen Zugriff entzogen sind, nämlich die Leidenschaft für die Frau und die Kraft zur Affektkontrolle. Beide Größen werden (hierin dem Würfelwurf vergleichbar) von den Brüdern (hier noch vom älteren Bruder) als Naturkonstanten betrachtet, deren Verhältnis zueinander über das Verfahren der Exilierung vermessen (gradiert) und so in eine vergleichbare Form gebracht werden.351 Der entscheidende Punkt liegt nun darin, dass auf diese Weise zwar die Gradierung und Messung eines vorher unklaren Verhältnisses ermöglicht und damit Kontingenz in eine geronnene Form gebracht wird, dass aber – und daran wird wie sich zeigen wird auch das gesamte Verfahren scheitern – Liebe bzw. Leidenschaft selbst als feste Determinante betrachtet und nicht in ihrem Wesen als Manifestation von Kontingenz erkannt wird. Dabei geht mit diesem Fokus auf ein objektivierendes, juristisch abgesichertes Verfahren, wie schon in Mertens Beitrag deutlich wird, keineswegs ein Desinteresse des

348 Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist 2002, S. 118–

125. 349 Ebd., S. 120. 350 Ebd., S. 36. 351 Unter

Bezugnahme auf Rüdiger Campe kann man hier durchaus von einem quasi–mathematischen Verfahren sprechen, das sich etwa als Subtraktion der Größe Affektkontrolle von der Größe Leidenschaft auffassen lässt. Und je nachdem, ob dabei ein positives oder negatives Ergebnis vorliegt, kann von einer Überwindung des Begehrens oder einem Scheitern des Überwindungsversuchs gesprochen werden.





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Textes für das Erleben und Empfinden der Figuren einher. Vielmehr wird hier das Verhältnis zwischen dem Individuellen und dem Gesellschaftlichen auf komplexere Weise als in den zeitgenössischen Briefromanen verhandelt. So wird in diesen Liebesromanen typischerweise der auch vom Erzähler der Schiller’schen Anekdote ins Spiel gebrachte „Kampf der Pflicht und der Empfindung“ verhandelt. Die Schwierigkeit für die Figuren besteht dort aber meist darin, dass eine auf gesellschaftliche Normen verweisende Pflicht für sie zwar Geltung erlangt, ihre der Pflichterfüllung entgegenstehenden Empfindungen dabei aber als kontingent und damit stellenweise auch als für sie selbst unverfügbar erfahren werden. Das Dilemma für die Figuren liegt dann darin, dass sie sich selbst nicht mehr sicher sein können, ob sie sich der Norm anpassen oder sich ihr wiedersetzen wollen. Indem die Anekdote nun diese dichotomische Spannung aus Pflicht und Empfindung als „zweifelhaft“ bezeichnet, verweist sie darauf, dass mindestens in dem hier vorliegenden Fall die Entscheidung nicht an der Grenze zwischen kontingenter Emotionalität und tugendhafter Pflichterfüllung getroffen werden kann. Statt also eine Kollision zweier sich gegenüberstehender Domänen zu diagnostizieren, zeigt die Anekdote eine Konstellation, in der die eigentliche Konfliktlinie eben gerade nicht mehr zwischen Empfindung und Pflicht, Wollen und Sollen, Individualismus und Gemeinschaftssinn verläuft, sondern in der sie beide Seiten dieser Dichotomien gleichermaßen durchschneidet: Statt der Kollision aus Empfindung und Pflicht wird also eine Kollision von Empfindungen mit einer Kollision von Pflichten parallelisiert. Die beiden „Baronen“ stehen vor dem Problem, dass sie einerseits beide von „ganze[r] Leidenschaft“ für die Frau eingenommen sind, andererseits aber von der „schröcklichsten“ Furcht (V, 9) vor einem Bruderkonflikt erfasst werden. Diese Spannung im Affektiven bildet sich spiegelbildlich im Bereich des Normativen ab. Gewalt im Allgemeinen und brüderlicher Zwist im Besonderen sind im Sinne eines aufgeklärten Humanismus abzulehnen. Ebenso ist in der Spätaufklärung auch eine Kontrolle der Liebe und eine Missachtung der Individualinteressen nicht mehr statthaft – die negativen Konsequenzen derartigen Verhaltens wurden bekanntlich gerade in den Briefromanen des 18. Jahrhunderts extensiv dargelegt (auf die die Anekdote ja selbst verweist). Es wird damit sozusagen zur Pflicht, die Partnerwahl am Maß der gegenseitigen Liebe auszurichten. Den Brüdern ist demnach eine Entscheidung für ihr Individualinteresse und gegen gesellschaftlich-normative Zwänge genauso unmöglich wie eine Entscheidung für ihre Pflicht und gegen ihre Empfindungen. Die Kontingenz der Situation konkretisiert sich somit in dem Dilemma, dass eine Entscheidung getroffen



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werden muss, in der die Rechte sowohl eines Affektes wie auch einer Norm gegen diejenigen des gleichen Affekts und der selben Norm bei einer anderen Person stehen. Dabei legt die Anekdote offen: Innerhalb der Empfindung allein können zwar keine Kriterien für die richte Entscheidung gefunden werden, ebenso wenig wie innerhalb der Pflicht allein; die Entscheidung wird aber, ungeachtet wie sie ausfällt, beide Domänen in vergleichbarer Weise tangieren. Die theatrale Inszenierung des älteren Bruders (mit einer begriffsgeschichtlichen Analyse von ‚Großmütigkeit’) Für das Verständnis der Anekdote ist es jedoch zunächst entscheidend, distinkt zwischen Erzähler und Text (beziehungsweise Autor)352 sowie zwischen Erzähler- und Figurenperspektive zu unterscheiden. Wenn man wie etwa Dedert von einer polaren Struktur mit den Figuren auf der einen und einer mit dem Autor beziehungsweise der Textintention identischen Erzählinstanz auf der anderen Seite ausgeht, führt dies unweigerlich zu einer Verortung von Logikbrüchen innerhalb der Anekdote.353 Eine differenzierte Betrachtung der verschiedenen Textebenen ermöglicht jedoch eine Deutung, die dem Text durchaus Konsistenz zubilligt. Dies wird unter anderem im Bezug auf die Erzähleraussage relevant, welche den älteren Bruder als „Sieger“ (V, 10) bezeichnet. Statt hierin wie Mertens und Dedert einen voreilig durch die Erzählinstanz affirmierten Triumph auch über den brüderlichen Konkurrenten zu sehen,354 soll hier vorgeschlagen werden, die grammatikalisch-syntaktische Konstruktion ernst zu nehmen und die Be

352 Selbstverständlich

sollte man auch Textaussage und Autorintention nicht zwingend miteinander gleichsetzen; dennoch scheint der stellenweise von der Forschung nicht hinreichend berücksichtigte Unterschied zwischen Erzähleraussage und Autorintention hier maßgeblicher. So spekuliert selbst Michael Hofmann noch, ob die Erzählung bestimmte Aussagen „möglicherweise gegen den Willen ihres Autors“ produziert (Hofmann, Eine großmütige Handlung, aus der neuesten Geschichte 2005, S. 301). Gerade das in Schillers frühen Texten durchgängig erkennbare Gespür für performative Darstellungsweisen legt doch vielmehr nahe, im Falle von Inkonsequenzen auf der Erzählerebene zunächst nach deren möglicher Aussage zu fragen, bevor man sie dem Autor anlastet. 353 Derartige Widersprüche versucht Dedert auf das „Bedürfnis des Pathetikers [gemeint ist damit Schiller] nach effektvoller Steigerung“ zurückzuführen. (Dedert, Die Erzählung im Sturm und Drang 1990, S. 210) Kurz vorher ist es zwar der Erzähler, der als derjenige bezeichnet wird, welcher „bei der Betonung des Wirklichkeitsgehaltes seiner Anekdote [...] deutlich zu ihrer pathetischen Überhöhung“ neigt (ebd.); dass Dedert hier eigentlich den Autor im Blick hat, legt dann jedoch nicht nur die Tatsache nahe, dass sich diese ‚Neigung zum Pathos’ passgenau in das gängige Bild eines zur Exaltation neigenden jungen Schillers einfügt, sondern vor allem der Umstand, dass Dedert den Brüchen des Textes keine inhaltliche Bedeutung zubilligt, sondern diese vielmehr als qualitative Mängel der Anekdote auffasst (vgl. u.a. ebd., S. 224). 354 Vgl. Mertens, Anthropoetik und Anthropoiesis 2014, S. 420 und Dedert, Die Erzählung im Sturm und Drang 1990, S. 210. Die Inkonsistenz des Erzählers läge in Mertens und Dederts Lesart darin, dass zum einen zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Sieger ermittelt werden kann, da die Durchführung des Sozialexperiments noch aussteht, und zum anderen das Experiment am Ende gar keinen Sieger, sondern nur zwei Scheiternde hervorbringt.





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zeichnung „Sieg[]“ ausschließlich auf den „zweifelhaften Kampf der Pflicht und der Empfindung“ (ebd.) zu beziehen. Die Inkonsequenz liegt dann nicht auf der Erzähl-, sondern auf der Figurenebene. Dem älteren Bruder gelingt es dann zwar tatsächlich – entsprechend einer (wie es im Text sinngemäß heißt:) veralteten und noch von vielen Philosophen unkritisch vertretenden Moral der Affektregulierung – seine Gefühle einem (scheinbar) konstruktiven Lösungsansatz unterzuordnen. Was er beziehungsweise die Philosophen nicht – der diese Unterordnung als problematisch ausweisende Erzähler hingegen sehr wohl – erkennt, ist die Tatsache, dass er als „Sieger“ in einem Kampf hervortritt, der seinerseits in Frage steht, sodass auf diese Weise sein Sieg obsolet wird.

Der ältere Bruder wird demnach hier als ein Vertreter eines historischen, mitt-

lerweile bereits überholten Denkens ausgewiesen. Er, nicht der Erzähler (und schon gar nicht der Autor), ist es, auf den Dederts Diagnose zutrifft, dass er eine „stoischaristokratische[] Moral [repräsentiert], deren Verwandtschaft mit den heroischen Sittlichkeitsnormen des Barock auf der Hand liegt.“355 Dederts Barockassoziation ist aber durchaus produktiv, sind doch bei genauerer Betrachtung schon dem Titel der Anekdote weitere implizite Barockbezüge immanent. Der in der Frühen Neuzeit und der Frühaufklärung noch gängige Begriff der ‚Großmütigkeit’ ist im ausgehenden 18. Jahrhundert nämlich bereits weitgehend durch den Begriff des ‚Erhabenen’ verdrängt und damit implizit wohl auch historisiert worden. So haben etwa Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771-74) und Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart (1774-86) Lemmata zu ‚Erhabenheit’ bzw. zu ‚erhaben’, aber keine zu ‚Großmut’ oder ‚Großmütigkeit’ – in dem älteren Universallexicon Zedlers (1732-64) verhält es sich noch genau anders herum. Dabei ist es jedoch keineswegs so, dass hier ein älterer Begriff schlicht durch einen neueren ersetzt würde. Zum einen ist das Erhabene eine bereits in der Antike, namentlich bei Pseudo-Longinus, diskutierte und auch in der Neuzeit nicht in Vergessenheit geratene Kategorie.356 Zum anderen wird der Begriff der ‚Großmütigkeit’ im 18. Jahrhundert durch die erneute Konjunktur des ‚Erhabenen’ keineswegs vollständig obsolet. Bei Sulzer wird vielmehr deutlich, dass der Erhabenheitsbegriff sich passgenau in die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vollziehende Wendung hin zu einer Wirkungsästhetik einfügt, die sich in den Texten dann über eine Kontrastierung mit dem Begriff der ‚Großmut’ in geeigneter Weise reflektieren lässt. Das Erhabene nämlich, so Sulzer,

355 Dedert, Die Erzählung im Sturm und Drang 1990, S. 210. 356 Vgl. Zelle, Vom Erhabenen (1793)/Über das Pathetische (1801) 2011, S. 399.





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würkt mit starken Schlägen, ist hinreißend und ergreift das Gemüth unwiderstehlich. Diese Würkung thut es nicht blos in der ersten Überraschung, sondern anhaltend; je länger man dabey verweilet und je näher man es betrachtet, je nachdrüklicher empfindet man seine Würkung.357

Diese Textstelle ist jedoch auch noch in anderer Hinsicht aufschlussreich, denn hier korrespondiert die Definition des Erhabenen über die ihm zugeschriebenen Eigenschaften der Plötzlichkeit beziehungsweise „Uberraschung“ recht auffällig mit dem Begriff des ‚Schreckens’. Wie dieser entfaltet auch das Erhabene in der Definition Sulzers seine Wirkung im eigentlichen Sinn erst dann, wenn sein Eintreten vom Beobachter nicht erwartet wird und ihn gleichsam wie zufällig einnimmt. Dabei vollzieht sich die Wahrnehmung des Erhabenen im Modus einer Überwältigung, die das „Gemuth“ auf gewaltsame Weise mit „starken Schlägen“ erfasst, sodass dieses sich der affektiv-erhabenen Wirkung nicht entziehen kann. Schon in dieser frühen – noch vor Kants und Schillers großen theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Begriff verfassten – Definition wird das Erhabene demnach als ein Phänomen der Widerfahrnis skizziert, das – indem es Erwartungsstrukturen unterbricht und durchkreuzt – geeignet ist, deren Kontingenz sichtbar zu machen. Bemerkenswert ist zudem die im Vergleich zum Schrecken gegenläufige Dynamik im Zeitverlauf. Seinen stärksten Effekt entfaltet das Erhabene eben nicht wie der Schrecken im Moment der Überraschung, das Gefühl des Erhabenen wächst vielmehr erst im Laufe der Beobachtung und Analyse zu seiner vollen Intensität heran.358

Wie bereits angedeutet ist an dieser Stelle jedoch vor allem relevant, dass Sulzer

in seiner Definition des Erhabenen vor allem dessen Wirkung auf den Beobachter und weniger die erhabene Situation beziehungsweise die erhabene Person in den Blick nimmt. Den Begriff ‚Großmut’ siedelt er demgegenüber hingegen auf der Ebene des Ontologischen an und macht ihn und damit zu einem unter mehreren möglichen Auslösern erhabener Wirkungen: „So ist die Großmuth erhaben, die große Beleidigungen verzeiht, wie wenn Augustus zum Cinna, der in eine Verschwörung gegen ihn getreten war, sagt: Laßt uns Freunde seyn, Cinna“ (vgl. ebd.).359 Während mit dem Begriff der ‚Erhabenheit’ also keine Aussage über die wahre Natur der damit bezeichneten äußeren Handlungen getroffen wird, werden mit ‚Großmut’ innere Vorgänge einer Person beziehungsweise 357 Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1774) 1792, S. 97.

358 Zu Schillers Theorie des Erhabenen vgl. auch die Einleitung und das vierte Kapitel dieser Arbeit. In

letzterem wird dargelegt, wie sehr diese nachtägliche Sichtbarmachung von Kontingenz auch in seinen ästhetischen Überlegungen nach 1790 mit dem erhabenen Moment verbunden wird. 359 Diese Textstelle zitiert Schiller fast wörtlich in der Schaubühnen-Rede. „Mit welch herrlichen Empfindungen, Entschlüssen, Leidenschaften schwellt sie [die Bühne, M.K.] unsere Seele, welch göttliche Ideale stellt sie uns zur Nacheiferung aus – Wenn der gütige August dem Verräter Cinna, der schon den tödlichen Spruch auf den Lippen zu lesen meint, groß wie die Götter, die Hand reicht: ‚Laß uns Freunde sein, Cinna!’ – Wer unter der Menge wird in dem Augenblick nicht gern seinem Todfeind die Hand drücken wollen, dem großen Römer zu gleichen.“ (V, 842).





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deren innere Verfasstheit beschrieben. Die epistemologische Schwierigkeit, diese Innerlichkeit aus der Beobachterperspektive korrekt erfassen zu können, wird dabei jedoch anders als bei der Verwendung des Begriffes der ‚Erhabenheit’ nicht umgangen. Dieser unterschiedliche Fokus der beiden Begriffe ist bereits in den Semantik der Wortstämme ‚erhaben’ und ‚Mut’ angelegt, hat doch ‚erhaben’ einen klaren Bezug zum Bereich des Visuellen und daher unmittelbar auch zum Ästhetischen, während ‚Mut’ eine Eigenschaft bezeichnet, die dem Blick von außen und damit einer (ästhetischen) Wahrnehmung nicht direkt zugänglich ist. Dass im Begriff der ‚Großmütigkeit’ – jedenfalls aus der Beobachterperspektive – Sein und Schein zusammenfallen, macht diesen anfälliger für eine unkritische Tugendaffirmation, für die etwa Daniel Caspers von Lohenstein noch im 18. Jahrhundert viel gelesener und gleichzeitig stark kritisierter360 Barockroman Großmüthiger Feldherr Arminius steht. Der Begriff der ‚Großmütigkeit’ wird in der Aufklärung keineswegs obsolet – wo die epistemologische Problematik einer möglichen Differenz von scheinbarer und wirklicher Großmütigkeit keine Rolle spielt, kann der Begriff noch ohne weiteres verwendet werden. Die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaften im 18. Jahrhundert führt jedoch auch zu einem genaueren Blick auf begriffliche Unschärfen. Das problematisch-Werden des Begriffs der ‚Großmütigkeit’ und der zunehmende Gebrauch von ‚Erhabenheit’ für die Bezeichnung einer stoizistischen Überwindung egoistisch-sinnlicher Interessen fügt sich damit ein in eine historische Entwicklung, die auch gekennzeichnet ist von Phänomenen wie der Substitution rhetorischer durch ästhetische Beschreibungsformen361 oder der Umstellung von gesinnungs- auf verantwortungsethische Verhaltensbewertungen. Wie bewusst sich das 18. Jahrhundert der Unschärfe des Begriffs ‚Großmütigkeit’ war, zeigt sich auch darin, dass Zedlers Universallexicon eigens ein Lemma für den ‚Schein der Großmuethigkeit’ enthält, welcher eben dann vorliege,

360 Die in diesem Zusammenhang prominenteste Kritik an Lohensteins Arminius findet sich wohl in Gott-

scheds Versuch einer critischen Dichtkunst, in dem eine distinkte Trennung von Liebes- und historischem Heldenroman gefordert und eine Anpassung von historischen Begebenheiten an den Geist der Gegenwart abgelehnt wird. Der Arminius verstoße gegen letzteres Gebot, da es dem historischen Gegenstand auf unhistorische Weise Modernes einschreibe und „Lohenstein seine alten Helden wie belesene Schulmeister reden“ lasse (Gottsched, Versuch einer critischen Dichtkunst (1730) Bd. 2, 1973, S. 476). Auch ist der Arminius für Gottsched ein Beispiel einer „recht poetisch, d.i. schwülstig und hochtrabend“ wirkenden Schreibart, die „zwar lange in Deutschland die Mode gewesen“, welche aber gegenüber einer „natürliche[n] Art zu erzählen, die der Vernunft und Warheit gemäßer ist“ eher für die „Schwäche [ihres] Urhebers“ steht (ebd., S. 477). Die von Schillers Anekdote bereits gegenüber den Ausschweifungen der empfindsamen Romane vorgenommene Distanzierung greift damit bezeichnenderweise auch gegenüber dem Barockroman, mit dem sie sich den Begriff der „Großmüthigkeit“ im Titel teilt; gleiches gilt für den Vorwurf, dass die Ausführlichkeit der Darstellung wesentliche Aspekte der Handlung undifferenzierter erscheinen lässt, als dies wünschenswert wäre. 361 Vgl. dazu ausführlich Campe, Affekt und Ausdruck 1990.





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„wenn ein Mensch aus Ehrgeiz oder andern intereßirten Absichten seines Feindes schonet, den er in seinen Händen hat, oder auch ihm Gutes erzeiget, da sich Gelegenheit dazu ereignet.“362 Auch der Eintrag zu ‚Großmuethigkeit’ im Zedler diskutiert die Differenz von echter und scheinbarer Großmut ausführlich, wobei dargelegt wird, dass beide Formen deshalb so leicht miteinander verwechselt werden können, weil Großmut und Ehrgeiz in ihren Erscheinungsformen identisch sind.363 In der Beobachterperspektive werde deshalb Ehrgeiz fälschlicherweise oft für Großmut gehalten. Es kann davon ausgegangen werden, dass Schiller, der den Eintrag zur ‚Großmuethigkeit’ aus Zedlers Universallexicon offensichtlich beim Verfassen seiner Anekdote herangezogen hat,364 sich der Ungenauigkeit des Begriffs nicht nur bewusst war, sondern dass er diese sogar ins Zentrum seiner Anekdote rückt.365 Schon im Titel Eine großmütige Handlung liegt somit ein impliziter Hinweis, der dazu anhält, die zum weit überwiegenden Teil in externer Fokalisierung vorgenommene Schilderung der Handlung kritisch zu hinterfragen: Der bei oberflächlicher Betrachtung großmütig erscheinende ältere Bruder muss nicht notwendigerweise auch großmütig sein, möglich – und vielleicht wahrscheinlicher – ist eben auch, dass sein Ehrgeiz und Egoismus ihn dazu motiviert, großmütig erscheinen zu wollen. Dies wird gestützt durch das auf das begehrte Mädchen bezogene Possessivpronomen „mein“ in der Figurenrede und den explizit hervorgehobenen Verzicht des Bruders, die Frage, „für wen ein älteres Recht entscheidet“ zu klären. Schon Dedert weist in Bezug auf diese Passage darauf hin, dass „[u]nabhängig davon, ob [der ältere Bruder] sich mit dieser Anmerkung auf die Privilegien des Erstgeborenen oder die längere Dauer seiner Liebe bezieht, [...] er insgeheim ein pragmatisches Denken in den konventionellen Bahnen einer juristisch geprägten

362 Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 34, Sp. 1164. 363 Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 11, Sp. 1069. 364 Dafür spricht jedenfalls die fast wörtliche Übernahme der Formulierung „Überwindung seiner selbst“

aus dem Universallexicon zur Charakterisierung des jüngeren Bruders in der Anekdote, der dort als „Überwinder seiner selbst“ bezeichnet wird. Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 11, Sp. 1069 und V,11. 365 Zu erwähnen ist an dieser Stelle noch, dass Schiller den Begriff der ‚Erhabenheit’ bereits in dieser frühen Phase seines Werkes gekannt hat. So spricht er beispielsweise in seiner ersten Festrede von einem „Gefühl der Erhabenheit“ (V, 246) und in der zweiten Festrede von einem durch den Fürsten noch auszuführenden „erhabenen Werk“ (V, 285). In keinem Fall überschreitet Schiller bei der Verwendung des Begriffes die empirische Schranke zwischen äußerer Beobachtung und innerer Realität. Den Begriff der ‚Großmütigkeit’ verwendet er hingegen (außer in Eine großmütige Handlung!) nur dann, wenn ihm Aussagen zu inneren Prozessen auch tatsächlich möglich sind, etwa in theoretischen Kontexten, so zum Beispiel in der Theosophie des Julius, in der von einer „Handlung der Großmut“ die Rede ist, (V, 346) oder bei dem Entwurf literarischer Figuren, wie etwa bei der Konzeption seines Nero im Agrippina-Fragment. (Vgl. III, 258)





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Lebensbewältigung [verrät], das den eigenen Vorteil durchaus im Blick behält“366 Dem ist zweifelsfrei zuzustimmen. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass der ältere Bruder sich darüber hinaus auf diese Weise als eine Person inszeniert, die großmütig ihre eigenen Interessen, gar ihre objektiven Rechte zurückstellt, um eine konsensuelle Lösung des Problems der Partnerallokation zu ermöglichen. Der Text präsentiert in ihm also nicht nur eine Figur, die ihre Eigeninteressen im Bewusstsein behält und somit bereits voreingenommen gegenüber ihrem Bruder auftritt. Er zeigt, wie die Figur sich in einem theatralen Akt selbst nach außen hin als großmütig darstellt, um dadurch ihr Alter Ego in Zugzwang zu bringen, selbst einen mindestens vergleichbaren Verzicht zu leisten, sodass hier statt Großmütigkeit tatsächlich nur der Schein von Großmütigkeit vorliegt. Nur durch ein entsprechendes Entgegenkommen des jüngeren Bruders scheint eine reziproke Balance aufrechtzuerhalten sein, wie sie das faire Verfahren verlangt, das beide offensichtlich gewillt sind durchzuführen. Da der jüngere Bruder aber nicht auf vergleichbare Leistungen in der Vergangenheit zurückblicken kann, ist er demgemäß zu einer Selbstbescheidung in der Zukunft gezwungen, was den älteren Bruder wiederum schon zu Beginn des Verfahrens in eine vorteilhafte Position rückt. Diese Selbstinszenierung des älteren Bruders als großmütig Handelnder gipfelt schließlich in einem Bibelzitat aus dem Gleichnis des barmherzigen Samariters.367 Dabei erklärt sich der Bruder zunächst zu dem Versuch bereit, die Liebe zu dem Mädchen durch den Vollzug einer räumlichen Trennung zu überwinden. Für den Fall, dass ihm diese Selbstüberwindung jedoch nicht gelinge und er zu sehr unter der räumlichen Distanz zu der Frau leide, verpflichtet er seinen jüngeren Bruder dazu, seinerseits eine Trennung von der Geliebten zu versuchen: „[n]un dann, so geh auch du hin – und tu ein 366 Dedert, Die Erzählung im Sturm und Drang 1990, S. 211.

367 Das Samariter-Motiv wird Schiller bei seiner Diskussion des Schönen in den Kallias-Briefen erneut aufgreifen. Dort dient es ihm dazu, den Begriff „moralische[r] Schönheit“ (V, 404) als eine „Freiheit in der Erscheinung“ (ebd.) zu definieren und von einer von Freiheitsnormen bestimmten Erscheinung abzugrenzen. Konkret argumentiert Schiller an dieser Stelle der Kallias-Briefe dafür, dass die Freiheit als Inhalt literarischer Werke diese zu schönen und damit ästhetischen Werken mache, dass aber ein explizites Abzielen literarischer Werke auf pädagogisch-moralische Zwecke unästhetisch sei. Mit der SamariterGeschichte versucht Schiller dann diese Unterscheidung zu veranschaulichen. Dabei wird deutlich, dass er moralische Handlungen als schöne Handlungen zu definieren bereit ist, wenn diese ohne tiefere Überlegung quasi als natürliche Reaktion auf ein Übel erfolgen. Interessanterweise macht die Abhandlung aus dem Jahr 1793 diese natürliche, nicht-rationale, aber dennoch moralische Handlungsweise über eine Abgrenzung zum Begriff der Großmütigkeit fest. Großmütigkeit wird dort mehrfach erwähnt und indirekt als „große Selbstüberwindung“ (V, 407) definiert – und genau dadurch als eine Form moralischen Handelns verstanden, das – weil es eben eine Selbstüberwindungsleistung aus Vernunfteinsicht beschreibt – nicht für moralisch schöne Handlungen stehen kann. Auch 1793 wird ‚Großmütigkeit’ von Schiller also als eine defizitäre, rationalistische Form moralischen Handels begriffen.





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gleiches!“ (V, 10). Auch hierbei handelt es sich um einen bemerkenswerten Akt der Selbstinszenierung. Nicht nur wird über dieses Bibelzitat aus dem Gleichnis des barmherzigen Samariters implizit ein Bezug zur religiösen Absicherung der alten stratifikatorischen Gesellschaftsordnung mit ihrer Privilegierung des Erstgeborenen hergestellt. Die Figur des Samariters ist darüber hinaus auch ein paradigmatisches Beispiel für großmütiges Verhalten aus dem biblischen Kontext. Obwohl selbst zu einer randständigen Gesellschaftsgruppe gehörend, hilft der Samariter einem verletzten Mann am Wegesrand, während andere, dem Hilfsbedürftigen ähnlichere Personen, vorübergehen. Wenngleich eine Überwindung seines Eigeninteresses durch diese größere soziale Distanz für ihn eine stärkere Herausforderung darstellt als für die anderen – für Mitleidsempfinden prädestinierteren – Passanten, ist er es, dem entgegen aller Wahrscheinlichkeit die Entscheidung zur altruistischen Handlung gelingt. Wenn der einen Verzicht leistende ältere Bruder in Schillers Anekdote nun diese biblische Geschichte aufruft, versetzt er sich zum einen in die Rolle des großmütig handelnden Samariters. Zum anderen findet jedoch gleichzeitig eine zweite, noch viel problematischere Identifikation statt: Im Bibeltext ist es Jesus selbst, der dem Schriftgelehrten die Beispielgeschichte nahebringt und am Ende die Worte „so geh hin und tu desgleichen“ ausspricht.368 Indem der ältere Bruder nun mit den gleichen Worten wie Jesus sein Gegenüber dazu auffordert, großmütig zu handeln, rückt er sich selbst in die Rolle des Gottessohnes – und seinen Bruder in die Rolle der im biblischen Kontext wenig Sympathien gewinnenden Figur des Schriftgelehrten. Die Identifikation mit dem Gottessohn, der sein Leben für die Menschheit aufgibt, exponiert die Selbstdarstellung des Älteren als großmütig Handelnden auf extreme Weise. Sie fügt sich zwar passgenau in seine Agenda ein, indem sie seine (scheinbare) Großmütigkeit unterstreicht, sie kann allerdings in ihrer (in christlicher Perspektive) schier ungeheuerlichen Anmaßung nur als Hybris gelesen werden. Über die Selbstidentifikation des älteren Bruders mit Jesus stellt der Text auch pointiert heraus, wie sich das egoistische Fundament vorgespielter Großmut im Moment der Selbstzuschreibung zwangsläufig offenbart. Der wirklich Großmütige, dessen Handlungen auf gesinnungsethische Motivlagen zurückzuführen sind, hat es nicht nötig, die Wirkungen seiner Tat ins Kalkül zu ziehen – ihn wird es nicht tangieren, wenn externe



368 Lk, 10,37.





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Belohnungen für seine Taten ausbleiben.369 Der scheinbar großmütige Egoist, dem ja nur am Nutzen seiner Großmut gelegen ist, muss diese Wirkungen aber, wenn sie sich nicht von selbst einstellen, eigenhändig herbeiführen – wodurch er jedoch dem aufmerksamen Beobachter unvermeidbar seinen in Wahrheit egoistischen Charakter offenbart. Die theatrale Inszenierung seiner selbst kann funktionieren oder scheitern – die Variablen dafür sind vielfältig – sie liegen gleichermaßen in der Person des Egoisten, in seiner Fähigkeit zum täuschenden Spiel, seinem Charisma und seiner Reputation wie in der Leichtgläubigkeit und Sympathie des Publikums. Um die intendierte Wirkung erzielen zu können, ist er jedoch zu Maßnahmen genötigt, die seinem sozialen Umfeld – und nicht zuletzt auch den Rezipierenden – gleichzeitig Möglichkeiten zur Entlarvung dieses falschen Spiels eröffnen. Indem sich der Egoist auf diese unhintergehbare Dialektik einlässt, agiert er auch in starker Nähe zu Hartmut Rosas Figur des ‚Spielers’370 und zu den Spielerfiguren der frühen Dramen Schillers.371 In seiner Risikokalkulation geht er aufs Ganze, da doch nichts weniger als seine angestrebte Identität auf dem Spiel steht. Die Entscheidung über seine Zukunft vollzieht sich dabei außerhalb seiner eigenen Verfügbarkeit, sie ist abhängig davon, ob ihn sein Umfeld durchschauen wird oder nicht. Damit liegt hier nicht nur eine weitere Textstelle vor, in der die Kontingenz der Situation aus einer sozialen Konstellation erwächst und vom Einzelnen nicht mehr kontrolliert werden kann. Indem der ältere Bruder diese Situation eigens hervorruft, weist er sich als ein in durchaus moderner Weise kalkulierender und die Kontingenz nicht als Widerfahrnis, sondern als Chance bewertender Charakter aus. Interessant ist, dass er dies auch dadurch zu kaschieren versucht, dass er sich etwa durch den Rückgriff auf religiöse Narrative implizit als eine den alten Idealen einer stratifikatorisch-barocken Gesellschaftsstruktur verpflichtete Person beschreibt – und durch diese Instrumentalisierung der Religion gleichzeitig aber seine Distanz zu ihr offenbart. Im täuschenden Spiel des älteren Bruders überlagern sich somit eine spezifisch moderne und kontingenzzugewandte Handlungspraxis und die Selbstdarstellung, einer prämodernen Ordnung verpflichtet zu sein. Auch hier zeigt der Text bereits das dezidierte Interesse des noch jungen Schillers an den Möglichkeiten ästhetischer Darstellungsweisen und ihren indirekt-normativen Wirkungen. Bereits zwei Jahre vor dem Schaubühnenaufsatz wird in Schillers Anekdote 369 Eben dieser Gedanke wird in der Samariter-Erzählung der Kallias-Briefe intensiver diskutiert (Vgl. hierzu V, 404–407). 370 Vgl. Rosa, Beschleunigung 2005, S. 362-390. Insbesondere ist hier die situative Komponente der Inszenierung des Älteren zu erwähnen, die keinem langfristig angelegten Plan entstammt, sondern eher auf ein habitualisiertes Verhaltensmuster verweist. 371 Vgl. hierzu Kapitel 1.1.2.





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mit der Selbstinszenierung des älteren Bruders eine theatrale Ästhetik reflektiert, die zwar ihre Wirkung nicht verfehlt, aber – da sie ohne Maß und moralisch-legitime Grundlage bleibt – eine dunkle Seite der Moderne repräsentiert.

Beim Scheitern des Versuchs, zu Gunsten des jüngeren Bruders auf das geliebte

Mädchen zu verzichten, handelt es sich also, wenn nicht gar um eine bereits vorher intendierte Strategie, so doch zumindest um eine kühle Risikokalkulation des Älteren; jedenfalls sind seine im Vorfeld des Exils getroffenen Vorkehrungen, sich für den Fall seiner Rückkehr in eine überlegene Verhandlungsposition gegenüber dem Bruder zu bringen, bemerkenswert. In der darauffolgenden Situation der Trennung zeigt Schillers Text den Protagonisten hingegen nicht als rational kalkulierenden, sondern als real leidenden Menschen: Er verließ gählings Deutschland und eilte nach Holland – aber das Bild seines Mädchens eilte ihm nach. Fern von dem Himmelstrich seiner Liebe, aus einer Gegend verbannt, die seines Herzen ganze Seligkeit einschloß, in der er allein zu leben vermochte, erkrankte der Unglückliche, wie eine Pflanze dahinschwindet, die der gewalttätige Europäer aus dem mütterlichen Asien entführt und fern von der milderen Sonne in rauhere Berge zwingt. [...] Das Bild seiner Einzigen herrschte in seinen wahnsinnigen Träumen, seine Genesung hing an ihrem Besitze. [...] [N]ur die Versicherung, ihn seiner Geliebten wiederzugeben, riß ihn mühsam aus den Armen des Todes. Halbverwest, ein wandelndes Gerippe, das erschröcklichste Bild des wandelnden Kummers, kam er in seiner Vaterstadt an. (V, 10)

Diese Textstelle enthält nun zumindest zwei wichtige Ansatzpunkte für die Deutung der Anekdote. Zum einen ließe sich fragen, weshalb der Protagonist ob der Trennung von seiner Geliebten so leidet, wenn der Text doch vorher nahelegt, dass ihm eine „Aufopferung“ (entgegen seiner eigenen Aussagen) in Wahrheit doch möglich gewesen wäre. Zum zweiten fällt auf, dass die Trennung von dem Mädchen nicht als der alleinige Grund für das Leiden des älteren Bruders angeführt wird, dass diese sogar als eher sekundäre Ursache seiner Erkrankung erscheint. Fast stärker akzentuiert wird die ergänzend eingeführte Exilsituation als zusätzlicher Auslöser des bald einsetzenden physischen Verfalls der Figur. Zwar ist grammatikalisch nicht ganz eindeutig, ob bei der Konstruktion „Himmelstrich seiner Liebe“ ein ‚genitivus possessivus’ oder ein ‚genitivus explicativus’ vorliegt, ob es sich also um den „Himmelstrich“ handelt, der „seiner Liebe“ gehört, in dem also die von ihm begehrte Frau lebt, oder ob der „Himmelstrich“ gemeint ist, dem seine Liebe gilt. Dabei erscheint erstere Deutung jedoch nicht nur konstruierter, die Tatsache, dass im vorliegenden Textumfeld das Heimatmotiv über die Substantive „Deutschland“ und – emotional aufgeladener – „Vaterstadt“, insbesondere aber durch





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die elaborierte Pflanzenmetaphorik372 stark hervorgehoben wird, lässt die zweite Interpretationsmöglichkeit als die plausiblere erscheinen. Dass der ältere Bruder mehr an der Trennung von der Heimat als an der von der Geliebten leidet, findet dann auch Bestätigung in der Schlusspointe der Anekdote, die ihn nach dem Tod der Frau „auf seinen Gütern in Teutschland, aufs neue vermählt“ (V, 12) zeigt. Von einer lebensbedrohlichen Erkrankung wie bei der Trennung von Frau und Heimat ist nach dem Tod der Frau jedenfalls nicht mehr die Rede.

Es ist nun aber nicht einfach so, dass der Text die Exilsituation des Protagonisten

als die alleinige Erklärung für dessen Erkrankung präsentiert und der Trennung von der Geliebten jegliche Relevanz abspricht. Es wird durchaus deutlich hervorgehoben, dass das „Bild seiner Geliebten“ den Protagonisten nicht nur ins Exil begleitet, ihr Imago rekurriert auch als Sekundärerscheinung in den – wenn auch primär wohl durch die Selbstexilierung ausgelösten – Fieberträumen der Figur. Auch entspringt die Motivation des Leidenden zu einer finalen, die Krankheit überwindenden Kraftanstrengung letztlich der Hoffnung, auf diese Weise die Geliebte wiedersehen zu können. Dass hier eine Überwindung des Sinnlichen durch die Ratio gezeigt wird, obwohl der ältere Bruder auf der Ebene des Trennungsexperiments seinem sinnlichen Begehren zu unterliegen scheint (was sich auf den zweiten Blick aber wiederum als Kalkül darstellen mag, welches aber selbst darauf abzielt, einem Begehren Rechnung zu tragen) zeigt, wie Schiller über die Konstruktion mehrerer Perspektivebenen eine bis in die einzelnen Verästelungen der Anekdote hineinreichende Komplexität entwirft, welche die Konstruktionsweise moderner Gesellschaftsstrukturen abbildet, einfache Deutungen erschwert und scheinbar Widersprüchliches nebeneinanderstellt und so eine je nach Lesart rational oder im Gegenteil affektiv handelnde Figur präsentiert.

Was der Text hier also eigentlich vornimmt, ist die Entfaltung einer Situation der

Multi- oder Bikausalität. Über die Darstellung zweier sich überlagernder Ursachenherde für eine Folge konstruiert der Text eine komplexe Gemengelage, die dem Leser bzw. der Leserin eine eindeutige Entschlüsselung verwehrt. Im Zusammenspiel aus Trennung von der Heimat und Trennung von der Geliebten liegt zwar die Ursache für den physi

372 Damit erfüllt nach dieser Deutung die über den Pflanzenvergleich zutage tretende Kritik an einer aus

rational-domestikativen Kalkül getroffenen „Unterdrückung der eigenen Triebnatur“ eine narrative Funktion, anders als dies bei Interpretationen der Fall ist, die eine Affirmation des Verhaltens der beiden Brüder durch den Erzähler und den Autor unterstellen, die dann aber den Pflanzenvergleich nicht stringent in ihre Analyse zu integrieren vermögen und dem Erzähler bzw. Autor reflexhaft attestierten, sein Text unterlaufe unfreiwillig seine eigentlich intendierte Aussage (vgl. explizit Dedert, Die Erzählung im Sturm und Drang 1990, S. 214). Zur Pflanzenmetaphorik bei Schiller vgl. auch die Kapitel 3.2 und 4.3.





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schen Verfall des Protagonisten – eine exakte Vermessung des jeweiligen Anteils der beiden Trennungen an der Erkrankung bleibt den Rezipierenden aber letztlich verwehrt. Ähnlich wie Schiller selbst am Ende seiner Fieberschrift sind die Leserinnen an dieser Stelle zu einem Akt der Kontingenzanerkennung gezwungen. Dabei geht es keineswegs um eine Nebensächlichkeit – ist doch die Frage nach der Intensität der brüderlichen Liebe zu dem Mädchen, die durch die Intensität ihres jeweiligen Leidens vermessen werden soll, die Kernthematik des gesamten Textes. Zu beachten ist – neben der Tatsache, dass schon hier die Messung des Experiments und damit dessen Berechtigung fragwürdig werden – auch der Umstand, dass die geringe Zuneigung des älteren Bruders zu der Frau dem Leser erst am Ende des Textes bewusst werden kann. Erst der Hinweis von der erneuten Heirat macht dies deutlich und führt so zu einer Neurahmung des vorangehenden Textes, also der Kontingenz anzeigenden Technik, die auch in den frühen Dramen Schillers ihre Anwendung findet.373

Entscheidend ist aber, dass der Text auf diese Weise auch an die performativen

Ansätze aus den Jugenddramen anknüpft. Indem er die Leserinnen und Leser in eine Situation der Kontingenzbegegnung versetzt, welche die Begebenheiten, in denen sich die Figuren im Text befinden, repliziert, ermöglicht er diesen eine gesteigerte Erfahrung der zur Darstellung kommenden Problemlagen. Hier liegt zum einen eine modernen Gegebenheiten adäquate Darstellungsweise vor, in der die Ähnlichkeit nicht mehr wie in Lessings Mitleidtheorie über die vergleichbare soziale Lage von Leserin und Held konstruiert wird, sondern über eine vergleichbare psychologische Mikrosituation im Moment des Leseaktes. Schillers Anekdote hat keine bestimmte Leserschaft im Auge, der Text selbst ist es, der eine Ähnlichkeitssituation zwischen Leseerfahrung und Inhalt, zwischen Rezipient und Figur konstituiert. Diese identifikatorische Leseerfahrung wird sich somit bei jeder Leserin und bei jedem Leser einstellen. Zum anderen kommt hierüber erneut eine Ästhetik der Kontingenz zur Anwendung, die nur dadurch funktionieren kann, dass der Text bestimmte Zusammenhänge bewusst offen lässt, oder zumindest vom Exakten ins Wahrscheinliche drängt. Diese Form der Darstellung ist dann auch ein Grund dafür, weshalb normative Aussagen, die ja ihrer Konstruktionsweise nach in der Regel einen Exaktheitsanspruch aufweisen müssen, in der Anekdote wie in den meisten anderen (frühen) Texten Schillers kaum Platz haben. Sie ist aber auch eine Erklärung



373 Vgl. hierzu v.a. Kapitel 1.2.2.





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dafür, weshalb es in der Forschung zu so disparaten Deutungen und zu so deutlichen Irritationen über einzelne Passagen des Textes gekommen ist. Das Modell des jüngeren Bruders Zeigt der Text den älteren Bruder als eine primär an den sinnlichen Verlockungen des Besitzes interessierten Charakter, so skizziert er den Jüngeren ebenso negativ als eine vor allem Ansehensgewinne in den Blick nehmende Figur. Das Problem des Jüngeren besteht nun zunächst darin, dass es seinem älteren Bruder bereits im Vorfeld gelungen ist, schon die Bereitschaft, sich als Erstgeborener überhaupt auf das Verfahren des Sozialexperiments einzulassen, als Verdienst darzustellen, und so ein implizites Argument zu seinen Gunsten zu etablieren. So steht der jüngere Bruder vor der Schwierigkeit, dass er die im Rahmen des Experiments erbrachte Leistung des älteren übertreffen muss, um einen berechtigten Anspruch auf die Ehe mit dem Fräulein von Wrthr. artikulieren zu können. Problematisch ist für ihn auch, dass die Vorleistungen des älteren Bruders die Durchführung eines streng kontrollierten Experiments unmöglich machen. Die Vermessung der Liebe durch deren Transformation in Schmerz erweist sich zwar als innovative Methode, mit der verglichen werden kann, welcher der Brüder das „Fräulein“ stärker liebt, mit der also Kontingentes in eine manifeste Form gebracht wird. In welchem Ausmaß jedoch die vorausgehende Bereitschaft des Älteren, auf das traditionelle Erstgeborenenrecht zu verzichten, hierin einbezogen beziehungsweise umgerechnet werden kann, bleibt letztlich offen und müsste im Zweifelsfall nach dem Experiment diskursiv ausgehandelt werden. Der jüngere Bruder muss nun ein eindeutiges Ergebnis bei seinem Selbst-Exilierungsversuch herbeiführen, um den Konflikt abschließend zu lösen und eine nachträgliche diskursive Deutung der jeweiligen Leistungen zu vermeiden. Seine Aussage, dass bei einem Scheitern „der Himmel weiter über uns richten [möge]“, (V, 11) belegt ein Wissen darüber, dass bei einem unklaren Ergebnis des Experiments auch andere Möglichkeiten der Konfliktlösung Anwendung finden können, vielleicht sogar wahrscheinlich werden – die Assoziation eines Rückfalls hin zu den in den einschlägigen Sturm- und Drang-Dramen beschriebenen gewaltsam ausagierten Bruderkonflikten liegt hier durchaus nahe.

Der Vorteil für den jüngeren Bruder liegt aber darin, dass die Ungleichzeitigkeit

der beiden Reisen es in seine Verfügbarkeit stellt, die Leistung seines Bruders zu überbieten. Die Herausforderung ist für ihn recht einfach zu kalkulieren, da das Ergebnis sei



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nes Konkurrenten bereits zu Beginn seiner Reise vorliegt. Entsprechend zeigt sich er sich schon vor dem Antritt der Reise gewillt, eine die brüderliche Handlung deutlich in den Schatten stellende Anstrengung zu vollbringen: „‚Bruder, du trugst deinen Schmerz bis nach Holland. – Ich will versuchen, ihn weiter zu tragen. [...] Ich geh nach Batavia!’“ Der Erzähler kommentiert dies umgehend mit der Aussage, dass er damit „den Bruder an Edelmut übertroffen“ habe (V,11), obwohl zu diesem Zeitpunkt das Gelingen seines eigenen Reiseversuchs nicht als garantiert betrachtet werden kann. Begleitet wird die Ankündigung, nach Batavia (dem heutigen Jakarta) zu reisen, von einer deutlichen Distanzierung gegenüber den Motiven des älteren Bruders. Für den Fall des Gelingens seiner Reise in die weit entfernte niederländischen Kolonie überschreibt der jüngere dem älteren „alle[] seine[] deutschen Besitzungen“ (V, 11) und demonstriert hierdurch eine Erhabenheit gegenüber den sinnlichen Verlockungen des Eigentums und damit verbunden auch seine Überlegenheit gegenüber dem Bruder, dessen Begehren sich ja ganz maßgeblich auf das profan-ökonomische Prinzip des Besitzes richtet.

Im Vergleich zu seinem älteren Bruder trägt der jüngere damit eher aufkläre-

risch-idealistische Züge. Anders als dieser ist ihm nicht an der Täuschung seines Alter Egos gelegen, er versucht sich nicht als jemand zu inszenieren, der er nicht ist. Seine Verzichtshandlung kann im eigentlichen Sinne auch nicht als Instrument zur Erreichung von Vorteilen im Bruderkonflikt gelesen werden – sie ist vielmehr Ausdruck von Wahrhaftigkeit. Schein und Sein fallen hier dem Rousseau’schen Authentizitätspostulat gemäß zusammen – anders als beim Verzichtsversuch des älteren Bruders werden keine doppelten Böden, keine Kontingenzen produziert. Dennoch zeigt der Text auch den jüngeren Bruder keineswegs frei von Ehrgeiz. Über der von Gottesanrufen begleiteten Selbstbezeichnung als „Märtyrer“, welcher der „Freundschaft das höchste Opfer zu bringen bereit“ ist, (V, 11) erfolgt eine ebenso pathetische Verklärung der eigenen Verzichtshandlung wie in dem sich daran anschließenden Stammeln: „[D]ein ist – Gott! Hier fiel eine Träne – die letzte – Ich habe überwunden – Dein ist das Fräulein [Hervorhebungen im Original].“ Die Unterbrechung der rationalen Rede vollzieht sich über die Performanz des Affektiven, die Emotio in ihrer Irrationalität manifestiert sich also performativ in der Suspension der Ratio; ob die Ursache des Gefühlsausbruches in der nun unumstößlichen Trennung von der Geliebten oder doch eher in einer Rührung über die eigene Entsagungsleistung liegt, bleibt dabei offen. Die Besonderheit dieser Textstelle liegt jedoch vor allem darin, dass die Suspension der Ratio hier auf der Figurenebene – nämlich im Brief des jüngeren Bruders – stat



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findet, wenngleich auch eine gewisse Unklarheit hinsichtlich der Erzählerrolle in dieser Passage besteht.374 Es werden also – in Zusammenarbeit von Erzähler und Figur – erhebliche Anstrengungen unternommen, um der Leistung des Barons die entsprechend positive Bewertung zu verleihen. Über seine Selbstinszenierung als Märtyrer wird der jüngere Bruder erneut mit dem sich in die Rolle des barmherzigen Samariters (und des Gottessohnes) begebenden älteren Bruder parallelisiert. Wo der ältere Bruder jedoch seinen Egoismus hinter einer scheinbaren Großmütigkeit zu verbergen versucht und aufgrund dieser bewussten Täuschung letztlich als untugendhaft gelten muss (Vgl. V, 245), ist das Verhältnis aus Ehrgeiz und Großmütigkeit im Falle des jüngeren anders gestaltet. Anders als bei der Selbstinszenierung des Bruders kann er über die durch seine großmütige Handlung ausgelöste Anerkennung keinen weitergehenden externen Nutzen generieren. Er verzichtet nicht nur auf Besitz und gibt seinen (vermeintlichen) Anspruch auf die Frau auf. Auch eine durch seine Großmütigkeit bewirkte Verbesserung seiner gesellschaftlichen Stellung kann ja gerade aufgrund seines Exils nicht zum Tragen kommen. Die Motivation für sein Streben nach einer Anerkennung seiner großmütigen Handlung muss demnach in einer inneren Gratifikation liegen. Dem jüngeren Bruder liegt mehr an seinem Selbst- als an dem Fremdbild über ihn. Der Text zeigt damit in ihm eine Figur, deren Großmütigkeit sich nicht mit den Kategorien aus Zedlers Universallexicon erfassen lässt, sein Ehrgeiz dient nicht der Täuschung anderer, sondern ist eine Technik der Selbst-Subjektivierung.

Aus gesellschaftlicher Perspektive kann hier zwar nicht mehr eine Vortäuschung

falscher Tatsachen kritisiert werden. Der jüngere Bruder agiert (für sich und für andere) verlässlich und berechenbar. Problematisch wird sein Handeln jedoch durch die damit einhergehende Selbstexilierung aus der Gesellschaft, was sich als kritische Reflexion des in der Spätaufklärung mit ihrer Fokussierung individueller Rechte und Ansprüche ausgelösten Individualisierungsschubs lesen lässt.375 Er ist damit ein geradezu paradigmatisches Beispiel für die in den aufklärerischen Diskursen um 1800 (insbesondere dann später den romantischen) immer häufiger auftretende Figur eines intentionalen Außen

374 „Dein ist [...] ich habe überwunden – Dein ist das Fräulein“ ist aufgrund der Ich-Aussage eindeutig der

Figur zuzuordnen. Der kommentierende Charakter der Formulierung „Hier fiel eine Träne – die letzte“ legt hingegen nahe, dass hier der Erzähler spricht. Die Zuordnung des Ausrufs „Gott!“ zum Erzähler oder der Figur bleibt schließlich vollends kontingent. Auch an dieser Stelle spielt der Text also mit Mehrdeutigkeiten im Sinne der beschriebenen Ästhetik der Kontingenz. Durch diese annähernde Ununterscheidbarkeit entsteht eine Nähe zwischen Erzähler und Figur, die einen weiteren Anlass liefert, die Erzähleraussagen skeptisch zu betrachten. 375 Zur Thematisierung gesellschaftlicher Inklusions- und Exklusionstendezen in Schillers Drama Die Räuber vgl. Kapitel 1.2.3.





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seiters. 376 Durch sein Handeln gewinnt er zwar Anerkennung, die Wahl eines ExilDaseins ohne Partnerschaft, ohne Familie und Freunde kann jedoch zur Zeit Schillers kaum als vorbildhaft gelten. Wo sein älterer Bruder Risiken eingeht und kalkulierend Gestaltbarkeitspotentiale aus der Hand gibt und sich bewusst in Situationen der Unkalkulierbarkeit begibt, schafft sich der jüngere Lebensumstände, die er vollständig kontrollieren kann und in denen er von den Widerfahrnissen, die aus sozialen Strukturen fast zwangsläufig – und in der sich um 1800 immer stärker ausdifferenzierenden Gesellschaft zunehmend häufiger – erwachsen, nicht mehr heimgesucht werden kann. Er geht sogar so weit, dass er sich im Hinblick auf den Eintritt möglicher Widerfahrniserlebnisse vorab kommunikativ abschottet. So schreibt er in seinem Brief an den Bruder: [Ich] habe [die Frau] nicht besitzen sollen, das heißt, sie wäre mit mir nicht glücklich gewesen. Wenn ihr je der Gedanke käme – sie wäre es mit mir gewesen – Bruder! Bruder! Schwer wälze ich sie auf deine Seele. [...] Schreibe mir nicht, wenn du die Brautnacht feierst. Meine Wunde blutet noch immer. Schreibe mir, wie glücklich du bist. (V, 11)

An dieser Stelle wird ein mehrfaches Unbehagen deutlich. Zwar finden hier erstmalig auch die Befindlichkeiten der Frau Berücksichtigung. Dass diese nun aber nicht nur auf Leser-, sondern auch auf der Figurenebene als relevant erachtet werden, lässt doch gewisse Zweifel jedenfalls des jüngeren Bruders an dem strukturell ausschließlich die Gefühle der Männer vermessenden Experiment erahnen. Der für den jüngeren Bruder offensichtlich nur schwer zu ertragende Gedanke, dass die Partnerallokation nicht nur anders möglich, sondern sogar anders richtiger wäre, wird im Anschluss daran bewältigt durch das Argument, dass das Mädchen selbst wohl denjenigen stärker lieben würde, der sie seinerseits mehr begehrt. Diese Rationalisierung ist eine bis in den Liebesdiskurs der Aufklärung hineinwirkenden Vorstellung, in welcher die Liebe als Sekundärfolge eines rationalen Arrangements sozialer und materieller Gegebenheiten gilt.377 Schillers Text entlarvt diese Bewältigungsstrategie dann auch wenige Zeilen später als verfehlt, indem er festhält, wie das Mädchen am Sterbebett „ihrer Vertrautesten das unglückseligste Geheimnis ihres Busens [bekannte]: sie hatte den Entflohenen [den jüngeren Bruder, M.K.] stärker geliebt.“ (V, 11). Der Text kritisiert auf diese Weise das in der (Spät-)Aufklärung noch verbreitete deterministische Liebeskonzept. Die modernere Vorstellung einer erst aus dem komplexen Zusammenspiel der Kommunikationen zwei 376 Vgl. Meyer, Außenseiter 1975. 377 Vgl. Luhmann, Liebe als Passion 1982, S. 119–122. Zu ergänzen ist allerdings, dass Luhmann herausstellt, wie die literarischen Texte vielfach schon seit dem 17. Jahrhundert Widerständigkeiten gegen diese gesellschaftliche Vereinnahmung der Liebe zeigen.





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er sich zugeneigter Personen entstehenden Liebe ist hier zwar noch nicht ausformuliert, über die dargestellte Obsoleszenz einer sich ausschließlich in den durch die Vernunft bereits vorkonturierten Bahnen manifestierenden Emotio aber doch argumentativ angelegt. Zwar ist dem Text die Idee einer in Momenten der doppelten Kontingenz spezifische Eigendynamiken entwickelnden Liebe, wie sie für moderne Paarbeziehungen bis in die Gegenwart konstitutiv geworden ist, noch nicht eingeschrieben. Er zeigt jedoch auf, dass der Liebeskommunikation eine größere Relevanz zuzukommen hat als in den im 18. Jahrhundert gängigen Liebesvorstellungen üblich ist und offenbart damit eine kontingenzzugewandte, moderne Haltung.

Zudem wird die Kritik an einer rational-deterministischen Haltung gegenüber

der Liebe nochmals zugespitzt, indem der jüngere Bruder als eine Figur gezeichnet wird, die Maßnahmen zur Verhinderung eines Widerfahrniserlebens in einer potentiellen Situation geronnener Kontingenz ergreift. Für den Fall, dass sich in der Zukunft herausstellen sollte, dass das Mädchen doch zu der Auffassung käme, in der Gegenwart hätte man anders entscheiden sollen, überträgt er die Verantwortung auf seinen Bruder. Dieser potentielle Moment des Schreckens soll ins Latente zurückgedrängt werden, ebenso wie die für ihn gleichermaßen schreckliche Beschreibung der Brautnacht. Statt über derartige die Kontingenz der Partnerallokation wieder aufrufende Ereignisse möchte er lieber darüber informiert werden, „wie glücklich“ sein Bruder sei. Interessiert ist der jüngere Bruder also vor allem an Nachrichten, welche die über das Sozialexperiment getroffene Entscheidung und damit auch die Sinnhaftigkeit seiner Entsagungsleistung affirmieren. Gegenüber Informationen, welche die Kontingenz von Sozialexperiment und Entsagung in Erinnerung rufen, installiert er einen kommunikativen Latenzschutz. Er für sich handelt also zwar authentisch und verzichtet auf die Täuschung anderer Personen, will selbst aber getäuscht werden.

In der Figur des jüngeren Bruders verdichtet der Text seine Reflexion einer genu-

in aufklärerisch-rationalistischen Praxis der Determination beziehungsweise der Kontrolle des Unverfügbaren und Kontingenten. Er zeigt, wie das Bedürfnis nach einer Gestaltung und Bestimmung der sozialen Welt umschlagen kann in den Wunsch, das Unberechenbare möglichst aus dem eigenen Leben zu vertreiben. Das Unbehagen an der Kontingenz seiner Handlungen kann der jüngere Bruder nicht verleugnen. Dass er sich ins nicht-wissen-Wollen flüchtet, belegt nur, dass er um diese Kontingenz bereits unwiederbringlich weiß und sich bewusst ist, diese niemals vollständig kontrollieren zu kön-





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nen. Auch die Selbstisolation kann da nur bedingt helfen, der Zweifel wird immer bleiben und die innere Ruhe, die er sucht, wird er nicht finden können. Schillers Text führt somit vor Augen, dass die zunehmenden Gestaltungsmöglichkeiten des Individuums in der Moderne immer mehr Möglichkeiten zur Auflösung von Kontingenzen zur Verfügung bereitstellen – das Sozialexperiment erweist sich ja als (jedenfalls theoretisch) durchaus geeignetes Instrument zur Vermessung der Liebe. Der Text belegt ebenfalls, dass jedes gestaltende Handeln, gerade wenn es sich als soziales Handeln darstellt, aber auch neue Kontingenzen produziert, sodass etwa der Wunsch vor Widerfahrnissen gewahrt zu bleiben, sich angesichts dieser Dialektik als aporetisch erweisen muss. Alle Versuche, dies zu verdrängen, sind zum Scheitern verurteilt, sodass an der Kontingenzanerkennung kein sinnvoller Weg vorbeiführt. Ohne es explizit auszuformulieren, belegt dies die Anekdote auf eindrucksvolle Weise. Das Verfahren, die Frau und die Performativität des Textes Diese Notwendigkeit einer Kontingenzanerkennung wird nicht nur auf der Ebene der Figurenpsychologie verdeutlicht, sondern insbesondere auch wenn man die Gesamthandlung der Anekdote in den Blick nimmt. Auch in dieser Perspektive zeigt der Text, dass rationalistische Methoden durchaus wirkmächtig auf soziale Begebenheiten angewandt werden können, dass diese jedoch in ihrer Komplexität niemals ganz einer vernunftmäßigen Kontrolle unterworfen werden können. Das liegt vor allem daran, dass sich die beteiligten Personen nicht mechanisch-rational verhalten, wie es das Experiment eigentlich verlangen würde. Die theoretische Vorstellung, soziale Verhältnisse vernunftmäßig steuern zu können, erweist sich als utopisch, weil die Menschen in ihrer Verfasstheit als Wesen mit Vernunft und Gefühlen empirisch nicht durchgehend rational agieren. In der Anekdote wird dies dann auch konsequent anhand eines konkreten Beispiels vorgeführt, in dem mit der Kombination aus Vertrag und Experiment eine Anwendung rationalistischer Methoden zur Bewältigung eines eigentlich emotional strukturierten Dilemmas reflektiert wird. Zwar wird über den Vertrag eine gewaltsame Konfliktlösung vermieden, es wird aber auch gezeigt, dass rationalistische Methoden zu rationalistischen Ergebnissen führen, beziehungsweise nur bedingt auf die Domäne des Emotionalen durchgreifen können. Gerade die Kombination aus Vertrag und Experiment scheint sich dabei als schwierig zu erweisen, liegen diesen Praxen doch unterschiedliche



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Zeitregime zugrunde. So ist ein Experiment prinzipiell darauf ausgelegt, Kontingenz (hier: Liebe) im Zeitverlauf in Variation (hier: das Ausmaß des Schmerzes) zu transformieren, um diese Variation dann messen zu können, während ein Vertrag sui generis darauf abzielt, Handlungen im Zeitverlauf zu kontrollieren und damit Zukunft berechenbar zu machen. Dieser Hiatus der Zeitregime wird zum Anreiz für beide Brüder, immer wieder in die ursprüngliche Vereinbarung einzugreifen und neue Bedingungen zu stellen und so den auf exakter Vergleichbarkeit beruhenden Experimentcharakter zu durchkreuzen.378 Der ältere Bruder geht dabei sogar so weit, das Experiment bewusst durch sein falsches Spiel zu manipulieren. Genau hierdurch zeigt der Text, dass die prinzipiell vorhandenen Potentiale rationalistischer Sozialtechniken in der Realität an der Menschlichkeit der Menschen scheitern. Der jüngere Bruder nimmt das Konstrukt aus Vertrag und Experiment hingegen zu ernst. Sein Ehrgeiz mündet in einer kaum mehr zu überbietenden und zur Selbstisolierung führenden Affektregulierung. Ob, wie in der Literatur nahegelegt wird,379 sein Leistungswille der Grund dafür ist, dass das „Fräulein“ ihn am Ende mehr als seinen Bruder liebt, kann durch die Textlektüre zwar nicht abschließend beantwortet werden – die Frau kann ihn durchaus zu Beginn schon stärker geliebt haben als seinen Bruder. Plausibel ist jedoch tatsächlich, dass er dieser Vorstellung einer leistungsbezogenen Liebe verhaftet ist und noch nicht fähig ist, Liebe als Selbstzweck zu betrachten – dies wäre jedenfalls eine glaubhafte Motivation für seine Entsagungshandlung. Indem er – nach dieser Lesart – davon ausgeht, dass derjenige von der Frau stärker begehrt werden würde, der mehr leistet, folgt der jüngere Bruder einem Konzept von Liebe dessen Aporie die Anekdote dann über sein Scheitern vor Augen führt. Er könnte – dieser Vorstellung entsprechend – nur deshalb so stark geliebt werden, weil er der Liebe entsagt. Die Anekdote würde im Scheitern der beiden Brüder also das Scheitern zweier unterschiedlicher rationaler Konzepte zur Bewältigung der Kontingenz in der Liebe zeigen – eines eher barocken (rational-manipulativen) und eines eher aufklärerischen (rationaldeterministischen).380 In diesem Punkt entspricht ihr Setting bezeichnenderweise recht genau demjenigen der Räuber.

378 Vgl. V. 10 und 11. 379 So etwa in Kaiser, Der Held in den Novellen „Eine großmütige Handlung, aus der neuesten Geschichte“

und „Verbrecher aus Verlorener Ehre“ 1978, S. 45–58.

380 Die später in der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung vorgenommene Differenzie-

rung von Realist und Idealist scheint hier schon recht deutlich auf.





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Dabei lässt sich keine Wertung des Textes zugunsten eines der beiden Konzepte ausmachen. Jeder der Brüder scheitert auf eine ihm eigene Weise. Auch gelingt es dem Text, beide Protagonisten durchaus Sympathien gewinnen zu lassen. Das Leiden des Älteren in Holland ob der Trennung von Frau und Heimat ist geeignet, um beim Leser Mitleiden hervorzurufen. Die ins Extreme getriebene Schilderung des körperlichen Verfalls ebnet jegliche kritische Distanz zu der Figur ein.381 Auch der Jüngere muss aus der Perspektive der um 1800 aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Etablierung von Werten wie Leistung und Selbstdisziplin eine gewisse Sympathie erlangen aufgrund seiner Bereitschaft, einen sozialen Konflikt durch extreme Entsagungsleistungen zu entschärfen. So sehr der Text aber das konkrete Vorgehen des jüngeren Bruders, vor allem die dem zugrundeliegende Maßlosigkeit, auch kritisch hinterfragt – dass es sich dabei um eine typisch spätaufklärerische Kritik an der spezifischen Umsetzung von Werten handelt, deren Geltung im Generellen damit noch nicht in Frage gestellt wird, darf bei der Lektüre des Textes nicht aus den Augen verloren werden. Die Figur der Frau könnte einerseits als Beleg für einen männlich dominierten Blick des Textes auf das Phänomen der Liebe dienen. Ihre generelle Passivität und ihre Unfähigkeit, für ihre eigenen Interessen einzutreten, scheinen der traditionellen Zuordnung einer aktiv-passiv-Dichotomie auf die Geschlechter zu entsprechen. Tatsächlich treten die beiden Brüder in der Erzählung auch als handelnde Figuren mit eigenen Redeanteilen auf. Die Aussagen der Frau werden hingegen ausschließlich über die Erzählinstanz referiert. Am deutlichsten wird die fast gewaltsame Ausblendung der weiblichen Perspektive in dem Moment, in dem der Erzähler sich selbst ins Wort fällt, bevor er sich dem Blickwinkel der Frau zuwendet: „Man besorgte um sein Leben. Das Fräulein – doch nein! Davon wird das Ende reden.“ (V, 11).

Berücksichtigt man jedoch den auch in der Tradition der Prätexte stehenden per-

formativen Anspruch der Anekdote, nicht nur inhaltliche Aussagen zu treffen, sondern Sinngehalte auch über die formale Textkonstitution zu generieren, so wird auch eine andere Lesart des Textes möglich. In diesem Fall ist die Ignoranz des Textes für die weibliche Perspektive nicht als unbewusster Chauvinismus eines noch jungen männlichen Autors, sondern als bewusst bedeutungskonstituierendes Element des Textes zu 381 Selbst wenn man sie – nicht ganz unbegründet – als Hinweis auf einen zu große Sympathien für den

Protagonisten entwickelnden Erzähler liest, der dessen Leiden durch eine Steigerung ins Unwahrscheinliche übertreibt und damit seine eigene Unzuverlässigkeit ungewollt offenbart, kann dies nicht dem Protagonisten angelastet werden und somit auch nicht ein an dieser Stelle aufkommendes Mitgefühl des Lesers ihm gegenüber mindern.





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lesen, über welches die Anekdote gerade ihre Kritik an der Verabsolutierung des männlichen-rationalen Prinzips vorführt. Dass die Frau und ihre Perspektive von den Figuren, dem Erzähler und eigentlich dem ganzen erklärtermaßen auf affektbezogene Details verzichtenden Text ignoriert werden, reproduziert die inhaltlichen Aussagen des Textes auf formaler Ebene. Die Unterdrückung des Weiblichen steht dann für eine Unterdrückung von Liebe, Emotion und Kontingenz. Schillers Text erweist sich somit in seiner Haltung und Konstruktionsweise als genuines Produkt der Spätaufklärung. Selbst rational konstruiert zielt seine Aussage auf eine Kritik einer Rationalität ohne Maß ab. Er entspricht damit dem Geist einer reflexiv gewordenen Aufklärung, die im Begriff ist, ihre Prinzipien auf sich selbst anzuwenden, ohne sich dadurch selbst zurückzunehmen. Auswertung Die Unterschiede in der Methodik dieses Abschnitts zu derjenigen der vorhergehenden erfordert eine kurze Erläuterung der Ergebnisse, in der auch der Zusammenhang der Abschnitte deutlich werden soll. Anders als in den ersten Kapiteln wurde hier nicht nach spezifischen Metaphern, Motiven, Strukturen oder Techniken einer Reihe von Texten gefragt, sondern Schillers frühes Kontingenzdenken anhand zweier Close-Readings nachvollzogen. Dabei wurden jedoch keine rein textimmanente Lektüre durchgeführt, sondern über Blicke auf Schillers Werk übergreifende Diskursformationen dargelegt, wie sich die Reflexionen in Empfindungen der Dankbarkeit und in der Anekdote Eine großmütige Handlung in allgemeinere Veränderungen des Denkens um 1800 einschreiben.

Da sich die Kapitel der ersten Abschnitte jeweils inhaltlich um folgende drei

Komplexe gruppieren – nämlich (1) um die Fragen nach der Phänomenologie des Kontingenten und den Techniken, diese zu bearbeiten, (2) um die Verarbeitung spezifischer Momente des Kontingenten und deren Bezüglichkeit zu allgemeinen, momentübergreifenden Strukturen und (3) um die Frage nach dem Zusammenhang von Kontingenz, Zeitlichkeit und Theatralität – scheint es methodisch sinnvoll, die Auswertung dieses Abschnitts ebenfalls entlang dieser Inhalte vorzunehmen.

Hinsichtlich des ersten Komplexes ist in dem von Schiller entwickelten Diskurs-

strang zu Kontingenz (Liebe) und Ordnung (Tugend) dabei Folgendes festzuhalten: Das Gedicht Empfindungen der Dankbarkeit spielt mit dieser Dichotomie, indem es die klassische Zuordnung aus Männlichkeit/Tugend/Gesellschaft/Ordnung und Weiblich



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keit/Liebe/Subjektivität/Kontingenz relativiert (ohne dass dies jedoch schon einen emanzipatorischen Charakter hätte). So wird etwa unter dem Einfluss des englischen Sensualismus auch ein emotionales Begehren zur Vergesellschaftung präsentiert. Und im von den Diskursen der Geniezeit geprägten Bild der sich in einer Träne spiegelnden Reflexionen wird das Emotionale zur Ermöglichungsbedingung des Rationalen.

Schiller schiebt hier also die zwei Seiten einer typischen Unterscheidung ineinan-

der, schafft so auf quasi experimentelle Weise neue Unterscheidungen und führt zu einer Erweiterung des motivischen, begrifflichen beziehungsweise ideellen Apparats, mit dem sich die Phänomene Kontingenz und Ordnung erschließen lassen. Schiller arbeitet bereits in seinen frühen Texten daran, die um 1800 nochmals zunehmende Komplexität der Wirklichkeit poetisch, methodisch und begrifflich zu fassen. In der Anekdote Eine großmütige Handlung zeigt er eindrucksvoll am Beispiel von ‚Großmütigkeit’, wie bestimmte traditionelle Begriffe nicht mehr geeignet sind, den zunehmend differenzierten gesellschaftlichen Realitäten gerecht zu werden. Schillers Text erweist diesen gesinnungsethischen Begriff als vollkommen ungeeignet zur Einordnung der von den Protagonisten vollzogenen Handlungen. Zum einen verdeckt seine positive Konnotation deren unlautere Handlungsmotive. Zum anderen differenziert er nicht zwischen den doch sehr unterschiedlichen Entsagungsleistungen der beiden. Vor allem wird deutlich, dass seine gesinnungsethische Stoßrichtung nicht geeignet ist, das Auseinanderfallen von innere Motivation und äußerer Handlung zu erfassen. Ganz folgerichtig vollzieht Schiller daher selbst einen konzeptionellen Wechsel, weg von gesinnungsethischen und hin zu verantwortungsethischen Betrachtungen. Entsprechend dazu wird er sich auch in der Folge den nach psychologischen Motivlagen fragenden Begriff der ‚Großmütigkeit’ nicht mehr zu eigen machen, sondern durch den lediglich (ästhetische) Wirkungen fokussierenden Begriff der ‚Erhabenheit’ ersetzen.

Hinsichtlich des zweiten Komplexes ist festzuhalten: Die beiden in diesem Ab-

schnitt der Arbeit analysierten Texte Schillers sind geprägt durch eine Reflexion ihrer Form auf ihre Inhalte (bzw. umgekehrt). Schon in dem Gedicht wird das Thema Liebe und Tugend über die (vom Text konstruierte) Verteilung der Strophen auf die Schülerinnen der École des Desmoiselles und die Schüler der Karlsschule nicht nur inhaltlich, sondern auch formal innerhalb der unterstellten382 Aufführungsbedingungen verhan

382 Ob die Strophen des Gedichts am Geburtstag Franziskas von Hohenheim tatsächlich auf die Schülerin-

nen der École und die Schüler der Akademie wurde, ist hier nicht erheblich. Allein die Tatsache, dass der





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Erstes Kapitel Die Varianz des Kontingenzdenkens ...

delt. Im Gedicht wird deutlich, dass die Einbeziehung der Form in die Bedeutungskonstitution zu einer Komplexitätssteigerung führt, die insbesondere eine Darstellung von Homöostase- oder Balanceverhältnissen erheblich erschwert. Das Gedicht kippt so in Richtung eines Übergewichts des Rationalen gegenüber dem Emotional-Affektiven. In der Anekdote Eine großmütige Handlung wird Schiller dieses Darstellungsproblem auf eine spezifische Weise lösen. Dies geschieht, indem der Text eine veränderte Perspektive Schillers auf das Verhältnis der beiden Domänen zeigt. Während noch das Gedicht darauf abzielt und gleichzeitig daran scheitert, ein homöostatisches Verhältnis aus Ordnung und Kontingenz darzustellen, macht die Anekdote das Scheitern dieses Versuchs selbst thematisch. Statt des vergeblichen Versuchs, Balance zu produzieren, wird in Eine großmütige Handlung die Problematik, Kontingenz mit rationalen Mittel einzuhegen, auf deutliche Weise veranschaulicht. Der selbst rationale konstruierte Text führt dieses Scheitern inhaltlich (die Maßnahmen der Brüder werden als unzureichend ausgestellt) wie performativ (durch die strenge, überdeterminierte Struktur des Textes, aber auch durch die Unterdrückung der Rede des „Fräuleins“) vor Augen. Hinsichtlich des dritten Komplexes ist zunächst festzuhalten, dass dieser in dem von Schiller entfalteten Diskursstrang zu Liebe und Tugend in enger Beziehung zu den beiden anderen Komplex steht: Die Verhandlung von Theatralität und Ästhetik vollzieht sich in den in beiden in diesem Abschnitt besprochenen Texten ganz maßgeblich über die Performativität der Texte – was im Falle des Gedichts natürlich auch damit zusammenhängt, dass diese mit Blick auf ihre inszenatorische Darbietung im Rahmen der Geburtstagsveranstaltungen zu Ehren Franziskas von Hohenheim verfasst worden sind. Dass die Überlegungen zu Tugend und Liebe jedoch auch bewusst um Fragen theatraler Darstellung kreisen, belegt die (keine solche Situierung innerhalb eines im weitesten Sinne theatralen Kontext aufweisende) Anekdote Eine großmütige Handlung. Nicht zufällig stehen in deren Zentrum die einen klaren Bezug zu ästhetischen und theatralen Zusammenhängen aufweisenden Fragen nach der Authentizität des Figurenverhaltens. Die beiden Brüder werden als Personen gezeichnet, welche die Wirkungen ihrer Taten über deren gesinnungsethische Bewertung stellen, wobei der ältere vor allem auf eine Wirkung in seinem soziale Umfeld, der jüngere hingegen vor allem selbsttechnisch auf eine psychologische Wirkung bei ihm selbst abzielt.

Text eine solche Aufteilung nahelegt, genügt als Belegt für die These, dass er die Aufführungssituation gleichsam ‚mitdenkt’.





1.3 Close Reading der Anekdote Eine großmütige …

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Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf den spielerischen Charakter des von beiden Brüdern durchgeführten Experiments. Der kompetitiven Auseinandersetzung, in der nach vorgegebenen Regeln, aber unter Erbringung eigener Leistungen, ein Gewinner ermittelt wird, ist eine Assoziationsnähe zu strategischen Spielen wie dem Pharo nicht abzusprechen. Folgt man nun, wie dies in dieser Arbeit bereits im Kapitel über die Motivik des (Glücks-)Spiels geschehen ist, Daniel Fuldas Gleichsetzung strategischen Spiels und des ästhetischen Spiels,383 so wird die Anekdote insgesamt als poetologischer Text lesbar. Dies hieße dann aber auch, dass der Text seine eigene (überstrukturierte) Konstruktionsweise als poetisch unzulänglich ausweisen würde. Indem die Anekdote dann eine Aporie – die Homöostase aus Ordnung/Kontingenz in Form und Inhalt – umginge, fiele sie einer neuen anheim. Wenn die Kritik des Rationalen über die Darstellung einer hypertrophen Rationalität gleichzeitig auf eine Kritik rational konstruierter Poesie verwiese, wäre die (überrational konstruierte) Anekdote keine Poesie mehr. Ob man dem folgen will, ist hier gar nicht entscheidend. Wichtig ist jedoch die erneute Feststellung, dass Schiller sich bereits seinen frühen Texten intensiv mit den ästhetischen Fragestellungen befasst, auf die er dann später mit seinen Ästhetiken des Schönen und des Erhabenen anschließen kann. Abschließend sei – entsprechend des Anspruchs dieser Arbeit, dem Zusammenwirken aus Schillers Verhandlung von Kontingenz und Zeitlichkeit und seinem Blick auf das Thema des Gesellschaftlichen sichtbar zu machen – noch auf Folgendes verwiesen: Beide in diesem Abschnitt behandelten Texte entwickeln eine dezidierte Perspektive auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Schon das Gedicht hat (wie übrigens auch Schillers an der Karlsschule gehaltenen Festreden) die Wirkungen von Tugend und Liebe auf die Gesellschaft fest im Blick. Die Anekdote hingegen zeigt die (wenngleich scheiternde) Lösung eines genuin menschlichen Problems mithilfe der sozialen Praxis des Vertrags. Die Verhandlung von Kontingenz und Ordnung (in all ihren Erscheinungsformen) ist bei Schiller hier – wie auch sonst – also in einem Zusammenspiel mit einer Beobachtung der gesellschaftlichen Wirklichkeiten um 1800 zu sehen. Die Hinwendung zu einer stärkeren Affirmation des Kontingenten (und damit alle drei der hier angeführten Komplexe, aber auch die Aufladung der Texte mit Komplexität und ihre letztlich aporetischen Charakter) konvergiert dann mit neuen Beobachtungsmöglichkeiten auf eine immer unüberschaubarer werdende Gesellschaft.

383 Vgl. Fulda, Komödiant vs. Kartenspieler 2013, S. 43–44 und Kapitel 1.1.2 in dieser Arbeit.





Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers historischen Arbeiten Die Analysen dieser Arbeit folgen dem übergeordneten Erkenntnisinteresse, Schillers Zugänge zu den gesellschaftlichen Transformationsprozessen um 1800 und deren Rückkopplungen auf sein Denken und Schreiben nachzuzeichnen. Ein Ansatz zum Verständnis seiner Perspektive auf die gesellschaftlichen Dynamiken im Europa der Spätaufklärung sowie seiner Techniken, sich die soziale Wirklichkeit seiner Zeit zu erschließen, folgt aus der Tatsache, dass Schiller die Veränderungsprozesse seiner Zeit aus der Perspektive verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme, namentlich der Literatur, der Medizin, der Philosophie, und nicht zuletzt auch der Geschichtswissenschaft beobachtet. Gerade die Unterschiede in den Textsortenspezifika dieser verschiedenen Felder stellen geeignete Möglichkeiten für Zugriffe auf Schillers Verständnis von Kontingenz und Zeitlichkeit bereit – also auf diejenigen Phänomene, über welche die vorliegende Arbeit sich seinen Vorstellungen von den gesellschaftlichen Veränderungen an der Schwelle zum 19. Jahrhundert zu nähern versucht. Insbesondere Schillers gegen Ende der 1780er Jahre entstandenen historischen Schriften erlauben ein konkreteres Nachvollziehen der deutlichen Systematisierung und Schärfung von bereits in seinen früheren Texten angelegten Reflexionen über Kontingenz und Zeitlichkeit. Vor allem ermöglicht und erfordert die nun von Schiller neu eingenommene Rolle des Historikers die Einnahme einer weiteren und für ihn relativ neuen Perspektive auf die in dieser Arbeit zu untersuchenden Phänomene, eine Perspektive, die der Autor auch mit methodologischen Reflexionen begleitet, wobei er – wie zu zeigen sein wird – eine dezidierte Beschreibung der Aufgaben und Arbeitsweisen des Historikers entwickelt. Für die Analyse der historischen Arbeiten Schillers ergibt sich damit gegenüber den Untersuchungen literarischer Texte der Vorteil, dass hier die Form gegenüber dem Inhalt stark zurücktritt. Insbesondere Unzuverlässigkeiten in der dramatischen Figurenrede beziehungsweise bei der Erzählinstanz narrativer Texte sind im Fall historischer Arbeiten mit (weitestgehend) wissenschaftlichem Anspruch naturgemäß nicht in dem Maße relevant. Damit lassen sich Modalisierungs- und Kontingenzphänomene auf der inhaltlichen Ebene zuverlässiger eingrenzen. Mit anderen Worten liegt der Gewinn bei der Untersuchung der historischen Arbeiten Schillers für diese Arbeit zum großen Teil darin, dass Performativität beziehungsweise Spannungen zwischen dem Dargestellten und der Art der Darstellung, welche häufig (auch beabsichtigt) Unsicherheiten in der Deutung poeti-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 M. Köberlein, Kontingenz und Zeitlichkeit bei Schiller, https://doi.org/10.1007/978-3-662-63848-4_2





Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

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scher Texte evozieren, in historischen und historiographischen Texten keine wesentliche Rolle spielen, sondern dass hier doch deutlich die Orientierung am Objekt gegenüber einer Orientierung an der Wirkung auf die Rezipienten überwiegt. Reflexive Bezüge entspannen sich im Geschichtswerk Schillers weniger zwischen Inhalt und Form, sondern – das sollen die folgenden Abschnitte zeigen – eher zwischen Inhalt und methodischem Ansatz. Derartige Bezüge lassen sich jedoch in der Analyse einfacher kontrollieren, weil hier, wie bereits angedeutet, ästhetische Wirkungsabsichten keine dominante Rolle spielen, also Widersprüche, Spannungen, Differenzen oder bewusst konstruierte Leerstellen zwischen den Ebenen fehlen, da sie keine Funktion erfüllen können. Dies wird dadurch unterstützt, dass die beiden von Schiller in ein reflexives Verhältnis gesetzten Bereiche durchaus gut zu fassen sind, da sie in seinem Geschichtswerk recht klar voneinander getrennt sind. Methodologische, hier im speziellen also historiographische Überlegungen, finden sich (ähnlich wie bei einigen seiner Erzählungen) in den Einleitungen zu Schillers Geschichtsarbeiten und in den Gedankengängen seiner Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, sodass die historischen Arbeiten selbst kaum Unterbrechungen durch methodische oder gar methodologische Überlegungen aufweisen. Und in den wenigen Fällen, in denen doch methodische Einschübe in den Haupttexten der Geschichtswerke auftreten, sind sie ohne weiteres als solche erkennbar und damit auch problemlos von inhaltlichen Kontexten zu unterscheiden. Die ersten Kapitel dieser Arbeit haben sich zu einem wesentlichen Teil mit der Analyse verschiedener ästhetischer Verfahren befasst, über welche in Schillers frühen Dramen Zeitlichkeits- und Kontingenzphänomene konstruiert werden. Aufgrund ihres umfangreichen und oft mehrdeutigen reflexiven Zusammenspiels war eine gemeinsame Betrachtung von Inhalt und Performativität der Darstellungsweise in den Einzelkapiteln geboten. Die deutliche Trennung von Historiographie und Geschichtsdarstellung in den historischen Schriften erlaubt es nun jedoch, diese beiden Bereiche getrennt voneinander zu untersuchen. Daher wird in den folgenden Kapiteln – maßgeblich anhand der Antrittsvorlesung Schillers – zunächst die historiographische Methodik Schillers auf ihre Reflexion der Phänomene von ‚Kontingenz’ und ‚Zeitlichkeit’ befragt, bevor anhand verschiedener historischer Texte Schillers herausgearbeitet wird, welches Wissen der Autor über die beiden Phänomene gewinnt, indem er eine historisch-genealogische Perspektive auf das Geworden-Sein seiner Gegenwart und auf die Herausbildung kontingenter Ordnungen gewinnt.



Zweites Kapitel: Das Kontingenzdenken in Schillers ...

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Damit folgen die drei Unterkapitel dieses Abschnitts im Wesentlichen den inhaltlichen Schwerpunkten der Arbeit. Wie schon in den ersten beiden Abschnitten der Arbeit untersucht das erste Unterkapitel auch dieses Abschnitts die Methodik, mit welcher Schiller einen bestimmten Objektbereich (hier: die Historie) zu erschließen gedenkt. Neu ist hier allerdings, dass mit der Antrittsvorlesung ein methodologischer Text Schillers vorliegt, dass die Methode also von Schiller selbst expliziert und nicht aus seiner praktischen Vorgehensweise erschlossen werden muss. Das zweite Unterkapitel befasst sich dann auch analog zu den Unterkapiteln der ersten beiden Abschnitte mit dem Zusammenspiel von Kontingenz und spezifischer Momenthaftigkeit. Es geht in seiner zweiten Hälfte jedoch darüber hinaus auch dezidiert auf das in Schillers Geschichtsdenken virulente Verhältnis von Ordnung und Kontingenz ein. Das dritte Unterkapitel dieses Abschnitts weicht auf den ersten Blick etwas vom letzten inhaltlichen Schwerpunkt der Arbeit – der Bezüglichkeit zwischen Kontingenz und Theatralität in Schillers Texten – ab. Es befasst sich begriffsgeschichtlich mit Schillers konzeptioneller Arbeit am Zufallsbegriff und mit den darauf folgenden Konsequenzen für Schillers Figurenzeichnung Wilhelms von Oranien. Der Komplex der Theatralität als eines relevanten Kontingenzphänomens bei Schiller wird indes schon implizit im ersten Unterkapitel (wenn die literarischen Gestaltbarkeitsmöglichkeiten, die Schiller dem Historikers zugesteht, in den Blick genommen werden) sowie explizit am Ende des zweiten Unterkapitels (wenn Schillers Reflexionen des symbolischen Kapitals mittelalterlicher Könige behandelt werden) eine Rolle spielen. Vor allem aber ist das dritte Unterkapitel dieses Abschnitts, insbesondere der zweite Teil über Schillers Blick auf Wilhelm von Oranien, durchaus auch als Analyse eines Nachdenkens zu begreifen, welches gerade dazu geeignet ist, das Wissen um den Komplex des Theatralen und der Theatralität zu ergänzen und zu vertiefen. In Schillers Zeichnung ist Oraniens Denken und Handeln nämlich – das wird zu zeigen sein – sowohl von einer frühneuzeitlichen Dissimulationskunst (und damit einer genuin theatrale Praxis) als auch von ihrem Gegenteil, einer fast schon antitheatralen Rationalität, bestimmt. Dass die Gliederung der Unterkapitel sich entlang dieser drei für die Arbeit leitgebenden Inhalte ausrichtet, führt jedoch dazu, dass der methodologische Text, die Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1789, in dieser Arbeit vor der maßgeblich bereits 1787 und 1788 verfassten Geschichte des Abfalls der Niederlande behandelt wird. Für den Argumentationsgang stellt dies aber kein Problem dar, da die Analysen zur Antrittsvorlesung praktisch nicht auf den Analysen zur Geschichte des Abfalls der Niederlande aufbauen.





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2.1 Historiographie (Antrittsvorlesung) Das Kontingente ordnen Fruchtbar und umfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Kreis liegt die ganze moralische Welt. Durch alle Zustände, die der Mensch erlebte, durch alle abwechselnde Gestalten der Meinung, durch seine Thorheit und seine Weisheit, seine Verschlimmerung und seine Veredlung begleitet sie ihn, von allem, was er sich nahm und gab, muß sie Rechenschaft ablegen. (IV, 749)

Mit dieser Beschreibung umreißt Schiller nahezu am Anfang seiner Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? den Gegenstand der Geschichtswissenschaft. In einer sehr weit gefassten Definition begreift er diesen als die Summe all dessen, was sich jemals ereignet hat. Bemerkenswert an der vorliegenden Definition ist jedoch insbesondere, dass Schiller nicht nur keine Schwierigkeiten hat, auch historisch schwer zu erschließende oder zu belegende mentalitätsgeschichtliche Sachverhalte zum Inhalt eines prinzipiell am Kriterium der Objektivität orientierten Faches zu machen, sondern dass er diese vielmehr hier geradezu zu dessen Hauptgegenstand erklärt.384 Ein derartiger gegenüber anderen am historischen Diskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts teilnehmenden Autoren psychologisch geschärfter Blick prägt jedoch nicht nur die historiographischen, sondern auch die historischen Schriften Schillers. Beispielhaft zeigt sich dies etwa bei der Vorlesung Etwas über die erste Menschengesellschaft, die gegenüber ihrem Prätext, Kants Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, inhaltlich in vielen Bereichen zunächst kaum einen Mehrwert zu bieten scheint, sich – wie bei einer genaueren Betrachtung deutlich wird – aber durchaus produktiv mit der psychologischen Plausibilisierung bereits bei Kant beschriebener Handlungen und Entscheidungen befasst. Für das Verständnis der historiographischen Herangehensweise Schillers ist darüber hinaus bedeutsam, dass seine Antrittsvorlesung historischen Ereignissen selbst keinen eigenständigen Sinn zuschreibt. Die Bedeutung der Variabilität historischer Ereignisse konstituiert sich innerhalb dieses Geschichtsverständnisses nicht aus dem historischen Gegenstand, sprich den Ereignissen selbst, sondern wird diesem nachträglich in einem Prozess der Reflexion und der Auswahl eingeschrieben, deren Entscheidungskriterium in der vom Historiker bestimmten Relevanz des historischen Ereignisses für die Gegenwart liegt: Aus der ganzen Summe [der historischen] Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation ei-

384 Eine solche psychologische Perspektive auf soziale Ereignisse bildet bekanntlich schon den innovati-

ven Kern in Schillers frühen Dramen und Erzählungen. Zu erwähnen ist hier bekanntlich neben anderen vor allem Der Verbrecher aus verlorener Ehre inklusive seiner psychologisierenden Vorrede.





2.1 Historiographie (Antrittsvorlesung)

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nen wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben. Das Verhältnis eines historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung ist es also, worauf gesehen werden muß, um Materialien für die Weltgeschichte zu sammeln.“ (IV, 762)

Bei dieser Systematisierung historischer Einzelereignisse mit Zielrichtung auf die Gegenwart hin handelt es sich – wie im Zitat auch angedeutet – um das in der Aufklärungsgeschichtsschreibung namentlich von Johann Christoph Gatterer und August Ludwig von Schlözer prominent vertretene Konzept der Universalgeschichte.385 Den hier beschriebenen Selektionsmechanismus bezeichnet Peter André Alt als eine Rettung der „geschichtlichen Fakten aus ihrer zufälligen Erscheinungsform, indem [der Universalhistoriker] sie in das Sinngefüge seines Systems eingliedert. Geschichtsstudium wird damit zur Geschichtsauslegung durch Überführung von Beliebigkeit in Ordnung“ 386 beziehungsweise zur „Geschichtsauslegung durch Überführung von Kontingenz in Ordnung.“387 Schiller rückt damit die Subjektivität des Historikers ins Zentrum seines Verständnisses von Geschichtswissenschaft und ermächtigt ihn dazu, die historisch als kontingent gedachten Einzelereignisse in ein implizit mitgedachtes Fortschrittsnarrativ zu integrieren, das in einer idealisierten Gegenwart mündet. Schon wird deutlich, dass Schiller sein Interesse an den psychologischen Inhalten auf der Objektebene (den vergangenen Mentalitäten sozialer Gruppen und singulären Erlebnissen historischer Personen) mit einem Interesse an der spezifischen Subjektivität des Historikers verbindet. Vor allem aber schaltet er diesem methodischen Schritt des systematischen Ordnens der Ereignisse bereits einen anderen methodischen Schritt vor, in dem die Ereignisse überhaupt ausgewählt werden, die in die Geschichtsdarstellung einfließen sollen. Und hier legt er den Fokus ganz eindeutig auf das Singuläre, Spezifische und Kontingente. Ganz deutlich zeigt sich dies etwa in der Anlage seines Projektes einer Allgemeinen Sammlung historischer Memoires, für die Schiller eigene Beiträge verfasst hat, für die er jedoch auch weitere Autoren gewinnen konnte. Schon die Themenauswahl dieser Sammlung grenzt Schiller explizit auf das historisch Besondere ein: Infrage kommen für die Sammlung seinen Vorgaben nach nur Quellen, die „ein Augenzeuge – ein Zeitgenosse wenigstens“ verfasst hat und die weiterhin sich auf eine Hauptbegebenheit einschränken und nie den Lebensraum eines Menschen überschreiten, [die also] ihrem Gegenstand durch die kleinsten Nüancen folgen, Begebenheiten in ihren geringfügigsten Umständen und Charaktere in ihren verborgendsten Zügen entwickeln. (IV, 840)

385 Eine detailliert vergleichende Diskussion der Differenzen und Gemeinsamkeiten in der universalge-

schichtlichen Methodik Gatterers, Schlözers und Schillers findet sich in Jakovljević, Schillers Geschichtsdenken 2015, S. 53–129.

386 Alt, Schiller Bd. I. 2000, S. 608.

387 Alt, Kommentar zu Friedrich Schiller. Sämtliche Werke in 5 Bänden Bd. IV 2004, S. 1056.





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Die Systematisierung dieser Singularitäten wird in der Sammlung der Memoires dann anhand einleitender universalgeschichtlicher Übersichten vollzogen, welche die darauf folgenden historischen Einzelberichte in größere Zusammenhänge einordnen und mit einem Gegenwartsbezug ausstatten sollen. Schiller gestaltet also schon die Kriterien für die Materialauswahl seines Korpus bereits mit Blick darauf, der Ordnungs- und Systematisierungstätigkeit des Historikers größtmöglichen Spielraum zu belassen. In der Konsequenz führt der Prozess, im welchem der Geschichtsforscher verschiedene historische Singularitäten auf ihre Integrationsfähigkeit in sein vorkonstruiertes Ordnungssystem befragt, zu einer Erprobung von Perspektivität. Jedes Einzelereignis muss in seiner Inkommensurabilität erst wahrgenommen werden, um dann in die universalistische Darstellung aufgenommen oder aus ihr ausgeschlossen werden zu können. Die Reflexion der Freiheiten und Beschränkungen des Historikersubjekts spitzt sich in der Antrittsvorlesung in weitergehenden Überlegungen Schillers zur historischen Kerntätigkeit der Quellenkritik nochmals zu. Schiller verwendet als Grundlage seiner historischen Schriften bekanntlich meist eine Vielzahl an Quellen (wie in den Kommentaren der einschlägigen Ausgaben seiner Schriften verzeichnet). Dies ist deshalb erwähnenswert, weil der Quellenvergleich als historische Methodik zur Zeit Schillers noch keineswegs obligatorischen Status erlangt hat.388 Dass Schiller den Aufwand betreibt, die historischen Dokumente gegeneinanderzustellen, nach Identitäten und Differenzen zu untersuchen und nach ihrer Glaubwürdigkeit zu befragen, ist also durchaus innovativ. Diese Praxis schließt sich jedoch nahtlos an die in Schillers früheren Schriften entwickelten Einsichten hinsichtlich Phänomenen wie Multiperspektivität oder Perspektivendifferenzen sowie an das dort gewonnene Wissen über die Vorläufigkeit beziehungsweise Unsicherheit gewonnener Einsichten an. Schillers Herangehensweise ist damit auch als ein bereits auf den Historismus des 19. Jahrhunderts verweisender Schritt hin zu einer Reflexion der Erkenntnisgrundlagen des historischen Faches zu sehen, oder wie Otto Dann formuliert, die Verdeutlichung, dass die „Geschichtsschreibung auf dem Wege war, zu einer empirisch forschenden Wissenschaft zu werden.“389 Dass dabei die „Weltgeschichte von dem Reichtum und der Armut an Quellen abhängig ist“ (IV, 763), dass also die Quellenlage aus verschiedenen Gründen unzureichend sein kann, stellt ein Grundproblem der Geschichtswissenschaft dar, das der Universalhistoriker in Schillers Vorstellung jedoch durch eigene Reflexionstätigkeit lösen kann:

388 Dann, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? 2005, S. 325. 389 Ebd.





2.1 Historiographie (Antrittsvorlesung)

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So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anderes als ein Aggregat von Bruchstücken werden, und nie den Namen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindeglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen. Seine Beglaubigung dazu liegt in der Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüts, welche Einheit Ursache ist, daß die Ereignisse des entferntesten Altertums unter dem Zusammenfluß ähnlicher Umstände von außen, in den neuesten Zeitläuften wiederkehren; daß also von den neuesten Erscheinungen [...] rückwärts ein Schluss gezogen und einiges Licht verbreitet werden kann. Die Methode, nach der Analogie zu schließen, ist, wie überall so auch in der Geschichte ein mächtiges Hülfsmittel. (IV, 763–764)

Mit dem Verweis auf die Technik der Analogiebildung überführt Schiller hier eine genuin dem Gebiet der Rhetorik beziehungsweise Poetik zuordenbare Figur in den Bereich der Analyse historischer Prozesse.390 Damit stellt er zum einen dem Historiker eine Methode zur Verfügung, welche die Grenzen seiner Wissenschaft erweitert und die Schließung historischer Leerstellen durch den Rückgriff auf die eigene Kreativität ermöglicht. Es liegt nun in dessen Entscheidungsgewalt, inwiefern er eigentlich Unverfügbares – sei es in Form materiell Nicht-Überliefertem oder in Form psychologisch per se Latentem – in seine wissenschaftliche Darstellung integriert und in Gestaltbarkeitskontingenz transformiert. Zum anderen wird hier die Bedeutung literarischer Techniken für Schiller deutlich. Literatur stellt sich für ihn in dieser Form als funktionales Leitsystem dar, das nicht nur der Unterhaltung und dem Broterwerb dient, sondern als Methode der Welterschließung Mittel bereitstellt, die auch den Zwecken anderer Felder (hier: der Historiographie) förderlich sein können. Die an dieser Stelle im Zentrum stehende und an das Denken der Geniezeit anschließende Ermächtigung des Historiker-Subjekts zu einer konstruktiv-gestalterischen Instanz ist jedoch keine bloße Setzung Schillers, sie wird im genannten Zitat unter Rückgriff auf die Vorstellung eines Isomorphimus zwischen subjektiver Verfasstheit und objektiver Naturgegebenheit begründet. Ähnliche Gegebenheiten rufen demnach ähnliche Affekte – Schiller spricht hier von einer „Gleichförmigkeit [...] der unveränderlichen Naturgesetze und des menschlichen Gemüts“ – hervor. Der Historiker gewinnt in dieser Vorstellung durch eine Art hermeneutisches Einfühlen in aktuelle, den historischen Ge 390 Es handelt sich hierbei um eine strukturelle Kopplung zwischen den Systemen Geschichtswissenschaft

und Ästhetik, vgl. hierzu Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft 1998, S. 92 ff.; Diese kann hier als Beleg für eine noch nicht vollständig erfolgte Ausdifferenzierung beider Systeme gedeutet werden; überhaupt ist Schillers Vorlesungstext von ästhetischen Begriffen und Topoi durchzogen, so beispielsweise bereits zu Beginn der Rede, wenn Schiller vom „edelsten Vergnügen“ spricht, das die Lektüre historischer Quellen bereiten kann; auch wenn er erklärt, dass er als Professor „manches wirksame Genie für das kommende Zeitalter“ unterrichten werde, mache ihm seine „Pflicht zum Vergnügen“ (IV, 749); über die Motivation des Historikers schreibt Schiller, dass es diesem wichtig sein wird, wenn er ihm nachfolgende Wissenschaftler „darauf leitet, das Problem der Weltordnung aufzulösen und dem höchsten Geist in seiner schönsten Wirkung zu begegnen“ (IV, 765). Zur Bedeutung der Ästhetik in Schillers Geschichtsschreibung vgl. auch Fulda, Wissenschaft aus Kunst 1996.





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Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

gebenheiten jedoch ähnliche Ereigniszusammenhänge genaueren Aufschluss über ihm auf den ersten Blick nicht erschließ- und gestaltbare historische Sachverhalte. Erkennbar ist hier ein doppeltes Ordnungsprinzip in Schillers Vorstellung des Geschichtsverlaufs: Demnach kommt es zum einen zu einer Art „[W]iederkehr[]“ des Vergangenen aufgrund der Stabilität der „Naturgesetze“. Zum anderen ist Schillers Auffassung nach auch das menschliche „Gemüt“ durch eben diese Stabilität geprägt. Dieser Auffassung nach wird also ein Zeitgenosse Schillers, der sich in einer ähnlichen Situation befindet wie sein historisches Pendant, ebenso fühlen und denken wie dieses. Die Genauigkeit dieser historischen Methodik hängt dann logisch von dem Ausmaß der Ähnlichkeit der „[z]ussamenfl[ießenden] Zustände“ beider Zeiten ab. Die Methodik des Historikers beruht also darauf, (über die Auswahl der historischen Inhalte) Koinzidenz zu konstruieren. Die Grundlage dafür bietet ein unterstelltes Ähnlichkeitsverhältnis zwischen dem Historiker und seinem Gegenstand. Auf diese Weise wird eine (zumindest vage) Ähnlichkeit zwischen den grundsätzlichen Funktionsweisen der menschlichen Psyche (des Historikers) und der, ihr äußerlichen, Umwelt (den historischen Inhalten seiner Darstellung) angedeutet. Die Annahme eines solchen Isomorphismus rechtfertigt darüber hinaus dann auch ein gesteigertes Interesse am Subjekt selbst, wie es Schillers historischen Texten deutlich anzumerken ist. Schon hier deutet sich an, dass Schiller die Geschichtswissenschaft als einen wechselseitigen Prozess betrachtet, in dem nicht nur ausgeweitete Gestaltbarkeitsmöglichkeiten des Historikers in den Blick geraten, sondern in dem die historischen Inhalte (genauer: die subjektiven Erlebnisse der nach Ähnlichkeitsgesichtspunkten für die historische Darstellungen ausgewählten historischen Figuren) auch auf diesen zurückwirken. Geschichtsforschung wird damit zu einer doppelten Praxis, in der die Gestaltung des Historischen durch den Historiker in enger Verknüpfung mit der Prägung des Historikers durch die Historie gedacht wird, in der letztlich also die zwei Kontingenzformen Gestaltbarkeit und Widerfahrnis aufeinander bezogen werden. Wichtig ist an dieser Stelle jedoch: Am Ende des hier beschriebenen methodischen Prozesses steht zunächst ein zwar aus subjektiven Techniken resultierender und auf kontingenten Inhalten basierender, aber nichtsdestotrotz manifester Ordnungszusammenhang: Eben die Vergangenheit und Gegenwart schlüssig miteinander in Bezug setzende universalgeschichtliche Darstellung.





2.1 Historiographie (Antrittsvorlesung)

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Die Ordnung als kontingent betrachten Dennoch wird der Historiker in der Vorlesung zur Universalgeschichte nicht einfach als ein ermächtigtes Subjekt, als eine Art ‚Historiker-Genie’, affirmiert. Auf die Ausweitung seines über die literarisch-ästhetische Praxis der Analogiebildung erweiterten Gestaltungsspielraumes folgt konsequenterweise eine Problematisierung dieser Ausweitung. So kann er nach Schillers Auffassung durch seine eigene Interpretation zwar die „unterbrochen[en] und zufällig[en]“ (IV, 763), also kontingenten, Ereignisse der historischen Überlieferung zu einem gehaltvollen Ganzen verbinden und damit Kontingentes auflösen. Er läuft dabei jedoch Gefahr, seinen Spielraum zu überdehnen und die Kontrolle über die historische Wahrheit zu verlieren: Je öfter also und mit je glücklicherm Erfolge [der Universalhistoriker] den Versuch erneuert, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen, desto mehr wird er geneigt, was er als Ursache und Wirkung ineinander greifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbinden. Eine Erscheinung nach der andern fängt an, sich dem blinden Ohngefähr, der gesetzlosen Freiheit zu entziehen, und sich einem übereinstimmenden Ganzen (das freilich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist) als ein passendes Glied anzureihen. Bald fällt es ihm schwer, sich zu überreden, daß diese Folge von Erscheinungen, die in seiner Vorstellung soviel Regelmäßigkeit und Absicht annahm, diese Eigenschaften in der Wirklichkeit verleugne; es fällt ihm schwer, wieder unter die blinde Herrschaft der Notwendigkeit zu geben, was unter dem geliehenen Lichte des Verstandes angefangen hatte, eine so heitre Gestalt zu gewinnen. (IV, 764)

Dem Historiker droht demnach durchaus der Bezug zu den historischen Realitäten verloren zu gehen, weil er in seinem Vermögen, Geschichte zu deuten und ihre Leerstellen zu füllen, dazu verführt wird, um der Schönheit und Ordnung seiner Darstellung willen der Geschichte einen Sinn einzuschreiben, der ihr per se nicht existent ist. Das (Historiker-)Subjekt wird hier als ein begrenztes und verführbares gedacht. Seine Fähigkeit, historisch kontingente Ereignisse zu ordnen und zu systematisieren, wird zur Gefahr für die Erschließung historischer Wahrheit und dies gerade deswegen, weil es sich überschätzen und vor allem davor zurückschrecken könnte, seine eigene Konstruktion, sein eigenes Werk in Frage zu stellen. Dieses potentiell narzisstische Subjekt, das die harmonische Ordnung seines Werkes nicht aufzubrechen bereit ist,391 wird von Schiller also deshalb in einem kritischen Licht gesehen, weil es ihm nicht gelingt, an den entscheidenden Stellen seiner Darstellung auch die Existenz von historisch Kontingentem, Unregelmäßigem und Singulärem zu akzeptieren.

391 Recht ähnlich lässt Schiller bereits in den Räubern Franz von Moor argumentieren, wenn dieser der

Liebe seines Vaters zu ihm den objektiven Gehalt abspricht, indem er behauptet, der Vater würde nur narzisstisch sein eigenes Werk lieben, nicht den Menschen Franz: „Soll ich ihm etwa darum gute Worte geben, weil er mich liebt? Das ist eine Eitelkeit von ihm, die Schoßsünde aller Künstler, die sich in ihrem Werk kokettieren, wär es auch noch so hässlich“ (I, 502).





Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

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Schiller geht es also darum, dass der Historiker dafür Sorge zu tragen hat, einem

Prozess Einhalt zu gebieten, der auf zweifache Weise ins Extreme zu tendieren droht. Auf der einen Seite gelte es, eine hypertrophe Subjektivität des Geschichtsforschers zu vermeiden, einen zu großen Gefallen an seinem einzigartigen und in sich scheinbar schlüssigen Konstrukt. Auf der anderen Seite sei es notwendig, die starre Ordnung der konstruierten Darstellung beständig zu erschüttern. Gemein ist diesem zweifachen Postulat, dass es nicht nur das Auseinanderdriften von Forscher und Gegenstand in die entgegengesetzten Domänen des hypertroph-Subjektiven und der hypertrophen Ordnung aufzuhalten versucht, sondern dass es vor allem die Gerinnung des dynamischen Prozesses der ständigen und unabschließbaren Arbeit des Historikers an seinem Gegenstand verhindern soll. Dies ist die Bedingung dafür, dass Kontingenz und Zeitlichkeit als dauerhaft präsente Phänomene in der Methodik der Geschichtsforschung erhalten bleiben. Im weiteren Verlauf von Schillers Rede geht es deshalb um die Beschreibung einer Praxis, Geschichtswissenschaft zu betreiben, die frei ist von äußeren Zwängen und Beschränkungen und gleichzeitig die Grenzen ihres Gestaltungsspielraums nicht überschreitet. Es überschneiden sich also ein weit gefasster Gestaltungsspielraum des Subjektes und ein relativ vager, aber dennoch deutlich vorhandener Druck, diesen Spielraum in einem ganz bestimmten Sinne zu benutzen. Es handelt sich dabei im Grunde um das, was Foucault als „techné“ beschreibt, in der „es um die Möglichkeit [geht], sich selber als Herr-Subjekt seines Verhaltens zu konstituieren, das heißt sich – wie der Arzt gegenüber der Krankheit, der Steuermann zwischen den Klippen [...] zum geschickten und klugen Führer seiner selbst zu machen, der das Maß und den rechten Augenblick abschätzen kann.“392 Die Beschränkung seines Verhaltens wird also vom Subjekt selbst verlangt, eine äußere Kontrolle seines Verhaltens wird hingegen abgelehnt. Die Methode der Erschließung historischer Sachverhalte wird damit im Modus des Prekären gedacht. Sie ist risikobehaftet und zeitigt Ergebnisse, die den Status des Vorübergehenden, der nicht dauerhaften Geltung kaum überschreiten können. Es kommt damit also zu Kontingenzerscheinungen auf beiden Ebenen, derjenigen der historischen Inhalte und derjenigen des methodischen Zugriffs. Nicht zufällig gebraucht auch Foucault im oben erwähnten Zitat Meeresmetaphorik und Occasio-Topos – und damit typische Beschreibungsformen des Kontingenzparadigmas – zur Darlegung dieses Sachverhalts.

392 Foucault, Gebrauch der Lüste 1986, S. 178.





2.1 Historiographie (Antrittsvorlesung)

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Da auch Schiller als Vertreter der Spätaufklärung eine von außen vorgegebene Beschränkung der Freiheit des Einzelnen zumindest verdächtig sein muss, greift er in seiner Vorlesung zur Universalgeschichte zu eben diesem Prinzip der Beschränkung des Subjekts durch eine von diesem vorgenommene Selbstbeschränkung: Der Historiker, so Schiller, „nimmt also [eine] Harmonie aus sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d.i. er bringt einen vernünftigen Gang in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte“ (IV 764); der Gefahr einer Fehldeutung hat er in Schillers Vorstellung dann in praktischer Hinsicht zu begegnen, indem er seine Entscheidung nochmals (beziehungsweise mehrfach) reflektiert und gegebenenfalls revidiert: Mit diesem [teleologischen Prinzip] durchwandert er [die Weltgeschichte] noch einmal und hält es prüfend gegen jede Erscheinung, welche dieser große Schauplatz ihm darbietet. Er sieht es durch tausend beistimmende Fakta bestätigt und durch ebensoviele andre widerlegt; aber solange in der Reihe der Weltveränderungen noch wichtige Bindungsglieder fehlen, solange das Schicksal über so viele Begebenheiten den letzten Aufschluß noch zurückhält, erklärt er diese Frage für unentschieden, und diejenige Meinung siegt, welche dem Verstande die höchste Befriedigung, und dem Herzen die größre Glückseligkeit anzubieten hat. (IV, 764)

Schiller vermeidet konsequent einen präskriptiven Stil und damit jegliche Form expliziter Normativität, er beschreibt lediglich, wie der Historiker seine Wissenschaft im Idealfall praktiziert. Ein Normierungsanspruch ist dennoch implizit vorhanden: Schillers Darlegungen sind ohne Alternative, der Historiker hat keine andere Wahl, als diese hermeneutische Praxis der permanenten Überprüfung seines Systems anhand der verfügbaren geschichtlichen Quellen auszuführen, will er nicht Gefahr laufen, „den Begebenheiten Gewalt anzutun“ (IV, 765).393 Er darf seine Kreativität nutzen, um ein historisches System zu schaffen, muss aber durch Selbstbeobachtung zur Kontrollinstanz seiner selbst werden.

Im Grunde etabliert Schiller mit diesem zweiten methodischen Schritt ein zum

ersten genau gegenläufiges Prinzip. Während vorher die historischen Einzelerscheinungen in ein System eingepasst worden sind, also – wie beschrieben– Kontingenz in Ordnung überführt worden ist, geht es nun darum, dieses System als eine nur kontingente Ordnung, als ein System, das auch anders denkbar wäre, zu betrachten. Bemerkenswert ist außerdem, dass dieses Vorgehen als eine Art innerpsychisches Gerichtsverfahren beschrieben wird, innerhalb dessen das Subjekt über ihm eigene, aber widersprüchliche Meinungen zu entscheiden hat und noch mehr: in welchem es dazu angehalten wird, eine kognitive Dissonanz aufrechtzuerhalten, indem es historisch

393 So ähnlich auch die Argumentation in Zumbusch, Dramatik der Beschleunigung in Schillers ‚Dom Carlos’

2018, S. 60.





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Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

kontingente Alternativen konserviert und eine endgültige Entscheidung über diese aufschiebt. Zum Selbstverständnis eines Historikers, zu seiner Identität ist in dieser Beschreibung also die Fähigkeit notwendig, Kontingentes auszuhalten, wenngleich die dadurch bedingte kognitive Dissonanz typische Überforderungssymptome der Moderne wie „Veränderung ohne Zielvorgaben [...], Verunsicherung, Desorientierung“394 provozieren kann – Folgen, die in Schillers späteren Geschichtsdramen nochmals an Virulenz gewinnen werden. Bestimmende Diskursformationen und Motive Auffällig an oben zitierter Textstelle ist zudem, dass mit dem Schicksal eine tröstende Instanz vormoderner Providenz als Agens neben das in seinen GestaltbarkeitsMöglichkeiten begrenzte Subjekt gestellt wird. Der Historiker, der die Lücken der Quellenlage nicht schließen kann, wird quasi in die passive Rolle des vormodernen Subjekts versetzt, welches darauf vertraut, dass höhere Mächte seine Probleme lösen. Man muss sich dabei jedoch stets vor Augen halten, dass das Providenzdenken in der Spätaufklärung noch nicht in umfassender Weise von dem eminenten Rechtfertigungsdruck erfasst wird, der geneigt ist, alle mit der alten Feudalordnung verbundenen Erscheinungsformen des Denkens und der Lebensführung abzuwerten. In Schillers Texten stehen providentielle Auffassungen sicherlich nicht im Zentrum, dennoch sind sie verstreut immer wieder zu finden. Zwei aus der Vielzahl der möglichen Beispiele herausgegriffene Textstellen im Korpus der historischen Schriften Schillers sind die in die Geschichte des Dreissigjährigen Kriegs unkommentiert und damit unkritisch aufgenommene Aussage Gustav Adolfs, „,das Glück ist wandelbar, und der unerforschliche Ratschluss des Himmels kann, unsrer Sünden wegen, dem Feinde den Sieg verleihen’“ (IV, 533) und das in der Universalhistorischen Übersicht der vornehmsten an den Kreuzzügen teilnehmenden Nationen entwickelte Argument, die Kreuzzüge seien trotz ihrer Schrecken ein Beispiel für eine Fortschrittstendenz in der Geschichte, da „der Aberglaube selbst die Übel anfing zu verbessern“ und so „vielleicht kein historisches Problem [existiere], das die Zeit reiner aufgelöst hätte als dieses, worüber sich der Genius, der den Faden der Weltgeschichte spinnt, befriedigender gegen die Vernunft des Menschen gerechtfertigt hätte“ (IV, 844f.). Möglich ist das Fortdauern des Providenzdenkens über den Zeitpunkt, in dem sich die Ordnung Alteuropas bereits massiv disqualifiziert hat, wohl vor allem deshalb,

394 Vgl. Erhart, Das Wehtun der Zeit 2008, S. 139.





2.1 Historiographie (Antrittsvorlesung)

231

weil dieses Denken eben nicht als genuiner Bestandteil der statischen, um ein Zentrum herum organisierten feudalen Gesellschaftsordnung betrachtet wurde. Dies mag zuallererst daran liegen, dass Providenzdenken – wie Immanuel Wallerstein überzeugend darlegt395 – in der diskursiven Praxis des 18. Jahrhunderts generell kaum der Affirmation statischer Gegebenheiten gedient hat, sondern eher einen Beitrag zur allgemeinen Erklärung und subjektiven Bewältigung politisch-gesellschaftlichen Wandels leistete. Erst im Umbruch wird sein Trostpotential relevant. Die Vorstellung eines göttlichen, für den Menschen kaum durchschaubaren Plans kann sich deshalb gerade in den gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen um 1800 durchaus noch an den Rändern des sich sukzessive säkularisierenden öffentlichen Diskurses halten – typischerweise wie bei Schiller aber stets in der Form kurzer en passant eingeschobener Bemerkungen und nicht als zentraler Bestandteil des jeweiligen Textes. Providentielle Vorstellungen werden dann (wie auch hier) eher zur Konkretisierung beziehungsweise Veranschaulichung des eigentlichen Arguments gebraucht, ohne selbst erklärenden oder argumentativen Status zu erlangen. Gerade das zweite Beispiel aus der Übersicht zu den Kreuzzügen verdeutlicht diese Praxis recht gut, indem es zeigt, wie Schiller den sonst in seinem Werk durchgehend profan und abstrakt gedachten Prozess der Teleologie über eine Personalisierung poetisch auflädt und so plastisch begreifbarer macht. Was die Einschätzung der in der Vorlesung zur Universalgeschichte von Schiller vorgenommenen methodologischen Einführung in die Geschichtsschreibung durch Forschung anbelangt, so lässt sich wie bei Schillers historischen Schriften im Allgemeinen ein deutlicher Bewertungswandel feststellen. Ältere literaturwissenschaftliche Publikationen nahmen „den Lebensabschnitt, den Schiller als Historiker verbrachte, nicht ernst, weil die Beschäftigung mit der Geschichte von äußeren Interessen des Broterwerbs motiviert schien.“396 Die historischen Schriften Schillers wurden dabei gegenüber dem großen dramatischen Werk marginalisiert. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive wurden gerade die literarischen Elemente in Schillers Geschichtsdarstellungen mit Skepsis betrachtet. Hierbei wurde nur der „Dichter“ Schiller gesehen, „der sich mit der Historie eben in poetischer Form zu befassen und so die wissenschaftlichen Standards einer an der Quellenforschung ausgerichteten Historie zu unterbieten schien.“397 Im Rahmen solcher Betrachtungen wird naturgemäß Schillers Beschreibung eines subjekti 395 Vgl. Wallerstein, In welche(r/n) normativen Ordnung(en) hat die Welt im modernen Weltsystem gelebt?

2011, S. 76–77.

396 Vgl. Hofmann et al., Schiller und die Geschichte 2006, S. 7. 397 Vgl. ebd.





Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

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ven Gestaltungsspielraums des Historikers überbetont und seine darauffolgende Einschränkung dieses Spielraumes durch die Maßgabe einer Selbstbeschränkung übersehen. Andererseits erscheint in Folge der in den Geschichtswissenschaften durch Hayden Whites Metahistory ausgelösten Anerkennung der Bedeutung der Narrativität auch in Darstellungen (vermeintlich) objektiver historischer Sachverhalte mittlerweile Schiller „poetische“ Herangehensweise an die Geschichte in einem anderen Licht.398 Aus postmoderner Sicht wird gerade die Subjektivität von Schillers historischer Methodik und Geschichtsschreibung gewürdigt und Schiller eben deshalb als Historiker wieder ernster genommen. Allerdings muss dabei beachtet werden, dass es Schiller wohl in erster Linie nicht darum ging, eine Unerfüllbarkeit absolut objektiver Geschichtsschreibung in eben jenem postmodernen Sinn zu skizzieren, sondern dass er sich vielmehr in einer Umbruchphase der Geschichtswissenschaft, die aus späterer Perspektive als Übergang zwischen Aufklärungshistorie und Historismus beschrieben wurde, methodisch zu positionieren hatte.399 Dabei ist die sich um 1800 vollziehende Neuorientierung des historischen Denkens hin zum Historismus nicht als ein punktuelles Ereignis aufzufassen, anhand dessen man eine klare zeitliche Grenze zwischen beiden Geschichtsauffassungen ziehen könnte. Es besteht aber weitgehend Einigkeit in der Forschung, dass der Göttinger Historiker August Ludwig von Schlözer (1735-1809) noch als Vertreter der Aufklärungshistorie angesehen werden kann, während Wilhelm von Humboldt (1767-1835) als ein Mitbegründer des Historismus zu gelten habe.400 Schiller als Historiker wird in der Regel irgendwo zwischen diesen beiden verortet. Als distinktive Merkmale zur Unterscheidung von Aufklärungshistorie und Historismus gelten dabei gemeinhin (a) die Ablehnung des die Aufklärungshistorie prägenden Glaubens an ein göttliches Moment, welches die Weltgeschichte teleologisch auf

398 Vgl. ebd.: „Indem White die Bedeutung der Narrativität in der Darstellung von Wirklichkeit hervorhebt

und die Problematik des Erzählens in der modernen Geschichtstheorie kritisch reflektiert, fordert er die etablierte Geschichtswissenschaft heraus, weil der die Differenz zwischen fiktionalen und historiographischen Texten einebnet. Zugleich verweist er aber darauf, dass die Einordnung und die Verknüpfung der Quellen nicht ‚positivistisch objektiv’ geschehen, sondern vielmehr von einem Konstruktionsprinzip bestimmt werden, das durch die narrativen Strukturen des Geschichtsschreibens gegeben ist.“ Vgl. hierzu White, Metahistory 1973. 399 Die in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts entwickelte Unterscheidung zwischen Historismus und Aufklärungshistorie hat in der Forschung einen großen Einfluss auf die Einschätzung der Modernität von Schillers historischen Schriften ausgeübt, ist aber selbst nicht unumstritten; einen guten Überblick über die Diskussion gibt dabei Prüfer, Bildung der Geschichte 2002, 3-25; Prüfer selbst wendet sich dabei gegen eine Verabsolutierung dieses Gegensatzes und gegen einfache Zuordnungen von Historikern zu den beiden „Schulen“ 400 Vgl. z.B. Muhlack, Schiller als Historiker 1995, S. 27.





2.1 Historiographie (Antrittsvorlesung)

233

einen paradiesischen Endzustand hin entwickelt durch den Historismus. Dieser ordnet die einzelnen historischen Epochen nicht mehr wie die Aufklärungshistorie in ein System, welches sie zur Erklärung einer Überlegenheit der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit instrumentalisiert, sondern er sieht ein eigenes Erkenntnisinteresse in der Untersuchung der einzelnen Epochen selbst. Hinzu kommt (b) das dem Historismus immanente Motiv einer fortgesetzten Systemdifferenzierung der Wissenschaften durch die Aufwertung der Geschichtswissenschaft gegenüber den klassischen Fakultäten der Theologie, Rechtswissenschaft, Medizin und Philosophie.401 Die Aufklärungshistorie, namentlich Schlözer, versteht sich noch als Hilfswissenschaft mit dem vorrangigen Zweck, den klassischen Fächern „ein nach fixen normativen Kriterien klassifizierbares Handlungswissen bereitzustellen.“402 Abgelöst wird dieses Verständnis von Geschichte dann von dem Humboldt’schen Bildungsideal, in dem Wissenschaft als Selbstzweck betrieben und in welchem dem Sammeln und Klassifizieren bereits verfügbaren Wissens die Tätigkeit des Forschens (begriffen als Generierung neuen Wissens) gegenüberstellt wird. Schiller, der sich schon als Historiker an Kant orientiert, rückt weitgehend von einer strikt theologischen Fundierung der Geschichtsentwicklung ab,403 hält aber dennoch weiterhin am theologischen Derivat der Teleologie fest. Diese wird in seinem Geschichtsdenken nicht mehr über einen göttlichen Heilsplan begründet, sondern über die von Kant übernommene Vorstellung eines in jedem Menschen angelegten Triebes zur Selbstverbesserung.404 Dies ist insofern bemerkenswert, weil hiermit zwar ein metaphysisches Moment zu einem innerpsychischen Antrieb wird. Allerdings entzieht sich auch dieser Antrieb der Gestaltbarkeit des Subjektes. Der Mensch hat in Schillers Geschichtsdenken notwendigerweise den Trieb zur Vervollkommnung seiner selbst und damit notwendigerweise auch zur Vervollkommnung der Gesellschaft. Es findet also lediglich eine Verlagerung der Providenz-Instanz statt. Eine generelle Problematik des in Schillers Vorlesung zur Universalgeschichte zum Ausdruck gebrachten teleologischen Geschichtsverständnis besteht darin, dass ein solches historische Krisenzeiten, Rückschritte oder Grausamkeiten geschichtlicher Akteure

401 Vgl. ebd., S. 28. 402 Vgl. ebd.

403 Vgl. ebd., S. 20. 404 Vgl. ebd., S. 17.





Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

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nur schwer erklären kann. Schiller versucht diese Schwierigkeit wie schon Kant405 über eine Argumentation zu lösen, welche an die seit Adam Smith weit verbreitete Figur der unsichtbaren Hand406 erinnert: Wie regellos auch die Freiheit des Menschen mit dem Weltlauf zu schalten scheine, ruhig sieht [die Geschichte] dem verworrenen Spiele zu: denn ihr weitreichender Blick entdeckt schon von ferne, wo diese regellos schweifende Freiheit am Bande der Notwendigkeit geleitet wird. Was sie dem strafenden Gewissen eines Gregors und Cromwells geheim hält, eilt sie der Menschheit zu offenbaren: „dass der selbstsüchtige Mensch niedere Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortreffliche befördert.“ (IV, 766).

Historische Rückschritte auf der Pfeilbewegung der Teleologie werden so in Fortschritte umgedeutet, indem die Gestaltbarkeit historischer Akteure als eingeschränkt begriffen wird. Selbst wenn diese glauben, eine „regellos[e] Freiheit“ in ihren Entscheidungen und Handlungen zu haben, so werden sie in Schillers Vorstellung doch unbemerkt durch ein „Band[] der Notwendigkeit“ gelenkt, welches ihre negativen Taten – von ihnen unbemerkt – ins Positive wendet. Die Geschichte wird hier von Schiller zu einer das Subjekt in seinem Handlungsspielraum beschränkenden Macht erhoben. Während Verbrecher wie Cromwell oder Gregor nicht ahnten, dass ihre Taten einem verborgenen Zweck dienten, könne die Geschichte „[k]ein falscher Schimmer [...] blenden, kein Vorurteil der Zeit sie dahinreißen, denn sie erlebt das letzte Schicksal der Dinge.“ (IV, 766) Und gleich einem göttlichen Wesen „stellt sie den wahren Maßstab für Glückseligkeit und Verdienst wieder her, den der herrschende Wahn in jedem Jahrhundert anders verfälschte.“ (IV, 766). Mit diesem tröstenden Bild einer Geschichte, welche das Weltgeschehen in der longue durée zum Guten wendet und dabei gleichzeitig die Gestaltbarkeitsfähigkeiten des Menschen einschränkt, schließt Schiller an seine Überlegungen aus der Geschichte des Abfalls der Niederlande an.407 Dass Schiller zum Teil noch dem klassifizierenden und ordnenden Wissenschaftsverständnis der Aufklärung verhaftet ist, zeigt sich auch anhand der Tatsache, dass er das teleologische Prinzip zum Entwurf eines Tableaus benutzt, in welchem er die vergangen Epochen der europäischen Geschichte in Bezug zu den (um 1800) gegenwärtigen Kulturen in anderen Erdteilen setzt: 405 Vgl. Alt, Schiller 2000, Bd. I., S. 609. Eine ähnliche Argumentation wie bei der von Alt in Kants Idee zu

einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ausgemachten Stelle findet sich auch in Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte 1977, S. 115f. Dort legt Kant prägnant dar, wie individuelle und kollektive Ziele auseinanderfallen können und so subjektiv erfahrene Verluste mit sozialen Gewinnen einhergehen können, sich Teleologie also durchaus mit Rückschritt verträgt. Man muss in Kants Perspektive nur fähig sein, die Ebenen korrekt zu unterscheiden, um dies zu erkennen. 406 Vgl. zu dem Phänomen der unsichtbaren Hand bei Schiller auch das Kapitel zur zweiten Festrede in dieser Arbeit. 407 Vgl. dazu das folgende Kapitel in dieser Arbeit. Wie bereits beschrieben wird hier aus Gliederungsgründen von einer chronologischen Betrachtung der historischen Schriften Schillers abgewichen.





2.1 Historiographie (Antrittsvorlesung)

235

Die Entdeckungen, welche unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein ebenso lehrreiches als unterhaltsames Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannichfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herumstehen, und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen, und wovon er ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen Völkerstämme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in unsrer eignen Kultur weit genug würden fortgeschritten sein, um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu machen [...]. (IV, 754)

Durch die taxinomische Anordnung mit einer paradigmatischen Achse, auf welcher die gegenwärtigen Epochen platziert werden und einer syntagmatischen Achse, auf welcher die vergangenen Epochen der europäischen Geschichte liegen, wird hier ein Tableau geformt, wie es Foucault als konstitutiv für die Episteme der klassischen Epoche, also auch die Zeit der Aufklärung, erachtet.408 Die Anordnung der historischen oder geographischen Ereignisse beziehungsweise Situationen innerhalb des Tableaus erfolgt dann entsprechend der Vorgaben des auf die europäische Gegenwart gerichteten teleologischen Fortschrittstheorems, anhand welchem vergangene Epochen und andere Kulturen zwangsläufig abwertet werden. Es ergibt sich so eine mit einer eindeutigen Wertung durchzogene Struktur der Geschichte (Europas) und der Gegenwart (der Welt). Jede Kultur und jede Epoche wird notwendig über ihre Differenz zum Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts bewertet. Eine Entwicklung hin zu einem anderen Zielpunkt (oder gar die Vorstellung einer sich nicht verbessernden Kultur) ist in diesem Modell nicht denkbar, Abweichung nicht vorgesehen. Schiller reproduziert hier eine von Kant bereits 1775 in der Abhandlung Von den verschiedenen Racen der Menschen vollzogene Klassifikation ethnischer Gruppen.409 Indem er Kants paradigmatische Rassen-Einteilung aber mit der Menschheitsentwicklung (also einem syntagmatischen Prinzip) parallelisiert, verzeitlicht er ein bei Kant noch statisch gedachtes Konstrukt. Hier liegt also ein emblematisches Beispiel für die Dynamisierung eines Ordnungszusammenhanges inklusive einer Projektion dieser Dynamik hin auf eine relativ offene (und damit auch kontingente) Zukunft vor – die Entwicklung der Menscheheit wird ja durchaus nicht als abgeschlossen betrachtet. Aus heutiger Sicht macht dies Schillers Denken an dieser Stelle zwar zu einem moderneren als Kants. Weniger problematisch ist damit aber keineswegs.

408 Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge 1974, S. 111: „Auf jeden Fall kann die klassische episteme in ihrer

allgemeinsten Disposition durch das gegliederte System einer mathesis, einer taxinomia, und einer genetischen Analyse definiert werden. Die Wissenschaften tragen das ferne Projekt einer erschöpfenden Ordnung stets mit sich: sie zielen immer auf die Entdeckung einfacher Elemente und ihrer fortschreitenden Komposition ab, und inmitten derer sind sie die Ausbreitung von Erkenntnissen in einem sich selbst zeitgleichen System. Das Zentrum des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert ist das Tableau. 409 Vgl. AA 02, VvRM, S. 427–447.





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Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ... Wichtig ist indes: Der Vorstellung eines Isomorphismus zwischen der Struktur

der Gesellschaft und der Verfasstheit des Subjekts folgend gilt das teleologische Prinzip in Schillers Geschichtsdenken nicht nur für die Entwicklung historischer Prozesse, sondern vor allem auch für die Entwicklung eines jeden Menschen. Zu Beginn seiner Vorlesung betont er deshalb, die Pflicht seiner Zuhörer, sich selbst zu bilden und auf ein Besseres hinzuentwickeln: „[E]ine Bestimmung teilen Sie alle auf gleiche Weise miteinander, diejenige, welche Sie auf die Welt mitbrachten – sich als Menschen auszubilden.“ (IV, 750) Zwar findet auch hier eine latente Bestimmung statt, betont wird jedoch die Selbsttätigkeit des Menschen in seinem Bildungsprozess. Das, richtig betriebene, Studium der Geschichte kann in Schillers Vorstellung zu eben diesem Zweck der Bildung beitragen: Es „wird Ihnen [den Studierenden; M.K.] das Studium der Weltgeschichte eine ebenso anziehende als nützliche Beschäftigung gewähren.“ (IV, 765) Das Betreiben von Geschichtswissenschaft wird von Schiller somit zu einer Selbstpraktik erhoben, die geeignet ist, das Subjekt von (den durch Rousseau beschriebenen) negativen Erscheinungen der Moderne zu heilen und mit der im Zuge der funktionalen Differenzierung aus dem Blick geratenen Gesamtgesellschaft zu versöhnen: Die Geschichte „wird Ihren Geist von der gemeinen und kleinlichen Ansicht moralischer Dinge entwöhnen, und [...] die vorschnellen Entscheidungen des Augenblicks und die beschränkten Urteile der Selbstsucht verbessern.“ (IV, 765) Dies vollzieht sich auch hier auf latentem, vom Subjekt nicht bemerkten Wege: Sie „breitet [...] optisch täuschend [des Menschen] kurzes Dasein in einen unendlichen Raum aus und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber.“ (IV, 765) Hier nimmt das Studium der Geschichte eine Funktion ein, welche in Schillers philosophisch-ästhetischen Schriften dem Theater zukommt: Es trägt zur Bildung und Vervollkommnung des Subjekts bei. Dabei liegt es nicht in der Verfügbarkeit des Subjektes, wie diese Bildung auf es wirkt. Von Bedeutung ist vielmehr, inwieweit es bereit ist, sich für einen solchen Prägungsprozess zu öffnen und eigene Überzeugungen zur Disposition zu stellen (und damit als kontingent zu bewerten). Im Fall des Historikers, der sein Fach nicht als „Brotgelehrter“, sondern als „philosophischer Kopf“ betreibt, heißt das für Schiller, dass dieser „[d]ie Wahrheit immer mehr geliebt hat als sein System, und gerne wird er die alte mangelhafte Form mit einer neuern und schönern vertauschen“ (IV, 752), sodass er nie zufrieden ist mit dem Erreichten. Um sich bilden zu können, muss er seine gegenwärtigen Auffassungen als kontingent auffassen, und nicht wie der „Brotgelehrte“ an einer stabilen Identität festhalten, welche sich lediglich danach richtet, die „Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amte fähig und der



2.1 Historiographie (Antrittsvorlesung)

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Vorteile desselben teilhaftig werden kann.“ (IV, 750) Hier zeigt Schiller schon ein Wissenschaftsverständnis im Sinne Wilhelm von Humboldts. Gleichzeitig vermeidet er auch hier einen normativen Stil, sondern stellt es in die Entscheidungsfreiheit seiner Zuhörer, ob sie sich auf sein Konzept, Geschichtswissenschaft als „philosophische Köpfe“ zu betreiben, einlassen wollen, oder sich eher als „Brotgelehrte“ verstehen: „Von der Wahl, die sie zwischen beiden getroffen haben, hängt es ab, ob Ihnen das Studium der Universalgeschichte empfohlen oder erlassen werden kann.“ (IV, 754) Zusammenfassung In seiner Vorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? ringt Schiller explizit um die rechte Methodik für die Geschichtsforschung. Implizit beziehungsweise abstrahiert davon versucht er aber auch die Grenzen des dem (Historiker-)Subjekt Verfüg- und Gestaltbaren zu bestimmen. Er betont die Gestaltungskraft des Historikers bei der Quellenkritik, um dann sogleich vor deren Gefahren zu warnen und den Geschichtswissenschaftler zur Selbstbegrenzung zu verpflichten. Der allgemeinen Geschichtsentwicklung schreibt er eine teleologische Entwicklung hin zu einer idealisierten, von Freiheit geprägten Gesellschaft zu, muss aber dabei die Gestaltungmöglichkeiten der historischen Akteure als begrenzt bewerten und eine Zwangsläufigkeit der historischen Entwicklung hin zur europäischen Gegenwart annehmen. Im Studium der Geschichtswissenschaft sieht er die Möglichkeit (nicht die Notwendigkeit) einer Selbstverbesserung des Menschen.

Geprägt ist Schillers Antrittsvorlesung von einem reflexiven Verhältnis der me-

thodischen Schritte einer Überführung von Kontingenz in Ordnung und einer aus der Einsicht in die Kontingenz des so geschaffenen Geschichtssystems resultierenden infiniten Revision dieser Ordnung. Dieses in der Praxis der Geschichtsforschung eingeschlossene Oszillieren zwischen Determination und Dekonstruktion spiegelt sich in Schillers naturgeschichtlicher Auffassung des Geschichtsverlaufs als eines zwar auf ein teleologisches Fortschreiten ausgerichteten, aber dennoch nicht abschließend prädeterminierten Prozesses. Es wird zu untersuchen sein, wie sich die hier historiographisch beschriebenen Zusammenhänge aus Kontingenz und Ordnung in Schillers historischen Arbeiten darstellen. Die Beantwortung dieser Frage soll anhand genauerer Betrachtungen zweier die Geschichtsdarstellungen Schillers prägenden Denkfiguren bzw. -strukturen erfolgen.



Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

238

Zunächst soll dabei analysiert werden, wie Schiller über die makrotheoretische Betrachtung verschiedener Kollisionen von Ordnungen zu einem erweiterten Wissen darüber gelangt, wie das Kontingente in die Welt gelangt. Danach geht es darum, zu zeigen, wie Schiller sich dem Phänomen der Kontingenz und ihrer Zeitlichkeit über eine begriffliche Arbeit am ‚Zufall’ weiter zu nähern versucht und wie die darüber gewonnen Einsichten in seine Charakterisierung Wilhelms von Oraniens einfließen.







2.2 Koinzidenz und Ordnungskollision …

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2.2 Koinzidenz und Ordnungskollision (Übersicht zu den Kreuzzügen) Die vorangehenden Kapitel haben aufgezeigt, dass Schillers Beschäftigung mit verschiedenen Formen von Kontingenz und Zeitlichkeit bereits in seinen Jugenddramen und in seiner Antrittsvorlesung ein beachtliches Maß an Komplexität erreicht. Insbesondere verhandeln die frühen Texte zahlreiche Einzelphänomene, kombinieren diese miteinander und testen sie in immer neuen Konstellationen auf ihre inhaltlichen und ästhetischen Potentiale. Gerade die dramatischen Texte zeigen dabei auf der einen Seite, dass Schiller ein tiefes Verständnis für abstrakte Konstellationen aus Kontingenz- und Zeitstrukturen entwickelt. Auf der anderen Seite führt die dramatische Form jedoch meist dazu, dass – insbesondere aufgrund von Rücksichtnahmen auf Handlungsökonomien und ästhetische Wirkungspotentiale – eine systematische Untersuchung des Wesens und des Zusammenspiels beider Phänomene ausbleibt. Einige Fragen hinsichtlich Schillers Verständnisses von Kontingenz und Zeitlichkeit bleiben somit in den frühen Texten noch auffällig ungeklärt: Welche Auffassung hat Schiller von den Entstehungsbedingungen des Kontingenten? Und werden diese Bedingungen dann als Folgen menschlichen (oder göttlichen) Handelns verstanden oder geht Schiller eher von einer Geburt der Kontingenz aus dem Bereich des generell für praktisches Handeln Unverfügbaren aus – also von einer Art absoluter Kontingenz oder absolutem Zufall? Dass Schiller einerseits, wie Kant, menschlichem Handeln Gestaltungskraft zuschreibt, die praktischen Veränderungsmöglichkeiten planvollen – und damit auch potentiell unmoralischen, dem Fortschritt der Menschheit zunächst hinderlichen – Agierens jedoch auf soziale und zeitliche Nahzusammenhänge begrenzt, um dadurch mögliche Widersprüche gegenüber dem Theorem des teleologischen Fortschritts im Geschichtsverlauf zu vermeiden, wird in seinen frühen Texten überdeutlich. Andererseits wiederum finden sich – wie beschrieben – immer wieder Vorstellungen von einer isormorphen Verfasstheit von individuell-psychologischen und kollektiv-gemeinschaftlichen Strukturen. Während im ersten Fall also Subjekt und Gesellschaft in ihren jeweiligen Interessen, aber auch hinsichtlich der Wirkung ihrer Handlungen divergieren – das dominante Erklärungsmodell der unsichtbaren Hand dient hier als Begründung für die Möglichkeit dieses Effektes –, sodass die gesellschaftliche Entwicklung zum immer Besseren eine eigentümliche Immunität gegenüber den Verfehlungen des einzelnen Subjekts entwickelt, unterstellt der zweite Fall eine Verbindung bzw. Koevolution zwischen subjektiver und gesellschaftlicher Ebene. Dies wirft folgende Fragen auf: Entwickelt Schiller in seinen historischen Schriften nun Erklärungsansätze für diese Diskrepanz?



Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

240

Und wie werden Gegenbegriffe wie Ordnung, Persistenz oder Totalität von Schiller methodisch genutzt, um Kontingenz und Zeitlichkeit in den historischen Texten sichtbarer zu machen?

Es soll daher zunächst geklärt werden, inwieweit Schillers Geschichtskorpus ge-

eignet ist, derartigen Fragen dezidierter nachzugehen. Seine historischen Schriften vereinigen immerhin die spezifische Detailanalyse isolierter historischer Gegenstände – wie etwa im Verfassungsvergleich der Gesetzgebung des Lykurgus und Solon zu sehen – mit Ansätzen, deren Ziel explizit in der Erklärung historisch lang überdauernder Makrozusammenhänge liegt, wie im Falle der universalhistorischen Einleitungen zu den Memoires. In der Mitte zwischen beiden Textgruppen wären dann die beiden großen Monographien über die epochalen Zentralereignisse des Abfalls der Niederlande von der spanischen Regierung und des Dreissigjährigen Krieges zu verorten, in denen für den großen historischen Zusammenhang Relevantes bis auf die Ebene des Einzelereignisses hinunter behandelt wird. Gerade diese Varianz der Beobachtungsrichtungen im Geschichtswerk Schillers, die einmal vom Allgemeinen zu Besonderen, dann in umgekehrtem Blickwinkel vom Besonderen zum Allgemeinen führt und auch vielfach zwischen beiden wechselt, scheint geeignet, derartigen Fragen nach dem Verhältnis von Kontingenz und Zeitlichkeit in gesellschaftlicher Perspektive nachzugehen.

Für zentrale Fragestellung dieses Kapitels, die anhand von Schillers historischen

Schriften Erkenntnisse über dessen Auffassung und dessen Wissen von den Entstehungsbedingungen von Kontingenz und ihrem Zusammenspiel mit Zeitphänomenen zu gewinnen versucht, bietet sich eine genauere Betrachtung der Universalhistorische Übersicht der vornehmsten an den Kreuzzügen teilnehmenden Nationen an. Regelrecht euphorisch bewertet Schiller in einem Brief an Caroline von Beulwitz die analytische Tiefe dieses im Oktober 1789 verfassten Textes. Niemals zuvor, schreibt der sich das historische Feld eben erst erschließende Autor, habe er „[soviel] Gehalt des Gedankens in einer so glücklichen Form vereinigt, und nie dem Verstand so schön durch die Einbildungskraft geholfen.“410 In Anbetracht dieses überschwänglichen Urteils mag der zweiteilige Aufbau des Textes auf den ersten Blick etwas seltsam anmuten: Während der erste Teil des kurzen Textes einen aus großer Distanz gezeichneten historischen Aufriss der europäischen Geschichte von ihren Anfängen in der griechischen Antike bis hin zu den politi 410 Kommentar in IV, 1061–1062. Schillers hohe Meinung über diesen Text spiegelt sich auch in der Tatsa-

che, dass er diesen als einzigen aus den Memoires auch noch in seine Kleineren Prosaischen Schriften aufnahm. Vgl. ebd.





2.2 Koinzidenz und Ordnungskollision …

241

schen Spannungsverhältnissen des Mittelalters liefert, befasst sich der zweite Teil recht detailliert mit der, von den Strukturen der Lehens- und der Grundherrschaft bestimmten, mittelalterlichen Verfassungswirklichkeit. Weniger überraschen als diese anscheinende Diskrepanz mag die Tatsache, dass der Bezug zum Titelthema, den Kreuzzügen, und damit zu den folgenden Texten in den Memoires nur mittelbar gegeben ist, entspricht dies doch durchaus der konzeptionellen Anlage dieser universalhistorischen Übersichten, die vor allem ein allgemeines Hintergrundwissen zu den weitläufigeren historischen Kontexten der ihnen folgenden Einzeluntersuchungen geben sollen. Zu klären ist also auch die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Teile des Textes zueinander stehen. Es bietet sich an, Schillers Zweiteilung zu folgen und zunächst anhand einer Analyse des ersten Teils der Übersicht nach Schillers Auffassung temporaler Prozesse zu fragen, um dann in einem weiteren Schritt den zweiten Teil seiner Abhandlung nach Schillers Verständnis des strukturellen Zusammenspiels von politischen Ordnungen und Kontingenzmomenten zu untersuchen. Synchronisation und Koinzidenz

Inhaltlich folgt die Argumentation im ersten Teil dieses Aufsatzes der nahezu alle

Geschichtstexte Schillers durchziehenden teleologischen Geschichtsauffassung. Im Speziellen wird dazu hier jedoch eine vergleichende Perspektive eingenommen, in der Schiller das in seinen Augen fortschrittliche Europa in Bezug zu anderen, dementsprechend als rückständiger aufgefassten, Erdteilen setzt. Daraus entwickelt der Text die Frage nach den Bedingungen, die gerade Europa in der Geschichte begünstigt hätten und zum weitest entwickelten Erdteil gedeihen ließen. Seine Antwort darauf ist von dem für den frühen Schiller so charakteristischen Balance-Denken geprägt: Die Fortschrittlichkeit Europas beruhe demnach darauf, dass in diesem Erdteil „allein, und nur hier am Ausgang des Mittelalters, die Energie des Willens mit dem Licht des Verstandes zusammentraf, hier allein ein noch männliches Geschlecht in die Arme der Weisheit geliefert wurde“ (IV, 849). Das für dieses Argument ausschlaggebende Prinzip einer als vorteilhaft gezeichneten Maskulinität führt Schiller auf die „lange Waffenübung des Mittelalters“ zurück, denn eben diese „hatte dem sechzehnten Jahrhundert ein gesundes, starkes Geschlecht zugeführt und der Vernunft, die jetzt ihr Panier entfaltet, kraftvolle Streiter erzogen“ (IV, 849). Das Mittelalter selbst zeichnet Schillers Text dabei in den dunkelsten



Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

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Zügen. Während dieser Zeit sei es zu einer massiven Selbstisolation und damit verbunden zum zivilisatorischen Verfall Europas gekommen: Zerbrochen werden die Brücken zwischen Byzanz und Massilien, zwischen Alexandria und Rom, der schüchterne Kaufmann eilt heim, und das ländergatternde Schiff liegt entmastet am Strande. Eine Wüste von Gewässern und Bergen, eine Nacht wilder Sitten wälzt sich vor den Eingang Europens hin, der ganze Weltteil wird geschlossen. Ein langwieriger, schwerer merkwürdiger Kampf beginnt jetzt, der rohe germanische Geist ringt mit den Reizungen eines neuen Himmels [...] Das schreckliche Recht der Stärke kommt zurück, und Jahrhunderte sieht man den rauchenden Stahl nicht erkalten. Eine traurige Nacht, die alle Köpfe verfinstert, hängt über Europa herab, und nur wenige Lichtfunken fliegen auf, das nachlassende Dunkel desto schrecklicher zu zeigen. Die ewige Ordnung scheint vom Steuer der Welt geflohen oder, indem sie ein entlegenes Ziel verfolgt, das gegenwärtige Geschlecht aufgegeben zu haben. (IV, 847–848)

Der Textstelle scheint zunächst eine eigentümliche Balance eingeschrieben. Seine selbst verantwortete Abschottung trennt Europa von dem weiten, verschiedenste Gestaltbarkeitsmöglichkeiten offerierenden Feld des wirtschaftlichen Handels mit anderen Weltteilen und des Austauschs mit anderen Kulturen. In der Metapher des gestrandeten Schiffes kondensiert der isolationistische Verzicht auf Chancen und Risiken optimistisch unternehmerischen Handels zu einem Differenzmarker für die traurige Rückständigkeit der Gegenwart (also des Mittelalters) gegenüber einer möglichen und konkret gezeigten, aber selbstverschuldet verfehlten Alternative. Zudem wird die so hervorgerufene melancholische Stimmung über die Evokation einer besseren Vergangenheit, in welcher der Handel noch geblüht hat, kontrastiv verstärkt. Die Bemühung des Textes, die in der Gegenwart des Beschreibungszusammenhangs nicht verwirklichten Möglichkeiten zu verbildlichen und damit anschaulich zu machen, bewirkt somit, dass die historische Wirklichkeit des Mittelalters mit dem Modus des nur–Möglichen und nicht–Notwendigen belegt wird. Schillers Beschreibung der historischen Entwicklung Europas lässt den Kontinent somit als eine während des Mittelalters zu einer monotonen Einöde revolvierende politisch-gesellschaftliche Ordnung erscheinen. Auf der anderen Seite schwellen in seiner Darstellung nun gegenläufig zu dieser Reduktion von Kontingenzpotentialen die Leidenschaften der Bewohner Europas zu neuen Extremen an, sodass im Innern der europäischen Staaten statt Ordnung nun ein nur umso größeres Chaos regiert. Das quantitative Verhältnis aus Kontingenz und Ordnung scheint damit gewahrt zu bleiben, lediglich die Kontingenzform befindet sich im Wandel und ließe sich als Transformation von ‚Gestaltbarkeit’ in ‚Widerfahrnis’ beschreiben – vormalig existierende Handlungsmöglichkeiten werden nun ersetzt durch passiv hinzunehmende Affekteinbrüche.411 Die somit

411 Man könnte Gewalt natürlich auch als Mittel der Machtdurchsetzung betrachten und damit als Form

der Gestaltbarkeitskontingenz. Dies wäre dann die Perspektive Franz Moors. Klar ersichtlich ist jedoch,





2.2 Koinzidenz und Ordnungskollision …

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unterstellte latente Homöostase aus Kontingenz und Ordnung im Geschichtsverlauf würde jedoch auf ein eher statisches Geschichtsbild hinauslaufen, welches im Widerspruch zur prägenden Auffassung der Aufklärungsgeschichtsschreibung stünde, die Menschheit als Ganze entwickle sich hin zum Besseren. Schiller vollzieht daher durchaus folgerichtig eine weitere Modalisierung seines Modells mittels der beiden Prinzipien Zeitlichkeit und Koinzidenz. Zum einen verortet er gerade in den chaotischen Zuständen des mittelalterlichen Europas Ermöglichungsbedingungen von dessen sich später so eindrucksvoll einstellender Positiventwicklung. Das Extrem des gesellschaftlichen Rückschritts schließt so bereits die notwendige Bedingung für die später in der Neuzeit einsetzenden Fortschrittsdynamik mit ihrem vorläufigen Höhepunkt im Zeitalter der Aufklärung ein. Die paradigmatische Verschiebung der Kontingenzerscheinungen vom Handel mit äußeren Partnern hin zu den dadurch angereicherten Leidenschaften im Inneren Europas wird damit durch einen syntagmatischen Zusammenhang ergänzt, der von einer defizienten Vergangenheit hin zu einer zivilisatorischen Gegenwart reicht und somit geeignet ist, das teleologische Fortschrittstheorem der Aufklärungsphilosophie und -geschichtsschreibung zu stützen. Indem Schiller hier die Unordnung und die Gewaltsamkeiten des Mittelalters dialektisch zu notwendigen Voraussetzungen späterer Zivilisationserfolge macht, hypertrophiert er die Denkfigur der unsichtbaren Hand. Statt, wie in dieser Figur üblich, davon auszugehen, dass negative Handlungen und Erscheinungen auch unintendiert positive Nebeneffekte zeitigen können, wird hier der kausale Zusammenhang zwischen negativen Voraussetzungen und positiven Folgen unmittelbarer und auch der Qualität nach deutlich intensiver gedacht. Ohne die Defizienz des Mittelalters wäre in diesem Modell die gegenwärtige Stufe der Zivilisation überhaupt nicht möglich gewesen.

Zum anderen modalisiert Schiller diesen Fortschrittsprozess noch in einem wei-

teren Schritt. Mit Blick auf das klassische Werk Schillers stellt auch Cornelia Zumbusch – passend zu den hier diskutierten Zusammenhägen – fest, dass das Balancedenken im Werk Schillers eine stetig zunehmende Relativierung und Modifizierung erfährt.412 Zumbusch betont, dass in den 1790ern, „[d]ie Weltgeschichte [...] sich für Schiller nicht im

dass das nicht der Gesichtspunkt ist, unter dem Schiller hier die Auseinandersetzungen des Mittelalters betrachtet. 412 Vgl. Zumbusch, Dramatik der Beschleunigung 2018, S. 61.





Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

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Modus des ökonomischen Ausgleichs eines jeden Übels durch ein größeres Gut denken [lässt]“.413 Stattdessen biete nun die Weltgeschichte [gerade in ihrer chaotischen Gesetzlosigkeit] den Gegenstand einer Betrachtung, die im Vernunftsubjekt die Gewissheit seiner intellektuellen Überlegenheit auslösen kann. So sattelt Schiller der gescheiterten Ökonomie der Geschichte eine Affektökonomie auf, die den Transzendenzverlust ausgleichen soll: Das sich als erhaben erlebende Subjekt, so das Versprechen, gewinnt auf der Seite seiner Vernunft reichlich, was es auf der Seite seiner Natur verloren hatte.414

Zumbusch zeichnet so den wirkmächtigen Bogen nach, den Schiller von den nun durchaus affirmierten Kontingenzen des Weltgeschehens zu seiner dramaturgisch produktiven an stoizistischen Moralvorstellungen geschulten Konzeption des Erhabenen schlägt und liefert damit auch ein Beispiel für Schillers Bemühungen, Erklärungsmuster für subjektiv-psychologische mit solchen für sozial-gesellschaftliche Zusammenhänge zu verzahnen. In zeitlicher Hinsicht weist das im Frühwerk Schillers noch stark affirmierte Balance-Denken – darauf weist Zumbusch hin – zurück auf Leibniz’ Theodizee415, der Bruch mit binär strukturierten Balancen (aus der Sicht der historischen Schriften) hingegen deutet schon nach vorne auf Schillers Theorie des Erhabebeb. Die Kompensations- bzw. Balancelogik verschwindet dabei aber keineswegs vollständig, historische Übel werden nun jedoch durch subjektive Leistungen, statt durch allgemeine historische Positiventwicklungen ausgeglichen.416 Interessant an Schillers Argumentation in der Universalhistorischen Übersicht der vornehmsten an den Kreuzzügen teilnehmenden Nationen ist nun aber, dass sie diesem Denkvorgang, der das Geschichtsverständnis des Historikers auch für den Dramatiker Schiller fruchtbar macht, nicht nur weiterverfolgt, sondern dass Schiller den Blick hier vor allem auf der Genese historischer Zusammenhänge belässt. Statt der Reflexion subjektiver Selbsttechniken steht in der historischen Übersicht noch die geschichtsphiloso-

413 ebd.

414 ebd. 415 Leibniz bringt die Kompensationslogik auf den Punkt: „[M]an kann vom physischen Übel sagen, daß

Gott es oft als eine der Schuld zukommende Strafe und oft auch als Mittel zum Zweck will, d.h. um größere Übel zu verhindern oder größere Güter zu erlangen.“ (Leibniz, Die Theodizee (1710) 1879, S. 114) 416 Die Beobachtung entspricht auch der bereits angesprochenen Tatsache, dass Schiller sich bemüht, die Vorstellung eines teleologischen Geschichtsverlaufs angesichts historischer Negativentwicklungen zu retten. Eine Verabsolutierung der Vorstellung einer isomorphen Beziehung zwischen Subjektentwicklung und Gesellschaftsdynamik, wie sie sich sonst häufig in Schillers Texten findet, würde dies erheblich erschweren. Eine Anlage der Wendung des Kompensationsmoments vom Allgemeinen ins Subjektive findet sich indes auch schon bei Leibniz. Mit Tendenz zum Stoizismus heißt es in der Theodizee: „Die Strafe dient auch zur Besserung und als warnendes Beispiel, und das Übel oft, um am Guten bessern Geschmack zu finden; zuweilen trägt es sogar zur größern Vervollkommnung dessen bei, der es erduldet, wie ja auch der Same, der einer Art Verderbnis unterliegt, um zu keimen.“ (Leibniz, Die Theodizee (1710) 1879, S. 114)





2.2 Koinzidenz und Ordnungskollision …

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phisch geprägte Untersuchung vergangener Gesellschaftsentwicklungen im Fokus.417 Wie bereits angedeutet, benötigt Schillers Darstellung eine weitere Modalisierung, um eine zu deterministische Auffassung des Geschichtsprozesses zu vermeiden und zu einer Konzeption zu gelangen, die nicht davon ausgeht, dass jede historische Situation notwendig später positive Folgen zeitigen wird, die dennoch aber nicht im Widerspruch zu der vorher getroffenen Annahme steht, dass im Spezifischen hier behandelten Fall durchaus eine starke Kausalität zwischen den chaotischen Zuständen des Mittelalters und der historischen Hochzeit der Aufklärungsepoche herrscht. Schiller vollzieht diese Modalisierung über die – wie zu zeigen sein wird – für sein historisches Kontingenz- und Zeitverständnis zentralen Phänomene Koinzidenz und Synchronisation, die ihrer Wirksamkeit eben an jenen scheinbar überdeterminierten Punkten der Geschichtsbetrachtung entfalten und vorher qualitativ stark wirkende Kausalzusammenhänge abschwächen: Durch das ganze Gebiet der Geschichte sehen wir die Entwicklung der Staaten mit der Entwicklung der Köpfe einen sehr ungleichen Schritt beobachten. Staaten sind jährige Pflanzen, die in einem kurzen Sommer verblühn und von der Fülle des Saftes rasch in die Fäulnis hinübereilen; Aufklärung ist eine langsame Pflanze, die zu ihrer Zeitigung einen glücklichen Himmel, viele Pflege und eine Reihe von Frühlingen braucht. Und woher dieser Unterschied? Weil die Staaten der Leidenschaft anvertraut sind, die in jeder Menschenbrust ihren Zunder findet, die Aufklärung aber dem Verstande, der nur durch fremde Nachhülfe sich entwickelt, und dem Glück der Entdeckungen, welche Zeit und Zufälle nur langsam zusammentragen. Wie oft wird die eine Pflanze blühen und welken, ehe die andre einmal heranreift? Wie schwer ist es also, daß die Staaten die Erleuchtung abwarten, dass die späte Vernunft die frühe Freiheit noch findet? (IV, 850–851)

Notwendige Ermöglichungsbedingung für die Herausbildung des Aufklärungszeitalters ist in dieser Logik das Ineinanderfallen bzw. die Koinzidenz zweier Ereignisse. Sowohl die politischen Umstände als auch die geistesgeschichtliche Entwicklung 418 Europas musste sich auf einem Höhepunkt befinden, um die Hochzeit der Aufklärung einleiten zu können. Die Politik wie die Geistesgeschichte werden hier als von zyklischer Zeitlichkeit geprägte Systeme gedacht, wobei die Unwahrscheinlichkeit einer für die Stiftung von Hochzeiten notwendigen Gleichzeitigkeit der Höhepunkte beider Systeme in deren unterschiedlicher Zykluslänge begründet ist. Quer zu dieser ephemeren Koinzidenz liegt in 417 Dennoch ist die Textstelle für den an anderer Stelle von Schiller intensiver ausgearbeiteten Diskurs

subjektiver Handlungsethiken anschlussfähig, bilden die thematische Verbindung von Aufklärung und Leidenschaften, die stets ins Pädagogische weisende Gärtnermetaphorik und die Erörterung von Zufall und Widerfahrnis die Eckpfeiler der diskursiven Formation, aus der Schiller seine Konzeption des Erhabenen entwickelt. Die Anlagen sind damit hier schon gelegt, nötig für die spätere Erhabenheitstheorie ist dann aber vor allem noch ein Perspektivwechsel von den historischen Zusammenhängen hin zu ihren Konsequenzen für das Subjekt und dessen Erleben und Handeln in einer sich immer weiter beschleunigenden Umwelt. 418 Damit rückt Schiller zwar schon sehr nahe an die für sein klassisches Werk so wichtige Beschäftigung mit dramatisch wirkungsvollen Selbsttechniken angesichts historischer Negativzustände heran. Hier erlangt Subjektivität bzw. Vernunftentwicklung jedoch noch nicht die eigenständige thematische Relevanz späterer Texte, sondern wird noch stärker als historisch-objektive Entwicklung aufgefasst.





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Schillers Beschreibung der historischen Entwicklung Europas noch eine für das Kontingenzparadigma symptomatische Widerfahrnis-Gestaltbarkeit-Dichotomie. Während die politische Entwicklung der europäischen Staaten von unkontrollierbaren Leidenschaften bestimmt und damit in ihrem intrinsisch unberechenbaren Verlauf so hingenommen werden muss, wie sie sich eben darstellt, wird die geistige Entwicklung der Europäer als von extrinsischen Faktoren bestimmt dargestellt. Zwar erwähnt Schiller hier auch die Widerfahrniskategorien Zeit und Zufall als die geistesgeschichtliche Entwicklung Europas prägende Einflüsse, das Bild von der pflegebedürftigen Pflanze verweist jedoch auf die Notwendigkeit einer Einflussnahme durch menschliches Handeln und damit auf einen Gestaltungsspielraum, dessen Ausnutzung als weiterer Bedingungsmotor für den allgemeinen Positivverlauf der Geschichte integriert wird.

Schillers Konzeption ist damit geeignet, die Vorstellung einer teleologischen Ge-

schichtsentwicklung mit der empirisch naheliegenden Einsicht in Einklang zu bringen, dass Krisen und Katastrophen nicht unwesentliche Faktoren in der Menschheitsentwicklung darstellen. Die Multikausalität bei der Herausbildung der europäischen Aufklärungsgesellschaften fügt eine hinreichende Komplexität und damit auch Kontingenz in das teleologische Fortschrittstheorem ein, um dieses nicht zwangsläufig an den Realitäten von Geschichte und Gegenwart scheitern zu lassen. Erhöht wird diese Unberechenbarkeit hervorrufende Komplexität durch die Integration des Faktors ‚Zeitlichkeit’. Notwendig wird nun die Synchronisation zweier zyklischer Dynamiken der Geschichtsentwicklung, in denen sich progressive und regressive Tendenzen sukzessive aneinanderreihen. Im Moment der Synchronisation dieser Dynamiken kann jedoch ein Entwicklungssprung in der Geschichte der Menschheit eintreten. Dieser Moment hat dann den Status eines außergewöhnlichen und bedeutsamen Ereignisses. In der longue durée ist es jedoch nicht unwahrscheinlich, sondern nahezu zwangsläufig, dass es irgendwann zu einer derartigen Koinzidenz der Höhepunkte kommt. Schon hier denkt Schiller Geschichte nicht mehr in der einfachen Kompensationslogik, nach der die Teleologie der Geschichte in der „Kompensation von Übeln durch höhere Güter“ aufgeht, stattdessen entwirft er ein für verschiedene Modalisierungsformen – für Kontingenz in der Form von Koinzidenz, für Zeitlichkeit und für das tätige Mitwirken des Menschen – offenes System der Geschichte. Deutlich wird damit auch der Schillers Positionierung zwischen Aufklärung und Historismus bezeichnende Versuch, ein Nebeneinander von Teleologie und offener Zukunft zu denken.





2.2 Koinzidenz und Ordnungskollision …

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Kollisionen von Ordnungen Während sich der erste Teil der Universalhistorischen Übersicht der vornehmsten an den Kreuzzügen teilnehmenden Nationen also maßgeblich mit der Frage befasst, inwieweit eine die Geschichtsereignisse im Zeitverlauf latent strukturierende Ordnung möglich sein und wie das teleologische Prinzip angesichts empirisch klar nachweisbarer Defizienzen in der Menschheitsgeschichte seine Geltung bewahren kann, befasst sich der zweite Teil der Arbeit dezidiert mit der Verfassungswirklichkeit des Mittelalters. Die Bestimmung des Verhältnisses aus Ordnung und Kontingenz bleibt dabei ein maßgebliches, auch den Aufbau dieses zweiten Teils strukturierendes Erkenntnisinteresse Schillers. Anders als im ersten Teil seiner Übersicht wird Ordnung hier jedoch nicht als unsichtbares, hinter den Einzelereignissen stehendes und für menschliches Handeln unverfügbares Leitprinzip gedacht, dessen Verhältnis zu den Kontingenzen historischer Taten, Ereignisse und Entwicklungen näher zu bestimmen wäre. Stattdessen werden nun politisch-gesellschaftliche und damit durch menschliches Handeln gestiftete Ordnungssysteme auf ihr Verhältnis zu Erscheinungsformen der Kontingenz befragt. Dabei geht Schiller zum einen syntagmatisch darauf ein, wie politische Ordnungen aus kontingenten Begebenheiten entstehen, wie sich die Ordnungen im Zeitverlauf verfestigen und wie sie, wenn es schließlich zu Erstarrungen der jeweiligen Ordnung kommt, KippPotentiale entwickeln und selbst wieder zu kontingenten Ordnungen werden. Zum anderen befasst er sich in paradigmatischer Perspektive mit historisch-politischen Doppelordnungen und Doppelstrukturen, in deren Konstellationen er einen Nährboden für Kontingenzsituationen, vom Kontrollverlust-Ereignissen bis hin zu double-bindVerhältnissen verortet.

Schiller beginnt seine Analyse der mittelalterlichen Verfassungswirklichkeit mit

dem methodischen Hinweis auf die analytische Notwendigkeit einer genealogischhistorischen Untersuchung: „Um die veränderte Gestalt der europäischen Staaten zu erklären, müssen wir zu entfernteren Zeiten zurückkehren und ihrem Ursprung nachspüren“ (IV, 855). Hierin wird nochmals der schon in der Antrittsvorlesung artikulierte und für das Selbstverständnis des ausgehenden 18. Jahrhundert bestimmende Gedanke deutlich, dass ein Bewusstsein für das geworden-Sein aktueller Zustände und eine Betrachtung von deren historischer Entwicklung geeignet ist, fundamental neue Einsichten zu gewinnen. Das gilt für das Aufklärungszeitalter selbst, das nun bekanntlich beginnt, sich über die Praxis der Selbstreflexion und damit auch der Selbstidentifikation ver



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stärkt mit der eigenen Geschichte und damit eben auch dem eigenen Geworden-Sein zu befassen. Dass die Geltung dieser Methodik bzw. ihrer Erkenntnispotentiale bei analoger Anwendung auf vergangene Zeiten nicht verloren geht, ist dann aber auch ein durchaus naheliegender Gedanke. Eine genealogische Betrachtung auch vergangener Zeiten, wie sie Schiller in der Übersicht zu den Kreuzzügen vornimmt, fügt sich demnach passgenau in den Aufklärungsdiskurs der 1780er und 1790er ein. Da Schillers avisierter Untersuchungsgegenstand vor allem in den verfassungsrechtlichen Doppelstrukturen der mittelalterlichen Lehens- und Grundherrschaft liegt, konzentriert sich seine genealogische Analyse auf die Ursprünge des unter den Menschen ungleich verteilten Bodens. Im Übergang vom nomadisch-kriegerischen Urzustand zu den ersten kulturell höher entwickelten Gesellschaftsformen seien – so Schiller – neue Ländereien asymmetrisch unter den umherziehenden Kriegergemeinschaften aufgeteilt worden: „Die Länderverteilung war ungleich ausgefallen, weil das Los sie entschieden und der Rottenführer eine größere Portion davongetragen hatte als der Gemeine, der Heerführer eine größre als alle übrigen.“ (IV, 857) Der ursprünglichen Akkumulation ist mittels des Losverfahrens somit schon ein Moment der Kontingenz eingeschrieben. Zusätzlich dazu wird die gruppeninterne Stratifikation der archaischen Gemeinschaften gefestigt, indem sozial höherstehende Personen auch einen größeren Anteil des neu erworbenen Besitzes in Anspruch nehmen können. Weiterhin beschreibt der Text, wie sich diese ursprünglichen Divergenzen im Geschichtsverlauf weiter ausprägen: Der Anführer „hatte also mehr Einkünfte, als er verbrauchte, oder Überfluß; folglich Luxus“ (IV, 857). Das ökonomische Kapital, genauer der Bodenbesitz, sei dann unmittelbar in soziales und mittelbar in symbolisches Kapital überführt worden, indem ein zahlreiches kriegerisches Gefolge die prächtigste Ausstellung des Reichtums und der Gewalt und zugleich das unfehlbarste Mittel [darstellten], beides zu vergrößern. Jener Überfluss an Grundstücken konnte daher auf keine beßre Art angewendet werden, als daß man sich kriegerische Gefährten damit erkaufte, die einen Glanz auf ihren Führer werfen, ihm das Seinige verteidigen helfen, empfangene Beleidigungen rächen und im Kriege an seiner Seite fechten konnten. (IV, 857)

Die ursprünglich wenigstens zum Teil arbiträren Besitzunterschiede differenzieren sich hier in einer (früh-)kapitalistischen Logik weiter aus. Die Reinvestition akkumulierten Kapitals – Schiller schreibt hier von „Überfluss“ – generiert neue Möglichkeiten der Kapitalsicherung und -reinvestition durch die Verteidigung des eigenen und die Eroberung neuen Bodens im Krieg. Die Rückbindung des Zwecks des Kapitaleinsatzes auf die diesem Zweck zur Verfügung stehenden Mittel führt im historischen Verlauf unweigerlich zu einer Steigerungs- bzw. Beschleunigungsdynamik. Die Ungleichheiten unter den



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Menschen müssen sich so zwangsläufig immer schneller und immer weiter ausprägen. Bei diesem Gedankengang handelt es sich um die Aneignung eines Arguments aus Rousseaus Abhandlung Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen.419 Die Textstelle ist in diesem Zusammenhang aber vor allem in dreierlei Hinsicht interessant. Zum Ersten zeigt sie eine Geschichtsdynamik auf, in der es durchaus in Spannung zu der Vorstellung einer teleologischen Geschichtsentwicklung zu einer Steigerung unerwünschter und auf kontingenten Ursachen beruhender Entwicklungen im Zeitverlauf kommt. Zum Zweiten gestaltet sich das Verhältnis aus Zeitlichkeit und Kontingenz auch nicht in Form einer Mehrfachmodalisierung, mithilfe welcher der Möglichkeitsmodus eines Sachverhalts nochmals durch das Einfügen einer Zeitperspektive verstärkt wird. Stattdessen wirkt Zeitlichkeit im vorliegenden Fall in die exakt entgegengesetzte Richtung, indem sie, statt eine Modalisierung im eigentlichen Sinne hervorzurufen, zu einer Intensivierung eines bereits vorliegenden Zustands – in diesem Fall der Ungleichheit unter den Menschen – beiträgt. Dass der Zustand selbst teilweise kontingente Ursachen hat – das Losverfahren zur Landverteilung – ist dabei nicht von Bedeutung. Zum Dritten wird hier ein im Geschichtsdenken Schillers tief verankertes Interesse an der Kapitalform des Symbolischen deutlich. Nicht nur die ökonomischen Mittel, auch das Ansehen, welches die Güter dem Grundherren verleihen, „der Glanz, den sie auf ihren Führer werfen“, trägt wesentlich zur Festigung bzw. Verbesserung seiner Position im sozialen Gefüge bei. Recht deutlich wird hiermit die Relevanz, die Schiller Verfahren und Prinzipien zuschreibt, die geeignet sind, symbolische Wirkungen hervorzurufen oder Charisma zu begründen, die im weitesten Sinn auch durch das Theater, die Literatur und das Kunstsystem übernommenen werden – es wird als eine Assoziationsnähe zwischen ästhetischen und historischen Prozessen hergestellt. Politik und Ästhetik wer 419 Für Rousseau liegen die Gründe der ursprünglichen Bodenaufteilung in der Folge der ersten landwirtschaftlichen Bearbeitung der Böden: „Aus der Bebauung des Bodens folgte notwendigerweise auch seine Aufteilung, und aus den einmal anerkannten Eigentum folgten die ersten Regeln der Gerechtigkeit.“ (Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen 1998, S. 85.) In der Vorlesung Etwas über die erste Menschengesellschaft macht sich Schiller Rousseaus Erklärung für die ursprüngliche Akkumulation noch weitgehend zu eigen (vgl. dort S. 773–777); auch deren direkter Prätext Kants Muthmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte argumentiert ähnlich (vgl. dort S. 118– 120). Deutlich wird damit, dass es Schiller in der universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzügen also vornehmlich darum geht, die Ungleichheit auf kriegerische Zustände im Vorfeld staatlicher Ordnung, statt auf landwirtschaftliche Bearbeitung des Bodens zurückzuführen. Es zeigt auch, dass er kein historisch starres System entwickelt hat, sondern je nach Bedarf passende Erklärungen in seinen jeweiligen Argumentationsgang integriert. Die Intensivierungs- und Steigerungsdynamik, die sich im Zeitverlauf entwickelt und über die sich in Schillers Argumentation die ursprünglichen Ungleichheiten verfestigen, findet sich indes in ähnlicher Form ebenfalls schon bei Rousseau. Vgl. Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen 1998, S. 85 und 91. Hier adaptiert Schiller einen auf landwirtschaftlichen Kontexten beruhenden Gedanken und überträgt ihn in sein politischmilitärisches Beschreibungsmodell.





Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

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den demnach nicht als ausdifferenzierte und operativ geschlossene Systeme betrachtet, vielmehr richtet der Text, anders als etwa noch der Schaubühnen-Aufsatz den Blick auf die Parallelen, Wechselwirkungen und Kopplungen bzw. ‚crossings’ zwischen beiden Bereichen.

Schillers eigentlicher Schwerpunkt bei der Vertiefung des im weitesten Sinne po-

etologischen Wissens über Kontingenz liegt jedoch in der Verortung von Doppelstrukturen in der politisch-gesellschaftlichen Ordnung des Mittelalters. Der zweite Teil der Übersicht zu den Kreuzzügen befasst sich zwar kurz mit der oben behandelten Frage der genealogischen Herausbildung ungleicher Besitzverhältnisse im Geschichtsverlauf. Weit wichtiger nimmt er jedoch die Betrachtung von Beziehungen und Spannungen nicht zwischen verschiedenen Feldern wie zwischen der Kunst und der Politik oder zwischen den Ebenen des Individuellen und des Allgemeinen – auch wenn die Argumentation stets auf derartige Komplexe zurückgeführt wird –, sondern zwischen Strukturen desselben Feldes, hier dem Recht und der Politik. Dies liegt sicher nicht daran, dass Schiller kein Interesse an den ‚crossings’ zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen hätte. Deren Relevanz für sein Werk zeigt sich an vielen Stellen. Die Hinwendung zu den Doppelstrukturen, Juxtapositionen und Zwischenstellungen innerhalb eines Systems lässt sich als methodische Bewegung hin zum möglichst Konkreten auffassen. Dieses Vorgehen erlaubt Schiller jedenfalls die weitgehende Vermeidung interpretativer und spekulativer Ansätze, zu denen Untersuchungen von Beziehungen zwischen verschiedenen Teilsystemen häufig neigen und die auch für Schillers eigene Arbeiten sonst durchaus charakteristisch sind. Bei dieser paradigmatischen Fokussierung auf die historisch (eher) objektiven Sachverhalte der rechtlich-politischen Verfassungswirklichkeit des Mittelalters macht Schiller im Wesentlichen drei Doppelstrukturen oder -ordnungen aus, die jeweils zu einer Art Zwischenstellung bestimmter Elemente führen, worüber sich dann wiederum Kontingenzpotentiale entfalten: (1) Die rechtliche Zwischenstellung der Kirchengüter zwischen erblichen ‚Allodien’ und verliehenen und damit zeitlich begrenzten ‚Benefizien’ oder ‚Lehen’, (2) die politische Zwischenstellung der Könige zwischen ihrem Amt als Reichsoberhaupt und ihrer untergeordneten Rolle als grundbesitzenden Barone oder gar Lehensnehmer und (3) die dazu analog verfasste politische Zwischenstellung der hohen Vasallen, die ihre Rollen als Lehensträger der Krone und als Lehensgeber ihrer eigenen Untersassen zu vereinbaren hatten.

Schon zu Beginn dieses Teils der Universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzü-

gen wird im Aufkommen der christlichen Religion eine einschneidende Zäsur in der Ge



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schichte Europas mit weitreichenden Konsequenzen für die Verfassungswirklichkeit des Mittelalters ausgemacht: Nachdem mit dem Christentum auch die christliche Kirchenverfassung unter den neuen europäischen Völkern eingeführt worden, fanden die Bischöfe, die Domstifter und Köster sehr bald Mittel, den Großmut der Könige in Anspruch zu nehmen. Reiche Schenkungen geschahen an die Kirchen und die ansehnlichsten Güter wurden oft zerrissen, um den Heiligen eines Klosters unter seinen Erben zu haben. (IV, 858)

Auch hier greift nebenbei bemerkt wieder der oben bereits angesprochene Zusammenhang zwischen politischem Handeln und einer damit verbundenen Generierung symbolischen Kapitals, wenngleich das Verhältnis zwischen dem Nutzen, den die Kirchenschenkungen für profan-politische Ziele des Schenkenden haben mag, und dem Nutzen für dessen Seelenheil ungeklärt bleibt. Entscheidend ist jedoch vielmehr, dass Schiller in der Praxis der Übertragung von Besitz in die Hände der Kirche die Ursache für spätere politische Spannungen sieht: Weil alles, was an die Kirche geschenkt wurde, auf ewig und unwiderruflich an sie abgetreten war, so unterschieden sich die Kirchengüter dadurch von den Lehen, die zeitlich waren und nach verstrichenem Termin in die Hand des Verleihers zurückkehrten. Sie näherten sich aber von der anderen Seite den Lehen wieder, weil sie sich nicht wie Allodien vom Vater auf den Sohn forterbten, weil der Landesherr beim Ableben des jedesmaligen Besitzers dazwischentrat und durch Belehnung des Bischofs die oberherrliche Gewalt ausübte. Die Besitzungen der Kirche, könnte man also sagen, waren Allodien in Rücksicht auf die Güter selbst, die niemals zurückkehrten, und Benefizien in Rücksicht auf den jedesmaligen Besitzer, den nicht die Geburt, sondern die Wahl dazu bestimmte. Er erlangte sie auf dem Wege der Belehnung und genoß sie als Allodien. (IV, 859)

Schiller beschreibt hier die eigentümliche rechtliche Zwischenstellung, welche die kirchlichen Besitztümer in der mittelalterlichen Rechtsordnung einnehmen – weder können die formal einem zölibatären Leben verpflichteten Kirchenfürsten diese Güter an ihre Nachkommen vererben, noch kann ihnen der Besitz wieder entzogen werden. Beim Ableben des jeweiligen Bischofs oder Abts kommt es damit zu einer prekären Situation, in der die Neubesetzung eines Bischofsstuhls demjenigen, der darüber entscheiden konnte, die seltene Chance bot, politischen Einfluss zu nehmen. Schiller beschreibt hier keine Nebensächlichkeit, sondern den Kern zweier Zentralkonflikte von Mittelalter und Neuzeit, bedenkt man, dass sich der Investiturstreit um die machtpolitische Virulenz erlangende Frage, ob der Kaiser oder der Papst das Recht besitzen, die Bischöfe des Reiches einzusetzen, und dass der Dreißigjährige Krieg ganz wesentlich durch die Frage bestimmt und am Laufen gehalten wurde, ob Kirchengüter beim Übertritt eines Bischofs zum protestantischen Glauben – wie bei dessen Tod – durch den Lehensgeber neu zu vergeben seien.420

420 Damit würde der Kirchenbesitz stets in katholischer Hand bleiben, bei der Alternative, dass die Güter

weithin bei dem nun protestantischen Bischofs verbleiben konnten, wie dies nach den Bestimmungen des





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Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ... Diese historischen Implikationen werden im Text jedoch nicht explizit gemacht.

Dessen Fokus scheint vielmehr auf der strukturellen Verfasstheit derartiger Doppelstrukturen zu liegen und weniger auf der historischen Dimension selbst. Dies wird etwa darin deutlich, dass er anlog zur Zwischenstellung der Kirchengüter noch weitere Konstellationen im System der mittelalterlichen Lehens- und Grundherrschaft verortet, in denen vergleichbare Zwischenstellungen zwischen zwei Ordnungsstrukturen Kontingenzpotentiale freisetzen. Zunächst befasst sich der Text mit der Stellung des Königs bzw. Kaisers im Gefüge der Lehensabhängigkeiten: Könige selbst hielten es nicht unter ihrer Würde, Lehenträger ihrer Bischöfe und Prälaten zu werden, welches diese nicht unterlassen haben als ein Zeichen des Vorzugs geltend zu machen, der dem Klerus über die Weltlichen gebühre. Kein Wunder, wenn auch die Päpste sich nachher einfallen ließen, den, welchen sie zum Kaiser gemacht, mit dem Namen ihres Vogts zu beehren. Wenn man das doppelte Verhältnis der Könige, als Baronen und als Oberhäupter ihres Reichs, immer im Auge behält, so werden sich diese scheinbaren Widersprüche lösen. (IV, 860)

Die mittelalterliche Verfassungswirklichkeit wird damit als ein komplexes ineinander verwobenes Geflecht an Machtbeziehungen beschrieben. Der König befand sich im double-bind zwischen seiner Funktion als Monarch und seiner Rolle als Grundherr. Die Kirchengüter, die er an Bischöfe vergeben hatte, nahm er stellenweise als Lehen wieder zurück. Schillers Text nimmt dieser schwierigen Stellung des Königs im Reichssystem folgend dann auch umgehend die Beziehungen zwischen dem König und den (anderen) Baronen in den Blick, die anders als Lehensnehmer des Königs relativ gefahrlos Autonomiebestrebungen entwickeln konnten: Die Herzöge, Markgrafen, Grafen, welche der König als Kriegsobersten und Richter über die Provinzen setzte, hatten eine gewisse Macht nötig, um der äußern Verteidigung ihrer Provinzen gewachsen zu sein, um gegen den unruhigen Geist der Baronen ihr Ansehen zu behaupten, ihren Rechtsbescheiden Nachdruck zu geben und sich im Fall der Widersetzung mit den Waffen in der Hand Gehorsam zu verschaffen. (IV 860)

Die grundbesitzenden Barone werden hier als Störfaktor für die Durchdringung des Reiches mit königlicher Macht beschrieben. Insbesondere über die von Schiller oben behandelte Tatsache, dass der König in seiner Rolle als Baron mit den anderen Baronen auch um kirchliche Lehen konkurrierte, obwohl er gleichzeitig als Reichsoberhaupt über ihnen stand, wird dieses Unruhepotential nochmals verstärkt. Schiller zeigt auf, dass Bischöfe oder Äbte, die Teile der Kirchengüter als Lehen weitergeben mussten, um so die für die Verteidigung ihrer Gebiete notwendigen militärische Leistungen zu erhalten, einen Anreiz hatten, bereits vorher schon mächtige Personen als Vasallen auszuwählen. Die Vergabe größerer Lehen war damit „auf die kleine Anzahl der hohen Baronen einge Augsburger Religionsfriedens bei Glaubenskonversionen weltlicher Fürsten vorgesehen war, würde indes ein Übergang der Güter von katholischem in protestantischen Besitz erfolgen.





2.2 Koinzidenz und Ordnungskollision …

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schränkt, die an Allodien reich genug waren und Vasallen genug ins Feld stellen konnten“ (IV, 860). Es kommt damit auch in diesem Zusammenhang zu der typischen – auf einer Rückkopplung der Folgen auf die zu diesen Folgen beitragenden Mittel beruhenden – Steigerungs- bzw. Beschleunigungsfigur. Die im Vorfeld bereits bestehende Machtfülle der unabhängigen Barone führt zu im Zeitverlauf weiter zunehmenden Machtgewinnen. Die Folgen dieses Prozesses für die königliche Herrschaft werden von Schiller eindrucksvoll in einen Zusammenhang mit der Lehensvergabe von Geistlichen an einflussreiche und nun auch untereinander konkurrierende Barone gebracht, wenn er davon spricht, dass der Verfall des königlichen Ansehens die Anarchie herbeiführte, Privatkriege einrissen und Straflosigkeit die Raubsucht aufmunterte; daher auch die Geistlichkeit, welche diesen Räubereien vorzüglich ausgesetzt war, ihre Schirmvögte und Vasallen unter den mächtigen Baronen aussuchte. (IV, 860)

Die Machtakkumulation der Barone wird also nochmals gesteigert, indem vergleichbar mit dem aus dem Komplex der organisierten Kriminalität bekannten Prinzip der Schutzgelderpressung ein weiterer Anreiz für Kirchenoberhäupter gesetzt wird, gerade den die eigenen Güter bedrohenden Baron als Lehensnehmer zu gewinnen.

Neben der Zwischenstellung der Kirchengüter zwischen Allodien und Benefizien

und der Zwischenstellung des Königs zwischen seinen Rollen als Staatsoberhaupt und als mit anderen gleichberechtigter Baron geht Schiller noch auf die Zwischenstellung der hohen Vasallen ein: Die hohen Vasallen der Krone waren also zugleich begüterte Baronen oder Eigentumsherren und hatten selbst schon ihre Vasallen unter sich, deren Arm ihnen zu Gebote stand. Sie waren zugleich Lehensträger der Krone und Lehensherren ihrer Untersassen, das erstere gab ihnen Abhängigkeit, indem letzteres den Geist der Willkür bei ihnen nährte. (IV, 860)

Im Prinzip handelt es sich hierbei nahezu um ein Doppel der oben beschriebenen Zwischenstellung des Königs. Die Denkbewegung könnte fortgesetzt werden; ihre Geltung erstreckt sich in der Lehenspyramide logisch auch auf Untersassen, die ihrerseits Teile ihres Besitzes als Lehen weitergeben usf. Argumentativ kann damit jedoch nur noch wenig gewonnen werden, der Text hat das Prinzip auch hinreichend verdeutlicht. Dementsprechend unterlässt Schiller eine Fortführung des Gedankens bis auf die Ebene des niedrigsten Vasallen in der Kette der Lehensverhältnisse und wendet sich stattdessen der Frage zu, inwieweit sich die Zwischenstellung der hohen Vasallen auf die Macht des Königs auswirkt. Diese Rückbindung ist insofern interessant, weil damit nicht mehr soziale Primärbeziehungen im Fokus stehen, sondern auf – um mit Anthony Giddens Begrifflichkeit zu arbeiten – „aus ihren ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen“





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herausgehobene „soziale[] Beziehungen“. 421 Giddens prägt zur Bezeichnung solcher durch das Prinzip der Mittelbarkeit bestimmten Beziehungsstrukturen den Begriff der „Entbettung“422. Die Zwischenstellung der hohen Vasallen zwischen König und Untervasallen beschreibt Schillers Text nun als Faktor, der eine derartige Entbettung der sozialen Beziehung des Königs zu seinen Untertanen forciert und die Beziehung selbst transformiert. War es im direkten Verhältnis zwischen König und Untertan, etwa wenn dieser an königliche Erblande gebunden war, ein außergewöhnliches Ereignis, wenn die herrschaftliche Stellung des Königs infrage stand, so muss im Falle der Installation eines hohen Vasallen die Geltung königlicher Herrschaft stets aktualisiert werden, um nicht sukzessive in Vergessenheit zu geraten und damit auch unwiederbringlich zu schwinden: Unterließen es die Könige, sich durch öftere Bereisung der Länder, durch Ausübung ihrer oberrichtlichen Würde u. dergl. dem Volk (unter welchem Namen man immer die waffenführenden Freien und niederen Gutsbesitzer verstehen muß) in Erinnerung zu bringen, oder wurden sie durch auswärtige Unternehmungen daran verhindert, so mußten die hohen Freiherrn den niedrigen Freien endlich die letzte Hand scheinen, aus welcher ihnen sowohl Bedrückungen als auch Wohltaten zuflossen, und da überhaupt in jedem Systeme der Subordination der nächste Druck immer am lebhaftesten gefühlt wird, so musste der hohe Adel sehr bald einen Einfluß auf den niedrigen gewinnen, der ihm die ganze Macht desselben in die Hände spielte. (IV, 861)

Die formalen Machtverhältnisse mit dem König an der Spitze der Herrschafts- und Entscheidungspyramide neigen nun permanent dazu, in den Modus der Latenz abzusinken. Die Herrschaft des Königs bedarf nun regelmäßiger Aktualisierung, ein anschwellendes Kipp-Potential bedroht die königliche Macht – und zwar permanent. Nicht verwunderlich ist, dass das politische Handeln der hohen Vasallen dann darauf abzielt, diesen Prozess zu katalysieren: „Anstatt den König in dem Herzogtum oder in der Grafschaft zu repräsentieren, wollte er [der hohe Vasall] sich selbst repräsentieren und er hatte dazu gefährliche Mittel in der Hand“ (IV, 861). Die Folgen, die diese Entwicklungen für die jetzt kontingent gewordene Machstellung des Königs mit sich bringen, beschreibt Schiller nun auch in zeitlicher Perspektive: Für den Monarchen „war es nun zu spät und auch zu gefährlich“ (IV, 862), den Autonomiebestrebungen der hohen Lehensnehmer Widerstand zu leisten. Die Gelegenheit ist damit verpasst, ehemals bestehende Handlungsmöglichkeiten stehen nicht mehr zur Verfügung; Gestaltbarkeitskontingenz ist kristallisiert. Insbesondere betont Schiller, dass die Möglichkeit, Lehen nach Ableben des Lehensnehmers an jemand anderen zu verleihen, für den an Macht verlierenden König immer weniger zur Verfügung stand und die Lehen somit sukzessive den Status von Allodien erlangten. Die Lehen wurden also an die Nachkommen der Lehensnehmer weiterverlie

421 Giddens, Konsequenzen der Moderne 1996, S. 33. 422 Ebd.





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hen „und war dieses mehrmals beobachtet worden, so wurde es zur Observanz, welche sich ohne außerordentliche Veranlassung und ohne eine nachdrückliche Zwangsgewalt nicht mehr umstoßen ließ“ (IV, 862). Reflexion des Theatralen Dem König bleibt dann nur noch die Möglichkeit theatraler Inszenierung – er muss sich jetzt als Herrscher darstellen, ohne jedoch die Herrschaftsgewalt tatsächlich innezuhaben: „[U]nd so mußte der Monarch sich begnügen, wenn ihm der zu mächtig gewordene Vasall noch den Schatten der Oberlehnsherrschaft gönnte und sich herabließ, für ein Gut, das er eigenmächtig an sich gerissen, die Belehnung zu empfangen.“ (IV, 862) Das wirkliche Machtgefälle und das dargestellte Machtgefälle stehen hier in exakt gegenläufiger Ausrichtung zueinander. Der Text zeigt jedoch nicht ein bloßes Auseinanderdriften von Sein und Schein; präsentiert wird auch eine Situation, in der eine konkrete Vergangenheit zur Folie politisch-öffentlicher Repräsentation in der Gegenwart dient. Das Framing gewinnt seine Überzeugungskraft durch die virtuelle Fortschreibung der mittlerweile untergegangenen königlichen Machtposition. Die sich realiter herausbildenden Diskontinuitäten, insbesondere der Autoritätsverlust des Herrschers und der Aufstieg seiner hohen Vasallen werden in der Außendarstellung verdeckt. Die so vollzogene Repräsentation des Königs kann jedoch paradoxerweise selbst als performativer Akt gelesen werden, mit dem nicht nur eine Verschleierung des königlichen Machtverlustes vollzogen, sondern mit dem auch ein neues, andersartiges Fundament königlicher Macht überhaupt erst installiert wird. Für den Mächtigen gehalten zu werden, ist ein eigener Machtfaktor. Die Aura des Monarchen wird damit nicht zum Phantasma, sondern zum Kern seiner sich neu formierenden königlichen Stellung, auch wenn damit der sinkenden Einfluss des Königs auf sein Reich sicherlich nur partiell kompensiert zu werden vermag. Dennoch wird hier nicht nur das soziale Verhältnis zwischen König und Lehensnehmer als in Transformation begriffen gedacht, die Machtgrundlage des Königtums selbst transformiert sich in Abhängigkeit zu dieser Entwicklung ebenfalls. Mit dieser besonderen Form theatralen Framings bezieht Schiller den vorher weitestgehend innerpolitische Kollisionen verfolgenden Argumentationsgang auf die Schnittstelle aus Kunst und Politik. Genuin im Kunstsystem zu verortende Mittel werden positiv auf ihre Funktionalität für politische Zwecke hin befragt. Damit bietet die Universalhistorische Übersicht zu den Kreuzzügen nicht nur eine Darstellung historischer Zu



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sammenhänge mit beachtlicher Deutungstiefe, sondern trifft auch Aussagen über Schillers Wahrnehmung wechselseitiger Beeinflussungen oder Interpenetrationen von Kunst- und Politiksystem. Die Fortschreibung politischer Macht auf dem Feld der Kunst, die dem mittelalterlichen König als Praxis der Herrschaftssicherung zur Verfügung steht, kann somit auch rückgebunden werden auf die allgemeineren Überlegungen in der Schaubühnen-Rede von 1784. Die berühmten Überlegungen zur Reichweite von Politik, Religion und Theater lassen sich mit diesem Gedankengang auch mit einer sehr konkreten, stark auf die performative Kraft des Theatralen abhebenden Lesart versehen: Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage und reißt die Laster auf einen schrecklichen Richtstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und Geschichte, Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem Wink zu Gebote. Kühne Verbrecher, die längst schon im Staub vermodern, werden durch den allmählichen Ruf der Dichter jetzt vorgeladen und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein schändliches Leben. (V, 823)

Inhaltlich stehen die Textstellen aus der Universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzügen und der Schaubühnen-Rede geradezu konträr zueinander. Geht es der Übersicht um die Fortschreibung einer in Wahrheit schwindenden königlichen Autorität, so behandelt die Rede die Etablierung einer Gegenmacht gegen die sich bereits im Status des Verfalls befindliche Feudalordnung. Im ersten Fall soll die traditionelle Herrschaft des Königs weitergeführt, im zweiten Fall soll sie unterbrochen werden. Die formalen Argumentationsmittel beider Textstellen weisen jedoch auffallende Ähnlichkeiten auf. In beiden Kontexten geht es um das Füllen eines Vakuums im Wirkungskreis politischer Herrschaft mittels theatraler Praktiken bzw. mittels der Institution Theater selbst. Auch liegt beiden Argumentationen das gleiche Zeitregime zugrunde: Die theatralen Wirksamkeiten des mittelalterlichen Schauspiels der Lehensvergabe wie auch der auf den Bühnen des ausgehenden 18. Jahrhunderts aufgeführten Stücke mit politischem Anspruch beruhen nicht unwesentlich auf der Praxis der Reaktualisierung bzw. Perpetuierung bereits vergangener bzw. historischer Macht- und Sozialbeziehungen. Die Schaubühnen-Rede beschreibt das Verhältnis zwischen dem Theatralen und dem Politischen damit nicht – wie Reinhart Koselleck in Kritik und Krise behauptet – als eines „gegenseitige[r] Ausschließlichkeit“423, Schiller geht es in seiner Emphase theatraler Wirkungspotentiale vielmehr 423 Koselleck benötigt diese distinkte Trennung der beiden Felder für sein Kernargument, die Kritik der

aufklärerischen ‚Gelehrtenrepublik’ erläge „dem Schein ihrer Neutralität“, werde dadurch jedoch zur „Hypokrisie“ (Koselleck Kritik und Krise 1973, S. 82). Koselleck fokussiert damit die Unterschiede, die etwa die Schaubühnen-Rede zwischen Politik und Moral zieht – wobei schon Kosellecks Gleichsetzung von Kunst und Moral zu hinterfragen wäre – und blendet die in der Rede ebenfalls thematisierten ‚crossings’ beider Felder systematisch aus. Zum einen ist also die Schaubühnen-Rede, wie allgemein das (Früh-)Werk





2.2 Koinzidenz und Ordnungskollision …

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darum zu betonen, wie die Bühne und theatrales Handeln Funktionen des Politischen und darüber hinaus auch des Wissenschaftlichen oder Pädagogischen übernehmen können.424

Davon ausgehend ließen sich auch zunächst nicht-politisch anmutende Handlun-

gen von als politisch markierten Figuren in Schillers Dramen darauf befragen, ob sie nicht als sublime Fortsetzung politischen Handelns in anderer Form gelesen werden könnten. Wenn vom in Schillers Werk sonst so kühl und berechnend gezeichneten König Philipp etwa in der berühmten Szene IV, 24 des Don Karlos behauptet wird, er habe geweint, so könnte demnach durchaus diskutiert werden, ob die gängige Deutung, der König zeige sich hier als Mensch statt als Monarch,425 nicht um eine weitere Lesart ergänzt werden kann. Die Tatsachen, dass der Tränenausbruch Philipps nur über einen Botenbericht vermittelt wird und damit über ein Verfahren, das immer auch auf eine Unsicherheit in der Informationsvergabe hinweist, sowie das im Frühwerk Schillers – etwa in der Anekdote Eine großmütige Handlung – sonst so deutlich artikulierte Misstrauen gegenüber der Authentizität von Tränenausbrüchen treffen nun zusammen mit der Erkenntnis, dass sich politische Macht mittels theatraler Techniken über den Moment des eigentlichen Machtverlustes hinaus verlängern lässt. Der König, der seine Vertrauten nicht mehr durch Macht zu binden vermag, versucht sie – so die alternative Lesart – mittels einer Inszenierung durch Sympathie zu binden. Schillers kaum geeignet, um eine vorgeblich unpolitische, im Kern aber doch politische Agenda im Aufklärungsdiskurs zu verorten – die politische Dimension wird hier vielmehr offen artikuliert. Zum anderen verfügt die in den 1780er Jahren bereits reflexiv gewordene Aufklärung – das Spektrum unterschiedlicher Deutungsansätze für die frühen Dramen Schillers kann dafür als beispielhaft gelten – keineswegs mehr über ein klar umrissenes und moralisch einheitliches gegenpolitisches Konzept, das in einen krisenhaften Konflikt mit der politischen Ordnung geraten könnte. Im Kontext von Selbstbeobachtungen und Beobachtungen zweiter Ordnung ist auch die Gewissheit einer moralischen Überlegenheit des Unpolitischen nicht mehr zu halten. Und genau deshalb ist die Schaubühnen-Rede kein moraldidaktischer Text im eigentlichen Sinn, wie Koselleck insinuiert, sondern ein Text, der sich abstrakter und allgemeiner mit den Wirkungsmöglichkeiten der Institution Theater befasst. 424 Dass Schiller die unterschiedlichen gesellschaftlichen Felder hier weniger differenzierungslogisch beschreibt, als vielmehr einer Kolonialisierung der Politik (und anderer Bereiche) durch die Kunst – und damit des Systems durch die Lebenswelt – das Wort redet, wird auch in Carsten Zelles Beitrag im SchillerHandbuch implizit deutlich. Zelle zeigt auf, wie systematisch Schiller die Wirkungsmöglichkeiten der Bühne auf verschiedenste soziale Komplexe darlegt. Vgl. Zelle, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken 2005, S. 343-357. 425 Vgl. Luserke-Jaqui, Don Karlos/Briefe über Don Karlos 2005, S. 98.





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258 Auswertung

Hier soll es jedoch nicht darum gehen, Schillers sichtbar gegen Lessing gerichtete und die spätere in den 1790ern entwickelte Ästhetik des Erhabenen bereits präfigurierende Kritik des Mitleids nachzuzeichnen. Es sollte vielmehr aufgezeigt werden, inwieweit Gedankengänge aus genuin historischen Texten Schillers geeignet sind, spezifische Deutungsansätze auch für die Interpretationen seiner literarischen Werke anzubieten. Wichtiger ist an dieser Stelle jedoch die Tatsache, dass das in der Universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzügen beschriebene theatrale Spiel von König und Vasall ähnlichen Prinzipien gehorcht wie Schillers Vorstellung von der Bühne als einer nicht nur in moraldidaktischer Hinsicht bedeutsamen Instanz in der Aufklärungsgesellschaft. Individuelles und Politisches, Handlungstheorie und Gesellschaftstheorie werden in beiden Fällen als Komplexe gedacht, die vergleichbaren Dynamiken unterworfen sind. Das ist insofern interessant, weil diese Denkfigur eines Isomorphismus beider Ebenen sich eben nicht, wie es sonst bei Schiller häufig der Fall ist, als direkte Dopplung von Individuellem und Allgemeinem darstellt. Das Subjekt ist hier nicht nur einfach Repräsentant einer gesellschaftlichen Struktur, nicht nur bloßes Glied, das wie Hobbes’ Leviathan in Miniatur das große Ganze kopiert. Stattdessen werden Subjekt und politischer Raum als Elemente gedacht, die in gleicher Weise auf die Einwirkung eines externen Faktors – hier der Instanz des Theaters bzw. die Praxis des Theatralen – reagieren. Die vormals starre Beziehung wird somit in eine dynamische und für äußere Einflüsse offene Relation übersetzt, sie bleibt aber dennoch auf eigentümliche Weise in der äußeren Ähnlichkeit der Erscheinungen sichtbar. Die Auflösung der ehemals binären Relation, in der das Individuelle das Gesellschaftliche doppelt, in ein offeneres System, in dem die Elemente nicht mehr direkt miteinander gekoppelt, sondern in vergleichbarer Weise von auf sie einwirkenden Einflüssen bewegt werden, kovariiert dabei bezeichnenderweise mit den von Luhmann für die Zeit um 1800 beschriebenen allgemeinen gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen beziehungsweise mit Anthony Giddens Modell der Entbettung.

Hinsichtlich der wesentlichsten Fragestellung dieses Kapitels, die sich auf Schil-

lers wissenspoetologische Einsicht in die Frage bezieht, wie Kontingenz in die Welt gelangt, ist jedoch vor allem die in der Universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzügen zentral verankerte Rolle von Doppelstrukturen und Zwischenpositionen hervorzuheben. Die Differenzierung eines Feldes in zwei hegemoniale Ansprüche entwickelnde beziehungsweise von externen Machtinteressen besetzte Domänen fördert demnach Diskur



2.2 Koinzidenz und Ordnungskollision …

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se, in denen die jeweilige Gegenordnung als nicht notwendig, oft sogar als obsolet dargestellt wird. Die zwischen Lehen und Allodien stehenden Kirchengüter werden zum diskursiven Oberfläche eines konfessionell und machtpolitisch aufgeladenen Streits. Der Konflikt wird ihren Eigentümern jedoch nicht einfach aufgezwungen, seine Ermöglichungsbedingung liegt schon in der offenen, nicht klar determinierten rechtlichen Stellung der Kirchengüter selbst. Kontingenz verdichtet sich so im Zeitverlauf zur Krise. Gleiches gilt für den double-bind des Königs zwischen seinen Rollen als Reichsoberhaupt und als Lehensnehmer oder für die Zwischenstellung der hohen Vasallen, die sich als Untertanen des Königs, aber auch als Herren ihrer Untervasallen, ebenfalls in einem handlungstheoretischen Spannungsverhältnis wiederfinden. Aus diesen Zwischenpositionierungen individueller Akteure erwächst ein generelles Unruhepotential. Ihre Handlungen sind stets mit dem Signum des Prekären versehen, ständig droht ein Kippen in die andere Richtung, eine Neuorientierung hin zum anderen Pol ihres double-binds. Unberechenbarkeit, Misstrauen, Plötzlichkeit, Verrat oder Trennung sind nur einige der Erscheinungsformen, die durch derartige Doppelordnungen gezeitigt werden können. Diese bergen jedoch nicht nur Deutungsmöglichkeiten für historische und gesellschaftliche Zusammenhänge, sondern auch dramaturgische Möglichkeiten, die von Schiller in seinen Tragödien auch bereitwillig genutzt werden. Insbesondere werden diese Erscheinungsformen der Kontingenz auf Konstellationen von Ordnungen zurückgeführt. Ordnung birgt in dieser Denkweise ihr Gegenteil, ihr Zerbrechen, ihre Auflösung bereits häufig schon in sich. Ordnungen werden damit nicht nur als Kontingenz hervorbringende Strukturen gedacht, sondern als Strukturen, die sich selbst im Modus des Kontingenten befinden, die sich dynamisch auf ihre Transformation bzw. ihre Auflösung hinbewegen. Die in der Universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzügen verhandelten Ordnungen sind dabei allesamt Ordnungen des positiven Rechts, der Politik und der Gesellschaft. Naturrechtliche oder transzendente Bezüge sucht man vergebens. Die Ursachen der Kontingenz liegen somit klar im Bereich gesellschaftlicher Zusammenhänge, gleichwohl entziehen sie sich unmittelbarer menschlicher Steuerbarkeit, da sie sich aus dem multikausalen Zusammenspiel verschiedener Akteure ergeben. Im Falle der Kirchengüter ist es beispielsweise entscheidend, ob sie im Diskurs eher als Lehen oder als Allodien gebracht werden.

Interessant ist auch der Vergleich dieser in der Universalhistorischen Übersicht

dargestellten Doppelordnungen mit den Doppelstrukturen in den Handlungsökonomien der frühen Dramen Schillers. Während im historischen Denken Schillers Kontingenz aus



Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

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der Kollision von auf einer Domäne (also dem Recht oder der Politik) liegenden Doppelordnung entsteht, sind seine Dramen derart gestaltet, dass hier oftmals zwei differente Bereiche ins Zeitliche gedehnt und in eine Parallelstellung gebracht werden, die dann unendliche Varianten der Bezugnahme, Synthese oder durchaus auch der Kollision eröffnen und so ein Feld der (Gestaltbarkeits-)Kontingenz umreißen, welches dann unter anderem vom Zuschauer oder der Leserin konstruktiv-interpretierend beschritten werden kann. In beiden Fällen wird jedoch auf strukturelle Zusammenhänge abgehoben. Da die Spätaufklärung bekanntlich aber gerade das subjektiv-Individuelle gegenüber der von der frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert hinreichenden Dominanz des Allgemeinen (ohne dieses jedoch auszublenden) aufzuwerten suchte, soll im folgenden Kapitel die Perspektive gedreht und danach gefragt werden, wie Schillers historische Texte von subjektiven Handlungen ausgehend auf die Zusammenhänge von Kontingenz und Zeitlichkeit reflektieren.







2.3 Semantische Arbeit und Geschichtsdenken …

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2.3 Semantische Arbeit und Geschichtsdenken (Abfall der Niederlande) Begriffsarbeit I – Bedeutungsverschiebungen am Geniebegriff Es ist [...] gerade der Mangel an heroischer Größe, was diese Begebenheit eigentümlich unterrichtend macht, und wenn sich andere zum Zweck setzen, die Überlegenheit des Genies über den Zufall zu zeigen, so stelle ich hier ein Gemälde auf, wo die Not das Genie erschuf und die Zufälle Helden machten. Wäre es irgend erlaubt, in menschlichen Dingen eine höhere Vorsicht zu flechten, so wäre es bei dieser Geschichte, so widersprechend scheint sie der Vernunft und allen Erfahrungen. (IV, 34)

Mit diesen Sätzen aus der Einleitung der Geschichte des Abfalls der Niederlande begründet Schiller die Auswahl seines Stoffes. Die niederländische Rebellion qualifiziert sich demnach durch eine besondere Abwesenheit heldenhafter Charaktere sowie eine Unwahrscheinlichkeit der Ereignisverläufe als Gegenstand für die historische Darstellung. Schiller deutet sogar die Versuchung an, die Singularitäten der Rebellion mittels des Rückgriffs auf providentielle Erklärungsmuster nachvollziehbar zu machen. Er lehnt dies in letzter Konsequenz aber unter Verweis auf eine ihm dies untersagende Norm ab – wenngleich aus der Textstelle letztlich nicht deutlich wird, worin diese Norm genau gründet. Das Verbot, eine providentielle Instanz als Urheber geschichtlicher Abläufe heranzuziehen, könnte im Wissenschaftlichkeits-Anspruch des historischen Fachs, aber ebenso auch in der deistischen Vorstellung von der Trennung der göttlichen und der weltlichen Sphären rühren, eine Vorstellung, wie sie bekanntlich im Fragmentenstreit der 1770er Jahre von Lessing gegen Goeze vertreten wurde. Schiller macht hier jedoch implizit deutlich, dass für ihn auch in einer Geschichtsschreibung säkularer Machart eben diejenigen Momente von besonderem Interesse sein können, die in einer theologisch geprägten Darstellung mit dem Eingreifen Gottes verbunden würden. Durch den Fokus auf diese stark an göttliche Interventionen erinnernden Momente und Abläufe scheint sich bei Schiller eine Geschichtsauffassung zu konturieren, in welcher der Mensch als Objekt größerer Zusammenhänge erscheint und damit nicht als derjenige, der Geschichte gestaltet, sondern als derjenige, der Geschichte erlebt, dem diese widerfährt. Diese Lesart wird gestützt durch die bemerkenswerte Aussage, dass im Abfall der Niederlande nicht Genies präsentiert werden, die den Zufall beherrschen, sondern dass vielmehr aufgezeigt werden soll, wie „die Not das Genie erschuf und die Zufälle Helden machten“. Aufmerksamkeit verdient die Beschreibung des Genies als Derivat der Not und des Helden als Produkt des Zufalls vor allem deshalb, weil sie zunächst im Widerstreit mit den ästhetischen Normen der 1780er Jahre zu stehen scheint. Schiller gebraucht hier den Begriff ‚Genie’ jedenfalls nicht in der typischen von Shaftesbury und Young geprägten Verwendung als Bezeichnungen für (meist künstlerisch tätige)



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Personen, die als ‚zweite Schöpfer’ genuin Neues erschaffen, ohne sich dabei von extern auf diesen Schaffensprozess einwirkenden Faktoren wie poetischen Regelwerken beeinflussen zu lassen.426 Wie noch in Adelungs Grammtisch-kritischem Wörterbuch deutlich wird, liegt schon die etymologische Herkunft der Personenbezeichnung ‚Genie’ in einem singulären und irreduziblen Bewusstseinsprozess: „Das Genie schafft, das Talent setzt nur ins Werk.“427 Schon in dieser Verwendung des Geniebegriffs im Sinne von ‚Geistesblitz’, ‚Denkleistung’, ‚Idee’ klingen Eigenschaften wie Ursprünglichkeit und Produktivität deutlich an. Genius kann demnach nur sein – wie Goethe 1773 in seinem maßgeblichen Aufsatz Von deutscher Baukunst schreibt –, wer „auf keinen fremden Flügeln, und wären’s die Flügel der Morgenröte, empor gehoben und fortgerückt werden“428 will. Die Autonomie gegenüber Umwelteinflüssen ist dieser Goethe’schen Auffassung nach konstitutiv für den Genius: „Seine eigne Kräfte sind’s, die sich im Kindertraum entfalten, im Jünglingsleben bearbeiten, bis er stark und behend, wie der Löwe des Gebürges auseilt auf Raub.“429

Mit seinem Zitat grenzt sich Schiller nun explizit von dieser im Diskurs der Ge-

nieästhetik eine hegemoniale Stellung erlangenden Bedeutungsvariante ab. Statt in den subjektbezogenen Instanzen des Helden und des Genies verortet er den irreduziblen Ursprung singulärer historischer Ereignisse im Zufall und in der Not. Held und Genie werden gar als Folgeerscheinungen des zentralen weltgeschichtlichen Motors Zufall gedacht. Damit nimmt Schiller dem Genie genau das, was es im Grunde erst zum Genie macht – seine Originalität und seine schöpferische Aktivität. Gleiches gilt auch für den klassischen Helden, der nach Zedlers Universallexicon „durch tapfere Thaten Ruhm erlanget, und sich ueber den gemeinen Stand derer Menschen erhoben“430 habe. Das sich über seinen autonomen Subjektstatus bestimmende Genie und der sich über seine Tatkraft bestimmende Held werden in der Einleitung zu dem Abfall der Niederlande von der spanischen Regierung somit ihrer eigentlichen Wesenskerne beraubt und zu beeinfluss- und gestaltbaren Objekten ihnen selbst unverfügbarer Kräfte reduziert. Zum einen lässt sich also gerade die Relativierung der Wirkmöglichkeiten des Genies als Bruch mit den emphatischen Subjektvorstellungen der 1770er und 1780er Jahre lesen und damit auch als ein Schritt hin zu einem pessimistischen Weltbild, in dem 426 Borries, Deutsche Literaturgeschichte Bd. 2 1990, S. 200. 427 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 2, 1798, Sp. 567. 428 Goethe, Von deutscher Baukunst (1773), Werke Bd. 6 2007, S. 197. 429 Ebd.

430 Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 12, Sp. 3215.



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263

das Subjekt zum Spielball ihm unkontrollierbarer Kräfte gerät – ein Weltbild, wie es die Forschung bis heute gerne für den Schiller der 1790er Jahre geltend macht,431 welches im Folgenden aber durchaus noch einmal kritisch befragt werden soll. Darüber hinaus gilt es jedoch auch zu berücksichtigen, dass gerade der Geniebegriff im 18. Jahrhundert keineswegs so einheitlich verwendet wurde, wie es zunächst den Anschein haben mag. Schon Lessing zeigt eine vorsichtige Distanz gegenüber der Vorstellung, das Genie könne sich den Konventionen der es umgebenden Kultur vollständig entziehen. Im 34. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie gesteht er dem Dichter schon mit großer Sensibilität für eine Art ‚Ästhetik der Kontingenz’ zwar zu, Figuren und Welten zu schaffen, die sich von der unsrigen unterscheiden.432 In diesem Fall aber sollten, so Lessing, die Figuren wenigstens einen in sich konsistenten, sich nicht willkürlich wandelnden Charakter aufweisen433 – eine normative, auf kulturellen Vorstellungen von Charakterstabilität beruhende Forderung, mit der letztlich die Vorstellung von einer Autonomie des (Dichter-)Genies zumindest relativiert wird. Generell formiert sich der Geniediskurs des 18. Jahrhunderts bis hin zu Kants Kritik der Urteilskraft ganz dicht um die sich logisch aufdrängende Frage, ob eine vollständige Immunität des Geniesubjekts gegenüber kulturellen Normen bzw. externen Einflüssen überhaupt möglich sein kann. In diesem Zusammenhang werden verschiedenste Lösungen in Anschlag gebracht. Der christliche Philosoph Johann Georg Hamann etwa geht davon aus, dass das Genie zwar strukturell getrennt von gesellschaftlichen Kontexten agiert, dass seine Kreativkräfte jedoch auf seinen Status als Medium göttlichen Wirkens zurückzuführen seien.434 Die Handlungen des Genies wie auch deren Produkte werden dieser Auffassung nach also göttlich sanktioniert, das geniehafte Subjekt erfüllt folglich eine Scharnierfunktion zwischen Himmel und sublunarer Welt. Es kann Autonomie gegenüber den menschlichen Sphären beanspruchen, in die es gestaltend einwirkt, ist aber gleichzeitig offen für providentielle Eingaben. Hamanns Position ist in der 431 Vgl. exemplarisch Jankovlievic´, Schillers Geschichtsdenken 2015, S. 346. 432 Die fiktiven Figuren sollen, so Lessing, wenn „sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie den-

noch zu einer andern Welt gehören können; zu einer Welt, deren Zufälligkeiten in einer andern Ordnung verbunden, aber doch eben so genau verbunden sind, als in dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen, aber doch zu eben der allgemeinen Wirkung des Guten abzwecken; kurz, zu der Welt eines Genies, das -- (es sey mir erlaubt, den Schöpfer ohne Namen durch sein edelstes Geschöpf zu bezeichnen!) das, sage ich, um das höchste Genie im Kleinen nachzuahmen, die Theile der gegenwärtigen Welt versetzet, vertauscht, verringert, vermehret, um sich ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigenen Absichten verbindet.“ Lessing, Werke und Briefe (1767–1769) Bd. 6 1985, S. 348. 433 Vgl. ebd., S. 265–267. 434 Vgl. Borries, Deutsche Literaturgeschichte Bd. 2 1990, S. 201.





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sich um den Geniebegriff bildenden diskursiven Formation bereits angelegt, denn in Abgrenzung zu gesellschaftlichen Einflüssen wird das Genie im 18. Jahrhundert konstant auf der Natur-Seite der diskursprägenden Natur-Kultur-Dichotomie verortet. Der im Aufklärungszeitalter einflussreiche Pantheismus, der in der Folge Baruch Spinozas von einer Einheit zwischen Natur und Gott ausgeht, bereitet dann die Identifikation auch des durch Natürlichkeit geprägten Genies mit dem Bereich des Göttlichen vor. Kants Kritik der Urteilskraft wird wenige Jahre nach Schillers Abfall der Niederlande ebenfalls an der Natürlichkeit des Genies ansetzen, dessen Freiheit jedoch über die innerpsychologisch wirkenden Instanzen des Geschmacks und der Urteilskraft einschränken.435 Kant lässt damit „die Natur im Genie der Kunst die Regeln setzen.“436 Intersubjektiven Anschluss erlangen diese innerpsychischen Kontrollprozesse dann über Kants anthropologische Annahme, dass Geschmack und Urteilskraft bei verschiedenen Individuen ähnliche Ergebnisse zeitigen.437 Die Abgrenzung des Genies von kulturell bedingten Einflüssen ist somit auch für Kant – wenn auch in leicht relativierter Weise – bestimmend, bleibt für ihn, wie in der Tradition des 18. Jahrhunderts üblich, der Geniebegriff doch zwingend an das Feld der Kunst gebunden. Wissenschaftler etwa können Kants Auffassung nach niemals den Status des Genies erreichen, auch wenn sie noch so bedeutsame Höchstleistungen in ihrem Feld vollbringen, da sie notwendig in einen Forschungsdiskurs und eine Forschungsgeschichte eingebunden und somit wenigstens partiell auf den Nachvollzug der Denkleistungen Anderer angewiesen sind.438 Mit seiner Konzeptionierung von Held und Genie als Produkte des Zufalls und der Not bricht Schiller also nicht nur mit der die 1780er und 90er Jahre prägenden Emphase des selbsttätigen und autonomen Subjekts, er schließt gleichzeitig auch an die dem Geniediskurs des 18. Jahrhunderts stets inhärenten Versuche an, die operative Schließung dieses Subjekts in irgendeiner Form doch zu durchbrechen, ohne dabei jedoch die Autonomie des Genies generell zu beseitigen. Bemerkenswert ist, dass die Kopplung des Subjekts an externe Kontexte in den Geniekonzepten des 18. Jahrhunderts jeweils an dem Punkt zu geschehen scheint, der das Eigentliche des jeweils vertretenen philosophischen Weltbilds markiert: Der Theologe Hamann öffnet die Autonomie des Genies in Richtung der providentiellen Instanz, der Transzendentalphilosoph Kant in Richtung des Subjektinneren selbst. Gerade von Hamann aus betrachtet stellt sich Schillers Vorstellung des 435 Vgl. Kant, KdU § 50, A 201–202. 436 Schöll, Interessiertes Wohlgefallen 2015, S. 47. 437 Vgl. ebd., S. 49–50.

438 Vgl. Kant, KdU § 47, A 181.





2.3 Semantische Arbeit und Geschichtsdenken …

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Verhältnisses aus Zufall und Genie als bemerkenswert dar. Auf gedanklich-formaler Ebene liegt recht wenig zwischen beiden Konzeptionen: Das Genie wird in beiden Fällen zum Träger der Wirkungen einer ihm unverfügbaren Instanz. Bei Hamann ist dies Gott, bei Schiller sind es der Zufall und die Not, wobei hier stets die im 18. Jahrhundert noch stärker ausgeprägte semantische Nähe zwischen ‚Zufall’ und ‚göttlicher Fügung’ mitzudenken ist.439 Die dann doch beachtliche Differenz zwischen Schiller und Hamann wird im Kern erst dadurch aufgemacht, dass Schiller die begriffliche Nähe zwischen Zufall und Providenz zum Anlass nimmt, um eine ontologische Identität beider Bereiche explizit auszuschließen: Es geht im Abfall der Niederlande von der spanischen Regierung eben dezidiert um „menschliche Dinge“, die durch eine Integration göttlicher Eingriffe nicht zuverlässig erklärt werden können.440 Etwas später im Text macht Schiller dann aber deutlich, dass er damit keineswegs eine radikal-atheistische Position einnimmt. Providentielle Deutungen aus Lesersicht sollen durchaus möglich (jedoch nicht notwendig) sein: Wenn die Anstrengungen der historischen Akteure würdig und edel seien, dann würde – ungeachtet, ob diese erfolgreich wären – „die Begebenheit groß, interessant und fruchtbar für uns“, sodass es „uns frei[steht], über die kühne Geburt des Zufalls zu erstaunen, oder einem höhern Verstand unsere Bewunderung zuzutragen.“ (IV, 45) Indem der Text hier kontingent stellt, ob die Leserin die dargestellten historischen Ereignisse auf Kontingenz oder auf Providenz zurückführt, repliziert er die inhaltliche Differenz performativ und löst sie zugunsten der Kontingenz-Seite auf. Im Kippen der Balance aus Providenz und Kontingenz durch den performativen Akt scheint sich somit auf subtile Weise eine Positionierung des Verfassers zugunsten der Kontingenz-Seite zu zeigen.441 Durch die im Text vollzogene Trennung von Zufall und Providenz und die implizite Verortung des Zufalls im Bereich menschlicher Gestaltbarkeit bricht Schiller also zum einen mit der selbst noch für Kant konstitutiven Autonomie des Genies vor kulturellgesellschaftlichen Einflüssen. Einschränkend sei jedoch noch hinzugefügt, dass Schiller 439 Vgl. hierzu etwa das die Begriffe ‚Verhängnis’, ‚Schickung’ und ‚Zufall’ zusammenfassende Lemma in

Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 47, Sp. 1798.

440 So sieht etwa Jakovljević die Einleitung zum Abfall der Niederlande als Beispiel für eine „Loslösung des

aufgeklärten Geschichtsdenkens von providentiellen Ordnungsmodellen.“ (Jakovljević, Schillers Geschichtsdenken 2015, S. 203) und wendet sich gegen die ältere Forschung, in der ausgehend von Schillers Rezeption des Herder’schen Nemesis-Aufsatzes, eine „metaphysisch-religiöse“ Komponente in Schillers Geschichtsauffassung verortet wurde (vgl. ebd.). 441 Eine Betonung der Providenz-Seite auf performativer Ebene wäre hingegen etwa der Hinweis gewesen, dass das menschliche Leben im Generellen zwar gleichermaßen durch den profanen Zufall wie durch göttliches Wirken bestimmt ist, dass dem Leser bei der Lektüre jedoch zwingend deutlich werden wird, dass die hier dargestellten Geschehnisse eindeutig auf letzteres zurückzuführen sind.





Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

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hier keineswegs einen generellen Paradigmenwechsel vollzieht. In späteren Arbeiten, wie etwa dem wahrscheinlich 1800 entstandenen Gedicht Die deutsche Muse, wird der traditionelle Geniebegriff gelegentlich wieder aufgegriffen. Schiller scheint jedoch in vielen Fällen Begriffe und Denkschemata so zu bearbeiten und zu transformieren, dass sie im jeweiligen Kontext produktive Wirksamkeit entfalten können.442

Begriffsarbeit II – Bedeutungsverschiebungen am Zufallsbegriff Zum anderen stellt sich jedoch nicht nur die Frage danach, von welchem Geniebegriff, sondern auch diejenige danach, von welchen Zufallsbegriff Schiller im Abfall der Niederlande ausgeht. So betont nicht zuletzt schon Reinhart Koselleck, dass „der ‚Zufall’ nur dann hinreichend geklärt werden [kann], wenn das gesamte Begriffsgefüge des jeweiligen Historikers, der sich eines ‚Zufalls’ bedient, mit berücksichtigt wird“443. Festzuhalten ist zunächst, dass die Bedeutungsverengung des Begriffs ‚Zufall’ hin zu einer reinen Ereignis- bzw. in den Worten Kosellecks „Gegenwartskategorie“444 im ausgehenden 18. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen ist. So kennt etwa Zedlers Universallexicon noch kein eigenes Lemma für ‚Zufall’ und handelt das Phänomen vor allem in ‚Zufälligkeit’ ab, wodurch deutlich wird, dass für die Verfasser des Lexikons noch akzidentielle und handlungsbezogene Bedeutungsvarianten bedeutsam sind, in denen ‚Zufall’ als Modalkategorie gilt, mittels der einer Sache zukommende Eigenschaften oder die Art und Weise von Handlungen genauer bezeichnet werden können. ‚Zufall’ in seiner verengten modernen Bedeutung als bloße Ereignisbezeichnung spielt im Zedler kaum eine Rolle und wenn dies der Fall ist, dann wird der Begriff nicht distinkt von providentiellen Kontexten getrennt, wie sich etwa am Lemma ‚Verhängnis, Schickung, Zufall’ zeigen lässt.445 Adelungs etwas später erschienenes Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart konzentriert sich demgegenüber jedoch schon auf die noch heute gebräuchliche Verwendung von ‚Zufall’ als Bezeichnung für ein unvermittelt eintretendes Ereignis.446 442 Man sollte daher stets vorsichtig sein, wenn es darum geht, allgemeine Aussagen über Schillers Denken

mit nur wenigen konkreten Textstellen zu belegen. Dazu ist Schillers begriffliches Denken, wie bereits angedeutet, zu variabel. 443 Koselleck, Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung 1989, S. 158. 444 Ebd. 445 Eher finden sich im Zedler noch Verwendungsweisen, in denen eine von providentiellen Einflüssen freie Ereignishaftigkeit als Sekundäreigenschaft mitspielt, ohne bestimmend zu sein, etwa wenn die Rede davon ist, dass „Schlaflosigkeit ein Zufall [sei], welcher die Pferde befällt und abmattet.“ Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 34, Sp. 1717. 446 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 3, 1798, S. 1439-1440.





2.3 Semantische Arbeit und Geschichtsdenken …

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Schillers Verwendung des Zufallsbegriffs in der Einleitung des Abfalls der Niederlande scheint zwischen diesen beiden Bedeutungsvarianten zu changieren. So greift Schiller zunächst – etwa beim Vergleich der maßgeblichen Akteure seiner historischen Darstellung, Philipps II. und Wilhelms von Oranien, – auf den Zufallsbegriff in seiner Verwendungsform als Ereigniskategorie zurück: Bringt man gegen die Ungleichheit beider Kämpfer, die auf den ersten Anblick so sehr in Erstaunen setzt, alle Zufälle in Berechnung, welche jenen anfeindeten und diesen begünstigten, so verschwindet das Übernatürliche dieser Begebenheit, aber das Außerordentliche bleibt – und man hat einen richtigen Maßstab gefunden, das eigene Verdienst dieser Republikaner um ihre Freiheit angeben zu können. (IV, 44)

Einerseits verweist die Pluralform „Zufälle“ in der vorliegenden Textstelle auf eine Menge von Einzelereignissen, sodass bereits die moderne Verwendung von ‚Zufall’ als Ereignisbegriff durchscheint. Andererseits scheint die semantische Bewegung hin zum heute üblichen Gebrauch von ‚Zufall’ noch nicht vollständig vollzogen. Insbesondere in der grammatikalischen Verwendung von ‚Zufall’ als Agens lässt noch eine starke semantische Nähe zu der Vorstellung eines Eingriffs höherer Mächte in das historische Geschehen beobachten. Die sich gegenwartssprachlich vollzogene Entwicklung des Zufalls zu einer Ereigniskategorie lässt sich demgegenüber vor allem daran erkennen, dass die Konnotationen, die ehemals eine gestaltende Instanz erkennen ließen, stark verblasst sind. Die Redeweise, dass der Zufall jemanden begünstigt, ist zwar heute noch gebräuchlich, dies allerdings meist in der prädikativen und atelischen Formulierung, dass „jemand vom Zufall begünstigt ist“. Hierbei wird ‚Zufall’ zwar gerade nicht als Ereigniskategorie verwendet – die im 18. Jahrhundert noch stark ausgeprägte Rolle als Agens ist in dieser Verwendung aber merklich verblasst. Heute noch davon zu sprechen, dass „Zufälle jemanden anfeinden“, wäre indes ungewöhnlich. Festzustellen ist zudem, dass Schiller auch in der vorliegenden Textstelle den Zufallsbegriff zur Abgrenzung von providentiellen Erklärungsansätzen gebraucht. Unter Berücksichtigung der Zufälle bliebe das Außerordentliche der Niederländischen Rebellion erhalten, ohne jedoch auf Übernatürliches zu verweisen.

Interessanterweise schließt sich an diese Passage der Einleitung eine Diskussion

über unintendierte Handlungsfolgen in den Aktionen der niederländischen Rebellen an, bei der Schiller sogar das Schicksal anführt. Zunächst betont er unter Verwendung von Meeresmetaphorik, dass die Ereignisse der Rebellion zu wesentlichen Teilen eher spontanen Entscheidungen und kurzfristigen Kalkülen entsprungen seien: Doch denke man nicht, daß dem Unternehmen selbst eine so genaue Berechnung der Kräfte vorangegangen sei, oder daß sie [die niederländischen Rebellen] beim Eintritt in dieses ungewisse Meer schon das Ufer gewusst hätten, an dem sie nachher landeten. So reif, als es zuletzt dastand in





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seiner Vollendung erschien das Werk nicht in der Idee seiner Urheber, so wenig als vor Luthers Geiste die ewige Glaubenstrennung, da er gegen den Ablaßkram aufstand. [...] Des Fatums unsichtbare Hand führte den abgedrückten Pfeil in einem höhern Bogen und nach einer ganz an-

deren Richtung fort, als ihm von der Sehne gegeben war. (IV, 44) Hier treffen zwei Perspektiven aufeinander. Zum einen verfolgen die handelnden Subjekte kein im Vorfeld bereits feststehendes Endziel. Vielmehr agieren sie mit eher mit Blick auf die nächsten Handlungsfolgen. Der Einfluss des Fatums auf ihre Handlungen macht dies auch zu einer nachvollziehbaren Herangehensweise. Der sich zwischen Handlungsabsicht und Handlungsfolge einschiebenden Kontingenz kann so auch durch eine Variabilität im Handlungsziel begegnet werden. Dass hier entgegen der sonst eher prosaischen Semantik vom ‚Fatum’ die Rede ist, welches noch dazu aktiv in die menschlichen Handlungen eingreift, mag zunächst irritieren, es muss allerdings nicht zwingend als Widerspruch zu Schillers vorherigen Zurückweisungen von auf providentiellen Instanzen beruhenden Erklärungen gelesen werden. Vielmehr sticht die poetische Bildlichkeit des letzten Satzes deutlich ins Auge. Neben dem als „Fatum“ auftretenden Schicksal und der für unintendierte Handlungsfolgen gängigen Metapher der unsichtbaren Hand ist hier vor allem das Bild des von seiner eigentlichen Flugbahn abgelenkten Bogenpfeils zu nennen. Die Verwendung gerade der lateinischen Form des Schicksalsbegriffes innerhalb eines poetisch schon generell stark aufgeladenen Kontexts macht deutlich, dass es auch hier nicht um die Einfügung einer höheren Macht als Erklärung für menschliche Zusammenhänge geht, sondern um die poetisch-konkretisierende Verbildlichung des abstrakten Prinzips einer Kontingenz des Inkommensurablen. Auf die in der Pragmatik des 18. Jahrhunderts noch stark ausgeprägte Nähe zwischen Aussagen und Formulierungen, welche aus einem Providenzdenken herrühren, und solchen, die dem Kontingenzparadigma verhaftet sind, wurde bereits hingewiesen.447 Diese Textstelle ist ein guter Beleg für diese Nähe. Schiller betont – wie bereits dargelegt – mehrfach, dass es ihm gerade nicht darum geht, menschliche Geschichte über den Eingriff höherer Mächte zu erklären. In den Momenten, in denen es ihm jedoch um die Erzielung einer starken (poetischen) Wirkung beim Leser geht, scheut er sich nicht, auf Figuren und Formulierungen aus dem Providenzparadigma zurückzugreifen. Auf dieser Haltung gründet dann auch die Erneuerung der Schicksalskategorie in Schillers nach 1795 verfassten Texten.448 Aufschlussreicher für die Beantwortung der Frage, in welches Ver 447 Vgl. das Kapitel zu Schillers Antrittsvorlesung in dieser Arbeit. 448 Vgl. hierzu auch die aufschlussreiche Studie von Franziska Rehlinghaus zum Schicksalsbegriff. Rehlin-

ghaus weitet den Blick auch auf die interessanten Diskurse im Anschluss an Schillers Schicksalskonzept. Deutlich wird, dass die Diskrepanz zwischen der poetischen Kraft der Kategorie ‚Schicksal’ und der star-





2.3 Semantische Arbeit und Geschichtsdenken …

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hältnis Schiller Zufall und Subjekt im Abfall der Niederlande setzt, ist daher jedoch die folgende Fortführung der Argumentation: Aber das Unternehmen darf uns darum nicht kleiner erscheinen, weil es anders ausschlug, als es gedacht worden war. Der Mensch verarbeitet, glättet, und bildet den rohen Stein, den die Zeiten herbeitragen; ihm gehört der Augenblick und der Punkt, aber die Weltgeschichte rollt der Zufall. (IV, 45)

Auch bei diesem etwas modifizierten Zitat einer Passage am dem Don Karlos449 gilt es zunächst, den von Schiller in Spiel gebrachten Zufallsbegriff genauer zu bestimmen. Betrachtet man insbesondere die sich in dieser Textstelle darstellenden Zeitverhältnisse, so wird deutlich, dass ‚Zufall’ auch hier nicht als Ereigniskategorie gebraucht wird. Vielmehr impliziert die antithetische Gegenüberstellung von Mensch und Zufall eine klare Trennung: Wenn „der Augenblick und der Punkt“ in Reichweite menschlicher Gestaltbarkeit liegen, sind sie – das wird aus der antithetischen Struktur der Passage deutlich – dem Zufall entzogen. Dementsprechend muss hier eine Vorstellung von Zufall vorliegen, die nicht an Zeitpunkte bzw. Momente gebunden ist, wie es für das heute gängige Verständnis vom Zufall konstitutiv ist. Indem Schiller mit dem Punkt einen räumlichen Begriff zur Veranschaulichung des Zeitregimes beim Zufall verwendet, greift er auf die seit Aristoteles bekannte Praxis zurück, Raumvorstellungen mit Zeitbegriffen und Zeitvorstellungen mit Raumbegriffen sichtbar zu machen.450 Man könnte nun fragen, welche spatiale Form Schillers Zufallsverständnis entspräche, wenn eben die naheliegende Form des Punktes gerade ausgeschlossen wird – allerdings gibt der Text keine direkten Hinweise darauf, ob man hierbei besser von einer Geraden bzw. Halbgeraden, einer Fläche oder einem Raum ausgehen sollte. Produktiver erscheint in diesem Zusammenhang hingegen ein erneuter Blick ins Lemma ‚Zufälligkeit’ in Zedlers Universallexicon. Dort heißt es nämlich, daß zufällige Begebenheiten natuerlicher Weise nicht anders ihre Wirklichkeit erreichen können, als durch eine Reihe unzähliger anderer Dinge, die ihnen vorhergegangen, und neben ihnen zugleich sind, dergestalt, daß, wenn man ihren Grund anzeigen soll, derselbe immer einen neuen Grund hat ohne Aufhoeren.451

Hier mag zwar noch von einem unstrittig ereignishaften Charakter der „zufällige[n] Begebenheiten“ die Rede sein. Vor allem wird jedoch ein zeitlich ad infinitum in die Ver

ken Tendenz zur Säkularisierung anregend auf den Diskurs wirkte, den das frühe 19. Jahrhundert über das Schicksal führte. (Relinghaus, Die Semantik des Schicksals 2015, S. 155–220). 449 Vgl. II, 117, V. 2949–2972, insbesondere V. 2960–2964: „[...] Uns was / Ist Zufall anders als der rohe Stein, / Der Leben annimmt unter des Bildners Hand? / Den Zufall gibt die Vorsehung – zum Zwecke / Muß ihn der Mensch gestalten.“ Auf die in dieser Textstelle deutlich werdende „Überblendung“ von Kontingenz- und Providenzsemantik in Form einer „eigenartigen Kontamination zweier Bildbereiche“ weist auch Cornelia Zumbusch hin. Vgl. Zumbusch, Dramatik der Beschleunigung 2018, S. 66–67. 450 Vgl. dazu Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft 1993, S. 21–22. 451 Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 63, Sp. 1100.





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gangenheit dieser Begebenheiten reichendes und sich ins Endlose verästelndes Geflecht an Zufallsursachen beschrieben. Dem Zufall wohnt damit auch in der Gegenwart etwas Unbegreifliches inne, zumal auch gegenwärtigen Kontexte Einflusspotentiale auf das Zufallsereignis zugerechnet werden. Einem vollkommenen Verständnis dessen, was im Zufallsereignis genau passiert, kann sich damit nur asymptotisch und unter Inkaufnahme stetig zunehmender Mühen angenähert werden. Die weitere Argumentation im Lemma legt zudem nahe, dass diese ganz überwiegend in der Vergangenheit zu verortende Zeitstruktur als substantieller Bestandteil des Zufallsbegriff selbst zu gelten hat. Ein dementsprechender Hinweis findet sich etwa in einem anschließenden Vergleich zwischen dem ‚Zufälligen’ und dem ‚Notwendigen’: Diejenigen, welche die Mathematik verstehen, können gar deutlich begreiffen, daß dieses ein sehr grosser Unterschied ist, den wir von dem zufaelligen und nothwendigen gegeben haben. Denn das nothwendige laesset sich mit den Rational-Zahlen; das zufaellige mit den Irrational-Zahlen vergleichen. [...] Eine Rational-Zahl kann voellig aufgeloeset werden, das ist, man kann zeigen, wie sie aus anderen kleinen Zahlen und diese endlich aus den Einheiten oder ihren Theilen entstanden, ueber welche man nicht weiter hinausgehen kan. Hingegen die Irrational-Zahl laesset sich nicht voellig aufloesen. Denn wenn man Wurzel heraus ziehet, um eine ganze Zahl und Brueche oder Theile der Einheiten zu bekommen, daraus sie bestehet; so kommet man in den Theilen nimmermehr zu Ende, sondern es bleiben immer noch mehrere uebrig, die auch dazu gehoeren, alle aber nicht koennen heraus gebracht werden, weil sie unendlich sind.452

Auch hier wird die Unmöglichkeit einer vollständigen Rekonstruktion des Zufälligen deutlich gemacht. Die überbordende Komplexität der vielfältigen, sich in die Vergangenheit erstreckenden Kausalketten, die dem Zufall vorausgehen, entzieht sich wie eine irrationale Zahl der abschließenden Erfassung durch den menschlichen Verstand. Zwar mag auch an dieser Stelle die Differenz des Zufallsereignisses und seiner Ursachen nicht eingeebnet sein. Dennoch wird im Zedler ein Wissen über den Zufall deutlich, aus dem hervorgeht, dass der Zufall zwar als Ereignis erlebt werden mag, dass ein Verständnis des Zufalls aber erst durch die Betrachtung einer zeitlichen gedehnten Perspektive, die auch die komplexen, dem bloßen Ereignis vorangehenden Strukturzusammenhänge miteinbezieht, möglich werden kann.453 Wenn Schiller in der Geschichte des Abfalls der Niederlande den Zufall nun begrifflich vom Moment wie auch vom Wirkungskreis menschlicher Handlungen separiert, ihn gleichzeitig jedoch zum entscheidenden Motor der historischer Geschehnisse erklärt, so kommt dies der in Zedlers Universallexikon für den Zufall als konstitutiv dargestellten 452 Ebd., Sp. 1101. 453 Dies führt allerdings zu dem Problem, dass ein vollständiger Zugriff auf die unendlichen Umstände, die

einem derart komplexen Phänomen wie dem Zufall zugrunde liegen, in der Praxis nicht möglich ist. Die Problematik wurde bereits intensiv zwischen Leibniz und Bernoulli diskutiert, wie Rüdiger Campe aufzeigen kann. Vgl. Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit 2002, S. 180–186.





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Komplexität sehr nahe. Die zentrale These dieses Kapitels besteht nun auch darin, dass Schillers Aussage, dem Menschen „gehört der Augenblick und der Punkt, aber die Weltgeschichte rollt der Zufall“ in genau diesem Sinne zu verstehen ist und sich eben daraus vielversprechende Deutungsansätze für den Abfall der Niederlande im Besonderen und das Geschichtswerk Schillers im Allgemeinen ergeben. Schiller versucht mit seinem Gebrauch des Zufallsbegriffs demnach exakt jene sich in der Retroperspektive darstellende Komplexität zu erfassen, in welcher Zedlers Universallexicon die Ursachen des Zufallsereignisses sieht. Der Mensch wäre demnach zwar in seinen Handlungen stets an den Bereich des Gegenwärtigen gebunden, sodass er das Vergangene in der Weise hinnehmen muss, wie es die Geschichte ihm präsentiert. Dass Schiller dann zu Beginn des Abfalls der Niederlande die traditionell durch ihr Tathandeln definierten Archetypen des ‚Genies’ und des ‚Helden’ als ihrer Genie- und Heldenhaftigkeit beraubt darstellt, ist dementsprechend nur folgerichtig. Wie noch zu zeigen sein wird, geht diese Abwertung des handelnden Menschen jedoch mit einer (jedenfalls partiellen) Rehabilitierung des in den 1770er und frühen 1780er Jahren noch stark diskreditierten denkenden Menschen einher, welcher in dieser Konzeption zwar ebenfalls keinen Einfluss auf vergangene Zufälligkeiten haben kann, welcher demgegenüber aber zukünftige Zufälle durch eine tiefergehende Einsicht in deren Ursachenzusammenhänge verstehen, berechnen und kontrollieren kann. Bevor im Weiteren noch deutlicher herausgearbeitet werden soll, wie Schiller den Fokus seiner Perspektive auf den Zufall weg vom Gegenwartsereignis hin zu den diesem Ereignis vorgängigen Möglichkeitsstrukturen schiebt und damit gleichzeitig vom Handeln der Figuren zu deren perspektivischer Kalkulation von Handlungsoptionen, soll die Bedeutung dieses Verschiebens für sein Geschichtsdenken noch stärker herausgearbeitet werden: Indem Schiller den Zufall dezidiert vom Ereignis abtrennt und den Fokus des Begriffs stattdessen hin zu den vielfältigen Ursachen des jeweiligen Ereignisses zu schieben scheint, gebraucht er ‚Zufall’ in einer Bedeutung, wie sie heute eher durch den Kontingenzbegriff abgedeckt würde. Er nimmt dem Zufall damit wesentliche Eigenschaften, nicht zuletzt seinen Widerfahrnischarakter. 454 Nun offen gestaltbar für menschliche 454 Zu ergänzen ist, dass der Zufall auch dem heutigen Verständnis nach noch einen (sogar einen wichti-

gen) Bestandteil des Kontingenzparadigmas bildet. Auch gehört (wie in dieser Arbeit schon vielfach deutlich gemacht wurde) natürlich auch das Phänomen der Widerfahrnis substantiell zum Bereich der Kontingenz. Entscheidend ist jedoch, dass Schiller, wenn er nun den Zufall von seiner Momenthaftigkeit und seiner Eigenschaft der Widerfahrnis abtrennt, ihn zwar seines Zufallscharakters beraubt, dabei jedoch nicht zwangsläufig auch das weitergefasste Kontingenzparadigma verlässt. Er gebraucht hier also den





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Kontrollversuche ist der Zufall nur noch zum Teil die unausweichliche und unverfügbare Kraft, die in providentieller Perspektive immer durch das Schicksal ausgedrückt worden ist. Schillers Auffassung vom Zufall bewegt sich damit auf der Höhe des historischen Diskurses seiner Zeit. Wie Reinhart Koselleck in seinem immer noch einschlägigen Aufsatz Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung zum Thema schreibt, wird der Zufall in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts generell eine immer fragwürdigere Kategorie bei der Betrachtung historischer Zusammenhänge.455 Das Bewusstsein, dass Zufälligkeit – jedenfalls in ihrer Form als Gegenwarts- bzw. Ereignisbegrifflichkeit – stark von der Beobachterperspektive abhängt456 sowie die im Historismus ihren Höhepunkt findende Auffassung von der Singularität alles Geschichtlichen457 machen das Zufallsereignis im Feld der Historie zu einer analytisch antiquierten Kategorie. „Der punktuelle Zufall enthüllt sich dann als ein Bündel von Ursachen, er wird zu einem bloßen Namen ohne Realität.“458 Was der Zufallsbegriff in seiner Form als Gegenwarts- bzw. Ereigniskategorie jedoch weiterhin leisten kann, ist die Generierung einer besonderen Ästhetik in der Darstellung von Erwartungsbrüchen auf individual- wie auf kollektivpsychologischer Ebene.459 Auch aus dem Bereich der Realereignisse verbannt, bleibt der Begriff daher sowohl für Darstellungen psychischer und soziologischer Dynamiken interessant als auch und nicht zuletzt für das Drama und die Bühne. Schiller gebraucht den Zufall hier in der Geschichte des Abfalls der Niederlande jedoch nicht als ästhetischen, sondern als analytischen Begriff. Dabei beteiligt er sich sogar an der Reduktion des ereignishaften Zufalls zu einem „Motivationsrest“, gebraucht aber andererseits den Zufallsbegriff zur Bezeichnung historischer Kausalstrukturen und ihrer im Unverfügbaren verschwindenden Ursprünge. Die Begriffe ‚Zufall’ und ‚Genie’, die zu Beginn der Einleitung zu Schillers Geschichte des Abfalls der Niederlande mit ihren Äquivalenten ‚Not’ und ‚Held’ kontrastiv gegenübergestellt werden, erweisen sich demnach als bearbeitete beziehungsweise resemantisierte Analysebegriffe. Sie werden von Schiller nicht unüberlegt in ihrer diskursiven Zufallsbegriff, um das Phänomen einer Kontingenz begrifflich zu fassen, für welches – und das ist der springende Punkt – dem 18. Jahrhundert eben noch keine eigenständiger Begriff zur Verfügung steht. 455 Koselleck, Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung 1989. 456 Vgl. ebd., u.a. S. 164. 457 Vgl. ebd., S. 172–175. Koselleck zeigt auf, dass die im Historismus aufkommende Auffassung von der unvergleichlichen Neuartigkeit eines jeden Ereignisses zu einer Obsoleszenz des Zufalls führt. Es macht nun keinen Sinn mehr, das Überraschende, nicht-Erwartbare bestimmter Ereignisse mit Hilfe des Zufallsbegriffs zu betonen, da diese Eigenschaften nun allen Ereignissen zukommen. 458 Ebd., S. 162. 459 Vgl. ebd., S. 164.





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Hauptbedeutung verwendet, sondern von Kontexten umstellt, die den Zufall wie das Genie beziehungsweise den Menschen als wechselseitig beeinflussbar ausweisen. Das eigentlich autonome Genie wird als für Wirkungen des Zufalls empfänglich gezeigt und der Zufall nicht als Ereignisbegriff, sondern als komplexes und unergründliches Geflecht von in der Zeit zurückreichenden Kausalbeziehungen dargestellt, welches jedoch im Augenblick seiner Realisierung auf die gestaltende Handlungsmacht des Menschen trifft. Zwei genuin geschlossene Systeme werden so strukturell gekoppelt. Der schon im Schaubühnen-Aufsatz prominent aufgemachte Antagonismus aus Zufall und menschlichem Plan zeichnet sich in dieser Lesart dadurch aus, dass beiden Phänomenen identische Zeitregime zu Grunde liegen. Zufall und Plan sind dann als komplexe Möglichkeitsstrukturen zu verstehen, deren ontologischer Ort im Vorfeld des Wirklichen liegt. Beide laufen auf eine Verwirklichung im Ereignis bzw. in der Tat zu, sind jedoch von diesen zu unterscheiden. Dies hat dann zur Folge, dass die Praxis des Planens immer schon eine Arbeit am Zufall (nach heutiger Vorstellung: an der Kontingenz) ist und die naive von planerischem Denken befreite Sorglosigkeit dem Zufall (bzw. dem Kontingenten) das Feld überlässt. Dies ist das experimentelle Setting, das sich die Geschichte des Abfalls der Niederlande in ihrer Einleitung gibt. Es geht dem Text weder darum, eine Geschichtsauffassung zu vertreten, in der eine vorbildliche und nachahmenswerte Heldenhaftigkeit zur Schau gestellt wird, noch darum, die Unterlegenheit des Menschen gegenüber unaufhaltsamen und ihm unverfügbaren Geschehnissen der Geschichte zu demonstrieren. Vielmehr soll das Verhältnis zwischen Zufall und menschlichem Plan am historischen Beispiel rekonstruiert werden, eine Vermessung des Wirkungskreises wie der Restriktionen menschlicher Handlungsmöglichkeiten durch die unendliche Komplexität historischer und gesellschaftlicher Einflüsse vorgenommen werden. Es sollen eben „alle Zufälle in Berechnung“ gezogen werden, mittels derer man dann „den richtigen Maßstab gefunden [hat], das eigene Verdienst dieser Republikaner um ihre Freiheit angeben zu können“. Inwieweit Schillers Text diese avancierte Programmatik auch einlösen kann, sei zunächst dahingestellt.460 Von dieser Konzeption aus betrachtet gewinnt jedoch auch die vielkritisierte Zweiteilung des Textes in historisch-strukturelle Passagen und biographische Porträts eine gewisse Logik. Schiller nähert sich dem „Zufall“ analytisch von Seiten des Menschen und dem Menschen von Seiten des Zufalls an. Dies soll im Folgenden an

460 Dafür, dass ihm das weitestgehend nicht gelingt, argumentiert Ernst Osterkamp in ders., Die Seele des

historischen Subjekts 1995, 157–178.





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hand eines konkreten Beispiels genauer betrachtet werden – dem Porträt Wilhelms von Oranien aus dem ersten Buch des Abfalls der Niederlande. Ambivalente Bewertung Wilhelms von Oranien Schillers Porträt des niederländischen Rebellenführers ist im Hinblick auf die Kontingenzthematik in seinen historischen Schriften bereits relativ gut untersucht. Insbesondere Ernst Osterkamps eindrucksvoller Aufsatz Die Seele des historischen Subjekts und jüngst Jakovlievićs Monographie zu Schillers Geschichtsdenken befassen sich eingehend mit den wenigen Seiten aus dem ersten Buch des Abfalls der Niederlande, in denen Oranien dem Lesepublikum präsentiert wird.461 Dass Schiller Wilhelm von Oranien als eine Person betrachtet, die in einer Art antagonistischem Verhältnis zu Phänomenen der Kontingenz bzw. des Zufalls steht, wird im Abfall der Niederlande überdeutlich. Nicht nur Jakovliević, dessen Arbeit sich ja wesentlich mit Erscheinungsformen der Kontingenz im Geschichtsdenken Schillers befasst, sondern auch Osterkamp, dem es primär um die Form des historischen Portraits geht, setzen sich daher dediziert mit dem Verhältnis des historischen Subjekts Oranien und des Phänomens der Kontingenz auseinander. So schreibt Jakovliević, Schiller zeichne „Wilhelm[] von Oranien [...][als] einen Charakter, dem die Kontingenz der Geschichte nichts anhaben kann.“462 Er begründet dies mit Oraniens im Abfall der Niederlande deutlich werdender Fähigkeit zu schweigen, um „Zeit zu gewinnen und dadurch relevante Informationen und Geheimnisse der Gegenpartei vorzuenthalten.“463 Auch werde Oranien von Schiller als Person betrachtet, die „den richtigen Augenblick zu erkennen und zu ergreifen vermag“464 und die ganz generell eine besondere Resistenz gegenüber Kontingenzphänomenen zeigt, weil sie mit einer besonderen „prudentia“465 ausgestattet sei, die im Prinzip „ungestümes Handeln ausschließ[t].“466 Dem ist sicherlich zuzustimmen, gerade auf die Occasio-Thematik in Schillers historischen Texten soll später nochmals kurz eingegangen werden – sie ist nämlich keineswegs als Spezifikum des Charakterportraits Oraniens zu sehen. Zunächst ist es je

461 Vgl. Osterkamp, Die Seele des historischen Subjekts 1995 und Jakovljević, Schillers Geschichtsdenken

2015. 462 Jakovljević, Schillers Geschichtsdenken 2015, S. 216. 463 Ebd., S. 214. 464 Ebd., S. 216. 465 Vgl. ebd., S. 214–225. Jakovljević verwendet den Begriff mehrfach. 466 Ebd., S. 255.





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doch sinnvoll, Schillers Beschreibung Wilhelms von Oranien genauer zu betrachten. Für Schiller zählt Oranien zu den hagern und blassen Menschen, wie Cäsar sie nennt, die des Nachts nicht schlafen und zu viel denken, vor denen das furchtloseste aller Gemüter gewankt hat. Die stille Ruhe eines immer gleichen Gesichts verbarg eine geschäftige feurige Seele, die auch die Hülle, hinter welcher sie schuf, nicht bewegte und der List und der Liebe gleich unbetretbar war; einen vielfachen, fruchtbaren, nie ermüdenden Geist, weich und bildsam genug, augenblicklich in alle Formen zu schmelzen, bewährt genug, in keiner sich selbst zu verlieren; stark genug, jeden Glückswechsel zu ertragen. (IV, 92)

Wilhelm von Oranien wird hier als ein Charakter beschrieben, dessen reichhaltige Innenwelt auf ein nach außen hin extrem kontrolliertes Ausdrucksverhalten trifft.467 Die Textstelle kombiniert im Portrait des Rebellenanführers Erscheinungsformen des Rationalen beziehungsweise der Ordnung mit Dynamiken des Emotionalen beziehungsweise der Kontingenz. Oranien wird zunächst als nachdenklich und äußerlich ruhig beschrieben, seine Mimik als von eigentümlicher Konstanz geprägt. In der für diese Untersuchung wichtigen Formulierung, sein Geist sei „stark genug, jeden Glückswechsel zu ertragen“ zeigt sich zudem eine barock-stoizistische Gemütsstärke. Die Unerschütterlichkeit Oraniens, seine „prudentia“ und sein statuenhafter Gesichtsausdruck weisen ihn – jedenfalls seine äußere Erscheinung – als Repräsentanten des rationalen Paradigmas aus. Die hypertrophierte Rationalität Oraniens birgt jedoch durchaus folgerichtig eine Tendenz zum Antisozialen. Oranien ist eine erstaunliche, von der Textstelle auch ambivalent gezeichnete, Immunität gegen äußere Einflüsse zu eigen. Einerseits – und das qualifiziert ihn besonders für seine politische Aufgabe, den Widerstand gegen Spanien zu organisieren – ist er dadurch immun gegenüber jedem Manipulationsversuch, jeder „List“. Auf der anderen Seite bezahlt er diese besondere politische Qualifikation im Bereich des Menschlichen mit einer Indolenz gegenüber „der Liebe“. Die emotionale Schließung seiner Person ist nicht nur ungewöhnlich, sie führt auch dazu, dass Oranien wie Cäsars „hager[e] und blasse[] Menschen“ auf Außenstehende bedrohlich, gar unheimlich zu wirken scheint. Dementsprechend, schreibt Schiller, habe sich selbst „das furchtloseste aller Gemüter“ vor Charakteren wie ihm erschüttern lassen.

467 Sehr deutlich wird hier, wie Schillers Beschreibungen beider Seiten, also der Reichhaltigkeit des Innen-

lebens wie der Reduziertheit seines Ausdrucksverhalten, ins Extreme neigen. Dies entspricht der von Osterkamp in den historischen Monographien Schillers generell beobachteten Methodik, Charaktere über Extreme zu beschreiben. Laut Osterkamp schafft Schiller seinen Charakterporträts damit einen Rahmen, „innerhalb dessen er dann den ganzen Reichtum des menschlichen Seelenlebens zur Entfaltung bringen kann, ohne damit die Identität der Charaktere zu gefährden.“ Osterkamp, Die Seele des historischen Subjekts 1995, S. 170. Das Interessante im Fall Oraniens ist nun, dass Schiller hier gerade keinen weit gefassten Rahmen spannt, sondern über zwei gegenläufige Extreme eine charakterliche Diskrepanz sichtbar macht.





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Im Falle Oraniens liegt somit die intentionale Forcierung einer Außenseiterrolle vor, die sich jedoch ideal für verdeckt strategische Handlungen funktionalisieren lässt. Die augenscheinliche Nähe dieser Handlungsdisposition Oraniens zu den Aktionen des Marquis Posa aus dem Don Karlos wird dabei von Schiller bewusst hergestellt. So wird Wilhelm von Oranien bereits auf den ersten Seiten des Abfalls der Niederlande als „Bürger der Welt“ (IV, 36) bezeichnet, dem Epitheton, das in den fast gleichzeitig zu der Geschichtsmonographie entstandenen Briefen über Don Karlos für Posa reserviert ist.468 An einer Stelle der Briefe werden Wesensähnlichkeit und persönliche Bekanntschaft zwischen Posa und Oranien sogar explizit hervorgehoben: Der Geist der Völker wird von ihm [Posa] studiert, ihre Kräfte, ihre Hülfsmittel abgewogen, ihre Verfassungen geprüft; im Umgang mit verwandten Geistern gewinnen seine Ideen Vielseitigkeit und Form; geprüfte Weltleute, wie Wilhelm von Oranien, Coligny u.a. nehmen ihnen das Romantische und stimmen sie allmählich zu pragmatischer Brauchbarkeit hinunter. (II, 234)

Von Oranien lernt Posa also sein schwärmerisch-idealistisches Gemüt zu kontrollieren und seine Ideen gemäß der in Schillers medizinischen Schriften entwickelten Technik der Anreicherung und anschließenden Reduktion469 zu entwickeln und zu verfeinern. Posa lernt rational-strategisch zu denken und zu handeln und seine romantischschwärmerischen Impulse im Zaum zu halten. Wichtig ist aber vor allem, dass die Weltbürger-Zuschreibung in den Briefen über Don Karlos stets zur Beschreibung des Konflikts zwischen dem spezifisch politischen Handeln Posas und dessen Freundschaft zu Don Karlos gebraucht wird. Der Weltbürger kann niemals ein guter Freund sein – so lautet die Erkenntnis, wenn Schiller etwa hervorhebt, dass es sich bei Posas Preisgabe von spezifischen Gefühlen gegenüber dem König, „die bis jetzt zwischen Karlos und ihm Geheimnisse waren“ um „eine offenbare Untreue [handelt], deren er sich gegen seinen Freund Karl schuldig machte“ (II, 245) – und dies ungeachtet der Tatsache, dass Posa nur so agiert, weil er davon ausgeht, dadurch eigentlich doch zu Gunsten seines Freundes zu handeln. Schiller differenziert bei der moralischen Bewertung dieses Verhaltens klar zwischen den Rollen von Posa als Weltbürger und als Freund: „Posa der Weltbürger durfte so handeln, und ihm allein kann es vergeben werden; an dem Busenfreunde Karls wäre es ebenso verdammlich, als es unbegreiflich sein würde.“ (ebd.) Die Unterordnung moralisch fragwürdiger Mittel unter einen höheren Zweck ist dieser Logik nach im Bereich des politischen Handelns legitim, sie fügt sich ein in ein teleologisch fundiertes Geschichtsdenken, dessen Fixpunkt auf dem Erreichen einer optimalen Zukunft liegt, auf

468 Posa wird in den Briefen ständig als „Weltbürger“ tituliert, so in IV, 232, 237, 239 und 247f. 469 Vgl. hierzu Kapitel 1.2.1.





2.3 Semantische Arbeit und Geschichtsdenken …

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welche hin die Weltgeschichte, wenn auch mäandernd und auf Umwegen, so aber dennoch auf unausweichliche Weise zuläuft. Schiller betont aber explizit, dass eine derartig idealistisch auf eine utopische Zukunft gerichtete Charakterdisposition in der Gegenwart unweigerlich zur Missachtung konkreter Individualrechte führen muss: [„]daß der uneigennützigste, reinste und edelste Mensch aus enthusiastischer Anhänglichkeit an seine Vorstellung von Tugend und hervorzubringendem Glück sehr oft ausgesetzt ist, ebenso willkürlich mit den Individuen zu schalten als immer nur der selbstsüchtigste Despot, weil der Gegenstand von beider Bestrebungen in ihnen, nicht außer ihnen wohnt und weil jener, der seine Handlungen nach einem innern Geistesbilde modelt, mit der Freiheit anderer beinahe ebenso im Streit liegt als dieser, dessen letzten Ziel sein eigenes Ich ist.“ Wahre Größe des Gemüts führt oft nicht weniger zu Verletzungen fremder Freiheit als der Egoismus und die Herrschsucht, weil sie um der Handlung, nicht um des einzelnen Subjekts willen handelt. (II, 259)

Schiller legt damit das totalitäre Moment frei, das sich im Handeln von Personen wie Marquis Posa birgt und das diese in die Nähe von egoistisch agierenden Tyrannen – man denkt hier unweigerlich an Philipp II. – rückt. Was in den Briefen über Don Karlos mit Blick auf Posa gesagt wird, kann ohne Weiteres auf sein Doppel aus dem Abfall der Niederlande, auf Wilhelm von Oranien, übertragen werden.

Das bedeutet auch, dass Osterkamps Identifikation von scheinbar unauflösbaren

Widersprüchen in der Textgestaltung des Abfalls der Niederlande einer Differenzierung unterzogen werden kann. Osterkamps Kernthese lautet, dass „in der charakterlichen Doppelschichtigkeit, die Oranien einerseits als barocken Tugendhelden und andererseits als ‚gerechten und edlen Mensch’ erscheinen lässt“470 der Versuch Schillers deutlich werde, gleichzeitig zwei eigentlich miteinander unvereinbare Zielsetzungen zu verfolgen, nämlich „einerseits eine historisch korrekte Wiedergabe der Ereignisse des 16. Jahrhunderts“ und auf der anderen Seite die Einbindung der Figur „in eine zivilisationsgeschichtliche Perspektive [...], an deren Ende das Ideal der aufgeklärten Menschheit steht.“471 Kurz: Die von Schiller vollzogene Idealisierung Oraniens kollidiere mir der historischen Wirklichkeit. Der barocke Tugendheld Oranien agiere der kulturellen Praxis der frühen Neuzeit entsprechend machiavellistisch und manipulativ und gerate damit wiederum zwangsläufig in einen Widerspruch zu den Authentizitätsidealen des ausgehenden 18. Jahrhunderts.472 Schillers idealisierendes Charakterbild Oraniens und die Beschreibung seiner politischen Handlungen fielen demnach zwangsläufig auseinander. Die Beschreibung Oraniens als eines den Vorstellungen der Aufklärungsgesellschaft des 18. Jahrhunderts entsprechenden Akteurs wäre jedoch aufgrund ihrer erzählstrategischen Funktion für Schillers Abfall der Niederlande notwendig. Sie rette nämlich die ethi 470 Osterkamp, Die Seele des historischen Subjekts 1995, S. 175. 471 Ebd.

472 Ebd., S. 175–176.





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sche Positivbewertung des Freiheitskampfes der Niederländer gegen die spanische Tyrannei und damit Schillers Präsupposition gegenüber dem historischen Gegenstand.473

Sicherlich zuzustimmen ist Osterkamps Problematisierung der methodischen

Ahistorizität, im kulturell 18. Jahrhundert konstruierte Charakterdispositionen auf historische Personen des 16. Jahrhunderts zu applizieren. Dies hat notwendig zur Folge, dass die historische Wirklichkeit zum Teil deutlich verfehlt wird. Die Widersprüche in der Textstruktur sind – so die These an dieser Stelle – jedoch weit weniger dramatisch, als Osterkamp dies nahelegt, denn Schiller führt mit der Synthese von barocken und aufklärerischen Kontexten keineswegs für ihn starre und moralisch fixe Konzepte auf gewaltsame Wiese ineinander. Vielmehr werden hier zwei in Schillers Denken bereits als moralisch heterogen angelegte Kontexte in Verbindung gebracht. Die Kritik des 18. Jahrhunderts an der bei Oranien leicht zu erkennenden Neigung zu frühneuzeitlicher Dissimulation wird von Schiller etwa dadurch relativiert, dass er dem Rebellenführer das positiv konnotierte Epitheton „der Verschwiegene“ (IV, 42) verleiht. Oraniens verdeckt strategisches Handeln – eine im von Rousseau geprägten Aufklärungsdiskurs eigentlich unverzeihliche Praxis – wird mittels des Kommentars relativiert, dass dieser zwar zu den Mitteln von Intrige und Täuschung greift, jedoch nicht „nach der Weise des Hofes seine Lippen eine Knechtschaft bekennen ließ, die das stolze Herz Lügen strafte.“ (IV, 93) Oraniens Verletzungen des im 18. Jahrhundert gültigen Authentizitätsgebots werden damit keineswegs gerechtfertigt, aber mit dem Hinweis auf ein authentisches Handeln des Rebellenführers wenigstens gegenüber seinem „stolze[n] Herz“ – also gegenüber sich selbst – ergänzt und damit moralisch gerahmt und relativiert. Damit liegt auch hier eine gewisse Sanktionierung des Gebrauchs unlauterer Mittel zum Erreichen höherer Zwecke vor. Diejenigen Charaktereigenschaften, über welche die Kritik des Aufklärungszeitalters an der höfischen Kultur der frühen Neuzeit ganz wesentlich läuft, werden in Schillers Text also nicht wie üblich eindeutig negativ gezeichnet. Stattdessen werden die ethische Ambivalenz, die erfolgreichem politischen Handeln in Krisenzeiten regelmäßig zu eigen ist, ausgestellt und die Systemdifferenzierung des Politischen und des Privaten sichtbar gemacht. Die sonst ausschließlich kritisch bewerteten barocken Praxen der Dissimulation und des Machiavellismus erfahren somit ein – jedenfalls partielles – Wohlwollen des Verfassers.



473 Ebd., S. 176–177.





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Komplementär dazu fasst der Text jedoch auch das Menschenbild der Aufklärung nicht als eines auf, dessen ungeteilte moralische Überlegenheit von Vorneherein feststünde. Auch das im ausgehenden 18. Jahrhundert um sich greifende idealistische Denken wird von Schiller als ethisch ambivalent bewertet. Beispielhaft dafür können die schon erwähnten antisozialen Züge Oraniens, insbesondere seine Immunität gegenüber der Liebe als Kritik an einer Verabsolutierung des aufklärerischen Menschenbildes angeführt werden. Es ist daher auch kaum verwunderlich, dass Schiller eben diejenigen Aussagen seines Textes, in denen eine ungeteilte Positivbewertung von Oraniens Idealismus am ehesten durchscheint,474 nämlich den Hinweis, Oranien habe trotz seiner politisch–strategischen Täuschungsmanöver nie aufgehört, „eyn guter Mensch zu sein“ (NA 17, 68) und die Bezeichnung des Rebellenführers als „gerechten und edlen Mensch“ (NA 17, 81) bei der Bearbeitung seines Textes für die Neuveröffentlichung 1799 streicht. Fragt man also nicht wie Osterkamp nach der Differenz zwischen den von Schiller in Verbindung gebrachten diskursiven Zuschreibungen für das Barock und die Aufklärung, sondern nach deren Einheit, so liegt nahe, dass diese in einer rationalistischen Unterdrückung des Singulären, Idiosynkratischen bzw. Kontingenten zu sehen ist. Gerade mit der auch in den Briefen über Don Karlos beschriebenen Tendenz zum Totalitären und mit Oraniens hypertrophierter, antiemotionaler und antisozialer Rationalität werden negative Umstände angeführt, die Barock und Aufklärung (aus der Sicht Schillers) miteinander teilen. Egoismus und Idealismus werden so als jedenfalls in Teilen verwandte Phänomene skizziert.475 Damit korrespondiert auch die im Abfall der Niederlande deutlich zu Tage tretende charakterliche Verwandtschaft zwischen dem Tyrannen Philipp II. und dem Freiheitskämpfer Wilhelm von Oranien: 474 Auf diese beiden Stellen stützt sich etwa Osterkamps Argumentation zu großen Teilen. Vgl. Osterkamp,

Die Seele des historischen Subjekts 1995, S. 175. In der Tat stehen sie im Gegensatz zu der eigentlich heterogenen moralischen Bewertung Oraniens. Schiller hat dies aber in seiner Bearbeitung dann auch präzise erkannt. 475 Es ist wichtig, in der Einschätzung von Schillers Figurenzeichnungen und Personenporträts stets zu berücksichtigen, dass diese schon seit den Räubern mehrheitlich als ‚gemischte Charaktere’ konzipiert sind. Selbst der für die Spätaufklärung stehende Typus des idealistischen Schwärmers agiert daher nicht rein irrational, seine affektiven Ausbrüche stehen bei Schiller stets in einem spezifischen Verhältnis zu rationalen Strukturen, sind etwa reaktive Kompensationsprozesse oder werden als negativ gezeichnete Leidenschaften im Zeitverlauf wieder rational eingefangen. Emotionalität und Rationalität sind demnach bei der Mehrzahl der Charaktere auf komplexe Weise ineinander verschachtelt. Eine breite Grundlage dazu legt Schiller bereits in seinen frühen Texten, wie die ersten Kapitel dieser Untersuchung dezidiert herausgearbeitet haben. Hier sei lediglich darauf hingewiesen, dass Schiller in dem oben bereits angeführtem Zitat aus den Briefen über Don Karlos bei der Beschreibung des „uneigennützigste[n], reinste[n] und edelste[n] Mensch“ nicht die „enthusiastische[] Anhänglichkeit“, sondern „seine Vorstellung von Tugend“ (II, 259) und damit gerade das Rationale, nicht das Emotionale mittels Kursivierung hervorhebt, ungeachtet dessen aber gerade beide Bereiche für die Beschreibung Posas heranzieht.





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Ein Mensch wie dieser [wie Oranien] konnte seinem ganzen Zeitalter undurchdringlich bleiben, aber nicht dem misstrauischsten Geist seines Jahrhunderts. Philipp der Zweite schaute schnell und tief in einen Charakter, der, unter den gutartigen, seinem eigenen am ähnlichsten war. (IV, 94)

Der Grund für diese Nähe zwischen beiden den Abfall der Niederlande prägenden Akteuren wird kurz darauf deutlich benannt: „Wilhelm hatte noch einen andern Berührungspunkt mit Philipp dem Zweiten [...]. Er hatte seine Staatskunst bei dem selben Meister gelernt und war, wie zu fürchten war, ein fähigerer Schüler gewesen“ (IV, 94). Schon zu Beginn seiner Charakterisierung Oraniens erwähnt Schiller historisch korrekt dessen Jugend am Hofe Karls V., an welchem der spätere Anführer der Protestanten schon in jungen Jahren mit der Praxis kaiserlicher Machtausübung und mit dem Katholizismus in Kontakt gekommen ist. Wilhelm sei zwar von Hause aus im protestantischen Glauben erzogen worden, „Karl der Fünfte aber, der dem Knaben schon frühzeitig wohlwollte, nahm ihn sehr jung an seinen Hof und ließ ihn in der römischen [Religion] aufwachsen.“ (IV, 91). Schiller führt im Anschluss daran mehrere Ehrbezeugungen Karls V. für seinen Ziehsohn an (Vgl. IV, 92) und macht damit das schon früh bestehende Konkurrenzverhältnis zwischen Wilhelm von Oranien und Karls leiblichem Sohn Philipp deutlich. Die Auseinandersetzung zwischen Spanien und den Niederlanden mit ihren zentralen Protagonisten Philipp II. und Wilhelm von Oranien wird damit in ein Näheverhältnis zu den von Schiller so häufig verhandelten Bruderkonflikten gerückt. Damit gerät auch der bereits von Christian Moser hergestellte Zusammenhang zwischen dem Abfall der Niederlande und Schillers Anekdote Eine großmütige Handlung erneut in den Blick.476 Moser sieht die intertextuellen Bezüge zwischen beiden Texten zunächst darin, dass die Niederlande auch in der Anekdote eine wichtige Rolle spielen.477 So verbringt der ältere der beiden um die Liebe einer Frau konkurrierenden Brüder sein selbstgewähltes Exil „in Holland“ (V, 10). Auch die Emigration des jüngeren Bruders „nach Batavia“ geschieht unter Bezugnahme auf die Niederlande (V, 11), handelt es sich bei der Kolonistenstadt doch um den zentralen Handelsplatz der Niederländischen Ostindienkompanie im asiatischen Raum. Inhaltliche Bezüge zwischen Schillers früher Anekdote und seiner ersten historischen Monographie sieht Moser darin, dass es beiden Texten darum ginge, das Singuläre und Spezifische, also den Einzelfall gegenüber den Zumutungen der abstrahierenden Verallgemeinerung zu verteidigen.478 In der Anekdote erkennt Moser – ähnlich wie Kapitel 2.7 dieser Arbeit – den Versuch Schillers, den Leser zu einer Wahrnehmung 476 Moser, Der Fall der Niederlande 2012, S. 106–109. 477 Vgl. ebd., S. 196.

478 Vgl. ebd., S. 109–110.





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des Irreduziblen zu bewegen.479 Im Abfall der Niederlande sieht er dann die Verdeutlichung, dass „Schillers Poetik der Fallgeschichte unmittelbar auch eine politische Dimension besitzt.“480 So sei es „genau diese Unfähigkeit, von den allgemeinen Prinzipien zu den Einzelfällen herabzusteigen, die laut Schiller die despotische Herrschaft des Spanierkönigs Philipp II. über die Niederlande kennzeichnet.“481 All dem ist fraglos zuzustimmen. Die Strukturähnlichkeit zwischen den beiden Texten geht jedoch noch deutlich weiter. Philipp II. und Wilhelm von Oranien entsprechen bis ins Detail dem Brüderpaar aus der Anekdote. Nicht nur der ältere Bruder von Wrmb. und Philipp II., sondern (wie Kapitel 2.7 dieser Untersuchung belegt) auch der jüngere Bruder und (wie in dem vorliegenden Kapitel herausgearbeitet) Wilhelm von Oranien werden von Schiller als rationale Charaktere gezeichnet, die das Singuläre, das Einzelereignis, das Kontingente missachten. Über die Personentableaus der Anekdote und der historischen Monographie werden zwei Erscheinungsformen des Rationalen in Bezug zueinander gesetzt. Philipp II. und der ältere Bruder von Wrmb. missachten die Rechte und Empfindungen ihrer Mitmenschen, wenn sie ihre egoistischen Privatinteressen mit strategisch-rationalen Mitteln verfolgen. Oranien und der jüngere Bruder marginalisieren die nämlichen Rechte und Empfindungen ihrer Mitmenschen, indem sie diese abstrakten Idealen unterordnen. Dass die als Allegorie der Liebe zu sehende Frau in der Anekdote kaum zu Wort kommt und am Ende mit keinem der beiden Brüder glücklich werden kann, korrespondiert in gewisser Weise mit der in Don Karlos beschriebenen unglücklichen Ehe zwischen Philipp und Elisabeth von Valois und auch mit der im Abfall der Niederlande erwähnten Immunität Oraniens gegenüber der Liebe. So wie die Lesart der älteren Forschung revidiert werden musste, in welcher der jüngere Bruder aus der Anekdote Eine großmütige Handlung als eine im Gegensatz zu seinem älteren Bruder rein vorbildlich agierende Person erschien, so sollte auch das Bild, das von Schillers Beschreibung Wilhelms von Oranien gemacht wird, einer Differenzierung unterzogen werden. Allen vier „Brüdern“482 bringt Schiller Verständnis gegenüber, alle vier kritisiert er scharf. Im Falle Oraniens erfolgt diese Differenzierung darüber, dass seine Stoizität und sein Idealismus zwar als politisch funktional ausgewiesen, dass gleichzeitig aber auch deren negative Wirkungen für sein soziales Leben herausgestellt werden. Dass Oranien durch seine Fä 479 Vgl. ebd., S. 108–109. 480 Ebd., S. 109. 481 Ebd., S. 110. 482 Zu ergänzen wären hier sicher noch Karl und Franz Moor und mit Abstrichen auch Don Cesar und Don

Manuel, zwei weitere Bruderpaare im Werk Schillers, in denen die Brüder jeweils als antagonistische Repräsentanten verschiedener Geistesströmungen gleichermaßen Sympathie und Kritik hervorrufen.





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higkeiten und seine Vorstellungen zum natürlichen Gegenspieler seines Quasi-Bruders Philipp avanciert, ist konsequent. Dass er immer mehr den Kontakt zur politischen Bewegung in den Niederlanden verliert, intentional wie existentiell immer mehr zum Außenseiter483 gerät und schließlich gar aus Schillers Text selbst verschwindet, scheint daher geradezu folgerichtig. Dieses Verschwinden ist dann nicht – wie dies üblich geschieht – als seltsame Inkonsequenz des Autors aufzufassen, sondern als performative Umsetzung einer in der bei Oranien angelegten Tendenz zu sozialer Exklusion. Oranien entzieht sich zugleich historisch den Niederländern wie performativ den Leserinnen. Oraniens Außenseitertum und seine Kontrolle des Zufalls Die bisherige Argumentation zeigt, dass sich Schillers Dimensionierung des Zusammenspiels aus Kontingenz und Zeitlichkeit im Abfall der Niederlande auf zwei Wegen nahekommen lässt. Mit Blick auf Schillers semantische Arbeit am Zufallsbegriff kann eine Fokusverschiebung festgestellt werden, die vom Ereignis und vom Augenblick zu den diesem Ereignis vorangehenden Möglichkeits- und Zeitstrukturen führt und mit Blick auf die Charakterzeichnung im Porträt des Wilhelm von Oranien lässt sich bei genauerer Betrachtung ein ambivalentes Urteil des Historikers Schiller über die Rationalität des Rebellenführers erkennen. Wie aber verzahnt der Text die Rationalität Oraniens und die Ausweitung des Zufalls auf die Ermöglichungsbedingungen im Vorfeld des Zufallsereignisses?

Oranien wird von Schiller nicht nur als nächtlich nachdenkliche, barock-stoische

und gleichzeitig von einem idealistischen Drang erfüllte Person gezeichnet, der Abfall der Niederlande beschreibt auch ganz konkret, weshalb ihm sein Rückzug ins Innere einen Vorteil in der politischen Auseinandersetzung mit Spanien verschafft: So langsam sein Geist gebar, so vollendet waren seine Früchte; so spät sein Entschluss reifte, so standhaft und unerschütterlich ward er vollstreckt. Den Plan, dem er einmal als dem ersten gehuldigt hatte, konnte kein Widerstand ermüden, keine Zufälle zerstören, denn alle hatten, noch ehe sie wirklich eintraten, vor seiner Seele gestanden. So sehr sein Gemüt über Schrecken und Freude erhaben war, so unterworfen war es der Furcht; aber seine Furcht war früher da als die Gefahr und er war ruhig im Tumult, weil er in der Ruhe gezittert hatte. (IV, 93)

Hier wird abermals die Praxis einer temporalen Dehnung des ‚Zufalls’ von einem punktuellen Ereignis zu einer zeitübergreifenden Struktur sichtbar. Zufallsereignisse stellen nach Schillers Darstellung für Oranien keine Widerfahrnisse mehr dar, da sie ihn nicht mehr überraschen können. Die sich im politischen Raum manifestierenden Zufälle ha

483 Zu den Begrifflichkeiten des intentionalen und existentiellen Außenseitertums vgl. Meyer, Außenseiter

1981.





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ben demnach für Oranien also die mit dem ereignis- und gegenwartsbezogenen Zufallsverständnis notwendig verbundenen Eigenschaften der Plötzlichkeit und der Unverfügbarkeit verloren. Dies liege daran, dass Oranien die den Zufällen vorangehenden Kausalgeflechte im Vorfeld bereits entschlüsselt habe. Seine politische Souveränität beruht damit ganz wesentlich darauf, dass die Ereignisse, die seine Gegenspieler immer noch als Zufälle erfahren, sich für ihn nur als logische Folgen bereits durchkalkulierter Kausal- beziehungsweise Möglichkeitsstrukturen darstellen. Beschrieben wird aber auch, dass Oranien sich lange mit der Berechnung zukünftiger Möglichkeiten befasst. Die Langsamkeit, mit der „sein Geist gebar“, und die ausgedehnte Dauer, bis „sein Entschluss reifte“ sowie die Tatsache, dass tatsächlich „alle“ (!) Zufälle, „noch ehe sie wirklich eintraten, vor seiner Seele gestanden hatten“, beschreiben einen Menschen, dessen Leben sich statt in der Realität größtenteils in Möglichkeitsräumen und Zukunftsszenarien abspielt: Wenn Oranien dann handelnd auf die Realität einwirkt, weist dieses Handeln durch die ausgiebige Reflexion im Vorfeld zwar eine außerordentliche Präzision auf. Sein Erleben dieser Realität ist jedoch nur eine Wiederholung der bereits in die Situation kontemplativer Berechnung vorgezogenen Erlebnisinhalte. So sei er zwar in den entscheidenden Momenten ruhig und furchtlos, „weil er schon in der Ruhe gezittert hatte“ und sein Gemüt „erhaben“ gegenüber dem „Schrecken.“ Auf der anderen Seite erwähnt der Text explizit eine Immunität Oraniens gegenüber real erlebter „Freude“ und übt damit – in einer noch von der Affirmation des Gefühls in der Genieperiode geprägten Zeit – eine scharfe Kritik an der menschlichen Seite des Anführers der niederländischen Rebellion.

Um noch besser zu verstehen, wie sehr die Wurzeln des Charakterporträts Orani-

ens in den Denkstrukturen liegen, die auch andere Textes Schillers in den 1780er Jahren prägen, lohnt es sich, noch einen kurzen Blick auf zwei Intertexte des Abfalls der Niederlande zu werfen. So konvergiert der Hiatus, den der Abfall der Niederlande zwischen dem Individuum Oranien und dem ihn umgebenden gesellschaftlichen Leben recht deutlich mit bestimmten poetologischen Überlegungen, die Schiller in der Vorrede zum Verbrecher aus verlorener Ehre trifft. Schiller überträgt – so die These – in dem vorliegenden Fall eine zunächst rezeptionsästhetisch ausgerichtete Denkfigur auf die soziale Verortung Wilhelms von Oranien im politischen und gesellschaftlichen Raum der Niederlande zur Zeit der Rebellion. In der Vorrede zum Verbrecher diskutiert Schiller nämlich die Problematik einer affektiven Differenz zwischen den Leserinnen von Prosatexten und den handelnden Charakteren in diesen Texten: „Zwischen den heftigen Gemütsbewe



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gungen des handelnden Menschen und der ruhigen Stimmung des Lesers, welchem diese Handlung vorgelegt wird, herrscht ein so widriger Kontrast, liegt ein so breiter Zwischenraum“ (V, 14), dass dies zwangsläufig zu einer „Lücke zwischen den historischen Subjekten und dem Leser“ (V, 14) führe, eine Lücke, die wiederum der am Ende des Schaubühnen-Aufsatzes artikulierten Utopie einer übergreifenden Gemeinschaft entgegensteht, in welcher „[j]eder einzelne [...] die Entzückungen aller [genießt]“ (V, 831). Die Schaubühne ist nach Schiller diejenige Institution, bei der eine besondere Eignung vorliegt, dieses Gemeinschaftsgefühl, die „eine allwebende Sympathie“ (V, 831) herzustellen. Dies liegt an ihrem Vermögen, ihre Zuschauer zu affizieren und damit in den Bann ihrer Illusionen zu ziehen. Die durchaus erwünschte Folge davon ist, dass diese „ihrer selbst und der Welt vergessen“ (V, 831). Da Prosatexten jedoch eben diese affizierende Kraft fehle, können sie – so Schillers Argument in der Vorrede zum Verbrecher – dem Ziel der Gemeinschaftsbildung auch nicht auf die gleiche Weise wie das Theater nachkommen. Die kühle, rationale, sich allein in ihrer Stube befindende Leserin kann nicht wie der Theaterzuschauer „die Entzückungen aller [genießen], die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen“ und so auch nicht die gemeinschaftliche „Empfindung [...] ein Mensch zu sein“ (V, 831) teilen. Statt jedoch für Prosatexte ein anders Ziel beziehungsweise eine andere Funktion anzusetzen, bleibt Schiller stattdessen bei dem Postulat, dass sich Textverfassung und Gemütslage der Rezipienten entsprechen sollen. Die sympathetische Nähe zwischen Text und Rezipienten und die dadurch mögliche Vergemeinschaftung der Rezipienten bleiben also oberste Prämissen. Um die oben beschriebene Differenz zwischen den affizierten historischen Subjekten“ der Erzählungen und Romane auf der einen und der rational-kühlen Leserinnen auf der anderen gar nicht erst aufkommen zu lassen, soll in nun epischen Formaten, nicht etwa wie im Theater der Zuschauer in die Gemütsverfassung der Figuren versetzt, sondern vielmehr der „Held [...] kalt werden wie der Leser“ (V, 14).

Der konzeptionelle Aufbau von Erzählungen muss sich dementsprechend von

den gängigen Handlungsstrukturen des Schauspiels unterscheiden. Wir Leser müssen, so Schiller, „mit [dem Helden] bekannt werden, eh er handelt, wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen.“ (V, 14). Zu beachten ist, dass diese Textstelle nicht nur, wie so häufig in der Literatur bemerkt,484 eine Hinwendung Schillers zum Psychologischen, zur Anthropologie des Menschen darstellt, sondern

484 Unter anderem auch von Osterkamp, Die Seele des historischen Subjekts 1995, S. 162.





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dass es sich hierbei auch um eine Neuausrichtung der Zeitperspektive handelt. Es interessieren demnach in einem kühl-rational verfassten Prosatext nicht die tatsächlichen Handlungen der Akteure, sondern die den Handlungen vorausgehenden Überlegungen: „An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Folgen jener Taten.“ (IV, 14). Auch im weiteren Verlauf wird deutlich, dass es Schiller darum geht, für Prosatexte ein gegenüber der Bühne abweichendes Zeitregime zu etablieren. Wenn es etwa heißt, dass den „Träumer, der das Wunderbare liebt, [...] eben das Seltsame und das Abenteuerliche [reizt]“ (V, 15), wird der implizite Bezug zu der im Schaubühnen-Aufsatz beschriebenen Realitätsvergessenheit der Theaterbesucher deutlich. Diesem „Träumer“ stellt Schiller nun den „Freund der Wahrheit“ (V, 15) gegenüber, also den rationalen und ausgeglichenen Leser von Prosatexten, der eben nicht an den Singularitäten der Erscheinungen und der affizierenden Wirkung des Riskanten interessiert ist, sondern „eine Mutter zu diesen verlorenen Kindern“ (V, 15) sucht, der also zu den den Ereignissen vorausgehenden, diese erst ermöglichenden Bedingungen zurückgeht. Dies immunisiere ihn gegen unliebsame Überraschungen, denn sein Verständnis der Kausalbeziehungen zwischen den Ermöglichungsbedingungen eines Ereignisses und dem Ereignis selbst, zwischen Potenz und Performanz führt dazu, dass es ihn „nun nicht mehr [überrascht], in dem nämlichen Beete, wo sonst überall heilsame Kräuter blühen, auch den giftigen Schierling gedeihen zu sehen“ (V, 15).

Eben eine solche Technik ist es nun, die Oraniens Charakter ganz wesentlich be-

schreibt. Auch er fragt nicht nach den Ereignissen selbst, sondern reflektiert diese in ihren zeitlich längerfristig zu beobachtenden Entstehungsbedingungen. Hierfür befähigt ihn sein „durchdringender fester Blick in die vergangene Zeit, die Gegenwart und Zukunft.“ (II, 94). Notwendig dazu ist aber eine beträchtliche Reflexionskraft, „kühne Berechnungen, die an der langen Kette der Zukunft hinunter spinnen“ (II, 94), die ihm aber genau das ermöglichen, worin seine politische Überlegenheit letztlich gründet, nämlich die „schnelle Besitznahme der Gelegenheit“ (II, 94).

Aus diese Bezügen zu der Schaubühnen-Rede und der Vorrede zum Verbrecher

wird deutlich, wie das Porträt Oraniens zu lesen ist. Schiller beschreibt den Rebellenführer als eine Person, welche die Gesellschaft auf die gleiche rationale Weise liest wie die kühle, sich allein in ihrer Stube befindende Leserin ihren Roman. Eben dies erlaubt ihm, Überraschungen zu entgehen, Ereignisse vorauszusehen und Kontingenzen zu bewältigen. Da aber die Gesellschaft naturgemäß nicht wie der Held des idealen Prosatextes, den Schiller in seiner Schaubühnenrede im Sinn hat, „kalt werden kann wie der Leser“



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(V, 14), muss die Gemeinschaftsbildung, die Schiller in seinen poetologischen Texten stets im Sinne hat, von Oranien notwendigerweise verfehlt werden. Er ist – in Schiller Worten – ein „kalter“ Held in einer „warmen“ Gesellschaft und damit notgedrungen ein Außenseiter. Seine antisozialen Züge und sein performatives Verschwinden aus dem Text sind geradezu folgerichtig. Zusammenfassung und Ausweitung Betrachtet man Schillers semantische Arbeit am Genie- und am Zufallsbegriff im Abfall der Niederlande zusammen mit dem Charakterporträt Wilhelms von Oranien, so lässt sich eine Fokusverschiebung beobachten, die von gegenwärtigen Ereignissen weg, hin zu den diesen Ereignissen vorangehenden Möglichkeitsstrukturen führt. Schillers spezifische Verwendung des Zufallsbegriffs belegt ein Wissen über die Ontologien des Zufalls und der Kontingenz, in welchen die Unverfügbarkeit des Zufalls für menschliche Gestaltbarkeit und damit gleichsam der Widerfahrnischarakter des Zufalls relativiert werden. Das Zufallsereignis wird in dieser Vorstellung als liminaler Knotenpunkt zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen gedacht, in dem eine vormals unüberschaubare Menge von Kausalstrukturen gerinnt. Je präzisier und je früher das Subjekt dieses Kausalgeflecht durchschaut, desto mächtiger kann es dann auf das schließlich eintretende Ereignis gestaltend einwirken. Der Zufall selbst enthüllt sich somit als Perspektivbegriff, der nicht über eine binäre, sondern über eine graduelle Struktur verfügt. Das heißt, wenn der Zufall ist nicht mehr als bloßer Ereignisbegriff, sondern als genealogischer Begriff gedacht wird, kann er auch nicht mehr ausreichend über distinkte Codes wie überraschend/vorhersehbar oder kontingent/kausal-determiniert beschrieben werden. Abhängig von der Fähigkeit und dem Willen des jeweiligen den Zufall antizipierenden beziehungsweise diesen kalkulierenden Subjekts ist das Zufallsereignis eben mehr oder weniger überraschend, mehr oder weniger kontingent. Ein Perspektivbegriff ist der Zufall dann deshalb, weil sein ontologischer Status abhängig vom Beobachterstandpunkt wird. Was für den einen als absoluter Zufall erscheint, hat der andere bereits so, oder so ähnlich, in seine Erwartungen einbezogen, in seinen Prognosen vorhergesehen. Das Zufallsereignis ist damit nicht das Gegenteil, sondern sogar die (nahezu) notwendige Folge von Kausalbeziehungen. Aufgrund der überbordenden Komplexität dieser Kausalstrukturen ist das Ereignis für den Menschen jedoch nie vollständig berechen- beziehungsweise kontrollierbar. Ein unverfügbarer Rest bleibt stets, der in der longue durée



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zwangsläufig dazu beiträgt, dass dem einzelnen Subjekt die Kontrolle über die Geschehnisse letztlich entgleitet: „Dem Menschen gehört der Augenblick und der Punkt, doch der Zufall rollt die Weltgeschichte.“ Im Porträt Wilhelms von Oranien zeigt der Abfall der Niederlande einen Menschen, der über außergewöhnliche Fähigkeiten bei der bereits in Schillers Begriffsarbeit in den Fokus gerückten Berechnung und Kalkulation des Zufalls verfügt. Oraniens Temperament ist geprägt durch eine barock-stoische Immunität gegenüber Widerfahrnissen, sein Denken durch eine extensive Bereitschaft, zukünftige Ereignisse zu antizipieren beziehungsweise zu prognostizieren. Als motivierend für seine Handlungen und bestimmend für sein Denken führt Schillers Text einen an allgemeinen Kategorien ausgerichteten Idealismus an, der es Oranien ermöglicht, im Einzelfall auch zu unmoralischen Mitteln zu greifen. Oranien vereinigt somit zwei Formen des Rationalen – eine frühneuzeitliche und eine aufklärerische Variante. Dissimulation und Idealismus gehen bei ihm Hand in Hand, werden jedoch von Schiller jeweils ambivalent bewertet, da beide Formen das Singuläre und Kontingente marginalisieren. Oranien erlangt mit seiner hypertrophen Rationalität Kontrolle über den Zufall, bezahlt dafür jedoch den Preis, zum intentionalen wie existentiellen Außenseiter zu geraten. Er hat die Fähigkeit, die „Gelegenheiten“, welche die „Zeiten herbeitragen“, präzise zu erkennen und zu ergreifen, seine damit verbundene gesellschaftliche Exklusion führt jedoch dazu, dass ihm immer weniger derartige Gelegenheiten geboten werden. Oranien kontrolliert die Zufälle, die sich ihm bieten, muss jedoch akzeptieren, dass ihm eine Kontrolle der wesentlichen Ereignisse nicht mehr ermöglicht wird, dass sich eine Kontingenz des Inkommensurablen zwischen ihn und den Geschichtsverlauf schiebt. Diese Dialektik führt schließlich dazu, dass Oranien trotz seiner Fähigkeiten im weiteren Verlauf der Niederländischen Rebellion keine tragende Rolle mehr einnehmen kann und unvermittelt aus Schillers Text verschwindet. Die soziale Exklusion, der Oranien auf diese Weise unterliegt, fügt sich dabei passgenau in Schillers poetologische Reflexionen der 1780er Jahre ein. Schillers begriffliche Arbeit am ‚Zufall’, seine poetologischen Überlegungen in der Schaubühnen-Rede und Vorrede zum Verbrecher sowie das Charakterporträt Wilhelms von Oranien im Abfall der Niederlande belegen eine Denkbewegung, die vom Wirklichen zum Möglichen, vom Ereignis zur Genealogie dieses Ereignisses, vom Widerfahrnis zur Gestaltbarkeit, von der Präsenz zum Potential führen. Zeitlichkeit und Kontingenz sind die Klammern, innerhalb derer sich diese Bewegung vollzieht, mittels derer sie sich beschreiben lässt.



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Wichtig zur korrekten Beurteilung der Ergebnisse dieses Kapitels sind jedoch abschließend noch drei kurze Einordnungen: Erstens. Das hier vor allem diskutierte von einer bloßen Ereignishaftigkeit losgelöste Zufallsverständnis zeigt sich nicht nur in den angeführten Stellen des Abfalls der Niederlande, sondern auch in anderen Texten Schillers, etwa in der Geschichte des Dreissigjährigen Krieges. So beschreibt Schiller bereits im ersten Buch seiner zweiten großen Geschichtsmonographie, wie die Reformation zur Grundlage einer Ordnungskollision führte, in deren Zuge vormals herrschende – jedoch in ihren Ursprüngen arbiträre – Normen kondensieren mussten. In der vorreformatorischen Zeit wirkte, so Schiller, der Katholizismus als einheitliche Glaubenslehre nicht nur politisch stabilisierend, er leistete auch einen Beitrag zur Etablierung einer gerechten Rechtsordnung. Durch die Emergenz der protestantischen Gegenordnung wird jedoch der kontingente Ursprung der katholischen Rechtsordnung zum Problem: Daß zur Zeit der Stiftung [des Reichs] in Deutschland noch ein einziger Glaube herrschte, war Zufall; daß kein Stand den andern auf rechtlichem Wege unterdrücken sollte, war der wesentliche Zweck dieser Stiftung. Dieser Zweck ist aber verfehlt, wenn ein Religionsteil im ausschließenden Besitz ist, den andern zu richten – darf nur ein Zweck aufgeopfert werden, wenn sich ein Zufall verändert? (IV, 376)

Auch in dieser Beschreibung wird mit dem ‚Zufall’ nicht ein singuläres Ereignis, sondern ein zeitlich überdauernder Zustand bezeichnet, der sich schließlich gar verändern kann. Die Textstelle ist damit ein weiterer Beleg dafür, dass Schillers semantische Arbeit am ‚Zufall’ ganz wesentlich darauf abzielt, dessen Bedeutung dahingehend auszuweiten, dass er auch Phänomene des Kontingenten und der Kontingenz mit abdeckt. Bei der Loslösung des Zufallsbegriffs von seinem Gegenwarts- beziehungsweise Ereignisbezug handelt es sich jedoch nicht um eine Art paradigmatische Wende im Denken Schillers. Die genealogische Perspektive auf den Zufall verdrängt den ereignisbezogenen Zufall keineswegs vollständig. Schiller greift vielmehr je nach Kontext auf beide Bedeutungsvarianten des Zufallsbegriffs zurück. Ereignishafte Zufälle bleiben damit stets relevante Beschreibungsformen485 und in den dramatischen Texten auch durchaus noch gebrauchte Wirkungsmechanismen.486 Durchaus sichtbar ist jedoch fortan eine deutliche Tendenz zur Einbindung des Zufalls in übergreifende Ordnungszusammenhänge. Beispielhaft sei hier auf Elisabeths Inszenierung ihres Treffens mit Maria im Park 485 Vgl.

etwa die Beschreibung von Gustav Adolfs Tod in der Geschichte des Dreissigjährigen Kriegs (IV, 626–639). 486 Das vielleicht prominenteste Beispiel wäre wohl die Szene IV, 12 aus der Jungfrau von Orleans, in der die Verfluchung Johannas durch ihren eigenen Vater mit zwei Donnerschlägen zusammenfällt, die vom Volk dann als providentielle Sanktion des Fluchs gedeutet werden.





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von Fotheringhay als eines Zufallsereignisses verwiesen. Das Aufeinandertreffen der beiden Königinnen in der Szene III/IV der Maria Stuart weist damit eben jene im Abfall der Niederlande bereits detailliert entwickelte Struktur auf, in der sich der Modus eines Ereignisses für die beteiligten Figuren als höchst unterschiedlich darstellt. Was sich für Maria als Zufall und sichtbar als Widerfahrnis gestaltet,487 konnte von Elisabeth bereits im Vorfeld kalkulatorisch erfasst werden.488 In der Braut von Messina wiederum wird zwar auf der Handlungsebene eine Kaskade von Zufällen gezeigt. Diese ist jedoch in eine dramaturgisch exakt konzipierte Ordnung eingebunden – die Gesamthandlung des Dramas funktioniert überhaupt erst über das kunstvolle Ineinandergreifen der einzelnen Zufälle. Das Aufzeigen von Perspektivendifferenzen gewinnt generell in den späteren Texten Schillers nochmals an Relevanz. Komplementär dazu verlieren auch die in den frühen Dramen noch häufiger rekurrierenden Spielerfiguren an Bedeutung, deren risikobehaftetes, dem Einfluss ereignishaften Zufalls bewusst ausgesetztes Agieren geeignet war, plötzliche Handlungsumschwünge hervorzurufen. 489 Derartiges Handeln verschwindet nicht, Philipp II. etwa überlässt die Auswahl eines Beraters im II. Akt des Don Karlos bekanntlich bewusst dem Zufall –, dass Posa so seine tragende Rolle für das Drama einnehmen kann, ist jedoch nicht als plötzlicher Umschwung der Handlung, sondern als eine Notwenigkeit für die Dramentektonik zu sehen.

Zweitens. Auch die am Beispiel von Oranien so deutlich hervorgehobenen Fähig-

keit des Einzelnen, die Gelegenheit zu ergreifen beziehungsweise richtig zu nutzen, ist kein auf den Rebellenführer beschränktes Phänomen, sondern wird in Schillers historischen Texten mehrfach aufgegriffen. In ihr spiegelt sich – wie beschrieben – eine Gestaltbarkeitsfähigkeit des Einzelnen, über welche dieser sich aus der Umklammerung der historisch wirkmächtigen Einflüsse des Zufalls und der Kontingenz punktuell zu befreien vermag. Die Rekurrenz eines derartigen Ergreifens der Occasio, der rechten Gelegenheit, beziehungsweise der Berechnung und Kontrolle des unvermittelten Glücks, der Fortuna, findet sich in Schillers historischen Texten an zahlreichen Stellen. Dem Nutzen oder Verpassen von sich momenthaft bietenden Chancen und damit der menschlichen Kontrolle des Glücks kann gar eine strukturbildende Qualität für die Geschichtsschrei

487 Dies belegen die Regieanweisung vor V. 2756 die besagt, dass Maria „zittert und herabzusinken droht“

wie auch Marias klagender Ausruf, „O warum hat man mich nicht vorbereitet! / Jetzt bin ich nicht darauf gefasst, jetzt nicht.“ (II/2, V. 2162f.) 488 Der Unterschied zwischen Oranien und Elisabeth liegt darin, dass Elisabeth den Zufall selbst herbeiführt, sodass dieser einen Zufallscharakter nur für ihr Gegenüber aufweist, während Oranien durch seine „prudentia“ die Fähigkeit hat, von außen an ihn herangetragene Zufälle bereits im Vorfeld zu antizipieren. 489 Vgl. Kapitel 1.1.2.





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bung Schillers zugeschrieben werden. So ist nahezu jede neue Situation in Schillers Geschichte des Dreissigjährigen Kriegs mit einem Hinweis auf das Ergreifen der günstigen Gelegenheit durch einen der Akteure beziehungsweise auf deren Verpassen durch einen anderen versehen.490 Durch die Ubiquität dieses Motivs menschlicher Gestaltungsfähigkeit wird das theoretisch postulierte Primat des Zufalls in der Geschichte performativ relativiert. Selbst wenn Schiller von der Weltgeschichte behauptet, dass die sich dem Gestaltungswillen des Menschen in der longue durée entzieht, zeigt der konkrete Text seiner Geschichtsmonografien doch eine Aneinanderreihung von Momenten, in denen gerade die menschliche Einflussnahme auf das historische Geschehen auf dem Spiel steht. Das Urteil, Schillers Denken gerate ab Ende der 1780er Jahre immer mehr zum Pessimismus, sollte angesichts dessen zumindest eingehender reflektiert, wenn nicht gar revidiert, werden. Produktiver als zu einem einfachen Urteil in dieser Frage zu kommen, ist es jedoch im Detail darauf zu blicken, wie Schiller in seinen Texten sowohl die Grenzen als auch die Möglichkeiten menschlichen Handelns im Blick behält und ihre Zusammenspiel auf immer wieder neue Weise befragt. Im Wallenstein etwa wird eben das Ergreifen der Gelegenheit, das im Abfall der Niederlande als Persönlichkeitsmerkmal Oraniens und in der Geschichte des Dreissigjährigen Kriegs als strukturtragendes Phänomen für die Entwicklung des Kriegsgeschehens tragende Rollen spielt, auf erneute Weise modalisiert und reflektiert. So wird Wallenstein, der Protagonist der Trilogie, von Schiller als eine Figur konzipiert, die gerade aufgrund ihres Willens scheitert, die rechte Gelegenheit zu treffen, ihr also weder vorwegzugreifen, noch sie zu verpassen. Die Reflexion der Occasio, das Nachdenken über die rechte Gelegenheit wird ursächlich für das Verpassen der rechten Gelegenheit. Gerade Wallensteins reflektierendes beziehungsweise sein ununterbrochenes Warten auf den geeigneten Moment, lässt ihn den Moment verfehlen.491 Dies stellt aber gerade keinen Beweis für eine sich im Denken Schillers festsetzende Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des Menschen dar. Es wäre für Wallenstein möglich gewesen, den rechten Moment zu treffen. Er hätte nur weniger oder anders reflektieren müssen. Schillers Text zeigt vielmehr eindrucksvoll und zugespitzt eine nichtnotwendige Gerinnung von Kontingenz und die Transformation einer offenen Zukunft in 490 Ohne Garantie auf Vollständigkeit seien hier Textstellen lediglich aus der Geschichte des Dreissigjähri-

gen Kriegs angeführt, in denen es um das Ergreifen der ‚Occasio’ geht: IV, 381, 385, 389, 391, 408, 437, 439, 446, 483, 485, 496, 542, 578, 591, 610, 618, 622, 630, 639, 646, 654, 655, 656, 661, 670, 692, 694, 699, 703, 717. 491 Die einschlägigen Texte hierzu sind Vogl, Über das Zaudern 2007, S. 51–72 und Fleig, Schillers Wallenstein als Drama des Wartens 2018, S. 75–90.





2.3 Semantische Arbeit und Geschichtsdenken …

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eine tragische Vergangenheit. Das Geschichtsbild Schillers ist also weniger über die Frage nach einem historischen Pessimismus, als vielmehr wissenspoetologisch und wirkungsästhetisch zu greifen.

Drittens. Zu berücksichtigen ist zudem die diskurshistorische Formation, in der

sich Schiller mit seinen Reflexionen über Kontingenz, Zufall und das Ergreifen der rechten Gelegenheit einschreibt. Bei ‚Fortuna’ und ‚Occasio’ handelt es sich um seit der Antike bekannte Figurationen des Glücks und der Gelegenheit. Hartmut Böhme führt in seiner Einleitung zum Sammelband Contingentia Herodot, Thukydides und Vegetius als Autoren an, bei denen schon die Motivkomplexe des Glücks und des Krieges zusammengeführt werden.492 Einen Höhepunkt in der Diskussion um ‚Occasio’ und ‚Fortuna’ (inklusive deren Einhegung durch ‚Virtus’, die Tapferkeit) sieht er bei Machiavelli,493 und damit bei einem Autor, dessen Wirken in etwa in die Zeit der Niederländischen Rebellion fällt.494 Peter André Alt belegt wiederum die Bedeutung des italienischen Philosophen bereits für Schillers Frühwerk.495 Alt verweist dabei auf die knappe Erwähnung von Machiavellis Der Fürst im Abfall der Niederlande (NA 17, 70)496 und stellt die Bedeutung des Fortuna-Motivs für den Fiesko heraus.497 Seit Gottfried Kirchners Monographie zur Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock ist zudem die hohe Bedeutung des Fortuna- wie des Occasio-Motivs in der frühen Neuzeit belegt, die weit über eine bloße Rezeption Machiavellis hinausgeht.498 In der von vielfältigen Reflexionen menschlichen Leidens geprägten Literatur des Barocks bildet die ‚Occasio’-Figur oftmals den Punkt, an dem sich der Mensch letztlich doch gegen die Widerfahrnisse des Weltgeschehens behaupten kann. Laut Kirchner erhält der Begriff Eigenschaften zugeschrieben, die ihn aus [der Zeit] hervorheben und zu einzigartigen Mittel in der Hand des Menschen machen, sein von der Zeit getriebenes Handeln selbst zu bestimmen. Eine kurze Spanne erschließt ihm die Möglichkeit, feste Entscheidungen zu treffen, für oder gegen seinen ursprünglichen Plan. Freilich muß er den günstigen Zeitpunkt wahrnehmen und nutzen, die Gelegenheit beim Schopf fassen, denn sie ist unwiederbringlich.499

Gegen die Nöte, unter denen die Menschen zu leiden haben, und den Eindruck, dem Rad der Geschichte ausgeliefert zu sein, setzt das Barock demnach eine „immer stärkere Akzentuierung des Entscheidungsmoments, den Begriff und Gestalt der Occasio in sich fas

492 Vgl. Böhme, Contingentia 2015, S. 3. 493 Vgl. ebd. 494 Machiavellis diplomatisches Handeln reicht bis in die Regierungszeit Karls V., er stirbt 1527 und damit

im Jahr der Geburt Philipps II. 495 Vgl. Alt, Schiller Bd. I, S. 442–345. 496 Ebd., S. 343. 497 Ebd., S. 342.

498 Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock 1970. 499 Ebd., S. 28.





Zweites Kapitel Das Kontingenzdenken in Schillers ...

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sen.“500 Daraus resultiert dann fast zwangsläufig ein „Wandel klarer Vorstellungen“.501 In den Gestaltbarkeitsmöglichkeiten, die das Barock dem Menschen im geeigneten Augenblick einführt, liegt bereits ein Element der Kontingenz in einer sonst providentiell fundierten und damit stark determinierten Weltauffassung: „Der günstige Augenblick, den die Göttin dem Menschen gewährt, wird zum Ort historischer Realität, der alle künftigen Möglichkeiten, in sich birgt.“502

Den Zeitgenossen Schillers dürfte diese im Barock so bedeutsame Akzentuierung

der ‚Occasio’ noch geläufiger gewesen sein als heutigen Lesern. Berücksichtigt man diesen diskurshistorischen Bezug, in dem Schillers Geschichtsschriften stehen, so dürfte es schwerfallen, in diesen eine eindeutige Tendenz zu einem historischen Pessimismus zu sehen. Die Häufigkeit, in der Schiller das Occasio-Motiv in seinen historischen Texten anführt, steht dem jedenfalls deutlich entgegen. Auch gilt es zu berücksichtigen, dass die historischen Gegenstände, die Schiller für seine Monographien wählte, per se schon die Notwendigkeit mit sich brachten, menschliche Erfahrungen von Leid und Not zu thematisieren.

Als spezifisch für Schillers Geschichtsdenken kann damit nicht der Antagonismus

zwischen einer situativ gebundenen menschlichen Handlungsfähigkeit und einer unverfügbaren Weltgeschichte gelten. Dieser ist seit der Antike bekannt und erreicht im Barock eine besondere Bedeutung. Interessanter ist vielmehr die Art und Weise, auf die Schiller menschliche Gestaltbarkeit und die vom Zufall bestimmte Geschichte in Bezug zueinander setzt. Anders als die barocken Autoren ist er nicht mehr daran gebunden, einen Widerstreit mit dem Konzept einer göttlich-stratifizierten Ordnung zwingend zu vermeiden. Diese Loslösung von der Dominanz des Providenzdenkens erlaubt es ihm zum einen, die menschliche Gestaltbarkeit über den Einzelmoment auszudehnen und auch stärker in das Vorfeld des Wirklichen zu legen. Daraus resultieren Möglichkeiten für einen neuen produktiveren Umgang mit den Erscheinungsformen der Kontingenz und des Kontingenten. Rekombinationen verschiedener Kontingenzphänomene, experimentelle Settings, die Zeitlichkeit und Kontingenz in ihrem variablen Zusammenspiel

500 Ebd., S. 29–30. 501 Ebd., S. 30. 502 Ebd.





2.3 Semantische Arbeit und Geschichtsdenken …

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untersuchen, und allgemein ein intensivierter Blick auf das Phänomen werden nun nicht mehr blockiert.503 Zum anderen müssen Schillers Texte auch Widerfahrnisse im Leben der Menschen nicht mehr mit einem göttlichen Willen in Einklang bringen. Möglich wird nun eine Intensivierung derjenigen Perspektive auf die Geschichte, in welcher die Widerfahrnisse des Einen gerade aus den gestaltenden Handlungen eines Anderen resultieren. Weniger überraschend erscheint damit auch Schillers Zuspitzung der historischen Geschehnisse auf das Konkurrenzverhältnis weniger Akteure, wie beispielhaft in der als Bruderkonflikt angelegten Geschichte des Abfall der Niederlande deutlich wird. Schillers historische Texte entwickeln auf diese Weise einen Blick auf die Geschichte, in dem Kontingenz – in ihrer Form als Widerfahrnis und als Kategorie für das dem Subjekt Unverfügbare, Inkommensurable genauso wie in ihrer Form als Gestaltbarkeit – als ein genuin soziales Phänomen erscheint.



503 Im Barock hatte die Begrenzung menschlicher Gestaltbarkeit auf die kleinstmögliche Zeiteinheit noch

den wichtigen Zweck, einen Latenzschutz gegenüber einer dadurch (ungewollt) ermöglichten Infragestellung der göttliche Ordnung Vorschub zu installieren.





Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens in Schillers klassischer Periode 3.1 Ästhetik und Kontingenz (Schriften zum Erhabenen) Schillers ‚doppelte Ästhetik’ Die intensive Beschäftigung Schillers mit genuin historischen Fragestellungen reicht vom September 1787 bis in das Jahr 1793, in welchem der dritten Teil der großen Monographie über die Geschichte des Dreissigjährigen Krieges wie auch der fünfte Teil der in der Sammlung historischer Memoires erscheinenden Geschichte der französischen Unruhen zu einem Abschluss geführt werden können. In den Jahren danach entstehen lediglich zwei kleinere geschichtswissenschaftliche Texte: ein 1795 verfasster Bericht über die Belagerung von Antwerpen durch ein Heer Philipps II. und eine kurze Einleitung zu einer Charakterstudie über das Leben des Marschalls von Vieilleville, einer „historische[n] Randfigur [...] aus der Zeit Franz’ I. und Heinrichs II. (1515–1559).504 Trotz der aufwändigen geschichtswissenschaftlichen Tätigkeit bleibt Schillers Interesse an ästhetischen Fragestellungen auch in diesen Jahren stets vital. Im Sommersemester 1790 hält er ein Kolleg über die „Theorie der tragischen Kunst“, in dem unter anderem bereits Karl Philipp Moritz’ Abhandlung Über die bildendende Nachahmung des Schönen diskutiert wird und aus dem heraus er plant, eine weiterführende Trauerspieltheorie zu entwickeln.505 Die in diesem Zusammenhang angedachte Veröffentlichung eines umfassenderen ästhetisch-theoretischen Aufsatzes wird jedoch durch einen starken Krankheitsschub unterbrochen, sodass sich Schiller, statt die eigene Theorieentwicklung produktiv voranzutreiben, zunächst der Rezeption von Kants Kritik der Urteilskraft widmet.506 Im Anschluss an diese Erstlektüre der dritten Kant’schen Kritik entstehen die beiden tragödientheoretisch orientierten Essays Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen und Über die tragische Kunst. Alle weiteren ästhetischen Schriften der 1790er Jahre werden dann erst nach einer im Oktober 1792 erfolgenden zweiten gründlicheren Lektüre der Kritik der Urteilskraft verfasst. Da die Kritik der Urteilskraft den überragenden Bezugspunkt für die Schiller’schen Abhandlungen über die Tragöde und über das Schöne bildet, 504 Alt, Kommentar zu Bd. IV von: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke in 5 Bänden. Auf der Grundlage der

Textedition von Herman G. Göpfert herausgegeben von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel. München 2004, S. 1068. 505 Vgl. Zelle, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen 2005, S. 364. 506 Vgl. ebd. S. 364 und 365.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 M. Köberlein, Kontingenz und Zeitlichkeit bei Schiller, https://doi.org/10.1007/978-3-662-63848-4_3





3.1 Ästhetik und Kontingenz ...

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kann keine tiefergehende Analyse der ästhetischen Theoriebildung Schillers ab 1790 den Kant’schen Prätext unberücksichtigt lassen.

Wie Carsten Zelle hervorhebt, führt der Umstand, dass Schiller zwar bereits vor

seiner Erstlektüre der KdU an tragödientheoretischen Fragestellungen arbeitet, diese dann aber erst nach der Lektüre zu Papier bringt, zu einem eigentümlichen „Problem diskursiver Ambivalenz“507 in den Abhandlungen Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen und Über die tragische Kunst, was insbesondere daher rührt, „dass ältere, aufklärerische Anschauungen im Artikulationsmedium des Kantianismus reformuliert werden.“508 In den folgenden Abschnitten wird dies Berücksichtigung finden. Insbesondere Moritz’ Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen kann dazu als ein wesentlicher Referenzpunkt der Schiller’schen Ästhetik neben der Kritik der Urteilskraft für die Untersuchung herangezogen werden. Der erste nach der intensiven Zweitlektüre der KdU entstandene Text Vom Erhabenen weist dann jedoch eine derart hohe Nähe zu Kant auf, dass Schiller im späteren Druck der Kleinen prosaischen Schriften nur dessen zweiten (eigenständigeren) Teil aufnimmt, dem er nun den Titel Über das Pathetische verleiht.509 Über das Pathetische ist wiederum der Text, in dem Schiller seine Theorie des ‚Pathetisch-Erhabenen’ ganz wesentlich voranbringt und ausdifferenziert, also eben diejenige Theorie, in welcher Peter André Alt dann auch „fraglos de[n] Glanzpunkt der klassischen Tragödienästhetik“510 erblickt. Auch Schillers große Abhandlungen über das Schöne wie Über Anmut und Würde oder Über die ästhetische Erziehung des Menschen sind ebenso wie in etwas geringerer Weise auch seine historisch-ästhetische Schrift Über naive und sentimentale Dichtung bekanntlich als Aneignungen der KdU zu lesen, weisen aber durchaus auch deutliche Bezüge zu Moritz auf. In den folgenden Analysen wird daher stets das Verhältnis der untersuchten Texte zu Schillers fortschreitender Kant-Lektüre im Auge zu behalten sein, ohne Bezüge zu älteren ästhetischen Konzepten, wie demjenigen Karl Philipp Moritz’, zu verlieren.

Bekanntlich ist Schillers klassische Theorieentwicklung von einer „doppelten Äs-

thetik“511 geprägt, in der sich zwei im Prinzip eigenständige Theorien gegenüberstehen:

507 Zelle, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen 2005, S. 364. 508 Zelle, Über die tragische Kunst 2005, S. 375. 509 Vgl. Koopmann, Kleinere Schriften nach der Begegnung mit Kant 1998, S. 579. 510 Alt, Schiller Bd. II 2000, S. 86. 511 Vgl. Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne 1995. Zelle belegt in seiner Studie zu etwa 200 Jahren

ästhetischer Philosophie von Boileau bis Nietzsche, dass es sich bei der Dichotomie aus einer Ästhetik des Schönen und einer Ästhetik des Erhabenen, die auch Schillers Theorieentwicklung ab 1790 entscheidend





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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

eine, die sich mit dem ‚Schönen’ auseinandersetzt, und eine, in deren Zentrum das ‚Erhabene’ steht. Während das Schöne bei Schiller durch eine „Ausgleichsästhetik“512 bestimmt ist, in der es rezipientenseitig zu einem – in Kants Worten – „freien Spiel der Erkenntnisvermögen“ (KdU § 9, A 28) kommt, in welchem Einbildungskraft und Verstand harmonisch zusammenwirken, wodurch sich beim Betrachter in der Folge dann ein „uninteressiertes und freies Wohlgefallen“ (KdU § 5, A 15) einstellt, bildet das Konzept des Erhabenen den Kern einer „Widerstandsästhetik“513. Diese beruhe nach Kant darauf, dass sich in ihrem Fall die Einbildungskraft nicht auf den Verstand beziehe, wie dies in der Theorie des Schönen der Fall sei. Stattdessen „bezieht sich dasselbe Vermögen [also die Einbildungskraft. M.K.] in Beurteilung eines Dinges als erhaben auf die Vernunft“ (KdU § 26, B 94). Das wiederum resultiere daraus, dass das Gefühl des Erhabenen nicht unmittelbar wie das Schöne wirke, sondern „durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und der darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergießung derselben erzeugt wird, mithin als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft zu sein scheint“ (KdU § 23, A 74). Dies erfolge beispielsweise dadurch, dass uns die „Unwiderstehlichkeit“ der Naturkräfte „unsere physische Ohnmacht zu erkennen [gibt], aber [...] zugleich ein Vermögen [entdeckt], uns von ihr als unabhängig zu beurteilen, und eine Überlegenheit über die Natur“ (KdU § 28, A 103). In dieser spannungsreichen Konfrontation des Menschen mit seiner Umwelt bleibt in Kants Worten „die Menschheit in unserer Person unerniedrigt, obgleich der Mensch jener Gewalt unterliegen müsste“ (KdU § 28, A 1044). Während das Schöne für Kant also die Möglichkeit repräsentiert, in Eintracht und Harmonie mit Natur und Gesellschaft zu leben, verweist für ihn das Erhabene auf die Grenzen des menschlichen Vorstellungs- und Handlungsvermögens, die in Momenten intellektuellen und existentiellen Scheiterns zugleich kraftvoll und beschränkend zu Tage treten. Diese Situationen „physischer Ohnmacht“ erlaubten es dem Menschen dann jedoch, seine höherwertige Vernunftseite zu erfahren. Die Vernunft als eine „Idee des Übersinnlichen“ (KdU § 29, A 115) ist Kants Auffassung nach durch die an sinnliche Eindrücke gebundene Vorstellungskraft nicht repräsentierbar, jedoch in der Erfahrung der Beschränkungen seiner Einbildungskraft und seiner physischen Macht durch den Menschen ästhetisch fühlbar. Dies präfiguriere Weg, auf dem der Mensch einen Zugang zur Vernunft als einem die sinnliche Wahrneh bestimmt, um das Abbild eines langfristigen und übergreifenden Diskurses handelt, dessen Wurzeln sich bis zur Longin-Rezeption Boileaus zurückverfolgen lassen. 512 Zelle, Vom Erhabenen / Über das Pathetische 2005, S. 399. 513 Ebd.





3.1 Ästhetik und Kontingenz ...

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mung übersteigenden Vermögen erhalte, einem Vermögen zur Autonomie, das ihm bereits anthropologisch gegeben sei.

Schiller knüpft mit seinen ästhetischen Schriften der 1790er Jahre eng an diese

Bestimmungen des Schönen beziehungsweise des Erhabenen an. Wenngleich Schönes und Erhabenes bei Schiller „zwei unterschiedliche Arten menschlichen Weltverhältnisses [indizieren]“,514 eines harmonischen im Falle der Schönheit und eines disharmonischen im Falle der Erhabenheit, gelten beide Konzepte in der Forschung mittlerweile nicht mehr als terminologisch unvereinbar,515 sondern als ein „Parallelkonzept“, welches generell „kompensatorisch[] [...] zu lesen“ sei.516 Dies beruht auf der Annahme, dass auch in Schillers Vorstellung, Schönes und Erhabenes, Harmonie und Disharmonie zwar nicht unbedingt gleichzeitig rezipiert werden können, dass aber beide Konzepte für eine Darstellung aller dem Menschen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ästhetischer Weltbeziehung notwendig sind. Der Mensch kann dieser Logik nach in denjenigen Momenten auf das Erhabene zurückzugreifen, in denen die Ästhetik des Schönen ihre Wirkung verliert.517 Schiller selbst unterstreicht die Komplementarität der beiden Konzepte auch in diesem Sinne, indem er etwa betont, dass „das Erhabene zu dem Schönen hinzukommen [muss], um die ästhetische Erziehung zu einem vollständigen Ganzen zu machen“ (V, 807). Seiner Auffassung nach „werden wir [nur dann] vollendete Bürger der Natur, ohne deswegen ihre Sklaven zu sein und ohne unser Bürgerrecht in der intelligiblen Welt zu verscherzen [...], wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet und unsere Empfänglichkeit für beides in gleichem Maße ausgebildet worden ist“ (V, 807). Nun bleibt zwar die erste Proposition dieses Konditionalsatzes aufgrund ihres metaphorischen Gehalts recht unbestimmt. Ob die Verbform „sich gatten“ hier lediglich eine Koexistenz des Schönen und des Erhabenen und damit verbunden eventuell auch die Möglichkeit disparater Wirkungszeiträume indiziert oder nicht doch eine Koinzidenz beziehungsweise eine Synthese beider „Weltbezüge“, kann auf den ersten Blick nicht 514 Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne 1998, S. 160 mit Verweis auf Bubner, Literaturkritik und philo-

sophische Ästhetik 189, S. 232. Bubner spricht dort davon, dass „[d]as Schöne und das Erhabene nur zwei Weisen [sind], uns unser kommendes Weltverhältnis, nämlich das theoretische und das praktische, vor Augen zu führen.“ Die Schönheit beziehe sich dementsprechend auf die „Übereinstimmung [des Subjekts] mit der Natur“, die Erhabenheit zeige sich hingegen als eine „ästhetische Erfahrung der Disharmonie von Subjekt und Welt.“ 515 Dies behauptete in den 1950ern etwa noch Käte Hamburger mit Blick auf die Begriffe ‚Anmut’ und ‚Würde’, zweier prominenter Derivate des Schönen beziehungsweise des Erhabenen bei Schiller. Vgl. hierzu Brittnacher, Über Anmut und Würde 1998, S. 607. 516 Alt, Kommentar zu Bd. IV 2004, S. 1193. 517 Alt, Kommentar zu Bd. IV 2004, S. 1194 und Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne 1998, S. 155. Zelle formuliert dies noch schärfer als Alt: „Mit der Ästhetik des Erhabenen kehrt wieder, was aus der Poetik des Schönen verdrängt ward.“





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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

abschließend geklärt werden. Eine Berücksichtigung der zweiten Proposition des Teilsatzes zeigt jedoch, worum es Schiller hier eigentlich geht: Viel stärker als Kant richtet er sein Interesse auf die pädagogische Bildung der Rezipienten des Schönen beziehunsweise des Erhabenen in der Kunst. Die Menschen sollen ästhetisch befähigt werden, der Welt sowohl im Modus des Schönen als auch in dem des Erhaben zu begegnen und so eine Empfänglichkeit für beide Phänomene ausbilden. Dass dies gleichzeitig in ein und demselben Moment geschehen soll, wird weder hier noch anderswo in Schillers ästhetischen Schriften dezidiert behauptet – es soll nur beides jederzeit möglich sein. Zwei Freiheitsbegriffe – zwei Kontingenzkonzepte Betrachtet man nun Kants und Schillers Theorien des Schönen und des Erhabenen aus der für diese Arbeit maßgeblichen kontingenztheoretischen Perspektive, so ist zunächst daran zu erinnern, dass im Zentrum der beiden ästhetischen Konzepte auch zwei voneinander zu unterscheidende Freiheitsbegriffe stehen.518 Im Zentrum der Ästhetik des Schönen steht bei Kant, wie bereits erwähnt, das „freie[] Spiel der Erkenntnisvermögen“ (KdU § 9, A 28) der Einbildungskraft und des Verstandes. Schiller entwickelt daraus in anthropologisch orientierter Stoßrichtung seine bekannte Theorie des ästhetischen Spiels. Indem er dem Mensch ein Bedürfnis, Schönheit zu erfahren und zu empfinden, einschreibt, verleiht er der Kunst eine fundamentale Bedeutung für die menschliche Lebenswirklichkeit im Allgemeinen. In seiner Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen behandelt er dezidiert das Begehren des Menschen nach dem Schönen, welches aus einer „Wechselwirkung zweier entgegengesetzter Triebe und aus der Verbindung zwei entgegengesetzter Prinzipien“ (V, 619), namentlich der Sinnlichkeit und des Verstandes hervorgehe. Mit seinem Spielbegriff beschreibt Schiller einen Zustand, in welchem Zufälligkeit und Notwendigkeit ineinander fallen, was dazu führe, dass dem ‚spielenden Menschen’ weder die Unverfügbarkeit der Ersteren, noch die Restriktionen der Zweiteren mehr spürbar sind: „Diesen Namen [den des Spiels; M.K.] rechtfertigt der Sprachgebrauch vollkommen, der alles das, was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist und doch weder äußerlich noch innerlich nötigt, mit dem Wort Spiel zu bezeichnen pflegt.“ (V, 616–617). Somit „[befindet sich] das Gemüt bei Anschauung des Schönen in einer glücklichen Mitte zwischen dem Gesetz und dem Bedürfnis [...], [und], weil es sich zwischen beiden teilt, [ist es] dem Zwange sowohl des einen als des anderen entzogen“

518 Vgl. Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne 1998, S. 154.





3.1 Ästhetik und Kontingenz ...

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(V, 616). Die sich bei der Anschauung des Schönen wechselseitig in ein Balanceverhältnis bewegenden Kräfte der Geistestätigkeit und des sinnlichen Erlebens beziehungsweise der Determination und des Zufalls ermöglichen dem Subjekt dann die Erfahrung „wahre[r] Freiheit“ (V, 618), welche überdies einhergeht mit einem spezifischen Zeiterleben: „Hier allein fühlen wir uns aus der Zeit gerissen; und unsre Menschheit äußert sich mit einer Reinheit und Integrität, als hätte sie von der Einwirkung äußrer Kräfte noch keinen Abbruch erfahren.“ (V, 637) Schiller etabliert hier also einen negativen Freiheitsbegriff. Das angenehme Freiheitsgefühl in der Anschauung des Schönen entsteht durch die gegenseitige Neutralisation zweier Formen auf den Menschen einwirkenden Zwangs, beziehungsweise der Ausblendung von Widerfahrnismomenten auf der einen und normativer Ordnung auf der anderen Seite.519

Diese im Kern von Schillers Ästhetik des Schönen verankerten Ausgleichstenden-

zen haben insbesondere bei Denkern der Kritischen Theorie zu einer weitreichenden Kritik des Autors geführt. Vor allem Theodor W. Adornos Sicht auf Schillers Schönheitsbegriff kann dabei als diskursbestimmend angesehen werden. Für Adorno liegt in der durch Harmonie bestimmten Weltferne des Schönen nicht nur eine affirmative Tendenz gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die dem Schiller’schen Schönheitskonzept eingeschriebene Differenz aus Leben und Kunst gerät für ihn gar zum Abbild des Totalitären. In der – Schillers Konzept des Schönen prägenden – Kombination aus subjektiven Wohlgefühl und kritikloser Distanz gegenüber den gesellschaftlichen Realitäten erblickt Adorno die Grundzüge eines strukturell gefühlsmonopolisierenden und damit autoritären Mechanismus.520 Ganz ähnlich argumentiert dann später auch Jürgen Habermas,521 sodass ein in der deutschen Literatur– und Geistesgeschichte wirkmächtiger Deutungsdiskurs entsteht, der Schiller implizit haftbar macht für eine Geisteshaltung mit verhängnisvoller Affinität zur autoritativen Gewalt.

519 Die in den Zufälligkeiten der äußeren und inneren Natur des Menschen enthaltene Kontingenz und die

in den Gesetzen der Gesellschaftsordnung liegende Ordnung finden sich interessanterweise in modularisierter Form in Schillers Konzeption des Schönen wieder. In der Maßgabe einer strikten Balance aus Geistes– und Begehrenskräften als Ermöglichungsbedingung der schönen Empfindung kann selbst wieder eine strenge Naturnorm gesehen werden. In der Unwahrscheinlichkeit, dass diese Balance realiter auch erreicht wird, beziehungsweise – sollte es dazu kommen – in der Fragilität ihres Zustandes liegt wiederum ein starkes Moment der Kontingenz. Die Ordnung des Schönen droht jederzeit zu brechen, beziehungsweise in Richtung einer ihrer beiden Konstituenten, des Rationalen beziehungsweise des Affektiven zu kippen. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine dialektische Figur, da gerade in der strengen BalanceAnforderung für das Zustandekommen der schönen Empfindung die Ursache für die hohe Prekarität – oder im Zeitverlauf betrachtet: Ephemerität – des Schönen liegt: Je strenger die Norm, desto unwahrscheinlicher ihre Persistenz. 520 Vgl. Hofmann, Wirkungsgeschichte 2005, S. 579–580. 521 Vgl. Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne 1998, S. 153–154.





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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ... Zuzustimmen ist dieser Beschreibung in der Hinsicht, als dass das Schöne bei

Schiller tatsächlich eine kontingenzreduzierende beziehungsweise kontingenzverschleiernde Funktion hat, in deren Zentrum die Harmonisierung der Gefühlswelt des Rezipienten und damit die Abwendung des Blicks von gesellschaftlichen Defizienzen steht. Dass das Schiller-Bild der Kritischen Theorie dennoch fehl geht, liegt vor allem daran, dass es – wie Carsten Zelle belegt – Schiller einseitig zu einem Theoretiker des Schönen reduziert und ausblendet, dass dieser sein Programm ästhetischer Erziehung gleichermaßen auch auf das Erhabene gründet, welches gegenläufig zum Schönen gerade die Brüche und Diskrepanzen zwischen der subjektiven Verfasstheit der Individuen und den sie umgebenden gesellschaftlichen Realitäten herausstellt.522 Schiller selbst hat aus dem Register des Erhabenen heraus die problematische Diskrepanz zwischen subjektiver Harmonie und gesellschaftlicher Defizienz im Register des Schönen klar benannt: Also hinweg mit der falsch verstandenen Schonung und dem schlaffen, verzärtelten Geschmack, der über das ernste Angesicht der Notwendigkeit einen Schleier wirft und, um sich bei den Sinnen in Gunst zu setzen, eine Harmonie zwischen dem Wohlsein und dem Wohlverhalten lügt, wovon sich in der wirklichen Welt keine Spuren zeigen. [...] Das Schöne macht sich bloß verdient um den Menschen, das Erhabene um den reinen Dämon in ihm; und weil es einmal unsre Bestimmung ist, auch bei allen sinnlichen Schranken uns nach dem Gesetzbuch reiner Geister zu richten, so muß das Erhabene zu den Schönen hinzukommen, um die ästhetische Erziehung zu einem vollständigen Ganzen zu machen und die Empfindungsfähigkeit des menschlichen Herzens nach dem ganzen Umfang unserer Bestimmung, und also auch über die Sinnenwelt hinaus, zu erweitern. (V, 806)

In dieser Stelle aus der Abhandlung Über das Erhabene zeigt sich deutlich, dass Schiller die Ergänzung der Ästhetik des Schönen durch eine Ästhetik des Erhabenen gerade deshalb für zwingend erachtet, weil das Schöne über die ernste Realität „einen Schleier wirft“. Das sich im schönen Zustand einstellende Harmonieverhältnis „zwischen dem Wohlsein und dem Wohlverhalten“ wird gar mit dem scharfen Begriff der ‚Lüge’ versehen.523 Die Benennung der Diskrepanz zwischen Wohlgefühl und Verhalten belegt ferner Schillers Wissen darüber, dass die über das Schöne vermittelte Freiheitserfahrung

522 Vgl.

Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne 1998, S. 154 und Hofmann, Wirkungsgeschichte 2005, S. 580. Auf der anderen Seite gibt es auch gute Argumente dafür, Schillers Ästhetik des Schönen nicht generell als von Harmonie, Balance und Ausgleichstendenzen bestimmt zu rezipieren, sondern den Blick darauf zu lenken, dass diese durchaus auch von einer Rhetorik des Kampfes durchzogen ist. Vgl. Riecke- Niklewski, Die Metaphorik des Schönen 1986. 523 Auch an anderer Stelle in Über das Erhabene wertet Schiller die Harmonisierungstendenz des Schönen mit deutlichen Worten ab: „Das Erhabene verschafft uns also einen Ausgang aus der sinnlichen Welt, worin uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte. [...] [Es reißt] den selbstständigen Geist aus dem Netze los, womit die verfeinerte Sinnlichkeit ihn umstrickte [...] [und] wenn es ihr gelungen ist, sich in der verführerischen Hülle des geistig Schönen in den innersten Sitz der moralischen Gesetzgebung zu einzudrängen und dort die Heiligkeit der Maximen an ihrer Quelle zu vergiften, so ist oft eine einzige erhabene Rührung genug, dieses Gewebe des Betrugs zu zerreißen.“ (V, 799) Die Bevorzugung des Erhabenen vor dem Schönen findet sich indes schon bei Kant, der beim Vergleich des Erhabenen mit dem Schönen davon spricht, dass das Erhabene „eine bei weitem größere Kultur, nicht bloß der ästhetischen Urteilskraft, sondern auch der Erkenntnisvermögen, die ihr zum Grunde liegen“ aufweist. (KdU § 29, A 109).





3.1 Ästhetik und Kontingenz ...

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nur zu dem Preis handlungspraktischer Passivität erkauft werden kann. Das im Schönen erfahrene Freiheitsgefühl, an welches die Selbstwahrnehmung des Subjekts, ein ‚ganzer Mensch’ zu sein, gebunden ist, reicht dementsprechend auch für Schiller nicht aus. Als in die Welt eingebundenes Wesen bedarf der Mensch seiner Auffassung nach auch einer Entwicklung seines „inneren Dämons“, also derjenigen Kräfte, die sein aktives Eingreifen in die Umwelt beziehungsweise in die ihn umgebende Gesellschaft befördern. Schiller könnte hier gar nicht weiter entfernt sein von dem regressiven Schritt aus der Gesellschaft heraus in eine pseudo-harmonische ‚vita contemplativa’, den ihm Adorno und seine Nachfolger unterstellen.

Schillers Ästhetik des Erhabenen weist darüber hinaus auch – wie bereits ange-

deutet – einen im Vergleich zur Ästhetik des Schönen abweichenden Freiheitsbegriff auf. Das Gefühl des Erhabenen, welches durch einen „Widerstreit“ von „Einbildungskraft und Vernunft“ gekennzeichnet ist (KdU § 27, A 98), kommt nach schon nach Kant dadurch zustande, dass „die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt antun muß“ (KdU §29, A 114) und dadurch zur „Erweckung des Gefühls eines übersinnlichen Vermögens in uns“ (KdU § 25, A 84) beiträgt. Schiller fasst diesen Zusammenhang – mit Blick auf die von Kant als „dynamisch“524 bezeichnete Form des Erhabenen – in seiner Abhandlung Vom Erhabenen folgendermaßen zusammen: In der Vorstellung des Erhabenen unterscheiden wir dreierlei. Erstlich: einen Gegenstand der Natur als Macht: Zweitens: eine Beziehung dieser Macht auf unser physisches Widerstehungsvermögen: Drittens: eine Beziehung derselben auf unsre moralische Person. Das Erhabene ist also die Wirkung dreier aufeinanderfolgender Vorstellungen: 1. einer objektiven physischen Macht, 2. unsrer subjektiven physischen Ohnmacht, 3. unsrer subjektiven moralischen Übermacht“ (V, 503).

Die auf das Individuum einwirkenden physischen Zwänge ermöglichen demnach dem Subjekt, in sich eine bestimmte Art der Unabhängigkeit, „eine moralische Übermacht“, von diesen Zwängen aufzuspüren. Für das Feld der Kunst bedeutet dies, dass man – so Schiller in Über das Pathetische – „zur Darstellung der moralischen Freiheit nur durch die lebendigste Darstellung der leidenden Natur gelangt“ (V, 513). Das Gefühl des Erhabenen stellt sich konkret dadurch ein, dass der Mensch physisch überwältigt wird und sich dabei dennoch geistig von dieser Überwältigung distanzieren kann: „[W]ir fühlen uns frei beim Erhabenen, weil die sinnlichen Triebe auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluss haben, weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinen andern als seinen eigenen Gesetzen stünde.“ (V, 796) Ähnlich wie das Gefühl des Schönen vermittelt das Erhabene eine Wahrnehmung negativer Freiheit bzw. einer Unabhängigkeit von 524 Vgl. KdU § 24, A 78.





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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

Umweltgegebenheiten. Im Gegensatz zum Schönen handelt es sich dabei jedoch nicht um ein von den realen Gegebenheiten unabhängiges Gefühl. Statt dass sich wie beim Gefühl des Schönen eine trügerische, die gesellschaftlichen Realitäten ausblendende Harmonieempfindung, einstellt, macht das Erhabene die übersinnliche Seite des Menschen als anthropologische Realität überhaupt erst erfahrbar. Es fügt sich damit passgenauer in das Aufklärungsprogramm des 18. Jahrhunderts ein als sein ästhetisches Äquivalent des Schönen, da es Wirklichkeit eben auf- und nicht verdeckt. Interessant ist jedoch vor allem, dass die Erfahrung negativer Freiheit525 im Gefühl des Erhabenen zugleich auch auf ein Potential positiver Freiheit hinweist: auf eine dem Menschen zueigne Fähigkeit, sich geistig über die Zwänge der Natur und der gesellschaftlichen bzw. innerpsychischen Umwelt hinwegzusetzen. Die Zumutungen durch die Umwelt und das Leiden bzw. die subjektive Erfahrung der physischen Grenzen des Menschen werden somit im Prinzip des Erhabenen funktionalisiert, um dem Subjekt überhaupt erst Möglichkeiten aufzuzeigen, sich mittels der Vernunft über eben diese Schranken hinwegzusetzen. Das Konzept des Erhabenen und der darin eingeschlossene Freiheitsbegriff verweisen somit auch auf eine vom Konzept des Schönen zu unterscheidende Kontingenzauffassung. Ging es Schiller in seiner Theorie des Schönen noch um die Etablierung eines Weltverhältnisses, in dem Wiederfahrniskontingenz unter einen Latenzschutz gestellt und damit aus dem affektiven Erleben ausgeblendet wird, so erschließt seine Theorie des Erhabenen die Möglichkeit, die Widerfahrnisse des Lebens produktiv zu nutzen. Widerfahrniskontingenz wird hier nicht mehr bewältigt, verdrängt oder ausgeblendet, sondern stattdessen im Moment des Erhabenheitsempfindens in Gestaltbarkeitskontingenz transformiert.

Für die vorliegende Untersuchung ergibt sich damit, dass ein genauerer Blick auf

Schillers Theorie des Schönen zwar durchaus interessant sein könnte, da auch hier Kontingenzphänomene reflektiert werden, dass jedoch eine Analyse von Schillers Theorie 525 Eine Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit, also der Unabhängigkeit von beschränken-

den Einflüssen auf der einen und der Möglichkeit, aus eigenem Antrieb zu handeln, auf der anderen Seite war im 18. Jahrhundert bereits üblich. Dies zeigt sich etwa in dem Lemma ‚Freyheit’ in Zedlers Universallexicon, in dem es heißt, dass „[d]ieses Wort [Freiheit, M.K.] [...] gemeiniglich in zweyerley Verstande genommen“ wird. Entweder „ist es aller Hinderung und Beschraenckung entgegengesetzet“ oder aber es „gehet selbige nur den Menschen an“ und greife etwa dann, wenn dieser „nach eigenem Gefallen was vornehmen kann.“ (Zedler, Großes Universallexicon 1732-1754, Bd. 9, Sp. 1870–1871) Kant verwendet in der Kritik der praktischen Vernunft die Begriffe ‚negative Freiheit’ und ‚positive Freiheit’ zur Bezeichnung dieser beiden Sachverhalte: „Jene Unabhängigkeit [von Willkür, M.K.] aber ist Freyheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und als solchen praktischen Vernunft, ist Freyheit im positiven Verstande.“ (KprV, S. 59–59) Dass das Konzept negativer Freiheit Ende des 18. Jahrhunderts (und teils bis heute) dominiert, ist sicherlich auch auf Rousseaus zweiten Discours zurückzuführen.





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des Erhabenen aus verschiedenen Gründen für die hier verfolgte Fragestellung vielversprechender zu sein scheint. Dies gilt zunächst für das dynamischere Zeitregime des Erhabenen, Schiller spricht von einer „alles zerstörenden und wieder erschaffenden und wieder zerstörenden Veränderung“ (V, 806), in der sich das Erhabene spiegelt, wohingegen das Schöne als das „Beharrliche [im] Busen“ des Menschen (V, 806) in Erscheinung tritt. 526 Das Schöne mit seinem Potential als eine „Entschleunigungsinsel“527 gegen die um 1800 erfahrene „Gegenwartsschrumpfung“528 zu fungieren, kann zwar ‚das Andere’ der gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse zur Moderne repräsentieren, womit es sich wiederum – gleichsam dialektisch – an Beschreibungen dieser Prozesse heftet und selbst zu einem fundamentalen Bestandteil derselben wird. Auch kann man gegen Adorno und die kritische Theorie einwenden, dass die Konstruktion utopischer Szenarien und die praktische Erfahrung von Zuständen der Harmonie und des Ausgeglichen– Seins durchaus auch Veränderungspotentiale wecken und damit Rückkopplungen auf die gesellschaftlichen Realitäten evozieren können.529 Dennoch richtet sich der Fokus dieser Arbeit zunächst darauf, inwieweit Schillers Texte die gesellschaftlichen Transformationsprozesse seiner Zeit beschreiben, über welches Wissen sie hinschlich der Veränderungen verfügen, die sich um 1800 in den Europäischen Gesellschaften vollziehen, und inwieweit Schiller dieses Wissen implizit oder explizit in literarische und ästhetische Darstellungsformen überführt beziehungsweise inwieweit seine Texte ein solches Wissen abbilden oder verarbeiten. Derartige Fragestellungen lassen sich schon allein deswegen eher innerhalb einer Untersuchung der Schiller’schen Erhabenheitstheorie beantworten, da diese sich von ihrer Anlage her explizit mit den gesellschaftlichen Umständen befassen muss, die in ihr ja als Ursache für die Erfahrung moralischer Unabhängigkeit notwendigen Leidens vorausgesetzt werden. Hinzu kommt, dass sich in den 526 Die entsprechende Stelle bei Kant lautet: Das Gemüt fühlt sich in der Vorstellung des Erhabenen in der

Natur bewegt: da es in dem ästhetischen Urteile über das Schöne in ruhiger Kontemplation ist Diese Bewegung kann [...] mit einer Erschütterung verglichen werden, d.i. mit einem schnellwachsenden Abstoßen und Anziehen des jeweiligen Objekts“ (KdU § 27, A 97). 527 Vgl. zu dem Begriff Rosa, Beschleunigung 2005, S. 143–145 528 Vgl. zu dem ursprünglich von Hermann Lübbe geprägten Begriff ebenfalls Rosa, Beschleunigung 2005, S. 131–134. 529 So ähnlich – und damit gegen Adorno – argumentiert auch Peter André Alt: „Im Gegensatz zu den Restriktionen, Verwerfungen und Beschädigungen, denen das moderne Individuum im Vollzug seiner sozialen Rolle unterliegt, ermöglicht das Programm der ästhetischen Erziehung die Einübung von Freiheit jenseits der Zweckbindungen einer instrumentell gewordenen Vernunft.“ (Alt, Schiller Bd. II 2000, S. 128). Noch stärker als Alt betont Cornelia Zumbusch die Bedeutung des Begriffs der ‚Übung’ in diesem Zusammenhang: „Das Schlüsselwort, in dem [Schillers] Therapeutik jedoch ihre prophylaktische Zielsetzung behauptet, ist das der ‚Übung’.“ (Zumbusch, Immunität der Klassik 2011, S. 144). Über den Übungsbegriff, so Zumbusch, entgeht Schiller dem logischen Zirkel, sein Konzept des Schönen gleichzeitig einer Wiederherstellungslogik und einer Präventivlogik folgen zu lassen (vgl. ebd., S. 143–144).





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im Konzept des Erhabenen eingeschlossenen Ästhetiken des Bruchs, der Kollision und der Spannung deutliche Bezüge zu Schillers dramatischen Texte ausmachen lassen. Nicht zuletzt nähert sich Schiller der Kant’schen Theorie des Erhabenen zunächst mit zwei Abhandlungen an, deren Argumentation zuallererst um theoretische Fragen des Tragischen und der Tragöde kreist: den beiden Schriften Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen und Über die tragische Kunst. Tragödie und Erhabenheitskonzept lassen sich insbesondere aufgrund ihrer analogen Zeitregime übereinanderlegen, die in beiden Fällen auf der Kombination einer Handlungs- bzw. Ereignisfolge mit Momenten des Bruchs, der Hemmung beziehungsweise der Retardation beruhen. Die Nähe des Erhabenen zum Tragischen ist es dann auch, worüber ein Anschluss der Theorie des Erhabenen an Schillers frühere Texte hergestellt kann, welcher in dieser Form bei Schillers Theorie des Schönen – sieht man vom Motiv des (Glücks-)Spiels ab530 – nicht möglich ist. Gerade das Erhabene ist es also, worüber sich – wie es bei Peter André Alt heißt – Schillers „klassische[s] Werk [...] überraschend bruchlos an die Konstruktion der früheren Arbeiten an[schließt].“531 Diesen Zusammenhängen mit Blick auf die Dimensionierung von Kontingenz- und Zeitstrukturen nachzugehen, machen sich die folgenden Kapitel zur Aufgabe. Herangezogen werden sollen dabei insbesondere die Texte, in denen Schiller seine Theorie des Erhabenen maßgeblich entwickelt, also Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen, Über die tragische Kunst, Vom Erhabenen, Über das Pathetische, Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände und Über das Erhabene. Schillers Umkehr der Zweck-Mittel-Relation Schillers ästhetische Schriften der 1790er Jahre führen Überlegungen fort, die in Ansätzen bereits in den frühen poetologischen Texten Über das gegenwärtige deutsche Theater und Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? behandelt wurden. Schon diese beiden Texte aus den Jahren 1782 und 1784 versuchen ebenso wie Schillers spätere Schriften zur Ästhetik die Rolle der Kunst in der Gesellschaft genauer zu bestimmen. Dennoch beschreiben die ästhetischen und poetologischen Arbeiten nach 1790 dieses Verhältnis ausgehend von einem gänzlich anderen Beobachtungsstandpunkt als die beiden frühen Abhandlungen. In Über das gegenwärtige deutsche Theater

530 Vgl. Kapitel 1.1.2.

531 Alt, Schiller Bd. II 2000, S. 18.





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und in der Schaubühnenrede geht es Schiller noch vornehmlich um eine Positionierung in dem sich vor allem an Rousseaus Lettre à M. D’Alembert sur les spectacles aus dem Jahr 1756 entzündeten Diskurs über den gesellschaftlichen Nutzen des Theaters.532 Rousseau wendet sich mit seinem Brief bekanntlich primär gegen die Errichtung eines Stadttheaters in Genf, seiner Heimatstadt, und er tut dies, indem er dem Theater nicht nur eine generelle Nutzlosigkeit attestiert, sondern indem er ihm gar einen verderblichen Einfluss auf die Gesellschaft attestiert.533 Gegen Rousseaus Vorwürfe, das durch den Hedonismus der Schauspieler geprägte Theater führe zu einer moralischen Depravation bei den Zuschauern oder im besten Fall dazu, dass diese ihre Zeit unproduktiv verschwenden, positionieren sich in der Folge verschiedene Autoren und Denker, insbesondere auch Lessing, Sulzer und Mercier, die sich allesamt bemühen, den Wert des Theaters für eine wohlgeordnete Gesellschaft zu betonen.534 In seinen beiden frühen – von der Forschung als Einheit begriffenen535 – Diskursbeiträgen, dem Aufsatz Über das gegenwärtige deutsche Theater und der Schaubühnenrede, positioniert sich Schiller nicht auf einer der beiden Seiten des Diskurse. Stattdessen reproduziert er Rousseaus Theater- und Kulturkritik in Über das gegenwärtige deutsche Theater, bindet diese jedoch an die zeitgenössische Gegenwart, um dann in der Schaubühnenrede die Argumente der Gegner Rousseaus aufzugreifen und mit Blick auf ein noch nicht existierendes, zukünftig zu schaffendes Theater weiterzudenken.536 Inhaltlich versucht Schiller auf diese Weise die zunächst unvereinbar scheinenden Positionen Rousseaus und seiner Gegner in Einklang zu bringen, methodisch vollzieht er dies über die Technik der Verzeitlichung. Den sich widerstreitenden Argumenten werden mittels Temporalisierung von Komplexität unterschiedliche Geltungszeiträume zugewiesen, sodass ihre Stoßrichtungen aneinander vorbeigehen, was die Ermöglichung einer Koexistenz beider Positionen bewirkt. Wichtig für die Fragestellung dieser Untersuchung ist indes: Allen Auffassungen von Rousseaus Lettre à M. D’Alembert bis zu Schillers Schaubühnenrede ist gemein, dass sie die das Theater und implizit auch die Kunst im Generellen an den Leistungen messen, die sie für die Gesellschaft bereitzustellen vermögen. Theater und Kunst werden so in einen funktionalen Zusammenhang gestellt, in dem sie als Mittel für gesamtgesellschaftliche Zwecke fungieren. Zwar wendet sich Schiller in dem Aufsatz Über das gegen 532 Vgl. Koopmann, Schriften zum Theater, zur bildenden Kunst und Philosophie vor 1790 1998, S. 351.–352. 533 Vgl. ebd. 534 Vgl. ebd.

535 Vgl. ebd. und Zelle, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich leisten? 2005, S. 346 und 348. 536 Vgl. Zelle, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich leisten? 2005, S. 346–348.





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wärtige deutsche Theater explizit gegen das Konzept einer Umklammerung der Kunst durch die Moral, für das noch Lessing als Gewährsmann gelten kann und das als Kernbestandteil einer „aufklärerischen Wirkungspoetik“ darauf abzielt, Leidenschaften mittels Katharsis in Tugenden zu überführen.537 Schiller hat zwar gerade in seiner Schaubühnenrede die Etablierung von Theater und Kunst als gleichberechtigter Systeme neben Politik und Religion im Blick, Systeme, für die allesamt gilt, dass sie (wenngleich mit verschiedenen Mitteln) zu ähnlichen Wirkungen gelangen. Der gesamte Text der Rede Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? bemüht sich indes im Kern – wie schon sein Titel nahelegt – um eine Vermessung der Wirkungen des Theaters und damit auch von dessen Leistungen für die Gesellschaft als Ganzes. Die strenge Normativität der aufklärerischen Prätexte, die letztlich auf eine disziplinierende Kontrolle spezifischer Handlungen abzielt, wird lediglich ersetzt durch eine Beschreibung ästhetischer Leistungen, die insbesondere darin gesehen werden, dass die Bühne nützliche anthropologische Potentiale weckt und fördert: Auch wenn das Theater nicht mehr belehrend zur Tugend auffordere und vom Laster abschrecken soll, wie noch in der Frühaufklärung gefordert, kann die Schaubühne nach Schillers Ansicht dennoch eine Ausformung des Gefühls und des Bedürfnisses für moralisches Handeln bewirken. (vgl. V, 823) Auch präsentiere sie nicht nur nachahmenswerte Idealbeispiele guten und Negativexempel bösen Verhaltens (vgl. V, 824), sondern zeige auch die Komplexität sozialen und gemeinschaftlichen Handelns (vgl. V, 825), befördere die Fähigkeit des Individuums zur Selbstreflexion (vgl. V, 825–826) und helfe diesem, eine Fähigkeit zur Widerfahrnisbewältigung zu entwickeln (vgl. V, 827). Darüber hinaus vermittle die Bühne ein tiefes Wissen über Gesellschaften und Nationen, zeige so politische Handlungsmöglichkeiten auf (vgl. V, 828– 830) und bringe insgesamt den Menschen dazu, sich selbst näher zu kommen (V, 831). Auch wenn die binäre Normativität aus Affirmation und Sanktion hinsichtlich der Verhaltensbewertung beziehungsweise -kontrolle damit überschritten und der Blick auf die Ermöglichungspotentiale des Theaters gelenkt wird, bleibt Schillers Schaubühnenrede damit dennoch einer Perspektive verhaftet, deren Werturteil das Theater an seinen (möglichen) Leistungen für das Gesellschaftsganze misst.

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass Schillers ästhetische Texte der 1790er

Jahre, insbesondere diejenigen, die seiner Theorie des Erhabenen zuzurechnen sind, nun – angeregt durch Kants Kritik der Urteilskraft und Moritz’ Über die bildende Nachahmung 537 Ebd., S. 348.





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des Schönen – eine fundamentale Umkehr dieser Perspektive vollziehen. In seiner Theorie des Erhabenen fragt Schiller nicht mehr nach den Leistungen, welche die Kunst für andere gesellschaftliche Felder bereitzustellen vermag, sondern nach den Leistungen, welche diese anderen Felder für die Kunst erbringen können. Schiller denkt hier Moritz’ und Kants Konzept einer Kunstautonomie mit Blick auf theaterpraktische Problemstellungen konsequent weiter. Kants Diktum, dass ästhetische Urteile durch ein „Wohlgefallen“ begleitet werden, das „einzig und allein ein uninteressiertes und freies Wohlgefallen sei“ (KdU § 5, A 15), dass also die Essenz dessen, was die Kunst ausmacht, darin liegt, dass sie eben keine Leistungen für andere Systeme erbringt, hat Schiller bereits bei seiner kursorischen Erstlektüre der Kritik der Urteilkraft mit einem Notabenezeichen versehen.538 Schon in seiner frühesten Schrift nach der Kant-Lektüre, der Abhandlung Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, eignet sich Schiller die Kant’sche (und die Moritz’sche) Autonomieästhetik an. Die Künste, so schreibt Schiller schon zu Beginn dieser Abhandlung, müssten nicht, wie es so oft durch ihre scheinbaren Verteidiger geschehe, „gegen den allgemeinen Glauben [...], daß sie auf Vergnügen abzwecken, wie gegen einen herabgesetzten Vorwurf“ verteidigt werden (V, 358). Es sei vielmehr ihr „Vorzug [...], dasjenige zu leisten, was alle übrigen Richtungen und Tätigkeiten des menschlichen Geistes nur mittelbar erfüllen“ (V, 358), nämlich „Vergnügen auszuspenden und Glückliche zu machen“ (V, 358). Den anderen Teilsystemen der Gesellschaft haben die Künste in diesem Zusammenhang voraus, dass sie „allein [...] uns Genüsse [gewähren], die nicht erst abverdient werden dürfen, die kein Opfer kosten, die durch keine Reue erkauft werden.“ (V, 359) Daher gewährten sie vieles „[s]pielend [...], was ihre ernstern Schwestern uns erst mühsam erringen lassen“ (V, 359), wozu Schiller explizit auch die „Vergnügungen des Verstandes“ rechnet (V, 359).539 Schiller ist also zu 538 Vgl. Kulenkampff, Vollständiges Verzeichnis der Randbemerkungen 1974, S. 129.

539 Mit den „ernstern Schwestern“ referenziert Schiller die Schlusspassage der 1788 entstandenen Erst-

version seines Gedichts Die Götter Griechenlands. In dem Gedicht stellt er die spielerische Sinnlichkeit und Leichtigkeit der Kunst einer rational durchdrungenen Weltbetrachtung gegenüber. Hervorzuheben an der vorliegenden Textstelle ist jedoch vor allem, dass Schiller von „Vergnügungen des Verstandes“ spricht, um die Kunst gegenüber dem Vorwurf, ein bloß sinnliches Vergnügen hervorzurufen, zu immunisieren. Auch Verstandesleistungen können nach Schillers Auffassung also Lust hervorrufen, eine Annahme, die es ihm ermöglicht, die starre Dichotomie zwischen der rational-vernünftigen und der sinnlich-empirischen Seite des Menschen zu durchbrechen. Schiller greift häufig auf diesen Topos zurück; ein weiteres Beispiel aus der Abhandlung Über die tragische Kunst sei hier angeführt: „Wie kennen [...] zweierlei Quellen des Vergnügens, die Erfüllung des Glückseligkeitstriebes und die Erfüllung moralischer Gesetze“ (V, 375). Die Annahme, dass moralisches Verhalten oder rationale Erkenntnisleistungen affektiv angenehme Konsequenzen zeitigen, ist vor allem durch den Schiller bereits in seiner Karlsschulzeit rezipierten Moses Mendelssohn in den deutschen Diskurs eingeführt worden. (Vgl. Zelle, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen 2005, S. 367 und Alt, Schiller Bd. II, 2000, S. 106). Auch fügt sich die ‚Lust am Guten und Vollkommenen’ passgenau in die bereits für den jungen Schiller wichtige sensualistische Theorie





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nächst daran gelegen, die Kunst als ein Feld mit einer inkommensurablen Eigenlogik zu definieren. Die Kunst – und nur sie – könne unmittelbares geistiges Vergnügen hervorrufen, wodurch sie sich von anderen Feldern wie der Moral oder der Wissenschaft unterscheidet. Diese Eigenlogik verleiht der Kunst dann Selbstzweckcharakter, macht sie autonom von der Forderung, sie müsse Leistungen für Wissenschaft oder Moral bereitstellen. Karl Philipp Moritz hat diesen Gedanken 1788 und damit bereits zwei Jahre vor dem Erscheinen von Kants Kritik der Urteilskraft und drei Jahre vor Schillers Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen als erstes – und auch am deutlichsten – formuliert: „Wir können also das Schöne im Allgemeinen auf keine andre Weise erkennen, als in so fern wir es dem Nützlichen entgegenstellen, und es davon so scharf wie möglich unterscheiden.“540 Das Schöne – hier nicht als Komplement zum Erhabenen, sondern als Synonym für die Kunst im Allgemeinen zu lesen – tritt erst da in Erscheinung, wo nicht nach seiner Leistung für andere Teilsysteme der Gesellschaft gefragt wird. Dennoch – und dies wird für Schillers Theoriebildung wichtig – kann für Moritz die Kunst als unintendierte, kontingente Nebenfolge dennoch Nutzen stiften. Zwar „muß das Nützliche offenbar an dem Schönen als überflüssig, und wenn es sich daran befindet, doch als zufällig, und als nicht dazu gehörig betrachtet werden.“541 Nützlichkeit ist also für Moritz keine Seinsbedingung des Schönen, kann aber durchaus mit dem Schönen zufällig einhergehen, sich gleichsam ungeplant an dieses heften. Dass Moritz sich anders als Kant auch mit solchen Koinzidenzen des Schönen und des Nützlichen befasst, liegt in der unterschiedlichen Perspektive beider Ästhetiker. Während bei Kant eine „Konzentration der Ästhetik auf die Kunstbeurteilung gegenüber der Kunstschöpfung“542 stattfindet, denkt Moritz’ das Schöne produktionsästhetisch vom Schaffensprozess des Genies her. Weil für Kant also der ästhetische Gegenstand – das gilt für den schönen wie auch für den erhabenen Gegenstand gleichermaßen543 – keine Rolle spielt, sondern nur dessen Wirkungen im Bewusstsein des Betrachters, interessiert er sich auch nicht für die Beschaffenheit des diese Wirkungen auslösenden Gegenstandes. Diese wird dement Fergusons und Hutchinsons ein, nach der es einen emotionalen Weg zum Moralischen gibt, der einer rational fundierten Normativität gleichgestellt werden müsse. (Alt, Schiller Bd. II, 2000, S. 106). Indem Schiller nun die Kunst eben an jene Scharnierstelle zwischen Vergnügen und Moral bzw. Erkenntnis setzt, verleiht er dieser eine fundamentale Bedeutung für menschliches Denken und Handeln im Allgemeinen. 540 Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen 1788, S. 11. 541 Ebd. 542 Irrlitz, Kant–Handbuch 2015, S. 384. 543 Kant betont dies mehrfach. Exemplarisch sei hier eine Stelle aus der ‚Analytik des Erhabenen’ angeführt: „Man sieht hieraus auch, daß die wahre Erhabenheit nur im Gemüte des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte, dessen Beurteilung diese Stimmung desselben veranlaßt, müsse gesucht werden.“ (KdU, § 23, A 94).





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sprechend in der Kritik der Urteilskraft auch nicht näher erörtert. Moritz muss hingegen in seiner produktionsästhetischen Sichtweise auch solche Kunstwerke, bei deren Erschaffung der Künstler keinen anderen Zweck verfolgt, als den, ein reines Kunstwerk zu schaffen, die dann aber im kulturellen Gebrauch doch funktionalisiert werden, vor dem Verlust ihres ästhetischen Status bewahren. Indem er dem Kunstwerk zugesteht, nützliche Nebeneffekte zu zeitigen, befreit Moritz den Künstler aus der Verantwortung für das, was mit seinem Kunstwerk nach dem Moment der Erschaffung geschieht: „Eine Sache wird nehmlich dadurch noch nicht schön, daß sie nicht nützlich ist, sondern dadurch, dass sie nicht nützlich zu sein braucht.“544

An exakt diesem Punkt setzt nun Schiller mit seiner Theorie des Erhabenen ein.

Von Kant und Moritz übernimmt er den Gedanken einer Eigenlogik der Kunst, anders als diese begnügt er sich jedoch nicht mit einer Beschreibung dessen, was als Ästhetik gelten kann. Viel stärker als der sich lediglich für den Kunstbetrachter interessierende Kant, aber auch als der die Schaffung von Kunstwerken in die Naturnähe des Genies und damit ins Unbeschreibbare, absolut Kontingente verlagernde Moritz,545 versucht Schiller – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – eine Ästhetik zu etablieren, welche dezidierter nach den Mitteln und Inhalten fragt, auf die der Künstler bei der Schaffung ästhetischer Werke zurückgreifen kann.546 Diese Mittel findet er nicht zuletzt in der Moral und der Geschichte. Gerade die Moral wird damit aus der hegemonialen Stellung, die sie in der Aufklärungsästhetik zu großen Teilen hatte, verdrängt. Nicht die Ästhetik bringt nun Leistungen für die Moral, sondern die Moral – Gleiches gilt analog auch für die Geschichte – wird zum Mittel des Ästhetischen und erbringt ihrerseits Leistungen für die Kunst. Eben derartige komplex strukturierte Zusammenhänge zwischen dem moralischen und ästhetischen Feld, wie die Umkehrung der Zweck-Mittel-Relation zwischen beiden Feldern, sind es, aus denen – wie noch genauer zu zeigen sein wird – sich die Anreicherung

544 Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen 1788, S. 11. 545 Neben der Maßgabe, dass der Künstler sich im Schaffensprozess nicht in den Dienst anderer gesell-

schaftlicher Teilsysteme wie etwa der Moral stellen dürfe, sondern Kunst als Selbstzweck schaffen müsse, fokussiert Moritz’ Ästhetik den Moment des Schaffens von Kunstwerken. In der „thätigen Kraft“ des Genies läge der reinste – nur vom Künstler zu empfindende – Genuss des Ästhetischen: „So bleibt der einzige, höchste Genuß desselben immer dem schaffenden Genie, das es hervorbringt selber; und das Schöne hat daher seinen höchsten Zweck in seiner Entstehung, in seinem Werden schon erreicht: unser Nachgenuß desselben ist nur eine Folge seines Daseins.“ Alle Ermöglichungsbedingungen dieses Schaffensaktes verlagert Moritz ins Ungefähre, sie sind für die philosophische Beschreibung nicht zugänglich, selbst dem Genie trete das Schöne nur „in dunkler Ahnung, auf einmal vor die Seele.“ (Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen 1788, S. 19). Dementsprechend kann sich in seiner Abhandlung auch keine Reflexion der Grundlagen bzw. Mittel künstlerischen Schaffens finden. 546 Wolfgang Riedel weist darauf hin, dass sich Schillers Anspruch, das Konzept des Erhabenen für die poetische Praxis fruchtbar zu machen, schon in der begrifflichen Neubildung des „Pathetisch-Erhabenen“ manifestiert. Vgl. Riedel, „Weltgeschichte, ein erhabenes Object“ 2002, S. 196.





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seiner ästhetischen Theorie mit Kontingenzphänomenen speist. Oder anders gesagt: Die Umkehrung der Zweck-Mittel-Relation wird zur Ermöglichungsbedingung einer Ästhetik der Kontingenz. Das Ästhetische als Möglichkeitsform Die in Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen getroffene Annahme Schillers, dass viele Gelehrte es „widersprechend“ fänden, dass die Kunst ihre moralische Wirkung „nur beiläufig“ erzielt und „einen gemeinen Zweck, wie man sich das Vergnügen denkt, zu ihrem letzten Augenmerk haben sollte“ (V, 359), ist noch als direkte Aneignung von Moritz’ ästhetischem Konzept zu lesen. Schiller führt jedoch – in der Diktion Kants, aber mit inhaltlicher Differenz zu dessen Kritik der Urteilskraft – fort, dass ein freies Vergnügen, so wie die Kunst es hervorbringt, durchaus auf moralischen Bedingungen beruhe [...] [und], daß die Hervorbringung dieses Vergnügens ein Zweck sei, der schlechterdings nur durch moralische Mittel erreicht werden könne, dass also die Kunst, um das Vergnügen als ihren wahren Zweck vollkommen zu erreichen, durch die Moralität ihren Weg nehmen müsse. (V, 359)

Schiller unterscheidet hier also den eigentlichen Zweck der Kunst, den er in der Hervorbringung von Vergnügen sieht, von den diesen Zweck befördernden Mitteln, die seiner Auffassung nach insbesondere im Bereich des Moralischen liegen müssen. Carsten Zelle spricht in Bezug auf diese Zweck–Mittel–Relation, mit der Schiller der Kunst den Rückgriff auf moralische Inhalte genehmigen möchte, ohne jedoch die Forderung nach Kunstautonomie zu verletzen, von einer „vertrackten Dialektik“547 . Diese wird von Schiller noch verstärkt, indem er der Kunst nicht nur moralische Mittel zugesteht, sondern, wie schon Moritz, sogar darauf hinweist, dass die Kunst – wenngleich nur unintendiert und mittelbar – eine moralisch förderliche Wirkung auf die Gesellschaft hervorrufen könne: Ebenso wie ein vergnügter Geist das gewisse Los eines sittlich vortrefflichen Menschen ist, so ist die sittliche Vortrefflichkeit gern die Begleiterin eines vergnügten Gemüts. Die Kunst wirkt also nicht deswegen allein sittlich, weil sie durch sittliche Mittel ergötzt, sondern auch deswegen, weil das Vergnügen selbst, das die Kunst gewährt, ein Mittel zur Sittlichkeit wird. (V, 360)

Die Kunst greift also zum einen selektiv auf moralische Inhalte zurück, zeitigt zum anderen aber – wennauch unintendiert – moralische Wirkungen. Mit dieser Kausalkette etabliert Schiller erneut eine Denkfigur der Steigerung beziehungsweise – berücksichtigt man die Zeitkomponente – der Beschleunigung. Die Wirkungen des ästhetischen Prozesses wirken selbst auf die Mittel desselben Prozesses zurück und befördern somit die

547 Zelle, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen 2005, S. 368.





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Erzeugung gleicher Wirkungen, die wiederum als Mittel dienen können usw. Es zeichnet sich somit eine Dynamik ab, in der die ästhetische Verfeinerung des Menschen mit einer Steigerung des gesellschaftlichen Fortschrittstempos verzahnt wird. Mit dem Gedanken der Kunstautonomie – hier eingefügt durch Hervorhebung des durch die Kunst hervorzurufenden „Vergnügens“ – wird jedoch ein Moment des Unkontrollierbaren, Fragilen und Kontingenten in diese Fortschrittsutopie integriert, das den gesamten Prozess offen hält für Gegentendenzen, Relativierungen und Skepsis. Gerade daher betont Schiller auch nochmals, dass die Kunst, wenn ihr „Zweck selbst moralisch [ist], das [verliert], wodurch sie allein mächtig ist, ihre Freiheit und das, wodurch sie so allgemein wirksam ist, ihr Vergnügen.“ (V, 360) Die sich aufdrängende Frage, wie genau Kunstautonomie und strukturelle Kopplung zwischen Ästhetik und Moral zusammengehen, wird in der Abhandlung Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen nicht mehr eingängig diskutiert. Schiller scheint sich zu diesem Zeitpunkt noch mit der an Moritz angelehnten Auffassung zu begnügen, die eine dominante Eigenlogik der Kunst setzt, welche ihrerseits jedoch nicht dadurch infrage gestellt wird, dass die Kunst, ohne dass ihr diese Absicht substantiell eingeschrieben sei, auch moralische und gesellschaftliche Wirkungen erzielt. Über Moritz hinaus geht Schiller mit der Auffassung, dass die Kunst ihren Charakter auch dadurch nicht verliert, dass sie auf Inhalte der anderen gesellschaftlichen Teilsysteme zurückgreift, die sie zu Mitteln ihres ästhetischen Zwecks macht. Eben hierin liegt, wie oben beschrieben, die wesentliche Umkehr der in Schillers frühen Texten bestimmenden Perspektive auf die Kunst und das Theater. Die entscheidende Frage nach den Vereinbarkeitsbedingungen von Kunstautonomie und Kopplung mit anderen Feldern bleibt jedoch auch weiterhin ein zentraler Bestandteil von Schillers weiterführenden theoretischen Überlegungen zum Erhabenen. Am intensivsten diskutiert Schiller die Systemdifferenz aus Ästhetik und Moral in der Abhandlung Über das Pathetische. Schon zu Beginn der für diesen Zusammenhang einschlägigen Passage dieses Textes macht Schiller deutlich, dass für ihn die Systemdifferenz aus Kunst und Moral durch zwei Beobachtungsmodi zustande kommt, indem er – hier bezogen auf das Erhabene – zwischen einer „ästhetischen Schätzung“ (V, 528) und einer „moralischen Schätzung“ (ebd.) von Objekten unterscheidet. Schon damit ist impliziert, dass ein und dasselbe Objekt sowohl dem moralischen als auch dem ästhetischen System zurechnet werden kann und dass die entsprechende Zurechnung abhängig von der Perspektive des Beobachters auf das Objekt erfolgt. Dies bedeutet dann logischer



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weise, dass man, um die Systemgrenzen bestimmen zu können, genauer nach den Beobachtungsdifferenzen fragen muss. Schiller legt in diesem Sinne zunächst dar, dass bei der Unterscheidung zwischen einer moralischen und einer ästhetischen Perspektive die kontingenztheoretisch bedeutsame Differenz von Möglichkeit/Wirklichkeit maßgeblich wird: Es ist etwas ganz anders, ob wir bei unserm Urteil auf das moralische Vermögen überhaupt und auf die Möglichkeit einer absoluten Freiheit des Willens, oder ob wir auf den Gebrauch dieses Vermögens und auf die Wirklichkeit dieser absoluten Freiheit des Willens unser Augenmerk richten. Es ist etwas ganz anders, sage ich, und diese Verschiedenheit liegt nicht etwa nur in den beurteilten Gegenständen, sondern sie liegt in der verschiedenen Betrachtungsweise. (V, 528)

Schiller setzt hier eine rezeptionsästhetische Herangehensweise dominant, in der die „Betrachtungsweise“ der Urteilenden die Zugehörigkeit eines Gegenstandes zum moralischen beziehungsweise zum ästhetischen Feld definiert. Nicht unterschlagen werden darf jedoch, dass Schiller mit der Fokuspartikel „nur“ anzeigt, dass er – im Gegensatz zu Kant – in seine Ästhetik auch die Beschaffenheit der wahrgenommenen Objekte miteinzuschließen gedenkt. Die Perspektivendifferenz in der Beurteilung eines Gegenstandes als moralisch oder als ästhetisch wird in der Folge noch weiter ausgeführt und mit anthropologischem Wissen unterlegt. So parallelisiert Schiller die im 18. Jahrhundert gängige Auffassung von der Aufteilung des menschlichen „Wesen[s] in zwei Prinzipien oder Naturen“ mit einer Aufteilung der „Gefühle in zweierlei ganz verschiedene Geschlechter“, wobei er ein bestimmtes Gefühl mit dem Moralischen und ein davon zu unterscheidendes Gefühl mit dem Ästhetischen verbindet: Als Vernunftwesen empfinden wir Beifall oder Mißbilligung; als Sinnenwesen empfinden wir Lust oder Unlust. Beide Gefühle, des Beifalls und der Lust, gründen sich auf eine Befriedigung: jenes auf die Befriedigung eines Anspruchs: denn die Vernunft fodert bloß, aber bedarf nicht; dieses auf Befriedigung eines Anliegens: denn der Sinn bedarf bloß, und kann nicht fodern. (V, 529)

Zunächst wirkten die Differenzen aus Beifall und Missbilligung sowie aus Lust und Unlust als Äquivalente. Doch schon die Auffassung, dass der Mensch als „Vernunftwesen“ Beifall empfinden kann, wenn er normativ adäquates Verhalten beobachtet, wohingegen er als „Sinnenwesen“, Lust empfindet, wenn die Umwelt ihm Sinneseindrücke bietet, die seinen Bedürfnissen entsprechen, ist geeignet, einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Moralischen und dem Ästhetischen sichtbar werden zu lassen. Dieser liegt nun darin, dass die moralische Perspektive klare Vorgaben an ihre Umwelt stellt, wo die ästhetische Perspektive durch eine Offenheit gegenüber Lust hervorrufenden Einflüssen gekennzeichnet ist. Schiller betont hier zwar, dass es dem Menschen aufgrund der ihm eigenen Willensfreiheit auch gegeben ist, normverletzend zu handeln. Er spricht daher



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davon, dass „es (physisch) zufällig [ist], ob wir [...] wirklich“ die an uns gerichteten normativen Ansprüche erfüllen und dem moralischen Imperativ entsprechend handeln. (V, 529)548 Auf der anderen Seite verweist er aber auch auf eine besondere Rolle des Zufalls in der ästhetischen Betrachtungsweise: „Bei der ästhetischen Schätzung hingegen wird der Gegenstand auf das Bedürfnis der Einbildungskraft bezogen, welche nicht gebieten, bloß verlangen kann, dass das Zufällige mit ihrem Interesse übereinstimme.“ (V, 530) Im Grunde wendet Schiller hier den Zufallsbegriff auf zwei voneinander zu unterscheidende Kontingenzformen an. Im ersten Fall bezeichnet er mit diesem die Möglichkeit, entweder normkonform oder normverletzend zu handeln. Im zweiten Fall beschreibt er die Offenheit des ästhetischen Weltverhältnisses für „das Zufällige“. Während also die moralische Perspektive die Umwelt über ein binäres Schema strukturiert, in dem alles Handeln danach selegiert wird, ob es dem „Imperativ“ (V, 529) der Normerfüllung entspricht oder nicht, ist die ästhetische Perspektive offen für multiple Informationen aus der Umwelt. Die moralische Perspektive bindet den Zufall somit an das Verhalten von Personen und damit an einen anderen Punkt als die ästhetische Perspektive, die den Zufall zunächst im Bereich der Systemumwelt des Ästhetischen verortet. Schiller legt hier offen, dass sich Moral und Ästhetik in ihren Funktionsweisen substantiell unterscheiden, indem die erste auf Verhaltensregulierung, die zweite jedoch auf Weltwahrnehmung basiert. Darüber hinaus sind beide Felder durch ein unterschiedliches Ausmaß von Kontingenz gekennzeichnet: Der die Moral bestimmenden Binariät aus ‚gut’ und ‚schlecht’ beziehungsweise ‚richtig’ und ‚falsch’ steht im ästhetischen Feld eine hohe Varianz ästhetisch verarbeitbarer Umwelterscheinungen entgegen. Hier zeigt sich die schon in der Geschichte der Niederlande deutlich gewordene Auffassung vom Zufall (bzw. der Kontingenz) als eines graduellen Begriffs, der offenbart, dass Schiller im Allgemeinen davon ausgeht, dass etwas mehr oder weniger zufällig (bzw. kontingent) sein kann.549 Im Besonderen stellt er heraus, dass die Ästhetik es mit einem weitaus höheren Ausmaß an Kontingenz zu tun hat als die Moral: 548 Mit dieser Aussage wechselt Schiller von einer individualpsychologischen auf eine soziale Ebene. Der

Wechsel der Ebenen führt interessanterweise zur Verflüssigung von Ordnung in Kontingenz. Was für den Einzelnen als Notwendigkeit erscheint, gegen welche er höchstens unter Inkaufnahme sozialer Sanktionierung verstoßen könnte, stellt sich in einer Beobachtung höherer Ordnung als zufällige Übereinstimmung seines individuellen Verhaltens mit den gesellschaftlichen Normen dar. 549 Schiller verwendet die Komparativform auch in seinem Text. In der bereits angeführten Metaperspektive auf moralisches Verhalten, erhalte die – sich in der Individualperspektive wohlgemerkt als Notwendigkeit darstellende – „Übereinstimmung des Zufalls im Gebrauche der Freiheit mit dem Imperativ der Vernunft Billigung oder Beifall, und zwar in desto höherem Grade, als der Widerstand der Neigungen diesen Gebrauch zufälliger und zweifelhafter machte.“ (V, 529–530)





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Beurteilt also der moralische Sinn – die Vernunft – eine tugendhafte Handlung, so ist Billigung das Höchste, was erfolgen kann; weil die Vernunft nie mehr und selten nur soviel finden kann, als sie fodert. Beurteilt hingegen der ästhetische Sinn, die Einbildungskraft, die nämliche Handlung, so erfolgt eine positive Lust, weil die Einbildungskraft niemals Einstimmigkeit mit ihrem Bedürfnisse fodern kann und sich also von der wirklichen Befriedigung desselben, als von einem glücklichen Zufall überrascht finden muß. (V, 530–531)

Deutlich werden hier die Grenzen der moralischen Betrachtungsweise herausgestellt, die sich auch in einer gegenüber der Offenheit der ästhetischen Perspektive nivellierten Affektivität widerspiegelt: Wo die Moral höchstens „Billigung“ hervorrufen kann, hat die Kunst das Potential, den Betrachter „positive Lust“ empfinden zu lassen. Dass Schiller von einer Autonomie der Kunst ausgeht, gleichzeitig aber die Umwelt des ästhetischen Systems als „das Zufällige“ setzt und dem Input von ästhetisch verarbeitbaren Informationen in das Kunstsystem einen unwahrscheinlichen Charakter verleiht, diesen zum „glücklichen Zufall“ macht, der „überrascht“ und genau dadurch auch geeignet ist, Lust beim Betrachter auszulösen, ist nur eine scheinbare Aporie. Im Kern beschreibt Schiller eben das, was Niklas Luhmann als Informationsgewinnung selbstreferenzieller Systeme bezeichnet. Nach Luhmann gilt nämlich, dass [s]elbstreferentiellen Systemen [...] eine Außeneinwirkung als Bestimmung zur Selbstbestimmung und damit als Information [erscheint], die den inneren Kontext der Selbstbestimmung verändert, ohne die Strukturgesetzlichkeit zu beseitigen, daß das System alles, was daraus folgt mit sich selbst aushandeln muß.550

Die der Kunst durch die Umwelt zugespielten „Zufälle“ sind auch für Schiller durch die Kunst selbst nicht kontrollierbar, aber bei Eintreten als Informationen ästhetisch(!) verarbeitbar, sodass die Kunst ihre Autonomie beziehungsweise ihre Eigenlogik erhält und dennoch offen für Umwelteinflüsse ist, etwa in der Form moralischer oder historischer Inhalte, aber auch für die aus der Phantasie des Künstlers entstammenden Vorstellungen und Ideen. Luhmann betont darüber hinaus, dass Systeme dazu tendieren, ihre Eigenstrukturen dahingehend umzuformen, dass diese mit der Art und der Quantität des Informationsinputs aus der Umwelt korrespondieren, sich dieser in gewisser Weise anpassen. „Anpassung“, so Luhmann, beschreibt wiederum, „daß eine turbulente, sich häufig und unübersehbar ändernde Umwelt höhere Anpassungsleistungen des Systems, also höhere strukturelle Flexibilität erfordere.“551 Eben dies leistet das ästhetische System, wie Schiller es im Sinn hat, mittels seines (oben beschriebenen) Möglichkeitsmodus.552

550 Luhmann, Soziale Systeme 1984, S. 103. 551 Ebd., S. 477. 552 Darüber erklärt sich auch die scheinbar paradoxe Tatsache, dass die Kunst auch dann, wenn sie einem

autonomieästhetischen Programm folgt, die sie umgebende Gesellschaft abbilden kann. Das Kunstsystem ko-evolviert eben strukturell mit dem Gesellschaftssystem als Ganzem, selegiert die Informationen aus der es umgebenden gesellschaftlichen Umwelt aber strikt autonom nach seinen eigenen Kriterien. Dies wird im Folgenden (im Haupttext dieser Arbeit) auch noch deutlicher herausgestellt werden.





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Über das Pathetische kommt daher auch im Anschluss an die Beschreibung der „turbulenten Umwelt“ des ästhetischen Systems noch einmal mittels eines Beispiels auf diesen Zusammenhang zurück. So betont Schiller, dass Leonidas, der Kriegskönig der Spartaner, der sich bei Thermopylä mit einer kleinen Schar Krieger opferte, um den Einmarsch der persischen Streitkräfte nach Griechenland zu verzögern, sowohl in moralischer als auch in ästhetischer Perspektive beurteilt werden kann: „Daß Leonidas die heldenmütige Entschließung wirklich faßte, billigen wir, daß er sie fassen konnte, darüber frohlocken wir und sind entzückt.“ (V, 531) Auch auf den darauf folgenden Seiten versucht Schiller den Möglichkeitsmodus des Ästhetischen mit immer neuen Beispielen und Beschreibungen herauszustellen und vom Moralischen oder Historischen abzugrenzen. Über das Prinzip des Erhabenen lasse sich – so Schiller – etwa zeigen, dass Moral und Ästhetik sich auf unterschiedliche Weise von einer rein triebhaften Sinnlichkeit abheben: Dort [im Moralischen, M.K.] stellen wir das sinnlich beschränkte Individuum und den pathologisch affizierbaren Willen dem absoluten Willensgesetz und der unendlichen Geisterpflicht, hier [im Ästhetischen, M.K.] hingegen stellen wir das absolute Willensvermögen und die unendliche Geistergewalt dem Zwange der Natur und den Schranken der Sinnlichkeit gegenüber. (V, 531)

Während es im Konflikt zwischen Natur und Moral zu einer Kollision aus „Naturzwang“ und „Willensgesetz“ und damit aus zwei Ordnungsstrukturen kommt, begegnet die Ästhetik diesem Naturzwang mit einem „Vermögen“, einem Potential, wodurch der Beobachter, statt einer Limitation seiner Handlungsmöglichkeiten, Selbstwirksamkeitserfahrungen machen könne: Dies habe zur Folge, dass „uns das ästhetische Urteil frei[lässt] und erhebt und begeistert“, was allein „schon durch das bloße Vermögen, absolut zu wollen, schon durch die bloße Anlage zur Moralität“ zustande käme beziehungsweise „durch die bloße Möglichkeit, uns vom Zwange der Natur loszusagen“ (V, 532–533). Es sei daher „kein Wunder also, wenn wir uns bei ästhetischen Urteilen erweitert, bei moralischen hingegen eingeengt und gebunden fühlen.“ (V, 532)

In Schillers ästhetischem System laufen damit zwei typische Formen der Kontin-

genz zusammen, welche sich über die Differenzen Wirklichkeit/Möglichkeit und Invarianz/Varianz beschreiben lassen. Die Öffnung der Ästhetik für Leistungen bzw. für den Informationsinput aus anderen Systemen, insbesondre aus der Moral und der Geschichte, geht einher mit einer erhöhten strukturellen Flexibilität des ästhetischen Systems, die darin besteht, dass es diesem gar nicht um konkrete Wirklichkeitsbeschreibungen, sondern vielmehr um die vielfachen Möglichkeitsformen beziehungsweise Varianten des Wirklichen geht.



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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ... Und bemerkenswert ist auch, dass Schiller diese Offenheit und Differenziertheit

des ästhetischen Systems in einen Zusammenhang mit der Vorstellung einer isomorphen Verfasstheit der Gesellschaft bringt: Im Ästhetischen „schwingen wir uns von dem Wirklichen zu dem Möglichen und von dem Individuum zur Gattung empor“ (V, 532). Die Parallelisierung des Möglichen und der Gattung verweist darauf, dass die in der Ästhetik eingeschlossene Kontingenz auch für Schiller ihr Doppel in einer sich ausdifferenzierenden und turbulenten, von Kontingenzerfahrungen bestimmten Gesellschaft findet. Die Kunst ist in dieser Logik dasjenige Teilsystem, in dem die Gesellschaft ihr strukturähnliches bzw. isomorphes Abbild findet. Diese Vorstellung, dass die Kunst die Gesellschaft als Ganzes, ähnlich wie Leibniz’ Monaden ihre Umgebung, abbildet, ist schon bei Moritz’ detailliert ausgearbeitet,553 findet sich aber – bezogen auf das Dramatische – etwa auch bei Lessing.554 In Anbetracht dieser Vorstellung einer Parallelstruktur bzw. Koevolution des Kunstsystems und der Gesellschaft ist es wenig verwunderlich, dass Ästhetiker wie Schiller Wesensmerkmale der dynamischen Transformationsprozesse, die sich um 1800 in den europäischen Gesellschaften vollziehen, aufgreifen und in Form von Strukturen der Kontingenz, der Offenheit oder der Anpassungsfähigkeit auch in ihre Kunsttheorien integrieren. Mittelbarkeit der Ästhetik Schillers Umbau seines ästhetischen Programms führt stellenweise zu einer Reformulierung einiger gängiger Positionen des Aufklärungsdiskurses. So verabschiedet er sich mit seiner Theorie des Erhabenen auf den ersten Blick von der wirkmächtigen und auch auf die Kunst ausgedehnten Forderung Rousseaus nach Authentizität und Unmittelbarkeit. Rousseau wertet in seinem ersten Discours bekanntlich die Künste und Wissenschaften generell als Symptome eines zivilisatorischen Verfalls, da sie eben keine unmittelbaren Lebenserfahrungen, sondern nur mittelbare Abbildungen derselben vornehmen könnten. Die Kunsttheorie der Spätaufklärung reagiert darauf mit genieästhetischen Konzep

553 Die Vorstellung von einer Ähnlichkeitsstruktur zwischen dem Kunstwerk und dem Naturganzen (wo-

rin man ohne weiteres auch das Gesellschaftsganze einschließen kann) durchzieht Moritz’ Ästhetik förmlich. Beispielhaft sei hier auf die Moritz’ Postulat verwiesen, dass die das Kunstwerk in die Welt setzende Tatkraft „alle jene Verhältnisse des großen Ganzen, und in ihnen das höchste Schöne, wie an den Spitzen feiner Strahlen, in einem Brennpunkt fassen [muss].“ Daraus wiederum „muß sich, nach des Auges gemessener Weite, ein zartes und doch getreues Bild des höchsten Schönen ründen, das die vollkommensten Verhältnisse des großen Ganzen der Natur ebenso wahr und richtig wie sich selbst in seinen kleinen Umfang faßt.“ (Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen 1788, S. 18). 554 Vgl. Auerbach, Einleitung zu Moritz’ ‚Über die bildende Nachahmung des Schönen’ 1888, S. XXV–XXVI.





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ten, welche die Kunst vor dem Vorwurf der Scheinhaftigkeit verwahren und ihr direkten und authentischen Zugang zur Natur zugestehen beziehungsweise welche die Kunst in gewisser Weise selbst zu einer Erscheinung der Natur erheben. Noch Moritz’ Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen ist eine derartige Position eingeschrieben, die daran sichtbar wird, dass Moritz die Kunstautonomie im dunklen und letztlich dem Menschen unbegreiflichen und damit naturhaften Schaffensakt des Genies verankert sieht.555 In Kants transzendentalphilosophischem Ansatz ist eine derartige Kunstauffassung jedoch kaum mehr von Interesse – die in der KdU entwickelte rezeptionsästhetische Variante der Kunstautonomie wird durch Unmittelbarkeits- oder Authentizitätsvorstellungen dementsprechend auch nicht mehr tangiert. Für den sich gleichsam zwischen Moritz und Kant positionierenden Schiller gestaltet sich das Verhältnis zu Rousseau indes komplizierter. Anders als Moritz oder Kant, die entweder Authentizität affirmieren oder ausblenden können, muss Schiller diskursiv darlegen, auf welche Weise er diese mit der Vorstellung von Kunstautonomie zusammendenken kann. Er vollzieht dies einerseits – wie im vorherigen Abschnitt bereits angedeutet – durch die Differenz von Zweck/Mittel. Andererseits reflektieren Schillers Texte zum Erhabenen – ebenso wie die zum Schönen556 – die Differenz Unmittelbarkeit/Mittelbarkeit in extensiver Weise. So gründet Schiller die avisierte Eigenlogik der Kunst in Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (wie beschrieben) darauf, dass diese ein unmittelbares Vergnügen hervorrufen und direkte „Genüsse“ gewähren könne (V, 359), wohingegen moralische Wirkungen mittels künstlerischer Werke „nur beiläufig“ zu erzielen seien (V, 359). Unmittelbarkeit wird damit auf das ‚delectare’ als dem Hauptzweck des Kunstsystems beschränkt, andere Funktionen werden in Schillers Systematik durch die Kunst nur in mittelbarer Weise bedient. In Über die tragische Kunst führt Schiller aus, dass er die Distanz der künstlerischen Darstellung zum Leben als konstitutiv für die Kunst im Allgemeinen und für die Ästhetik des Erhabenen im Besonderen erachtet. Unmittelbares Erleben kann demnach keine ästhetische Qualität erlangen, wohingegen der mittelbare Zugang zur Natur über die reflektierende und damit wirkungsdämpfende Darstellung in Kunstwerken geeignet ist, auch Negatives in Form von Unmoralischem oder in Form von Leid ästhetisch erfahrbar zu machen: „Der peinliche Kampf entgegen 555 Vgl. etwa Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen 1788, S. 19.

556 Am prominentesten wohl in der Unterscheidung von wahrem und falschem Schein im 26. Brief der

Abhandlung Über die Ästhetische Erziehung des Menschen (vgl. hierzu V, 655–660).





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setzter Neigungen oder Pflichten, der für denjenigen, der ihn erleidet, eine Quelle des Elends ist, ergötzt uns in der Betrachtung“ (V, 373). Im Anschluss daran wird jedoch nochmals verstärkt betont, dass dies nur von dem mitgeteilten oder nachempfundenen Affekt [gilt], denn die nahe Beziehung, in welcher der ursprüngliche zu unserem Glückseligkeitstriebe steht, beschäftigt und besitzt uns gewöhnlich zu sehr, um der Lust Raum zu lassen, die er, frei von jeder eigennützigen Beziehung, für sich selbst gewährt. (V, 373)

Unmittelbares Naturempfinden, im Geniediskurs noch notwendige Voraussetzung für Kunst und Ästhetik, wird hier als kunstschädlich ausgewiesen. Die Intensität unmittelbaren Naturerlebens beanspruche das Bewusstsein so stark, dass diesem die Möglichkeit zur Ästhetisierung der Wahrnehmungen genommen werde. Angestrebt wird daher eine Nivellierung der Erlebnisintensität, die mittels Distanz zur Natur bzw. zum Leben ästhetische Überformungen überhaupt erst ermöglicht. Authentisches Erleben spielt in diesem Kunstverständnis keine entscheidende Rolle mehr. Die Inhalte der Kunst interessieren nur in ihrer Ästhetisierbarkeit. Es kommt dabei auch nicht darauf an, ob sie korrekt und naturgemäß wiedergegeben werden. Schiller hebt dies mehrfach hervor. In Über das Pathetische betont er – ähnlich wie schon in der Vorrede zum Fiesko oder später im Prolog zum Wallenstein –, wie wenig die poetische Kraft des Eindrucks, den sittliche Charaktere oder Handlungen auf uns machen, von ihrer historischen Realität abhängt. Unser Wohlgefallen an idealischen Charakteren verliert nichts durch die Erinnerung, daß sie poetische Fiktionen sind, denn es ist die poetische, nicht die historische Wahrheit, auf welche alle ästhetische Wirkung sich gründet. Die poetische Wahrheit besteht aber nicht darin, daß etwas wirklich geschehen ist, sondern darin, daß es geschehen konnte, also in der inneren Möglichkeit der Sache. Die ästhetische Kraft muß also schon in der vorgestellten Möglichkeit liegen. (V, 533–534)

Die den historischen Ereignissen vorausgehenden „inneren“ Möglichkeitsstrukturen und der Möglichkeitsmodus des Ästhetischen befinden sich somit in einer gleichen Entfernung zum Wirklichen. Darstellung und Dargestelltes weisen in ihrem Kontingenzmodus eine Ähnlichkeitsstruktur auf, die ein passgenaues Ineinandergreifen beider Ebenen ermöglicht. Die in die Ästhetik Schillers eingeschlossene Kontingenz wird zum Doppel der Kontingenzstrukturen im Vorfeld des Wirklichen. Schiller biegt Ästhetik und Gesellschaftsanalyse über das tertium comparationis der Kontingenz zusammen, ohne dabei die realen gesellschaftlichen Bedingungen beachten zu müssen. Kunst ist eben doch von Geschichtswissenschaft zu unterscheiden.557 557 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die deutsche Geschichtswissenschaft den Ge-

schichtsdramen Schillers lange Zeit eine treffendere Darstellung der historischen Wirklichkeit zugeschrieben hat als seinen historischen Monographien. Es liegt nahe, diese auf den ersten Blick kurios anmutende Einschätzung aus einer Denkweise abzuleiten, die paradoxerweise derjenigen Schillers sehr nahekommt. Der offene, Kontingenz explizit zulassende Möglichkeitsmodus des Ästhetischen scheint einen Zugriff auf historische Sachverhalte zu bieten, der im Gegensatz zu der dem Prinzip der Exaktheit ver-





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Dadurch dass Schillers Ästhetik dem Primat der Autonomie folgt, dabei jedoch Informationen anderer Teilsysteme in ihrem Sinne verarbeitet, indem sie diese in Vergnügen auslösende Gegenstände verwandelt, weist sie einen praktischeren Charakter auf als die Kunsttheorien Kants oder Moritz’. Für letztere ist die Frage, wie Kunst überhaupt hervorzubringen ist, ins Subjekt des Betrachters bzw. in eine irreduzible Geniehaftigkeit des Künstlers verlegt. Schiller hingegen interessiert sich im Kern seiner Theorie für die spezifischen Schaffensbedingungen von Kunst – Kants ausschließliche Betrachtung der Rezeptionsseite und Moritz’ Verabsolutierung der den Künstler ereilenden übersinnlichen Eingebungen mussten ihn von Beginn an irritieren. Wesentliche Faktoren dafür, dass für ihn Inhalte anderer Felder durch die Kunst funktionalisiert werden könnten, bilden die Fähigkeiten des Kunstsystems, diese externen Inhalte zu selektieren, aber eben auch mit reduzierter Intensität in die künstlerische Darstellung einfließen zu lassen. Die Eigenlogik der Kunst wird in Schillers Augen dann dadurch gewahrt, dass die Logiken der Felder, zu denen die Inhalte im Ursprung gehören, zurückgedrängt werden. Unmittelbarkeit ist für die Vergnügen auslösende Wirkung des Ästhetischen reserviert, alle anderen Funktionen können nur mittelbar durch die Kunst berücksichtigt werden, wenn diese ihren Charakter als Kunst nicht verlieren will. Einerseits handelt es sich dabei zwar um eine Restriktion, auf der anderen Seite bleibt die Kunst auf diese Weise offen für nahezu alle Inhalte der anderen Felder – sie muss diese nur ihrer Eigenlogik anpassen. Kontingenztheoretisch ist dies insofern interessant, weil in dieser Kunstauffassung die Kontingenzen, die als Informationen über die Schnittstelle (über die strukturelle Kopplung von) Kunst/Umwelt in das Kunstsystem aufgenommen werden, einerseits strikt an die prädeterminierte Ordnung (an den Code) des Kunstsystems angepasst werden. Eben hierin liegt dann auch der autonome oder autotelische Charakter der Kunst, wie sie Schiller (oder Kant) im Sinne haben. Die Informationen aus der Umwelt des Kunstsystems werden in Ästhetik transformiert und zwar ohne Rücksichtnahme auf ihre vorherige Funktion. Andererseits verändert sich das Kunstsystem, wie Schiller es sich vorstellt, gerade dahingehend, dass es eine weniger starre, offenere und flexiblere

pflichteten Geschichtsmonographie sowohl die Komplexität historischer Sachverhalte als auch deren unsichere Überlieferung ohne größere Probleme inkorporieren kann. Dass große Teile etwa der WallensteinTrilogie – man denke nur an die Max-Thekla-Handlung – dichterische Erfindung sind, stört dann weniger als die Fehler in der Beschreibung kleinster Details oder die vermeintlich den Fakten Gewalt zufügende Fortschrittsideologie in der Geschichte des Dreissigjährigen Kriegs. Zur Bevorzugung der Dramen gegenüber den historischen Monographien in der geschichtswissenschaftlichen Literatur vgl. Eder, Schiller als Historiker 1998, S. 684.





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Eigenstruktur aufweist, sodass es ihm möglich ist, umso mehr Umweltinformationen aufzunehmen und ästhetisch zu verarbeiten. Das heißt, auch Schillers Kunstverständnis ist davon bestimmt, dass eine strikte Determination der verarbeiteten Informationen mit einer größtmöglichen strukturellen Offenheit des Kunstsystems selbst einhergeht. Auch seine Autonomieästhetik ist damit geprägt von einem subtilen Zusammenspiel aus Ordnungsprozess und Kontingenz. Dass hierfür das Prinzip der Mittelbarkeit eine entscheidende Rolle spielt, legt Schiller nicht nur in dem oben beschriebenen Zusammenhang von Kunst und Moral offen. Es greift ebenfalls bei der ästhetischen Verarbeitung individueller Erlebnisinhalte des Künstlersubjekts, welches die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung entwickeln muss, um auch die ihm eigenen innerpsychischen Prozesse ästhetisch darstellen zu können: Daher der hohe Wert einer Lebensphilosophie, welche durch stete Hinweisung auf allgemeine Gesetze das Gefühl für unsere Individualität entkräftet, im Zusammenhange des großen Ganzen unser kleines Selbst uns verlieren lehrt und uns dadurch in den Stand setzt, mit uns selber wie mit Fremden umzugehen. Diese erhabene Gemütsstimmung ist das Los starker und philosophischer Gemüter, die durch fortgesetzte Arbeit an sich selbst den eigennützigen Trieb unterjochen gelernt haben. [...] Sie, die allein fähig sind, sich von sich selbst zu trennen, genießen, allein das Vorrecht, an sich selbst teilzunehmen und eigenes Leiden in dem milden Widerschein der Sympathie zu empfinden. (V, 375)

Die Abstraktion vom Eigennutzen erfordert eine gewisse geistige Stärke, erlaubt es jedoch dem Subjekt, das eigene Erleben ästhetisch nutzbar, oder wie Schiller es formuliert, zu einer „Quelle[] des Vergnügens“ (V, 375) zu machen – wohlgemerkt das entscheidende Kriterium für das Ästhetische. Psychische Prozesse erhalten, systemtheoretisch gesprochen, ihren systemischen Charakter erst dadurch, dass sie zu Inhalten von (Selbst-)Beobachtungen werden. Sie gehören aus Sicht des Kunstsystems wie alle anderen Teilsysteme, sei es die Moral, die Geschichte oder die Wirtschaft, zu den Kontingenzen der turbulenten Systemumwelt. Sie sind aber dennoch geeignet, der Kunst Informationen als Leistungen zu offerieren, die das Kunstsystem dann gemäß seiner Eigenlogik in Ästhetik übersetzt. Erlebnisinhalte, die für das Künstlersubjekt selbst persönliche Relevanz besitzen, verlieren auf der Ebene der Kunst ihre spezifisch subjektive Bedeutsamkeit, es interessiert nun nur noch, inwieweit die künstlerisch verarbeiteten Inhalte geeignet sind, Vergnügen beim Rezipienten auszulösen.558 Und dies – das ist der entscheidende Punkt – geschieht eben drüber, dass die Kunst sich nicht für reale Ereignisse, sondern für die diesen zugrunde liegenden Möglichkeitsstrukturen interessiert. 558 Nebenbei bemerkt zeigt der erste Teil der Textstelle auch, dass Schiller in Kontinuität zu seiner in der Universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzügen entwickelten Position zwar die Ästhetik von äußeren Zwecken autonom halten will, eine Ästhetisierung anderer Felder aber durchaus vorsieht.





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Ästhetik des Bösen – Ästhetik des Bruchs – Ästhetik der Kontingenz Dadurch dass die Funktionslogiken anderer gesellschaftlicher Felder über den Prozess der Ästhetisierung zurückgedrängt werden, im Kunstwerk also nur noch mittelbar erscheinen und an Kraft verlieren, werden zudem Felder für die Kunst erschließbar, die mit dem theoretischen Rahmen einer auf Moralität geschalteten Aufklärungsästhetik noch im Widerspruch stehen mussten. Das Phantastische – gegen das sich Gottsched noch stark machte – oder auch das Böse werden nunmehr auch in der ästhetischen Theorie zu potentiellen Gegenständen der Kunst. Auch wenn etwa die Jungfrau von Orleans oder Schillers Lyrik Phantastisches und Übersinnliches durchaus intensiv verhandeln, interessiert sich Schiller in seinen Schriften zum Erhaben besonders für die Ästhetik des Bösen.559 Schon die Abhandlung Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen vollzieht eine Präzisierung der Überlegungen, die Schiller in den beiden Vorreden zu den Räubern etwa hinsichtlich der Attraktivität des Lasters für die Bühne getroffen hat. So wurde in den Paratexten zu Schillers erstem Drama noch angeführt, dass das Böse mit Blick auf die zeitgenössische Gesellschaft empirische Bestätigung erfährt, dass das Drama also keine „Karikaturen“ des Bösen liefert, sondern vielmehr ein realistisches Abbild der Wirklichkeit. Es wird betont, dass auch böse Charaktere einige gute Eigenschaften oder wenigstens gute Anlagen hätten und dass sie ästhetisch anziehend seien aufgrund der „Größe [...], die [dem Laster anhänget], um der Kraft willen, die es erfordert, um der Gefahren willen, die es begleiten.“ (I, 482). Schiller fokussiert im Vorwort zu den Räubern also noch das Singuläre und Außerordentliche, das in lasterhaften Handlungen liegt, sowie das Spannung erzeugende Risiko, das die „Bösewichter“ (ebd.) in der Regel eingehen. Das Interesse am Bösen vermittelt sich hier noch primär am Interesse für den bösen und damit außerordentlichen Charakter, an dem „Ungeheuer mit Majestät“ (ebd.) und an seinem Bezug zur wirklichen Welt. Faszination entwickeln derartige Figuren deshalb, weil sie den Zuschauer oder die Leserin mit einer ihnen in der Regel unbekannten Qualität des Lasters konfrontieren und damit einem aufklärerischen Programm folgen. Indem die Räuber „die vollständige Mechanik des Lastersystems auseinanderzugliedern versuchen“ (I, 486), ermöglichen sie den Rezipienten das Laster in der Gesellschaft zu verstehen sowie Ansätze zum Bösen in sich selbst wahrzunehmen und diesen entschiedener entgegenzutreten. 559 Es verwundert etwas, dass sich der Schiller–Kenner Peter Andre´ Alt in seiner einschlägigen Monogra-

phie zur ‚Ästhetik des Bösen’ zwar auch mit Schiller auseinandersetzt, dabei aber vor allem auf die Räuber und Etwas über die erste Menschengesellschaft eingeht. Vgl. Alt, Ästhetik des Bösen 2010. Texte aus Schillers Theorie des Erhabenen finden hingegen bei Alt keine eingehendere Berücksichtigung.





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Diese Perspektive auf die Psychologie des Bösewichts und die Außerordentlich-

keit seiner Taten wird in Schillers Texten zum Erhabenen nun handlungstheoretisch weitergedacht.560 In der Abhandlung Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen stellt Schiller – wiederum in Kant’scher Diktion – die These auf, dass effiziente Zweck-Mittel-Relationen generell ästhetischen Charakter aufweisen: „Zweckmäßigkeit gewährt uns unter allen Umständen Vergnügen, sie beziehe sich entweder gar nicht auf das Sittliche, oder sie widerstreitet demselben.“ (V, 370) Nicht nur die außerordentlichen Folgen böser Taten, sondern schon deren rationale und effiziente Konzeption sowie deren präzise Ausführung der bösen Tat erwecken also bereits Vergnügen und schaffen ein ästhetisches Erlebnis: „Die höchste Konsequenz eines Bösewichts in der Anordnung seiner Maschinen ergötzt uns offenbar, obgleich Anstalten und Zweck unserm moralischen Gefühl widerstreiten.“ (V, 369) Schon dadurch findet eine subtile Verschiebung vom Wirklichkeitsbezug der bösen Tat auf die dieser vorausgehenden Möglichkeitsstrukturen statt.

Diese ästhetische Betrachtung unmoralischer Inhalte verlange vom Beobachter

jedoch auch eine spezifische Fähigkeit zur Aufmerksamkeitslenkung. Das Böse kann nur dann ästhetisch wirken, wenn seine schlimmen Folgen ausgeblendet und lediglich seine Effizienz fokussiert wird: „Wir genießen diese Vergnügen rein, solange wir uns keines sittlichen Zwecks erinnern, dem dadurch widersprochen wird“ beziehungsweise „es gewährt uns die Zweckmäßigkeit eines jeden menschlichen Geschäfts an sich selbst Vergnügen, sobald wir uns weiter nichts dabei denken als das Verhältnis der Mittel zum Zweck.“ (V, 370) Der Beobachter muss also alles Weitere – im Fall der Betrachtung des Bösen insbesondere dessen wirklich eintretenden Negativfolgen – ausblenden, um ein ästhetisches Erlebnis erfahren zu können. Die anthropologisch verankerte Fähigkeit zur Einnahme verschiedener Perspektiven auf ein und denselben Sachverhalt wird somit von Schiller zur Ermöglichungsbedingung ästhetischen Erlebens – hier bezogen auf das Böse – erhoben: Daß wir aber ein Vermögen besitzen und auch häufig genug ausüben, unsere Aufmerksamkeit von einer gewissen Seite der Dinge freiwillig abzulenken und auf eine andre zu richten, daß das Vergnügen selbst, welches durch diese Absonderung allein für uns möglich ist, uns dazu einladet und dabei festhält, wird durch die tägliche Erfahrung bestätigt. (V, 370)

560 Außerordentlichkeit und Größe bleiben auch in Schillers Theorie des Erhabenen bestimmende Größen

für das ästhetisch Böse. In dem kurzen Text Gedanken über den Gebrauch des gemeinen und niedrigen in der Kunst erklärt Schiller etwa den Dieb aufgrund der Banalität seines Verbrechens zu einem „für jede poetische Darstellung von ernsthaftem Inhalt“ unbrauchbaren Gegenstand – „[w]ird aber dieser Mensch zugleich Mörder, so ist er zwar moralisch zugleich viel verwerflicher; aber ästhetisch wird er dadurch wieder um einen Grad brauchbarer“ (V, 540).





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Ästhetisches Erleben erfordert damit also gegebenenfalls die Installation eines Latenzschutzes gegenüber spezifischen Aspekten der Wirklichkeit. Kommt es jedoch zum Zusammenbruch des Latenzschutzes und einem Eindringen der Wirklichkeit, bricht auch des ästhetische Erleben in sich zusammen: Fällt uns aber ein, diesen [bösen, M.K.] Zweck nebst seinen Mitteln auf ein sittliches Prinzip zu beziehen und entdecken wir alsdann einen Widerspruch zu dem letzten, kurz, erinnern wir uns daß es die Handlung eines moralischen Wesens ist, so tritt eine tiefe Indignation an die Stelle jenes ersten Vergnügens. (V, 370)

Schiller stellt hier die Prekarität aus, die ästhetisches Erleben dann hat, wenn es auf einer partiellen und temporären Ausblendung spezifischer Aspekte der Realität beruht. Und er betont auch, dass der Latenzschutz gegenüber den negativen Folgen unmoralischen Verhaltens in der Wirklichkeit notwendigerweise im Handlungsverlauf des dramatischen Textes aufgehoben werden muss, dass also „eine zweckmäßige Bosheit nur alsdann der Gegenstand eines vollkommenen Wohlgefallens werden kann, wenn er von der moralischen Zweckmäßigkeit zuschanden wird“ (V, 371). Damit etabliert er zum einen eine Ästhetik des Bruchs, eine Ästhetik, die sich über eine disruptive Veränderung im Zeitverlauf und über das Prinzip des Zusammenfalls des Illusionserlebnisses konstituiert. Zum anderen zeigt diese Passage zur ‚Ästhetik des Bösen’, dass Schiller in seiner Theoriebildung die prinzipielle Offenheit der Ästhetik für in ihrem Sinne funktionalisierbare Informationen aus anderen Feldern – wie beispielsweise der Moral – ergänzt durch die Fähigkeit des ästhetischen Feldes, nicht-funktionalisierbare Informationen aus diesen anderen Feldern zu ignorieren. Schiller beschreibt damit – systemtheoretisch gesprochen – strukturelle Kopplungen zwischen dem ästhetischen System und den Systemen seiner Umwelt bei gleichzeitig operativer Schließung des ästhetischen Systems. Die Kunst kann in diesem Sinne also historische oder moralische Gegenstände gemäß ihrer Eigenlogik ästhetisieren und diese in eine Distanz zur empirischen Wirklichkeit rücken. Dies kann sie jedoch nicht über einen bestimmten Zeitraum hinaus prolongieren – der Scheincharakter des Ästhetischen muss sich früher oder später über einen Moment des Zusammenbruchs bzw. der Suspension performativ offenlegen. Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen liefert damit schon ein konkretes Beispiel für die im 26. Brief der Abhandlung Über die Ästhetische Erziehung des Menschen vorgenommene Differenzierung des ästhetischen und des logischen Scheins.561 Schiller verteidigt dort die Ästhetik gegen die von Rousseau im ersten Discours entwickelte Kri

561 Dies verdeutlicht, nebenbei bemerkt, wie sehr Schillers Theorien des Erhabenen und des Schönen bei

genauerer Betrachtung doch ineinandergreifen.





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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

tik, ohne jedoch dessen Authentizitätsforderung für den Bereich des menschlichen Zusammenlebens aufzugeben: „Nur der erstere [der ästhetische Schein, M.K.] ist Spiel, da der letztere [der logische Schein, M.K.] Betrug ist.“ (V, 657) Der ästhetische Schein ist, so Schiller, vom Vorwurf des Betrugs deshalb loszusprechen, weil er anders als der logische Schein – die Täuschung anderer Personen im wahren Leben – seinen Scheincharakter notwendigerweise offenlegen muss: „Nur soweit er aufrichtig ist, (sich von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich lossagt), und nur soweit er selbständig ist (allen Beistand der Realität) entbehrt, ist der Schein ästhetisch.“ (V, 659) Die in Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen beschriebene Suspension der ästhetischen Illusion zeigt konkret auf, wie Schiller den Widerstreit zwischen ästhetischer Aufrichtigkeit und ästhetischem Schein mittels Temporalisierung von Komplexität aufzulösen und Rousseaus Abwertung der Künste zu widersprechen gedenkt, ohne dessen Gesellschaftskritik im Ganzen zu widerlegen: Das Kunstwerk soll den Betrachter zunächst unmerklich in eine scheinhafte Atmosphäre eintauchen lassen, bevor es diese Illusion in einem zweiten Schritt auflöst und den Betrachter gleichsam in einer Art aufklärerischen Akt zur Reflexion des soeben erfahrenen Kunsterlebnisses führt. Der Bruch der Illusion macht die vorangehende ästhetische Atmosphäre überhaupt erst sichtbar.562 In dem Moment wirkt die ästhetische Atmosphäre gerade nicht mehr als – wie Adornos SchillerKritik nahelegt – gefühlsmonopolisierend und weltentfremdend, sondern wird als Konstruktion und damit auch als kontingente Erscheinung ausgestellt. Dabei handelt es sich also nicht zuletzt auch um ein idealtypisches Beispiel nicht nur für ein Wissen über die Selbstreflexivitätspotentiale des literarischen Kunstwerks, sondern auch für ein Denken, welches Kontingenz- und Zeitphänomene zusammendenkt und auf immer neue Weise in ihren Wechselwirkungen erforscht. Die Ästhetik des Bruchs etabliert sich somit gleichermaßen als Ästhetik reflexiver Kontingenz. Möglich wird dies nur dadurch, dass die Kunst (wie Schiller sie im Sinn hat) sich selbstbewusst von der Forderung nach einer bloßen Abbildung von Wirklichkeit emanzipiert. Pflanzenmetaphorik Die Verzeitlichung von Kontingenz stellt zunächst ein ausgesprochen abstraktes Phänomen dar. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um die Kombination zweier formaler Strukturen – eben: Zeit und Kontingenz –, an denen die spezifischen textlichen

562 Vgl. dazu auch Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft 1995, S. 181.





3.1 Ästhetik und Kontingenz ...

325

Inhalte, seien dies nun historische, literarische oder ästhetische ausgerichtet werden können. Da Schillers Interesse jedoch in der Regel darauf gerichtet ist, abstrakte Strukturen auf konkrete praxeologische Zusammenhänge zu beziehen, überrascht es kaum, dass er nach Darstellungsweisen sucht, die eine Vermittlerebene zwischen der abstrakten Form und der konkreten Dichtungspraxis bilden können. In dem Kapitel zur Universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzügen wurde in der Pflanzenmetaphorik bereits ein Beispiel für Schillers Praxis identifiziert, Kontingenz und Zeitlichkeit auf anschauliche Weise zusammenzudenken. Pflanzenmetaphorik war zudem auch schon ein Bestandteil der Analysen zur Anekdote Eine großmütige Handlung. Im Folgenden soll anhand eines dritten Beispiels aus dem Traktat Über das Erhabene dargelegt werden, wie Schiller das in den beiden angeführten Pflanzenmetaphern gewonnene Wissen über Kontingenz und deren Verzeitlichung in seiner Theorie des Erhabenen weiterentwickelt. Zur besseren Übersicht wird dabei noch einmal kurz auf die Metaphern aus der frühen Anekdote und der Übersicht zu den Kreuzzügen eingegangen.

Die Anekdote Eine großmütige Handlung beschreibt die Selbstexilierung zweier

Brüder, die in einem Wettbewerb um die Gunst einer von beiden geliebten Frau stehen und herauszufinden versuchen, wer von beiden einen Liebesverzicht eher ertragen könnte. Die räumliche Trennung und das daraus resultierende Leiden des älteren Bruders werden in diesem Zusammenhang mittels einer Pflanzenmetapher veranschaulicht: Fern von dem Himmelstrich seiner Liebe, aus einer Gegend verbannt, die seines Herzen ganze Seligkeit einschloß, in der er allein zu leben vermochte, erkrankte der Unglückliche, wie eine Pflanze dahinschwindet, die der gewalttätige Europäer aus dem mütterlichen Asien entführt und fern von der milderen Sonne in rauhere Berge zwingt. (V, 3)

In dieser Textstelle fungiert die Pflanzenmetaphorik als Mittel zur Veranschaulichung der Dissoziation, an welcher der Protagonist leidet. Sie bindet zum einen dessen psychische Verfasstheit an die räumliche Trennung von der Heimat. Zum anderen markiert sie Wirkungen der Gewalt, welche die rationale Handlung der Selbstexilierung auf die natürliche Seite des Protagonisten ausübt. Der Zeitfaktor – obwohl der Räumlichkeit fokussierenden Perspektive des Zitats bereits implizit unterlegt – spielt hier noch nicht die entscheidende Rolle. Herausgestellt wird zum einen aber das sich im Dahinschwinden der entwurzelten Pflanze spiegelnde Leid. Zum anderen wird die Kontingenz dieses Leidenszustands deutlich markiert, indem die Alternative des gesunden Lebens, welches der Protagonist hätte weiterführen können, hätte er die gewohnte Umgebung nicht auf gewaltsame Weise verlassen, über Begriffe wie „Liebe“ und „Seligkeit des Herzens“ auf überdeutliche Weise evoziert wird.



Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

326

In der Universalhistorischen Übersicht zu Kreuzzügen verwendet Schiller dann –

wie bereits in Kapitel 3.2 dieser Arbeit dargelegt – erneut eine Pflanzenmetapher, diesmal zwar wieder zur Veranschaulichung einer Kontingenzstruktur, nun jedoch unter deutlicherer Einbindung der Zeitkomponente. Die entsprechende Textstelle sei hier noch einmal angeführt: Durch das ganze Gebiet der Geschichte sehen wir die Entwicklung der Staaten mit der Entwicklung der Köpfe einen sehr ungleichen Schritt beobachten. Staaten sind jährige Pflanzen, die in einem kurzen Sommer verblühn und von der Fülle des Saftes rasch in die Fäulnis hinübereilen; Aufklärung ist eine langsame Pflanze, die zu ihrer Zeitigung einen glücklichen Himmel, viele Pflege und eine Reihe von Frühlingen braucht. Und woher dieser Unterschied? Weil die Staaten der Leidenschaft anvertraut sind, die in jeder Menschenbrust ihren Zunder findet, die Aufklärung aber dem Verstande, der nur durch fremde Nachhülfe sich entwickelt, und dem Glück der Entdeckungen, welche Zeit und Zufälle nur langsam zusammentragen. Wie oft wird die eine Pflanze blühen und welken, ehe die andre einmal heranreift? Wie schwer ist es also, daß die Staaten die Erleuchtung abwarten, dass die späte Vernunft die frühe Freiheit noch findet? (IV, 850–851)

Im Vergleich zu der Pflanzenmetapher in der Anekdote Eine großmütige Handlung liegt hier eine deutlich komplexer strukturierte Metaphorik vor, was insbesondere daran liegt, dass Schiller nun nicht mehr nur eine einzelne Pflanze in sein Bild einbezieht, sondern die unterschiedliche Wachstumsgeschwindigkeit zweier Pflanzen mit zwei geistesgeschichtlichen Prozessen analogisiert. Da die Textstelle im Detail bereits im Kapitel zu der Übersicht zu den Kreuzzügen untersucht wurde, sei hier nur zusammenfassend auf ihre für den hier zu erörternden Zusammenhang relevanten Punkte verwiesen: Erneut verwendet Schiller den Moment des Verblühens der Pflanzen zur Veranschaulichung von in sich zusammenbrechenden Dynamiken. Die Parallelisierung zweier historischer Entwicklungen – wobei das Historische per se schon Zeitlichkeit in die Metapher einbringt – wird in zeitlicher Hinsicht noch ergänzt durch den Einbezug einer Phase des Wiederaufblühens der Pflanzen. Insgesamt repräsentiert die Metapher hier also ein – durch eine sich stets wiederholende Abwechslung der Phasen des Verblühens und des Aufblühens gekennzeichnetes – Zyklusmodell, das seinerseits dann wieder nach dem singulären Moment befragt wird, in dem die durch das Blühen repräsentierten Hochphasen beider Dynamiken ineinander fallen. „Zeit und Zufälle“ werden auch explizit als die bestimmenden Kategorien dieser Textstelle ausgewiesen.

In Über das Erhabene greift Schiller nun ein weiteres Mal auf eine Pflanzenmeta-

pher zurück, um erneut einen Nexus aus Kontingenz und Zeitlichkeit zur Anschauung zu bringen. Und wiederum findet – schon auf den ersten Blick durch eine erneute Zunahme des zur Ausführung der Metapher benötigten Textumfangs zu erahnen – eine Steigerung der Komplexität statt:





3.1 Ästhetik und Kontingenz ...

327

Das Erhabene, wie das Schöne, ist durch die ganze Natur verschwenderisch ausgegossen, und die Empfindungsfähigkeit für beides in alle Menschen gelegt; aber der Keim dazu entwickelt sich ungleich, und durch die Kunst muss ihm nachgeholfen werden. Schon der Zweck der Natur bringt es mit sich, daß wir der Schönheit zuerst entgegeneilen, wenn wir noch vor dem Erhabenen fliehn; denn die Schönheit ist unsre Wärterin im kindischen Alter und soll uns ja aus dem rohen Naturzustand zur Verfeinerung führen. Aber ob sie gleich unsre erste Liebe ist und unsre Empfindungsfähigkeit für dieselbe sich zuerst entfaltet, so hat die Natur doch dafür gesorgt, daß sie langsamer reif wird und zu ihrer völligen Entwicklung erst die Ausbildung des Verstandes und Herzens abwartet. Erreichte der Geschmack seine völlige Reife, ehe Wahrheit und Sittlichkeit auf einem bessern Weg, als durch ihn geschehen kann, in unser Herz gepflanzt wären, so würde die Sinnenwelt ewig die Grenze unsrer Bestrebungen bleiben. Wir würden weder in unsern Begriffen, noch in unsern Gesinnungen über sie hinausgehn, und was die Einbildungskraft nicht darstellen kann, würde auch keine Bedeutung für uns haben. Aber glücklicherweise liegt es schon in der Einrichtung der Natur, daß der Geschmack, obgleich er zuerst blühet, doch zuletzt unter allen Fähigkeiten des Gemüts seine Zeitigung erhält. In dieser Zwischenzeit wird Frist genug gewonnen, einen Reichtum an Begriffen in dem Kopf und einen Schatz von Grundsätzen in der Brust anzupflanzen und dann besonders auch die Empfindungsfähigkeit für das Große und Erhabene aus der Vernunft zu entwickeln. (V, 800).

Zunächst ist festzustellen, dass diese Textstelle die schon in Pflanzenmetaphorik der Übersicht zu den Kreuzzügen enthaltene Figur zweier sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickelnder Dynamiken aufgreift. Waren es dort die sich langsam vollziehende Aufklärung des Verstandes auf der einen und die schnellen Wechsel in den politischen Ordnungen Europas auf der anderen Seite, so werden hier eine früh einsetzende, sich aber langsam ausformende Sensibilität für das Schöne mit einer sich später, dafür aber schneller entwickelnden „Empfindungsfähigkeit für das Große und Erhabene“ kontrastiert. Dass beide Wahrnehmungsformen mit dem Bild des „Keims“ erfasst werden, weist sie als jedem Menschen zueigne anthropologische Potentiale aus. Anders als im vorangehenden Beispiel geht es hier jedoch nicht darum, die Unwahrscheinlichkeit eines Ineinanderfallens der Hochpunkte zweier unabhängig voneinander ablaufender Zyklen herauszustellen. Stattdessen führt die Verschiebung der Perspektive von der Beobachtung zweier historischer Prozesse – der geistigen Aufklärung des Menschen und der Dynamiken des Politischen – hin zu zwei anthropologisch verankerten Fähigkeiten ästhetischer Weltbetrachtung und damit zu einer Denkfigur, in der die Prozesse bereits vor dem Erreichen ihrer Hochpunkte sehr viel enger ineinandergeführt werden. Zu jedem Zeitpunkt seines ästhetischen Entwicklungsganges verfügt das Subjekt demnach über die Möglichkeit, seine Umwelt auf ästhetische Weise zu rezipieren. Zunächst steht ihm jedoch nur der Weltzugang über das Schöne zur Verfügung, der jedoch irgendwann notwendigerweise an seine Grenzen stößt. In diesem Moment, in dem das Konzept des Schönen nicht mehr hinreicht, um eine Weiterentwicklung des Subjekts zu gewährleisten, verhilft ihm die sich bereits im Schatten der Praxis schöner Weltwahrnehmung entwickelte Fähigkeit erhabener Weltbetrachtung zu einer neuartigen, die Möglichkei



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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

ten des Schönen übersteigenden ästhetischen Erfahrung. Dass die Entwicklungsdynamiken des Schönen und des Erhabenen ihre Wirksamkeit auf ähnliche Weise entfalten, indem sie nämlich die Perfektibilität des Subjekts befördern – wobei ihnen eine im Zeitverlauf unterschiedliche Wirkungskraft auf diese perfektible Entwicklung zugerechnet wird –, lässt eine Ästhetik sowohl der Wechselwirkung als auch der Transgression im Bilde der Pflanzenmetaphorik erscheinen. Schiller geht es hier nicht mehr um die unwahrscheinliche Synchronisierung zweier Prozesse in einem herausragenden, singulären Moment. Stattdessen veranschaulicht die Pflanzenmetapher in dem Traktat Über das Erhabene die disruptive Einholung des einen durch den anderen Prozess. Dabei wird beiden Komplexen, dem Schönen wie dem Erhaben je eine dominante Zeit in der ontogenetischen Entwicklung des Menschen zugewiesen. In jungen Jahren haben die Menschen die Fähigkeit zur erhabenen Weltbetrachtung noch nicht entwickelt, weshalb das Schöne ihnen als einzige Möglichkeit ästhetischen Weltzugangs zur Verfügung steht. Wenn dann aber die kognitiven Grundlagen soweit entwickelt sind, dass auch ein erhabener Weltzugang möglich wird, wirken die über das Erhabene gewonnenen ästhetischen Erfahrungen katalysierend auf die Ausformung des Schönen zurück und führen zu dessen „völlige[r] Entwicklung“, mittels welcher dem Subjekt ästhetische Erfahrungen möglich werden, die „die Grenzen der Sinnenwelt“ übersteigen. Das Schöne fällt also, nachdem das Erhabene dem Subjekt zu intensiveren ästhetischen Erlebnissen verhilft, nicht in den Status der Obsoleszenz ab, sondern wird durch das Erhabene selbst auf ein qualitativ höheres Niveau gehoben. Interessant ist jedoch vor allem, dass auch in dieser Pflanzenmetapher ein singulärer Moment – implizit, aber dennoch mit einer gewissen Kraft – in den Fokus rückt: Der Moment nämlich, in dem das Erhabene die Grenzen des schönen Weltzugangs überschreitet und die Möglichkeiten des Ästhetischen erweitert. Anders als in der Pflanzenmetapher der Universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzügen steht jedoch hier nicht die (scheinbare) Unwahrscheinlichkeit dieses Moments im Fokus, über die dann dessen Kontingenz assoziierbar wird. Anstatt dass hier markiert würde, dass dieser Moment auch nicht eintreten hätte können, wird in dem Moment der Transgression des Schönen eine neue Perspektive auf das Schöne selbst geworfen, die dieses insgesamt mit dem Modus des Kontingenten versieht. Die Überschreitung der Grenzen des Schönen erlaubt es, das Schöne in einer Beobachtung zweiter Ordnung zu reflektieren und das Erhabene als das – im Rahmen ästhetischer Weltbetrachtung – Andere des Schönen zu erkennen.





3.1 Ästhetik und Kontingenz ...

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Erst jetzt kann das Subjekt erkennen, dass es unter zwei (kontingenten) Möglichkeiten ästhetischen Weltzugangs wählen kann. Zusammenfassung Schillers ästhetischem Programm ist ein tiefes Wissen über Wirkungsweisen, Funktionszusammenhänge und Strukturen von Kontingenz- und Zeitphänomenen eingeschrieben. Seine ‚doppelte Ästhetik’ (Zelle) bietet in Form der Theorie des Schönen einen Weltzugang, der durch die Ausblendung von Kontingenz und Zeitlichkeit bestimmt ist, dessen Gegenstände ihren Betrachtern harmonische, wenngleich solipsistische Erfahrungen ermöglichen. Mittels der die Theorie des Schönen komplementär ergänzenden Theorie des Erhabenen bietet Schiller dann aber einen Weltzugang an, in dem die lebensweltlichen Kontingenzen Eingang ins ästhetische System finden und dort ästhetisch zu Vergnügen auslösenden Inhalten verarbeitet werden. Im ersten Fall werden die Turbulenzen der Umwelt also ignoriert, im zweiten transformiert.

Diese unterschiedlichen Wirkungsweisen des Schönen und des Erhabenen ver-

weisen zunächst auf zwei auch in Bezug auf den Modus der Kontingenz verschiedenartige Qualitäten. Der Zustand des Schönen in seiner Eigenschaft, über die Etablierung einer harmonischen Gegenwelt in eine harte Differenz zur Umwelt zu treten, steht jedoch permanent von seinem akuten Zusammenbruch. Die (im Moment des Schönen) ausgeblendeten Kontingenzen der Umwelt – so könnte man sagen – bedrohen beständig die Harmonie des Schönen. Die Pointe am Weltzugang über das Schöne ist jedoch, dass seine Illusionskraft dem Betrachter auch diese eigene Fragilität verschleiert. Das Schöne ist nur zur Beobachtung erster Ordnung fähig, kann daher auch nicht auf sich selbst reflektieren und damit auch seinen kontingenten und ephemeren Zustand selbst nicht kenntlich machen.

Im Gegensatz dazu bietet die Ästhetik des Bruchs in Schillers Theorie des Erha-

benen beachtliche Reflexionspotentiale. Im Zentrum der erhabenen Betrachtung stehen gerade für den Verstand nicht mehr fassbare Zusammenhänge und für die Physis des Menschen bedrohliche Ereignisse – also die Kontingenzformen des Unverfügbaren und der Widerfahrnis. Gerade das Disharmonische, wie etwa die Zumutungen der Welt, die das Schöne noch ausblendet, wird zu dem bevorzugten Mittel des Erhabenen. Und diese Disharmonie wird auch nicht direkt überwunden oder unter einen Latenzschutz gestellt, sondern sie wirkt dadurch, dass das begreifende oder leidende Subjekt ihr zunächst un



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terliegt – ihre Funktion liegt also gerade in der Markierung der menschlichen Grenzen und (vermittelt darüber) dann in der Sichtbarmachung anderer, vorher unsichtbarer menschlicher Potentiale.

So kann der Illusionsbruch, den das Erhabene – Schillers Beschreibung nach –

hervorruft, indem es die künstliche „Harmonie zwischen dem Wohlsein und dem Wohlverhalten“ durchbricht, auch als diejenige Beobachtung zweiter Ordnung auf das Schöne gelesen werden, die das Programm des Schönen selbst nicht leisten kann. Die zeitliche Hintereinanderschaltung von schöner und erhabener Weltwahrnehmung wäre es dann, die dem Menschen seine ästhetischen Potentiale in Gänze erfahrbar und auch reflektierbar macht. Dies schließt erstaunlich genau an die Techniken der Neurahmung an, die bereits in den Kapiteln zu Schillers frühen Dramen als Formen frühen Kontingenzdenkens bei Schiller beschrieben wurden.563 Auch dort ging es um eine sich in zwei zeitlich zu unterscheidende Rezeptionsphasen aufteilende Kunstbetrachtung, in der zunächst ein Illusionserlebnis zum Zwecke identifikatorischer Einfühlung geschaffen, in der dieses dann jedoch in einem zweiten Schritt reflektiert bzw. neu gerahmt wird.

Schillers ästhetische Theorie der 1790er Jahre geht jedoch über die Beschreibung

einer bloßen poetischen Technik hinaus. Dies geschieht nicht nur, indem sie etwa die Technik der Neurahmung poetologisch reflektiert und auf ihre Potentiale befragt, sondern vor allem dadurch, dass Schiller den (Illusions-)Bruch in den Status einer umfassenden Kunsttheorie hebt, von der aus zum einen Reformulierungen wichtiger ästhetischer Positionen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts notwendig werden und aus der sich zum anderen ein neues und differenziertes Verständnis des Kunstsystems selbst ergibt.

Sehr genau erkennt Schiller im Anschluss an seine Moritz- und Kantrezeption,

dass dem ästhetischen System umso mehr Inhalte zur Verfügung stehen, je mehr es von Restriktionen wie dem Anspruch einer korrekten Wiedergabe historischer Fakten oder der Forderung nach moralischen Wirkungen frei ist. Intensiver als Kant oder Moritz beschreibt er, wie dies zu einer Aufgabe des Rousseau’schen Authentizitätsanspruchs führen muss, wie dies aber gleichzeitig über die Umkehrung des Zweck-Mittel-Verhältnisses zwischen Kunst und Umwelt auch neue inhaltliche Potentiale für die Kunst erschließbar macht. Dass die Kunst diesem Verständnis nach selbst die Fähigkeit besitzt, (ihrer Eigen 563 Es sei hier schon darauf verwiesen, dass eben dieses Prinzip auch später großen Einfluss etwa auf die

dramatischen Arbeiten Schillers haben wird. In dem Kapitel zur Braut von Messina in dieser Arbeit wird es dementsprechend auch eine ausführlichere Diskussion erfahren.





3.1 Ästhetik und Kontingenz ...

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logik gemäß) Umweltinformationen aufzunehmen und andere explizit auszuschließen, ermöglicht es Schiller dann auch, eine theoretische Grundlegung für die mit Milton und Klopstock in poetischer Hinsicht bereits etablierte Ästhetik des Bösen zu liefern. Das dafür notwendige Konzept eines vorübergehenden, nach einer gewissen Zeit aber notwendigerweise in sich zusammenbrechenden Latenzschutzes ist dabei nicht weniger als eine auf dem Prinzip der Analogie basierende Transferleistung der Überlegungen zum Schönen. Beide für sich auf unterschiedliche Weise problematischen Konzepte werden durch ihre – sich im Zeitverlauf notwendig einstellende – Suspension als kontingente Erscheinungen mit nur temporärem Geltungsanspruch ausgewiesen. Das Schöne und das Böse können damit eine ästhetische Wirkung entfalten und eine Vergnügen auslösende Illusion schaffen, ohne dass die Kunstwerke sie zu Phänomenen mit persistentem Geltungsanspruch erklärten. Die Vergänglichkeit des Schönen und des Bösen wird so zum Rechtfertigungsgrund ihrer ästhetischen Existenz. Über die Neurahmung des Vorangegangen im Moment des Bruchs der ästhetischen Illusion – die im Bezug auf das Schöne mittels des Erhabenen vollzogen wird – schließt Schiller (wie erwähnt) durchaus an poetische Techniken seiner frühen Dramen an. Schon dort spielten – wie die ersten Kapitel dieser Arbeit zeigen konnten – die Etablierung und anschließende Suspension von Illusionssituationen eine wichtige Rolle. Diese Phänomene wurden in den Werken der 1780er Jahre lediglich noch nicht in einen breiteren Zusammenhang gestellt bzw. noch nicht intensiv durch eine theoretisch-ästhetische Reflexion begleitet. Zur Veranschaulichung von durchaus zentralen Bestandteilen seiner sich über eine Reihe von Texten erstreckenden Theorie des Erhabenen greift Schiller erneut auf die bereits in ähnlichen Kontexten erprobte Pflanzenmetaphorik zurück. Mittels dieser konkretisiert er (insbesondere im Zusammenspiel aus Zeit- und Kontingenzstrukturen entstehende) Mehrfachmodalisierungen. In der Pflanzenmetaphorik treten jedoch auch Bahnen oder Spuren von Ordnung in Erscheinung, an die Verzeitlichungs- und Ermöglichungstechniken für Schiller stets gebunden sind.

Den Kern des Kontingenzdenkens in Schillers Ästhetik des Erhabenen bildet je-

doch die Tatsache, dass er das Ästhetische eng mit dem Möglichen verknüpft, ja im Möglichkeitsmodus künstlerischer Werke das Ästhetische im eigentlichen Sinn erkennt. Mehrfach betont er in seinen Texten zum Erhabenen, dass es der Kunst seinem Verständnis nach nicht um die Abbildung realer oder historischer Sachverhalte gehen kann, sondern um die Herausstellung von deren Ermöglichungsbedingungen. Deutlich wird dies etwa im Leonidas-Beispiel aus dem Traktat Über das Erhabene. Schiller hebt hier



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hervor, dass es aus ästhetischer Sicht nicht interessiert, dass sich der Sachverhalt historisch so zugetragen hat, sondern vielmehr, dass er sich so zutrage konnte. Zunächst beschreibt diese Aussage die Freiheiten ästhetischer Weltdeutung gegenüber historischer Wirklichkeitsbeschreibung, im Kern also eben das, was in Schillers vielzitierter Differenzierung von „Kunst“ und „Leben“ Ausdruck findet. Bei genauerer Betrachtung richtet Schiller mit dieser Aussage jedoch den Blick auf Möglichkeitsstrukturen, die nicht im Beliebigen liegen, sondern das Vorfeld eines wirklichen Ereignisses bilden. Leonidas Aufopferung bei Thermopylä ist gesetzt, fokussiert wird vielmehr die Situation Leonidas’ vor Thermopylä. Bemerkenswert ist, dass Schiller somit die Kunst an eben dem Punkt ansetzen lässt, der auch für seine historische Beschreibungen von entscheidender Bedeutung war. Auf die dem sich (historisch) manifestierenden Ereignis vorläufigen Kontingenzstrukturen richtet sich das Interesse sowohl des Dichters als auch Historikers Schiller. Kunst- und Geschichtsdarstellung werden so auf eigentümliche Weise zusammengebogen, gleichzeitig aber auch als differente Beobachtungsmodi ein und desselben Sachverhalts ausgewiesen. Die Differenz aus Kunst und Leben gestaltet sich damit auch nicht als so distinkt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Indem die Wirklichkeit (etwa als historisches Ereignis) auch in der Kunst als gesetzt gelten kann und indem die im Zentrum der Kunstbetrachtung liegenden vorgängigen Kontingenzstrukturen doch ihr telos in ihrer Manifestation im Wirklichen finden, etabliert Schillers Ästhetik eine Weltbeschreibung, die sich weder in der absoluten Kontingenz verliert, noch durch einen hypertrophen Wirklichkeitsanspruch eingeschränkt ist. Ihr Charakter liegt vielmehr darin, dass sie in ihren Darstellungsweisen beständig zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit oszilliert. In diesem Schwanken und nicht in einer als Beliebigkeit zu verstehenden Freiheit gegenüber dem Leben liegt der eigentliche Grund, sie als eine Ästhetik der Kontingenz bezeichnen zu können.







3.2 [Exkurs] Historiographie und Ästhetik …

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3.2 [Exkurs] Historiographie und Ästhetik (Über das Erhabene) Als wichtige Merkmale in Schillers ästhetischem Programm können – wie bereits beschrieben – zum einen die Autotelie oder Eigenlogik des ästhetischen Systems gelten, zum anderen aber komplementär dazu auch dessen Fähigkeit, sich die Inhalte anderer in seiner Umwelt operierender Systeme anzueignen und gemäß dieser Eigenlogik zu verarbeiten. Gesteht man insbesondere dem zweiten Merkmal eine besondere Relevanz für Schillers Denken und damit auch für die konzeptionelle Verfasstheit seiner Texte zu, so ergeben sich daraus unweigerlich auch Konsequenzen für die Einordnung von Textstellen, in denen Schiller ein anderes Feld, etwa die Moral, die Philosophie, die Politik oder die Geschichte aus der Perspektive des ästhetischen Feldes beobachtet. In Bezug auf Schillers Theorie des Erhabenen rückt hier insbesondere der von Wolfgang Riedel mit seinem Aufsatz Weltgeschichte als erhabenes Objekt prominent in den Forschungsdiskurs eigebrachte „Versuch, den wohl 1793 geschriebenen, 1801 gedruckten Aufsatz Über das Erhabene – die letzte der 1792/93 entstandenen Schriften – als einen philosophischen Schlüsseltext des ‚klassischen Schiller’ vorzustellen.“564 Riedel räumt zwar ein, dass „dieser kleine Traktat nicht nur (was unbestritten bleibt) als ein Beitrag zur Ästhetik und Poetik“ begriffen werden kann, versucht darüber hinaus aber zu belegen, dass er „zugleich als ein Beitrag zur Philosophie um 1800 zu lesen ist, genauer zur Philosophie der Geschichte.“565

Auf dieser methodischen Grundlage beschreibt Riedel die Entwicklung von Schil-

lers geschichtsphilosophischem Weltbild als einen drei Phasen durchlaufenden Prozess. Demnach habe sich Schillers Vorstellung von der Geschichte zunächst in Form einer „Geschichte von Gott und Welt, Gott und Mensch“ geäußert, in deren Kern der neuplatonische Gedanke stehe, die Einheit Gottes sei in der Welt der Natur auf unzählige Erscheinungen und Einzelindividuen zerstreut.566 Menschliches und damit auch historisches Handeln sei in diesem Denken durch ein – in der Regel unbewusstes – Bedürfnis nach einer „(Wieder-)vereinigung“ bestimmt, welches sich am deutlichsten in der Erscheinungsform der Liebe manifestiere.567 Geschichte wäre demnach als ein Resultat der mit einer göttlichen Aura durchdrungenen Naturordnung zu verstehen. Der Glaube an eine in allem Handeln der Menschen avisierte Retotatlisierung des Zerstreuten verweise dabei auch schon implizit auf die Vorstellung eines sich zum Besseren entwickelnden Ge 564 Riedel, „Weltgeschichte ein erhabenes Object“ 2002, S. 193. 565 Ebd.

566 Ebd. 567 Ebd.





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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

schichtsverlaufs. Diese insbesondere in Schillers Philosophischen Briefen aus dem Jahr 1786 zu verortende „Theo-Historie“568 sei jedoch in den folgenden Jahren anlässlich der Begegnung Schillers mit religionskritischen Texten seiner Zeit „in sich zusammen[gebrochen].“569 Im Gedicht Die Künstler, vor allem aber in der Antrittsvorlesung von 1789, werde – so Riedel – eine „Umschreibung des theohistorischen Konzepts in ein welt- und zeitimmanentes“ deutlich.570 Wissenschaft und Künste oder allgemein die menschliche Fähigkeit zur Reflexion bewirkten nach Schillers Geschichtsauffassung dieser zweiten Phase das teleologische Fortschreiten des Geschichtsverlaufs. Fortschritt sei nun für Schiller auch ohne Rückgriff auf eine providentielle Instanz erklärbar. Das geschichtliche Telos werde lediglich von der Rückgewinnung göttlicher Totalität auf die Kant’sche Vorstellung „einer bürgerlich-rechtlichen Weltgesellschaft im Schutze eines allgemeinen Weltfriedens“ verschoben.571 Dieses nach Riedels Auffassung noch die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande bestimmende Konzept gerate dann aber durch Schillers empirische Primärerfahrung der Revolutionsereignisse in Frankreich ins Wanken.572 In Anbetracht des Terreurs der Jakobiner modifiziere Schiller nun sein historisches Konzept dahingehend, dass er den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt im Geschichtsverlauf zwar weiter anerkenne, diesem jedoch eine im Bezug auf die Gegenwart um 1800 – an Rousseaus Erstem Discours geschulte – gesellschaftskritische Haltung zu Seite stelle.573 Damit sei der Weg hin zur dritten Phase in Schillers geschichtsphilosophischer Entwicklung vollzogen, in der das teleologische Denken etwa der Antrittsvorlesung von einem tiefen Skeptiszimus gegenüber dem Geschichtlichen überhaupt verdrängt worden sei.574 Den Höhepunkt dieses Unbehagens gegenüber der Vorstellung eines teleologischen Fortschreitens der Geschichte sieht Riedel in der Abhandlung Über das Erhabene erreicht, die er als Beleg dafür heranzieht, dass Schiller nun überzeugt von einem „ziel- und vernunftlose[n] Driften der historischen Prozesse“575 sei. Kurz: Schiller habe jegliche Ordnungsstruktur aus seinem Geschichtsdenken getilgt und betrachte die Folge historischer Ereignisse als eine Aneinanderreihung bloßer Zufälle. Kausalität und Finalität werden nach Riedels Interpretation des Schiller’schen Geschichtsdenkens schließlich, so könnte man sagen, ersetzt durch eine Ubiquität der Kontingenz.

568 Ebd.

569 Ebd., S. 198. 570 Ebd., S. 199. 571 Ebd., S. 201. 572 Vgl. ebd., S. 204. 573 Vgl. ebd., S. 205.

574 Vgl. ebd., S. 207–211. 575 Ebd., S. 207.





3.2 [Exkurs] Historiographie und Ästhetik …

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Nun ist Riedels dreistufiges Modell zur Genealogie des geschichtsphilosophischen

Denkens Friedrich Schillers zwar durchaus eine beachtliche heuristische Qualität zuzuschreiben. Auch können für jede der drei identifizierten Phasen zahlreiche Belege in Schillers Texten angeführt werden. Aus der Perspektive dieser Arbeit sind jedoch zwei Argumente vorzubringen, die eine Differenzierung und teilweise auch eine Relativierung von Riedels Modell nahelegen. Das erste Argument dreht sich unter Rückgriff – insbesondere auf das Kapitel zu Schillers Antrittsvorlesung in dieser Arbeit – um die Frage, ob sich eine Einteilung der Geschichtsauffassung Schiller in eine theologische, eine teleologische und skeptizistische Phase tatsächlich trennscharf durchführen lässt oder ob nicht viel eher von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im historischen Bewusstsein Schillers auszugehen ist. Das zweite Argument fragt – im Anschluss an die in dem vorangehenden Kapitel bereits durchgeführten Analysen zu Schillers Ästhetik des Erhabenen – danach, ob es methodisch überhaupt zulässig ist, Über das Erhabene nicht nur als ästhetischen, sondern, wie Riedel dies tut, gleichzeitig auch als geschichtsphilosophischen Text zu lesen. Ungleichzeitigkeit statt Stufenentwicklung

Bezüglich der Geschichtsauffassung in Schillers Antrittsvorlesung muss zunächst

rekapituliert werden, dass dort Schillers Gegenwart, verstanden als das Zeitalter der Aufklärung, zwar in hellen Farben gezeichnet wird, dass Schiller sich in seinem Text aus dem Jahr 1789 jedoch bereits der Tatsache bewusst ist, dass es sich bei dieser optimistischen Perspektive um eine noch zu korrigierende Einseitigkeit handelt. Das ausgehende 18. Jahrhundert stellt für Schiller zwar einen Höhepunkt im zivilisatorischen Prozess dar. Dennoch betont der Text seiner Antrittsvorlesung bereits explizit, dass eine skeptische Perspektive auf Teile der Gegenwart durchaus vonnöten ist: „Wahr ist es, auch in unser Zeitalter haben sich noch manche barbarische Überreste aus den vorigen eingedrungen, Geburten des Zufalls und der Gewalt, die das Zeitalter der Vernunft nicht verewigen sollte.“ (V, 757). Dass Schillers Auffassung nach die Weltgeschichte vom Zufall bestimmt ist, dem Menschen jedoch die Verfügbarkeit über den Augenblick gegeben ist, wurde schon oben als bestimmende geschichtsphilosophische Maxime der Monographie über den Abfall der vereinigten Niederlande (und des Don Karlos) identifiziert. Und auch in der 1794/95 – und damit nach der vermutlichen Entstehung von Über das Erhabene 1793 – verfassten Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen findet sich diese



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ambivalente Bewertung der Gegenwart um 1800. So äußert Schiller dort seine gesellschaftliche Skepsis in deutlichen Worten und attestiert seiner Zeit eine Prägung durch „rohe und gesetzlose Triebe“ (V, 580) auf der einen und „einen „Anblick der Schlaffheit und der Depravation des Charakters“ (V, 580) auf der anderen Seite. Auf der anderen Seite werden im Fünften Brief der Abhandlung auch Errungenschaften des Aufklärungszeitalters hervorgehoben: Wahr ist es, das Ansehen der Meinung ist gefallen, die Willkür ist entlarvt, und, obgleich noch mit Macht bewaffnet, erschleicht sie doch keine Würde mehr; der Mensch ist aus seiner langen Indolenz und Selbsttäuschung aufgewacht, und mit nachdrücklicher Stimmer fordert er die Wiederherstellung seiner unverlierbaren Rechte. (V, 579)

Es ergibt sich damit das Bild einer gewissen Kontinuität in Schillers skeptischem Denken, die zumindest von der Monographie zum Abfall der vereinigten Niederlande über die Antrittsvorlesung und die Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen bis zum Traktat Über das Erhabene reicht. Man könnte sogar diskutieren, ob die Linie nicht noch um die in Schillers frühen dramentheoretischen Texten virulente Skepsis gegenüber dem zeitgenössischen Theaterpublikum ergänzt werden könnte. Deutlich ist jedoch vor allem, dass sich Schillers Skepsis sowohl auf historische als auch auf zeitgenössische Gegebenheiten erstreckt, dabei gleichzeitig jedoch permanent auch ergänzt und relativiert wird durch Passagen, in denen eine Positivbewertung historischer, gegenwärtiger oder zumindest zukünftiger Gegebenheiten vorgenommen wird. Schillers Skeptizismus gegenüber dem Historischen beschränkt sich also keinesfalls auf die Endphase seines Werkes.

Nun genügt dies gerade noch nicht als abschließendes Argument gegen die An-

nahme, mit Über das Erhabene verabschiede sich Schiller von der Hoffnung, dass sich die Defizienzen seiner Gegenwart im Fortschreiten des teleologischen Geschichtsverlaufs auflösen würden. Es drängt sich jedoch die Frage auf, inwieweit die auf wenigen Seiten in Über das Erhabene entfaltete Geschichtsskepsis hinreichend für die Annahme sein kann, dass Schiller sein Geschichtsbild nun komplett dahingehend revidiert, dass ab jetzt das „schöne Bild der Fortschrittsgeschichte [...] dem ‚erhabenen’ der Geschichte als permanenter Ernstfall, als stets katastrophenbedrohte, unbeherrschbare ‚Risikogeschichte’“576 weichen würde. Die Negativbeschreibung von Geschichte und Gegenwart diente ja in den früheren Texten gerade der Legitimierung eines aufklärerischen Programmes, das seinen Beitrag zur Positiventwicklung der Geschichte leisten soll. Inwieweit nun ein Gegenwartsereignis wie das Umschlagen der Französischen Revolution in den Terreur

576 Ebd., S. 207.





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zu einem generellen Zusammenbruch des teleologischen Programms führen muss, ist zumindest begründungspflichtig, bedenkt man, dass Schillers Vorstellung einer teleologischen Geschichtsentwicklung doch immer schon Negatives, Böses, Regressives in sich berücksichtigte, dabei jedoch stets von der Annahme getrieben war, dass deratige Negativtendenzen über spezifische Mechanismen letztlich doch wieder ins Positive transformiert werden könnten. Liest man etwa die einschlägige Textstelle aus Schillers Brief an den Herzog von Augustenburg vom Juli 1793, in der Schiller angesichts der Exekution Ludwigs XVI. seine Enttäuschung darüber äußert, dass die Ereignisse in Frankreich, statt den historischen Fortschritt wie gehofft zu beschleunigen, „einen beträchtlichen Theil Europens, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarey und Knechtschaft zurückgeschleuder[t]“ (NA 26, 262) hätten, so zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass hier die teleologische Geschichtsauffassung keineswegs zwingend suspendiert wird. „Zurückgeschleudert“ werden kann doch im Prinzip nur etwas, das sich per se im Rahmen einer zielgerichteten Bewegung nach vorne befindet. Und auch die Aussage, solange der „Egoismus“ die bestimme Kraft im staatlichen wie individuellen Handeln sei, „solange [müsse auch][...] die politische Regeneration, die man so nahe glaubte, nichts als ein schöner Traum bleiben“ (NA 26, 265), spiegelt eher eine Enttäuschung hinsichtlich des erhofften (zeitnahen) Erreichens einer signifikanten Schwelle auf der teleologischen Linie als den Zusammenbruch des teleologischen Denkens überhaupt wieder. Sobald der Egoismus überwunden ist, können dieser Logik gemäß durchaus Fortschritte in der Menschheitsgeschichte erwartet werden. Noch dem Traktat Über das Erhabene scheint diese Auffassung latent eingeschrieben. Sichtbar wird dies etwa dann, wenn Schiller vergleichbar wie schon in Über die ästhetische Erziehung des Menschen wenigstens implizit von einer noch nicht abgeschlossenen historischen Entwicklung spricht: „Soweit die Geschichte bis jetzt gekommen ist, hat sie von der Natur (zu der alle Affekte im Menschen gezählt werden müssen) weit größere Taten zu erzählen als von der selbstständigen Vernunft.“ (V, 803). Die geschichtsskeptischen Passagen in Über das Erhabene scheinen damit, für sich betrachtet, kaum geeignet, um einen generelle Geschichtsskeptizismus in Schillers historischem Denken ab 1793 zu begründen. Sie sind viel eher als Fortführung von Bewertungen der Geschichte und der zeitgenössischen Gegenwart zu lesen, die Schillers Texte seit den 1780er Jahren durchziehen, die in diesen jedoch stets in größere und weniger pessimis-





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tische Zusammenhänge eingebunden sind.577 Geschichtsskepsis bildet so gesehen immer schon einen wichtigen Bestandteil in Schillers Auffassung, dass die nachantiken Gesellschaften ganz maßgeblich durch Ambivalenzen gekennzeichnet sind. Der Geschichtspessimismus in Schillers poetologischen und geschichtsphilosophischen Texten zeigt sich damit als eine bewusst (und auch mit dem Wissen über ihre Kontingenz) gewählte Perspektive.578

Nun finden sich in Über das Erhabene zwar auch Stellen, in denen sich Schiller

scheinbar direkt und eindeutig gegen eine teleologische Auffassung von Geschichte ausspricht. So spricht er etwa davon, dass zwar in der „bedenklichen Anarchie der moralischen Welt die Quelle eines ganz eignen Vergnügens“ liegen könne (V, 802). Doch auch der innere Drang des beobachtenden Subjekts, diese kontingenten, anarchischen Erscheinungen verstandesmäßig zu ordnen, berge die Gefahr von Enttäuschungen: Wer freilich die große Haushaltung der Natur mit der dürftigen Fackel des Verstandes beleuchtet und immer nur darauf ausgeht, ihre kühne Unordnung in Harmonie aufzulösen, der kann sich einer Welt nicht gefallen, wo mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint und bei weitem in den mehrsten Fällen Verdienst und Glück miteinander im Widerspruche stehn. Er will, dass alles wie in einer guten Wirtschaft geordnet sei, und vermißt er, wie es nicht wohl anders sein kann, diese Gesetzmäßigkeit, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als von einer zukünftigen Existenz und von einer anderen Natur die Befriedigung zu erwarten, die ihm die gegenwärtige und vergangene schuldig bleibt. (V, 802)

Es liegt jedoch nahe, diese Textstelle nicht – wie Riedel dies tut – als eine Zurückweisung des teleologischen Denkens der Antrittsvorlesung zu lesen. Unter anderem fällt bei genauer Betrachtung der Passage auf, dass Schiller sich konsequent darum bemüht, bei 577 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an Schillers Methode, gesellschaftskritische und utopis-

tische Haltungen nicht in einen direkten Dialog zueinander zu bringen, sondern beide zunächst isoliert nebeneinanderzustellen. Ein Beispiel dafür wäre die bereits angeführte Aufteilung der Kritik des Gegenwartstheaters und der Konzeption eines idealen zukünftigen Theaters auf die Paralleltexte Über das gegenwärtige deutsche Theater und Über die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet. (Vgl. dazu auch Zelle, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich leisten? 2005, S. 346–348). Eine ähnliche Strategie verfolgen auch die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Dort wird insbesondere im 5. Brief eine ungebrochene Zeitkritik entfaltet, deren Reflexion und Einordnung dann erst in Nachgang erfolgt. Bereits der 6. Brief beginnt mit einem den 5. Brief neu rahmenden Blick: „Sollte ich mit dieser Schilderung dem Zeitalter wohl zuviel angetan haben?“ (V, 581). Und auch wenn diese Frage schließlich verneint wird, versucht der 6. Brief eine vertiefende genealogische Analyse der Oberflächenerscheinungen des 5. Briefes durchzuführen, die zumindest nahelegt, dass die Darstellungen des 5. Briefes per se nicht die absolute Gültigkeit beanspruchen können, die eine alleinige Betrachtung des 5. Briefes nahelegen würde. Zusammenfassend bedeutet dies, dass es vielfach sinnvoll ist, Schillers Texte in ihren – werkimmanenten, aber auch intertextuellen – Kontexten zu betrachten, da eben dadurch die in einzelnen Textpassagen getroffenen Aussagen oft an Absolutheit verlieren und ganz andere Bewertungen erfahren müssen. Nicht zuletzt gilt das natürlich auch für die sich in einer Theorie des Schönen und einer Theorie des Erhabenen aufspaltende doppelte Ästhetik Schillers. 578 Darauf, dass diese Perspektive in Schillers Theorie des Erhabenen wiederum ihrerseits als Material für Techniken der Subjektivierung dienen kann und so mittelbar auch auf die Realität zurückwirkt, wird später noch einzugehen sein. Wichtig ist an dieser Stelle vor allem die Beobachtung, dass sich Schiller darüber im Klaren ist, dass er auch eine andere als diese pessimistische Perspektive hätte wählen können, dass er seine Geschichtsskepsis also im Wissen über ihre Gebundenheit an einen spezifischen Standpunkt entfaltet.





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aller Kritik am klassifizierenden Denken seiner Zeit eine generelle Zurückweisung rationaler Methodik zu vermeiden. Stattdessen wird hier betont, dass es verfehlt sei, „immer nur“ nach einer Überführung von Kontingenz in Ordnung zu streben. Stattdessen sei anzuerkennen, dass die Realität „mehr“ durch Kräfte geprägt zu sein „scheint“, die sich dem menschlichen Zugriff entziehen als durch von menschlicher Ratio bestimmte Handlungen. Explizit ist eben nicht davon die Rede, dass Ordnungsbildung generell problematisch oder die Realität überhaupt nicht durch menschliches Handeln gestaltbar sei. Selbst dass der Zufall quantitativ eine größere Rolle in der Geschichte einnimmt als menschliches Planungsverhalten, wird vorsichtig als ein Eindruck ausgewiesen, der durchaus auch revidiert werden könne. Schiller wendet sich hier also weniger gegen rationale Methoden als solche, sondern – in Kontinuität zu früheren Texten, wie der Anekdote Eine großmütige Handlung oder der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande – gegen eine ausschließliche, maßlose, hypertrophe Anwendung derartiger Techniken.

Nimmt man die in der Textstelle aufgerufenen Zeitverhältnisse ernst, so ist auch

deren letzter Satz nicht zwingend als Überwindung des noch Schillers geschichtswissenschaftliche Phase so bestimmenden teleologischen Denkens zu lesen. Teleologisches Denken wird hier im Gegenteil als ein durchaus gangbarer – wenngleich letztlich auch nicht hinreichender – Ausweg aus den Enttäuschungen über die Defizienzen der Gegenwartsgesellschaft skizziert. Deutlich wird, dass – Schillers Auffassung nach – zwar Gegenwart und explizit auch historische Vergangenheit den Ansprüchen, wie sie die Aufklärung formuliert, nicht genügen. Die Möglichkeit einer zukünftigen Verwirklichung dieser Ansprüche stellt Schillers Text jedoch zu keinem Zeitpunkt in Frage. Skizziert wird hier vielmehr das Problem, dass die Kompensation von Übeln durch die Hoffnung auf eine bessere, vom Subjekt aber selbst nicht mehr erfahrbare, weil weit in der Zukunft liegende, Utopie unbefriedigend ist. Insbesondere führt eine derartige Haltung nahezu notwendig zu einer stoizistische579 Passivität befördernden Exklusionslogik, in der jeglicher Anreiz für das Subjekt ausbleibt, durch eigenes Handeln zu einer Beförderung oder Beschleunigung des geschichtlichen Fortschrittsprozesses beizutragen. Stattdessen führt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft notwendigerweise zu einer Art vita contemplativa, zu einer Ausblendung der historischen und gegenwärti 579 Hier wird deutlich, dass sich Schiller (wie schon in seinen frühen Texten) stoizistische Vorstellungen

aneignet, diese bearbeitet und – wie das Kapitel im Folgenden noch zeigen wird – für seine Theorie des Erhabenen dergestalt funktionalisiert, dass sie sich passgenau in das in der Antrittsvorlesung artikulierte geschichtsteleologische Programm einfügen.





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gen Realitäten, kurz: zu eben dem Konzept, welches Schillers ‚Theorie des Schönen’ vorbehalten ist und welches seine ‚Theorie des Erhabenen’ explizit zurückweist. Dass Schiller das in der geistigen Flucht in eine bessere Zukunft eingeschlossene Ausblenden des historischen Fortschritts kritisiert, bedeutet eben gerade nicht, dass er dessen Existenz leugnete.

Zusammenfassend kann damit bezüglich des ersten Arguments – das Riedels

Phaseneinteilung der Geschichtsauffassung Schillers kritisch hinterfragen sollte – festgehalten werden: Weder kann man davon sprechen, dass die Antrittsvorlesung Schillers einem einfachen und undifferenzierten Teleologiemodell das Wort redet, in dem kein Raum für geschichtsskeptische Tonlagen wäre und das einem naivem Fortschrittsoptimismus und einer beschönigenden Gegenwartsdiagnose verfallen wäre. Noch trifft es zu, dass der Traktat Über das Erhabene einen über Hegel auf die Postmoderne verweisenden Bruch580 mit dem Ordnungsdenken der Aufklärung im Allgemeinen und der teleologischen Geschichtsauffassung im Besonderen darstellt. Schillers Geschichtsdenken bleibt vielmehr auch über verschiedene Werksphasen hinweg relativ konstant. Veränderungen in diesem Denken vollziehen sich weniger über die vollständige Zurückweisung älterer Positionen, als vielmehr über deren Ausdifferenzierung oder deren Relativierung. Der Schritt hin zu einer Geschichtsauffassung, die sich von (teleologischen) Ordnungsvorstellungen vollständig verabschiedet, ist Schiller noch nicht möglich. Er liegt auch nicht in der Fluchtlinie eines Denkens, das beständig um die Frage nach Kontingenz und deren Bedingungen, Erscheinungsformen und poetischen Potentialen kreist. Denn – darauf hat Reinhart Koselleck mit Blick auf Wilhelm von Humboldt hingewiesen – erst mit dem Anbruch des 19. Jahrhunderts beginnt sich die Auffassung von der Geschichte in fundamentaler Weise zu verändern. Das Geschichtsdenken Humboldts und seiner Zeitgenossen affirmiert nämlich das Phänomen der Kontingenz nachgerade vollständig – beraubt es damit aber gleichzeitig auch jeglicher Erklärungskraft: „Humboldt lebte von einer neuen Erfahrung von Geschichte, und er brachte sie auf ihren Begriff, der dem folgenden Historismus sein Selbstverständnis ermöglichte. Die Geschichte in ihrer Einmaligkeit verzehrte den Zufall.“581 Der Zufall und weiter gefasst auch die Kontingenz werden im Anschluss an Humboldt zu ubiquitären und damit selbstverständlichen Erscheinungsformen in den Geschichts- und Gegenwartsbeschreibungen. Im literarischen Feld vollzieht sich analog dazu zur gleichen Zeit die Ablösung des Dramas als literarische

580 Vgl. Riedel, „Weltgeschichte ein erhabenes Object“ 2002, S. 211–214. 581 Koselleck, Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung 1989, S.173.





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Hauptgattung durch den Roman und damit der Ersatz einer Darstellungsform, die bei aller Offenheit für Kontingenz und Zufall doch einem mehr oder weniger strengen Ordnungsprinzip folgeleistet, durch eine andere, die Kontingenz praktisch als bestimmendes Konstitutionsmerkmal in sich aufnimmt. Entsprechend beschäftigt sich im Übrigen auch die Forschung zu Thema ‚Kontingenz in der Literatur’ vor allem mit dem modernen Roman.582 Ihr theoretisches Analysewerkzeug gewinnen Arbeiten zur Kontingenz im Roman dann häufig aus dem Bereich der Philosophie,583 was wenig verwundert, da dem modernen Roman aufgrund der ihm eigenen Ubiquität der Kontingenz ein Differenzpunkt fehlt, aus dem sich etwa eine wissenspoetologische Perspektive auf das Phänomen einnehmen ließe. Und hierin liegt dann auch die diesbezügliche Qualität von Schillers Arbeiten. Eben weil Schiller das Ordnungsdenken der Aufklärung noch nicht vollständig überwunden und weil er noch keine Auffassung entwickelt, in der Kontingenz und Zufall zu allgegenwärtigen und nicht mehr hinterfragten Selbstverständlichkeiten avanciert sind, kann er beides in seinen Texten sichtbarer machen als die moderneren Romane. Eben deshalb kann er das Wechselverhältnis aus Kontingenz und Ordnung intensiver reflektieren und überhaupt erst wissenspoetologisch bearbeiten. Die Modernität Schillers läge demnach nicht darin, dass er Denkweisen entwickelte, die im postmodernen Denken wieder an Aktualität gewännen, sondern gerade darin, dass er – und das gilt gleichermaßen auch für manch anderen Autor des ausgehenden 18. Jahrhunderts – in der historisch kurz zu bemessenden Zeitspanne schriftstellerisch tätig war, die noch nicht vollständig der Moderne zuzurechnen ist, die deren Phänomene jedoch – wenngleich aus heutiger Sicht mit unzeitgemäßen Mitteln – bereits in den Blick nimmt. Eben weil Schillers Texte sich – nimmt man Kosellecks Text zum Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung zur Grundlage – auf der Schwelle zwischen Archenholtz und Humboldt584 bewegen, eben weil Schiller das noch weit in die Aufklärung hineinreichende Fortuna-Denken überwunden, die Auffassung von einer Allgegenwart der Kontingenz oder einen dadurch erst möglichen umfassenden Geschichtsskeptizimus noch nicht vollständig erreicht hat, sind seine Texte besonders geeignet, das theoretische und poetologische Wissen zu generieren, mittels dessen sich die späteren, moderneren Texte besser verstehen lassen. Maßgabe der vorliegenden Arbeit ist daher auch nicht, Schillers Methode, Kontingenz auf der einen Seite und Ordnung – hier eben in der Form der Tele 582 Beispielhaft sei hier auf die in dieser Arbeit mehrfach zitierte Studie Stella Buttes zum englischen Ro-

man verwiesen: Butter, Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung 2013.

583 Siehe ebd.

584 Vgl. Koselleck, Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung 1989, S. 158–175.





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ologie – auf der anderen stets und auf immer neue Weise zusammenzudenken beziehungswese aufeinander zu beziehen, als ein unzeitgemäßes, überholtes Denken zu kennzeichnen, sondern stattdessen in seinen Erklärungspotentialen Ernst zu nehmen. Möglich ist dies aber nur, wenn man in Schillers Geschichtsdenken noch nicht den umfassend skeptizistischen Blick späterer Jahrhunderte erblickt, wie Riedel dies tut, sondern wenn man auch die ‚nicht-modernen’ Elemente in der Analyse seines Denkens berücksichtigt, die sich etwa in den beschriebenen teleologischen Ordnungsvorstellungen manifestieren, und die Schiller als einen Denker auf der Schwelle zur Moderne ausweisen, der zwar bereits in unsere moderne Zeit blickt, ohne deswegen schon unser Zeitgenosse zu sein. Erhabene Ästhetik – das Geschichtliche unabhängig von der Geschichte betrachten Wichtig ist jedoch festzustellen, dass Über das Erhabene nicht nur die übertriebenen Erwartungen der Aufklärungsgesellschaft an ihre Gegenwart als illusorisch ausweist und dass der Text nicht nur die Kompensation der sich notwendig einstellenden Erwartungsenttäuschungen (mittels der Flucht in die Hoffnung auf eine utopische Zukunft) als wenig befriedigende Lösung entlarvt. Der Traktat legt darüber hinaus auch dar, wie die (gerade von Schiller identifizierten) Defizienzen der Gegenwartsgesellschaft mittelbar in Katalysatoren des gesellschaftlichen Fortschritts gewandelt werden können. Dies geschieht – so die These – weniger auf geschichtsphilosophischem Weg als vielmehr über die Beschreibung anthropologisch-ästhetischer Subjektivierungstechniken. Mittelbar führt dies, wie zu zeigen sein wird, zu einer Aufladung der Ästhetik mit geschichtswirksamen Potentialen, ohne – und das ist hier entscheidend – dass die Ästhetik ihren autonomen Eigencharakter einbüßen würde. Dass sich Über das Erhabene als genuin ästhetischer Text überhaupt mit einer Darstellung der Defizienzen der zeitgenössischen Gegenwart und der Geschichte befasst, liegt daran, dass der Text – Schillers ästhetischem Programm entsprechend – danach fragt, wie die Kunst (die ihr etwa von der Historiographie zur Verfügung gestellten) Umweltinformationen unter Anwendung einer ästhetischen Eigenlogik verarbeiten kann. Über das Erhabene, so die These, betreibt dabei eben keine Geschichtsphilosophie (und weist damit auch keine geschichtsskeptische Haltung auf), sondern führt vor, auf welche Weise Historisches zum Material für die ästhetische Bearbeitung werden kann.



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Schillers ‚Theorie des Erhabenen’ orientiert sich bekanntlich an der Kant’schen Unterscheidung einer ‚mathematischen’ und einer ‚dynamischen Erhabenheit’. 585 In Rückgriff auf das Konzept des mathematisch-Erhabenen entwickelt Schillers Traktat Über das Erhabene zunächst den Standpunkt, dass die rationale Beobachtung der Geschichte und der Gegenwart schon aufgrund der überbordenden Komplexität der Strukturen, Sozialbeziehungen und Ereignisketten des Geschichtlichen bzw. des Gesellschaftlichen zwangsläufig scheitern muss. Das „gesetzlose Chaos von Erscheinungen unter eine Einheit der Erkenntnis“ bringen zu wollen, übersteigt – so Schiller – die Kapazitätsgrenze des menschlichen Verstandes (V, 802). Dieses Scheitern des kategorisierenden Verstandes ermögliche dem Subjekt jedoch die Erfahrung seiner reinen Vernunft. Dass Geschichte und Gesellschaft ohne zentrale Steuerung oder ohne ordnendes Zentrum erscheinen, also ohne die „eine Zweckverbindung unter diesem Gedränge an Erscheinungen“ (V, 802–803), lässt beide in Schillers Augen „für den Verstand, der sich an diese Verbindungsform halten muß, übersteigend und unbrauchbar werden, macht sie [aber auch] zu einem desto treffenderen Sinnbild für die reine Vernunft, die in eben dieser Ungebundenheit der Natur ihre eigne Unabhängigkeit von Naturbedingungen dargestellt findet.“ (V, 803). Die Beobachtung komplexer sozialer Strukturen und Prozesse beziehungsweise die ästhetische Vermittlung einer derartigen Beobachtung etwa im Geschichtsdrama ermöglicht dann diejenigen Erhabenheits- und Unabhängigkeitserfahrungen, die sie Schiller schon in den Zerstreuten Betrachtungen über ästhetische Gegenstände dezidiert beschrieben hat. Dass sich historische Ordnung Schillers Ansicht nach verstandesmäßig nicht erfassen lässt, heißt jedoch nicht, dass er ihr die Existenz abspricht. Zu fragen wäre daher eher, ob Schillers Darstellung nicht sogar implizit nahelegt, dass die Vernunft gerade derartige, sich dem verstandesmäßigen Begreifen entziehende Ordnungen, erkennt. Näher ausgeführt werden derartige Überlegungen in Über das Erhabene jedoch nicht, was daher rührt, dass Schiller – und hier fallen Kant’sche Philosophie und ästhetischer Fokus ineinander – sich nicht mehr für die tatsächlichen (historischen) Gegebenheiten interessiert, sondern vielmehr für die durch die Beobachtung historischer Sachverhalte im Subjekt ausgelösten psychologischen Prozesse. Nicht die chaotischen und kontingenten Geschichtsereignisse selbst interessieren also. Vielmehr wird das Scheitern des Verstandes, diese zu erfassen und zu kategorisieren, zum Ausgangspunkt einer subjektiven Selbsttechnik. Indem der verfehlte Versuch einer verstan

585 Vgl. Zelle, Über das Erhabene 2011, S. 484.





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desmäßigen Erfassung der historischen Komplexitäten als notwendige Voraussetzung für das Erkennen der eigenen, den Verstand übersteigenden, Vernunftkräfte gereicht, erhält er selbst eine wichtige Funktion in Schillers Theorie des Erhabenen. Auch hier erfolgt also keine Suspension des rationalen Denkens im Generellen. Vielmehr werden Momenten des Zusammenbrechens rationaler Techniken als Ermöglichungsbedingung reinen Vernunfterlebens funktionalisiert. Erst die Erfahrung der Unzulänglichkeit des Verstandes, die komplexen und kontingenten Strukturen der Geschichte zu begreifen, kann das Subjekt zu einer neuen Haltung gegenüber dem Historischen bewegen, die sich gar nicht mehr um ein Verständnis der Geschichte bemüht, sondern diese lediglich als Material für selbsttechnisch herbeigeführte Perfektibilität nutzt: Dies geschieht – so Schiller – indem das Subjekt „darauf resigniert, sie [die Geschichte, M.K.] zu erklären, und diese ihre Unbegreiflichkeit selbst zum Standpunkt der Beurteilung macht“ (V, 804), indem es also vollständig auf die Überführung von Kontingenz in Ordnung verzichtet, stattdessen aber die historischen und gesellschaftlichen Kontingenzen anerkennt und die Begegnung mit diesen – von Schiller verstanden als ästhetisches Erleben und eben nicht als historisches Wissen – zur Beförderung der persönlichen Entwicklung beziehungsweise Bildung gebraucht. Schiller beschreibt dann im darauf folgenden Abschnitt auch, wie der Prozess des Erlebens dynamischer (oder in seinen Begriffen: pathetischer) Erhabenheit analog zu diesem Erleben mathematischer (oder: theoretischer) Erhabenheit abläuft. Während das Konzept der mathematischen Erhabenheit darauf beruht, dass hierüber die Grenzen der Verstandeskräfte sichtbar werden und dem Subjekt so die Erfahrung ermöglicht wird, dass es mit der Vernunft ein den Verstand überschreitendes Prinzip in sich trägt, führt das Konzept der dynamischen Erhabenheit auf andere Weise zum gleichen Ergebnis: Hier erfährt das Subjekt seine Unabhängigkeit von Umwelteinflüssen dadurch, dass es Erfahrungen physischen Leids bewältigt. Das – ästhetisch vermittelte und dadurch gedämpfte – Erleben etwa von Grausamkeit oder Gewalt ermöglicht, so Schiller, eine Erfahrung der anthropologisch verankerten, vom bloßen körperlichen Erleben entkoppelten Widerstandskräfte der Vernunft: „Noch viel weiter als die sinnlich-unendliche führt uns die furchtbare und zerstörerische Natur, solange wir nämlich bloß freie und Betrachter derselben bleiben.“ (V, 804) Durch die ästhetisch vermittelte Erfahrung menschlichen Leids, wie sie in der die Geschichte beispielhaft und in zahlreicher Form zu finden ist, „gewinnt das selbständige Prinzipium in unserm Gemüte Raum, seine absolute Independenz zu behaupten.“ (V, 805) Wenn Schiller dann in der Folge davon



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spricht, dass das Pathetische „eine Inokulation des unvermeidlichen Schicksals“ darstellt, mittels derer „es seiner Bösartigkeit beraubt und der Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird“ (V, 805–806), so schreibt er zum einen, wie Cornelia Zumbusch es auf den Punkt bringt, die in den früheren Schriften zur Erhabenheit artikulierten „darstellungstheoretischen Anweisungen zur erhabenen Handlung konsequent zu einer rezeptionsästhetischen Figur um.“586 Zum anderen – könnte man mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit ergänzen – zeigt sich hier jedoch auch eine Transformation der im Fokus stehenden Kontingenzform. Das im Geschichtlichen als rational nicht fassbare und physisch unabwendbare Macht erscheinende Schicksal, wird in ästhetischer Betrachtung zu einem bloßen Material für die Eigenlogik des Ästhetischen, die bekanntlich darin bestehen soll, den Stoff so zu formen, dass er Vergnügen beim Rezipienten auslöst. Die Kunst kann in diesem Sinne aus der Geschichte diejenigen Schicksale wählen, die sich in ihr spezifisches Programm einfügen lassen. Die Rezipienten wiederum können die so dargestellten Schicksalsereignisse zu einer Beförderung ihrer Perfektibilität nutzen. Kurz: Im Moment des Pathetisch-Erhabenen vollzieht sich eine Transformation von Widerfahrnis in Gestaltaltbarkeit oder genauer von empirischer Notwendigkeit in ästhetische Möglichkeit. Damit verschiebt sich also sowohl die Kontingenzform (eben von Widerfahrnis- in Gestaltbarkeitskontingenz) als auch der Ort, an dem sich Kontingenz primär konzentriert (von der Realität auf die Möglichkeitsform Kunst). Parallel vollzieht sich dann auch eine Änderung in der Präsentationsweise von Kontingenz (vom Verweis auf das reale Leben hin zu zum Vollzug ästhetischen Erlebens). In diesem Sinne ist auch das wohl bekannteste Zitat aus der Abhandlung Über das Erhabene zu verstehen. Wenn Schiller mit Blick auf den Tod fordert, der Mensch solle diese physische Gewalt „ganz und gar aufheben“ und „dem Begriff nach vernichten“, was seines Erachtens im Konkreten bedeutet, sich derselben „freiwillig zu unterwerfen“ (V, 794), so beschreibt dies eine Technik, mittels derer der reale Tod als reines Widerfahrnismoment aus der Aufmerksamkeit des Beobachters ausgeblendet und seine existentielle Bedrohlichkeit mit einem gewissen Latenzschutz versehen wird. Statt gegen die Unvermeidlichkeit des Todes – Schiller spricht von einer „Resignation in die Notwendigkeit“ (V, 794) – anzukämpfen, solle der Beobachter die in ihm liegende „ästhetische Tendenz“ in der Betrachtung des Todes wirken lassen und sich den Potentialen, die der Tod

586 Zumbusch, Die Immunität der Klassik 2011, S. 129.





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als Gegenstand der Kunst für die Ausbildung subjektiver Perfektibilität bereithält, nicht verschließen: Dies würde dann zu einer Erweckung der „menschlichen Natur“ und durch diese vermittelt zu einer „Läuterung seiner [des Menschen, M.K.] Gefühle“, zu einem „idealistischen Schwung des Gemüts kultiviert werden“ können (V, 794).587 Der Tod als fiktiver, als literarischer beziehungsweise ästhetischer Gegenstand wird hier klar unterschieden vom Tod als reeller Erscheinung. Schiller trifft – und das ist der für dieses Teilkapitel entscheidende Punkt – also auch hier also keine Aussage zu wirklichen (historischen oder gegenwärtigen) Sachverhalten. Generell kann also nur schwerlich eine geschichtsskeptische oder gegenwartskritische Haltung in Über das Erhabene verortet werden. Schiller geht es stattdessen ausschließlich um eine Explikation der Möglichkeiten ästhetischer Weltwahrnehmung bzw. um eine Darlegung von deren produktions- und rezeptionsästhetischen Grundlagen. Dass eine ästhetische Erziehung in diesem Sinne mittelbar auch auf das real-historische Fortschreiten der Gesellschaft zurückwirken kann, dessen utopischer Fluchtpunkt in Über die ästhetische Erziehung des Menschen skizziert wurde, ist dabei aber sicher einkalkuliert. Schillers Texte zum Erhabenen mit ihrem genuinen Fokus auf poetologische und ästhetische Fragestellungen deuten die dort explizierte Utopie eines ästhetischen Staates jedoch nur sehr vage an. Vor allem bietet das in seine Theorie des Erhabenen einfließende Konzept individueller Perfektibilität für Schiller zunächst die Möglichkeit, teleologisches beziehungsweise finales Denken auch über die Kant’sche Wende in der Philosophie zu retten und für sein Programm nutzbar zu machen. Nur ist das Perfektibilitätsdenken bereits in Schillers Texten vor der Begegnung mit Kant als Komplement zur Vorstellung einer Fortschrittsentwicklung der Geschichte angelegt. Schon die Antrittsvorlesung wendet mehr Raum für die Beschreibung der Subjektivierungstechniken des Historikers auf als für den geschichtsteleologischen Effekt der unsichtbaren Hand. Auf teleologisches Denken kann Schiller jedoch auch nach der Lektüre der Kritik der Urteilskraft nicht vollständig verzichten. Bei allen Relativierungen, Variationen und Transformationen, die das Konzept der (teleologischen) Ordnung bei Schiller durchläuft, bleibt es als Folie, von der sich die zahlreichen Erscheinungsformen des Kontingenten und der Kontingenz überhaupt erst abheben können, in seinen Texten relevant. 587 Da sich mit der „Resignation in die Notwendigkeit“ des Todes also ein Perspektiv– und damit verbun-

den auch ein Systemwechsel von der Beobachtung einer existentiellen Gewalt hin zu einer Beobachtung von ästhetischen Potentialen vollzieht, kann auch nicht die Rede davon sein, dass der Text etwa den (physischen) Selbstmord befürworte. Schillers Argument zielt eben lediglich auf die Unterscheidung zweier Beobachtungsmodi – eines „realistischen“ und eines „idealistischen“ (V, 794) bzw. ästhetischen.





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In den Texten zum Erhabenen nimmt Schiller demnach eine konsequent ästhetische Perspektive ein, die kaum Aussagen über seine Vorstellung des Geschichtlichen trifft, sondern lediglich darlegt, wie das Historische als Material für das Ästhetische fungieren kann. Erst über eine Ergründung der in der Theorie des Erhabenen nur implizit angedeuteten Wirkungen, die das Kunstsystem in der Gesellschaft entfalten kann, wird deutlich, dass die Kunst sich über ihren Beitrag zur Perfektibilität der Subjekte selbst in den teleologischen Prozess der Geschichte einschiebt. Da damit aber das Feld der Kunst schon wieder verlassen wäre, ist es konsequent, dass Schillers Texte zum Erhabenen an eben dieser Stelle auch abbrechen. Man sollte auch dies als weiteres Argument dafür nehmen, Über das Erhabene nicht als geschichtsphilosophischen, sondern ausschließlich als ästhetischen Text zu lesen. Einer solchen ästhetischen Betrachtungsweise kann dann logisch aber keine geschichtsskeptische Haltung entnommen werden, da die historische und die ästhetische Perspektive sich in einem inkommensurablen Verhältnis gegenüberstehen.







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3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik im Drama (Braut von Messina) Kontexte I – Schillers weitere Geschichtsdramen Blickt man nun auf Schillers dramatisches Werk ab 1795, so lassen sich nach Maßgabe der Fragestellung dieser Arbeit zunächst zwei Beobachtungen treffen. Zum Ersten – das ist mittlerweile Konsens in der Forschung – verhandeln die klassischen Dramen Schillers ihre Gegenstände auf einer „Reflexionshöhe“, welche ohne die vorangehenden ästhetisch-philosophischen Arbeiten nicht vorstellbar wäre.588 Das heißt – auch wenn eine eindimensionale Applikation der Ästhetiken des Schönen und des Erhabenen auf die dramatische Praxis Schillers kaum schlüssig nachgewiesen werden kann – was übrigens in dieser Einfachheit auch Schillers Bewusstsein über die Inkommensurabilität der Eigenlogiken des ästhetischen und des philosophischen (wie auch jedes anderen gesellschaftlichen) Feldes zuwiderliefe –, so wird mittlerweile nicht mehr bestritten, dass die Ästhetik Schillers selbstverständlich zum diskursiven Kontext beziehungsweise zum historischen Apriori seiner Dramen zu rechnen ist.

Zum Zweiten ist die bemerkenswerte Tatsache festzuhalten, dass auch das in den

historischen Arbeiten und insbesondere in der Universalhistorischen Übersicht zu Kreuzzügen gewonnene Wissen über die Genese von Kontingenz aus der Kollision von Ordnungen auf überdeutliche Weise als leitgebend für die dramatischen Handlungen der Geschichtsdramen nach 1795 angesehen werden kann. Wie in Kapitel 3.2 bereits beschrieben, führte Schiller schon in der 1790 verfassten Übersicht die historischpolitische Ausbildung kontingenter Lagen und Situationen auf aus konkurrierenden Ordnungssystemen erwachsende Doppelansprüche zurück, die dann vielfältige Kontingenzen in normativen, kulturellen, politischen oder sozialen Kontexten hervorriefen. So thematisiert er in diesem Zusammenhang – wie beschrieben – etwa die, in Folge der Reformation entstandene, politisch-konfessionelle Doppelordnung im Heiligen Römischen Reich und die sich aus dieser Doppelordnung ergebenden politisch-kulturellen Spannungsverhältnisse, wobei er konkret herausstellt, wie die konfessionelle Polarität sich in vielfach kollidierende Strukturen gießt und auf diese Weise zahlreiche Kontingenzen produziert. Insbesondere geht er dabei etwa auf die Zwischenstellungen der Kirchengüter zwischen Lehen und erblichem Grundbesitz oder auf die politische Zwischenstellung des Königs zwischen seiner Stellung als Herrscher und seiner Stellung als Lehensnehmer anderer Barone ein.

588 Vgl. Alt, Schiller Bd. II 2000, S. 223.





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Eben derartige instabile Doppelstrukturen werden auch in Schillers Geschichts-

dramen nach 1795 thematisch und handlungsbestimmend. So fokussiert die Wallenstein-Trilogie – entgegen der eher fakten- und ereignislastigen Geschichte des Dreissigjährigen Krieges, in deren Darstellung eher noch Gustav Adolf als Wallenstein eine tragende Rolle zukommt, – mit ihrem Hauptprotagonisten exakt einen solchen Zusammenhang verschiedener Kontingenzphänomene. Im Prolog zur der Trilogie wird explizit betont, wie Wallenstein selbst zum Spielball fluktuierender Erwartungen der kriegsführenden Mächte wird und somit „von der Parteien Gunst und Haß verwirrt“ (V. 102). Den anfänglichen Erfolg des kaiserlichen Feldherren beschreibt Schiller mit Kontingenz und Risiko anzeigenden Begriffen, wenn er diesen etwa als „[d]es Glückes abenteuerlichen Sohn“ bezeichnet (V. 97). Und unter Umstellung der Perspektive auf eine Beobachtung zweiter Ordnung betont Schiller darüber hinaus, dass Wallensteins „Charakterbild in der Geschichte [schwankt]“ (V. 103). Verschränkt werden hier also Kontingenzerscheinungen auf mehreren Ebenen, auf derjenigen der Figurenpsychologie und figuralen Subjektivität, derjenigen der Interaktion zwischen Einzelnem und sozialem Kontext und derjenigen der geschichtswissenschaftlichen Beobachtung. Eingebettet ist die Darstellung dieser Kontingenzphänomene zudem noch in eine Reflexion über die künstlerische Verarbeitung geschichtlicher Inhalte. Das Drama nämlich, so Schiller, sei nicht zu tadeln, wenn es „das düstre Bild / Der Wahrheit in das heitre Reich der Kunst / Hinüberspielt“, da die Kunst – dies übrigens in exakter Entsprechung der Theorie des Erhabenen – „die Täuschung, die sie schafft, / Aufrichtig selbst zerstört und ihren Schein / Der Wahrheit nicht betrüglich unterschiebt“ (V. 133–137). Mit der Unterstreichung der Scheinhaftigkeit der Kunst und damit genau genommen ihres Möglichkeitscharakters, ist – trotz der beschriebenen Auflösung dieser „Täuschung“ durch das Kunstwerk selbst – dem Drama zumindest die Reflexion einer weitere Ebene des Kontingenzparadigmas eingeschrieben. Die Wallenstein-Trilogie verhandelt damit ausgehend von einer strukturell angelegten Kollision von Doppelordnungen verschiedenste Erscheinungsformen der Kontingenz und des Kontingenten, sodass sich unter diesen ein Netz komplexer Bezüglichkeiten entspannt, aus dem sich vielfältige Deutungsmöglichkeiten und Lesarten ableiten lassen.

Auf sehr vergleichbare Weise kann auch die Architektur der Dramen Maria Stuart

und Jungfrau von Orleans begriffen werden. Grundlegende Struktur auch dieser Texte bilden die Kollisionen historisch-kultureller Ordnungsgefüge. Die tragischen Konflikte beider Tragödien erwachsen jeweils aus dem Antagonismus zwischen einer Ordnungs



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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

logik, die unter anderem von Katholizismus, genealogischer Tradition sowie einer emotionalen Affektkultur bestimmt ist und einer dieser konträr gegenüberstehenden Ordnungslogik, die von Protestantismus, gegenwärtigem Machtpotential sowie einer rationalen Affektkultur getragen wird. Beide Ordnungslogiken bestimmen die Dramenhandlungen bis auf deren Mikroebene bzw. bis in die kleinsten Nebenhandlungen hinein. Bei den zentralen von dieser Kollision getragenen Konflikten handelt es sich im Falle der Maria Stuart um die (durch die Scheidung Heinrichs VIII. von Katharina von Aragon) virulent gewordene Frage nach der Legitimität der aus späteren Ehen Heinrichs stammenden Nachkommen, auf die sich schließlich auch das Aufeinandertreffen der Herrschaftsansprüche Maria Stuarts und Elisabeth Tudors gründet. Im Falle der Jungfrau von Orleans rückt die im Vertrag von Troyes geregelte Übertragung der französischen Königsherrschaft auf den König von England und das daraus resultierende Aufeinandertreffen der Machtansprüche des englischen Königs Heinrichs V. und des französischen Dauphins und späteren Königs Karls VII. in das thematische Zentrum des Textes. Wie schon bei der im Wallenstein verhandelten Kollision aus protestantischem und katholischem Herrschaftsanspruch geht es Schiller jedoch auch in der Maria Stuart und der Jungfrau von Orleans kaum um eine Diskussion oder Bewertung der Legitimität der jeweiligen Herrschaftsansprüche. Auch wenn gerade Maria Stuart und die Jungfrau durchaus eine asymmetrische Sympathieverteilung Schillers zugunsten ihrer schottischen beziehungsweise französischen Protagonistin erkennen lassen, fokussieren beide Texte wie bereits der Wallenstein viel stärker auf die aus der jeweiligen Ordnungskollision emergierenden Kontingenzverhältnisse und die wiederum daraus resultierenden figurenbezogenen Entscheidungssituationen und double-binds. Auch im Wilhelm Tell kann thematisch eine derartige Kollision zweier Ordnungskonzepte – hier eines protodemokratischen und eines historisch-genealogischen – als Strukturierungsmerkmal der Handlungsfolge verortet werden. Die Besonderheit im Tell liegt aber darin, dass von einem Versuch normativer Zurückhaltung des Textes nun überhaupt keine Rede mehr sein kann. Die Grausamkeiten Gesslers und die gesinnungsethische Rahmung des Stückes durch die nachgeschobene Parricida-Szene – welche Tyrannenmord im Dienste der Gesellschaft sanktioniert und gleichzeitig Tyrannenmord im Dienste des Eigeninteresses eindeutig diskreditiert – sprechen hier eine überdeutliche Sprache. Dennoch finden sich (gespiegelt etwa in den ausgiebigen Metaphoriken des Fluiden und des Wetters) auch im Tell zahlreiche Reflexionen über Kontingenzphänomene. Im Demetrius schließlich greift Schiller erneut auf das bewährte Muster aus kollidierenden Ordnungskonzepten



3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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zurück, hier der polnischen und der altzaristischen Ansprüche auf die russische Herrschaft. Die Verhandlung der Kontingenzthematik wird in diesem Fragment gebliebenen Stück – das bezeichnenderweise während der berüchtigten, in der russischen Geschichtsschreibung als ‚Zeit der Wirren’ geltenden, Jahre um 1600 spielt – stark an den subjektiven Erkenntnisprozess des Protagonisten gebunden, bleibt dabei jedoch stets auch den leiten Ordnungskollisionen verhaftet.

Für all die genannten Stücke kann damit geltend gemacht werden, dass sie Kon-

tingenz nicht nur über das Aufeinandertreffen personaler Ansprüche anschaulich machen, sondern allesamt größere, in der Regel religiös und historisch-kulturell geprägte Ordnungen in eine antagonistische Kollision bringen und dann experimentell danach fragen, wie deren sich überschneidende Geltungsansprüche variable Erscheinungen der Kontingenz evozieren und wie sich diese Erscheinungen im Handlungsverlauf auflösen, gegenseitig kompensieren oder verstärken und so zum tragischen Ausgang der Stücke beitragen. Wissenspoetologisch untersuchen die Stücke also gleichsam die vorstellbare Varianz verschiedener Kontingenzformen und die sich daraus ergebenden Folgen für politisch-kulturelle und individualpsychologische Dynamiken. In Maria Stuart wird quasi der aus der Scheidung Heinrichs VIII. emergierende Hauptwiderspruch auch in Form verschiedener Nebenwidersprüche oder eben Kollisionen verhandelt, etwa derjenigen der weiblichen Konkurrenz auf dem Feld der Liebe, des Aufeinandertreffens von rationalem und affektivem Weltzugang, der Opposition aus Besitz und Enthaltsamkeit – dies alles aber eben eingebettet in die große historisch-kulturelle und noch die politische Welt um 1800 entscheidend mitprägende Abkehr Englands vom Katholizismus.

Mit seiner Braut von Messina oder die feindlichen Brüder legt Schiller nun 1803

ein Stück vor, das deutlich aus diesem – im Allgemeinen für alle anderen seiner nach 1795 verfassten Dramen geltenden – Muster herausfällt. Sein „Trauerspiel mit Chören“ rekurriert nämlich – anders als seine anderen dramatischen Texte aus dieser Schaffensperiode – auf keine historische Handlung, wenngleich Ort und Zeit der Handlung durchaus noch einen losen Bezug zur geschichtlichen Realität des Hochmittelalters aufweisen.589 Zwar erwachsen aus diesem Kontext durchaus weitergehende Wirklichkeitsbezüge, etwa in Form der im Drama mehrfach herausgestellten geographischen Lage Messinas umgeben von einem stürmischen Meer und gleichzeitig im Schatten des bedrohlichen Ätna liegend, oder in Form eines religiösen und kulturellen Synkretismus,

589 Aus einzelnen Textstellen lässt sich erschließen, dass das Drama im 11. oder 12. Jahrhundert spielen

dürfte. Vgl. Schulz, Die Braut von Messina 2005, S. 197.





Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

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mittels welchem auf durchaus historisch plausible Weise antik-griechische, normannische, arabische und christliche Elemente ineinandergeführt werden. Dennoch erlangen all diese Elemente niemals die Tiefenstruktur der Ordnungskollisionen in den anderen Dramen nach 1795. Der tragische Konflikt erwächst hier nahezu vollständig aus der Familienkonstellation und der Figurenpsychologie. Auch aufgrund seiner – insbesondere über das Mittel des Chors, aber auch über die Systematizität des Handlungsverlaufs gesteigerte – Betonung des Formalen in der Braut von Messina scheint das Drama als ein auf den ersten Blick eher weniger geeignetes Objekt für eine Untersuchung des Schiller’schen Kontingenzdenkens.

Das folgende Kapitel soll gegenüber diesem sich zunächst aufdrängenden Ein-

druck belegen, dass gerade die Reduktion der Kontingenzthematik in der Braut von Messina auf den Antagonismus zweier Brüder statt auf die Kollision umfassenderer historisch-kultureller Ordnungen eine Vertiefung des Wissens über Kontingenz und die Verzeitlichung von Kontingenz ermöglicht und dass die formale Strenge des Textes in besonderer Weise geeignet ist, Phänomene der Kontingenz sichtbar zu machen. Neben den beiden bereits angeführten kontextuellen Bezügen, also der Verortung der Dramen im durch die poetisch-ästhetischen Schriften der frühen 1790er Jahre geformten Diskurs über das Wesen und die Funktionsweise von Kunst und Tragödie sowie dem in den historischen Schriften gewonnenen Wissen über die strukturellen Ermöglichungsbedingen des Kontingenten, soll daher im Folgenden anhand einer Untersuchung der Meeres- und Pflanzenmetaphorik in der Braut von Messina nicht nur nachgewiesen werden, dass die Verhandlung des Kontingenzparadigmas in dem Drama eine zentrale Stellung einnimmt, sondern vielmehr auch nach der konkreten und spezifischen Weise gefragt werden, in welcher der Text sein spezifisches Kontingenzparadigma entfaltet. Die Analysen des folgenden Kapitels folgen wieder den die Gesamtarbeit bestimmenden methodischen Inhalten: Zunächst wird die Meeresmetaphorik in der Braut von Messina einer genaueren Betrachtung unterzogen. In einem zweiten Schritt soll untersucht werden, wie die strukturellen Besonderheiten des Dramas zur Verhandlung des Zusammenspiels aus Kontingenz und Zeit beitragen. Abschließend wird ein Deutungsversuch der dem Drama eingeschriebenen poetologischen und ästhetischen Reflexionen durchgeführt.



3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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Meeres- und Pflanzenmetaphorik in der Braut von Messina In der Braut von Messina arbeitet Schiller wie schon in früheren Texten intensiv mit Metaphoriken des Fluiden bzw. des Meeres sowie mit Pflanzenmetaphern, um abstrakte Zusammenhänge der Kontingenz und der Verzeitlichung von Kontingenz in eine konkrete Form zu überführen. Derartige Konkretisierungen bilden dann häufig ihrerseits schon wieder Voraussetzungen für nachvollziehbare und auf der Bühne auch darstellbare Kombinationen von genuin abstrakten Kontingenz- und Zeitphänomenen. Die metaphorische Konkretisierung von Abstrakta ermöglicht Schiller also die Behandlung von Abstraktionen höherer Ordnung. Wie aus den folgenden Analysen deutlich werden wird, erlaubt dieses Vorgehen eine nicht zu unterschätzende Steigerung der (auf der Bühne darstellbaren) Komplexität. Auch ist davon auszugehen, dass die Pflanzenmetaphorik für Schiller eine Aufwertung durch die sich ab Sommer 1794 entwickelnde Freundschaftsbeziehung zu Goethe erfahren hat, deren initiales Moment in der Auseinandersetzung um die Frage lag, ob es sich bei der Urpflanze – auf welche Goethe die Erscheinungsformen aller Pflanzen zurückführen wollte –590 um eine empirisch-historische Realität oder lediglich um eine Idee handelt. Interessant ist in diesem Zusammenhang unter anderem, dass die Pflanzenmetaphorik in der Braut von Messina anders als die Pflanzenmetaphern in den oben bereits behandelten Texten wie etwa der Universalhistorischen Übersicht zu den Kreuzzügen und dem Traktat Über das Erhabene eine zusätzliche, möglichweise aus den Gesprächen mit Goethe entwickelte, Semantik aufweist. Goethes Auffassung von der Urpflanze beruht, wie bereits angedeutet, ganz wesentlich auf der Annahme, „daß sämtliche Formbildungen in der botanischen Welt nur Metamorphosen eines ursprünglich vorhandenen Organs mit einer Vielzahl verschiedener Anlagen darstellen.“591 Wo die Pflanzenmetaphoriken in Schillers vor 1795 entstandenen Texten vornehmlich Variabilität im Zeitverlauf beziehungsweise mittels Parallelisierung von Wachstumsentwicklungen mehrerer Pflanzen Momente des Ineinanderfallens unterschiedlicher Dynamiken anzeigen oder aber, wie etwa schon in der Anekdote Eine großmütige Handlung, als Vanitas-Figurationen fungieren, wird nun der Metaphorik der Pflanze eine weitere Darstellungsfunktion hinzugefügt: Die nach einer längeren Latenzzeit erfolgende Wiederkehr



590 Vgl. Alt, Schiller Bd. II, 2000, S. 158. 591 Ebd., S. 163.





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einer bereits in einem Ursprungszustand sichtbar gewordenen Erscheinung.592 Auf diese theoretisch ohne weiteres in den pflanzenmetaphorischen Diskurs Schillers integrierbare Denkfigur wird in der Braut von Messina mehrfach zurückgegriffen; insbesondere ist die Figur geeignet zur Beschreibung von im Vorfeld der Handlung bereits angelegten Strukturen und Konflikten, die zunächst im Status des Unmerklichen verharren, dann im Verlauf des Stückes jedoch aufbrechen und dessen tragischen Ausgang motivieren. Mit dem auf der Herrscherfamilie lastenden Fluch sei an dieser Stelle schon das augenfälligste Beispiel für einen solchen Zusammenhang genannt.593 Ebenfalls signifikant ist, dass Schiller in der Braut von Messina anders als in seinen früheren Texten nun Meeres- und Pflanzenmetaphern viel stärker miteinander kombiniert und auf diese Weise neue Formen findet, mittels derer auch Kontingenz und deren Verzeitlichung zusammengedacht werden können. Die Organisation des vorliegenden Kapitels orientiert sich jedoch an den Thematiken, um die Schiller seinen pflanzen- und meeresmetaphorischen Diskurs hauptsächlich gruppiert. Trotz einiger Schwierigkeiten bei der Kategorienbildung lassen sich dabei vier Schwerpunkte identifizieren. So werden mittels der beiden Metaphernkomplexe erstens Zusammenhänge der Fülle und der Ununterscheidbarkeit zum Ausdruck gebracht. Zweitens verwendet Schiller Pflanzen- und Meeresmetaphern zur Evozierung von Atmosphären des Bedrohlichen und der Gefahr sowie zur Beschreibung von Situationen sich anbahnenden Unheils. Damit verwandt, aber mit leicht verschobenem Fokus, 592 Dass diese möglicherweise aus der Begegnung mit Goethe entsprungene Form der Pflanzenmetaphorik

sich – wie dieses Kapitel auch darlegen soll – in der 1803 entstandenen Braut von Messina, nicht aber in dem Traktat Über das Erhabene findet, könnte ein weiteres Indiz für die Annahme sein, dass letzteres nicht in zeitlicher Nähe zu seiner Veröffentlichung 1803, sondern bereits 1793 – und damit vor dem Gespräch mit Goethe über die Urpflanze – entstanden ist. 593 Die Wiederkehr eines ursprünglichen Zustandes ist in der genealogischen Perspektive, welche die Braut von Messina auch einnimmt, überaus virulent. Es kann durchaus vermutet (wenngleich nicht zweifelsfrei nachgewiesen) werden, dass die Begegnung mit Goethe und der Diskurs über den Ursprung der Pflanzen die Denkfigur einer Wiederkehr des Ursprünglichen auch bei Schiller gefördert hat. Da die folgenden Analysen jedoch anderen Erscheinungen der Pflanzenmetaphorik nachgehen werden, seien an dieser Stelle die Textstellen aus der Braut von Messina angeführt, die sich stark an Goethes Vorstellung von der Ontogenese der Pflanzen anlehnen, wenn sie diese auch nicht exakt wiedergeben (zu berücksichtigen ist dabei natürlich auch, dass Schiller Goethes Vorstellung ja gerade nicht teilte, was aber wiederum auch nicht zwingend bedeutet, dass er die ihr zugrunde liege Denkfigur der Wiederkehr eines Ursprungszustandes als uninteressant für seine dramatische Arbeit betrachtet hätte). Eine derartige Wiederkehr des Vergangenen ist etwa der pflanzenmetaphorischen Formulierung eingeschrieben, dass der Ahnherr der Familie „[g]rauenvoller Flüche schreckliche Samen / Auf das sündige Ehebett aus[schüttete]“ und dass „Greueltaten ohne Namen, / Schwarze Verbrechen“ in „diesem Haus“ verborgen seien (V. 964–969). Ähnlich wie diese Samenmetapher funktioniert im Übrigen auch die an anderen Stellen des Textes bemühte Blüte-Frucht–Metaphorik (Vgl. V. 563 und V. 2437). Da diese Bezüge nicht sehr deutlich sind, wird ihnen in dieser Arbeit aber keine längere Diskussion eingeräumt. Weil aber die Denkfigur der Wiederkehr doch eine deutliche Relevanz in der Braut von Messina erlangt, sollte hier der Hinweis auf den möglichen Bezug zu Goethe nicht unterschlagen werden. Allgemein zur Denkfigur des Ursprungs vgl. MüllerBach/Schumacher, Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen 2008.





3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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werden Pflanzen- und Meeresmetaphern in der Braut von Messina auch zur intensivierten Ausgestaltung von Augenblicken des Bruchs und virulent werdender Gewalt gebraucht. Und viertens ist die metaphorische Ebene des Dramentextes nicht unwesentlich von Schillers ästhetischen Überlegungen aus den frühen 1790er Jahren bestimmt. Beschreibungen etwa von Augenblicken schöner Harmonie oder von Momenten, in denen die Texte ihre eigene Poetizität thematisieren, werden im Dramentaxt vornehmlich mittels Pflanzenmetaphorik konkret erfahrbar gemacht. Ergänzt wird diese Form der Konkretisierung ästhetischer Sachverhalte zudem mehrfach durch die bereits seit der Anekdote Eine großmütige Handlung von 1782 bekannte Verbindung von Pflanzenmetaphern und Vanitas-Motivik. Die vier Analysekategorien folgen dabei den drei thematischen Schwerpunkten in der diskursiven Organisation der Metaphoriken in der Braut von Messina: Fülle und Ununterscheidbarkeit verweisen auf den Phänomenbereich des Kontingenten, die beiden Kategorien aus Bedrohung, Gefahr, Unheil und Bruch, Gewalt lassen sich gemeinsam dem Schwerpunkt Kontingenzstrukturen zuordnen und bei der Kategorie des Ästhetischen handelt es sich schon um eine der drei thematischen Leitkategorien dieser Arbeit. Auf der Textebene kommt es dabei aber immer wieder zu ‚crossings’ zweier oder mehrerer dieser metaphorisch ausgestalteten Thematiken – Überschneidungen, auf die im Folgenden auch dezidiert eingegangen werden soll, sodass deren kategoriale Trennung in der Analyse sich stärker Gliederungsgesichtspunkten als einer distinkten inhaltlichen Trennung der Kategorien verpflichtet sieht. Wie zu zeigen sein wird, sind es oftmals gerade die Überschneidungspunkte der Metaphernkomplexe, die für die Fragestellung dieser Arbeit und für das Verständnis des Dramas interessante Beobachtungen erlauben. Ununterscheidbarkeit, Fülle In der Braut von Messina spielt – wie Claudia Benthien betont – die auditive Dimension eine herausragende Rolle.594 In diesem Punkt steht das Trauerspiel durchaus im Gegensatz zu anderen Dramen Schillers, die in der Regel eher visuelle als akustische Wahrnehmungen fokussieren. Benthien stellt dabei heraus, dass der „auf die Artikulations- und Perzeptionsmodi bezogene Gegensatz zwischen Sehen und Hören [...] auch unter

594 Benthien, Tribunal der Blicke 2011, S. 191–193.





Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

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schiedliche Ästhetiken evoziert.“ 595 Ihrer kulturtheoretischen Gegenüberstellung von Scham– und Schuldgefühlen ist auch die Bezüglichkeit des Visuellen zur Scham und des Auditiven zur Schuld zu entnehmen.596 Dass gerade ‚Schuld’ eine bestimmende Kategorie in der Braut von Messina darstellt, liegt allein schon dadurch nahe, dass das CiceroZitat der Schlussverse des Dramas den Begriff pointiert aufgreift, wobei „Schuld“ sogar das letzte Wort des gesamten Dramentextes bildet: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld“ (V. 2838–2839). Wichtig für den in dieser Arbeit relevanten Zusammenhang ist jedoch, dass ‚Schuld’ sich von ‚Scham’ durch eine Reihe weiterer Gesichtspunkte abhebt, die eine Nähe der Schuld zu den Kontexten der Unbestimmtheit und der Gestaltbarkeit, eine Nähe der Scham hingegen zu den Kontexten des Determinierten und der Widerfahrnis implizieren. Damit verbunden sind auch differierende Zeitregime beider Affektkategorien. Der „Zeitigungsmodus“ von Scham ist generell betrachtet nämlich „vorwiegend präsentisch“, derjenige von Schuld hingegen „vorwiegend retrospektiv.“597 Beide Modi beruhen zwar auf je einem initialen Moment, der eine qualitative Änderung des sich anschließenden Zeitraums hervorruft. An den Moment der normverletzenden Handlung schließt sich gewöhnlich jeweils ein länger andauernder Schuld- beziehungsweise Schamdiskurs an. Während der Begriff der ‚Scham’ zunächst jedoch stärker an den ursprünglichen Moment, an die das Schamgefühl auslösende Handlung – wenigstens aber an deren zeitliches Nahumfeld – gebunden zu sein scheint, nimmt ‚Schuld’ eher den Zeitraum der nachträglichen diskursiven Reflexion der Schuldhandlung in den Blick.598 Schuld kann dementsprechend im Zeitverlauf eher bearbeitet, verändert, bewältigt werden, während Scham als eine Art Realitätseinbruch das sie erlebende Subjekt geradezu heimsucht und unmittelbar überwältigt, sich dessem Zugriff also gerade entzieht. Dem entspricht analog auch der Gegensatz aus der oftmals Täuschungen provozierenden Ungenauigkeit (und damit Interpretier– oder Bearbeitbarkeit) auditiver599 und der Exaktheit (oder Determiniertheit beziehungsweise Unveränderbarkeit) visueller Wahrnehmungen. 595 Vgl. ebd., S. 58. 596 Vgl. ebd., S. 59. 597 Ebd.

598 Diese Unterscheidung genügt für den hier im Fokus stehenden Zusammenhang, kann jedoch die diffe-

renzierte Abgrenzung von Scham und Schuld nicht umfassend wiedergeben, die Benthien in Tribunal der Blicke 2011 leistet. 599 Ein Beispiel hierfür findet sich etwa in V. 981–982 und der vorangehenden Regieanweisung. Beatrice „horcht“ und hofft auf die Ankunft Don Manuels, um sich dann getäuscht zu sehen: „Er ist es nicht – Es war der Winde Spiel, / Die durch der Pinien Wipfel sausend streichen.“ Er hätte es aber durchaus sein können. Wenig später wiederholt sich die Situation mit dem Unterschied, dass nun nicht mehr vom Wind bewegte Pflanzen, sondern das Meeresrauschen für die Täuschung verantwortlich ist: „Horch, der lieben Stimme





3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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Beide Affekte, Scham wie Schuld, sind damit kontingenztheoretisch relevant; die

Braut von Messina – so die These hier – interessiert sich auch für beide Seiten des Kontingenzparadigmas, für die (eher der Scham zuzurechnende) Widerfahrnis- wie für (die eher der Schuld zuzurechnende) Gestaltbarkeitskontingenz. Die Ausgestaltung des Gestaltbaren beziehungsweise der damit verbundenen Unbestimmtheit nimmt jedoch in der Braut von Messina – wie bereits angedeutet – einen im Vergleich zu anderen Dramen Schillers größeren Raum ein. Sie wird im Drama häufig verbunden mit dem Bereich des Auditiven und fließt auch in die Metaphorik des Dramentextes ein. So hört etwa Beatrice in unruhiger Erwartung der Ankunft Don Manuels die „Stadt, die völkerwimmelnde, ertosen“ (V. 990), „wie ein rauschend Wehr“ (V. 998) und „fern das ungeheure Meer / An seine Ufer dumpferbrandend stoßen (V. 991–992). Die Ungewissheit Beatrices findet auf diese Weise ihren Ausdruck in der Unbestimmtheit des Auditiven und im Kontingenzmarker ‚Meer’, wobei mit dem „dumpferbrandend[en] [S]toßen“ der Fluten und dem „[E]rtosen“ des Volkes durchaus auch schon Bedrohung und Unheil angezeigt werden. Beatrice zeigt sich dementsprechend deutlich affiziert von dieser Situation und bringt im Anschluss bezeichnenderweise gerade das in der Meeresmetaphorik eingeschlossene Motiv der Unendlichkeit als das für sie bedrohliche Moment ins Spiel: „Und fortgeschleudert wie ein Blatt vom Baume, / Verlier ich mich im grenzenlosen Raum“ (V. 995– 996). Pflanzen- und Meeresmetaphorik werden hier also kombiniert, um dem subjektiven Erleben der (unendlich) offenen und damit bedrohlichen Situation Ausdruck zu verleihen. Das vom Baum „fortgeschleuderte Blatt“ verbildlicht das Gefühl eines Ausgeliefertseins des Einzelnen angesichts der Unwägbarkeiten des Lebens. Gleichzeitig liegt hier eine Stelle vor, in welcher Schiller die Konzepte des theoretisch–Erhabenen und des pathetisch–Erhabenen verbindet, indem er das Leiden des Subjekts angesichts der Unendlichkeit und Unbegreifbarkeit eines abstrakten Zusammenhangs auf die Bühne bringt.600 Schall! / Nein, es war der Widerhall / Und des Meeres dumpfes Brausen, / Das sich an den Ufern bricht, / Der Geliebte ist es nicht! (V. 1057–1060). 600 Es sei hier an die in Vom Erhabenen geleistete Differenzierung erinnert: Schiller teilt das ‚Erhabene’ unter anderem in die dichotomischen Kategorien des kontemplativ-Erhabenen/pathetisch-Erhabenen und des theoretisch-Erhabenen/praktisch Erhabenen ein. Der Unterschied zwischen dem kontemplativErhabenen und dem pathetisch-Erhabenen liegt für Schiller darin, dass Ersteres nur die „Ursache des Leidens, aber nicht das Leiden selbst“ zeigt, Zweiteres jedoch gerade auch das Leiden des Subjekts zur Anschauung bringt (Vgl. V, 503). Da hier eine leidende Beatrice gezeigt wird, liegt also ein Moment pathetischer Erhabenheit vor. Die Differenzierung zwischen dem theoretisch-Erhabenen und dem praktischErhabenen erfolgt nach Schiller hingegen über die Frage, ob die „Natur als Objekt der Erkenntnis im Widerspruch mit dem Vorstellungstriebe [...] oder als Objekt der Empfindung im Widerspruch mit dem Erhaltungstrieb steht“ (V, 490), kurz: Hier geht es um die Frage, ob das Erhabene durch abstrakte Vorstellun-





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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ... Ununterscheidbarkeit, Schuld und, zwar nicht Meeresmetaphorik im engeren

Sinn, aber doch eine Metapher des Fluiden werden auch im ersten Gespräch zwischen Isabella und ihren Söhnen miteinander verknüpft. Isabella verweist auf das im Familienstreit liegende Unheil und dessen destruktive Potentiale: „[...] – Hier ist das Mein und Dein, / Die Rache von der Schuld nicht mehr zu sondern, / – Wer möchte noch das alte Bette finden / Des Schwefelstroms, der glühend sich ergoß?“ (V. 396–399). Isabella versucht mit diesen Worten die den Bruderkonflikt aufrechterhaltende Gewaltlogik zu durchbrechen, die sich aus der Perspektivendifferenz der Brüder hinsichtlich dessen speist, was als Schuld und dessen, was als Strafe für eine vorangehende Schuld, zu gelten habe. Die Unbestimmtheit des Konflikt-Ursprungs lässt die konträren Perspektiven beider Brüder kontingente Positionen jeweils plausibel werden und im Bild des Schwefelstroms bringt der Text die aus dieser Kontingenz resultierende (und ihrerseits Widerfahrnis auslösende) Gewalt auf deutliche Weise zum Ausdruck.

Wie sich in der Braut von Messina Ununterscheidbarkeit, auditive Dimension und

Ästhetik auf komplexe Weise miteinander verschränken, lässt sich indes am deutlichsten anhand einer weiteren Textpassage zeigen: Nachdem nämlich Isabella den Leserinnen beziehungsweise den Zuschauern die ersten Information darüber gibt, dass sie „einen teuren Schatz“ – davon dass es sich dabei um ihre Tochter handelt, ist hier bezeichnenderweise noch nicht die Rede – in „jedem wohlbekannten Kloster“ verborgen hält (Vgl. V. 116–123) kommt es zu einer Reihe von auditiv bestimmten Situationen. Zunächst „hört [man] in der Ferne blasen“ (in V. 124). Im direkten Anschluss daran wird zudem präzisiert, dass es sich bei der Geräuschquelle „um kriegerischer Hörner Schall“ (V. 125) zu handeln scheint. Daraufhin „läßt sich [die Musik] noch von einer entgegengesetzten Seite immer näher und näher hören“ (nach V. 126).601 Schließlich vernimmt Isa gen oder durch konkrete Gegebenheiten hervorgerufen wird. Indem Beatrice hier an der Ungewissheit einer offenen Zukunft leidet, liegt also ein Fall theoretischer Erhabenheit vor. Aufgrund des Fokus’ der Forschung auf das pathetisch-Erhabene in Form des praktisch-Erhabenen (wobei die Kombination oft gar nicht offengelegt wird, sondern das praktisch-Erhabene vielfach als selbstverständlicher Teil des pathetisch-Erhabenen begriffen wird) scheint hier der Hinweis geboten, dass Schiller in seinen literarischen Texten alle Kombinationsmöglichkeiten der Erhabenheitskategorien gleichsam wissenspoetologisch durchspielt, sich in diesen also keineswegs nur auf Darstellungen des pathetisch-Erhabenen beschränkt. 601 Der Rückverweis über das „noch“ deutet zwar darauf hin, dass bereits der „Hörner Schall“ als Musik gelten kann. Zumindest für die Leserinnen, die sich zunächst den Klang der Hörner vorstellen und dann mit dem Begriff „Musik“ konfrontiert werden, dürfte sich jedoch eine Vorstellungsdifferenz ergeben. Auf der Bühne kommt es hingegen – wie so oft – auf die konkrete Inszenierung der Textstelle an, also insbesondere darauf, ob für die „Musik [...] von einer entgegengesetzten Seite“ abermals Hörner verwendet werden und ob diese Hörner dann melodischer zusammenspielen als die ersten oder ob sie einfach deren Klang reproduzieren. Bemerkenswerterweise können beide Inszenierungsformen auch mit Blick auf die folgende jeweils Szene Sinn ergeben. Als ursächlich für die Geräusche – für diejenigen der Hörner wie auch für diejenigen der Musik – stellen sich dort die beiden Teilchöre heraus. Je nachdem, ob nun die Ähn-





3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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bella eine unbestimmte, sich lärmend nähernde Menschenmenge: „Erregt ist ganz Messina – Horch! Ein Strom / Verworrner Stimmen wälzt sich brausend her –“ (V. 127– 128).602 Die in der Passage virulenten Geräusche bilden eine Folge, die sich vom Einzelgeräusch des Kriegshorns über die harmonische Ordnung der Musik hin zum chaotischen Stimmengewirr des Volks von Messina steigert. Die Folge repräsentiert eine mehrschichtige Dynamik: Zum Ersten wird mit der mehrfachen und deutlichen Betonung des Näherkommens verschiedener Geräuschquellen eine spatiale Bewegung vom Fernen zum Nahen präsentiert. Zum Zweiten lässt sich der Art dieser Geräuschquellen entsprechend eine Sukzession vom Einfachen zum Komplexen erkennen. Von dem im Prinzip auf einen Einzelton reduzierten Tonumfang der Jagdhörner führt der Text über die – wenn nicht gar auf dem Zusammenwirken verschiedener Instrumente, so doch zumindest auf der harmonischen Kombination verschiedener Tonfolgen basierende – Musik hin zu einer Kakophonie menschlicher Stimmen. Darin ist zum Dritten auch eine zunehmende Unbestimmtheit in der Beschreibung der an der Produktion des jeweiligen Geräuschs beteiligten Personen enthalten. Bei den Hornbläsern wird noch das Instrument benannt, bei der musizierenden Menschengruppe lediglich die Tätigkeit des Musizierens, bei der unüberschaubaren und lärmenden Menschenmenge nur noch, dass sie in irgendeiner Weise Geräusche produziert. Und Viertens ist mit dem sich „brausend“ nähernden „Strom“ noch der Gebrauch einer Metaphorik des Fluiden mit all ihren semantischen Bezügen zu erwähnen, der jedoch bezeichnenderweise auch nur im Kontext des Höhepunkts der Reihe, der sich nähernden, chaotischen Menschenmenge, Verwendung findet. lichkeit der Chöre oder deren Differenz betont werden soll, kann ein Gleichklang oder eine Verschiedenheit der von ihnen gebrauchten Instrumente das jeweils inszenatorisch geeignete Mittel sein. Die Deutung hier geht von einem Ausdruck der Differenz, also von der Unterschiedlichkeit des Hörnerschalls und der Musik aus und folgt damit dem Eindruck der Leserinnen, auch deshalb weil die Regieanweisung vor V. 132 sehr viel Mühe zum Ausdruck der Verschiedenheit der Chöre aufwendet. Auch fügt sich die Differenz aus kriegerischem Schall/harmonischer Ordnung in die von den Chören repräsentierte Charakterdifferenz der Brüder, die ja bekanntlich entlang der Dichotomie Leidenschaft/Vernunft verläuft. 602 Auch hier gilt, dass insbesondere über das Auftreten der beiden Teilchöre in der nächsten Szene die Lesart Plausibilität erlangt, die davon ausgeht, bei dem „Strom [v]erworrner Stimmen“ handle es sich um eben die beiden Chöre, sodass keine dritte Geräuschquelle vorläge, sondern lediglich ein Beenden des Hornblasens beziehungsweise der Musik und ein Wechsel der Chormitglieder vom instrumentalen Spiel zum lauten Gespräch. Dennoch ist das für die Leserinnen erst nachtäglich erschließbar. Beim ästhetischen Erst-Erleben der Passage liegt die Assoziation dreier Quellen durchaus nahe – was sich übrigens mit den Wahrnehmungen auf der Figurenebene vollkommen deckt. Hier geht es daher auch nicht um das – durchaus ebenfalls nicht uninteressante – Reframing ab V. 131, sondern um die Unbestimmtheit des Textes und damit verbunden um die so entfalteten Möglichkeitsstrukturen vor V. 131. Es geht, um es in etwa mit Schillers Worten aus der Vorrede Über den Gebrauch des Chors in der Tragöde zu sagen, nicht um eine natürliche, das heißt: realistische Lesart der Textstelle, sondern um eine dem Theater angemessene symbolische Lesart.





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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ... Die Passage weist über die Steigerung von einer einfachen über eine harmonische

Ordnung hin zu einem unüberschaubar komplexen und damit ausgesprochen kontingenten Zustand eine starke Nähe zu Schillers triadischem Geschichtsmodell aus der Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen auf. Zudem kann gemäß der schon im 18. Jahrhundert gängigen Konvention, räumliche und zeitliche Kontexte wechselseitig ineinander zu übersetzen, das Näherkommen der Geräusche auch temporal gedeutet werden. Die Passage ist jedoch weit mehr als eine bloße Verdeutlichung des zentralen Credos der ästhetisch-theoretischen Abhandlung, das Ästhetische würde die Menschen zu neuen Formen der Vergemeinschaftung befähigen. Unter anderem konkretisiert der Text hier spezifische aus dem Geschichtsmodell bereits bekannte Aspekte, kombiniert diese und nimmt eine gänzlich andere Haltung gegenüber dem Endzustand der triadischen Entwicklung ein. Zunächst wird jedoch deutlich, dass die drei ursächlich hinter den Geräuschen stehenden Menschengruppen, die Hornbläser, die Musikanten und die lärmenden Menschen in der Menge als Repräsentanten verschiedener Gemeinschaftsformen verstanden werden können. Die Hornbläser repräsentieren dann eine Gemeinschaft aus homogenen Einzelindividuen, die nach außen hin – verdeutlicht dadurch, dass die Hörner alle den gleichen (oder wenigsten einen sehr ähnlichen) Ton hervorrufen – auch einheitlich auftritt. Die Musikanten stehen demgemäß für eine harmonisch geordnete Gemeinschaft, in der jeder Einzelne seinen prädisponierten Platz einnimmt und diesen auch nur unter Inkaufnahme eines Zusammenbruchs der Harmonie verlassen kann. Das Motiv des sich nährenden „brausende[n] Strom[s] verworrener Stimmen“ wird schließlich zum Abbild einer Gemeinschaft, deren Kohäsion weder auf einer Homogenität noch einer wohlgeordneten Verteilung ihrer Mitglieder beruht, sondern vielmehr auf einer ebenso spontanen wie flüchtigen Interessensübereinstimmung, einem gemeinsamen Willen. Die heterogene, lärmende Menge hat sich gleichsam wie zufällig gebildet und nähert sich der Szene, um der faktisch herrschenden Isabella ihr gemeinsames Anliegen vorzutragen. Die drei so repräsentierten Gemeinschaftsformen unterliegen damit einem je unterschiedlichen Vergemeinschaftungsprinzip: einer Allen gemeinsamen, homogenen Identität im ersten, einer von Allen akzeptierten, rational vorgegebenen Rollenverteilung der Individuen im zweiten und einer temporären Übereinstimmung ihrer Willen im dritten Fall. Mit den Gemeinschaftsformen kann zudem eine jeweils spezifische Form von Gewalt verbunden werden. So werden die Hörner vom Text als Kriegshörner bezeichnet. Die sich nähernden Musikanten werden hingegen zwar nicht explizit in einen Zusammenhang mit Gewalt gebracht, die im Motiv der Musik



3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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repräsentierte Ordnung des Schönen603 an anderen Stellen des Dramas jedoch durchaus – etwa wenn Don Cesar die verhaltensregulierende Wirkung der von Isabella beschworenen familialen Harmonie aus Mutter, Tochter und Sohn beklagt.604 Harmonie auf der Gruppenebene erfordert schon logisch eine Regulation auf der Subjektebene, sodass eine sozial disziplinierende Gewalt als im Bild der Musik durchaus mitschwingend gedacht werden kann. Bei der letzten in der Passage erwähnten Gruppe, der sich nähernden Menschenmenge, ist die Gewaltdimension dann wieder auf der Sprachebene zu fassen, drückt doch das Bild eines „brausend wälzenden Stroms“ ein deutliches Zerstörungspotential aus. Hinzu kommt hier noch, dass die bei den ersten beiden Gruppen durch die Musik repräsentierte ästhetische Dimension hier weniger über die von der Gruppe hervorgerufenen Geräusche, sondern viel stärker über die von dieser Gruppe repräsentierte Kontingenz läuft. Zu erinnern ist hier nochmals daran, dass Schiller in seiner Theorie des Erhabenen den Möglichkeitsmodus der Kunst zum Konstitutivum seines ästhetischen Programms erhebt. Der in der metaphorischen Fluidität des „brausenden Stroms“, der Heterogenität der Gruppe und deren disharmonischem Lärmen liegende Verweis auf das Kontingente und die Kontingenz kann damit auch als Repräsentation einer Ästhetik der Kontingenz – wie sie in den Schriften zum Erhabenen bereits angedacht wird – gelesen werden.

Zuletzt muss nochmals die spatiale Dimension der Passage genauer in den Blick

genommen werden. Die in der Textstelle entfaltete Raumstruktur und die Verteilung der Gruppen auf einer Achse vom Fernen zum Nahen ist, wie bereits angedeutet, auch zeitlich zu lesen und rückt die Stelle, wie ebenfalls schon erwähnt, in eine Nähe zu Schillers triadischem Geschichtsmodell. Allerdings platziert es anders als das geschichtsphilosophische Modell der Abhandlung Über die Ästhetische Erziehung des Menschen die Gegenwart nicht im Vorfeld der mittleren Zeitstufe. Es geht hier also nicht um den Verweis, dass der gegenwärtig naheliegende Schritt hin zu einem ästhetischen Zustand (oder die

603 Auch Cornelia Zumbusch betont den Disziplinarcharakter des Schönen in Schillers Ästhetik: „So wird

das Schöne selbst zur Instanz der Beherrschung.“ (Zumbusch, Immunität der Klassik 2011, S. 140).

604 „Arglistige Mutter! Also prüfst du mich! / In neuen Kampf willst du zurück mich stürzen? / Das Licht

der Sonne mir noch teurer machen / Auf meinem Wege zur ewgen Nacht? – da steht der holde Lebensengel mächtig / Und tausend Blumen schüttet er / Und tausend goldne Früchte lebendduftend / Aus reichem Füllhorn vor mir aus.“ (V. 2780–2787). Der durch Pflanzenmetaphorik und Füllhornmotiv verdeutlichte Moment des Schönen wird von Don Cesar hier eindeutig als hinderlich für sein Suizidvorhaben erkannt, welches trotz einiger Anzeichen des fatalistischen Selbstmordes doch sehr stark Durkheims Typus des ‚egoistischen Selbstmord’ entspricht. Die evozierte Harmonie wird also – wenigstens in der Figurenrede – als subjekt-disziplinierend ausgewiesen.





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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

Etablierung eines ästhetischen Staates) die Ermöglichungsbedingung für den weiteren gesellschaftlichen Fortschritt in Richtung der dritten (utopischen) Zeitstufe bildet.

Der Text platziert die drei Zeitstufen nämlich genau genommen gar nicht in einer

Reihe. Vielmehr basiert die Dynamik der Situation darauf, dass drei verschiedene Bewegungen im Raum beschrieben werden. Von der sich nähernden Musik wird in der Regieanweisung nach V. 126 explizit erwähnt, dass sie „von einer entgegengesetzten Seite“ als die in der Ferne tönenden Hörner erschallt. Die anrückende Menschenmenge wird hingegen nicht deiktisch, sondern – wenn auch nur implizit – inhaltlich (als sich von der Stadt zur Säulenhalle bewegend) verortet, indem die Erwähnung ihrer Näherungsbewegung direkt auf die Aussage folgt, dass „ganz Messina“ sich in Erregung befinde. Ins Zeitliche übersetzt heißt dies, dass hier keine Folge sich analog aneinanderreihender Zeitstufen dargestellt wird, keine Zeitlinie, auf der sich die Gegenwart als ein Punkt platzieren ließe, sondern vielmehr das unmittelbare Bevorstehen eines paradoxen Ineinanderschiebens dreier Zeitkonzepte. Die Erwartung dieses nahenden Moments, dieser unmittelbar bevorstehenden Gegenwart, wird so spannungsreich auf die Spitze getrieben. Und die folgende Szene endet tatsächlich in der großen rührseligen Harmonieszene, die alle durch Don Manuel und Don Cesar und ihre jeweiligen Chöre repräsentierten Gegensätze synthetisiert: „Sind [Manuel und Cesar] Brüder durch Blutes Bande, / Sind wir [die beiden Chöre] Bürger und Söhne von einem Lande. (Beide Chöre umarmen sich)“ (V. 528– 530). Die hierdurch symbolisch vollzogene Integration der drei Zeitkonzepte stellt nun ihrerseits eine unlösbare Herausforderung für die Vorstellungskraft der Rezipienten dar. In der die Sinneskräfte übersteigenden Paradoxie dieser Figur liegt jedoch ein Moment theoretischer Erhabenheit eingeschlossen.605 Schon dadurch wird eine Gegenläufigkeit der Entwicklungen auf der Handlungs- und der Rezeptionsebene beobachtbar: Der rührselig-harmonischen Vereinigung der Figuren steht ein Bruch des Vorstellungsflusses der Leserinnen beziehungsweise der Zuschauer gegenüber, dem Fülleerlebnis auf figuraler Ebene eine Unbestimmtheitserfahrung auf Rezipientenebene.606

605 Oder eher kantianisch formuliert: Gerade die Überforderung der Vorstellungsfähigkeit der Rezipienten

ermöglicht bei diesen die Erfahrung theoretischer Erhabenheit. 606 Diese Divergenz von Figuren- und Rezipientenperspektive wird hier in Kontinuität zu den frühen Tex-

ten Schillers gesehen. Vgl. dazu unter anderem Kapitel 1.1.3. Dass diese Perspektivtrennung nun jedoch eine ganz zentrale Rolle in Schillers Ästhetik einnimmt zeigen die Analysen Cornelia Zumbuschs. Zumbusch verdeutlicht unter anderem, dass der Chor in der Braut von Messina häufig die Funktion übernimmt, eine solche Perspektivtrennung zu bewirken. Vgl. dazu etwa Zumbusch, Immunität der Klassik, 2011, S. 215, 217 oder 224.





3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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Bedrohung und Unheil sowie Disruption und Gewalt im Kontext der Fieberschrift Es lohnt sich jedoch, auch den weiteren Verlauf der Szene intensiver zu betrachten. Denn die Irritation der Harmonie durch den Bruch auf der Rezeptionsebene greift ab V. 530 auch schleichend auf die Inhaltsebene des Textes über. Dies geschieht aber nicht durch ein herausgehobenes, disruptives Ereignis, Schiller spielt das Erleben der Rezipienten vielmehr subtil auf die Handlung des Stückes zurück. Ab V. 530 entspannt sich ein kurzer Dialog zwischen den beiden brüderlichen Herrschern und einem Boten, der zunächst die Harmonie der Szene preist: „Des schönsten Anblicks wird mein Auge froh“ (V. 535). Im Anschluss daran, hat der Bote Don Cesar eine weitere Freudenbotschaft zu verkünden: „Ein zweites leg ich zu dem ersten Glück! / Mein Botenstab ergrünt von frischen Zweigen!“ (V. 541–542). Bei der freudigen Nachricht handelt es sich um das Auffinden Beatrices in dem Kloster in Messina, in welches sie – was Don Cesar nicht weiß – von Don Manuel verbracht wurde. Die dargestellte Situation, in der ein Bote einem Herrscher Nachricht über glückliche Zufälle bringt, die Wortwahl dieses Boten, der ergrünte Botenstab wie auch der Kontext einer soeben abgewehrten Konfliktsituation sind überdeutlich als intertextuelle Bezugnahme auf Schillers 1798 entstandene Ballade Ring des Polykrates zu erkennen.607 Die fortwährende Akkumulation von Glück, auf die hier in der Braut von Messina rekurriert wird, ist seit dieser Polykrates-Ballade als Motiv bevorstehenden Unheils in Schillers Werk etabliert. Über diese intertextuelle Referenz erfolgt eine erneute Vertiefung der bereits in der vorangehen Szene der Braut von Messina bei den Leserinnen beziehungsweise den Zuschauern hervorgerufenen Irritation. Die sich assoziativ erschließende Nähe zu dem tragischen Ausgang der Ballade von 1798, der sich bezeichnenderweise in Form einer Trennung zweier freundschaftlich verbundener Herrscher gestaltet, verstärkt das rezipientenseitig anzunehmende Misstrauen in die rührselige und nochmals gesteigerte Harmoniesituation in der Braut von Messina. In der wiederum darauf folgenden Szene liefert der Text den Leserinnen beziehungsweise den Zuschauern dann konsequenterweise auch immer mehr Informationen zur Identität Beatrices, sodass sich diesen – noch nicht aber den Figuren! – das erneute Ausbrechen des Bruderkonflikts als eine immer wahrscheinlicher werdende Möglichkeit darstellen muss. Dieser Eindruck wird schließlich auf der Textebene nochmals durch die Trennung Cesars von Manuel und den damit verbundenen Bruch der harmonischen Situation unterstrichen wie auch durch die Tatsache, dass Cesar seinem Bruder nähere Informatio

607 Im Ring des Polykrates ergrünt zwar nicht der Botenstab, der Bote fordert jedoch seinen Herrscher auf:

„Und mit des Lorbeers muntren Zweigen / Bekränze dir dein festlich Haar“ (I, 342).





Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

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nen über die Geliebte vorenthält. Der Abschied – hier wird nochmals der intertextuelle Bezug zum Ring des Polykrates aktiviert – wird dann unter Gebrauch drastischen Vokabulars vollzogen: Denk nicht, ich fühle weniger als du, / Weil ich die festlich schöne Stunde zerschneide“ (V. 566–567). Das rationalistische Gewalt repräsentierende Motiv des Zerschneidens wie die Verletzung des Authentizitätsgebots deuten schon recht markant auf den in der Dramenhandlung noch bevorstehenden Harmoniebruch voraus. Die Pflanzenmetaphorik am Ende der Szene unterstreicht den unheilvollen Eindruck, den die Rezipienten hier schon gewinnen müssen, nochmals auf sehr deutliche Weise. Authentizitätsverletzungen werden nachdrücklich als Katalysatoren für gegenseitiges Misstrauen benannt; ihnen wird damit also eine soziale Bindungen zersetzende Wirkung zugeschrieben: – Nicht Wurzeln auf der Lippe schlägt das Wort, Das unbedacht dem schnellen Zorn entflohen, Doch von dem Ohr des Argwohns aufgefangen Kriecht es wie Schlingkraut endlos treibend fort, Und hängt ans Herz sich an mit tausend Ästen, So trennen endlich in Verworrenheit Unheilbar sich die Guten und die Besten! (V. 585–591)

Was hier für die Figuren noch als nur vorübergehend verletztes, zukünftig aber einzuhaltendes Credo gilt, bildet für die Leserinnen und Zuschauer bereits ein wenig verhülltes Indiz für kommendes Unheil. Was sich für Cesar als Möglichkeit der Trennung darstellt, ist für die Rezipienten schon die Ankündigung der Trennung. Das Bild des auf dem Wasser schwimmenden „Schlingkraut[s]“, das „ans Herz sich mit tausend Ästen [hängt]“, verbindet das im Kontingenzparadigma und der Metaphorik des Fluiden eingeschlossene Motiv der Unverfügbarkeit mit der in der Pflanzenmetaphorik verbildlichten Langsamkeit natürlichen Wachstums. Das vom Schlingkraut erfasste Herz zeigt zudem das Zusammenbrechen der für die Konstanz sozialer Bindungen notwendigen Sympathie an. Die ungewollte Trennung der „Guten und [der] Besten“, konkret also die Trennung Don Manuels und Don Cesars, ist damit für die Figuren nur eine Möglichkeit in einer generell noch offenen Zukunft, für die Rezipienten aber schon zukünftige Gegenwart, zukünftige Wirklichkeit.

Rezipientenperspektive und Figurenperspektive werden hier kunstvoll ausei-

nanderdividiert. Dies geschieht zum einen mittels des Informationsvorsprungs, der den Rezipienten gewährt wird: Den Leserinnen und die Zuschauer werden Informationen, die nahelegen, dass Manuel und Cesar die selbe Frau lieben, sehr viel früher gegeben als den Figuren, die lange nur jeweils über Informationssplitter verfügen und aufgrund ih



3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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res Nicht-Kommunizierens nicht fähig sind, diese in sinnvoller Weise zusammenzusetzen. Zum anderen ist hier auch Schillers konsequente Konturierung der Differenz Form/Inhalt zu berücksichtigen. Gerade eben die metaphorische Bildlichkeit der Sprache liefert den Rezipienten Hinweise, die den Figuren entgehen. Zudem greift hier die von Cornelia Zumbusch beschriebene Rolle des tragischen Chors in der Braut von Messina, der mittels seiner „reinen Rede“ nicht nur diese Differenz von Form/Inhalt akzentuiert, sondern die Leserinnen und Zuschauer auch von der Handlung distanziert und in eine reflektierende Haltung versetzt, welche eine symbolische Lesart des Textes ebenso ermöglicht, wie sie es erleichtert, von den Figuren nicht wahrgenommene Zusammenhänge zu erkennen.608 Letztlich erahnen die Rezipienten die Information, welche die Figuren dann später als plötzlich hereinbrechendes Widerfahrnismoment ereilt, bereits im Vorfeld und können das Figurenerleben deshalb – der Theorie des Erhabenen entsprechend – in abgeschwächter Form miterleben, sodass ihnen noch eine ausreichende kognitive Kapazität für die gleichzeitig erfolgende Reflexion dieses Affekteinbruches zur Verfügung steht. Die – wie im Kapitel 1.1.3 bereits für die frühen Dramen Schillers geltend gemachte609 – Technik, Rezipienten- und Figurenerleben zeitlich auseinanderzuziehen, dem Rezipienten also das eigene Erleben in zeitlicher Verzögerung nochmals als Figurenerleben vor Augen zu führen und ihn so zu einer Reflexion seiner eigenen Erlebnisinhalte zu bewegen, kommt hier in extensivierter Weise erneut zur Anwendung. Das langsame Erlangen einer Einsicht (konkret: die sukzessive Gewinnung der für das Stück zentralen Information über die Identität Beatrice) kann jedoch nur die besondere Qualität erlangen, die es zu einem eigenen Erlebnisinhalt für die Rezipienten macht, weil das Stück anders als die anderen klassischen Dramen Schillers keine historische Handlung zum Gegenstand hat. Anders als etwa im Wallenstein, in der Maria Stuart oder der Jungfrau von Orleans können die Leserinnen beziehungsweise die Zuschauer in der Braut von Messina überhaupt eine eigene Erkenntnisleistung dieser Qualität bei der Rezeption des des Handlungsverlaufes vollbringen. Anders als bei den übrigen Dramen nach 1795 ist die Handlung der Braut von Messina für die Rezipienten eben noch nicht einmal in Grundzügen vorher bekannt. Damit orientiert sich dieses Stück im Übrigen auch viel stärker an dem von Sophokles’ Ödipus entlehnten Konzept des analytischen Dramas als etwa die Maria Stuart, auch wenn in letzterer relevante Aspekte der historischen Hand 608 Vgl. Zumbusch, Immunität der Klassik 2011, S. 215–221.

609 Auch hier sei nochmals auf Steffen Martus’ Analyse des ersten Akts der Räuber verweisen, auf dessen

Beobachtungen das Kapitel aufbaut: Martus, Schillers Metatheater in ‚Die Räuber’ 2013, S. 126–144.





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lung – unter anderem die Gefangenahme Marias – vor Beginn des Einsatzes der Dramenhandlung liegen. Mit anderen Worten: Mit den genannten Dramen verbindet die Braut von Messina eine asymmetrische Informationsverteilung zwischen Figuren und Rezipienten, welche die Rezipienten in eine Distanz zu den dargestellten Widerfahrnismomenten des Figurenerlebens und den mit ihnen einhergehen Affekteinbrüchen rückt. Eben diese Distanz ist es, die den Leserinnen und Zuschauern des Stücks überhaupt erst die vom Autor intendierte Reflexion der Handlung ermöglicht. Von diesen Dramen unterscheidet sich die Braut von Messina jedoch wiederum dadurch, dass die wesentlichen Informationen den Rezipienten hier nicht schon von vorneherein zur Verfügung stehen, sondern dass diese von den Leserinnen und Zuschauern im Handlungsverlauf erst selbst erschlossen werden müssen – jedoch wie gesagt von den Rezipienten schneller als von den Figuren erschlossen werden können. Dies führt nun doch zu einer Intensivierung des Miterlebens der Handlung, wenngleich die zeitliche Trennung des Rezipientenerlebens vom Figurenerleben – jedenfalls der entscheidenden Widerfahrnismomente – eine affektive Überwältigung der Rezipienten verhindert. Schiller bringt auf diese Weise nicht nur eine Differenz von Perspektiven (zwischen Figuren und Rezipienten) auf die Bühne, sondern dehnt diese – im Prinzip an einen (Beobachtungs– )Moment gebundene Differenz – ins Zeitliche. Nicht die Unterschiedlichkeit in den Wahrnehmungen oder den Beurteilungen der Situationen durch Figuren und Rezipienten wird hier akzentuiert. Die Unterschiedlichkeit im affektiven Erleben der jeweiligen Handlungsverläufe und in der Reflexion längerer Handlungsfolgen erfolgt hier über eine Asynchronität in der Vermittlung von Figuren- und Rezipientenwissen. Die in der Braut von Messina festzustellende Trennung von Figuren und Rezipienten geht bei genauerer Betrachtung nämlich deutlich über die Unterschiede in der Erlebnisintensität der entscheidenden Widerfahrnismomente hinaus. Der Text nutzt – so die im Folgenden zu belegende These – die Figurenbeobachtungen und deren Beobachtung zweiter Ordnung durch die Rezipienten dazu, zwei von einander zu unterscheidende Lesarten der dramatischen Ökonomie des Textes schon mittels textlicher Mittel sichtbar zu machen. Genau genommen kann aber zwischen den textuellen Mitteln mit rezeptionsästhetischer Funktion und den Mitteln, die auf die tatsächliche Handlungsökonomie reflektieren, methodisch nicht präzise unterscheiden werden. Es muss also zunächst offen bleiben, ob hier zwei differierende Lesarten der Handlungsökonomie nahegelegt werden oder ob dem Drama nicht prinzipiell schon zwei parallele Handlungsökonomien eingeschrieben sind. Diese Ununterscheidbarkeit zwischen der Rezep



3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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tionsebene und der Objektebene muss dabei nicht als zufällige Erscheinung des Textes gelten, sondern kann unter Umständen durchaus als bewusste ästhetische Entscheidung Schillers angesehen werden, entspricht sie doch gerade seiner ästhetischen Eigenleistung gegenüber Kant und Moritz (vgl. dazu Kapitel 4.1). Geht man jetzt nur von der Objektebene aus, so stellen sich die beiden Handlungsökonomien wie folgt dar: Zum einen wird in dem Drama ein lang andauernder Generationenkonflikt thematisch, der sich ausgehend von einer familialen Ursünde – der Großvater verfluchte seine Nachkommen, weil sein Sohn ihm die Braut geraubt hatte – unter stetiger Zunahme der Konfliktintensität bis in die Gegenwart des Dramas fortsetzt. Die Dramenhandlung der Braut von Messina bringt demnach den Kulminationspunkt dieses über einen langen Zeitraum anschwellenden Familienzwists auf die Bühne und endet konsequent in einer sich aus der schleichenden, dabei jedoch stetig zunehmenden Intensität der Auseinandersetzung logisch ergebenden Selbstauslöschung der männlichen Nachkommen und damit dem Ende der männlichen Erfolge. Zum anderen macht das Drama bereits zu seinem Beginn das Bemühen der Figuren, dieser Dynamik Einhalt zu gebieten, als seine eigentliche Thematik kenntlich. Die Tragik des Stücks liegt demnach vor allem darin, dass die von den Figuren beabsichtigte Suspension des immer stärker werdenden Konflikts unintendiert selbst zum Auslöser der finalen Katastrophe gerät. Gegenüber der ersten auf einer stetige Steigerung beruhenden Dynamik liegt hier also eine Entwicklung vor, die auf dem Dreischritt aus Konfliktdarstellung, dessen Suspension und einer zeitlich verzögerten, aber nun intensivierten Widerkehr des Konflikts. Kontexte II – Schillers Fieberschrift von 1780 Die Parallelen dieser beiden Dynamiken zu der zweiten Dissertation Schillers, der sogenannten Fieberschrift, sind – so die These hier – durchaus augenfällig. In seiner 1780 verfassten medizinischen Untersuchung klassifiziert Schiller vier Fieberarten, beschreibt deren Pathogenese und entwickelt entsprechende Therapieansätze. Den Schwerpunkt der Arbeit bilden die Untersuchungen vor allem des „entzündungsartigen Fiebers“ (ab § 3) und der „Faulfieber“ (ab § 19). Die dritte in der Schrift behandelte Fieberart, das „gallig–entzündungsartige Fieber“ (ab § 32), letztlich eine Mischform aus den beiden ersteren, wird demgegenüber zwar nur relativ kurz abgehandelt, Schillers Analyse erreicht hier jedoch ihr höchstes Abstraktionsniveau. Der letzten Form, den „fauligbrandigen Entzündungen“ (ab § 38) wird in der Abhandlung nur noch wenig Raum ge



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geben, eine ausführlichere Diskussion wie bei den anderen Erscheinungsformen des Fiebers findet hier nicht mehr statt. Relevant für den hier im Fokus stehenden Zusammenhang sind dabei vor allem Schillers Beschreibungen des Krankheitsverlaufs des entzündungsartigen Fiebers und der Faulfieber. Die Faulfieber werden zunächst auf eine Störung der harmonischen Ordnung der Nerven zurückgeführt: Während nämlich die Nerven die Absonderungen und die Kochungen überwachen [...], stört eine Unordung der Nerven zwangsläufig die Ordnung dieser Verrichtungen, verdirbt die Mischung der Körperflüssigkeiten und vermischt die Abscheidungen auf mannigfache Weise (V, 1101–1102).

Die aus der Balance geratene Ordnung der Nerven ist demnach ursächlich für Störungen weiterer Organsysteme, insbesondere des Verdauungstraktes. Diese Störung der körpereigenen Homöostase greift dann nach Schillers Vorstellung auf die Galle über und ruft in der Folge eine sich auf den gesamten Körper erstreckende Fäulnis hervor, welche die eigentliche Ursache für das Fieber und damit für dasjenige Phänomen bildet, dem um 1800 noch der eigentliche Krankheitswert zugeschrieben wird. Das Faulfieber wird von Schiller explizit als ein sich langsam und unbemerkt anbahnender Prozess bezeichnet und genau darüber von den entzündungsartigen Fiebern abgegrenzt: Aber nicht mit der Heftigkeit, mit der es die entzündlichen Krankheiten zu tun pflegen, greifen die Faulfieber die Menschen an, welche schon längst in den verborgendsten Winkeln der Eingeweide ihre verderbenbringenden Samen ausgestreut haben, bevor sie sich augenfälliger verraten. Zu der Zeit freilich, wenn der hinterlistige Feind durch das Innere des Körpers schleicht, tritt ein Wandel der Sinnesart in Erscheinung. (V, 1103)

Bereits in der Fieberschrift gebraucht Schiller also Semantiken der Latenz und des Theatralen bzw. der Täuschung, um die für den Patienten kaum wahrnehmbare Ausbreitung des Faulfiebers in dessen Körper zu beschreiben. Auch liegt hier schon ein Beispiel für die Verortung von Latenzzeiten und Differenzen zwischen der ontischen Realität (der Krankheit) und dem epistemischen Wahrnehmung (durch den Beobachter) vor – in nuce angezeigt durch die in der Textstelle enthaltene Samenmetapher. Der Samen der Krankheit, so das Bild, ist schon lange „ausgestreut“, bevor ein Stadium erreicht wird, in welchem diese auch von außen wahrnehmbar ist. Zu dem hier angesprochenen „Wandel der Sinnesart“ gehört im Übrigen – wie Schiller kurz darauf ausführt – häufig auch ein „eingebildete[s], von den Alten ‚Milzkrankheit’ genanntes Leiden“ (V, 1105), also eine weitere Form der Täuschung oder der fehlerhaften Wahrnehmung dessen, was sich im Körper tatsächlich abspielt. Der Patient kann also einerseits der Fehlannahme unterliegen, überhaupt nicht an einem Fieber zu leiden. Andererseits ist es auch möglich, dass er – durchaus auch unbewusst – geringe Anzeichen der sich „schleich[end]“ in seinem Kör-





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per ausbreitenden und langsam an Stärke zunehmenden Krankheit wahrnimmt, diese jedoch falsch interpretiert.

Während die Faulfiber also hauptsächlich über eine Unordnung des Verdauungs-

systems in den Körper gelangen und deshalb „bald durch Erbrechen, bald durch Abführen anzugehen“ sind (V, 1113), liegt die Ursache für die entzündlichen Fieber nach Schillers Ansicht in einer „Blutüberfülle“ des Erkrankten (V, 1067). Diese Blutüberfülle gilt ihm noch nicht als der entscheidende Auslöser der Fieberkrankheit, sie sei vielmehr bei einer großen Anzahl von „Erwachsenen [zu finden], die ihrem Bauch nur mäßig nachgeben, leicht verdauen, schlank sind und im übrigen drahtig ihren kräftigen Körper trainieren“ (V, 1067). Zum Ausbruch der Fiebererkrankung bedarf es somit noch eines weiteren Faktors. In Schillers Auffassung wäre hier vor allem an ein „Hindernis, das sich dem Blutkreislauf entgegenstemmt“ (V, 1071) zu denken. Schiller hat dabei vor allem eine Situation vor Augen, in der „das System äußert kleiner Gefäße verengt [ist]“ (V, 1073). Er geht nun davon aus, „dass der Widerstand [auf den der Blutkreislauf dort trifft, M.K.] ganz wie ein Reiz“ wirke (V, 1073) und „eine größere Menge Blutes [] zu dem Ort geworfen [wird], an dem das Hindernis festsitzt, während immer weniger weggeschafft werden kann“ (V, 1073). Daraus entwickle sich dann eine pathologische Situation, die durch ein rapides Fortschreiten der Krankheitssyndrome gekennzeichnet ist. Geschwindigkeit und Intensität dieser Entwicklung rühren daher, dass nun verschiedene Steigerungs- beziehungsweise Beschleunigungslogiken einsetzen. Aufgrund des sich am kritischen Ort des Hindernisses entwickelnden Reizzustandes setzt nach Schillers Auffassung eine verhängnisvolle Wechselwirkung aus zunehmender Entzündung und ansteigendem Fieber ein: „Daher wächst mit wachsendem Fieber die Entzündung. Mit wachsender Entzündung wächst auch das Fieber. Daher verschärft das entzündliche Fieber sich selbst, was diese ‚wunderbare’ Stahlsche Selbstherrschaft ist“ (V, 1075). Ähnlich wirke die sich parallel entwickelnde Entzündung des Blutes und dessen in der Folge zunehmende Verdickung: „Denn da das entzündlich verdickte Blut sich weigert, durch die äußerst engen und kleinen, zur Ausdünnung bestimmten Siebporen getrieben zu werden, und dadurch gerade sich selbst wegen der Heftigkeit, mit der es geschleudert wird, den Weg verbaut und verstopft, wird es in dem System mikroskopisch kleiner Hautgefäße wie in einem Netz hängen bleiben“ (V, 1077). Die durch das Hemmnis ausgelöste Entzündung des Blutes führt demnach zur Entstehung neuer Hemmnisse, die ihrerseits wiederum zu einer Zunahme der Entzündung des Blutes beitragen und so weiter. Die derart ablaufende Dynamik wird zudem noch durch einen dritten Steigerungs- bezie



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hungsweise Beschleunigungseffekt angetrieben. Der Körper reagiert nach Schillers Ansicht auf die Hitze im Innern mit Kälteschauern, was sich jedoch als dysfunktionale Reaktion herausstellt: „Unter Einwirkung der Kälte ist das Hindernis weit davon entfernt, beseitigt zu werden, sodass es vielmehr sein größtes Wachstum hat. Die Kälte drängt nämlich, nachdem sich die Hautgefäße zusammengezogen haben, die Säfte in die inneren Körperteile [...] [und] vermehrt dort die teilweise, innere Blutüberfülle, [...] und vermehrt so die Entzündung“ (V, 1075). Deutlich wird also, dass Schiller von einer extremen Geschwindigkeit im Verlauf der entzündlichen Fiebererkrankung ausgeht. Das Hemmnis im Blutkreislauf führt seines Erachtens nach kurzer Zeit zu einem quasi disruptiven und heftigen Ausbruch der Krankheit. Die notwendige Therapie liegt konsequenter Weise in einer Milderung der Blutüberfülle, weshalb Schiller Aderlässe als das geeignete Mittel zur Heilung des entzündlichen Fiebers erachtet. Imaginationen zukünftigen Unheils Nun kann natürlich nicht die Rede davon sein, dass die Handlungsökonomien in der Braut von Messina einfache Applikationen dieser beiden in der Fieberschrift untersuchten Krankheitsverläufe darstellen. Dennoch sind Strukturähnlichkeiten zwischen den in der medizinischen Schrift beschriebenen Krankheitsverläufen und den in der Braut von Messina zu beobachtenden Handlungsverläufen beziehungsweise Beobachtungsperspektiven nicht von der Hand zu weisen. Schon die im Drama mehrfach auftretenden Traum-Sequenzen oder wenigstens deren Deutungen erinnern stark an die Pathologie des in der Fieberschrift beschriebenen entzündlichen Fiebers, zu dessen Symptomen Schiller „wirre[] Träume [zählt], die sich bemerkenswerter Weise meistens, und dafür habe ich selbst ein Beispiel gesehen, um Feuer und Brand drehen“ (V, 1079). Für die Braut von Messina ist hier insbesondere der Traum des Vaters geltend zu machen, der darin kulminiert, dass eine Lilie „zur Flamme [ward], die der Bäume dichtes Gezweig / Und das Gebälk ergreifend prasselnd aufschlug, / Und um sich wütend, schnell, das ganze Haus / in ungeheurer Feuerflut verschlang“ (V. 1312–1315). Auch der Traum der Mutter kann hier angeführt werden, da er zumindest als Indiz einer die Söhne dereinst zusammenbringenden „Liebesglut“ (V. 1351) gedeutet wird, sodass auch hier – wenigstens sprachlich – ein Verweis auf das Motiv des Feuers vorliegt. Ein drittes Beispiel wäre der „fromme Klausner, von uralters her / Der Greis genannt des Berges“ (V. 2097f.), der als gemeinhin Orakel gilt, weil er am Ätna den Göttern näher ist, und der „von dem Berg



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der aufgewälzten Jahre / Hinabsieht in das aufgelöste Spiel / Des unverständlich krummgewundenen Lebens.“ (V. 2102–2104) Dieser Klausner zündet nach Verkündigung seines Orakelspruchs über die Zukunft der Herrscherfamilie gar seine eigene Behausung an, „[w]orin er Gott verehrt seit neunzig Jahren“ (V. 2136) – wobei hier der Bezug zum Traum natürlich nur noch in schwächerer Form (in der Figur des wahrsagenden Klausners) gegeben ist.

Die letzte Textstelle ist jedoch noch aus einem anderen Grund relevant und soll

daher mit Blick auf die hier im Fokus stehende Inszenierung von Perspektivendifferenzen noch eingehender betrachtet werden: Sie ist nämlich recht deutlich als erneutes Zitat des Lukrez’schen Motivs vom ‚Schiffbruch mit Zuschauer’ zu lesen. Der Text referiert hier also auf die Beobachtung eines Kontingenzen repräsentierenden Geschehens aus einer höheren Perspektive. Der Bezug zur Situation des Zuschauers im Theater wird hier zudem nochmals durch den Gebrauch des Begriffs „Spiel“ unterstrichen. Die bereits im Kapitel 1.1.3 zur Semantik und Theatralität in Schillers frühen Texten erörterten Details dieses Motivs müssen hier nicht mehr im Detail wiedergegeben werden.610 Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang ist jedoch, dass hier Figuren– und Rezipientenwahrnehmung funktional präzise auseinanderdividiert werden. Die Literarizität der Textstelle mit ihren intertextuellen Bezügen zu Lukrez und zu Schillers Abhandlung Über die tragische Kunst ist in ihren gesamten Umfang nur für die Leserinnen und Zuschauer, nicht jedoch für die Figuren, zu erfassen. Wichtig ist, dass die Rezipienten dabei dennoch erkennen können, dass ihre symbolische (vor allem auf sich selbst reflektierende) Wahrnehmungshaltung sich fundamental von der Affektivität des Figurenerlebens in der Passage unterscheidet – dass sie also das Bewusstsein entwickeln, dass die Figurenwahrnehmung eine andere Deutung der in diesem Sprechakt eingeschlossenen Semantik als ihre provoziert. Auch hierüber wird somit Kontingenz erfahrbar. Festzuhalten ist damit, dass die beiden in den Handlungsverläufen und Beobachtungsperspektiven des Dramas und in ähnlicher Weise auch in den Krankheitsverläufen aus der Fieberschrift beschriebenen Dynamiken auch in dem metaphorischen Arsenal der Braut von Messina ihren Niederschlag finden. Allein im Kontext der Meeres- und der 610 Nicht unnötig scheint indes der Hinweis auf die kurze Diskussion der Lukrez-Stelle zu Beginn der Ab-

handlung Über die tragische Kunst. Dort wendet sich Schiller gegen Lukrez’ Auffassung, das Vergnügen am Schiffbruch rühre von einer Vergleichung der eigenen Sicherheit des Beobachters auf dem Lande mit den Widerfahrnissen der Schiffbrüchigen, hätte also – um Schillers Wiedergabe der Lukrez’schen Position zu bemühen – Momente „befriedigter Gerechtigkeitsliebe“ oder beruhe gar auf der „unedle[n] Lust der gestillten Rachbegierde“ (V, 373). Für Schiller ist der Schiffbruch mit Zuschauer vielmehr ein ideales Beispiel für eine Einfühlungssituation, in welcher der Zuschauer affiziert wird, dies jedoch nur bis zu dem Maße, dass ihm noch hinreichende kognitive Kapazitäten für die Reflexion der Situation verbleiben.





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Pflanzenmetaphorik lassen sich Motive latenter Bedrohung und antizipierten Unheils auf der einen und Motive disruptiven Bruchs und einbrechender Gewalt auf der anderen Seite feststellen: Bedrohung und Unheil werden nicht nur in der bereits weiter oben behandelten Szene verwendet, in der den Rezipienten – nicht aber den Figuren! – mithilfe einer intertextuellen Bezugnahme zum Ring des Polykrates ein unmittelbar bevorstehender Bruch der Familienidylle angezeigt wird. Mehrfach artikulieren Figuren ihr Misstrauen in die gegenwärtige Situation oder drücken Furcht vor einem drohenden, jedoch noch nicht konkret greifbaren Verhängnis aus. Schon zu Beginn des Stücks äußert ein Mitglied des Chores sein Unbehagen angesichts der militärischen Verwundbarkeit Messinas gegenüber Seeangriffen. Die Bürger bewohnten zwar „ein glückliches Land [...] / Aber es lässt sich nicht sperren und schließen, / Und des Meers rings umgebende Welle / Sie verrät uns dem kühnen Korsaren, / Der die Küste verwegen durchkreuzt“ (V. 211–219). Diese Meeresmetapher verdeutlicht, dass es sich hier nicht in erster Linie um eine konkrete Furcht vor Seeräubern, sondern um die Manifestation einer unbestimmten Furcht vor den Kontingenzen einer offenen Zukunft handelt. Es fehlen Mauern, also Ordnungsstrukturen, die eine Kontrolle des Ungewissen erlaubten. Der Chor fühlt sich dementsprechend zukünftig möglichen Widerfahrnissen schutzlos ausgeliefert. In ähnlicher Weise verknüpft bereits wenige Verse vorher ein anderes Chormitglied die Misstrauen auslösende Fremdheit der eingewanderten Herrscherfamilie mit dem in der Meeresmetaphorik eingeschlossenen Motiv des Unberechenbaren und Unverfügbaren, wenn es explizit betont, dass das „fremde Geschlecht“, dem Messina nun gehorcht, „auf dem Meerschiff [gekommen]“ ist (V. 206). Später dann, als Isabella eine anders als erwartet ausfallende Nachricht irritiert, fürchtet sie sogleich schlimmes Unheil: „[M]ir ist, als ob / [...] / Des Meeres Ungeheuer mich umstünden“ (V. 2204–2206). Auch hier findet sich noch kein klares Indiz, dass wirklich Schlimmes drohte, doch die psychodynamische Reaktion der Figur auf die Irritation ist sogleich die eines Angsterlebens. Die Fiktionalität der irrealen Ungeheuer wie auch der Kontingenzmarker ‚Meer’ unterstreichen, dass Isabella hier gerade dem Unbekannten, der offenen und unverfügbaren – kontingenten – Zukunft ängstlich gegenübersteht. In einer anderen Passage ist es weniger das Fremde, das sie affiziert, sondern das katastrophale Ausmaß des vorgestellten Unheils. Erneut ist es nur eine relativ unbedeutende Irritation, die zum Auslöser von Isabellas gesteigerter Angst wird, denn die Figur kann von dem sich bereits unaufhaltsam zuspitzenden Konflikt zu diesem Zeitpunkt eben noch nichts wissen. Dass Don



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Cesar ihr aber den Namen seiner zukünftigen Braut seltsamerweise nicht zu nennen vermag, lässt jedoch sogleich drastische Schreckensphantasien in ihr aufsteigen: Den eignen freien Weg, ich seh es wohl, Will das Verhängnis gehen mit meinen Kindern. Vom Berge stürzt der ungeheure Strom, Wühlt sich sein Bette selbst und bricht sich Bahn, Nicht des gemeßnen Pfades achtet er, Den ihm die Klugheit vorbedächtig baut. (V. 1551–1556)

Der Bildlichkeit dieser Figurenrede ist die Furcht vor dem Unverfügbaren, Kontingenten eingeschrieben. Isabella fokussiert hier jedoch vor allem die im Möglichkeitsraum einer offenen Zukunft auch enthaltene Variante extremen und unkontrollierbaren Unheils, wie die im Motiv des zerstörerischen Lavastroms zusammenlaufenden Metaphoriken des Fluiden und des Feuers verdeutlichen. Dass es sich hier im Kern um eine Diskussion des Kontingenten und der Kontingenz handelt, wird in der ordnungs- und regelübertrenden Imagination der ihre geologisch vorgezeichneten Bahnen verlassenden Lavamassen ebenso deutlich wie in der dazu in Opposition gebrachten Methode rationaler Planung. Isabella bindet hier also in expressiver Weise ihre Angst vor den Kontingenzen der Zukunft an die Vorstellung menschlicher Ohnmacht angesichts einer extremen Widerfahrnissituation. Bereits vorher äußert ihre Tochter ähnliche Untergangsphantasien, wenn sie mit Bezug auf den Konflikt zwischen Manuel und Cesar davon spricht, dass „mein Schreckensschicksal / Mich, die Arme, Rettungslose, / In den Strudel dieses Hasses, / Dieses Unglück [hineinreißt]“ (V. 1226–1229). Die abstrakte Angst vor dem Ungewissen wird also gebunden an die konkrete Imagination der größtmöglichen Widerfahrnis.

Am deutlichsten ist diese auf ein unbekanntes, aber unmittelbar bevorstehendes

Unheil gerichtete Angst Isabellas ihrem Monolog vor der großen Anagnorisis-Szene ab V. 1744 eingeschrieben, in welcher Beatrice und Don Manuel das Ausmaß der familialen Verstrickungen und ihre Verwandtschaft zueinander erkennen und in dessen Anschluss der Brudermord stattfinden wird:





So nahe glaubt ich mich dem sichern Hafen So fest vertraut ich auf des Glückes Pfand Und alle Stürme glaubt ich eingeschlafen, Und freudig winkend sah ich schon das Land Im Abendglanz der Sonne sich erhellen, Da kommt ein Sturm aus heitrer Luft gesandt Und reißt mich wieder in den Kampf der Wellen. (V. 1698–1704)





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Die Metaphorik dieser Stelle beinhaltet sowohl die Möglichkeit/Wirklichkeit unterscheidende Schwelle zwischen Meer und Land als auch die Schutz/subjektives Ausgeliefertsein gegenüber Widerfahrnissen anzeigende Differenz aus sicherem Hafen und offenem Meer. Isabella sieht die Verwirklichung ihrer Hoffnungen dahinschwinden und sich selbst in das Chaos zurückgeworfen, in welchem sie Objekt der Kontingenzen ihrer Umwelt ist, nicht Gestalterin des Kontingenten. Auch bei dieser Textstelle fällt auf, dass die figurenpsychologische Motivation stark hinter die nur für die Rezeption erschließbare dramenökonomische Bedeutung der Textstelle zurückfällt. Während Isabellas Affektausbruch eben figurenpsychologisch auf keinen wirklichen Anlass folgt, sondern nur Resultat eines vagen Unbehagens angesichts der nicht ganz schlüssig zueinander in Verbindung zu bringenden Aussagen ihrer Söhne ist, bildet der Monolog dramenökonomisch den Auftakt zum Höhepunkt des gesamten Stückes. In formaler Perspektive kann er als dessen Anfang gelten, die Mitte des Höhepunkts wäre dementsprechend die Anagnoris von Manuel und Beatrice, das Ende der Mord an Manuel. Für den Zuschauer oder die Leserin hat Isabellas Monolog damit eine (für die Figur selbst nicht in der Weise Geltung erlangende) herausgehobene Bedeutung – wobei sich dies für den Zuschauer auch erst nach Vollendung des Höhepunktes erschließt, also durchaus eine gewisse nachträglich zu erbringende Reflexionsleistung erfordert.611 Darstellung gegenwärtiger Brüche Schon diese Textstellen verweisen allesamt auf Momente des Bruchs und der Gewalt, modalisieren diese jedoch mittels Temporalisierung; genauer sie verorten sie in der Zukunft. In der Braut von Messina werden jedoch – der zweiten Dynamik aus der Fieberschrift entsprechend – auch mehrfach Bruchsituationen verhandelt, die sich (in gewisser Weise)612 auf gegenwärtige Ereignisse oder Kontexte beziehen. Nachdem Don Cesar etwa Beatrice seine Identität enthüllt und ihr eine Zukunft an seiner Seite vorstellt, zeigt sich der Chor beeindruckt von der Funktionalisierbarkeit herrschaftlicher Macht: „Den begünstigten Sohn der Götter beneid ich, / Den beglückten Besitzer der Macht! / Immer

611 Es scheint nötig darauf hinzuweisen, dass ein nachträgliches Begreifen der Bedeutung ihres Monologs

für Isabella selbst nicht möglich ist, da sie die Bühne umgehend verlässt und die weiteren Geschehnisse des Höhepunkts – anders als die Rezipienten – nicht beobachten kann. 612 Wenn es sich dabei um Kommentare von Gegenwartsereignissen handelt, sind diese natürlich genau genommen den kommentierten Ereignissen nachgelagert. Dennoch sollen hier auch derartige kommentierende Sprechakte als zur Gegenwart des Ereignisses zugehörig betrachtet werden. Im Grunde ist es auch nicht entscheidend, hier vergangene und gegenwärtige Ereignisse voneinander abzugrenzen, verläuft doch der für diese Analyse wesentliche Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft.





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das Köstlichste ist sein Anteil, / Und von allem, was hoch und herrlich / Von den Sterblichen wird gepriesen, / Bricht er die Blume sich ab“ (V. 1230–1235). Diese Affirmation einer Gewalt, welche auch in Liebesfragen613 keine Rücksicht auf das Gegenüber nimmt, kann von den aufgeklärten Leserinnen und Zuschauer des Stücks nur kritisch rezipiert werden. Auch hier wird also die Figurenperspektive von der Rezipientenperspektive getrennt und als kontingent ausgestellt. Der Marker für diese Perspektiventrennung liegt klar in der auffälligen Ausblendung der (im Bild der gebrochenen Blume enthaltenen) Gewalt gegenüber der begehrten Frau (hier konkret: Beatrices).614 Das dieser Pflanzenmetapher eingeschriebene, vom Chor jedoch nicht wahrgenommene Widerfahrnisempfinden der zum Objekt der Gewalt werdenden Person ist jedoch eher die Ausnahme in der Braut von Messina. Zu erwähnen wäre hier zwar noch die Ignoranz des Chores gegenüber einer weiteren Gewaltdynamik. Um den Mord an Manuel zu kompensieren, fordert der Chor nämlich tatsächlich das Fällen des nahestehenden Baumes und produziert so unintendiert den performativen Widerspruch einer Kompensation von Gewalt durch Gewalt:





Diese Zypresse lasst uns zerschlagen Mit der mördrischen Schneide der Axt, Eine Bahre zu flechten aus ihren Zweigen, Nimmer soll sie Lebendiges zeugen, Die die tödliche Frucht getragen, Nimmer in fröhlichem Wuchs sich erheben, Keinem Wandrer mehr Schatten geben, Die sich genährt auf des Mordes Boden, Soll verflucht sein zum Dienst der Toten! (V. 1975– 1983)

Gerade die auch semantisch mittels der Spannung aus der „mördrische[n] Schneide der Axt“ und „des Mordes Boden“ überdeutlich hervorgehobene Aporie einer Kompensation des Übels durch das gleiche Übel zeigt, dass auch hier die Rezipienten– von der Figurenperspektive getrennt werden soll. Interessanterweise geht dies einher mit einer beidseitigen Loslösung der jeweiligen Zeitperspektiven. Während die Rede des Chors in einer Art Gesinnungsethik um eine in der Vergangenheit liegende Schuld kreist, wird der Blick der Rezipienten – quasi verantwortungsethisch – auf die Frage der Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens für eine gelingende Zukunft gelenkt. Die Braut von Messina folgt hier dem schon in den frühen Texten Schillers auszumachenden Primat einer Verantwortungs- 613 Der Zusammenhang von Affekt und Gewalt ist der Braut von Messina allgemein und beschränkt sich

keineswegs nur auf die Meeres- und Pflanzenmetaphorik. Vgl. dazu Zumbusch, Immunität der Klassik 2011, v. a. S. 205–215.

614 Diese Technik erinnert stark an das ebenfalls auffällige Ignorieren der Frauenperspektive durch den

Erzähler in der Anekdote Eine großmütige Handlung.





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gegenüber einer Gesinnungsethik. Schiller – das liegt hier nahe – ist sich durchgehend der besseren Vereinbarkeit der auf die Zukunft gerichteten Verantwortungsethik mit den komplexeren Lebenslagen der Menschen in der sich herausbildenden Moderne bewusst. Das Votum für eine Ethik, die Gestaltbarkeitspotentiale gegenüber handlungsrestriktiven Konsequenzen aufwertet, ist daher folgerichtig. Folgerichtig ist aber auch, dass eine kritische Haltung gegenüber der individuelles Fehlverhalten in Scham– und Schulddiskursen bindenden und so prolongierenden Gesinnungsethik gerade dazu führt, dass diese Gesinnungsethik eine thematisch gewichtige Rolle in den geführten Diskursen einnimmt. Durchaus häufiger fokussiert der Text aber gerade die Plötzlichkeit und den Schrecken von (durch die Figuren nicht vorhergesehenen) Negativereignissen. Schon Cesars Mord an Manuel wird durch den Chor mit einem der späteren Forderung nach einem Fällen des Mordbaumes recht ähnlichem Bild kommentiert – hier nun aber keineswegs mehr unter Affirmation der zugrundeliegenden Gewalt: „Holder Jüngling, / Da liegt er entseelt / Hingestreckt in der Blüte seiner Tage!“ (V. 1941–1943). Wichtig ist zudem, dass Schillers Dramentext explizit Bruch und Gewalt in eine Verbindung bringt mit einer Übertretung von Grenzen und – hier finden sich die stärksten Bezüge zur Pathologie des entzündlichen Fiebers – mit einer Überwindung von Hemmnissen. Schon des Vaters strenge Herrschaft wird kritisch beschrieben, weil sie den sich zwischen den Brüdern abzeichnenden Konflikt gewaltsam unterdrückt hatte, ihn jedoch gerade dadurch immer stärker anschwellen ließ:

Zwar weil der Vater noch gefürchtet herrschte Hielt er durch gleicher Strenge furchtbare Gerechtigkeit die Heftigbrausenden im Zügel, Und unter eines Joches Eisenschwere Bog er vereinend ihren starren Sinn. Nicht waffentragend durften sie sich nahn, Nicht in denselben Mauern übernachten ; So hemmt’ er zwar mit strengem Machtgebot Den rohen Ausbruch ihres wilden Triebs, Doch ungebessert in der tiefen Brust Ließ er den Haß – Der Starke achtet es Gering, die leise Quelle zu verstopfen, Weil der dem Strome mächtig wehren kann. Was kommen mußte, kam. (V. 34–47)

„Was kommen musste, kam“: Nach dem Tod des Vaters brach sich der Bruderhass nun stärker denn je seine Bahn. Das vom Vater machtvoll installierte Hemmnis, das Tabu, eignete sich lediglich dazu, den Konflikt zu verschleiern und die Gewalthandlungen seiner Söhne temporär zu suspensieren. Tatsächlich fungierte das väterliche Verbot jedoch nicht nur als Latenzschutz gegenüber dem brüderlichen Streit, sondern sogar als dessen



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Katalysator. Es kam so zu einer unbemerkten, aber stetigen Steigerung des Gewaltpotentials, das sich dann, nach Wegfall des Hemmnisses disruptiv entlud. Isabella beschreibt in dieser Passage zu Beginn der Braut von Messina eine in der Vergangenheit liegende Ereignisfolge, gleichzeitig nimmt sie jedoch schon den zukünftigen Handlungsverlauf des Dramas vorweg. Die Brüder installieren mit ihrem Friedenspakt nun – zwar durch Konsens statt in Befolgung einer höheren Autorität – erneut ein künstliches Hemmnis für ihren Hass. Die Dramenhandlung führt dann im Kern vor, wie diese Reproduktion der väterlichen Methode auf die gleiche Weise scheitert wie schon beim Vater und wie, allgemein gesprochen, rationalistische Hemmnisse nur temporäre Kraft gegenüber latent weiter anschwellenden – jedoch unter einem Latenzschutz verdeckten – Konflikten zu entwickeln vermögen. Behält man dies im Sinn, ist auch die zum Mord an Don Manuel führende disruptive Affektendladung Cesars dramenökonomisch folgerichtig – und wenn auch nicht aus der Handlungssituation hinreichend motiviert, so doch aus einer symbolischen Lesart, wie sie Schiller in der Vorrede zur Braut von Messina noch so eindringlich fordert. Auf deutliche Weise markiert der Text so auch das einst vom Vater wie das nun durch die Brüder und Isabella selbst installierte Hemmnis als maßgeblichen Auslöser für den immer wieder gewaltsam aufbrechenden Konflikt. Die sich daraus ergebende Handlungsdynamik verläuft damit also durchaus analog zu der Pathologie des entzündlichen Fiebers. Diese Eingangsszene mit Isabellas kommentierendem Bericht vom väterlichen Tabu und dem Wiederausbruch des Streits nach dem Tod des Patriarchen ist auch keineswegs die einzige Stelle in der Braut von Messina, in der die Dynamik aus Latenzschutz und dadurch verzögertem, aber intensivierten Gewaltausbruch virulent wird. Wenig später gebraucht der Chor eine vergleichbare Denkfigur, indem er – ebenfalls unter Verwendung von Meeresmetaphorik – die Dysfunktionalität künstlich geschaffener Abwehrmaßnahmen gegen Widerfahrnisse herausstellt: Jene gewaltigen Wetterbäche, Aus des Hagels unendlichen Schloßen, Aus den Wolkenbächen zusammengeflossen, Kommen finster gerauscht und geschossen, Reißen die Brücken und reißen die Dämme, Donnernd fort mit Wogengeschwemme, Nichts ist, das die Gewaltigen hemme. (V. 242–248)

Der Sprechakt ist eingebunden in eine Unterscheidung von Herrschern und Untertanen. Den Machthabern gesteht der Chor zwar einen weitreichenden Gestaltungsspielraum zu, dennoch verweist er auf die Fragilität ihrer Machtposition. Anders als das einfache Volk sind die Fürsten Messinas stets der Gefahr des Sturzes ausgeliefert. Auch wenn sie es



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sind, die zur Quelle von Widerfahrnissen für ihre Untertanen werden können, sind sie selbst Widerfahrnissen ausgeliefert, die in dieser Weise nur ihnen drohen, nicht aber den von ihnen Beherrschten. Derartige Widerfahrnisse beschreibt die vorliegende Passage als stetig anschwellende Wasserfluten, denen zwar mit baulichen Maßnahmen Einhalt geboten werden kann, die jedoch nach einer gewissen Zeit die errichteten Barrieren und Hemmnisse sprengen – konkret „die Dämme [einreißen]“ und auf diese Weise nur eine umso zerstörerische Wirkung entfalten. Trotz kurzfristiger Erfolge existiert eben langfristig „[n]ichts [...], das die Gewaltigen hemme.“ Damit steht also die, das Übel lediglich für einen Zeitraum suspendierende, Wirkung menschengemachter Hemmnisse im Fokus, worüber erneut ein intertextueller Bezug zwischen der Handlungsökonomie des Stücks und Pathologie des entzündlichen Fiebers aus Schillers zweiter Dissertation hergestellt werden kann.

Berücksichtigt man, dass der Aderlass die zentrale in der Fieberschrift vorge-

schlagene therapeutische Maßnahme im Umgang mit dem entzündlichen Fieber ist, so kann auch der Rede des Chors gegen Ende des Stücks eine weitere Lesart hinzugefügt werden. Der Moment, in dem Don Cesar dem Leichnam seines Bruders erstmals nach der Mordtat gegenübertritt, wird nämlich gerahmt durch drei fast identische Sprechakte, in denen der Chor jeweils das erneuten Aufbrechen der Wunden des Toten beschwört: „Brechet auf ihr Wunden, / Fließet, fließet! / In schwarzen Güssen, / Stürzet hervor, ihr Bäche des Bluts.“ (V. 2411–2414, V. 2431–2434615 und V. 2456–2459616) Zunächst wird hier eine Assoziationsnähe zur mittelalterlichen Vorstellung hergestellt, die Wunden des Ermordeten würden aufbrechen, wenn der Mörder sich der Leiche nähert. Handlungslogisch kann es hier jedoch nicht darum gehen, die zur Handlungszeit des Dramas noch gebräuchliche Rechtspraxis der Bahrprobe durchzuführen, denn Don Cesar muss nicht erst durch eine Konfrontation mit dem Leichnam des Mordes überführt werden, da er seine Tat recht schnell gesteht und da der Mord auch nicht im Verborgenen geschah, sondern in aller Öffentlichkeit unter den Augen beider Chöre und Beatrices (vgl. die Regieanweisung vor V. 1898). Es ist daher zu überlegen, ob dieser wiederholte und nur leicht variierte Sprechakt des Chores nicht vielmehr auch eine

615 Hier sind lediglich das Komma am Ende des ersten und der Punkt am Ende des vierten Verses durch

Ausrufezeichen ersetzt. Der vierte Vers lautet zudem „Strömet hervor, ihr Bäche des Bluts!“ statt „Stürzet hervor, ihr Bäche des Bluts.“ 616 Im Vergleich zur ersten Variante findet sich hier wie schon bei der zweiten Variante eine Substitution des Kommas am Ende des ersten Verses durch ein Ausrufezeichen; der Punkt am Ende des vierten Verses bleibt hier jedoch anders als bei der zweiten Version erhalten. Dafür ist nun der zweite Vers „Fließet, fließet!“ ersetzt durch „Redet, ihr stummen!“.





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symbolische Lesart nahelegt. Geht man – wie an dieser Stelle vorgeschlagen – von einer intertextuellen Bezugnahme auf die Fieberschrift aus, so liegt nahe, ihn mit dem für das entzündliche Fieber vorgeschlagenen Therapieansatz des Aderlasses zu assoziieren. So gelesen spricht sich der Chor dafür aus, das pathogene Potential kontinuierlich abzubauen, statt gewaltsam zurückzuhalten. In beiden Fällen geht es dann darum, Hemmnisse für die jeweilige pathologische Entwicklung zu vermeiden beziehungsweise zu umgehen und statt auf eine nur temporäre Suspension des Übels auf dessen kontinuierlichen Abbau zu setzen. Dass der Chor gerade von „schwarzen Bächen des Blutes“ spricht, deutet zudem darauf hin, dass das Aufbrechen der Wunden zu einer Reinigung des Leichnams führte, dass also verderbliche Giftstoffe aus dessen Körper gespült werden sollen, die andernfalls eine katalysierende Wirkung auf den Fäulnisprozess des Leichnams bewirkt hätten. Die Klage des Chors über den Verschluss der Wunden einhält so gesehen ein Votum für Fluidität und gegen das Feste und Statische.617 Der Chor artikuliert damit dann eine Art Begehren nach Kontingenzanerkennung und wendet sich gegen die Gerinnung von Kontingenz. Dahinter steht – nochmals auf den Punkt gebracht – die bereits die Anekdote Eine großmütige Handlung bestimmende Einsicht, dass sich das Kontingente mit rationalistischen Methoden nur zeitweise kontrollieren bzw. erfassen lässt, dann aber früher oder später nur mit überschüssiger Energie wieder an die Oberfläche drängt. Aus poetologischer Sicht ist das Begehren nach Reinigung zudem sinnbildlich als Katharsis-Sehnsucht zu verstehen. Dass die Begegnung mit dem Übel zu einer Reinigung von diesem Übel führt, ist mit verschiedenen zeitgenössischen Tragödientheorien kompatibel. In Bezug auf die Dramenhandlung selbst aber kreuzen sich hier zwei Dynamiken. Auf der einen Seite führt die generationenübergreifende pathogene Entwicklung innerhalb der Herrscherfamilie zu der familialen Katastrophe einer Auslöschung der männlichen Linie. Dem steht auf der anderen Seite gegenüber, dass aus diesem genealogischen Ende auch eine Befriedung Messinas folgt. Aus gesellschaftlicher Sicht kann die politische Lage in der Stadt durch den Tod der beiden brüderlichen Kontrahenten also als nun befriedet (als konfliktbereinigt) betrachtet werden. Cesar benennt dies auch explizit als Suizidmotiv, indem er beschwört: „[...] – [D]as verhüte / Der allgerechte Lenker unserer Tage, / Daß solche Teilung sei in seiner Welt –.“ (V. 2830–2831). Dies ist keineswegs zynisch zu begreifen, beginnt noch nun für die Bevölkerung erneut der vom 617 Die oben bereits beschriebenen leichten Veränderungen des Sprechakts können als performative Un-

terstreichung dieser Haltung gelesen werden. Auch die Rede des Chors ist keine statische Reproduktion des Gleichen, sie ist stattdessen einer kaum merklichen Veränderung unterzogen; auch sie ist damit im Modus des Fluiden und Kontigenten zu sehen.





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Chor vorher als deprivierend bezeichnete Zustand schöner Langeweile. Für die Leserinnen und Zuschauer gilt letztlich das Gleiche. Mit dem Ende des Bruderkonflikts kommt auch die Dramenhandlung zu ihrem Ende. Die, den Körper Manuels entgiftenden, fließenden Bäche des Blutes werden dementsprechend von Cornelia Zumbusch – dabei dieses Zitat mit weiteren Metaphoriken des Blutes in Verbindung bringend – auch als Hinweis auf „Einübung in eine Affektfreiheit“ bezeichnet.618 Interessant ist, dass das Drama jedoch nicht mit der Katastrophe selbst endet, sondern mit einem Kommentar des Chores, mit welchem die deprivierend-schöne und affektfreie Situation überwundener Kontingenz durchbrochen wird. Indem der Chor sich mit der Bewertung der Geschehnisse überfordert sieht und indem der Text mit dem Kontingenzmarker „Schuld“ endet, verdeutlicht Schiller: Diese „Einübung in eine Affektfreiheit“ ist mit dem Dramenschluss nicht an ihr Ende gekommen, sondern von den Rezipienten in ihr Leben außerhalb des Theaters zu übertragen. Wissenspoetologisch zeigt das im Bild des Aderlasses geborgene Votum gegen die Verschleierung des Kontingenten: Die Anerkennung von Kontingenz zu einem frühen Zeitpunkt ermöglicht noch eine gestaltende Einflussnahme durch die Subjekte, mit Temporalisierung des Kontingenten hingegen erkauft man eine Latenzzeit, in der das Kontingente bewältigt scheint. Dies geschieht jedoch zum Preis eines zwar nachgelagerten, dafür aber umso verheerenderen Einbruchs von Widerfahrniskontingenz. Kontingenzanerkennung ist so gesehen (paradoxerweise) auch eine Maßnahme der Kontingenzbewältigung.

Die der Pflanzen- und Meeresmetaphorik der Braut von Messina eingeschriebe-

nen Motiviken der Bedrohung und des latenten Unheils auf der einen und der Gewalt und des Bruchs auf der anderen Seite sind dabei jedoch nicht generell als unvereinbare Gegensätze aufzufassen. Die im Prinzip zwar eigenständigen Phänomene gehen stellenweise ineinander über und sind – wie die sich in der dritten Fiebervariante, der fauligbrandigen Entzündung vermischenden Pathologien des entzündlichen und des fauligen Fiebers – oftmals nicht distinkt voneinander zu trennen. In der Braut von Messina ver

618 Vgl. Zumbusch, Immunität der Klassik 2011, S. 229. Zumbusch weist auch darauf hin, dass die dreifache

Metapher vom fließenden Blut einen intertextuellen Bezug zu Humboldts Eumeniden-Übersetzung bildet und dass Schiller hierüber wie schon in den Kranichen des Ibykus eine implizite Darstellung der Erinnyen vornimmt. (Vgl. ebd., S. 224). Unter der Fragestellung dieser Arbeit wäre noch zu ergänzen, dass der Affekt der Rache eine menschliche Reaktion auf Widerfahrniskontingenz darstellen kann. Rache richtet sich letztlich darauf, geronnene Kontingenz zu bewältigen (was faktisch unmöglich ist, aber mittels Alternativhandlungen auf die Herstellung einer immerhin psychologisch greifenden Kompensation abzielt). Die Rachemotivik ist also neben der Metaphorik, der inhaltlichen und der poetologischen Dimension als ein weiterer Bestandteil einer mehrschichtigen Kontingenzsemantik in dieser Textstelle zu sehen.





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weist das befürchtete Unheil mehrfach auf einen tatsächlich bevorstehen Gewalteinbruch, sodass hier genaugenommen auch von ein und demselben Phänomen gesprochen werden könnte. Die Unterscheidung der metaphorisch konkretisierten Motive des Unheils und der Bedrohung von denen des Bruchs und der Gewalt ist aber dennoch analytisch aufschlussreich, denn genau hier greift die für den Text so wichtige Wahrnehmungsdifferenz zwischen Figuren und Rezipienten. Die Figuren der Braut von Messina befinden sich demgemäß in der zum Erkrankten aus der Fieberschrift analogen Position, der Zuschauer oder die Leserin nehmen dementsprechend die Position des diagnostizierenden Arztes ein. Dass die Figuren – insbesondere die das Stück dominierende Isabella – Spuren des ins Latente zurückgedrängten Konflikts wahrnehmen, ohne diese konkret benennen zu können, löst bei ihnen ins extreme gesteigerte Unheilsahndungen aus, ganz ähnlich den hypochondrischen Phantasmen des an fauligem Fieber erkrankten Patienten. Die Rückkehr des Konflikts in Form des Bekanntwerdens der inzestuösen Bruderkonkurrenz um die gemeinsame Schwester und den sich daraus ergebenden Brudermord erleben die Figuren jedoch als Momente der Widerfahrnis. Die unheilvollen Ahnungen im Vorfeld ändern für sie nichts an der Gewaltsamkeit und am Schock des plötzlich reaktivierten Familienzwists. Der Text zeigt hier deutlich einen sich auf der Figurenebene manifestierenden Unterschied zwischen vorgestellter Möglichkeit und einbrechender Wirklichkeit. Für die Rezipienten des Textes gestalten sich die Zusammenhänge jedoch anders. Ihr dem Wissen des Arztes über den Krankheitsverlauf vergleichbares Wissen über die Konstruiertheit und die Verlaufsprinzipien von Dramenhandlungen ermöglichen es ihnen, die im Text virulenten Symptome ganz anders zu deuten als die Figuren. Die vagen Ahndungen Isabellas erscheinen den Leserinnen und die Zuschauer schon als konkrete Hinweise auf das Scheitern des vernunftmäßig herbeigeführten Harmoniezustandes – ebenso wie sich die umherschweifende Hypochondrie des an fauligem Fieber Erkrankten für den Arzt als ein Symptom nicht für die zahlreichen eingebildeten Krankheiten, sondern konkret für das faulige Fieber selbst darstellt. Das tragische Scheitern der erzwungenen Harmonie im Drama entbehrt dann auch für die Rezipienten des Widerfahrnischarakters, den es noch für die Figuren einnimmt. Das gesamte Stück ist darauf angelegt, den Rezipienten die Differenz ihrer Perspektive zu derjenigen der Figuren vor Augen zu führen. Ihre Distanz zum Figurenerleben wird gemäß Schillers Theorie des Erhabenen zur Ermöglichungsbedingung einer reflektierenden Rezeptionshaltung. Die Perspektivendifferenz zwischen der eigenen Beobachtung und derjenigen der Figuren so deutlich zu erfahren, führt jedoch fast zwangsläufig auch zu einem Be



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greifen der Kontingenz jeder (und damit auch der eigenen) Perspektive. Gesteigert wird dies nochmals dadurch, dass die Rezipienten nicht nur bestimmte Aussagen und Ereignisse mit Blick auf Kommendes besser einordnen können als die Figuren, sondern dass sie auch fähig sind, im Nachgang die kunstvolle Konstruiertheit einzelner Handlungsfolgen beziehungsweise des Gesamttextes zu verstehen und dem Handlungsgeschehen so auch eine symbolische oder ästhetische Lesart hinzuzufügen. Schon dies verweist auf die für die Braut von Messina so bedeutsame Kategorie des Ästhetischen, die im Zentrum der Analysen des nächsten Abschnitts stehen soll. Ästhetiken der Kontingenz Das Arsenal der Stellen, in denen Schiller auch in der Braut von Messina mittels Pflanzen- und Meeresmetaphoriken auf ästhetische Kontexte reflektiert, kann aufgrund seines beachtlichen Umfangs hier nicht umfassend wiedergeben werden. Deutlich wird aber, dass Schiller auch in den ästhetischen Kontexten der Braut von Messina Pflanzenmetaphoriken mehrheitlich zum Ausdruck von Zeitlichkeit, Meeresmetaphoriken hingegen vor allem zur Darstellung von Kontingenzphänomenen gebraucht. Beide Metaphernkomplexe fließen auch hier oft ineinander oder verweisen auf den jeweils anderen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sie stets in inhaltliche Zusammenhänge eingebunden und auch hier nicht als isolierte Phänomene ohne Bezug zur sie umgebenden dramatischen Handlung zu lesen sind, sondern eben gerade auf ihr Zusammenspiel mit ihrem kontextuellen Umfeld befragt werden müssen. Pflanzenmetaphorik und Ästhetik der Kontingenz Im Hinblick auf Schillers Verwendung von Pflanzenmetaphern in der Braut von Messina fällt zunächst der Schwerpunkt der Veranschaulichung harmonisch-schöner Zustände ins Auge. Auf diese Weise beschreibt etwa der Chor die Vereinigung von Isabella mit ihren Söhnen Manuel und Cesar zu Beginn des Stücks: „Schön ist der Mutter / Liebliche Hoheit [...] Hoch auf des Lebens Gipfel gestellt, / Schließt sie blühend den Kreis des Schönen / Mit der Mutter und ihren Söhnen / krönt sich die herrlich vollendete Welt“ (V. 261–271). Zwar wird an dieser Stelle mit der Erwähnung des hohen Berggipfels auch die sich vom Alltäglichen abhebende Singularität (in der Diktion des ausgehenden 18. Jahrhunderts: „Größe“) der thematisierten Situation betont, wodurch eine Assoziationsnähe zum Theorem des Erhabenen entsteht. Der Fokus der Passage liegt jedoch ganz eindeu



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tig auf der Betonung des nun „blühend“ geschlossenen und explizit als Symbol des „Schönen“ bezeichneten Familienkreises. Auch im Fortgang der Textstelle werden die auf den ersten Blick inkommensurablen und nicht integrierbaren Theoreme des Schönen und des Großen (und damit indirekt auch des Erhabenen) aufgerufen: „Selber die Kirche, die göttliche, stellt nicht / Schöneres dar auf dem himmlischen Thron, / Höheres bildet / Selber die Kunst nicht, die göttlich geborne, / Als die Mutter mit ihrem Sohn“ (V. 833). In der anschließenden Weiterführung des Gedankens durch den zweiten Chor wird deutlich, wie Schiller die ästhetische Spannung aus Schönheit und Erhabenheit, aus dem Konzept der Harmonie und dem Konzept des Bruchs, aufzulösen gedenkt: Freudig sieht sie [die Mutter, M.K.] aus ihrem Schoße Einen blühenden Baum sich erheben, Der sich ewig sprossend erneut, Denn sie hat ein Geschlecht geboren, Welches wandeln wird mit der Sonne. Und den Namen geben der rollenden Zeit. Völker verrauschen, Namen verklingen, Finstre Vergessenheit Breitet die dunkelnachtigen Schwingen Über ganzen Geschlechtern aus. Aber der Fürsten Einsame Häupter Glänzen erhellt, Und Aurora berührt sie Mit den ewigen Strahlen Als die ragenden Gipfel der Welt. (V. 276–293)

Der Pflanzenmetaphorik zu Beginn dieser Textstelle ist eine Ebenendifferenzierung eingeschrieben, mittels welcher wenigstens implizit zwischen dem „ewig sprossenden“ und sich im Zeitverlauf so stetig vervielfältigenden und ausdifferenzierenden Baum auf der einen und dem vergänglichen Zustand des Blühens auf der anderen Seite unterschieden wird. Die Vergänglichkeit der schönen Blüte steht so der Persistenz und dem Wachstum der Pflanze selbst gegenüber. In der genalogischen Perspektive, auf die hier metaphorisch referenziert wird, werden so die Sterblichkeit des Individuums und das Fortleben des Geschlechts in ein kontrastives Verhältnis gesetzt.

Entscheidend ist nun aber, dass Schiller über diesen Zusammenhang noch eine

weitere poetologisch-ästhetische Ebene legt. Die Semantik der blühenden Pflanze ist als Referenz auf das Schöne zu deuten, die Zeitlichkeit des Blühens der Pflanze wird damit als Vergänglichkeit nicht nur des (unvermeidlich sterben müssenden) Individuums, sondern auch des ästhetisch-Schönen lesbar. So wie der blühende Baum sich in seiner besonderen Schönheit ästhetisch von anderen Pflanzen oder von Pflanzen in anderen



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Zuständen abhebt, hebt sich das Herrschergeschlecht von Messina von anderen Familien ab, bei denen nicht nur die Einzelmitglieder sterben, sondern auch das gesamte Geschlecht ins Dunkel des Vergessens hinabsinkt. Dabei fügt sich die in diesem Zusammenhang gebrauchte Kontingenz- und Vergänglichkeits–Semantik, insbesondere die im Verweis auf die „rollende Zeit“ enthaltene Fortuna-Motivik ebenso wie die VanitasMotive des Verrauchens und des Verklingens, passgenau in den durch die vorangehende Stammbaum-Metapher bestimmten Kontext ein. Unbedingt zu beachten ist jedoch auch in dieser Textstelle die Differenz aus Wirklichkeit/Möglichkeit beziehungsweise aus Wirklichkeit/Ästhetik. Während die Textstelle nämlich klar hervorhebt, wie das Schöne in der Realität vergehen muss und wie auch die individuellen Lebensläufe notwendig im Tod enden, wie sogar ganze Geschlechter verschwinden und vergessen werden, zeigt sie auch einen Ausweg aus dieser fatalistisch anmutenden Weltbeschreibung auf: Das außergewöhnliche, aus seiner Umwelt herausragende Schöne ist zwar ontisch vergänglich, kann aber aufgrund seiner Singularität eine Wirkungskraft entfalten, die ihm erlaubt, den Sprung von der realen Existenz zum Idealen, zur Poesie zu vollziehen und sich so in die Zeitlosigkeit zu retten. Wie der schöne Gegenstand vergeht, so stirbt auch das Individuum. Die Kunst und die Genealogie erhalten jedoch die Erinnerung an die jeweilige Einzigartigkeit und verlängern die Schönheit und die individuelle Existenz in Unendliche, indem sie sie ästhetisieren. Die Textstelle stellt damit nicht nur die – neben dem Gedicht Das Ideal und das Leben – vielleicht ausführlichste Erläuterung des Credos aus den Schlussversen der Götter Griechenlands dar, die in der zweiten, 1793 entstandenen, Version bekanntlich exakt den auch für diese Textstelle zentralen Übergang des zugrunde gehenden Wirklichen ins idealPoetische beschreiben: „Was unsterblich im Gesang soll leben, / Das muss im Leben untergehn“ (I, 173). Sie erhebt die Kunst und ihre Inhalte auch zu Phänomenen, die sich resistent gegenüber den Turbulenzen der Zeit und der Geschichte, resistent gegenüber der Macht Fortunas zeigen. Hier tritt also die von Cornelia Zumbusch umfassend untersuchte Immunität der Klassik619 auch gegenüber dem Kontingenten zu Tage und interessanterweise erfolgt damit gleichzeitig auch eine Aufwertung schöner Harmonie gegenüber dem Erhabenheit provozierenden Moment des Bruchs. Der Bruch auf der Mikroebene des Ontischen, das Absterben der Blüte und der Tod des Einzelnen werden gar zur Voraussetzung einer Balance auf der Makroebene, auf der einerseits das Leben bzw.

619 Vgl. Zumbusch, Immunität der Klassik 2011.





3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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die Schönheit vor ihrem jeweiligen Untergang und andererseits deren Weiterleben in der Poesie nach diesem Untergang symmetrisch aufeinander verweisen.

Mit der vorliegen Textstelle aus der Braut von Messina zeigt Schiller somit, wie

das Schöne und das Erhabene als sich scheinbar ausschließende Konzepte doch in gewisser Weise ineinandergreifen können. Der Untergang des Schönen innerhalb des Kunstwerks führt zu den für die Emergenz des Erhabenen notwendigen Bruchsituationen. Die dadurch mögliche Ko-Präsenz des Schönen und des Erhabenen im Kunstwerk ermöglicht eine harmonische Balance des Gesamtkunstwerks und damit eine Art Schönheit höherer Ordnung. Oder auf Drama bezogen: Die Brüche auf der Handlungsebene ermöglichen erst die Schönheit des Dramas selbst. Die Ebenendifferenz aus der Schönheit im Drama und der Schönheit des Dramas geht dabei einher mit verschiedenen Zeitregimen und Kontingenzkonzepten: die Schönheit im Drama ist gekennzeichnet durch Vergänglichkeit, Ephemerität, Fragilität – die Schönheit des Dramas dagegen durch eine zeitüberdauernde Stabilität. Die Handlungsbrüche im Drama verdeutlichen so die Kontingenz des Schönen, die Schönheit des Dramas repräsentiert hingegen gerade dessen Kontingenzbewältigungspotentiale.

Die auf das Kunstwerk und die Kunst im allgemeinen reflektierende Passage bil-

det jedoch keinen Exkurs zu der (beziehungsweise keinen Störfaktor für die) Handlung der Braut von Messina, denn die Passage ist über die ihr ebenfalls eingeschriebene Bedeutungsebene der Genealogie auch inhaltlich stark mit der Thematik des Stücks verbunden. Als Reflexion auf das Ganze bildet sie jedoch eine Ausnahme zu den übrigen auf das Schöne reflektierenden Pflanzenmetaphern in dem Stück, die sich stärker auf die Vergänglichkeit des Schönen und damit auf die dramatische Innen-Perspektive des Werkes konzentrieren. So weist etwa der Chor gegen Mitte des Dramas der Schönheit eine spezifische Geltungszeit zu, indem er sie mit dem Jugendalter identifiziert: „Bleibe die Blume dem blühenden Lenze, / Scheine das Schöne ! / Und flechte sich Kränze, / Wem die Locken noch jugendlich grünen, / Aber dem männlichen Alter ziemts, / Einem ernsteren Gott zu dienen.“ (V. 902–906). Das „Aber“ begrenzt die Wirkungszeit des Schönen auf die Jugend und markiert deren Geltungsverlust während der menschlichen Psychogenese. Sie muss verblassen, um dem würdigeren Ernst des Erhabenen Raum geben zu können. Ein derartiger Fokus auf die Vergänglichkeit des Schönen ist darüber hinaus etwa auch in der vom Chor ausgedrückten Freude über die Vereinigung Isabellas und Beatrices auszumachen: „Aber das Schöne erlebt mein Auge, / Denn ich sehe die Blume der Tochter, / Ehe die Blume der Mutter verblüht“ (V. 1207–1210). Die Koinzi



Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

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denz zweier zeitgebundener Dynamiken des Schönen markiert nach Ansicht des Chores den Moment, in dem eine Schönheit höherer Ordnung emergiert. Dass Beatrice bereits erwachsen und sexuell attraktiv ist, Isabella ihre Attraktivität jedoch noch nicht verloren hat, wird als herausragender, schöner Moment betrachtet, dessen besonderer Reiz gerade auf dem Prinzip der Vergänglichkeit beruht. Auch hier zeigt sich die in Schillers Metaphern so häufig anzutreffende Mehrschichtigkeit: Der schöne Moment des Ineinanderfallens der Schönheiten von Mutter und Tochter ist deshalb vergänglich, weil die Schönheit (hier mit verstärktem Fokus auf die Mutter) generell vergänglich ist.620 Dabei ist gerade die Vergänglichkeit wiederum das notwendige Konstitutiv für die Schönheit. Das Bewusstsein über die Kontingenz des Schönen wird so als essentieller Teil des Schönen vor Augen geführt. Meeresmetaphorik und Ästhetik der Kontingenz Das Zusammenspiel von Ästhetik und Kontingenz wird jedoch auch in der Metaphorik der Braut von Messina nicht nur durch Pflanzen-, sondern auch durch Meeresmetaphern ausgelotet. Wie bereits in Schillers früheren Werken wird die Pflanzenmetaphorik vor allem zur Ergründung von temporalen Zusammenhängen, die Meeresmetaphorik hingegen zur Analyse von Strukturen des Kontingenzparadigmas verwendet. Mit der innerhalb der Pflanzenmetaphorik großen Raum einnehmenden Idee von der Vergänglichkeit des Schönen leitet Schiller zum Mittelteil seines Dramas hin: Gegen Ende des ersten Drittels der Braut von Messina läuft die Handlung nämlich zunächst auf einen scheinbar harmonischen Zustand zu. Don Manuel bereitet sich auf die Hochzeit 620 Die beiden Textstellen verdeutlichen zudem auch, dass Schiller hier doch noch den Geschlechterstereo-

typen des 18. Jahrhunderts verhaftet ist, in denen Schönheit klar als weiblich, erhabener Ernst hingegen eindeutig als männlich gedacht wird. Berücksichtigt man nun, dass die Ästhetik Schillers sehr deutlich auf einen Bruch des Schönen durch das Erhabene setzt, dann wird die Problematik dieser gendertechnischen Semantisierung beider Kategorien deutlich. Dass stellenweise (wenn auch nicht sehr häufig) gegen Frauen gerichtete männliche Gewalt in die ästhetischen Reflexionen Schillers miteinfließt, zeigt sich auch im Rahmen der Pflanzenmetaphorik in der Braut von Messina. Der Chor etwa drückt seine Bewunderung für die Macht der Herrschenden in einer eben solchen Weise aus: „Den begünstigten Sohn der Götter beneid ich, / Den beglückten Besitzer der Macht! / Immer das Köstlichste ist sein Anteil, / Und von allem, was hoch und herrlich / Von den Sterblichen wird gepriesen, / Bricht er die Blume sich ab“ (V. 1230–1235). Aus der kurz darauf getroffenen Formulierung „Dieses beneid ich ihm unter allem, / Dass er heimführt die Blume der Frauen“ (V. 1245–1246) wird deutlich, dass der Chor hier tatsächlich die Macht des Herrschers bewundert, über jede von ihm begehrte Frau zu verfügen. Eine explizite Diskussion dieses Zusammenhangs findet in der Braut von Messina zwar nicht statt. Die Handlungsökonomie des Dramas und sein dessen auf derartige Weise herbeigeführter tragischen Ausgang dürfte jedoch diese gewaltsame Vorgehensweise letztlich als verfehlt ausweisen. Auch sollte zwischen den Sprechakten des Chores und der Haltung des Autors unterschieden werden. Deutlicher sollte aber später Goethe in diesem Punkt werden, etwa in seinem Gedicht Gefunden.





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mit Beatrice vor, die beiden streitenden Brüder haben Frieden geschlossen und eine Zeit der Ruhe und der politischen Ordnung scheint anzubrechen. Den in dieser Situation die Volksmassen Messinas verkörpernden Chor erfüllt diese Aussicht auf einen Zustand anhaltender Harmonie jedoch keineswegs mit Freude. Vielmehr wird beklagt, was man denn nun, da der spannungsgeladene Bruderkonflikt um die politische Macht ein Ende gefunden hat, mit seiner Zeit anfangen solle. Darin liegt nun zum einen eine poetologische Aussage, die sich auf die anthropologischen Konstante eines umfassenden menschlichen Bedürfnisses nach Unterhaltung stützt. Dass die Langeweile anhand des beendeten politischen Konflikts andeutungsweise als durch literarische Vergnügen kompensierbar erscheint, erinnert zudem an die etwa bereits aus dem Fiesko bekannte Identifizierung des Politischen mit dem Theatralen.621 Politische Unterhaltung und theatrale Unterhaltung unterscheiden sich in dieser Perspektive nicht – jedenfalls nicht in Bezug auf ihre Wirkung, Vergnügen hervorzurufen. Die Klage des Chors über das Ende eines politischen Schauspiels kann zudem als Reaktivierung des in der frühen Neuzeit bedeutsamen ‚theatrum-mudi’-Motivs gelesen werden, mittels dessen traditionell die Kontingenz menschlichen (und damit auch politischen) Handelns über deren Gleichsetzung mit dem Theater veranschaulicht wird. Auch wenn die providentielle Funktion, welche dieses Motiv in der frühen Neuzeit innehatte, hier keine Rolle mehr spielt – die Scheinhaftigkeit und damit die Vergänglichkeit des Irdischen diente stets dem Verweis auf eine ewige Ordnung nach dem Tod – wird bei den Leserinnen und den Zuschauern des Schiller’schen Dramas doch auch hier ein starker Eindruck des Niedergangs und der Vergänglichkeit evoziert.

Zum anderen nimmt der Chor diese Situation der Deprivation und der Langewei-

le zum Anlass, selbst poetisch tätig zu werden und – ähnlich wie Spiegelberg in der Sze 621 „Sage, was werden wir jetzt beginnen, / Da die Fürsten ruhen von Streit, / Auszufüllen die Ruhe der

Stunden / Und die lange unendliche Zeit? / Etwas fürchten und hoffen und sorgen / Muss der Mensch für den kommenden Morgen, / Daß er die Schwere des Daseins ertrage, / Und das ermüdende Gleichmaß der Tage, / Und mit erfrischendem Windesweben / Kräuselnd bewege das stockende Leben“ (V. 861–870). Deutlich wird hier die Ablehnung statischer Ordnung. Zu erwähnen ist auch, dass die angezeigte Alternative für ein gelingendes Leben über die Metapher eines durch den Wind hervorgerufenen „Kräuselns“ hervorgerufen wird. Implizit ist also hier schon die Assoziation mit einer Wasseroberfläche nahegelegt. Dass gerade von einem „Weben“ des Windes die Rede ist, also eine kulturgeschichtlich stark mit Poetizität verknüpfte Metapher in die Passage einfließt, lässt hier zudem die Rezeption von Literatur als Alternative zum direkten Miterleben existentieller Konfliktsituationen erscheinen. Ähnlich argumentiert auch Cornelia Zumbusch, die zudem auch das – aus der empathischen Teilnahme an den Gewalthandlungen der Mächtigen gezogene – Lusterleben des Volkes und dessen sich stets aktualisierbare Reproduktion über die Rezeption literarischer Verarbeitungen dieser Handlungen betont. Vgl. Zumbusch, Die Immunität der Klassik 2011, S. 221. Zumbusch verweist dabei insbesondere auf V. 352–355 („Der Herrscher Fall, der hohen Häupter Sturz / Ist ihrer Lieder Stoff und ihr Gespräch, / Was sich vom Sohn zum Enkel forterzählt, / Womit sie ihre Winternächte kürzen“).





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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

ne I/2 der Räuber – mögliche Alternativen zu der derzeitigen Gegebenheit (des schönen Friedens) zu imaginieren. Die darin in Entsprechung zu Schillers theoretischen Überlegungen der frühen 1790er Jahre schon angelegte Identifikation des Literarischen und Ästhetischen mit dem Kontingenten wird dann auch eindrucksvoll mit Meeresmetaphern unterlegt. Zunächst wird dem durchaus als positiv gezeichneten Zustand der Konfliktlosigkeit – „Schön ist der Friede !“ (V. 871)622 – kontrastiv eine Lobrede auf den Krieg gegenübergestellt: „Aber der Krieg auch hat seine Ehre, / Der Beweger des Menschengeschicks, / Mir gefällt ein lebendiges Leben, / Mir ein ewiges Schwanken und Schwingen und Schweben / Auf der steigenden, fallenden Welle des Glücks.“ (V. 879– 883). Wo der Frieden zuvor noch mit dem Bild eines „am ruhigen Bach“ liegenden Knaben (V. 871f.) beschrieben wird, wird der Krieg hier in die Kontingenzmetapher einer existentiellen Ausgesetztheit auf dem sturmbewegten Meer gefasst. Das Genitivattribut „des Glücks“ verstärkt zudem den in der Meeresmetapher bereits enthaltenen Kontingenzbezug. Der Text lässt den Chor hier auf deutliche Weise ein Begehren nach der Intensität und der Unverfügbarkeit von Widerfahrnissituationen artikulieren, wie sie in besonderer Weise der Krieg bieten kann. Hervorgehoben wird zudem, dass der Krieg gegenüber dem Frieden auch Vorteile in pädagogischer Hinsicht biete: „Denn der Mensch verkümmert im Frieden / Müßige Ruh ist das Grab des Muts. / Das Gesetz ist der Freund des Schwachen, / Alles will es nur eben machen, / Möchte gern die Welt verflachen, / Aber der Krieg lässt die Kraft erscheinen, / Alles erhebt er zum Ungemeinen, / Selber dem Feigen erzeugt er den Mut.“ (V. 884–891). Frieden wird so mit Ordnung, Determination, Gleichmäßigkeit, Ruhe, Flachheit, interessanterweise aber eben explizit auch mit dem ästhetischen Begriff des ‚Schönen’ (Vgl. V. 871)623 identifiziert, Krieg hingegen mit Intensität, dem Erleben von Singularitäten und der Zeitigung subjektivierender Positiveffekte, eben der Emergenz von Kraft und der Erzeugung von Mut. Insgesamt bildet Schiller hier also eine Reihe aus verschiedenen Zuständen, welche jeweils dadurch gekennzeichnet sind, dass sie (auch über den metaphorisch konkretisierten Modus der Kontingenz) abstrakte Felder wie Politik, Theatralität, Lebensphilosophie und Ästhetik miteinander verbinden. Dem – gerade beendeten – politischen Kon

622 Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die oben beschriebene, gerade auf das Phänomen des Schönen be-

zogene Vanitas-Motivik auch hier mitschwingt, dass also in der Beschreibung des schönen Friedens schon der subtile Hinweis auf dessen Vergänglichkeit eingeschlossen ist. Schon die Rede vom schönen Frieden zeigt damit auf das Andere des Friedens: auf den Krieg. 623 Die poetologische Aussage der Textstelle wird zudem durch das arkadisch anmutende Bild des musizierenden und damit künstlerisch tätigen Hirtenjungen verstärkt: „[...] Ein lieblicher Knabe / Liegt er gelagert am ruhigen Bach, / Und die hüpfenden Lämmer grasen / Lustig um ihn auf dem sonnigten Rasen, / Süßes Tönen entlockt er der Flöte, / Und das Echo des Berges wird wach“ (V. 871–876).





3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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flikt zwischen Don Manuel und Don Cesar billigt die Passage implizit eine starke Unterhaltungswirkung zu. Die sich nun abzeichnende Friedenszeit identifiziert der Text mit einem Zustand des Schönen, diskreditiert diesen jedoch gleichzeitig auch als abwechslungsarme, monotone und deprivierende Ordnung. Demgegenüber werden der, für die Selbsterziehung des Menschen förderliche, Widerfahrnischarakter des Krieges, damit verbunden aber auch seine unterhaltsame und affizierende Wirkung als positive Alternativen ins Spiel gebracht. Im Anschluss an diese Kriegsimago führt der Chor – abermals unter Gebrauch von Meeresmetaphern – weitere Alternativen zur von ihm abgelehnten harmonischen Friedensordnung an. Zunächst verweist er dabei auf die Liebe: „Auch die Liebe beweget das Leben, / Daß sich die graulichten Farben erheben, / Reizend betrügt sie die glücklichen Jahre, / Die gefällige Tochter des Schaums, / In das Gemeine und Traurigwahre / Webt sie die Bilder des goldenen Traums“ (V. 895–901). Die Liebe als unbeständiges, unberechenbares Phänomen wird hier nicht zufällig als Produkt des (Kontingenz anzeigenden) Meeres, als „Tochter des Schaums“, bezeichnet. Mit dieser – auf die griechische Göttin Aphrodite verweisenden624 – Formulierung reaktiviert Schiller das bereits in seinen frühen Arbeiten – insbesondere etwa in der Anekdote Eine großmütige Handlung – gewonnene Wissen über das sich rationalen Zugriffen entziehende Phänomen der Liebe. Liebe wird in der Braut von Messina jedoch nicht nur einfach als Erscheinungsform der Kontingenz geführt. Indem Schiller auf ihr Potential abhebt, der profanen Realität eine imaginäre Dimension – einen „goldenen Traum“ – einzuschreiben, fokussiert er präzise die kontingenztheoretisch so markante Grenze zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit. Hinzu kommt, dass die in den ästhetischen Schriften der frühen 1790er Jahre vollzogene Identifikation des Kontingenten mit dem Ästhetischen hier nochmals durch das poetologische Bild eines „Web[ens] [der] Bilder des goldenen Traums“ verstärkt wird. Dabei integriert Schiller mehrere Diskursstränge. Die Kontingenz anzeigende Meeresmetaphorik, der Diskurs über die Unverfügbarkeit der Liebe und die durch ihren Möglichkeitsmodus bestimmte Kategorie des Ästhetischen werden auf ihre affektanregende, Vergnü-



624 Dass schon Aphrodite üblicherweise das Epitheton der ‚Schaumgeborenen’ trägt, kann als Beleg für

eine epochenübergreifend geltende Assoziationsnähe der Kontingenzmetapher des Meeres und der Thematik der Liebe gesehen werden. Diese diskursive Verknüpfung hebt unter den zahlreichen Eigenschaften der Liebe diejenige der Kontingenz markant hervor. Wie Liebe als Kontingenzphänomen begriffen wird und damit als Antithese zu persistenten Ordnungsvorstellungen fungieren kann, reflektiert Schiller bereits in den wissenspoetologischen Experimenten zu Liebe und Tugend in der Frühphase seines Werkes. Vgl. dazu die Kapitel 2.1–2.8.





Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

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gen auslösende, „das Leben beweg[ende] Wirkung“ bezogen und so miteinander in Verbindung gebracht. Es folgt eine Passage, in welcher der Chor die Kontingenzkatalysatoren Krieg und Liebe noch um die Thematik der Jagd erweitert. Die Jagd wird dabei als Derivat des Krieges beschrieben: „Denn die Jagd ist ein Gleichnis der Schlachten, / Des ernsten Kriegsgottes lustige Braut“ (V. 911). Die Simulation des Kriegs im Modus der Jagd ist zunächst als Form des Theatralen zu verstehen, in der die Akteure symbolisch eine ernstere Sozialsituation nachvollziehen bzw. repräsentieren. Die spielerisch-künstliche und damit abgeschwächte Dopplung des Krieges macht die Jagd zu einer nach Schillers Theorie des Erhabenen im Vergleich zum Krieg sogar deutlich ästhetischeren Handlung, erlaubt sie doch einen affektiven Nachvollzug der fokussierten Widerfahrnissituation,625 die jedoch nicht die Überwältigungskraft des Kriegsgeschehens aufweist und so dem Subjekt noch Raum für eine intellektuelle Reflexion des Widerfahrniserlebens lässt. Nicht zufällig verwendet Schiller mit der Dichotomie aus ernstem Krieg und lustiger Jagd hier auch seine semantische Hauptdifferenz für die Unterscheidung von (ernstem) Leben und (heiterer) Kunst,626 verstärkt somit also nochmals die Identifikation von Krieg–Leben und Jagd–Kunst.

Bevor der Chor ab V. 933 schließlich unter Verwendung der Dichotomie aus

Meer/Land auch die Rückwirkung des Möglichkeitsraums der Ästhetik auf das Wirkliche thematisiert,627 führt er den Kontingenzdiskurs in Form einer avancierten Meeresmetapher auf seinen Höhepunkt:

Oder wollen wir uns der blauen Göttin, der ewig bewegten, vertrauen, Die uns mit freundlicher Spiegelhelle Ladet in ihren unendlichen Schoß? Bauen wir auf der tanzenden Welle Uns ein lustig tanzendes Schloß? Wer das grüne kristallene Feld Pflügt mit des Schiffes eilendem Kiele, Der vermählt sich das Glück, dem gehört die Welt, Ohne die Saat erblüht ihm die Ernte!

625 Ein derartiges Begehren nach (oder Vergnügen an) Widerfahrnis wird vom Chor auch deutlich artiku-

liert: „Der strengen Diana, der Freundin der Jagden, / Lasset uns folgen ins wilde Gehölz, / Wo die Wälder am dunkelsten nachten, / Und den Springbock stürzen vom Fels“ (V. 907–910). Die „dunklen Wälder“ und das „dunkle Gehölz“ markieren einen Unbehagen und Bedrohlichkeit auslösenden Kontext, der Sturz des Springbocks vom Fels verkörpert einen Akt der Gewalt. Der Chor sehnt sich demnach nach einer Situation, in der er unverfügbaren Kräften ausgesetzt ist und (Widerfahrnis-)Kontingenz erlebt, in der er aber gleichzeitig Gewalt ausübt und Kontingenz gestaltet, um so selbst Widerfahrnisquelle für ein – hier tierisches – Objekt zu werden. 626 Vgl. das Endes des Prologs zum Wallenstein, V. 129–138. 627 Aber nicht bloß auf dem Wellenreichen, / Auf der wogenden Meeresflut, / Auch auf der Erde, so fest sie ruht / Auf den ewigen, alten Säulen, / Wanket das Glück und will nicht weilen“ (V. 939–943).



3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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Denn das Meer ist der Raum der Hoffnung Und der Zufälle launisch Reich, Hier wird der Reiche schnell zum Armen Und der Ärmste dem Fürsten gleich. Wie der Wind mit Gedankenschnelle Läuft um die ganze Windesrose, Wechseln hier des Geschickes Lose, Dreht das Glück seine Kugel um, Auf den Wellen ist alles Welle, Auf dem Meer ist kein Eigentum. (V. 919–938)

Meer, Dynamik, Reflexion, Unendlichkeit, Heiterkeit, Schifffahrt, Glück, Zufall, Hoffnung, Pflanzenmetaphorik, Unbeständigkeit, Geschwindigkeit, die Bedeutungslosigkeit materiellen Reichtums wie sozialen Status’ und der Aufriss einer neuen, anderen Sozialordnung – das Zitat durchläuft den Facettenreichtum nahezu des gesamten Kontingenzparadigmas. Der Dichte der Metaphern steht jedoch der nun kaum mehr vorhandene Bezug zur Dramenhandlung gegenüber. Die Semantik der in der Textstelle in Beziehung zueinander gebrachten Bilder ist für die Leserinnen oder die Zuschauer kognitiv kaum mehr zu verarbeiten. Die im Vorfeld dieser Passage das Wechselspiel aus Ästhetik und Realität verhandelnde Rede des Chors geht nun fast vollständig im Ästhetischen auf. Die unter anderem in den Meeresmetaphern eingeschlossenen Semantiken der Kontingenz dienen nun nicht mehr der inhaltlichen Vertiefung des Handlungskontextes oder der Ausleuchtung nicht in Begriffe zu fassender Strukturen der im Drama dargestellten Welt. Die Unbestimmtheit des Kontingenzparadigmas wird hier vielmehr selbst performativ in den Mittelpunkt der Rede gehoben. Indem die variable Deutungsmöglichkeiten zulassende Offenheit der Textstelle – das Zitat lässt sich im Prinzip auf nahezu alle Bereiche des modernen Lebens beziehen (genau genommen veranschaulicht es sogar das Wesen des modernen Lebens überhaupt) und die stark über Meeresmetaphern laufende Thematisierung der Kontingenz und des Kontingenten wechselseitig aufeinander verweisen, wird deutlich: Kontingenz wird hier von der Ebene des Dargestellten entbunden und stattdessen als eigentlich rein abstraktes Phänomen performativ erfahrbar. Damit bringt Schiller hier nicht weniger als die im Kern seiner ästhetischen Theorie stehende Gleichsetzung von Kontingenz und Ästhetik auf die Bühne. Die Funktion der Kontingenz ist damit aber im Vergleich zu den frühen Dramen durchaus eine andere – sie dient weniger der adäquaten Beschreibung der Welt, sondern wird selbst zu einem ästhetischen Mittel.

Ergänzend sei hier noch darauf hingewiesen, dass die einzigen Bezüge der Text-

stelle zur in der Braut von Messina dargestellten (außertextlichen) Realität in der Vor



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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ...

stellung des „Reichen“ liegt, der „schnell zum Armen“ und des „Ärmste[n]“, der schnell „dem Fürsten gleich“ werden kann – also in der pointiert im Schlussvers angeführten Bedeutungslosigkeit materiellen Besitzes in Momenten existentiellen Kontingenzerlebens. In das Drama werden also genau diejenigen Momente der historisch-sozialen Gegebenheiten um 1800 integriert, die das größte gesellschaftliche Spanungspotential bergen, eben diejenigen sozialutopischen bzw. revolutionären Ideen, die sich im Kontext der Revolution in Frankreich manifestieren und mit denen die sich modernisierenden Gesellschaften Europas auf ihre zunehmende Ausdifferenzierung reagieren. Deutlich wird so abermals, wie Schiller eine Strukturähnlichkeit zwischen dem ästhetischen und dem gesellschaftlichen Feld andeutet. Darin spiegelt sich ein Wissen über die um 1800 erfolgende Koevolution einer auf ein Primat des Möglichkeitsmodus umstellenden Ästhetik und einer sich ausdifferenzierenden, gleichsam für ihre Teilnehmer immer mehr Möglichkeiten bereitstellenden Gesellschaft. Eine Ästhetik, welche es sich zur Hauptaufgabe machte, die gesellschaftliche Realität abzubilden, würde zwar der in Schillers ästhetischer Theorie eindeutig geforderten Kunstautonomie wiedersprechen. Die Denkfigur jedoch, dass eine Kunst, die allein ihrer autotelischen Logik folgt, die Strukturen einer sich modernisierenden Gesellschaft auf recht treffende Weise erfahrbar macht, holt die Gesellschaftsanalyse wieder ins ästhetische Feld zurück. Die Methode, gerade Kontingenz in den Mittelpunkt dieser indirekten strukturellen Bezüglichkeit zu legen, zeugt einerseits von einem (möglicherweise zwar nur impliziten, dennoch aber bemerkenswerten) Wissen Schillers über die sozial-historischen Entwicklungen seiner Zeit. Andererseits bringt sie auch einen nicht übersehbaren Nachteil mit sich: Indem Gesellschaftsanalyse und performative Darstellung von Kontingenz – und damit verbunden der für die Ästhetik so bedeutsame Möglichkeitsmodus – in einer nahezu unbegrenzten Offenheit aufgehen, verliert sich auch ihre Aussagekraft im Ungefähren. Wenn gesellschaftliche Phänomene wie Unbestimmtheit, Beschleunigung, Fragilität oder Kontingenz in der Kunst ihre Doppel über Verfahren der Performativität erhalten, werden sie eben erfahrbar, aber nicht erklärbar. Der Schlussvers dieser Textstelle verdeutlicht dies beispielhaft: Mit dem Bild von der Eigentumslosigkeit auf dem Meer wird auf durchaus wirkungsvolle Weise eine reizvolle, Alle gleichermaßen ergreifende Kontingenzerfahrung artikuliert. Der stratifizierten Feudalordnung, in denen die Einen vor Widerfahrnissen geschützt, die Anderen diesen aber verstärkt ausgesetzt sind, wird die Utopie eines widerfahrnisreichen Lebens für Alle gegenübergestellt. Die Kraft dieser in der Meeresmetaphorik eingeschlossenen Semantik kann jedoch nicht darüber hinwegtäu



3.3 Kontingenzmetaphorik und -ästhetik …

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schen, dass der mangelnde Wirklichkeitsbezug, die fehlende Übertragung des Bildes auf konkrete gesellschaftliche Zusammenhänge und die unrealistische Vorstellung einer allgemeinen Gleichheit in der Eigentumslosigkeit das gesamte Bild in einer Unbestimmtheit ohne analytische Tiefe aufgehen lassen. Schillers performatives Verfahren gerät hier gesellschaftsanalytisch an eine unüberwindliche Grenze, eben weil es ihm an Empirie mangelt. Ein präziseres Wissen über soziale Gegebenheiten verlangte eine Herangehensweise, die nicht mehr im Rahmen einer auf Autotelie gestellten Ästhetik zu leisten ist. Es müssten neue, nicht-ästhetische Methoden, wie etwa die teilnehmenden Beobachtung oder der Einsatz statistischer Verfahren verwendet werden, die Schiller in dieser Weise nicht zur Verfügung standen oder denen er sich oftmals verweigerte.628 Gerade in dramatischen Texten tritt so gesehen ein Zielkonflikt zwischen Performanz und Analyse des Kontingenten zutage, in welchem sich Schiller eindeutig positioniert, indem er die Ausgestaltung theatraler Wirkungen des Kontingenten (gerade) auch dann breiten Raum einnehmen lässt, wenn ihr Erklärungspotential überschaubar bleibt. Auf den Punkt gebracht heißt dies nochmals: Schillers Texte nach 1795 bilden nicht mehr in erster Linie die sich modernisierende Gesellschaft um 1800 ab, sondern sie nehmen die Informationen ihrer Umwelt als Material zur Etablierung einer ihnen eigenen Ästhetik. Statt dass die Gesellschaft beschrieben wird, wird sie zum Mittel ästhetischer Produktion. Hier bricht sich Schillers im Fahrwasser Kants und Moritz’ entwickelte Autonomieästhetik Bahn. Der Bezug zwischen dem Kunstwerk und den gesellschaftlichen Realitäten außerhalb des Kunstwerks ist damit keineswegs abgerissen. Die Aussagen über gesellschaftliche Zusammenhänge werden jedoch vielfach vager und allgemeiner. Dennoch ist es gerade aus literaturwissenschaftlicher Sicht weiterhin produktiv, den Bezügen der Texte zur Umbruchszeit um 1800 nachzugehen – dies nur nicht mehr in erster Linie, um das Wissen Schillers über die gesellschaftlichen Transformationsprozesse seiner Zeit zu vermessen, sondern vielmehr um seine poetischen Texte aus dem historischen Kontext seiner Zeit zu deuten. Aus produktionsästhetischer Sicht liegt der Vorteil dieser performativen Verarbeitung gesellschaftlicher Komplexität auf der Hand. Mit ihr kann Schiller Phänomene darstellen, die aus seiner Perspektive nicht umfassend erklärbar sind und die damit – in der Semantik der Zeit formuliert – die Grenzen der Einbildungskraft übersteigen. 628 Zu erinnern ist hier etwa an die (bereits von den Korrektoren kritisierte) Nicht-Berücksichtigung epi-

demiologischer Untersuchungen zu den fauligen Fiebern in der Fieberschrift. Vgl. Alt, Schiller 2000 Bd. I, S. 177.





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Drittes Kapitel Die Weiterentwicklung des Kontingenzdenkens ... Für Die Braut von Messina ist diese Hinwendung zur Ästhetik von größerer Be-

deutung als für die anderen klassischen Dramen Schillers. Der Verzicht auf einen historischen Stoff erlaubt es Schiller gerade in diesem Text, das Ästhetische – in den Worten der Vorrede zum Drama: das ‚Symbolische’ – weit stärker in den Mittelpunkt des Textes zu stellen als die geschichtlich realen Ereignissen zumindest weitgehend verpflichteten Geschichtsdramen. Dass Die Braut von Messina keine Kollision von großen historischkulturellen Ordnungen zum Stoff hat, heißt aber nicht, dass sie von der Denkfigur der Kontingenzbildung durch Kollision Abstand nähme. Die Denkfigur ist dem Text lediglich auf abstraktere Weise eingeschrieben und aufs Minimale reduziert: auf den kaum erläuterten, für die Rezipienten nur schwer zu begreifenden, mit Mythologisierungen (etwa dem Motiv des Familienfluchs) verdeckten Bruderkonflikt und die formal strengen Handlungsstrukturen. Die Einbindung des Dramas in Schillers Werk, seine intertextuellen Bezüge zum Bruderkonflikt der Räuber, zur Anekdote Eine großmütige Handlung und der Kontext der anderen klassischen Dramen zeigen jedoch, dass die Braut von Messina keine gänzlich neue, von den andern Werken Schillers zu unterscheidende, Haltung zum Kontingenten und zur Kontingenz entwickelt. Sie zeigt aber, wie das dort gewonnene beziehungsweise verdeutlichte Wissen auf andere, abstraktere Weise zur Darstellung gebracht werden kann.







Schlussbetrachtung Wirft man den Blick zurück auf die in der Einleitung gestellte Frage nach der Art und Weise, mit der Schiller die im 18. Jahrhundert – trotz eines fehlenden Begriffsinventars – hochrelevante Thematik der Kontingenz und des Kontingenten in seinen Texten greifbar werden lässt, so ist zunächst festzuhalten: Schon den Jugenddramen Schillers ist ein breites Wissen um die Varianz des Kontingenzphänomens eingeschrieben. Mittels Metaphoriken des Fluiden, des Meeres und der Seefahrt entwickelt Schiller schon früh ein Verständnis über verschiedenste Formen des Kontingenten und der Kontingenz, ein Verständnis, welchem die begrifflich ausdifferenzierte Kontingenztheorie des 20. und 21. Jahrhunderts (vgl. v.a. die einschlägigen Texte von Michael Makropoulos) kaum neue Phänomene hinzuzufügen vermochte. Natürlich erreichen Schillers literarische Arbeiten nicht das Ausmaß an theoretischer Durchdringung wie moderne philosophische oder soziologische Texte. Dadurch dass sie ihr Kontingenzwissen jedoch am konkreten Gegenstand, also aus dem jeweiligen literarischen Kontext entwickeln und sich dabei nicht an später entwickelte Fachgrenzen (wie etwa diejenigen zwischen Philosophie, Soziologie und Psychologie) halten müssen, überschreitet der von ihnen verhandelte Phänomenbereich stellenweise sogar denjenigen moderner Kontingenztheorien. Zu denken ist hier exemplarisch an die in Schillers frühen Texten mehrfach und in verschiedenen Varianten verhandelten Metaphoriken der Ingestion, mittels derer Schiller psychologische Reaktionen auf soziale Dynamiken zunächst greifbar werden lässt und damit eine Basis für weitergehende Reflexionen des Kontingenten schafft. Die Bindung der Metaphern des Meeres, des Fluiden und der Pflanze in Schillers frühen Dramen an konkrete drameninterne Kontexte führt jedoch nicht nur zu einer erstaunlichen Breite des dargestellten Phänomenbereichs, sondern auch dazu, dass es so gut wie nie zu einem redundanten Wiederaufgreifen einer bereits behandelten Kontingenzerscheinung kommt. Entsprechend der sich im jeweiligen Dramenverlauf verändernden Situation verändern sich auch die Bedeutungsgehalte der situativ gebundenen Kontingenzmetaphern, sodass Schiller mit dem Fortgang der jeweiligen Dramenhandlung auch sein Wissen über das Kontingente und die Kontingenz erweitern kann. Man kann daher ohne Weiteres davon sprechen, dass Schiller schon in seinem Frühwerk ein umfassendes Kontingenzparadigma entfaltet. Insbesondere wird deutlich, dass er sich der Doppelstruktur der Kontingenz bereits in seinen frühen Dramen bewusst ist, dass er Kontingenz also nicht nur in ihrer Form als Widerfahrnis kennt, sondern auch in ihrer

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 M. Köberlein, Kontingenz und Zeitlichkeit bei Schiller, https://doi.org/10.1007/978-3-662-63848-4





Schlussbetrachtung

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Form als Gestaltbarkeit. Das Wissen um diese Doppelstruktur bringt auch ein Wissen um die Doppelwertigkeit mit sich, mit welcher Kontingenz kulturell belegt wird. Das heißt, Kontingenz in Form von Widerfahrniskontingenz wird von dem ihr begegnenden Subjekt kulturell eher negativ als Bedrohung, Kontingenz in Form von Gestaltbarkeitskontingenz eher positiv als Chance aufgefasst. An Schillers frühes und auch in seinen späteren Texten noch sichtbares Wissen um diese Doppelwertigkeit ist immer dann zu erinnern, wenn ihm eine einseitige (meist einseitig-negative) Haltung gegenüber seiner Zeit, der Geschichte oder den Menschen zuschrieben und dies dann mit in seinen Texten rekurrierenden Beschreibungen von Kontingenzphänomenen zu belegen versucht wird. Gerade die vielfach in Schillers Texten auftretenden und oftmals positiv bewerteten Praxen der Kontingenzsuche, Kontingenzaffirmation und Kontingenzanerkennung belegen dies sehr deutlich. Hervorzuheben ist überdies Schillers ebenfalls schon in den frühen Dramen gezeigtes Wissen über die Wirkung von Zeitlichkeit als potentiell Kontingenz steigernde oder reduzierende Kraft. So finden sich gerade in den Räubern, im Fiesko und in Kabale und Liebe zahlreiche Stellen, in denen Mehrfachmodalisierungen vorgenommen werden oder in denen Komplexität und damit mittelbar auch Kontingenz durch Temporalisierung prolongiert wird. Hinzu kommen Passagen, in denen in der Retrospektive auf geronnene, vormals aber noch gestaltbare Kontingenz geblickt wird. Eine bedeutsame Rolle in den Jugenddramen nimmt auch das Zusammenspiel aus Gestaltbarkeit- und Widerfahrniskontingenz in Form von Kontingenzen des Inkommensurablen, also in Form von unintendierten Nebenfolgen zielgerichteten Handelns ein.

Die Betrachtung von Metaphoriken des (Glücks-)Spiels konnte zudem verdeutli-

chen, dass Schiller bewusst auch verschiedene historische Zeitebenen miteinander in Verbindung bringt, indem er unterschiedliche Zeitstufen des Glücksspieldiskurses aufeinandertreffen lässt, um so deren Kontingenzcharakter kontrastiv herauszustellen. Je nach Kontext kann er auf diese Weise den Kontingenzcharakter des Glücksspiels etwa als Herausforderung der göttlichen Ordnung, als regressive Praktik der Weltflucht oder als Motiv für die Re-Allokation sozialer Rollen in einer Gruppe inszenieren. Dieses Verfahren der Kontingenz anzeigenden Synchronisation des Ungleichzeitigen, also des Ineinanderschiebens zeitlich verschiedener Zustände, wird Schiller (wie Kapitel 4.2 belegt) noch in seinem späten Traktat Über das Erhabene anwenden.

Generell wird zudem schon in den frühen Dramen deutlich, dass Schillers Nach-

denken über Kontingenz oftmals in einem engen Zusammenhang mit seiner Wahrneh



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mung der Gesellschaft um 1800 steht. Eine Brücke zwischen dem abstrakten Phänomen der Kontingenz und der turbulenten und diffusen, sich dem Blick des Beobachters nie vollständig erschließenden Gesellschaft bildet für Schiller nicht zuletzt der im 18. Jahrhundert so dominant ausgestaltete Diskurs über Liebe und Tugend.

Dabei ist schon Schillers frühen Texten eine avancierte Ästhetik im Signum der

Kontingenz zueigen. Insbesondere entwickeln diese über den Gebrauch metatheatraler Verfahren (vgl. Kapitel 1.1.3) komplexe Zusammenspiele aus ihren Inhalten und ihren rezeptionsästhetischen Wirkungen. Dabei werden die Rezipienten zunächst in eine Art immersive und ihre Affekte anregende Haltung versetzt. In einem zweiten Schritt wird diese Haltung durchbrochen. Die Zuschauer oder Leserinnen können dann in distanzierter Rezeptionshaltung ein Figurenerleben beobachten, dass ihrem eigenen eben durchlaufenen immersiven Erleben entspricht. Dadurch ergibt sich für sie die Möglichkeit, dieses eigene Erleben in Modus der Distanz nochmals und aus anderem Blickwinkel reflektieren zu können. Schiller spielt hier mit also mit der Zuschauerperspektive, verdeutlicht so, dass ein und dasselbe Ereignis abhängig davon, ob ein affektiver oder ein rationaler Wirklichkeitszugang gewählt wird, auf ganz andere Weise wahrgenommen werden kann: Die Verdeutlichung von Perspektivendifferenzen und die Darstellung der Kontingenz von Beobachtungsstandpunkten fließen hier ineinander. Dies verweist schon sehr stark auf Schillers ästhetische Überlegungen nach 1790, in denen diese Varianz an Weltzugängen ihre theoretische Ausformulierung in Form der komplementär zu verstehenden Ästhetiken des Schönen und des Erhabenen finden (vgl. Kapitel 4.1). Doch bereits die frühen Dramen Schillers entwickeln ein beachtliches Bewusstsein für die Kontingenz des eigenen Standpunktes und weisen Beobachtungen als per se schon kontingente Perspektiven auf die Wirklichkeit aus, etwa indem in den Räubern die Figur Spiegelberg als eine Künstlerfigur gezeichnet wird, deren Rolle sich geradezu über die Gestaltung und Rahmung von Informationen bestimmt. Damit verbunden belegt der Text die Konstruiertheit von Realität(en), wodurch er wiederum selbstreflexiv auf seinen eigenen Konstruktionscharakter verweist. Die Kontingenz der Inhalte spiegelt sich so im Kontingenzcharakter des Werks, sodass sich ein komplexes Zusammenspiel aus Inhalt und Form entfaltet, welches quasi performativ Literarizität und Kontingenz zusammenbindet. Auch hierin liegt ein Verweis auf die Zusammenführung von Ästhetik und Kontingenz in Schillers späterer Theorie des Erhabenen.

Zu diesen Erkenntnissen hinsichtlich der Perspektivgebundenheit jeglichen

Weltwissens und Weltzugangs fügen sich auch Schillers in den medizinischen Schriften



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getroffene methodische Überlegungen. Schiller akzeptiert hier die Kontingenz des eigenen wissenschaftlichen Standpunktes. Er benennt dabei auch die Grenzen seines Forschungszugangs, ist also auch in diesem Sinne bereit, Kontingenz anzuerkennen. Vor allem aber entwickelt er ein methodisches Vorgehen, das auf der Aneinanderreihung von Differenzierung und Vergleich (also der Kombination von Analyse und Synthese) beruht. Dies allein wäre noch nicht erwähnenswert, auch wenn es als Kombination von Kontingenzreduktion und Kontingenzmarkierung verstanden werden kann. Dadurch, dass dieses Vorgehen am Beispiel menschlicher Aufmerksamkeitslenkung entwickelt wird, doppeln sich auch in diesem Feld zwei Ebenen, nämlich Methodik und Inhalt. Die sich so herausbildende Doppelstruktur findet sich, wie Kapitel 1.2.1 dieser Arbeit belegt, dann auch in den Handlungsökonomien der frühen Dramen wieder.

Daran anschließend konnte in Kapitel 1.2.2 herausgearbeitet werden, wie Schiller

in seinen Dramen mittels einzelner herausgehobener Momente des Reframings die Kontingenz der Wahrnehmung (und die damit verbundene Bewertung) ganzer Handlungsabschnitte auf die Bühne bringt. Dabei lässt er vor allem Frauenfiguren wie Leonore im Fiesko oder Luise in Kabale und Liebe diese Technik des Reframings anwenden, wodurch er die einfache Geschlechterdichotomie aus Männlichkeit/Ratio und Weiblichkeit/Emotio unterläuft – auch dies kann als Technik der Kontingenzherstellung begriffen werden (wenngleich Schiller damit gar nicht so untypisch für das 18. Jahrhundert agiert, das vielfach rational handelnde Frauenfiguren oder emotional beziehungswiese empfindsam handelnde Männerfiguren kennt). Luise Millerin, in der älteren Forschung oftmals noch Symbol für eine passive, fast zum Objekt männlichen Agierens degradierte Frauenfigur, erweist sich darüber hinaus als eine Gestalterin von Zeitvorstellungen. Auf durchaus komplizierte Weise bestimmt und verändert sie die Bedeutung, die Vergangenes und Zukünftiges für ihre Gegenwart besitzen und instrumentalisiert diese Rahmung strategisch für ihre Zwecke. Sie gebraucht ihr Wissen um die Kontingenz von Vorstellungsinhalten zur Veränderung dieser Inhalte und rückt so in die Nähe der Künstlerfigur Spiegelberg.

Die Räuber zeigen darüber hinaus auf exemplarische Weise, wie Schiller das abs-

trakte Denkmodell aus Kontingenz und Ordnung gebraucht, um soziale Dynamiken der Inklusion und Exklusion zu ergründen. Die Räuber beschreiben die Ordnungsbildung und die Brüchigkeit beziehungsweise das Zerbrechen sowohl einer neu gebildeten (im Falle der Karl-Handlung) als auch einer bereits bestehenden Sozialform (im Falle der Franz-Handlung) dabei konsequent aus sozialpsychologischer Perspektive. Insbesonde



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re aber bringen sie etwa mit der Akklamationsszene Momente auf die Bühne, in welchen auch die Zuschauer von den dargestellten umfassenden und totalisierenden Inklusionskräften der Vergesellschaftung affektiv erfasst werden. Ähnlich wie in den anderen beiden Jugenddramen nutzt Schiller auch hier die dem Theater grundsätzliche Eigenschaft der Performativität, um bedeutungsvolle Erfahrungen bei den Rezipienten hervorzurufen, die im weiteren Dramenverlauf wiederum als Irrungen, als Aporien entlarvt werden können. Die Zuschauer erfahren dabei unter anderem Momente der Kontingenzbewältigung, etwa das Aufgehen individueller Identität in der Gruppenzugehörigkeit der Räuberbande, die gewaltsame Tilgung von Kontingenz in der sozialhygienischen Exklusion Spiegelbergs oder den Einbruch von Widerfahrniskontingenz beim Auseinanderbrechen der vermeintlich homogenen Gruppe. Das heißt, über die Inhalte und die Wirkungen des Stückes werden systematisch auch Formen der Kontingenz verhandelt. In diesem Sinne sind die Räuber als wissenspoetologischer Text über Dynamiken des Kontingenten und der Kontingenz lesbar.

Immer wieder finden sich zudem bereits in Schillers frühen Texten Darstellungen

von Beschleunigungsprozessen. Im Zurückwirken der Ergebnisse einer Handlung oder einer Entwicklung auf deren Voraussetzungen und Grundlagen liegt – das verdeutlichen die Texte mehrfach – der Motor von sich infinit bis zur Sprengung des Vorstellbaren steigernden Dynamiken. Auch hierüber wird schon die in der späteren Theorie des Erhabenen zentrale Produktivmachung von Widerfahrniskontingenz präfiguriert. Während also die Kapitel 1.1 und 1.2 das breite Wissen des noch jungen Schillers über Kontingenz sowie die verschiedenen Techniken aufzeigt, mit denen seine frühen Dramen Kontingenz sichtbar und poetisch produktiv werden lassen, zeigt Kapitel 1.3, wie Schiller in der Anekdote Eine großmütige Handlung damit bereits über breite Mittel verfügt, um mittels der Topoi Liebe und Rationalität differenziert über Kontingenz sprechen zu können. Die kurze Anekdote weist wie (übrigens ungeachtet der jeweiligen Textsorte) viele Texte Schillers Doppelstrukturen auf. Die Austragung des Konkurrenzverhältnisses zweier Brüder wird hier über zwei im Prinzip eigenständige Handlungsstränge vermittelt. Thematisch werden jedoch die bereits in mehreren Prätexten ergründeten Topoi Liebe und Tugend/Ratio in Bezug zueinander gesetzt, welche beide als repräsentativ für die übergreifenden Komplexe Kontingenz und Ordnung begriffen werden können. Darüber verdeutlicht Schillers Anekdote eindrucksvoll eine Inkommensurabilität beider Prinzipien. Der Text erweist die rationale Anlage des Sozialexperiments als durchaus wirkmächtig. Das Setting der „großmütigen“ Handlungen beider Brüder



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transformiert das (sich empirischen Messungen entziehende) Ausmaß individueller Liebe in die (in der Logik des Textes) besser überprüfbare Kategorie des Schmerzes. Kontingentes wird so in den Status des Verfügbaren, Messbaren und Kontrollierbaren überführt. Auf der anderen Seite arbeitet die Anekdote deutlich heraus, wie die in ihrem Zentrum stehenden rationalistischen Maßnahmen das Eigentliche des Kontingenzphänomens Liebe verfehlen. So präsentiert die Anekdote die Brüder als Subjekte, welche sich zwar idealistisch auf ein objektives Verfahren einigen, um dieses jedoch umgehend wieder aus einer jeweils egoistischen Motivlage heraus zu unterlaufen. Vor allem gilt aber, dass die vergleichende Messung des Ausmaßes der individuellen Liebe beider Brüder blind ist für die Liebe als soziales Phänomen. Die Kontingenz der Liebe liegt, wie der Text herausarbeitet, weniger in der Unverfügbarkeit des individuellen Gefühls, sondern in den nicht berechenbaren Wechselwirkungen der sich begegnenden Emotionen zweier sich liebender Personen. Das rationalistische Experiment der beiden Brüder scheitert daher nicht nur an seiner mangelhaften Durchführung, sondern vor allem an seiner fundamental falschen Anlage: An der Tatsache, dass die Frau als diejenige Person, die im Zentrum des Geschehens steht, keine Berücksichtigung in der Handlung spielt. Die unterdrückte Stimme der Frau wird so zum Symbol für den Versuch, das Kontingente zu kontrollieren. Damit ist die eigentliche Hauptaussage des Textes darin zu sehen, dass ein Ignorieren von Kontingenz letztlich zum Scheitern eines jeglichen Ordnungs- und Kontrollversuchs führen muss. Der Tod der Frau und die vom Text als falsch ausgewiesene Lebensführung der Brüder im Anschluss daran sprechen hier eine unmissverständliche Sprache.

Indem jedoch nicht nur die beiden Brüder, sondern auch der Erzähler der Anek-

dote und damit der Text selbst die Stimme der Frau ignorieren, weist auch Eine großmütige Handlung die für Schillers frühe Dramen typische reflexive Dopplung inhaltlicher und formaler Strukturen auf. Das Thema der scheiternden Kontingenzkontrolle erscheint damit im Inhaltlichen und Formalen zugleich. Beim Lesen der Anekdote stellt sich also performativ eben diejenige Situation ein, die auf der Inhaltsebene verhandelt wird – ein typisches Beispiel für Schillers Umgang mit dem Phänomen der Kontingenz, wie er nicht nur seine frühen Texte, sondern auch seine Theoriebildung und seine Dramatik nach 1790 bestimmt.

Betrachtet man Schillers vornehmlich in der historischen Antrittsvorlesung Was

heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? getroffenen historiographischen Überlegungen, so fällt auf, wie eng sich diese an die Methodiken seiner drei



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medizinwissenschaftlichen Dissertationen anschließen. So vertritt er auch hier eine rationalistische Herangehensweise, die insbesondere auf die Mittel der Klassifikation und eines nach universal-teleologischen Kriterien ausgerichteten Ordnungsverfahrens zurückgreift, um die für die Geschichtsdarstellung relevanten historischen Fakten selegieren zu können. Gleichzeitig verfolgt Schiller hier jedoch auch die Praxis einer permanenten Selbstbefragung des Forschungsstandpunktes und einer andauernden Überprüfung (des nur vorläufige Geltung beanspruchen könnenden) Forschungsstandes. Der Historiker, wie Schiller ihn im Sinne hat, schwankt dabei zwischen intuitiver Genialität und subjektiver Ohnmacht. Sein Geschichtsbild ist entsprechend geprägt von der Annahme eines teleologischen Fortschreitens der Gesellschaft und einer gleichzeitigen Unverfügbarkeit wesentlicher Teile dieses Prozesses für die historische oder gesellschaftliche Wahrnehmung. Die Beschäftigung mit diesem unverfügbaren und kontigenten Komplex der historischen Entwicklung kann jedoch zu einem entscheidenden Hebel individueller Selbstverbesserung (in den Worten des 18. Jahrhunderts: einer Perfektibilität des Subjekts) genutzt werden, welche wiederum mittelbar auch auf den zivilisatorischen Fortschritt der Gesellschaft zurückwirkt. Damit biegt Schiller die historische Tätigkeit zurück auf die dieser zugrunde liegenden historischen Strukturen. Die Anerkennung der Kontingenz geschichtlicher Prozesse (und eben nicht deren systematische Ordnung durch den Historiker) übersetzt sich damit auf der Ebene der longe durée in ihr Gegenteil, nämlich in historische Ordnung – ein gleichsam dialektischer Prozess im Feld der Umgangs mit Kontingenz und eine erneute Dopplung von Kontingenzphänomenen auf verschiedenen Ebenen.

Die Universalhistorische Übersicht zu den Kreuzzügen ist hingegen ein Text, mit

welchem Schiller sein Wissen über das Zusammenspiel von Kontingenz und Ordnung im Feld der Geschichte ausbaut. Dieser in zwei inhaltliche Abschnitte gegliederte Einleitungstext ergründet zunächst die Entwicklung von Dynamiken der Kontingenz im Zeitverlauf. Insbesondere über eine ausgefeilte Pflanzenmetaphorik verdeutlicht Schiller dabei, wie ein in der reinen Gegenwartsperspektive extrem unwahrscheinliches (kontingentes) Ereignis, sich in der historischen, zeit-übergreifenden Betrachtung als Notwendigkeit darstellen kann. Kontingenz und Ordnung sind damit abhängig vom jeweiligen Beobachtungsmodus. Das Beispiel zur ideengeschichtlichen Entwicklung der europäischen Gesellschaften verdeutlicht konkret, wie das Eintreten eines spezifischen Ereignisses (hier: das Einsetzen einer kraftvollen Aufklärung) zu einem spezifischen Mo-





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ment als kontingent wahrgenommen werden kann, während dies gleichzeitig aber für die Tatsache, dass es überhaupt eintritt, nicht gelten kann.

Während sich der erste Teil der Übersicht also mit einer syntagmatischen Be-

trachtung des Zusammenspiels von Kontingenz und Notwendigkeit beziehungsweise Ordnung befasst, fragt der zweite Teil in eher paradigmatischer Perspektive danach, wie Kontingenz aus Ordnung entstehen kann. Dazu betrachtet Schiller insbesondere das mittelalterliche System von Lehenswesen und Grundherrschaft. Er arbeitet heraus, wie sich dieses als ein fragiles Ordnungsgefüge darstellt, welches beständig Konflikte, Unsicherheiten und Unklarheiten hinsichtlich der tatsächlichen Machtverhältnisse emergieren lässt. Die Ordnungsstrukturen werden hier zu Katalysatoren von Kontingenz. Dabei fokussiert Schiller auf die zwischen verschiedenen Ordnungszusammenhängen stehenden politischen Akteure, insbesondere auf den König des Heiligen Römischen Reiches, und auf deren Handlungsrestriktionen und double-binds. In diesem Zusammenhang stellt er erneut einen Bezug zwischen einer übergreifenden gesellschaftlichen Struktur und den Handlungsmöglichkeiten einzelner Subjekte her. So zeigt er am Beispiel des Königs, wie Machtverlust zu theatralen Selbstinszenierungen motivieren kann. In dem Maße, in dem sich die Macht von ihrer Konzentration auf die Person des Königs löst und sich auf multiple Orte, andere Fürsten und andere Strukturen verteilt, ist der König gezwungen, die monarchische Ordnung mit einer neuen Kontingenztechnik zu stabilisieren – eben mit der Technik theatraler Inszenierung. Schiller schlägt damit den Bogen von einer Beschreibung politisch-gesellschaftlicher Zusammenhänge zu einer Affirmation der Mittel und Wirkungsweisen des Theaters und im weitesten Sinne der Literatur und holt den König so als eine Kontrollverluste kompensierende Figur wieder in die Nähe bürgerlicher Lebenswelten zurück. Nicht das egoistische und auf sozialen Aufstieg zielende Verhalten der Höflinge, sondern die Notlage des existentiell bedrohten Herrschers wird zum Ursprung des Theatralen. Der König wird damit eine für emphatische Einfühlung geeignete Figur, die theatrale Inszenierung des Adels in diesem Punkt von der rousseauistischen Kritik des 18. Jahrhunderts gereinigt und die Herrschenden als bühnentaugliche Protagonisten rehabilitiert. In wissenspoetologischer Perspektive wird jedoch – wie beschrieben – in der Figur des Königs erneut das enge Zusammenspiel aus Ordnung und Kontingenz sichtbar. Während politisch betrachtet die Ordnungsmacht des Königs kondensiert und fragiler wird, der König also einen Kontrollverlust und die Zunahme von Kontingenz erfahren muss, kann er dazu gegenläufig mit der theatralen Inszenierung auf eine Kontingenztechnik zur Stabilisierung seiner Ordnungsmacht zurückgreifen.



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Wie sich Schiller den Zusammenhang aus Kontingenz und Ordnung genauer vor-

stellt und weshalb er so häufig die Denkfigur eines Kippens der einen in die andere Kategorie gebraucht, erschließt sich durch einen Blick auf die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung. Dort vollzieht Schiller (abermals unter Anwendung einer Praxis der Verzeitlichung von Gegenwartsmomenten und unter Rückgriff auf den Geniediskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts) eine partielle Resemantisierung des Zufallsbegriffs. Diese erlaubt es ihm, die scheinbar paradoxe Annahme, dass der Mensch den Moment gestalten könne, die Geschichte aber vom Zufall regiert werde, zu plausibilisieren. Sein Blick geht dabei ausgehend vom Gegenwartsereignis zurück zu den diesem vorgängigen Möglichkeitsstrukturen. Menschliches Handeln und Entscheiden wird dabei zu einem Akt der Kontingenzreduktion, menschliches Denken und Planen zur Praxis der Kontingenzbegegnung. Wichtiger in diesem Denken ist aber, dass die Kontingenzen im Vorfeld des Wirklichen nicht in Beliebigkeit aufgehen, sondern stets auf ihre potentielle Verwirklichung ausgerichtet sind. Auch hier sind also ordnende und strukturierende Bahnen für das Kontingente erkennbar.

An der Beschreibung Wilhelms von Oranien wird dann im weiteren Verlauf der

Monographie über den Abfall der Niederlande exemplarisch sichtbar, welche Vorteile und welche Gefahren die intensive Befassung des Subjekts mit den ihrer Verwirklichung vorgängigen Kontingenzstrukturen bietet. Oranien zeichnet sich in Schiller Charakterportrait als Person aus, die politisch überlegene Entscheidungen zu treffen vermag, weil sie sich in der Vergangenheit bereits intensiv mit den Möglichkeitsstrukturen damals zukünftiger Gegenwarten auseinandergesetzt hat, sodass Oranien in dem Augenblick, in denen diese Zukünfte dann tatsächlich zur Gegenwart werden, über einen strategischen Vorteil in der Auseinandersetzung mit seinen Konkurrenten verfügt. Entgegen der in der Literatur sonst oft vertretenden Auffassung, dass Oranien von Schiller als positiver Gegenentwurf zu Philipp II. gezeichnet wird, wird in dieser Arbeit auch dessen in der Geschichte des Abfalls der Niederlande ebenfalls zu findender Negativbewertung starke Beachtung geschenkt. Schiller stellt hier explizit heraus, wie Oraniens Hinwendung zu den Möglichkeitsstrukturen zukünftiger Wirklichkeiten ihm eben nicht nur Vorteile im politischen Handeln verschafft, sondern auch Nachteile im persönlichen Leben. Schiller betrachtet Anführer der niederländischen Rebellion als auf einem abschüssigen Pfad in die soziale Selbstexilierung befindlich, er attestiert ihm eine Unfähigkeit zu lieben und lässt ihn schließlich in einem bemerkenswerten performativen Akt aus dem Text der Geschichte des Abfalls der Niederlande verschwinden. Schillers Geschichtsschrift ist damit



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auch von der Anwendung poetischer Techniken geprägt. Oraniens Verschwinden aus dem Text erinnert an die Unterdrückung der Frauenfigur durch Figuren und Erzähler in der Anekdote Eine großmütige Handlung. Die intensive Auseinandersetzung mit Kontingenzstrukturen wertet Schiller als ein zweischneidiges Schwert für das Individuum, für welches die aus der Praxis der Kontingenzkalkulation resultierenden Vorteile nur zum Preis nicht unerheblicher Nachteile zu erlangen sind. Am Ende steht die Erkenntnis, dass die Aufklärung des Kontingenten irgendwann notwendig an ihre Grenzen stößt, man also immer an einen Punkt gelangt, an dem an einer Kontingenzanerkennung kein Weg mehr vorbei führt.

Betrachtet man Schillers ästhetische Überlegungen nach 1790, so wird eine

Kunstauffassung erkennbar, in der nicht mehr die Kunst Leistungen für die Gesellschaft bereitzustellen hat, sondern umgekehrt gesellschaftliche (historische und moralische) Inhalte als Material für die Kunst dienen. Im Zuge dieser Umkehrung der Relationen zwischen Kunst und Gesellschaft wandert auch das Kontingenzdenken ins Zentrum von Schillers ästhetischer Theorie. Schillers in Anschluss an Carsten Zelle als „doppelte Ästhetik“ zu bezeichnende und sich in eine Theorie des Schönen und eine Theorie des Erhabene aufspaltende Kunstauffassung kombiniert auch zwei Kontingenzvorstellungen. Während das Schöne von Verhältnissen der Balance und der Harmonie bestimmt, ist das Erhabene als Konfrontation mit dem Anderen, mitunter also als Dynamik des Bruchs zu denken. Fragilität und Ephemerität im Fall des Schönen repräsentieren somit die eine Kontingenzform, Bruch und Eindringen des Wirklichen im Fall der Erhabenen die andere. Insbesondere mit dem Gedanken einer Hintereinanderschaltung von Schönem und Erhabenem entwickelt Schiller ein Konzept, mit dem diese beiden Kontingenzformen produktiv aufeinander bezogen werden. Erst im Moment des Bruchs offenbaren sich dem vorher in schöner Weltbetrachtung verharrten Beobachter die Kontingenz des Schönen, dessen Zerbrechlichkeit und der Latenzschutz, den das Schöne über die Wirklichkeit legen musste. Indem der erhabene Augenblick den Zustand des Schönen aufhebt, markiert er nicht nur dessen (ontologische) Kontingenz, die Auflösung und der Bruch sind selbst Mittel, die zum Phänomenbereich der (Widerfahrnis-)Kontingenz zu zählen sind, sodass hier – wie beschrieben – zwei Kontingenzformen aufeinander bezogen werden.

Mit der Zentralstellung von Kontingenz im ästhetischen Denken Schillers nach

1790 verändert sich auch seine Beobachtungsperspektive auf die Gesellschaft. Indem nun alles Gesellschaftliche ästhetisch funktionalisiert wird, schwindet auch die Be



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schreibungsgenauigkeit, mit der Schillers Texte ihre Umwelt beobachten. Ihre Aufladung mit ästhetischer Dichte geht mit einer nachlassenden Aussagekraft über gesellschaftliche Zusammenhänge einher. Dies ist – wie in Kapitel 3.2 herausgearbeitet werden konnte – bei der Einordnung von Texten wie dem Traktat Über das Erhabene zwingend zu berücksichtigen. Insbesondere der Geschichtspessimismus in Schillers poetologischen und geschichtsphilosophischen Texten zeigt sich damit als eine bewusst (und auch mit dem Wissen über ihre Kontingenz) gewählte ästhetische Perspektive und sollte nicht als Begründung für eine generell resignative oder skeptizistische Haltung ihres Verfassers gegenüber gesellschaftlichen oder historischen Prozessen herangezogen werden.

Bemerkenswert ist jedoch auch, dass in Schillers Geschichtsdenken (Wolfgang

Riedel an dieser Stelle folgend) drei unterschiedliche Geschichtskonzepte rekurrieren nämlich eine theohistorisches, ein teleologisches und auch – wohlgemerkt jedoch nie dominantes – geschichtsskeptisches. Diese reihen sich (hier nimmt die Arbeit einen anderen Standpunkt als Riedel ein) jedoch nicht seriell aneinander, sie mögen höchstens zu verschiedenen Zeitpunkten erstmals in Schillers Denken aufgekommen sein, werden jedoch vielfach parallel zueinander gebraucht, kontrastiv aufeinander bezogen oder miteinander konfrontiert. Diese Herstellung einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen lässt als Wiederaufgreifen einer Technik der Kollision von Zeitkonzepten lesen, die schon im Glücksspieldiskurs der frühen Dramen Schillers zur Anwendung gekommen ist. Claudia Benthiens Analysen zur Jungfrau von Orleans und zur Braut von Messina haben überdies gezeigt, dass Schiller diese Technik auch in seinen nach 1795 anwendet, indem er etwa Antikes und Mittelalterliches bewusst in Kollision zueinander bringt. Die vorliegende Arbeit liest diese Kollisionen als Beispiele für Momente, in denen Schiller geschichtliche Inhalte für ästhetische Zwecke funktionalisiert, und zwar indem er den historischen Blick eben nicht auflöst, sondern mit sich selbst konfrontiert und dadurch reperspektiviert. Historische Exaktheit bleibt so im Detail durchaus erhalten, in der allgemeinen Betrachtung führt die Kollision des Ungleichzeitigen jedoch zu Erfahrungen des Neuen, der Irritation und zu einer nicht beispielhaft festlegbaren Ununterscheidbarkeit. Die Geschichte transformiert sich in Ästhetik, indem Historisches als Mittel zur Kontingenzproduktion gebraucht wird.

Über die Analyse der Metaphoriken des Meeres und der Pflanze in der Braut von

Messina konnte zudem herausgearbeitet werden, wie sehr Schiller auch nach 1790 noch auf das Kontingenzdenken in seinen frühen Texten rekurriert. Deutlich wird in den Metaphern aber auch, in welchen Punkten er dieses weiterentwickelt, vertieft oder gar re



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formuliert. Auch in der Braut von Messina gebraucht Schiller die Technik, verschiedene Zeitvorstellungen und -konzepte in Kollision zueinander zu bringen, um auf diese Weise das Künstliche, Konstruierte, eben auch: das Kontingente gegenüber dem Authentischen hervorzuheben. Diese Kollision von Zeitkonzepten geht einher mit einer nach den theoretischen Überlegungen der frühen 1790er Jahre nun möglichen In-Bezug-Setzung der sich im Prinzip gegenüberstehen ästhetischen Konzepte des Schönen und Erhabenen. Wie in Kapitel 3.3 gezeigt werden konnte, wird auch darüber Kontingenz in der Braut von Messina auf die Bühne gebracht. Mit den Handlungsdynamiken des Stückes schließt Schiller zudem an die in seiner frühen Fieberschrift beschriebenen pathogenen Verläufe der verschiedenen Fieberarten an. Kontingenz wird in beiden Fällen über Differenzen wie Anschwellung/Hemmnis und Latenz/Wiederkehr entfaltet. Zudem greift Schiller auf die bereits in den Räubern oder der Verschwörung des Fiesko zu Genua entwickelte Technik einer zeitlichen Trennung von Figuren- und Rezipientenperspektive zurück, wodurch die Perspektivgebundenheit von Beobachtungen erster und zweiter Ordnung und damit auch die Kontingenz jeglicher Beobachtung ihren Ausdruck findet. Wirklich neu im Gegensatz zu den frühen Texten Schiller ist indes die Tatsache, dass in den Metaphoriken der Braut von Messina Kontingenz viel weniger als Beschreibung von konkreten gesellschaftlichen und handlungsexternen Gegebenheiten fungiert, sondern dass die Kontingenzdarstellung ganz stark als ästhetischer Selbstzweck erscheint.

Die für die Analysen von Schillers Texten gewählten thematischen Schwerpunkte

(Verfahren des Umgangs mit Kontingenz/Theorien der Kontingenz – Strukturen des Kontingenten – Theatralität/Ästhetiken der Kontingenz) und der in der Einleitung dieser Arbeit entwickelte Begriffsapparat erwiesen sich als ausgesprochen produktiv für die Analysen der Texte Schillers. In allen drei thematischen Feldern konnte ein starkes Interesse Schillers an Kontingenzphänomenen und eine differenzierte Praxis im Umgange mit diesen beobachtet werden. Die Gliederung und wie auch Herangehensweise dieser Arbeit an ihren Gegenstand – das gilt natürlich generell für jede wissenschaftliche Studie, scheint hier jedoch nochmals besonders erwähnenswert – sind selbst kontingent. Insbesondere war die Strukturiertheit dieser Arbeit geeignet, qualitative Schwerpunkte im Kontingenzdenken Schillers genauer auszuleuchten. Die Verhandlung von Kontingenzphänomen in Schillers Werk übersteigt jedoch quantitativ die Grenzen dieser Arbeit – auch jenseits des hier untersuchten Korpus spielt das Kontingenzdenken bei Schiller eine wichtige Rolle. Die überbordende Komplexität vieler der in diese Arbeit eingeflossenen Schillertexte führt zudem zu einer umfassend kaum analysierbaren Dichte an



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Kontingenzstrukturen. Die hier durchgeführten Analysen hatten daher auch das Ziel, einen Einblick in das Kontingenzdenken Schillers zu bieten und eine Sensibilität für deren differenzierte Darstellung in seinen Texten zu wecken. Eine vollständige Beschreibung und vor allem eine ästhetische Erfahrbarmachung der Kontingenzphänomene kann diese Arbeit jedoch nicht bieten. Dies zu leisten vermag nur eine (erneute) Lektüre der Originaltexte Schillers.







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© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 M. Köberlein, Kontingenz und Zeitlichkeit bei Schiller, https://doi.org/10.1007/978-3-662-63848-4





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