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German Pages 582 [584] Year 2020
Carolin Rocks Heldentaten, Heldenträume
Studien zur deutschen Literatur
Herausgegeben von Georg Braungart, Eva Geulen, Steffen Martus und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 221
Carolin Rocks
Heldentaten, Heldenträume Zur Analytik des Politischen im Drama um 1800 (Goethe – Schiller – Kleist)
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-065385-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066072-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065802-6 ISSN 0081-7236 Library of Congress Control Number: 2020930157 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Für Annette
Dank Die vorliegende Publikation beruht auf einer überarbeiteten Fassung meiner 2017 von der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommenen Dissertationsschrift. Bei der Studienstiftung des deutschen Volkes möchte ich mich sehr für die finanzielle Förderung im Rahmen des Promotionsstipendiums sowie für die verschiedenen Möglichkeiten des intellektuellen Austauschs bedanken. Josef Früchtl danke ich herzlich für die Einladung an die Universiteit van Amsterdam im Rahmen eines von der Studienstiftung des deutschen Volkes geförderten Auslandsaufenthaltes im Jahr 2014 und für seine Bereitschaft zur kritischen Diskussion. Der FAZIT-Stiftung danke ich ebenfalls sehr für ihre finanzielle Förderung. Der Münsteraner SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ hat mir in der Endphase der Promotion ein Stipendium gewährt, für das ich mich neben der Möglichkeit zum Austausch im dortigen Doktorandenkolleg herzlich bedanken möchte. Außerdem gebührt in diesem Zusammenhang Cornelia Zumbusch mein Dank für ihre große Unterstützung während des Abschlusses der Arbeit. Frauke Berndt danke ich für ihre Unterstützung im Zeitraum der Drucklegung. Entstanden ist die Arbeit im Rahmen des Promotionsstudiengangs „Literaturwissenschaft“ an der LMU München; bei den beteiligten Hochschullehrer*innen, bei der Koordination sowie bei meinen Kolleg*innen – vor allem bei Diana Mantel, Doris Marwede und Katharina Wagner – bedanke ich mich für die kritischen Diskussionen. Mein nachdrücklicher und größter Dank gilt Annette Keck, die meine Arbeit betreut hat. Ihre Kritik, ihre Lust zu lesen und zu diskutieren, ihr inhaltlicher sowie konzeptueller Rat, ihr Wohlwollen, ihr Vertrauen und nicht zuletzt ihr Sinn für Humor verstehen sich ganz sicher nicht von selbst. Martina-Wagner-Egelhaaf, die die ersten Schritte der Arbeit begleitet hat, schulde ich ebenfalls großen Dank: für die Zweitbetreuung der Arbeit, insbesondere für ihr stets offenes Ohr sowie für ihre bis heute andauernde Unterstützung. Auch Cornelia Ortlieb danke ich für die fachlichen Diskussionen und für die Begutachtung der Arbeit. Bei den Herausgeber*innen der Reihe „Studien zur deutschen Literatur“ – Georg Braungart, Eva Geulen, Steffen Martus und Martina Wagner-Egelhaaf – möchte ich mich herzlich für die Aufnahme der Arbeit bedanken. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften danke ich für die großzügige Bezuschussung der Drucklegung. Marcus Böhm und Susanne Rade vom Verlag Walter de Gruyter haben mich bei der Publikation (und all ihren Rahmenbedingungen) unterstützt, wofür ich herzlich Dank sagen möchte. https://doi.org/10.1515/9783110660722-202
VIII
Dank
Mit Julia Bodenburg, Sigrid Köhler, Diana Mantel, Christian Schmitt und Raphael Rauch habe ich mich während der Entstehung der Arbeit dankenswerterweise über einzelne Teilkapitel austauschen können. Für ihre sorgfältigen Korrekturen danke ich Lea Akkermann, Dennis Borghardt, Christoph Pflaumbaum und ganz besonders Johannes Hees. Bei meiner Familie bedanke ich mich sehr herzlich für ihre Unterstützung. Am intensivsten begleitet haben die Arbeit Sebastian Meixner und Christoph Pflaumbaum: mit kritischen Worten, in anhaltender Diskussionsbereitschaft, mit Ratschlägen, Pragmatismus und Witz und in Freundschaft. Gleiches und viel mehr gilt für Dennis Borghardt, dem daher schließlich mein ganz persönlicher Dank gebührt. Köln, im Januar 2020
Carolin Rocks
Inhalt Dank
VII
Einführung: Der Ort des Helden im politischen Drama oder: „Wo ist der Tell?“ 1 I 1 2
15 Auf dem Weg ins Herz des Kabinetts Verortung in der Forschung und theoretische Anmerkungen Überblick über die Kapitel II.1–II.3 25
II 1
37 Drei grundlegende Perspektiven auf den Heroismus Zum Gattungsprofil des politischen Held*innendramas um 1800 37 1.1 Politische Klassik? Und Kleist? Bemerkungen zur epochen- und gattungsgeschichtlichen Systematik 37 1.2 Goethe, Schiller, Kleist. Und das Politische? – Tendenzen der Forschung 42 1.3 ‚Götter, Helden, Könige und Fürsten‘. Zum politischen Gattungsprofil des deutschen Dramas vor 1750 49 1.4 Die politischen Implikationen der Trauerspiel-Kontroverse über den dramatischen Helden 54 1.5 Der politische Problemhorizont des bürgerlichen Trauerspiels 56 1.6 (De-)Figurationen eines empfindsamen Heroismus. Zum Figurenbau und -verkehr im Held*innendrama 63 1.7 Der tatenlose Held ohne ‚sinnende Runzeln‘. Schillers EgmontRezension und Goethes Egmont-Trauerspiel 70 1.8 An den Gattungsgrenzen. Zur Erosion des Dramatischen im Held*innendrama 87 Politische Antike 92 2.1 Karl von Moors Sehnsucht und Theseus’ Vergessen: Was ist ein antiker politischer Held? 92 2.2 Räuberbande statt deutscher Republik. Das politische Reflexionspotential einer heroischen Antike 102 2.3 Das blutende, schwitzende ‚Sekulum‘. Heroische Antikephantasien jenseits von politischer Idealität 110 2.4 Antike, ästhetisch – Antike, politisch. Zur Schwerpunktsetzung in der Forschung und zum dramenanalytischen Potential einer politischen Antike 115
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Inhalt
2.5
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III 1
Tatkraft – Attentat – Heldentat. Zum Einbruch des Politischen ins Ästhetische bei Karl Philipp Moritz 123 Politische (Un-)Sinne 145 3.1 Der Prinz, der seinem Herzen folgt, oder: Das Feuer des Helden 145 3.2 Zur Analyse charismatischer Autorität im Held*innendrama 148 3.3 Sulzers Theorie der dunklen Vorstellungen und Empfindungen 154 3.4 Ansätze zu einer ‚politischen Erfahrungsseelenkunde‘ bei Sulzer 168 3.5 ‚Nur ein Held‘. Kein ‚großer Mann‘ – Zur Marginalisierung politischen Heldentums bei Abbt und Hirschfeld 178 3.6 Fazit: Politische Schwärmer 206 211 Lektüren Eiserne Handreichungen. Götz von Berlichingen 211 1.1 Heldengeschichten statt Heldentaten 218 1.2 Verliebt in eine Rüstung. Heldenphantasien 221 1.3 Gegenperspektiven: Die Geschichte vom frommen Kind 225 1.4 Auf die guten alten Zeiten. Berlichingens Verbrüderungsversuch 227 1.5 Nicht einmal im Traum: Berlichingens und Weislingens Handreichung 231 1.6 Die Faust des Helden 235 1.7 Weislingen als ‚politischer Mellefont‘. Zur Rolle des Höfischen für den politischen Konflikt 237 1.8 ‚Wie man Schnepfen fängt‘. Weislingens Bundbruch 241 1.9 Die Macht der Amputierten. Der Held im Krieg I 246 1.10 Ein schlagkräftiges Heldenbündnis (Franz Lerse) 248 1.11 ‚Fortzulaufen vor einem Mann‘. Der Held im Krieg II 251 1.12 Bei einer letzten Flasche Wein: Träumereien von politischer Freiheit 252 1.13 ‚Ich bin kein Rebell‘. Der Held vor Gericht 255 1.14 Die Aufforderung zur Heldenautobiographie 259 1.15 Hauptmann? ‚Meinetwegen‘. Götz’ Rolle im Bauernaufstand 260 1.16 Kein heroisches Finalduell: Weislingens Ende – Adelheids Schuld 264
Inhalt
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XI
268 1.17 Der ‚letzte‘ Held? Der dramatische ‚Finger des Ohngefährs‘. Die Verschwörung gegen den Helden Fiesko 272 2.1 Zufall und Politik. Die Vorrede zum Fiesko 272 2.2 Kein Herz. Fiesko als ‚kalter‘ politischer Held 278 2.3 Trauer muss Bertha tragen. Für Genua. Verrinas republikanische Bildpolitik 280 2.4 Der Umsturz des Fluch-Bildes. Fieskos heroisches Gegenprogramm 289 2.5 Den Wind des Zufalls lenken? Der Held und das republikanische Wetter 291 2.6 Heroische Verblendung oder: Ein schlechter politischer Spieler 293 2.7 Die Verwundung des Helden mit dem dramatischen ‚Finger des Ohngefährs‘ 299 Der Meisterschütze. Wilhelm Tell 305 3.1 Der ‚geringe Mann‘ und die ‚fürstliche Tat‘. Zweifel an Tells Heroismus 306 3.2 ‚Der Hut auf der Stange‘ 310 3.3 Held vs. Herrscher: Der Apfelschuss als Heldenprobe 311 3.4 Augenmaß: Heroische Sinneskraft 313 3.5 ‚Der Apfel ist gefallen‘. Und niemand hat’s gesehen – Poetologische und politische Implikationen der Apfelschussszene 316 3.6 Die Schießprobe: Tell und Odysseus 323 3.7 Tyrannenmord oder Meisterschuss? – Attentäter oder Held? 327 3.8 Kurz vor Schluss: Die Wiedererkennungsprobe. Tell und Parricida 337 Wie man eine Kaisertochter wird. Käthchens Näschen 355 4.1 Wien 1810 – Zwei unglückliche Kaisertöchter 355 4.2 Käthchens Heroismus im Spannungsfeld von Geschlecht und politischer Genealogie 360 4.3 Verwandelt statt verführt: Käthchens autonome Subordination 368 4.4 Käthchen vor Gericht: Die Macht des ‚Ich weiß es nicht‘ 380 4.5 Dynastische Männerphantasien 391 4.6 Der Traum des Grafen vom Strahl. Und Kunigundes Stauffen 395 4.7 ‚Und wenn’s des Kaisers Tochter wäre‘ – Käthchens heroische Feuerprobe 404
XII
Inhalt
4.8
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IV 1 2 3
‚Denn wie begreif’ ich die Verkündigung, daß sie die Tochter meines Kaisers sei?‘ – Amnesie und asymmetrische Anagnorisis 411 4.9 Die Enthüllung der Mosaik-Technik. Kunigundes Machtprofil 416 4.10 Kaisertochter qua Seitensprung 419 4.11 ‚Und Katharina heißt sie jetzt von Schwaben‘ – Und weiß von nichts 422 4.12 Zum Schluss: Überlegungen zur Feminisierung der Heldenrolle 429 Gnade für einen Begnadeten. Prinz Friedrich von Homburg 434 5.1 Einstieg: Vom Geländer der Rampe oder: Das Spiel im Spiel 434 5.2 Souveräne Gnadenspiele? Prinz Friedrich von Homburg und Shakespeares Measure for Measure 443 5.3 Homburgs Befehlsbruch als Heldentat? 453 5.4 ‚Gefärbte‘ Botenberichte: Drei Helden in der Schlacht zu Fehrbellin 457 5.5 Keine Heldenehrung für Homburg: Die Verhaftungsszene 462 5.6 Welches Spiel spielt der Kurfürst? Spekulationen hinter Kerkermauern 464 5.7 ‚Und frage nichts mehr, ob es rühmlich sei!‘ – Homburgs Entheroisierung 467 5.8 Recht vor Gnade. Die Bedingung des Kurfürsten 470 5.9 Ein Held soll schreiben und die Gemeinschaft schreibt. Homburgs Subordination, Natalies Befehlsfälschung und die Bittschrift 475 5.10 Staatskunst der Empfindungen. Der ‚Fürstenspiegel‘ des Obristen 483 5.11 Kein Spiel mehr: Ein Heldentraum ist in der Welt 486 5.12 Am Schluss: Gnade vor Recht 489 5.13 Gar nicht komisch: Ein Traum von Brandenburg 492 Schlussbemerkungen: Der Heldenauftritt des Herrschers. Robert Guiskard im Zelt 497 ‚Schaut! Horcht!‘ – Der schlafende, der kränkelnde Herrscher? 500 Vor dem Zelt: Die politische Bühne der Prinzen 505 Dubiose Botenszenen oder: Blicke ins Zelt 512
Inhalt
4 5
Halblaut und halb gefallen: Der Auftritt des Herrschers Fazit 521
V
Siglenverzeichnis
VI
Literaturverzeichnis Quellen 531 Forschungsliteratur
527 531 534
517
XIII
Einführung: Der Ort des Helden im politischen Drama oder: „Wo ist der Tell?“ Zu Hause.1 Der Held ist im beginnenden finalen Akt von Schillers politischem Schauspiel bereits daheim, bei Frau und Kindern. Weder wohnt er dem Spektakel der eidgenössischen Einheit bei, als deren Stifter er in absentia gefeiert wird (vgl. WT, V. 3082–3086), noch nahm er zuvor am Rütli-Zeremoniell teil (vgl. WT, V. 1097). Wo also ist der Tell, jener Meisterschütze, dessen Pfeil den Lokaldespoten Geßler „[m]itten ins Herz“ (WT, V. 2788) getroffen hat und der aufgrund dieser Tat sowie aufgrund des kühnen Apfelschusses Einzug in die Herzen der Brüderbündler hält? In jedem Fall ist Schillers Gestaltung des helvetischen Nationalhelden durch eine auffällige Absenz im sich neu ordnenden politischen Raum gekennzeichnet: Wo immer sich das ‚Drama der Nation‘ vollzieht, wo immer „Topoi der politischen Selbstermächtigung“2 rhetorisch beschworen werden, um das Kollektiv gegen die Tyrannenmacht zu mobilisieren, fehlt der Tell. Die augenfällige Abwesenheit in einer krisenhaften politischen Atmosphäre stellt ein Charakteristikum dar, das nicht nur Schillers heroischen Schützen auszeichnet. Dass mit dieser Ausgangsbeobachtung vielmehr ein signifikanter Punkt der politischen Szenarien im Drama um 1800 berührt ist, tritt zu Tage, wenn die einfache Wo-Frage wiederkehrt, ja sich in fast jedem der in dieser Arbeit fokussierten Bühnenstücke – und auch in denjenigen Stücken, die hätten diskutiert werden können, aber aus jeweils explizierten Gründen ausgeklammert werden – in der einen oder anderen Abwandlung findet. Hier eine Auswahl: Kurz vor der entscheidenden Schlacht gegen die böhmische Reiterschaft kommt einer Räuberbande ihr heldenhafter Anführer abhanden: „[W]o ist der Hauptmann? […] Wo zum Teufel! ist denn der Hauptmann?“ (R, S. 83), heißt es über Karl von Moor. Am Schluss von Schillers republikanischem Trauerspiel, im Moment der politischen Neuordnung Genuas wird die Frage nach dem charismatischen Kopf der Verschwörung laut: „Wo ist Fiesko?“ (VF, S. 441) Auch nach einer Hirtentochter, die zur französischen Kriegsheldin avanciert, wird von keinem Geringeren als ihrem König selbst gefragt: „Wo ist Johanna? Warum fehlt sie uns/ In diesem festlich schönen Augenblick,/ Den sie uns schenkte?“ (JO, V. 2016–2018)3 Und weiter ist 1 „Wo ist der Tell?“ (WT, V. 3082). 2 Koschorke (2003), S. 112. 3 Schillers Die Jungfrau von Orleans (1801) ist nicht Teil des Textkorpus, da einschlägige und aktuelle Publikationen vorliegen, die sich mit dem Stück aus einer meiner Fragestellung vergleichbaren Perspektive nähern. Vgl. bes. die Aufsätze von Horn (2015) und Pott (2010). Vgl. weiter Gamper (2016), S. 141–148; Boyken (2014), S. 290–329; van Marwyck (2010), S. 175–205; Jaeger (2009); https://doi.org/10.1515/9783110660722-001
2
Einführung: Der Ort des Helden im politischen Drama oder: „Wo ist der Tell?“
im Falle eines Kleist’schen Helden die Frage nach seinem Ort offenbar auch dann geboten, wenn er sich in sichtbarer Nähe zum Fragenden befindet. So unterbricht der Feldmarschall seine Erörterung des kurfürstlichen Kriegsplans mit der Frage: „Wo ist der Prinz von Homburg?“ (PH, V. 271) Dass Homburgs hier zu Tage tretende geistige Abwesenheit noch steigerbar ist, demonstriert Kleists Penthesilea, die die Frage schließlich an sich selbst richtet: „Wo bin ich?“ (P, V. 1548)4 Zur Annäherung an die wiederholt auftauchende Frage nach dem Ort des Helden im politischen Drama um 1800 sei noch einmal das Augenmerk auf Schillers Tell gerichtet: Der Umstand, dass dieser den emphatischen Festen der Gemeinschaft fern bleibt, lässt sich zunächst vielleicht noch lapidar auf Familiensinn, Bescheidenheit oder einfach auf dessen eigenbrödlerischen Geist zurückführen, so dass eine ungestörte Zugehörigkeit des Titelhelden zum revolutionären Geschehen des Textes behauptet werden könnte. Allerdings persistiert die Frage nach der politischen Signatur solch berühmter Taten wie des Apfelschusses und des Tyrannenmordes, wenn man genauer erwägt, wie das Drama Tells Handeln überhaupt in Szene setzt. Was also tut der Tell, und vor allem: Wie zeigt uns Schiller die Tell’schen Heldenstreiche? Dass sein Handeln mit dem im Drama entfalteten politischen Umbruchsszenario zusammenhängt, steht spätestens dann außer Frage, wenn man sich die wohl berühmteste Szene vergegenwärtigt: Tells meisterhafter Apfelschuss, den er bemerkenswerterweise in einem unbeobachteten Moment abgibt (vgl. WT, S. 458), wird, darauf kommt es an, unmittelbar als revolutionärer Akt von nationaler Tragweite gedeutet (vgl. WT, V. 2038–2041). Sein Zielen auf das Haupt des eigenen Sohns hat aus der Perspektive der versammelten Bevölkerung das nachgerade zwingende Potential, in das gründungsmythologische Narrativ der eidgenössischen Nationalgeschichte aufgenommen zu werden; die Tauglichkeit zum politischen Erzählstoff wird kurzerhand affirmiert: „Das war ein Schuß! Davon/ Wird man noch reden in den spätsten Zeiten.“ (WT, V. 2038–2039) und weiter: „Erzählen wird man von dem Schützen Tell,/ Solang die Berge stehn auf ihrem Grunde.“ (WT, V. 2040–2041)
Immer (2008), S. 384–409; Hinderer (2006, 2003); Koschorke (2006b); Kollmann (2004), S. 103– 125; Prandi (1985). Vgl. auch meine eigenen Überlegungen Rocks (2016b), S. 373–380. 4 Auch Penthesilea ist im Hinblick auf das Thema des politischen Heldentums eingehend, wenn auch weniger häufig als Schillers Johanna untersucht worden. Vgl. Gamper (2016), S. 151–156; van Marwyck (2010), S. 205–230; Kollmann (2004), S. 126–151; Theisen (2004); Hinderer (2003). Auf eine Diskussion der Penthesilea wird jedoch auch aufgrund der Konzentration auf ein anderes Kleist-Stück, Das Käthchen von Heilbronn, verzichtet, weil dieses im Vergleich zu Penthesilea bis dato kaum als politisches, und erst recht nicht als Drama Beachtung gefunden hat, das um das Sujet weiblichen Heldentums kreist. Die Auswahl fußt also auf der Entscheidung, das weniger offensichtliche weibliche Heldinnenstück Kleists in den Mittelpunkt zu rücken.
Einführung: Der Ort des Helden im politischen Drama oder: „Wo ist der Tell?“
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Nun wird hier aber ein Mann in den Stand eines Nationalhelden erhoben, dessen politisches Bewusstsein und revolutionäre Energie genauer besehen fragwürdig erscheinen. So zeigt das Drama vornehmlich im ersten Teil einen Tell, der überaus naive Züge aufweist, was in signifikanter Weise dessen Unkenntnis oder auch unbedachte Ignoranz eines entscheidenden, vom Landvogt zur Autoritätsbeglaubigung eingeführten Dingsymbols, des Geßler-Huts, demonstriert. Zu dieser Naivität passt, dass der Text den Helden wiederholtermaßen als einfältigen ‚Mann der Tat‘ inszeniert (vgl. WT, V. 148, 442–445, 2300), dessen Handlungen einer affektiven Unmittelbarkeit folgen und dessen politisches Reflexionspotential wenig ausgeprägt erscheint. Auffällig ist zudem die ‚gestörte Sprache‘ des Helden: So selten er überhaupt das Wort ergreift, so häufig eignet seiner Rede ein sentenziöser, volksweisheitlicher Modus (vgl. WT, V. 139, 435, 437, 1514, 2300),5 was gewiss kaum Anlass dazu geben kann, Tell als strategisch vorgehenden politischen Rhetoriker zu beschreiben. Auch läuft das in der Forschung verschiedentlich beachtete privat-familiale Motiv,6 das mitunter für den im Tyrannenmord kulminierenden Alleingang Tells verantwortlich erklärt wird, einer rein politischen Grundierung der Tat mindestens zuwider. Ja mehr noch stellt sich mit Blick auf das gesamte Drama die Frage nach dem Sinn der Isolierung der TellHandlung vom revolutionären Geschehen – eine dramaturgische Auffälligkeit, die den politischen Impetus der Tell’schen Taten zu einer interpretatorischen Kernfrage werden lässt.7 Irritierend bleibt, dass sich in Schillers eidgenössischem Revolutionsdrama das nationale Einheitsbegehren an eine durchaus auch unreflektierte, die herrschenden politischen Notwendigkeiten bisweilen ignorierende Figur knüpft (vgl. WT, V. 2365–2366), die gleichwohl mit einer spontanen Handlungsenergie und Entschlossenheit ausgestattet ist. Tell ist, wie bereits angedeutet, nicht allein. Das deutsche Drama des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts präsentiert eine ganze Reihe von heroischen Figuren, die in brisanten politischen Umschlagsmomenten auf den Plan treten, sei es in Gestalt der Restauration einer alten Ordnung oder im Chaos der Konstitution einer neuen politischen Einheit. Der Befund, dass Goethe, Schiller und Kleist Szenen heldenhafter Agitation derart prominent in die textuell verhandelten
5 Vgl. Alt (2009/2), S. 581–583. 6 Vgl. Müller-Seidel (2009), S. 193; Koschorke (2003), S. 119; Alt (2009/2), S. 580; Kurz (2007), S. 288. 7 „Wie nämlich die private und die öffentliche Sache, moralische und politische Fragestellung, Tell-Handlung und Aufstand gegen die Vögte und ihre Festungen zusammengreifen, ist seit fast zwei Jahrhunderten die Crux jeder Interpretation, wenn sie nicht einfach in das Hurra auf den Stifter der helvetischen Freiheit einstimmt und ‚glückliche Symbiose‘ und ‚bruchlose‘ Verbindung konstatiert […].“ (Guthke (1994), S. 289) [Hervorhebung im Original].
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Einführung: Der Ort des Helden im politischen Drama oder: „Wo ist der Tell?“
Gemeinschaftsprojekte einschreiben, bildet die Grundlage für die in der vorliegenden Arbeit zu entwickelnde Interpretationsperspektive. Es wird argumentiert, dass eine systematische Betrachtung der im Drama um 1800 so präsenten heroischen Figurationen Zugang zu den in Szene gesetzten Prozessen politischer Konstitution gewährt. In diesem Sinne werden Held*innen als privilegierte, exponierte und symbolisch verdichtete Reflexionsfiguren der Logik politischer Gründung sowie machtpolitischer Dynamiken gelesen: Das Heroische dient der Arbeit als Schlüssel zu der im Untertitel geführten Analytik des Politischen. Die hier in Rede stehenden Held*innen werden einerseits in politisch prekären Situationen aktiv und wagen dabei immerhin das Außergewöhnliche, auch wenn sie es nicht immer erfolgreich vollbringen. Andererseits handelt es sich aber auch um Figuren, die wie Tell merkwürdig entrückt, ja außer sich sind und die sich keinesfalls eindeutig erkennbar von einem politischen Auftrag motiviert zeigen. Dies demonstriert die textübergreifend insistierende Frage nach deren Ort in den geschilderten politischen Konstellationen mit Nachdruck. Aus der skizzierten Doppelperspektive auf die/den sowohl tatkräftige/n als auch träumerisch-entrückte/n Heldin/Helden sei ein synoptischer Blick auf einige der zur Disposition stehenden dramatischen Figuren gerichtet und damit eine Annäherung an den Zusammenhang versucht, der im Haupttitel der Arbeit gefasst ist. Am Anfang der chronologischen Reihenfolge steht der freiheitsliebende Ritter Götz von Berlichingen, dessen heroisches Wundenmal, die eiserne Hand, als furchteinflößendes Epitheton im Titel von Goethes Schauspiel (1773) firmiert. Mit eiserner Handprothese und vom Wein beschwingt vermag er die Lokaldespoten in Angst und Schrecken zu versetzen. Auch Genua hat seinen eigenen politischen „Halbgott“ (VF, S. 323): Der „größte[ ] Mann“ (VF, S. 323) der Republik heißt Fiesko (1783) und, das gesteht auch sein Widersacher, der genuesische Kronprinz Gianettino Doria, nicht ohne Neid zu: „Dieser Mensch ist ein Magnet“ (VF, S. 324). Es folgt mit Goethes „große[m] […] Egmont“ (E, 464) (1788) ein charismatischer Graf, der seiner aristokratischen Herkunft und anhaltenden Königstreue zum Trotz, als erklärter Held der Niederländer unter der spanischen Besatzung im 16. Jahrhundert inszeniert wird. Kleist fügt dem bisher rein männlichen Heldenreigen eine auf den ersten Blick äußerst unscheinbare, wenn nicht sogar unzurechnungsfähig anmutende Bürgerstochter hinzu, die sich jedoch als Kaisertochter entpuppen wird. Über lange Strecken des Dramas bleibt dieses Käthchen von Heilbronn im Schatten des von ihr so glühend verehrten Pseudo-Helden Friedrich Wetter Graf vom Strahl. Dass aber die am Ende zur Katharina von Schwaben Ermächtigte sehr wohl besondere Fähigkeiten auszeichnen, demonstriert nicht zuletzt ihr Gang durchs Feuer, aus dem sie, umschirmt von einem Engel, unbeschadet hervorgeht. Kleists Prinz Friedrich von Homburg (1809/1810 verfasst, 1821 erschienen) widmet sich scheinbar offensichtlicher als das Käthchen (1810) dem Thema
Einführung: Der Ort des Helden im politischen Drama oder: „Wo ist der Tell?“
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politischen Heldentums: Durch einen militärischen Alleingang gerät der Prinz in einen Konflikt mit seinem Kurfürsten und hat dabei umgehend sämtliche Offiziere auf seiner Seite. Ja mehr noch: Das harte Vorgehen des Machthabers gegen Homburg nach dem Befehlsbruch initiiert eine groß angelegte Rebellion der militärischen Führungsriege. Dass die causa ‚Homburg‘ zur Herausforderung für die kurfürstliche Herrschaft wird, demonstriert das sich zur Gnome versteigende Mahnwort, das der Feldmarschall an die Adresse des Regenten richtet: „Jedwedes Heer liebt, weißt du, seinen Helden“ (PH, V. 1460). Auch das hier exemplarisch vorangestellte Mitglied des Held*innenensembles, Schillers Wilhelm Tell (1804), hat unverkennbar die Anlage zur heroischen Aktion. Das führt etwa seine spektakuläre Flucht aus den Fängen des despotischen Landvogts eindrucksvoll vor Augen. In dieser Szene werden dem inhaftierten Tell die Fesseln gelöst, da einzig ihm zugetraut wird, das Schiff des Machthabers sicher über den von einem Unwetter epischen Zuschnitts heimgesuchten Vierwaldstättersee zu steuern. In der Tat weiß Tell das Schiff zu steuern, und zwar direkt in Richtung eines in den See hineinragenden Felsenriffs, seine Armbrust stets im Auge behaltend. Kaum ist die Felsenplatte erreicht, ergreift der Held die Gelegenheit: „Jetzt schnell mein Schießzeug fassend, schwing ich selbst/ Hochspringend auf die Platte mich hinauf,/ Und mit gewaltgem Fußstoß hinter mich/ Schleudr’ ich das Schifflein in den Schlund der Wasser –“ (WT, V. 2264–2267) – ein mit bloßem Fußtritt versenktes ‚Schifflein‘. Egmont, Johanna, Prinz Friedrich oder auch Tell könnten nun ein Schiff nach dem anderen versenken – die Texte stellen beharrlich aus, dass nicht die heroische Tat allein den Helden macht, sondern dass es eines staunenden Publikums bedarf. Damit also jene das gemeinmenschliche Maß überbietenden Handlungen überhaupt als Heldentaten gelten können, ist eine entsprechende Rezeption von Nöten.8 Es ließe sich an dieser Stelle eine lange Liste derjenigen Zuschreibungen anführen, welche die genannten Figuren erfahren und die ihren Ruf als exzeptionelle Subjekte zum Ausdruck bringen – hier nur eine Auswahl der bewundernden Etikettierungen: Tell gilt als ein Mann, „[a]n dem sich Gottes Hand sichtbar verkündigt“ (WT, V. 2071) und dessen Taten dementsprechend als „Wunder Gottes“ (WT, V. 2206) gedeutet werden. Die folgenden Worte findet eine Ehefrau weniger für ihren Gatten Fiesko als vielmehr für Fiesko, den „Halbgott der Genueser“ (VF, S. 323): „Stolz und herrlich trat er daher, nicht anders, als wenn das durchlauchtige Genua auf seinen jungen Schultern sich wiegte; […] Wie verschlangen wir seine Blicke!“ (VF, S. 322). „Hoch! dem großen Egmont hoch! Und abermal hoch! Und abermal hoch!“ (E, S. 464) – diese von Soldaten und Bürgern ausgerufene
8 Vgl. Meyer/von den Hoff (2010), S. 12.
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Einführung: Der Ort des Helden im politischen Drama oder: „Wo ist der Tell?“
Huldigungsformel erklingt in der Eröffnungsszene von Goethes Schauspiel gleich sechs Mal. Dem impulsiven Homburg schließlich bescheinigt man ein „Heldenherz“ (PH, V. 1155). Hier wird deutlich, dass ohne den anerkennenden Blick der anderen niemand zum Helden bzw. zur Heldin wird – ein einfacher Umstand, der den engen Nexus zwischen Heros und politischer Gemeinschaft alludiert: Der Held bedarf eines Kollektivs, in dessen Mitte er agieren kann. Die ausgewählten Dramen führen in eindrucksvoller Weise vor, wie der Heldenstatus in einem kollektiven Zuschreibungsakt – nicht selten, wenn auch nicht immer akklamatorischen Zuschnitts – verliehen wird und jene Heroen daraufhin Einzug in das Repräsentationsregime einer Gemeinschaft halten. Die Heldentaten werden für die in Frage stehenden politischen Projekte als höchstgradig sinnstiftend reklamiert.9 Umso erstaunlicher mutet die bisweilen frappierende Politik- und Machtvergessenheit der fokussierten dramatischen Akteur*innen an, die sich eben nicht nur an Tells Beispiel aufzeigen lässt. Ihre Auftritte als beherzte politische ‚Menschen der Tat‘ werden dadurch konterkariert, dass sie sich bevorzugt in entrückten Vorstellungs- und Erfahrungswelten bewegen: Goethes, Schillers und Kleists Held*innen träumen, fantasieren, fanatisieren, prophezeihen, vagabundieren gedankenverloren, schlafen; ja sie bewegen sich – ganz besonders bei Kleist – schlimmstenfalls auf der Grenze zum Wahnsinn. So wird sich etwa Egmont der politischen Relevanz seines Todes, von der er zunächst überhaupt nicht überzeugt ist (vgl. E, S. 548), ausgerechnet in einem heroisch-verklärten Siegestraum unmittelbar vor seiner Hinrichtung ‚bewusst‘ (vgl. E, S. 549–551). Johannas heldenwürdigen, nationalen Befreiungsauftrag antizipiert der eigene Vater gleich zu Beginn des Stücks, indem er auf einen Traum rekurriert (vgl. JO, V. 112–132). Sie selbst gründet ihre Mission auf eine Erscheinung der Heiligen Jungfrau während einer nächtlich-idyllischen Schäferszene (vgl. JO, V. 1062–1110) sowie auf ein Zwiegespräch mit Gott höchstpersönlich (vgl. JO, V. 405–435), was zum Schluss des Dramas in einer von der Heldin imaginierten Himmelfahrt kulminiert (vgl. JO, V. 3536–3544). Schillers Nationalheldin zeigt außerdem deutlich fanatischobsessive Züge, die Kleist in der Figur der Penthesilea bis zum vollständigen Verlust des Bewusstseins in und nach einem Gewaltexzess zu steigern weiß. Auch ist der Somnambulismus des Kleist’schen Käthchens bestens bekannt, wobei als vielleicht noch exponierterer Traumwandler der Prinz von Homburg gelten kann. Und nicht zuletzt zeichnet sich ebenso Tell durch einen träumerischen Zug aus (vgl. WT, V. 1903–1904). Die zu betrachtenden Figuren handeln in weiten Teilen irrational bis gänzlich unbewusst. Sie laborieren an den Grenzen
9 In diesem Sinne stellt Dietmar Voss (2011) heraus: „Die heroischen Taten und Zwecke müssen […] einen gesellschaftlichen, kulturellen, einen emphatischen politischen Sinn haben – […]“ (S. 187).
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der Verbindlichkeit politischer Überzeugungen und insbesondere jenseits der kalten Stringenz wohlkalkulierter Machtpolitik. Die damit skizzierte und im Haupttitel der Studie abgebildete Parallelität von ‚Heldentat‘ und ‚Heldentraum‘ macht auf eine doppelsinnige Struktur des politischen Heroismus aufmerksam: Auf der einen Seite handelt es sich bei den zu fokussierenden Figuren um heroische Tatmenschen, die sich für das jeweils in Frage stehende politische Projekt verdient machen, ja die gar das Recht in ihre eigenen Hände nehmen, es mitunter radikal überschreiten10 und dabei eine Spielart heroischer Autorität ins Werk setzen. Auf der anderen Seite fällt die frappierende Machtvergessenheit und Irrationalität jener Heroen sowie ihre träumerische Distanz zu den politischen Ereignissen auf. Die Texte setzen die Verquickung der beiden Aspekte von Heldentat und Heldentraum in Szene, indem sie vorführen, wie die Taten einzelner mentaler Grenzgänger zu gesamtgesellschaftlich bedeutsamen und erinnerungswürdigen Konstitutionsakten stilisiert, ja mitunter erkennbar überhöht werden – Goethes, Schillers und Kleists geteiltes Zentralthema sind demzufolge Heroisierungsprozesse, nicht fulminante, individuell zurechenbare Heldentaten. Darin liegt der im Untertitel der Arbeit auf die Formel einer Analytik des Politischen gebrachte, theoretische Gehalt der Dramen. In Anbetracht des historischen Entstehungskontextes der ausgewählten Dramen kann es kaum erstaunen, dass die jeweiligen politischen Schauplätze von radikalen Krisen gezeichnet sind. Die vorliegende Studie folgt in der Verhältnisbestimmung von Literatur bzw. Kunst und Polit-Historie im ausgehenden 18. Jahrhundert der Perspektive Jean Starobinskis: Goethe, Schiller und Kleist reihen sich demnach mit ihren dramatischen Umbruchszenarien ein in die Linie der „Künstler von 1789“11, die „allemal Zeitgenossen der Revolution [sind], gleichgültig ob sie ihr Aufmerksamkeit schenken oder sie nicht beachten, ob sie sie bejahen oder verdammen.“12 Die über das ausgewählte Autorentrio demonstrierbare politische Dramatik um 1800 und die politische Gemengelage vor, während und nach der Französischen Revolution „klären einander gegenseitig auf; sie haben füreinander Indizienwert, selbst wenn sie, statt einander zu bestätigen, sich widersprechen.“13 Das bei Starobinski notierte enge Wechselverhältnis von Kunst und politischer Umbruchsituation untersuche ich anhand eines Text-Ensembles, das sich una voce in die Formel bzw. den Arbeitsbegriff 10 Vgl. zum Helden als einer „klassischen Figur der Transgression“ (S. 60) Haas (2010). So auch Kollmann (2004), S. 20–21. 11 Starobinski (1981), S. 18. 12 Starobinski (1981), S. 18. 13 Starobinski (1981), S. 17.
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des ‚politischen Held*innendramas um 1800‘ fassen lässt. Diesen schlage ich als neue gattungsgeschichtliche sowie -theoretische Beschreibungskategorie für ein im Verlauf der Arbeit zu konturierendes politisches Dramenprofil vor, das sich anhand der drei ausgewählten Autoren exponieren lässt.14 Meine Studie stellt dabei weniger die Frage, wie die Texte das Datum 1789 und die damit verbundenen politischen Dynamiken und Neuordnungen ‚direkt‘ kritisieren oder aber affirmieren. Auch geht es nicht darum zu rekonstruieren, ob die Textanordnungen den zeitgenössischen politischen Diskursen zuarbeiten oder gegen diese polemisieren. Vielmehr soll herausgearbeitet werden, dass die fokussierten Autoren eigenständige politische Grundsatzreflexionen vorlegen, die trotz einer signifikanten reflektorischen Distanz alles andere als ihrer Zeit enthoben sind. Die Texte werden eher als analytisch strukturierte, fiktionale Entwürfe über die politische Historie denn als konkrete Reflexe darauf verstanden. Es geht folglich ebenso um eine historische Situierung der Texte wie um eine am Begriff des ‚Politischen‘15 orientierte, theoretisch-systematische Analyse. Die Arbeit schließt in diesem Punkt an die literaturwissenschaftliche Forschung zum ‚Politischen‘ an, fokussiert aber mit den sinnlich-emotionalen Möglichkeitsbedingungen einen spezifischen Voraussetzungstyp von politischer Sinnbildung. Eine solche, in die Gattungsform des Dramas gefasste Analytik des Politischen verdichtet sich, so die Grundüberlegung, in spektakulären und gleichermaßen verstörend-vernichtenden heroischen Szenen: Im Zentrum der politischen Textkonstellationen stehen heldenhafte Akteur*innen, denen offenbar eine derartige Bedeutsamkeit zukommt, dass sie in allen genannten Fällen zu den Namensgeber*innen der Stücke avancieren. Es handelt sich um Bühnenanordnungen, welche die Entstehung politischer Hoffnungen, Ängste, Gefühle, Sehnsüchte usf. durchspielen, indem ein reflexives Potential des Heroischen mobilisiert wird. In diesem Sinne erfolgt eine Re-Lektüre der ausgewählten, zum größten Teil als kanonisch geltenden Dramen, die deren politische Sujets mittels heroischer Figurationen zu erhellen sucht. Dies erscheint auch deswegen reizvoll, weil eine auf die Figur des Helden bzw. der Heldin konzentrierte, den Zeitraum um 1800 kompilatorisch erfassende Studie bislang noch nicht vorliegt.16
14 Dieser Vorschlag wird im Kapitel II.1 entwickelt. 15 Vgl. grundlegend Koschorke u. a. (2007); Hebekus/Matala de Mazza/Koschorke (2003). Vgl. zur theoretisch-philosophischen Fundierung Vogl (1994). Vgl. dazu genauer das Teilkapitel I.1. 16 Die Aktualität des Themas belegt der zum Jahr 2012 an der Universität Freiburg eingerichtete, interdisziplinäre Sonderforschungsbereich Helden – Heroisierungen – Heroismen (vgl. https:// www.sfb948.uni-freiburg.de). Vgl. für Ansätze in der Forschung den Sammelband Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden: Immer/van Marwyck (2013) und das Merkur-Sonderheft Heldengedenken. Über das heroische Phantasma: Bohrer/Scheel
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In Form von heroischen Figurationen entfalten Goethe, Schiller und Kleist einerseits unterschiedlich gelagerte Kommentierungen zur Erosion des absolutistischen Herrschaftsmodells sowie des monarchischen Souveränitätsmonopols im ausgehenden 18. Jahrhundert; andererseits stehen die Probleme, aber auch die politischen Sehnsüchte auf dem Prüfstand, die mit den zeitgleich virulent werdenden Konzepten von Volkssouveränität und dem Nationalstaat verbunden sind. Zwischen diesen beiden Polen lavieren Egmont, Tell und Co., ohne indessen einem von beiden eindeutig zugeordnet werden zu können: Weder ist der Held ein entschiedener Verfechter oder wahlweise Gegner der ‚Sache des Volks‘, noch ist sein Verhältnis zu den taumelnden Herrscherfiguren eindimensional bestimmbar. Außer Frage steht indessen, dass die politische agency des Helden bzw. der Heldin als eine Art charismatischer Autorität ins Bild gesetzt wird. Es stellt eine zentrale These dieser Arbeit dar, dass es eine von Goethe und Schiller zu Kleist verlaufende deutsche Dramentradition gibt, die dieses Konzept sinngemäß in seinen Konstitutionsbedingungen, seinen politischen Erfolgsaussichten und schließlich auch in seinen kollektiv- und individualpsychologischen Abgründen zur Darstellung bringt. Im kombinatorischen Blick auf zeitgenössische Diskurse aus dem Bereich der empirischen Psychologie sowie auf die Debatte um den ‚großen Mann‘ im ausgehenden 18. Jahrhundert rekonstruiert die Studie eine literarische Vorgeschichte des Charisma-Konzepts im Held*innendrama. Die Konzentration auf diesen Zeitraum fußt darauf, dass die Idee charismatischer Autorität im Zuge der Überwindung des ancien régime zur bedeutsamen politischen Autoritätsform gerät.17 Während der Monarch im Zuge der revolutionären Krise seine Funktion als Einheit garantierende, politische Verkörperungsinstanz zunehmend einbüßt,18
(2009). Vgl. auch die Monographien Gepanzerte Empfindsamkeit. Helden in Frauengestalt um 1800 von Kollmann (2004) sowie Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800 von van Marwyck (2010), die Figurationen weiblichen Heroismus in den Blick nehmen. Vgl. ferner Plett (2002), die sich dem Phänomen des Heroismus im realistischen Erzählen ohne politischen Schwerpunkt zuwendet. 17 Vgl. Horn (2011a), S. 2. Vgl. auch Gamper/Kleeberg (2015), S. 7, die den Begriff des „‚großen Individuums‘“ (S. 7) ansetzen, sowie Gamper (2016), dem es, folgt man dem Titel seiner Monographie, scheinbar nur um ‚große Männer‘ geht, wobei er dem Phänomen weiblicher Größe ein ausführliches Kapitel widmet (vgl. S. 130–174). 18 Vgl. Leforts (1990) einschlägige These vom „Verschwinden des ‚Körpers des Königs‘“ (S. 259). Vgl. zur Diskurs- und Imaginationsgeschichte monarchischer Verkörperung grundlegend Kantorowicz (1990) [zuerst 1957]; Marin (2005) [zuerst 1981]; Apostolidès (1985, 1981); Burke (1993). Vgl. darüber hinaus Balke (2009a), S. 294–316; Koschorke u. a. (2007), bes. S. 103–218; Koschorke (2007b, 2007c). Vgl. Friedlands (2002) Studie Political Actors. Representative Bodies and Theatricality in the Age of the French Revolution, bes. S. 29–51. Vgl. überdies Haas’ (2010) wichtige
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verändert sich die Form souveräner Figuralität und Repräsentation grundlegend: Die Macht konzentriert sich nicht mehr auf den Einen, sondern verteilt sich auf viele.19 Welche begründungslogischen Strategien und Repräsentationstechniken der republikanische Körper20 bzw. der Volkssouverän bzw. die Nation fortan aktualisieren, ist von der Forschung beschrieben worden.21 Wenngleich diese ‚Macht der vielen‘ – sei sie theoretisch gefasst oder institutionell konkretisiert – seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zum dominanten politischen Dispositiv avanciert, spielen Formen singulärer, personaler Macht für die Imaginationsräume der europäischen politischen Moderne nach wie vor eine zentrale Rolle.22
Überlegungen zur Verknüpfung des heroischen Repräsentationsparadigmas mit dem souveränen (S. 59–61). 19 Vgl. zur aus der ungerahmten Pluralität des Volkssouveräns erwachsenden, repräsentationslogischen Problematik Lefort (1986): „The ancien régime was made up of an infinite number of small bodies which gave individuals their distinctive marks. And these small bodies fitted together within a great imaginary body for which the body of the king provided the model and the guarantee of its integrity.“ (S. 303) In der Folge, d. h. im Zuge der demokratischen Revolutionen seit dem 18. Jahrhundert lasse sich die groß angelegte Auflösung sozialer Korporalität beobachten, wobei es genau die „idea of number“ (S. 303) sei, die der Vorstellung gesellschaftlicher Substanzialität zuwider laufe: „Number breaks down unity, destroys identity.“ (S. 303) Lefort entwickelt daraus seine stark rezipierte These vom ‚leeren Ort der Macht‘ (vgl. S. 303). Vgl. dazu auch Horn (2011a), S. 2–3. 20 Vgl. zur Etablierung der republikanischen Souveränität über ein „‚Regime des Blicks‘“ (S. 223), das eine Entsakralisierung des königlichen Körpers bewirkt: Koschorke (2007a). Vgl. auch Balke (2001). 21 Vgl. Meyzaud (2012); Koschorke/Lüdemann (2007); Lüdemann (2004), bes. S. 200–205; Friedland (2002); Matala de Mazza (1999). Vgl. überdies zur Differenz von ‚Masse‘ und ‚Volk‘: Lüdemann/Hebekus (2010), S. 10; Lüdemann/Hebekus (2010); Gamper (2007). Vgl. Mosses (1976) Studie zur Nationalisierung der Massen und Grabbes/Köhlers/Wagner-Egelhaafs (2012) Sammelband Das Imaginäre der Nation, auch für weitere Literaturhinweise zur ‚Nation‘. 22 Vgl. folgende Forschungspositionen, die sich um eine Verhältnisbestimmung der Idee personaler Macht und den neuen politischen Konstellationen um 1800 bemühen: Koschorke (2007b) stellt heraus, dass es in den ideologischen Kämpfen der Französischen Revolution zwar eine entscheidende Rolle spiele, in einer rigiden Abgrenzungsgeste gegen den monarchischen Souverän jede Form von personaler Souveränität zu verdammen (vgl. S. 230). Allerdings wird zu Recht auch vermerkt, dass „die politischen Führer der postmonarchischen Welt an Praktiken royaler Repräsentation und Charismatisierung anknüpfen“ (S. 230). Vgl. mit einem anderen Akzent Horn, die das Verhältnis von Masse und ‚großem Mann‘ als „two strangely opposed and yet mutually indispensable images“ (S. 3) bezeichnet. Gamper/Kleeberg (2015) bemerken in ihrer etwas allgemeiner gehaltenen historischen Verortung, dass insbesondere die im Zuge der Französischen Revolution in Gang gesetzten „Umwälzungen […] die Sehnsucht nach einem ‚gewaltigen Individuum‘ als ordnungsstiftender Instanz“ (S. 7) geschürt hätten. Das Konzept der Größe sei als „Gegenpol zu den Effekten der Zersplitterung, der Vervielfältigung und Vermassung“ (S. 7),
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Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf den deutschen Diskurs über personale Größe, der sich am Ende des 18. Jahrhunderts verdichtet. Dass die dazu ausgewählten Textzeugnisse den ‚großen Mann‘ nicht mit dem Absolutheitsanspruch und im prachtvollen Gewand eines königlichen Herrschers auftreten lassen, liegt auf der Hand. Deutlich wichtiger als die legitimatorischen und inszenatorischen Differenzen zwischen Herrscher und großem Mann23 erweist sich die Pejorisierung des Helden gegenüber dem großen bzw. verdienstvollen Mann, die sich bei den Autoren Sulzer, Abbt und Hirschfeld nachvollziehen lässt: Größe firmiert hier als Konzept, das eine umfassende moralische Integrität24 und eine gesteigerte Intellektualität als Hauptcharakteristika des altruistischen, bewusst und bedacht handelnden, exzeptionellen Individuums fasst. Im Kontrast dazu polemisieren die Autoren gegen den politischen Helden, indem dieser als tatkräftig, ruhmorientiert und nicht zuletzt als affektgesteuert gekennzeichnet wird. Wesentlich daran ist, dass die Entstehung eines solchermaßen abqualifizierten Heldentums im Größe-Diskurs als Rezeptionsakt verstanden wird; der Heldenstatus hängt von einer ihn beobachtenden und für seine Taten rühmenden Gemeinschaft ab. Diese Überlegungen implizieren über eine moralische Diskreditierung des Helden hinaus eine analytische Betrachtung von Heroisierungsprozessen: Die bewundernde Zustimmung der Massen zum Helden und zu seinen einer gefühlsverstiegenen Unmittelbarkeit folgenden Taten birgt die Gefahr einer kollektiven affektiven Übersteigerung. Was Sulzer, Abbt und am deutlichsten Hirschfeld als negatives Zerrbild personaler Größe verwerfen, stellt das politische Held*innendrama um 1800 regelrecht aus. Die Texte gestalten eindrückliche Reflexionsszenen, die ebenso von einer besonderen Gefühlsdisposition des tatkräftigen Helden bzw. der Heldin Zeugnis ablegen, wie sie die korrespondierenden Heroisierungsprozesse als grundsätzlich emotionale und affektiv strukturierte Akte ins Bild setzen. Darin liegt ein wichtiger Überschneidungspunkt mit einer soziologischen Theorie des Charismas, wie sie am prominentesten Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts
als „Widerlager mithin zu den ‚vielen Kleinen‘ zu verstehen, die im Gefolge der Revolutionswirren die politische Bühne betraten“ (S. 7–8). 23 Die zeitgenössischen Konzepte politischer Größe verabschieden insbesondere Legitimationsmodelle dynastischer Kontinuität sowie religiöser Bevollmächtigung (vgl. dazu Gamper/Kleeberg (2015), S. 8). Vgl. zum Verhältnis von Königtum und Charisma ferner Geertz (1999) [zuerst 1985]. Vgl. auch Haas’ (2010) Hinweis, dass der Heroismus als „fester Topos in der Panegyrik des Souveräns“ (S. 59) gelten kann. Vgl. auch die Studie zur Verbindung von Heroismus und Königtum im antiken Griechenland von Mitchell (2013), bes. S. 57–90. 24 Gamper (2014) beschreibt das von Hirschfeld vertretene Größe-Konzept als Tugendheroismus (vgl. S. 19).
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vertreten hat,25 denn charismatische Herrschaft bezeichnet seit jeher ein an den Rändern des Rationalen laborierendes, auf Emotionen gerichtetes Machtprinzip.26 Goethes, Schillers und Kleists dramatische Versuche über den politischen Helden bzw. die politische Heldin macht die vorliegende Arbeit dementsprechend als Beiträge zu einer Theorie charismatischer Autorität geltend. Das meint jedoch nicht einfach, dass man bei den drei Autoren charismatische Held*innenfiguren im Weber’schen Verständnis findet. Die in Rede stehenden Dramen weisen vielmehr einen subtilen und über Weber hinausgehenden Theoriegehalt auf, der in den Lektüren herausgearbeitet wird. Zentral ist hierbei der eingangs skizzierte Abwesenheitstopos, mit dem sich eine Grundannahme der Weber’schen Konzeption merklich zuspitzt: Charisma lässt sich insofern kaum ohne die Instanz der Rezipient*innen denken, als das Konzept eine Herrschaftsbeziehung bezeichnet, deren Legitimität „auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“27 beruht. Der an dieser Stelle als ‚Hingabe‘ an eine besonders befähigte Ausnahmeerscheinung konturierte Grund charismatischer Autorität wird von Weber alternativ auch als Glaubensakt28 sowie als Resultat einer gefühlsgeleiteten Bewertung29 durch eine Gemeinschaft ausgewiesen. Genau diesen Punkt, dass nämlich Charisma in einem kollektiven – und sicher nicht rationalen – Rezeptionsvorgang entsteht, fasst das Held*innendrama um 1800 in eindrückliche dramatische Szenen. Die Texte gehen aber in ihrem analytischen Gehalt noch darüber hinaus, indem sie mithilfe des Abwesenheitstopos ungleich drastischer zur Geltung bringen, dass sich der Prozess der Charismatisierung oder Heroisierung geradewegs ins Imaginäre verselbstständigt. Einmal mehr gibt Wilhelm Tell ein signifikantes Beispiel für diesen Zusammenhang ab: So müssen die Eidgenossen ihren erklärten Revolutionshelden am Ende des Stücks ‚heimsuchen‘, um diesen endlich auch physisch in ihre Mitte nehmen zu können. Wenn der Held nicht da ist, d. h. nicht zum Volk kommt, kommt das Volk ganz einfach zum Helden. Deutlicher könnte der Text nicht ausstellen, dass Charisma hier nicht nur als Rezeptionsphänomen, sondern als Resultat einer entfesselten politischen Einbildungskraft präsentiert wird. Heroisierung muss demzufolge als ein Prozess verstanden werden, der vom individuellen Handeln oder auch Nicht-Handeln des Protagonisten losgelöst ist, 25 Vgl. Weber, WG, S. 453–454, bes. 490–497, 497–513, 533–542. Vgl. zum Verhältnis von Heldentum und Charisma auch die Bemerkungen von Kollmann (2004), S. 26–27. 26 Vgl. Horn (2011a), S. 2. 27 Weber, WG, S. 453. 28 Vgl. Weber, WG, S. 454. 29 Vgl. Weber, WG, S. 490, 492.
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ja eigendynamisch verläuft. Schillers Held schweigt dementsprechend natürlich auch in dieser freudigen Gemeinschaftsszene. Ob Tell nach dem geglückten Volksaufstand eine konkrete politische Funktion angetragen wird, ist nicht Thema des Schiller’schen Dramas und auch die übrigen Texte schildern keinen gelingenden Eintritt der Held*innen in die jeweiligen politischen Institutionen, sofern diese nicht wie Götz, Egmont und Johanna ohnehin sterben. Aus dieser Beobachtung ergibt sich ein weiterer Zusammenhang, der Goethes, Schillers und Kleists dramatische Analytik von Webers Charisma-Theorie unterscheidet. Sinngemäß reflektieren die Texte im Zuge dessen eine Annahme, die Weber als faktische Möglichkeit einer „Veralltäglichung des Charisma“30 diskutieren wird. Demzufolge bestehe charismatische Herrschaft „in idealtypischer Reinheit“ stets nur „ephemer“;31 soll sie andauern, müsse sie „ihren Charakter wesentlich ändern“32, was nichts anderes als eine Transformation zur traditionalen oder rationalen Herrschaftsform bedeute. Genau diesen Schritt aber machen die dramatischen Held*innen nicht. In keinem Fall findet sich ein politisches Szenario gestaltet, das von einer gelingenden Überführung charismatischer Autorität in die Weber’schen Alltagsformen der Herrschaft bzw. in eine institutionelle Stabilität Zeugnis ablegen würde. Die Texte verzeichnen geradewegs kontrastiv zu Weber die Unmöglichkeit einer systemischen Verankerung des Charismas. Die Schlusspassagen von Wilhelm Tell, Die Jungfrau von Orleans und besonders von Prinz Friedrich von Homburg bezeugen allerdings nachdrücklich einen Fortbestand des Charismas auf der Rezeptionsebene und konstatieren einen damit einhergehenden Verlust jedweder individuellen Handlungsmöglichkeit der Figuren. Wollte man die Held*innen porträtieren, so wie sie am jeweiligen Dramenende ‚dastehen‘, ergäbe sich die Reihe eines Sprachlosen (Tell), zweier Ohnmächtigen (Käthchen und Tell) und dreier Toten (Götz, Fiesko, Egmont, Johanna). In frappierender Einhelligkeit modellieren die Texte – mit Ausnahme von Fiesko – somit Schlussszenen erodierender heroischer Tatkraft bei gleichzeitiger Persistenz der von den Held*innen ausgehenden charismatischen Breitenwirkung. Mit Tell, Johanna und Prinz Friedrich ist auf symbolischer, auf imaginärer Ebene ganz sicher ein Staat zu machen; als politische Funktionsträger*innen taugen sie schlechterdings nicht. Im Gegensatz zu Webers Modell scheitert die Formatierung des Charismas im Sinne der politischen Systemlogik auf ganzer Linie. Theoretisch verzeichnet wird im Zuge dessen allen voran die imaginäre Produktivität des Charismas in der politischen Moderne.
30 Weber, WG, S. 497. 31 Weber, WG, S. 498. 32 Weber, WG, S. 498.
I Auf dem Weg ins Herz des Kabinetts Den Anlass für die Titelformel Auf dem Weg ins Herz des Kabinetts, welche die drei im Folgenden vorgestellten Kapitel verbindet, bildet eine signifikante paratextuelle Bemerkung Schillers: In der Vorrede zum Fiesko kokettiert er mit seiner vermeintlichen „politische[n] Schwäche“ (VF, S. 318), will sagen mit seiner mangelnden Vertrautheit mit einer gefühlsarmen politischen Welt und gibt an, seine Affinität zur „bürgerlichen Welt“ (VF, S. 318) habe ihn „mit dem Herzen bekannter als dem Kabinet“ (VF, S. 318) gemacht. Schiller inszeniert sich hier als Dramatiker, der im Zeichen einer bürgerlich attribuierten Emotionalität schreibt und der sich, so wird im weiteren Verlauf der Vorrede klar, aufgrund ebendieser Standortbestimmung als Autor eines ‚republikanischen Trauerspiels‘ vor ein handfestes, dramaturgisches Problem gestellt sieht: Wie kann man als erklärter Sympathisant einer ‚bürgerlichen Herzenswärme‘ über einen „politische[n] Helden“33 (VF, S. 317) schreiben? Warum das ein Problem ist, erklärt Schiller: „Wenn es wahr ist, daß nur Empfindung Empfindung weckt, so müßte, deucht mich, der politische Held in eben dem Grade kein Subjekt für die Bühne sein, in welchem er den Menschen hintenansetzen muß, um der politische Held zu sein.“34 (VF, S. 317) Nur ein empfindendes Bühnenpersonal ist dieser wirkungsästhetischen Bemerkung zufolge in der Lage, Empfindungen auf Seiten des Publikums auszulösen, ja besser noch die Zuschauer*innen mit einem ausgeglichenen emotionalen Haushalt aus dem Theater zu entlassen. Hier deutet sich ein Konzept an, das in Schillers dramenpoetischer Theorie ausführlich nachzulesen ist. Der Typus des politischen Helden ist für die dramatische Konzeption problematisch, wird dieser doch als genuin gefühllose Figur verstanden. Der damit eröffnete Gegensatz von Menschlichkeit und Politik kolportiert zusätzlich ein spezifisches Verständnis des Politischen, das auch in den weiteren Ausführungen deutlich wird: Der im Kern politische Fiesko-Stoff sei bestimmt durch eine „kalte, unfruchtbare Staatsaktion“ (VF, S. 318). Wie also für ein auf der Ebene des Gefühls zu adressierendes Publikum über die ‚kalten‘, machtpolitischen Verstrickungen eines Helden schreiben? Indem man den politischen plot emotionalisiert, oder mit Schillers Worten: „[A]ber die kalte, unfruchtbare Staatsaktion aus dem menschlichen Herzen herauszuspinnen, und eben dadurch an das menschliche Herz wieder anzuknüpfen, […], das stand bei mir.“35 (VF, S. 318) Schon hier deutet sich an, dass die Gegensatzbildung von ‚Herz‘ und ‚Kabinett‘ so klar nicht
33 Hervorhebung im Original. 34 Hervorhebung im Original. 35 Hervorhebung im Original. https://doi.org/10.1515/9783110660722-002
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ist, wie sie zu Beginn der Vorrede präsentiert wird. Auch der Dramentext liest sich mitnichten als bloß wirkungsästhetisch motivierte ‚Aufwärmung‘ einer ‚kalte Staatsaktion‘, sondern als eine konzise politische Analytik, die das Verschwörungsgeschehen von Beginn an als ein zutiefst affektives Spiel um die Macht in Szene setzt.36 Die vorliegende Studie fasst die in Schillers Vorrede und im Fiesko-Drama selbst verwirrte Gegensatzbildung von ‚Herz‘ und ‚Kabinett‘ als symptomatisch für das Held*innendrama des ausgehenden 18. Jahrhunderts auf und verfolgt die These, dass die Betrachtung Schillers, aber auch Goethes und Kleists Helden auf direktem Wege ‚ins Herz des Kabinetts‘ führt. Gewählt wird diese Formel, um auf den Begriff zu bringen, dass die fokussierten Texte besonders nachdrücklich auf die emotionalen Möglichkeitsbedingungen und Funktionsmechanismen politischer Formationsprozesse sowie Machtdynamiken aufmerksam machen. Die drei nachstehenden Großkapitel (II.1–3) verfolgen ein doppeltes Ziel: Erstens dienen sie der Rahmung und historischen Perspektivierung meiner Textlektüren anhand der Aspekte ‚politische Gattungsgeschichte respektive -theorie‘, ‚politische Antike‘ sowie ‚(politische) Psychologie‘. An diesen drei Perspektiven orientieren sich, so die Idee, die Drameninterpretationen, ohne dass letztere aber umstandslos oder vollständig darin aufgehen würden. Die Lektüren setzen denn auch, was die drei rahmenden Perspektiven betrifft, verschiedene Schwerpunkte so wie sie in unterschiedlicher Weise darüber hinausgehen. Die Konzeption sieht vor, dass die Textanalysen auch für sich genommen funktionieren, nicht zuletzt um Goethes, Schillers und Kleists politische Dramatik in ihrem je spezifischen theoretischen Gehalt zu exponieren. Daher enthält meine Arbeit auch keinen so deklarierten ‚theoretischen Vorspann‘, der in den Analysen abgerufen würde. Zweitens sind die in den drei rahmenden Kapiteln konsultierten Texte als eigenständige Beiträge zur mitunter ästhetischen, mitunter theoretischen Modellierung politischen Heldentums zu verstehen. Die diskutierten literarischen, poetologischen und philosophischen Textformate werfen ihrerseits ein je eigenes Licht auf den Nexus von Heroischem und Politischem in der Zeit um 1800. Um die allzu strikte Trennung von historisch verankerten gattungspoetologischen, philosophischen und psychologischen Diskursen einerseits und literarischen Texten andererseits von vorneherein zu vermeiden, sind interpretatorische Exkurse zu ausgewählten Dramentexten in die drei nachstehend entfalteten Perspektiven auf den Heroismus eingespeist.
36 Vgl. dazu meine Lektüre des Fiesko in Kapitel III.2, in dem ich genauer auf das Verhältnis von Vorrede und dramatischem Text zu sprechen komme.
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Um auf diesem Wege systematisch eine über das Heroische organisierte, politische Analytik herauszuarbeiten, widmet die Studie ihre Aufmerksamkeit auch den Paratexten37 der Dramen. Die interpretatorische Integration der Paratexte zielt darauf nachzuweisen, dass die Informationen, die etwa den jeweils relevanten Briefwechseln, Vorreden oder auch (Selbst-)Rezensionen zu entnehmen sind, die in den Texten entwickelten, ambivalenten politischen Konstellationen mitnichten in komplexitätsreduzierender Absicht rahmen, sondern selbstständige, und d. h. das Bild häufig noch verkomplizierende Beiträge dazu leisten. Recht ähnlich verhält es sich mit den dramentheoretischen Programmtexten und Traktaten: Hier werden keine die politischen Textszenarien entschlüsselnden Aussagen vermutet; stattdessen geht es darum, die subkutanen Implikationen, die Randbemerkungen und Zwischentöne, die versteckten Pointen und vielleicht die Polemiken der jeweiligen paratextuellen Artikulationen herauszufiltern, welche das Textverständnis vielleicht schwieriger, in erster Linie aber subtiler werden lassen können. Dies bringt es mit sich, die Autoren in ihren poetologischen statements nicht beim Wort zu nehmen und stellt möglicherweise einen von den Texten selbst aufgezeigten Ausweg aus einem scheinbar hermetischen Textfeld literarischen ‚Höhenkamms‘ dar. Erklärtes Ziel der Studie ist es vor diesem Hintergrund, die ausgewählten, überwiegend als kanonisch geltenden Dramen Goethes, Schillers und Kleists im Hinblick auf ihre politischen Sujets neu zu lesen. Die Relevanz des Themas ergibt sich auch aus der Forschungslage: Das Erkenntnisinteresse an einer über das Heroische organisierten Perspektive auf die Verhandlungen des Politischen im Drama um 1800 gründet auf der Beobachtung, dass der in der politischen Dramatik um 1800 hervortretende Zusammenhang von Politischem und Heroischem bisher bestenfalls marginale Aufmerksamkeit gefunden hat. Ohne Zweifel existiert eine Reihe von Beiträgen zum Politischen in der Literatur und auch im Drama um 1800 sowie zu einer politischen Autorschaft der hier in Rede stehenden Dramatiker. Wie sich die Fragestellung der vorliegenden Arbeit dazu verhält und welche theoretisch-methodische sowie historische Untersuchungsperspektive eingenommen wird, skizziert das folgende Kapitel.
37 Paratexte werden hier im Genette’schen (52014) Sinne als die den literarischen Text begleitenden „verbale[n] oder auch nicht-verbale[n] Produktionen wie […] Autornamen, […] Titel, […] Vorwort und Illustrationen“, d. h. als diejenigen Äußerungen verstanden, die einen Text „präsentieren: ihn präsent […] machen, und damit seine ‚Rezeption‘ […] ermöglichen“ (S. 9). [Hervorhebungen im Original.] Allerdings wird im Anschluss an die Forschung das bei Genette noch angesetzte Prinzip einer die paratextuelle Informationsvergabe steuernden Autorintention nicht geteilt. Vgl. dazu Dembeck (2007), S. 12–14.
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1 Verortung in der Forschung und theoretische Anmerkungen Wie bereits in der Einführung erwähnt, liegt keine umfassende Studie vor, die sich systematisch auf Figurationen politischen Heldentums im deutschen Drama um 1800 konzentriert.38 Zur Kategorie des ‚Politischen‘ hat sich indessen eine einschlägige, literaturwissenschaftliche Forschungslinie herausgebildet, die sich den theoretischen Fassungen sowie den literarisch-ästhetischen Entwürfen politischer Konstitution, aber auch konkreten Machtpraktiken zuwendet; der Zeitraum um 1800 bildet dabei einen Schwerpunkt.39 Als philosophische Grundlage firmiert in aller Regel die politische Theorie – überwiegend französischer Provenienz – der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.40 Im direkten Rekurs auf oder im theoretischen Geiste von Autoren wie Foucault, Gauchet, Lefort, Nancy oder 38 Hinzuweisen ist auf einige Einzelstudien. Vgl. Estarami (2005), der zwar die drei auch in dieser Arbeit zugrunde gelegten Autoren ins Visier nimmt, aber ihre Dramenfiguren als ‚Selbsthelfer‘ beschreibt und damit ihre politische Kontur unterschätzt. Vgl. die Arbeiten von van Marwyck (2010) und Kollmann (2002), die sich beide auf Figurationen weiblichen Heldentums kaprizieren. Vgl. Boykens (2014) Studie zu Männlichkeitsimaginationen im Drama Schillers; Immer (2008); Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen (2005). Kauffmanns (2008) Aufsatz „Größe der Leidenschaft. Zur Transformation des Heroischen in Dramen vom Sturm und Drang bis zum Fin de Siècle“ ist aufgrund seiner tragödientheoretischen Erörterungen lesenswert. Vgl. Jahraus’ (2005) Aufsatz „Held(inn)en der deutschen Klassik“, der sich Schillers und Kleists Heldinnnen zuwendet, aber kaum auf die politischen Signaturen ihrer Texte rekurriert. Letzteres trifft auch auf Detkens (2011) Lektüre heroisch-erhabener Sterbeszenen bei Schiller zu. Vgl. zu Goethes Torquato Tasso Haas (2010) mit wichtigen „Überlegungen zur Repräsentation von Heroismus und Souveränität“ (S. 49). Vgl. zu Kleist Gratzke (2011), S. 64–89. Vgl. mit anderen historischen Schwerpunkten und zudem ohne Fokus auf die dramatische Gattung Disselkamps (2002) Studie Barockheroismus. Konzeptionen ‚politischer‘ Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts; Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren im europäischen Mittelalter: Hammer/Seidl (2010); Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post-)Heroischen: Reiling/Rohde (2011); Der Held im Schützengraben. Führer, Massen und Medientechnik im Ersten Weltkrieg: Wagner/Baumgartner/Gamper (2014). 39 Vgl. die als Standardwerk firmierende Monographie Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas: Koschorke u. a. (2007). Vgl. Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik: Hebekus/Matala de Mazza/Koschorke (2003); Ästhetische Regime um 1800: Balke/Maye/Scholz (2009b). Vgl. weiter Balke (2009a); Lüdemann (2004); Matala de Mazza (1999). Vgl. zum Politischen der Masse: Meyzaud (2012); Lüdemann/Hebekus (2010); Vogl (2009), S. 220–225; Gamper (2007). Vgl. zur Klassischen Moderne: Hebekus/Stöckmann (2008). Vgl. ferner zur ‚politischen Zoologie‘ stellvertretend für zahlreiche Publikationen im Forschungsprojekt Theriotopien. Poetik und Politik der Tiere an der JMU Würzburg: Borgards (2016) sowie darüber hinaus Doll/Griem/Kohns (2016); Ortlieb/Ramponi/Willner (2015); von der Heiden/Vogl (2007). 40 Vgl. zur theoretisch-philosophischen Fundierung dieser Forschungsperspektive die Anthologie Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen: Vogl (1994). Vgl. für eine aktuelle Diskussion dieser theoretischen Positionen: Doll/Kohns (2014); Bröckling/Feustel (22010).
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Rancière nehmen die entsprechenden Forschungsbeiträge die imaginären41 sowie die ästhetischen42 Bedingungen politischer Formationsprozesse und Machtstrukturen in den Blick. Dabei geraten genuin künstlerische Formate, historische Texte vorwiegend philosophischer, soziologischer und religiöser Provenienz und die genannten Theorieentwürfe jüngeren Datums gleichermaßen in den Fokus. Worin diese literaturwissenschaftlichen Analysen zum Politischen trotz aller nicht zu übersehenden Divergenzen übereinkommen,43 lässt sich wie folgt resümieren: Im Zentrum steht das Bemühen, die Kontingenz, die Spontaneität und den prozessualen Charakter politischer Formationen herauszuarbeiten. Die Instituierung und die Erhaltung politischer Ordnungssysteme sowie die von ihnen ausgehenden machtpolitischen Dynamiken werden in ihren in- und exkludierenden Gesten beschrieben, ohne dabei auf ein Erklärungsprinzip zurückzugreifen, das vermeintlich existierende ‚soziale Tatsachen‘ teleologisch verknüpfen würde. Auch werden keine umstandslos zurechenbaren kollektiven oder individuellen Instanzen der Intentionalität für die Herausbildung sozialer Verhältnisse verantwortlich erklärt. Vielmehr wird von einer fundamentalen Differenzialität und Relationalität ausgegangen, die in politischen Formationsprozessen am Werk seien. In diesem Sinne seien hegemoniale Bestrebungen im Bereich der Politik als Entscheidungen im prinzipiell Unentscheidbaren zu verstehen, könne doch keine politische Strategie ihren Machtanspruch auf eine dem Moment der Entscheidung bzw. der Setzung vorgelagerte Intelligibilität oder Legitimität zurückführen. Als chaotische Gefüge werden die so konzeptualisierten Kollektive allerdings nicht betrachtet, da gleichzeitig ihr hartnäckiges Bestreben herausgestellt wird, sich mittels spezifischer Repräsentationstechniken – hier liegen die Einsatzpunkte für Analysen zur politischen Ästhetik – und in der doppelten Operation eines Ein- sowie Ausschlusses bestimmter diskursiver Elemente als ‚objektive‘, geschlossene Machtsysteme zu institutionalisieren. Wenn also ein Denken des Politischen auf der Annahme fußt, dass politische Körperschaften stets auf 41 Vgl. dazu Lüdemann (2004); Doll/Kohns (2014). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die politikwissenschaftliche Grundlagenschrift Imagined Communities (1983) von Benedict Anderson. Andersons Überlegungen zur Nationalismusforschung öffnen den analytischen Blick für die imaginativen Verfahren, auf denen die Bildung von Gemeinschaften beruht. Hier wird insbesondere das Konzept der ‚Nation‘ als kollektive Fiktion gefasst. Vgl. Anderson (2006) [zuerst 1983]. Vgl. zum Imaginären der Nation aus literaturwissenschaftlicher Perspektive: Grabbe/Köhler/ Wagner-Egelhaaf (2012). Vgl. ferner die philosophische Studie von Ernest Gellner (1983) und aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Hobsbawm/Ranger (1983). 42 Vgl. dazu jüngst Kohns (2016). 43 Der Hauptunterschied dürfte darin zu sehen sein, ob man sich stärker an historischen Diskursen oder an theoretischen Lektüren interessiert zeigt, wobei diese beiden Perspektiven in vielen Fällen in ein produktives Wechselverhältnis gesetzt werden.
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tönernen Füßen stehen, werden im Zuge dessen nicht ihre konkreten Machteffekte in Abrede gestellt. Der Terminus des Politischen dient aller resümierenden Verkürzung zum Trotz dazu, genau diese strukturellen Instabilitäten und spontanen Dynamiken in politischen Konstitutionsprozessen und Machtkonstellationen konzeptuell zu erfassen. Will man, so die analytische Perspektive, bestimmte politische Entscheidungen, soziale Bewegungen oder institutionelle Prozesse, ja will man die Funktionsweise von ‚Regierungskünsten‘ verstehen, so gilt es, zunächst das Politische, d. h. die nicht offen zu Tage liegenden diskursiven Möglichkeitsbedingungen, die begründungslogischen, die repräsentationalen und die imaginären Voraussetzungen jeder konkreten Politik zu fokussieren. Wenn das Politische in diesem Verständnis die „Logik der antagonistischen Instituierung gesellschaftlicher Systematizität“44 und mehr noch den „Kraft-Akt“45 bezeichnet, welcher der Politik als „bloßer Regierungskunst“46 vorausgeht, muss es einer Analytik des Politischen, wie sie im Untertitel dieser Arbeit angekündigt wird, darum gehen, die Einsatzbedingungen und Konstruktionsverfahren politischer Sinnbildungsprozesse zu erfassen. Die vorliegende Studie weiß sich diesen theoretisch-philosophischen Grundüberlegungen zum Politischen in mehr als einer Hinsicht verpflichtet und schließt in einem spezifischen Aspekt an die literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Politischen an: Mit der Konzentration auf heroische Figuren im deutschen Drama um 1800 gerät ein besonderer Voraussetzungstyp politischer Sinnbildung verdichtet in den Blick, und zwar deren sinnlich-emotionale Möglichkeitsbedingungen. Zentral ist dabei die in der Einführung am Textkorpus demonstrierte Grundbeobachtung, dass der Held bzw. die Heldin in den emphatischen politischen Konstitutionsszenen oder auch in den neuralgischen Momenten machtpolitischer Entscheidungen auf je unterschiedliche Weise abwesend ist. Dies bedeutet aber ganz und gar nicht, dass die heroischen Protagonist*innen mit den textuell verhandelten politischen Arrangements nichts zu tun hätten. Eine solche Auffassung stünde in frappierendem Widerspruch dazu, dass sämtliche der fokussierten Dramen ihre heldenhaften Figuren schon im Titel deutlich exponieren: So schreibt Schiller einen Wilhelm Tell, Goethe einen Götz von Berlichingen und Kleist ein Käthchen von Heilbronn. Anhand der Zentralstellung einer tatkräftigen, heroischen Einzelfigur, die gleichzeitig durch eine jeweils spezifische Art träumerischentrückter Depräsenz gekennzeichnet ist, richten die Dramen die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Held*in und Kollektiv. Diese als protocharismatische und
44 Marchart (1998), S. 104. 45 Hebekus/Matala de Mazza (2003), S. 9. 46 Hebekus/Matala de Mazza (2003), S. 8.
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damit als affektgesteuerte Prozesse konturierten Figurationen laufen parallel zu denjenigen Szenen, welche etwa einen mittelalterlichen Bauernkrieg (Götz von Berlichingen), eine Verschwörung (Fiesko), einen brandenburgischen Krieg (Prinz Friedrich von Homburg) oder auch einen Schweizer Bundesschluss (Wilhelm Tell) gestalten. Die am und mit dem Konzept des Politischen arbeitende, literaturwissenschaftliche Forschung zu den ausgewählten Dramen hat sich vorwiegend auf derartige Szenarien politischer Gründung, Neuordnung oder Restitution konzentriert und nicht zuletzt analysiert, wie solche ‚Feste‘ der Gemeinschaft möglich werden. Dabei wird herausgearbeitet, wie imaginative Verfahren, bildgebende Schemata und rhetorische Mechanismen als maßgebliche Begründungs- und Absicherungsstrategien politischer Kollektive fungieren. Diese Studien zeigen, wie das Abstraktum der politischen Gemeinschaft, der staatlichen Einheit oder nationalen Freiheit gerade nicht im Rekurs auf die politische Vernunft konkrete Form annimmt. Stattdessen gilt die Aufmerksamkeit den ästhetischen Verfahren sowie begründungslogischen Registern, die im Zuge der Konstitution oder Restitution des politisch-sozialen Raums fraglos eine maßgebliche Rolle spielen.47 Meine Arbeit zum Held*innendrama um 1800 zeigt, dass sich die skizzierten Konstitutionsprozesse und Machtdynamiken nicht nur in staatlichen Choreographien oder in bildgewaltigen, affektmobilisierenden Rhetoriken, sondern auch in heroischen Phantasmen verdichten. Goethes, Schillers und Kleists Held*innen bewegen sich an den Peripherien solcher ‚großer Szenen‘ des Politischen48 und stehen gleichzeitig in deren Zentrum. Zu untersuchen ist, wie Heroisierungsprozesse mit den jeweils in Frage stehenden politischen Projekten zusammenhängen, die in Form von ‚republikanischen Festen‘ oder auch in Gestalt pompöser absolutistischer 47 Vgl. exemplarisch die Tell-Interpretationen von Koschorke (2003) und Lüdemann (2007h), die sich auf den Bundesschluss konzentrieren. Die Funktion der Tell-Figur – genauer dessen auffällige Distanzierung von den politischen Veranstaltungen rund um das Brüderbund-Ereignis – sehen beide darin, die Gründungsgewalt, als die der Geßler-Mord gelten könne, auszulagern (vgl. Lüdemann (2007h), S. 317; Koschorke (2003), S. 115–122). Dabei wird meines Erachtens die im gesamten Verlauf des Dramas beobachtbare Heroisierung Tells nicht ausreichend in ihren politischen Konsequenzen erwogen. Ähnlich verhält es sich mit Vogels (2002) Analyse des Schiller’schen Rütli-Schwurs als ‚großer Szene‘ (vgl. S. 97–111). Auch Lüdemanns (2007f) Analyse zu Schillers Räubern widmet sich schwerpunktmäßig dem „Motiv des Brüderbunds“ (S. 299). Koschorkes (2006b) Lektüre der Johanna dagegen arbeitet den Zusammenhang von Staatsrettung und weiblicher Anomalie heraus und verweist in diesem Zuge auf Johannas charismatische Züge (vgl. S. 250). 48 Vgl. dazu grundlegend die Monographie Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der ‚großen Szene‘ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts: Vogel (2002). In ihrem Kapitel zum Festzug etwa untersucht Vogel den Auftritt von Schillers Johanna im Rahmen des Krönungszuges gegen Ende des Dramas (vgl. S. 115–121) und konstatiert einen textuell inszenierten Ausschluss der Heldin aus dem „grandiose[n] Gemeinschaftsereignis“ (S. 120).
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Restitutionsgesten ihr repräsentationales Beharrungsvermögen demonstrieren und ihre ästhetische Grundierung zu erkennen geben.49 Heroisierungsvorgänge werfen, so die Ausgangsüberlegung, ein eigenes Licht auf den im Kern ästhetischen und imaginären Grundzug politischer Unifikation. Die träumerisch-entrückte Depräsenz der Figuren verweist dabei auf zwei Punkte: Held*innen sind, folgt man den dramatischen Texten, erstens als Produkte eines politischen Imaginären zu verstehen und sie schaffen zweitens spezifische Imaginationsräume für Gemeinschaften. Meine Dramenanalysen können daher im Versuch, die Bedeutung der sich im politischen Drama um 1800 verdichtenden heroischen Figurationen systematisch und textübergreifend zu rekonstruieren, an die angeführten literaturwissenschaftlichen Studien zum politischen Imaginären und zur politischen Ästhetik anschließen. In ihrer Konzentration auf den figuralen Zuschnitt des politischen Helden bzw. der politischen Heldin möchte die Studie zusätzlich an die aktuelle Forschung zur Geschichte und Theorie dramatischer Formgebung anschließen. Verstärkt hat man sich in den letzten Jahren mit den gattungsspezifischen Verfahren und Anordnungen auseinandergesetzt, die aufgewandt werden, um Figuren im dramatischen Text oder auf der Bühne in Erscheinung treten zu lassen. Ein Schwerpunkt dieser Studien liegt auf dem Aspekt des dramatischen Auf- bzw. Abtrittes.50 Kennzeichnend für diese Ansätze ist ein Verständnis von ‚Figur‘, das deren ‚Bauweise‘, deren Inszenierungformen, aber auch die figurale Interaktion nicht für ‚psychologisch‘ dechiffrierbar hält, so dass man im Hinblick auf das Drama etwa von ‚Charakterstudien‘ sprechen könnte.51 Vielmehr werden die Figuren als maßgebliche Strukturierungsgrößen ästhetischer Formate untersucht. Auf- bzw. Abtritt gelten dabei im Kern als performative, „figurative Operation[en]“52, die über spezifische Modellierungen von Raum und Zeit aktualisiert werden.53 Auf dem Prüfstand steht die Figur als Zentralinstanz historisch divergierender, dramatischer Gattungspoetiken, verschiedener Kunst- und Medienformate, sozialer Auftrittspraxen sowie politischer
49 Vgl. dazu besonders das Kapitel „Das Imaginäre der Republik III: Die Feste“ von Lüdemann (2007e) in Koschorke u. a. (2007). Vgl. Vogel (2002), bes. S. 57–65. Vgl. Ozouf (1976); Graevenitz (1989). 50 Vgl. Bergmann/Tonger-Erk (2016); Vogel/Wild (2014); Matzke/Otto/Roselt (2013); Haas/Polaschegg (2012); Vogel (2012); Vogel (2011); Hansen-Löve u. a. (2009), darin bes. die Beiträge von Vogel, Neumann, Greber/Heitmann und Hahn; Vogel (2008); Vogel (2002). 51 Kretz (2012) weist auf den Konsens in der literaturwissenschaftlichen Dramenanalyse hin, den Begriff der Figur dem des Charakters oder der Person vorzuziehen. Vgl. dazu schon Pfister (112001), S. 221–222. Der Terminus ‚Figur‘ macht deutlich, „dass es sich […] nicht um eine psychische Entität, sondern um eine literarische Konstruktion“ (Kretz (2012), S. 105) handelt. 52 Vogel/Wild (2014), S. 9. 53 Vgl. Vogel/Wild (2014), S. 11, 13.
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„Zeremonialformen“54. Dieser analytische Horizont führt zu den Fragen nach den Bedingungen der Formwerdung (nicht nur) dramatischer Figuren und der von ihnen stimulierten Interaktionsformen, aber auch zur Frage nach den über bestimmte figurale Profile und Verkehrsformen in Szene gesetzten Inhalten. Meine Studie untersucht Goethes, Schillers und Kleists dramatische Held*innenfiguren in ihrem gattungsspezifischen Zuschnitt. Dabei geraten formale Konzepte wie Auf- und Abtritt, Figureninteraktion, Handlungsführung, Requisiten und Didaskalien ebenso in den Blick wie gattungsgeschichtlich zentrale, dramaturgische Bauprinzipien (Anagnorisis, deus ex machina etc.). Das darstellerische Repertoire der Gattung wird allerdings von den Autoren nicht einfach abgerufen und ggf. transformiert, um fest umrissene ‚heroische Charaktere‘ bzw. Figuren mit klaren Handlungszielen vor Augen zu stellen. Stattdessen gilt es zu zeigen, dass die Dramen die von ihnen mobilisierten Verfahren figuraler Formgebung regelrecht vorführen. Der Analysefokus bewegt sich damit fort „von scharf konturierten Figuren hin zu Vorgängen der Figuration […], um so Prozesse der Verfertigung“55 in der dramatischen Figurendarstellung beschreiben zu können.56 Der reflexive Impuls der hier betrachteten Texte besteht darin auszustellen, dass es Held*innenfiguren im Sinne stabiler respektive fixierter Gestalten nicht gibt; vielmehr hebt das deutsche Held*innendrama um 1800 auf einen grundlegenden Konstruktionscharakter heroischer Figürlichkeit ab. Kurz gesagt: Es wird gezeigt, wie man im politischen Kontext zum Helden bzw. zur Heldin wird, nicht was ein Held bzw. eine Heldin ist.57 In diesem Sinne formuliert Haas: „[D]er Held ist insofern und nur in dem Maße Held, wie er als Held dargestellt und gesehen wird.“58 Die Dramen nehmen eine solche Metaperspektive ein, wenn sie keine in emphatischem Sinne heroischen Figuren porträtieren, sondern „den Unterschied
54 Vogel/Wild (2014), S. 10. 55 Lande/Suter (2013), S. 10. Vgl. grundlegend Auerbach (1967). 56 Vgl. zum Verhältnis von Figur und Figuration: Müller Nielaba/Schumacher/Steier (2011); Boehm/Brandstetter/von Müller (2007); Onuki/Pekar (2006); Brandstetter/Peters (2002); Fohrmann (2004); Brandl-Risi/Ernst/Wagner (2001). Vgl. auch den Hinweis bei Balke (2009a), S. 10. Vgl. zudem Blumentraths (2014) Beschreibung des Prozesses von „Figuration und Defiguration“ (S. 28) bzw. die „Bindung der Figur an ihre Erzeugungspraktiken“ (S. 29), hier am Beispiel terroristischer Figurationen: „Was im Begriff der Figur zusammendrängt, ist […] das ‚plastische Gebilde‘ (figura), die Vorstellung einer Kontur, auch das Konzept personaler Einheit einerseits, die Anordnung der Worte und Zeichen, die Figurenlehre der Rhetorik andererseits. Dass damit gerade nicht auf zwei unverbundene Felder verwiesen ist, dass vielmehr die Kontur nicht ohne einen zeichenhaften Akt der Konturierung zu denken ist, haben etwa die Arbeiten zur rhetorischen Figur der Prosopopoiia, der Sprachfigur der Gesichtsverleihung, dezidiert herausgestellt“ (S. 28–29). 57 Vgl. dazu Haas (2010): „Das ‚Bild‘ des Helden kann nie die ‚Sache‘ Held sein.“ (S. 60). 58 Haas (2010), S. 64 [Hervorhebung im Original].
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zwischen Darstellung und Dargestelltem“59 in ihren heroischen Figurationen anzeigen und so nicht zuletzt als Szenarien figuraler De-Präsenz zu lesen sind. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Haupttitel meiner Studie nochmals präzisieren: Während der Aspekt der ‚Heldentat‘ ein handlungszentriertes, souveränes, heroisches Figurenprofil ankündigt, stellt die synchrone Rede von ‚Heldenträumen‘ diesem zwei Irritationsmomente zur Seite: Die textuell gestalteten Formen träumerischer Entrücktheit markieren in erster Instanz eine mentale Instabilität des Helden bzw. der Heldin, die allen voran gegen die Vorstellung gerichtet ist, die heroische Agitation erfolge bewusst, ja aus einer klaren politischen Intention heraus. Der figurale Zuschnitt von Tell, Fiesko oder auch Prinz Friedrich lässt keine glanzvollen großen Männer entstehen, die sich mit ihren Taten geplanterund entschiedenermaßen um Volk oder König verdient machen würden. Dementsprechend inszenieren sich die Figuren auch nicht eigens als heroische Gestalten. Aber nicht nur die Held*innen selbst sind mitunter traumversunkene Gestalten; auch die bewundernde Anhängerschaft verleiht ihren politischen Sehnsüchten und Hoffnungen in Form von ‚Heldenträumen‘ Ausdruck, setzt doch die Heroisierung in allen Fällen ganz unabhängig von einer kritischen Einschätzung der Heldentaten ein und nimmt ihren eigenen, gefühlsgeleiteten Lauf.60 Die skizzierte, besondere Figuralität des Helden bzw. der Heldin bildet den Kern der anvisierten Dramenlektüren. Im Sinne der neueren Studien zur Gattungsgeschichte und -theorie figuraler (De-)Präsenz kann es hierbei nicht darum gehen, die politische Relevanz jener heldenhaften Figuren herauszufiltern, indem man sie auf eine Art ‚psychologischer Konsistenz‘ hin befragt. Tell, Egmont oder auch Käthchen werden nicht als Figuren gezeichnet, die aus gutem Grund oder in erklärlicher Überreaktion oder aber in pathologischer Abweichung, in jedem Falle also aus einer entschlüsselbaren, zurechenbaren ‚personalen‘ Motivation heraus auftreten, sprechen, erfolgreich agieren oder eben scheitern würden. Die Dramen entwerfen vielmehr politische Reflexionsfiguren,61 die nicht als 59 Haas (2010), S. 61. 60 Dass die außergewöhnliche Tat und ihre konkreten Umstände für den Heroisierungsvorgang letztlich irrelevant sind, macht Robert Warshow (2002) in seiner Analyse zur Ästhetik des Western-Helden klar: „No matter what he [der Westerner] has done, he looks right“ (S. 116) [Hervorhebung im Original]. Vgl. für diesen Hinweis Haas (2010), S. 65. Vgl. auch die weiterführenden Überlegungen, die Haas (2010) zu dieser, aus seiner Sicht „vielleicht beste[n] HeroismusDefinition überhaupt“ (S. 65) anstellt. 61 Dass eine solche Abgrenzungsgeste ihren guten Grund hat, belegen nicht nur einige, in diese Richtung argumentierende Forschungsbeiträge zu den einzelnen Held*innendramen, auf die in den entsprechenden Lektürekapiteln eigens hingewiesen wird. Auch konstatieren insbesondere Überblicksdarstellungen und Lexikonartikel zum Konzept der dramatischen Figur einigermaßen einhellig eine fortschreitende Individualisierung sowie Psychologisierung, welche
2 Überblick über die Kapitel II.1–II.3
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plastische Idealfiguren oder als tatkräftige politische Hoffnungsträger*innen gezeigt oder präsentiert werden, sondern die etwas anderes zeigen: Goethes, Schillers und Kleists heroische Figurationen verweisen auf den Zusammenhang von Gemeinschaftsbildung und Emotionalität. So lässt sich eine dramatische Figurenkomposition, der es weder um eine psychologische Charakterisierung noch um eine figurale Stabilität ‚des heroischen Subjekts‘ geht, gleichermaßen an den die Held*innen umgebenden dramatischen Figuren aufzeigen. Die Dramen entwerfen einen Bühnenverkehr, der als subtile Analyse von jenseits der politischen Vernunft angesiedelten Heroisierungsprozessen lesbar ist. Der Heldenstatus wird keinesfalls aus guten Sachgründen verliehen, sondern fußt auf eigendynamischen, kollektiven Gefühlsströmen. In ihrer Konzentration auf heroische Figurationen kann die Arbeit somit an die einschlägigen literaturwissenschaftlichen Forschungen zu den ästhetischen und imaginären Konstitutionsverfahren des Politischen – und eben nicht zur Politik bzw. zum Politikverständnis – um 1800 in dezidiert dramenanalytischer Perspektive anknüpfen.
2 Überblick über die Kapitel II.1–II.3 Das erste Kapitel (II.1) entwickelt eine dezidiert dramenpoetologische Perspektive auf den Heroismus, die, so wird zu zeigen sein, alles andere als unpolitisch ist. Es hat zudem insofern eine rahmende Funktion für die Dramenlektüren, als eine die Figurendarstellung im Drama seit dem 18. Jahrhundert prägen würden. Heimböckel (2010) etwa skizziert eine gattungsspezifische Entwicklungstendenz, gemäß der zuerst bei Schlegel und spätestens mit Lessing, „der Charakter Sinnmitte des Dramas zu werden“ (S. 30) beginnt. Vgl. so auch Nünning (32004), S. 83. Gern wird dies im Kontrast zum dramatischen Personal des Barocks behauptet, wo man es mit exemplarischen Figuren im Sinne von Typen zu tun habe. Vgl. Asmuth (1997), S. 297. Vgl. dagegen Lande/Suter (2013), S. 18–20. Das „Aufkommen von mehr und mehr individualisierten Dramenfiguren seit dem Bürgerlichen Trauerspiel“ (Asmuth (1997), S. 298) stehe im Zeichen einer von aufklärerischen Grundsätzen inspirierten, emanzipatorisch ausgerichteten Dramentheorie, so etwa in Lessings Mitleidspoetik oder auch in Schillers Schaubühnenkonzept. Im Unterschied zum Roman, für den ein Paradigmenwechsel in der Figurenkonzeption im Hinblick auf den Individualitätsdiskurs des 18. Jahrhunderts beschrieben worden ist, weist Asmuth (1997) die „Genese und Geschichte der Individualisierung von Dramenfiguren“ (S. 298) als Forschungsdesiderat aus, das die vorliegende Studie nicht bedienen möchte, sondern kritisch in Augenschein nimmt. Indem Goethes, Schillers und Kleists Protagonist*innen als politische Reflexionsfiguren untersucht werden, wird ein analytischer und keinesfalls ein psychologisierender Grundzug des Dramas um 1800 herausgearbeitet, der sich besonders pointiert in der Figurenkonstruktion und in den figuralen Arrangements Ausdruck verschafft. Damit erweist sich der Begriff der Figuration als sinnvolles Analyseinstrument einer am dramatischen Text orientierten, historischen Gattungsanalyse.
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gattungsgeschichtliche Verortung des ausgewählten Korpus angestrebt wird. Ziel ist es, eine auf das Heroismus-Sujet konzentrierte Poetik, die von Goethes Frühdramatik über Schiller zu Kleist führt, als prägnante Phase einer politischen Gattungshistorie des deutschen Dramas zu exponieren. Die von mir vorgeschlagene Formel des ‚politischen Held*innendramas um 1800‘ fasst dieses noch näher zu charakterisierende Gattungsprofil unter einen Arbeitsbegriff, der im Feld konkurrierender dramengeschichtlicher Klassifikationen zu positionieren ist. Der Grund dafür, die Politizität der Gattung derart zentral zu stellen, liegt darin, dass man vornehmlich auf formal-ästhetische Beschreibungsversuche stößt, wenn man etwas über das Profil des deutschen Dramas ab der Mitte des 18. Jahrhunderts erfahren will. Nach wie vor dominiert in der literaturgeschichtlichen Forschung die Epochenformel einer ‚Weimarer‘ bzw. ‚deutschen Klassik‘, wobei aus diesem Blickwinkel natürlich nur Goethe und Schiller diskutiert werden und Kleist bestenfalls als die ‚Klassik‘ überbietendes enfant terrible aufgefasst wird. Das Konzept der ‚Weimarer Klassik‘ aber ist insofern problematisch, als es die Epochenspezifität in erster Linie auf eine von Goethe und Schiller geteilte literarische Ästhetik zurückführt. Letztere zeichne sich allen voran durch eine affirmative oder aber transformatorische Orientierung am antiken Kunstideal aus. Wo eine dioskurale Klassik als Epoche einer an der Antike geschulten Formversessenheit gedacht wird, werden indessen politische Konfigurationen bei Goethe und Schiller ausgeblendet oder geraten höchstens als autonomieästhetische Fluchtbewegungen in den Fokus. Wenn eine ‚politische Klassik‘ überhaupt in Rede steht, so kreisen die entsprechenden Forschungsbeiträge bevorzugt ex negativo um die Frage, wie man denn vom ‚Weimarer Elfenbeinturm‘ herab auf die Niederungen der zeitgenössischen Politik, v. a. auf die Französische Revolution, blicke – und dies ohne die Besonderheit der literarischen Gattungen in Rechnung zu stellen. Meine Studie schlägt einen anderen Weg ein, um Goethes und Schillers politische Autorschaft – auch in Überwindung der Grenzziehung zwischen ihren sogenannten Sturm und Drang-Dramen und einem klassischen Dramenformat – zu ergründen und mit derjenigen Kleists zusammenzuführen: Alle drei Autoren teilen eine politische Dramenpoetik, die in ihren heroischen Figurationen an eine im zeitgenössischen Gattungsdiskurs um das Drama zentrale Problemstellung anknüpft. Diesen gattungsgeschichtlichen Bezugspunkt bildet der Briefwechsel über das Trauerspiel (1755–1757). Insbesondere die dort geführte Kontroverse zwischen Lessing und Mendelssohn kreist wesentlich um den politischen Zuschnitt der dramatischen Gattung. Der Widerstreit entspinnt sich über die miteinander zusammenhängenden Aspekte der Wirkungsästhetik und der Figurenkonzeption. Während Mendelssohn einer Dramaturgie der Bewunderung und Nachahmung das Wort redet, die politisch hochstehende, heroische Figuren auf die Bühne bringt, geht es Lessing bekanntlich um eine von mitleidig-menschlichen
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Protagonisten getragene, emotionalistische Dramenästhetik. Beharrlich schreibt Lessing gegen ein am französischen Dramenklassizismus des 17. Jahrhunderts orientiertes, heroisches Figurenmodell an, das die ‚hohe Staatsaktion‘ als dramatisches Arrangement präferiert und eine auf Admiration zielende Wirkungsästhetik verfolgt, die Lessing als Muster einer frühaufklärerischen Dramatik Gottsched’scher Prägung identifiziert und verwirft. Der Disput konzentriert sich dergestalt auf das Problem einer heroischen Disposition der dramatischen Hauptfigur: „Fürsten und Helden“62 auf die Bühne zu stellen, so die auch gegen die Ständeklausel gerichtete Argumentation, verhindere geradewegs die von Lessing anvisierte gerührte Anteilnahme des Publikums am Geschehen. Im Zuge dessen wird aber auch der von „unempfindlichen Helden“63 bevölkerte „Staat“64 zum Sujet erklärt, das den Wirkungszielen einer empfindsamen, bürgerlichen Dramaturgie nicht gerecht zu werden vermag. Lessing und mit ihm das bürgerliche Trauerspiel gehen, so der common sense, aus diesem Widerstreit als Sieger hervor. So dominiert in der Forschung nach wie vor die These von einer mit der Entheroisierung des Personals verknüpften Entpolitisierung der dramatischen Gattung im bürgerlichen Trauerspiel. Ein empfindsamer Dramenheld agiere eben nicht in erster Linie bei Hofe, sondern bespiele genuin bürgerliche Schauplätze bzw. trete in privaten Sphären (Haus, Familie etc.) auf. Der politische Gehalt des bürgerlichen Trauerspiels wird im Zuge dessen marginalisiert, ja bestenfalls auf häufig im Vagen verbleibende Schlagworte wie ‚Standeskritik‘ oder ‚bürgerliche Emanzipation‘ gebracht. Ein solchermaßen verengtes Gattungsprofil des bürgerlichen Trauerspiels ist darüber hinaus vielerorts Grundlage von fragwürdigen gattungsspezifischen Epochenklassifikationen. So liest man von einer Repolitisierung des Dramas im Sturm und Drang, aber auch und anders in der sogenannten ‚deutschen Klassik‘. Abgesehen davon, dass in Übereinstimmung mit jüngeren Forschungsbeiträgen die politische Komplexität des bürgerlichen Trauerspiels hervorzuheben ist, werden kaum Erklärungen dafür angeboten, wie denn eine Repolitisierung im Drama Schillers und Goethes genau erfolge. Man konstatiert schlicht, dass Sturm und Drang sowie – besonders eine Schiller’sche – Klassik zur im französischen Klassizismus und im Barock vorgeprägten, hohen Staatsaktion zurückkehren würden. Meine Arbeit versucht demgegenüber zu zeigen, dass sich das deutsche Drama gerade in Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Trauerspiel als politische Gattung neu konfiguriert. Dies geschieht in Form einer Figurationsstrategie,
62 Lessing, HD, S. 251 (14. Stück). 63 Lessing/Mendelssohn/Nicolai, BT, S. 680 (Brief Lessing an Mendelssohn vom 28. November 1756). 64 Lessing, HD, S. 251 (14. Stück).
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die den im Briefwechsel über das Trauerspiel exponierten, wirkungsästhetischen Widerstreit zwischen Bewunderung und Mitleid analytisch überwindet. Die konträren Figurentypologien des menschlich-empfindsamen Helden einerseits und des heroischen, politischen Funktionsträgers andererseits werden miteinander verwoben, ja das Held*innendrama lebt gerade von einer Spannung zwischen Gefühl und Größe. Dieses Wirkungsprofil begründet, so meine These, den analytischen Grundzug des Held*innendramas, weil es erstens keine Bewunderung der Figuren evoziert, sondern die Genese politischer Bewunderungsprozesse zergliedernd vor Augen führt; zweitens weil es nicht auf die Mobilisierung von Gefühlen zielt, sondern die Entstehung und die Dynamiken politischer Emotionalität offen legt. Das dem entsprechende Figurationsverfahren fasse ich in der Formel (De-)Figurationen eines empfindsamen Heroismus zusammen. Im Rekurs auf den zeitgenössischen dramentheoretischen Diskurs exponieren meine Lektüren das politische Gattungsprofil des Held*innendramas somit vornehmlich auf der Ebene des Figurenbaus und -verkehrs, wobei dann weniger von ‚Bezügen‘ die Rede sein kann als von reflexiv gewendeten Resonanzen. Selbiges gilt für die Art und Weise, wie die ausgewählten Texte figurale Arrangements aus dem bürgerlichen Trauerspiel verarbeiten. So werden die für das Trauerspiel zentralen thematischen Aspekte von bürgerlicher Liebe, Freundschaft und Familie in die politischen Heldenszenen eingespeist. Meine Studie deutet die Beobachtung, dass das Private derart systematisch ins Politische eingetragen wird, als Bestandteil der dramatischen Analytik: Liebesplots sowie freundschaftliche und familiale Konfigurationen werden herangezogen, um die emotionale Verfasstheit der geschilderten Heroisierungsvorgänge transparent zu machen. So distanziert beispielsweise Goethe Egmonts und Clärchens zärtliche Liebe keineswegs von der politischen Handlung seines Trauerspiels. Vielmehr kann die Verknüpfung dieser Beziehungsgeschichte mit dem Heldendrama als vorgreifender Hinweis auf die These gelten, dass ‚Herz‘ und ‚Kabinett‘ im politischen Drama um 1800 systematisch miteinander verbunden werden, um die affektiven Bedingungen und Dynamiken des Politischen offen zu legen. Ein solches Gattungsprofil ist den dramenpoetischen Theorieeinlassungen eines oder gar aller drei Autoren nicht zu entnehmen; es kann aber autorenübergreifend aus den dramatischen Texten herausgearbeitet werden. Ich zeige dies im Kapitel II.1 exemplarisch anhand einer Analyse von Goethes Egmont (1788), die von Schillers Rezension des Trauerspiels ihren Ausgang nimmt. Wenn Schiller Goethes Text mit dem Vorwurf begegnet, das dargebotene „Heldengemälde“65 finde in wirkungsästhetischer Hinsicht nicht die rechte Balance zwischen
65 Schiller, ÜE, S. 929 [Hervorhebung im Original].
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Bewunderung und Mitgefühl, kritisiert er recht präzise das skizzierte Figurationsprinzip eines empfindsamen Heroismus, das sich im Egmont – und im Held*innendrama generell, was Schillers eigene Dramen einschließt, – zeigt. Ex negativo und epitextuell kondensiert bringt Schiller dergestalt die analytische Direktion des politischen Held*innendramas um 1800 auf den Begriff. Die dramengeschichtliche Perspektive auf den Heroismus, die im Zentrum dieses Kapitels steht, birgt schließlich eine weitere Pointe: Der Held ist nicht nur als politische, sondern auch als prägnante dramenpoetologische Reflexionsfigur zu lesen. Die Textanalysen können zeigen, dass das Held*innendrama, gerade wenn es darum geht, heroische Taten darzustellen, in großem Stil Verfahren aktualisiert, die das in den zeitgenössischen Gattungspoetiken festgelegte, dramatische Formrepertoire überschreiten. Die entsprechenden Szenen fügen sich ganz und gar nicht einer Differenzierung der literarischen Großgattungen, wie sie etwa Goethe und Schiller selbst in Über epische und dramatische Dichtung (1797) vornehmen. Dort wird das Drama in rezeptionsästhetischer Hinsicht als Gattung einer sinnlichen Plastizität bzw. Anschaulichkeit bestimmt, epische Texte hingegen als zur Kontemplation anregende Reflexionsformate konzeptualisiert. Dass die Texte ein solches Schema nicht bedienen, zeigt z. B. in prägnanter Weise Schillers Tell-Schauspiel, wenn dort größte darstellerische Mühen darauf verwendet werden, den Apfelschuss als Tat auszuweisen, die dem Augenzeugnis des dramatischen Ensembles entzogen bleibt – die aber nachträglich vor allem in narrativem Modus zur politischen Heldentat formatiert wird. Derartige Gattungstransgressionen demonstrieren eine metadramatische Textebene und damit auch den Umstand, dass eine über das Heroische organisierte Analytik des Politischen mit einer Gattungsreflexion einhergeht. Das zweite Zugangskapitel hängt insofern mit dem Versuch zusammen, das Profil des Held*innendramas aus einer Rekonstruktion der politischen Signatur des gattungsgeschichtlichen Diskurses heraus zu entwickeln, als dieses Profil nicht zuletzt über eine politische Antike erschrieben wird. Die Antike wird in der Forschung weitestgehend konsensual als zentrales ästhetisches Inhaltsund Formreservoire für die klassische, und, will man in dieser Diktion verbleiben, auch für die postklassische Dramenproduktion eines Kleist aufgefasst. Eine solche Betrachtung kapriziert sich auf die Bedeutung von Antikereferenzen sowohl für kunsttheoretische Diskurse als auch für die verschiedenen Künste und führt, wie ich in einer Forschungsdiskussion darlege, zielsicher davon weg, die politische Bedeutung der Antikeverhandlungen in der Literatur um 1800 auch nur zu erwägen. Meine Dramenlektüren zeigen, dass die Bezüge auf Elemente aus dem Gattungsdiskurs vor allem der griechischen Tragödie, aber auch die Verarbeitung eines antiken Bilderfundus signifikante Funktionen für die in den heroischen Figurationen verdichteten, politischen Reflexionen haben.
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Wenn in der vorliegenden Arbeit von einem antiken Heroismus die Rede ist, so wird dieser als ein Diskurshorizont verstanden, dem die ausgewählten Dramen in intertextuellen Konstellationen Form verleihen. Dies ist entscheidend, weil in der Heldenforschung die Auffassung kursiert, man könne sich auf ein kulturoder kunstgeschichtliches verbrieftes Referenzmodell ‚des antiken Helden‘ beziehen, das diesen als ungebrochene Ideal- und Vorbildfigur zu erkennen gebe und das im ausgehenden 18. Jahrhundert in den Dienst tröstlicher politischer Ganzheitsvisionen für die resignierten Zeitgenossen gestellt werde. ‚Der antike Held‘ wird aber ebenso wenig von Goethe, Schiller und Kleist auf der Schwelle zur politischen Moderne ‚dekonstruiert‘. Stattdessen argumentiert die vorliegende Studie, dass schon die Antike selbst Zeugnis von einem ambivalenten Figurenprofil ablegt, das den Helden als idealisierte politische Identifikationsgestalt einerseits und als Träumer, als mental Entrückten andererseits porträtiert. Die Dramenheld*innen werden demnach im Rekurs auf und nicht in Abgrenzung zu antiken Held*innenfigurationen modelliert. Karl von Moors Sehnsucht nach einer heroischen Antike verdeutlicht diesen Zusammenhang exemplarisch: Wenn sich Moor vor dem berüchtigten „Tintenklecksenden Sekulum“ (R, S. 30) ekelt und ihn im Kontrast dazu die Lektüre von Plutarchs „großen Menschen“ (R, S. 30) heroisch beflügelt, so richte ich an den für das Räuber-Schauspiel zentralen antiken Referenztext die Frage, welche Funktion er für das Figurenprofil des politischen Helden erfüllt. Der exemplarische Blick auf Plutarchs Theseus-Biographie soll zeigen, dass hier ein attischer Gründungsheld präsentiert wird, der nicht nur bar jeder politischen Strategie auf eine Heldenmission geht. Mehr noch verursacht er in einem fatalen Akt des Vergessens den Tod seines Vaters Aigeus und, politisch ungleich folgenschwerer, damit des amtierenden Herrschers von Athen. Indem ihm etwas entfällt, als vergesslicher Held initiiert Theseus eine Neuordnung der Polis. Theseus’ Vergessen kann als erstes Exempel für die schon bei Plutarch zu Tage tretende Janusköpfigkeit des politischen Helden gelten. Dies setzt sich in Karl von Moors Antike-Phantasien über ein betont körperliches, ein übersteigert männliches, ein dezidiert gewalttätiges Heldentum fort. In Schillers Drama wird die Antike sicher nicht als verheißungsvolles Motiv- und Formreservoir heroischer Vorbildlichkeit herangezogen, die man nostalgisch reaktivieren wollte. Dieser Befund lässt sich verallgemeinern: Wenn Goethe, Schiller und Kleist ihre Figuren im Geiste antiker Heroen agieren, denken, sprechen lassen, so setzen diese Auftritte keineswegs makellose, ideale Held*innen ins Bild, die sich als politische Überzeugungstäter*innen für die jeweilige Gemeinschaft verdient machen würden. Vielmehr sind diejenigen Textpassagen, die verstärkt auf einen Heroismus antiker Provenienz Bezug nehmen, oft die neuralgischen
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Punkte, die von der Fragilität und Kontingenz, aber auch von der Irrationalität politischer Held-Werdung zeugen. Ein plastisches Beispiel dafür liefert Schiller im Fiesko mit einem bildlich-szenischen Bezug auf die Ilias: In genau dem Moment, in dem sich Fiesko auf dem Höhepunkt seiner Heldenmission wähnt, nach dem vermeintlichen Tyrannenmord nämlich, zerstört das Drama die bereits als Achilleisch imaginierte Heldenaura seines Protagonisten im Handumdrehen bzw. durch das Umdrehen der Leiche seiner Frau (vgl. VF, S. 432). Der Held hat schlicht Gattin und Tyrannen verwechselt, was es ihm unmöglich macht, sich in die Achill-Pose zu begeben, d. h. sich heroisch selbst zu feiern, indem er mit dem toten Körper des politischen Gegners das genuesische Pflaster kehrt – Theseus vergisst und Fiesko verwechselt. Die Frage, wie sich die in meiner Arbeit entwickelte Forschungsperspektive auf eine politische Antike dramenanalytisch operationalisieren lässt, ist mit dem Verweis auf die konkrete Textarbeit zu beantworten. In Form von close readings möchte ich zeigen, dass die wohl platzierten Umschriften antiker Heldenmotive und die transformatorische Arbeit mit Darstellungsverfahren, die im Diskurs um die antike (griechische) Tragödie firmieren, einen wesentlichen Beitrag zu Goethes, Schillers und Kleists politischer Analytik leisten. Dass in diesem Zuge auch die Gattungsform in ihrer darstellerischen Souveränität auf den Prüfstand gerät, ist maßgeblicher Effekt einer Dramenpoetik, die in Figurationen einer heroischen Antike eine ästhetische mit einer politischen Grundsatzreflexion engführt. In übergeordneter Weise wird dabei das Wechselverhältnis zwischen Ästhetischem und Politischem thematisch. Dieser Zusammenhang wird in meinen Lektüren als dramenpoetologische Problemstellung erörtert. Allerdings wird der rein gattungszentrierte Untersuchungshorizont punktuell erweitert, indem ein Text ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird, der als beispielhafter Entwurf eines ‚reinen Ästhetischen‘ in der deutschen Kunsttheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts gelten kann. In Rede steht mit Karl Philipp Moritz’ Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) die Programmschrift der deutschen Autonomieästhetik – so der Tenor der Forschung. Meine Moritz-Lektüre soll dagegen zeigen, dass sich das Problem einer vom Ästhetischen ausgehenden Macht – und das bedeutet in kunsttheoretischer Terminologie: einer künstlerischen Wirkung – gerade dann stellt, wenn man bemüht ist, in produktionsästhetischer Emphase jedes Nach-außen-Treten der Kunst mindestens als zweitrangig auszuweisen. Moritz’ Abhandlung führt meine Untersuchung über die Gattungsgrenzen des Dramas hinaus und problematisiert das Verhältnis von Ästhetischem und Politischem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem abstrakteren Fokus auf einer großformatigen kunsttheoretischen Metareflexion. Signifikanterweise verdichtet sich die Fragestellung bei Moritz in einer der römischen Antike
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entstammenden Heldenszene.66 Ähnlich wie das Held*innendrama in Form von Reminiszenzen an einen antiken Heroismus gegen die Vorstellung einer unpolitischen Antike anschreibt, was mit zahlreichen diskreten bis radikalen Offensiven gegen die Tragödienkonventionen einhergeht, ereignet sich in Moritz’ Traktat in gleichnishafter Form ein veritables Attentat auf ein vermeintlich ‚reines‘ Ästhetisches. Der Attentäter Mutius Scaevola scheint als Vergleichsfigur zu fungieren, die das Kompetenzprofil des autonomen Künstler-Genies veranschaulichen soll. Die von Moritz nahegelegte Vergleichsstruktur geht jedoch meiner Lesart zufolge nicht in illustrativer Eindeutigkeit auf. Stattdessen führt die antike Heldenszene ein konstitutives Wechselverhältnis zwischen Ästhetischem und Politischem vor Augen, indem sie die Frage nach dem Einfluss bzw. der Macht der Kunst mit derjenigen nach einer Ästhetik politischer Macht verbindet. Das dritte Zugangskapitel führt schließlich auf dem direktesten Wege ins ‚Herz des Kabinetts‘. Unter dem Titel Politische (Un-)Sinne steht hier die Funktionsweise heroischer Autorität im Fokus. Die Instanz des Sinnlichen ist deswegen so zentral, weil die Autorität des Helden bzw. der Heldin als Macht der sowie als Macht über die Sinne und Emotionen modelliert wird. Die politische Dramatik um 1800 zeigt die Held*innen als stricto sensu sinnlich befähigte Wesen, die zu Höchstleistungen in der Lage sind: Goethes Götz hat trotz Handprothese das politische Händchen, Schillers Tell hat das Adlerauge, das einzig den Meisterschuss zu vollführen erlaubt, ja Kleists devotes Käthchen beweist in nahezu mimetischer Perfektion den Spürsinn eines Hundes, d. h. ein verblüffendes Näschen. Eine solchermaßen gesteigerte Sinnesbegabung und weiter eine mitunter massiv gesteigerte Gefühlsdisposition bestimmt das Figurenprofil der Held*innen; gleichfalls wird ihre politische Autorität genau darauf zurückgeführt. Die Texte demonstrieren, dass auch die jeweilige Anhängerschaft dem Helden bzw. der Heldin aus dezidiert emotionalen Gründen folgt. Held*innen appellieren, kurz gesagt, an die Herzen. Diese Fähigkeit zur heroischen Herzensführung wird in den betrachteten Texten jedoch nicht als bewusst ausagiertes Handlungsprinzip präsentiert. Mit Ausnahme von Fiesko sucht man nach einer ureigenen, politischen Agenda der Held*innen vergeblich oder aber man liest von einem frappierenden Chaos in ihren Köpfen, das jede Intentionalität konterkariert. Wenn die hier betrachteten Heldentaten weder auf kontemplativem noch auf instrumentellem Räsonnement fußen und die Dramenheld*innen auch nicht in voller Überzeugung und mit strategischem Geschick für die Gemeinschaft kämpfen, so stellt sich die Frage
66 Der Beitrag von Elisa Primavera-Lévy (2013) beschäftigt sich erstmals mit der Bedeutung dieser Heldenszene im Rahmen von Moritz’ Genieästhetik. Die hier entwickelte Deutung weicht mithin in einem signifikanten Punkt von Primavera-Lévys Interpretation ab. Vgl. Kapitel II.2.5.4.
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nach der Funktion eines derartigen Figurenzuschnitts im Rahmen der politischen Textarrangements. Denn noch über die skizzierte politische Bewusstlosigkeit hinaus erstatten die dramatischen Texte geradewegs vom ‚Unsinn‘ des Helden bzw. der Heldin Bericht. So werden die Figuren als ihres Realitätssinns verlustig bzw. als träumerisch-naiv, ohnmächtig und ent- oder verrückt gezeichnet, was allerdings ihrer Macht bemerkenswerterweise keinerlei nennenswerten Abbruch tut. Die Herzen der Gemeinschaft werden von Held*innen regiert, die ihrerseits mit verwirrtem Herzen agieren – sei es nun ein wortkarger, unbedachter Meisterschütze mit Adlerauge, ein naiver Ritter mit eiserner Handprothese und Schlagkraft, ein nachtwandlerischer Prinz oder aber ein ebenfalls somnambules, stalkendes Bürgermädchen. Ich möchte vorschlagen, den so inszenierten Heroismus als eine reflexive Figuration zu lesen. Indem die skizzierten sinnlichen Ausnahmebefähigungen in Goethes, Schillers und Kleists Figurenprofilen mit einer sich je unterschiedlich manifestierenden Konfusion oder Versehrung der Sinne einhergehen, wird den Szenen gelingender Heldentaten sowie den Darstellungen emphatischer Heldenbewunderung ein konterkarierendes Element zur Seite gestellt. Nicht nur entsteht in solchen dramatischen Entwürfen das Bild des Helden/der Heldin als eine zutiefst irrationale und gleichermaßen unpolitische Gestalt, sondern auch seine/ihre Rezeption, der Heroisierungsprozess, gerät auf diese Weise in den Fokus: Die Anhängerschaft kennzeichnet eine vergleichbare Widervernünftigkeit, wenn sie den Heldenstatus aufgrund von Taten verleihen, die schlechterdings nicht auf gute, politische Gründe zurückführbar sind. Heldentum und Heroisierung erweisen sich damit als gefühlsgeleitete Dynamiken respektive als auf der Ebene kollektiver Imagination angesiedelte Prozesse. Meine Studie argumentiert, dass ein derart textübergreifend nachvollziehbarer ‚Unsinn‘ des Helden bzw. der Heldin und auch seiner Anhänger*innen, der in der politischen Dramatik um 1800 textübergreifend verhandelt wird, auch im zeitgenössischen diskursiven Gefüge zu verorten ist. Goethes, Schillers und Kleists Dramen vernetzen, so der Grundgedanke diesen Kapitels, die Diskursfelder der Psychologie und der Politik miteinander. Mittels ihrer heroischen Figurationen schreiben die Texte die Funktionsdynamiken kollektiver Affektivität – bis hin zu deren exaltierten Verrücktheiten – in reflexivem Gestus aus und nehmen dabei unzweifelhaft auf die europäische Polit-Historie des ausgehenden 18. Jahrhunderts Bezug. In diesem Sinne hat Frevert am Beispiel Kleists darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem Status von Emotionalität um 1800 das durchaus neuartige Problem einer „emotionalen Politik“67 bzw. die Dimension „kollektive[r]
67 Frevert (2008/2009), S. 47.
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Emotionen“68 einbegreift, die sich im Zuge der revolutionären Überwindung des ancien régime in Frankreich, der Okkupation Preußens durch Napoleon und der anschließenden Befreiungskriege sowie der nationalstaatlichen Bestrebungen im Europa des frühen 19. Jahrhunderts Bahn brechen. Man wird nicht soweit gehen können zu behaupten, dass die Autoren ausgehend vom Phänomen des politischen Heroismus eine regelrechte dramatische Theorie des kollektiven Unbewussten oder gar der Masse vorlegen würden. Allerdings handelt es sich um literarische Explorationen in Richtung einer ebenso wirkmächtigen wie verworrenen Gefühlswelt. Die hier in Rede stehenden Texte spitzen diese Problemstellung auf die Figur des politischen Helden bzw. der politischen Heldin und dessen bzw. deren charismatischer Wirkung zu. Weil Charisma im Kern ein affektiv grundiertes Autoritätsprinzip meint,69 ist das Konzept geeignet, die skizzierte, außergewöhnliche sinnlich-emotionale Disposition der/des heroischen Einzelnen sowie die gesteigerte Emotionalität, mit der die entsprechende Anhängerschaft ihr/ihm folgt, zu beschreiben. Folgt man Webers (1919/1920) einschlägigem Theorieentwurf, so sind die charismatischen Bindungskräfte eindeutig auf der Ebene der Emotionen zu verorten. Als emphatische Beispiele für einen von jedweder ratio entkoppelten Ausnahmezustand des Charismatikers werden dementsprechend die „manische[n] Anfälle“70 eines tobsüchtigen „‚Berserkers‘“71 oder auch die „Ekstasen“72 eines Magiers genannt. Schon in der Einführung wurde das Ziel formuliert, das Held*innendrama als literarische Vorstudien zu einer Theorie charismatischer Machtwirkung zu exponieren. Dies geschieht im Kapitel II.3 aber nicht etwa im affirmativen Rekurs auf Webers Konzept, sondern indem zwei nachgerade konträre, im ausgehenden 18. Jahrhundert kursierende Subjektmodelle erarbeitet werden, die aus meiner Sicht im dramatischen Diskurs um den politischen Helden bzw. die politische Heldin präsent sind. Wenn eine wesentliche Gemeinsamkeit der fokussierten Dramenheld*innen darin besteht, dass sie als träumerische Unsinnige präsentiert werden, liegt es nahe, über die Subjektvorstellung nachzudenken, die einem solchen Figurenprofil zugrunde liegen könnte. Es handelt sich um Figuren, die ohne große Zugeständnisse dem erfahrungsseelenkundlichen Magazin entsprungen sein könnten und genau der damit angezeigten diskursiven Spur wird gefolgt. Um die Sinnlichkeit und Emotionalität der Held*innen im zeitgenössischen Diskurshorizont zu erhellen, rekonstruiert das Kapitel II.3 Johann Georg Sulzers Subjektkonzept, das 68 Frevert (2008/2009), S. 47. 69 Vgl. Horn (2011a), S. 2. 70 Weber, WG, S. 491. 71 Weber, WG, S. 491. 72 Weber, WG, S. 491.
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als philosophische Grundlegung einer empirischen Psychologie gelten kann, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts als Projekt der Erfahrungsseelenkunde konfiguriert. Sulzer konturiert ein Ich, das den eigenen Empfindungen und Gefühlen, seinen ‚dunklen‘ Seelenregionen v. a. in pragmatischer Hinsicht unterworfen ist und das kaum auf eine Regulation dieser sinnlichen Triebfedern durch den Verstand hoffen kann. Sulzers psychologischer Theorieentwurf ist, wie gesagt, als philosophisches Fundament der späteren Erfahrungsseelenkunde zu sehen, die seelische Abnormalitäten sowie regelrecht als psychische Defekte klassifizierte Fälle zu sammeln antritt – und die, so meine Überlegung, auch einen Tell, Homburg oder ein Käthchen listen könnte. Allerdings modelliert Sulzer nicht nur ein auf seine Empfindungen zurückgeworfenes Subjekt. Seine psychologischen und auch ästhetischen Schriften enthalten überdies Ansätze zu einer Machtpsychologie des Kollektivs, ja zu einer politischen Erfahrungsseelenkunde, die ebenso auf dem Primat des Sinnlichen gründet. Sulzers Psychologie der Empfindungen und der dunklen Vorstellungen stellt, so argumentiert das Kapitel II.3, den Hintergrund für die auch in seinem kunsttheoretischen Nachschlagewerk, der Allgemeinen Theorie der schönen Künste, rekurrent gestellte Frage nach der Struktur und Funktionsweise politischer Herrschaft dar. Diese Frage lässt sich anhand einer Figurenkonstellation veranschaulichen, die Sulzer selbst bemüht: Der erklärtermaßen nach aufklärerischen Idealen handelnde Regent vermag nur im Bund mit dem Künstler, der in erster Linie die Sinne seines Publikums adressiert, effektiv zu herrschen, während letzterer wiederum auf den eigentlichen Experten in Sachen ‚Sinnlichkeit‘, auf den philosophischen Psychologen angewiesen bleibt. Hier werden die Diskursfelder der Staatskunst, der Ästhetik und der Psychologie konzeptuell im Zeichen des Sinnlichen vernetzt. Wenn Sulzer allerdings für eine empfindsame Staatskunst plädiert, so werden kontinuierlich Vernunft- sowie Moralitätsprinzipien ins Feld geführt, die einem Übermaß des Sinnlichen vorbeugen sollen. Ein signifikantes Beispiel für eine solchermaßen gesteigerte, dezidiert politische Empfindsamkeit bildet Sulzer zufolge das Phänomen der Schwärmerei. An dieser Stelle taucht die Figur des Helden auf. Wenngleich die Frage nach einem politischen Heroismus keineswegs den Kern der Sulzer’schen Überlegungen bildet, kennzeichnen die entsprechenden Darlegungen in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste den Helden als eine politische Figur, die in höchstem Maße gefühlsgeleitet, einem Schwärmer gleich, agiert und die zudem ein Höchstmaß an emotionalem Zuspruch erfährt, d. h. die schwärmerische Gefühle auszulösen vermag. Damit können die Ansätze zu einer politischen Erfahrungsseelenkunde bei Sulzer als Brücke zu den in diesem Kapitel besprochenen Theorieentwürfen fungieren, die anhand der Kategorie des Verdienstes, der Größe und des Heroi-
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schen eine politische Subjektivität exzeptionellen Zuschnitts modellieren. Thomas Abbt und Christian Cay Lorenz Hirschfeld konturieren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Figuren wie ‚den verdienstvollen‘ bzw. ‚den großen Mann‘ und attestieren diesem eine Führungskompetenz, die zwar ebenfalls auf Sinnlichkeit beruht, die aber gleichzeitig durch moralische und rationale Grundsätze gerade vor schwärmerischen Entgleisungen gefeit ist. Meine Lektüren von Abbt und Hirschfeld zielen darauf zu zeigen, dass derart emphatische Figurentypologien von Größe und Verdienst mithilfe einer Abgrenzung gegenüber einem politischen Heldentum erschrieben werden. Der Held wird hier als ruhmversessener, kopfloser und hitziger Kriegsenthusiast diskreditiert, der nicht nur selbst permanent emotional aus dem Takt zu geraten droht, sondern der auch andere ‚anzustecken‘ vermag: Es entsteht das Bild eines potentiellen ‚Brandstifters‘, ja eines prekären politischen Akteurs, der seinen eigenen und den Gefühlshaushalt seiner Anhängerschaft exzessiv zu überspannen droht. Gleichsam zwischen den Zeilen ist hier fortlaufend vom abgründigen, sinnlichen Ausnahmezustand, vom Unsinn des/der politischen Helden/Heldin zu lesen – ein Unsinn, der sich eben zu übertragen vermag. Somit haben sowohl Sulzers psychologisches Subjektkonzept und seine politische Erfahrungsseelenkunde als auch die diskutierten Theorien des großen bzw. verdienstvollen Einzelnen einen analytischen Eigenwert hinsichtlich der Leitfrage nach einer über die Figur des Helden lesbaren Reflexion des Politischen. Gleichzeitig können Sulzers, Abbts und Hirschfelds Modellierungen des Ichs als diskursive Bezugspunkte für die Textlektüren fruchtbar gemacht werden: Das Held*innendrama entwirft Figuren, die im Sulzer’schen Verständnis nie Herr ihrer Sinne sind und die in ihrer gesteigerten Emotionalität genau das verkörpern, was Abbt und Hirschfeld als Kontrastfigur des großen bzw. verdienstvollen Mannes verwerfen: Götz, Tell und Homburg sind ‚nur‘ Helden, keine großen Männer. Große Frauen kennen diese Abhandlungen nicht; im Held*innendrama jedoch spitzt sich, wie meine Analyse von Kleists Käthchen von Heilbronn zeigen kann, genau das Problem zu, das Abbt und Hirschfeld dem Helden attestieren.73 Aus einem solchen Figurenprofil heraus entwickeln die Dramen politische Reflexionen charismatischer Autorität avant la lettre. Der Blick auf das im 18. Jahrhundert kursierende philosophische Schrifttum zum Phänomen personaler Macht demonstriert zusätzlich, dass es nicht der große Mann, sondern der Held ist, der Webers Berserker konzeptuell am nächsten kommt, ja der als Vorläufer des Charismatikers verstanden werden muss.
73 Vgl. das Kapitel „Weibliche Größe“ (S. 130–174) in Gampers (2016) Studie, die ‚den großen Mann‘ im Titel führt, aber hier eine Reihe von Dramenheldinnen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts diskutiert, u. a. Die Jungfrau von Orleans und Penthesilea.
II Drei grundlegende Perspektiven auf den Heroismus 1 Zum Gattungsprofil des politischen Held*innendramas um 1800 1.1 Politische Klassik? Und Kleist? Bemerkungen zur epochen- und gattungsgeschichtlichen Systematik Den Ausgangspunkt für die nachstehenden Überlegungen zur gattungsgeschichtlichen Bestimmung des ausgewählten Textkorpus sowie zu einer dramenpoetologischen Perspektive auf den Heroismus bildet der schlichte Befund, dass politische Held*innen im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert bevorzugt in der dramatischen Gattung thematisch werden;74 weder die Lyrik noch das Epos, auch nicht der Roman warten mit einer ähnlich beeindruckenden Vielzahl politischer Held*innenfiguren auf. Dass Goethe, Schiller und Kleist in frappierender Einhelligkeit Figurationen politischen Heldentums dramatisch gestalten, stellt allerdings mehr als eine die Autoren bloß thematisch verbindende Besonderheit dar. Die vorliegende Studie unternimmt daher den Versuch, eine um das Problem des Heroismus kreisende, analytische Dramentradition zu exponieren, die sich als prägnante Station einer politischen Gattungsgeschichte des Dramas beschreiben lässt. Die Formel des politischen Held*innendramas um 1800 ist daher als Vorschlag zu einem gattungsgeschichtlichen Arbeitsbegriff zu verstehen,75 der im Folgenden im Feld kursierender Klassifikationen und Terminologien zu positionieren ist. Goethe, Schiller und Kleist als gemeinsame Vertreter einer spezifisch politischen Ausprägung der deutschen Dramatik um 1800 zu untersuchen, mag die etablierten gattungs- und epochengeschichtlichen Systematisierungbemühungen irritieren. Es dominieren nach wie vor Forschungspositionen, welche die ‚klassische Zweieinigkeit‘ von Goethe und Schiller auch im Hinblick auf ihr dramatisches Œuvre nicht grundsätzlich in Frage stellen. Die einschlägigen
74 So auch Gamper/Kleeberg (2015), S. 11. 75 Für diesen Versuch, das ausgewählte Korpus aufgrund bestimmter formaler, thematischer und inhaltlicher Gemeinsamkeiten unter einem Gattungsbegriff zu versammeln, gilt, was auch für vergleichbare terminologische Fixierungen in der Literaturwissenschaft gilt: ihr heuristischer Status und ihre Reversibilität. Vgl. dazu Zymner (2003), S. 59. Vgl. weiter Kohns/Liebrand (2012); Zymner (2010); Lamping (2009), mit einer Auswahlbibliographie S. XXV–XXVI. Vgl. für eine kritische Perspektive auf gattungstypologische Festlegungen Friedrich (2009), bes. S. 11–36. https://doi.org/10.1515/9783110660722-003
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II Drei grundlegende Perspektiven auf den Heroismus
Überblicksdarstellungen rubrizieren an dieser Stelle bevorzugt mit dem eine ‚dioskurale Einheit‘ fixierenden Begriff des ‚Weimarer‘ bzw. des ‚deutschen‘, ‚klassischen Dramas‘.76 Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass das diesem Gattungsbegriff zugrunde liegende Epochenkonzept einer ‚Weimarer‘ oder ‚deutschen Klassik‘ aufgrund der damit verbundenen Vorstellung von epochaler Normativität zu Recht eine umfassende Kritik hervorgerufen hat.77 Die Probleme, die dieser Epochenbegriff in Bezug auf die Gattungsfrage mit sich bringt, seien an dieser Stelle kurz skizziert. Wenn von einer ‚Weimarer Dramatik‘ die Rede ist, so wird diese primär anhand von einheitlichen formal-ästhetischen Stilmerkmalen charakterisiert.78 Dabei werden nicht zuletzt die Rekurse auf ein antikes Form- und Motivrepertoires als maßgebliche Gestaltungsprinzipien der Texte aufgefasst und zudem die korrespondierenden dramenpoetologischen, aber auch die allgemeineren kunsttheoretischen Einlassungen der Autoren argumentativ herangezogen.79 Die Untersuchung der Dramen am Leitfaden eines solchen mitunter sicher auch transformatorisch verstandenen aemulatio-Paradigmas zeigt sich in erster Linie an einer spezifischen formalen Prägung der dramatischen Gattung bei den ‚Klassikern‘ Goethe und Schiller interessiert. Damit allerdings verengt sich der Blick auf ein reduziertes Korpus von Dramen-Texten der als Kernphase klassischer Schaffensproduktion bezeichneten Phase zwischen 1786 bis 1805,80 namentlich auf Iphigenie auf Tauris (1787), Torquato Tasso (1790), gelegentlich die Wallenstein-Trilogie (1798/1799), besonders aber Maria Stuart (1800) und Die Braut von Messina (1803).81 Kleist tritt 76 So Fischer-Lichte (1990), die den ersten Band ihrer Geschichte des Dramas mit dem Untertitel Von der Antike bis zur deutschen Klassik versieht. Der entsprechende Abschnitt zur ‚deutschen Klassik‘ sieht Goethes und Schillers Dramatik im Wesentlichen durch die Tradition eines im bürgerlichen Trauerspiel sowie im Sturm und Drang durchgespielten „[b]ürgerlichen Illusionstheaters“ (S. 249) bestimmt (vgl. weiter S. 318–355). Greiner (2012) variiert terminologisch, aber nicht inhaltlich, wenn er Goethes und Schillers Dramen als „Tragödie[n] der ‚Kunstperiode‘“ (S. 412) in seinem Großkapitel zur deutschsprachigen „Tragödie des bürgerlichen Subjekts“ (S. 287–539) verhandelt. Dort entfällt immerhin ein Kapitel dezidiert auf Kleist (vgl. S. 469–498). Weniger explizit auch Heimböckel (2010), S. 34–38. 77 So zuletzt Zumbusch (2011), S. 19–20. Vgl. Selbmanns instruktive Überblicksdarstellung (2005) mit Hinweisen auf die für die literaturwissenschaftliche Debatte einschlägigen Forschungsbeiträge (bes. S. 29–33). Zentral auch Lauer (2002). Eine anhaltende Tauglichkeit des Begriffs der ‚deutschen Klassik‘ konstatiert Greif (2008), S. 9–11. 78 Vgl. Meier (2008), S. 21–40. 79 Vgl. Meier (2008), S. 41–116. 80 Wahlweise wird das Epochenende auf das Jahr 1832 datiert, wenn nicht auf Grundlage von Schillers, sondern Goethes Tod datiert wird. 81 Meier (2008) bespricht in seiner Epochendarstellung aufgrund der vergleichenden Betrachtung von Klassik und Romantik zudem Die Jungfrau von Orleans (vgl. S. 277–282).
1 Zum Gattungsprofil des politischen Held*innendramas um 1800
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in derartigen Analysen vorwiegend als Autor auf, der die am antiken Ideal orientierten ‚Dramen-Klassiker‘ rezipiere, überschreite, ironisiere, persifliere oder auch parodiere.82 Eine solche Verhältnisbestimmung demonstriert beispielhaft die Diskussion um das Penthesilea-Trauerspiel, das einerseits als Entwurf einer Anti-Iphigenie beschrieben wird83 und andererseits hinsichtlich seiner Analogien zur Schiller’schen Johanna untersucht wird.84 Problematischer noch als die mit dem Konzept des ‚klassischen Dramas‘ verbundene Korpusreduktion sowie die Schwierigkeit, Kleists Texte dazu in einen komplexeren Zusammenhang zu stellen, erweist sich der Umstand, dass diejenigen Epochenbestimmungen, in denen die Antike als das maßgebliche ästhetische „Kommunikations- und Funktionsmodell“85 einer ‚klassischen‘ Dramenpoetik gilt, durchgängig eine dezidiert politische Signatur der Texte unberücksichtigt lassen.86 Mehr noch wird mitunter ein argumentativer Zusammenhang zwischen einer – auch über die Orientierung am antiken Paradigma hergeleiteten – autonomieästhetischen Formbetonung und einer programmatischen Distanzierung von politischen Inhalten hergestellt.87 Solche Einschätzungen implizieren keine Gattungsthese zum Drama, sind aber hier insofern zu berücksichtigen, als sie in den Epochencharakteristiken einer ‚Weimarer Klassik‘ mit zuverlässiger Sicherheit auftauchen. So heißt es etwa in Borchmeyers
82 Vgl. so zuletzt den von Frick (2014a) herausgegebenen Sammelband mit der „gewollt spannungsvolle[n]“ (Frick (2014b), S. 7) Titelformel Heinrich von Kleist. Neue Ansichten eines rebellischen Klassikers. Vgl. Jeßing (2013); Berns (1995); Frick (1995); Koopmann (1990); Mommsen (1979); Leber (1969). Vgl. kritisch zu einem bloß agonalen Verhältnis der Schiller’schen und der Kleist’schen Dramatik Benthien (2011), bes. S. 20–25. Vgl. ähnlich zum Verhältnis Schiller – Kleist Beil (2006). Vgl. die differenzierte Betrachtung von Martin (2014) „Beschreibung eines ‚Kampfes‘ – Kleist und die Weimarer Klassik“. 83 Vgl. Frick (2003b), S. 232–234; Gallas (1990); Kurdi (1996). Vgl. dagegen Wittkowski (1984). 84 Hinderer (2003); Stephan (2004); Nölle (1999); Prandi (1985). 85 Voßkamp (2009), S. 11. 86 Vgl. Zimmermann (2014); Jeßing (2006); Alt (2009/2, 2006), Schwinge (2006a, 2006b, 2003); Deiters (2005); Frick (2003a); Latacz (1997); Gallas (1990); Pütz (1984). 87 So schließt etwa Jeßing (2006) seine Lektüre zur Braut von Messina mit dem Hinweis, dass Schillers Experiment mit dem antiken Chor „eine durchgreifende Autonomsetzung des Literatursystems“ (S. 376) demonstriere. Weniger explizit, aber in laudatorischem Ton heißt es bei Frick (2003b) zur Dramenform der Braut: „Offenkundig geht es im letzten um die Inszenierung einer eigenwertig-autonomen Kunst-Welt von der grandiosen Selbstbezüglichkeit des radikalen ästhetisch-philosophischen Experiments. Darin nicht zuletzt erscheint Die Braut von Messina freilich typisch für die großen autonom-poetischen Versuchsanordnungen, wie sie Schillers konstruktives dramaturgisches Genie vom Wallenstein bis zum Demetrius im Jahresturnus liefert“ (S. 230). Vgl. anders Zumbuschs (2012a) dezidiert politische Lektüre der Braut von Messina (S. 205–229) sowie Rocks (2016c), S. 202–212.
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II Drei grundlegende Perspektiven auf den Heroismus
‚Standardwerk‘: „Der Standort der Weimarer Klassik ist ein – nicht nur in der gegenwärtigen politischen Konstellation, sondern in der Autonomie der Kunst überhaupt begründetes – metapolitisches Jenseits von Ancien Régime und Revolution.“88 Ähnlich konstatiert Voßkamp noch 2009: In der Autonomie-Vorstellung wird damit am Ende des 18. Jahrhunderts ein ästhetisches Prinzip entworfen, das soziale Funktionen über einen ‚Umweg‘ zu definieren versucht. Der politischen Revolution in Frankreich sollte ein ästhetisches Konzept in Deutschland entgegengestellt werden, das aufgrund seiner prinzipiellen ‚Funktionslosigkeit‘ politisch unangreifbar ist. Das Unbeflecktsein der Kunst durch Wirklichkeit sichert ihr ein Widerstandspotential gegen Geschichte und Politik.89
Es würde zu weit gehen, hier eine rigorose Reaktivierung des Topos einer ‚unpolitischen Klassik‘ am Werk zu sehen, der seit den 1970er und 1980er Jahren als wiederkehrender Aspekt in der Epochendebatte auftaucht.90 Allerdings betrachtet die skizzierte Forschungstradition eine „demonstrative[ ] Enthobenheit gegenüber allem Politischen“91 als schlechterdings konstititutiven Zug der ‚Weimarer Klassik‘. Texte wie die Ankündigung zur Zeitschrift Die Horen92 werden dabei als ‚Epoche machende‘, poetologische Zeugnisse für eine auch über den Antikerekurs gewährleistete Konzentration auf künstlerische Formprobleme gewertet, welche in einer programmatischen, autonomieästhetischen Flucht in den Elfenbeinturm kulminiere.93 Dies scheint mitunter auch als Einladung zu einer rein an formal-ästhetischen Gesichtspunkten orientierten Lektürepraxis zu fungieren, wobei die politischen Problemkonstellationen nicht nur der dramatischen Texte weitestgehend ausgeblendet werden. Allerdings bleiben die zitierten Einlassungen zu einer der Tagespolitik entsagenden autonomieästhetischen Programmatik in der neueren Klassik-Forschung nicht unwidersprochen. So sei die „Doktrin von der ‚Hochklassik‘“94 gerade insofern problematisch, als dadurch die Vorstellung kolportiert werde, es bestehe
88 Borchmeyer (1998), S. 255. 89 Voßkamp (2009), S. 17, vgl. auch S. 13–14. So auch Muschg (1972), S. 161. 90 Vgl. dazu den einschlägigen Band Grimm/Hermand (1971). Vgl. weiter in Auswahl: Borchmeyer (1978). Hier ist etwa von Goethes und Schillers „[ä]sthetische[r] Kooalition im Zeichen politischen Desengagements“ (S. 1) die Rede. Vgl. Mayer (1989), S. 299. Vgl. das die literaturgeschichtliche Diskussion zusammenfassende Kapitel bei Kost (2004), S. 125–128. 91 Lauer (2011), S. 258, allerdings in kritisch-konstatierender Absicht. 92 Vgl. Schiller, H, S. 1001–1005. 93 Lauer (2011) bezeichnet Schillers Ankündigung nicht ohne Augenzwinkern als selbststilisierendes „Gründungsdokument einer Klassik, die keine Politik kennen will“ (S. 257) und verweist auf Oellers’ (1999) Bestimmung des Textes als „Magna Charta der deutschen Klassik“ (S. 128). 94 G. Willems (2013), S. 55.
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ein innerer Zusammenhang von formversessener Kunstautonomie und zeitgeschichtlicher Distanzierung.95 Überdies ist die Annahme einer Konzentration auf die ästhetische Form bei den ‚deutschen Klassikern‘ wenig geeignet, eine komplexer verfahrende politische Autorschaft der Autoren zu registrieren, die andere Diskussionshorizonte eröffnet als etwa die nachgerade notorisch aufgeworfene Frage, wie es Goethe und/oder Schiller mit der Französischen Revolution hielten.96 Lauer beschreibt die Eindimensionalität dieser Forschungstendenz wie folgt: Es scheint kaum Zweifel an der demonstrativen Enthobenheit gegenüber allem Politischen im Umfeld der Weimarer Klassik geben zu können. Klassik und Politik, das reimt sich nicht zusammen. Die Forschung hat daraus die Konsequenz gezogen und die Weimarer Klassik als indirekte, damit verschobene Antwort auf die politischen Zeitläufe beschrieben und ihr letztlich eine reformkonservative Orientierung attestiert. Mit psychologischen Metaphern der ‚Verschiebung‘ und ‚Umlenkung‘ wird die klassische Autonomieästhetik als die bewusste Seite des politisch Unbewussten der Revolution gezeichnet, als Kompensation oder auch als Wiederherstellung der Einheit des Menschen durch ästhetische Erziehung. […] Die Geburt der Autonomieästhetik aus dem Geist der Revolution ist die Formel, die erklären soll, wie die ostentative Distanz der Weimarer Klassik mit den nicht zu übersehenden epochalen Umbrüchen in den Dingen der Politik zusammenstimmte.97
Die Französische Revolution stellt demnach teilweise ex negativo, teilweise aber auch in differenzierterer Auseinandersetzung den zentralen Bezugspunkt einer politischen Klassik-Forschung dar,98 die sich mit der Frage nach einem über das Datum 1789 hinausgehenden Zuschnitt einer politischen Klassik schwer zu tun scheint.99
95 „Zweifellos bezeichnet das Ringen um Autonomie […] eine grundlegende Tendenz in der Arbeit von Goethe und Schiller. Doch zeigt die große Zahl von Werken, die sich der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution verdanken und die diese Auseinandersetzung bald mit großer Direktheit und bald auf eine mehr indirekte Weise bezeugen, daß dies für sie keineswegs bedeutet, jederzeit gegenüber dem aktuellen Zeitgeschehen Distanz wahren zu müssen.“ (G. Willems (2013), S. 56). 96 Kost (2004) konstatiert zu Recht „eine Fixierung der Forschung auf die Rezeption der Französischen Revolution durch die Klassik“ (S. 126). 97 Lauer (2011), S. 258. 98 Zu diesen differenzierteren Untersuchungen zählen: Schings (2012) unter Einbeziehung Kleists; Wittkowski (1990); Lange (1989); Müller-Seidel (1974). Vgl. zu Goethe in Auswahl: Cape (1991); Reiss (1993), S. 272–290, S. 218–225; Roe (1987); Borchmeyer (1977); David (1974). In Goethes Fall werden dabei auch die frühen Dramen und Dramenfragmente betrachtet: vgl. Becker (2012), S. 177–303; Wilson (1996); Ehrlich (1990). Vgl. zu Schiller in Auswahl: Karthaus (1989); Koopmann (1989), S. 13–58; Johnston (1986); Kaiser (1974). 99 Vgl. zu diesem Problem den instruktiven Aufsatz von Lauer (2011).
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II Drei grundlegende Perspektiven auf den Heroismus
Natürlich existieren Forschungsbeiträge, die Goethe und Schiller als politische Autoren – über Kleist wird noch zu sprechen sein – untersuchen, ohne sich dabei auf ihr jeweiliges Verhältnis zur Französischen Revolution zu beschränken. Der nachstehende Überblick über die entsprechenden Forschungsdiskussionen nimmt auf zwei Besonderheiten Rücksicht: Erstens werden in die Überlegungen zu einer politischen Autorschaft insbesondere Goethes – bei Schiller liegt der Fall anders – selten gattungstheoretische sowie -geschichtliche Fragestellungen miteinbezogen. Daher muss auch eine im Grunde an der Gattungsfrage interessierte Darstellung des Forschungsstandes zunächst davon absehen. Zweitens demonstriert ein Blick in die Forschung, dass im Hinblick auf die politische Konstitution ihrer Texte kaum Verbindungslinien zwischen Goethe und Schiller gezogen werden, sieht man von den skizzierten Überlegungen zu einer ‚unpolitischen‘ ‚Weimarer‘ Autonomieästhetik ab. Daher geht die folgende Rekonstruktion der Forschungstendenzen autorenspezifisch vor.
1.2 Goethe, Schiller, Kleist. Und das Politische? – Tendenzen der Forschung Im Falle von Goethe ist auf diejenigen Studien aufmerksam zu machen, die es für geboten halten, dessen politische Autorschaft mit der Personalie ‚Goethe‘ zu verknüpfen. Monographietitel wie Goethe. Politik gegen den Zeitgeist, Der politische Goethe. Dichter und Staatsdiener im deutschen Spätabsolutismus, Goethe, der Pazifist. Zwischen Kriegsfurcht und Friedenshoffnung, Goethe als Staatsmann oder auch Das Genie und sein Fürst100 belegen das rege, in einigen Fällen aus politiksowie sozialwissenschaftlicher Perspektive gespeiste Interesse an Goethes beruflicher Biographie, die als nachgerade unverzichtbar für ein Verständnis des Themas ‚Goethe und die Politik‘ aufgefasst wird. Während die genannten Publikationen in teilweise kritischer Akzentuierung die Ämterlaufbahn und politische Tätigkeit am Hof Carl Augusts in einen Zusammenhang mit Goethes literarischem Œuvre stellen, können zwei zum Goethe-Jubiläumsjahr 1999 vorgelegte Arbeiten von W. Daniel Wilson als polemischer Kulminationspunkt dieser Debatte gelten.101 Dieser unternimmt eine groß angelegte und „gegen die seiner Überzeugung nach kritikscheue und letztlich auf Verklärung abzielende deutsche
100 Vgl. der Reihenfolge der genannten Titel nach Krippendorff (1999); Rothe (1998a, 1998b); Tümmler (1976); Sengle (1993). Vgl. darüber hinaus mit ähnlicher Stoßrichtung Craig (1995), S. 3–21; Müller (2009, 2007, 2005); Pollert (2004); Stammen (1999); Krippendorff (1998a, 1998b, 1988); Weinert (1991); Mommsen (1989). 101 Vgl. Wilson (1999a, 1999b). Vgl. auch die frühere Studie Wilson (1991).
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Forschung“102 gerichtete Aufarbeitung von Goethes Beteiligung an einer restriktiven, anti-liberalen Praxis im Weimarer Herzogtum. Zwar traut Wilson Goethes literarischen Texten eine subtilere und systemkritischere Auseinandersetzung mit politischen Fragestellungen zu, insistiert aber auch in späteren Publikationen auf einem aus seiner Sicht frappierenden Widerspruch zwischen Goethes vor allem literarisch artikuliertem „lofty ideal of ‚Humanität‘ and his illiberal political precepts“103. Man muss diese Debatte nicht weiter verfolgen,104 sondern kann kontrastiv zum hier anvisierten Fragehorizont festhalten, dass solchermaßen biographisch verfahrende Ansätze größtenteils darauf hinauslaufen, eine politische Etikettierung Goethes – vor allem diejenige als konservativer Sympathisant eines aufgeklärten Absolutismus105 – vorzunehmen, wobei seine literarischen Texte durchaus als widerständig dazu angesehen werden. Darüber hinaus sind eine Reihe von Arbeiten zu nennen, die sich mit Goethes literarischen Verhandlungen verschiedener Gemeinschaftsformen beschäftigen. Genauer geht es um die Konzepte des Volks106 und der Nation bzw. des Nationalstaats107, wobei in erster Linie die dramatischen Texte, v. a. Götz von Berlichingen und Egmont, ideen- und diskursgeschichtlich untersucht werden. Demgegenüber sind eine Reihe von Einzelstudien zu nennen, die sich im weitesten Sinne dem auch dieser Arbeit zugrunde liegenden Paradigma des Politischen verpflichtet zeigen, die aber die Gattungsfrage nicht in den Mittelpunkt rücken.108 Ein von
102 Vaget (2006), S. 335. Vgl. auch die identische Fassung Vaget (2005). 103 Wilson (2002), S. 215. 104 Eine Rekonstruktion leistet Vaget (2006). 105 Vgl. Wilson (2002), S. 213–214; Rothe (1998), S. 14–15, 63, 232. 106 Vgl. Beise (2010), S. 355–393; Bahr (2000); Fink (1990). 107 Vgl. Dainat (2013); Martus (2005); Lange (2000); Woesler (1999); Gille (1998a, 1998b); Reiss (1993), S. 143–187; Stauf (1991), S. 373–428. 108 Vgl. Koschorkes (2008) Beitrag zum Parzenlied in Goethes Iphigenie und Lange (1996) zu Götz von Berlichingen und Iphigenie. Vgl. zum Problem der Menschenwürde im Faust Weitin (2013). Vgl. Poetik des Kriegshelden im Erzähltext Campagne in Frankreich Haas (2013). Vgl. zu Hermann und Dorothea Payne (2012), S. 86–116. Vgl. zum Diskurs um eine deutsche Nationalliteratur sowie zum Modell einer deutschen Kulturnation in Goethes Polemik Literarischer Sansculottismus Pornschlegel (2004). Vgl. auch Pornschlegels (1994) Tasso-Lektüre (S. 101–115) zum Zusammenhang von ‚klassischer‘ Dichterautonomie bzw. -souveränität und fehlendem deutschen Nationalstaat sowie die Ausführungen zur politischen Kontur einer ‚deutschen Klassik‘ im „nicht einfach nur dialektische[n]“ (S. 123) Spannungsfeld „[z]wischen den Niederungen eines politischen Diesseits und den sogenannten metapolitischen Höhen [ ]eines dichterischdenkerischen Jenseits“ (S. 123, weiter 116–139). Vgl. auch diejenigen Forschungsbeiträge, die sich den politischen Implikationen verschiedener Goethe-Texte zuwenden, ohne dass sie sich in die hier vorgeschlagene Forschungsskizze fügen: Vgl. Alts (2008) Studie Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers, der Goethes und Schillers Dramen im recht weit verstandenen
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der Forschung besonders beachteter Text sind ohne Zweifel die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.109 Was Schillers politische Autorschaft betrifft, gestaltet sich die Diskussion komplexer. Erstens existiert im Vergleich zu Goethe eine weitaus umfangreichere Forschung zur Frage des Politischen. Diejenigen Studien, die sich darauf konzentrieren, sind jüngeren Datums und teilen das auch hier verfolgte Anliegen, insbesondere Schillers dramatische Texte als konzise Reflexionsmedien politischer Sinnbildungsprozesse zu untersuchen. Dabei werden die Texte als Formate exponiert, welche die zeitgenössische Polit-Historie – natürlich auch die Revolution in Frankreich – modellhaft bzw. experimentell auf den Prüfstand stellen.110 Diese Perspektive entwickelt die vorliegende Arbeit in ihrer Konzentration auf das Problem eines politischen Heroismus fort. Ein zweiter Forschungsschwerpunkt liegt auf Schillers Konzeptualisierung einer deutschen Kulturnation und seinem damit verbundenen Beitrag zur Debatte um eine deutsche Nationalliteratur.111 Hierbei gerät Schiller in erster Linie als Theoretiker in den analytischen Fokus.112 Die entsprechenden Beiträge zu Schillers ästhetischen und kulturphilosophischen Schriften kommen zwar auch auf die politischen Problemkonstellationen seiner literarischen Texte zu sprechen, ohne jedoch zwischen den politischen Rahmen verschiedener Problemkonstellationen einer beginnenden politischen Moderne untersucht. Vgl. zur Iphigenie Mandelartz (2011), S. 324–352; Reiss (1993), S. 188–203; Breithaupt (2000), S. 19–53. Vgl. zum Tasso Reiss (1993), S. 204–217. Vgl. zur Campagne in Frankreich und zur Belagerung von Mainz Reiss (1993), S. 226–271. Vgl. ferner Lamport (1974); Reiss (1994). 109 Vgl. dazu Auer (2015) mit Blick auf das Foucault’sche Gouvernementalitätsparadigma. Vgl. Zumbusch (2012a), S. 300–319 zur biopolitischen Grundierung der Novelle. Vgl. auch Zumbuschs Lektüren zum Wilhelm Meister, S. 270–299 und zu den Wahlverwandtschaften, S. 319–360. Vgl. zu Wilhelm Meisters Lehrjahren Schutjer (2001), S. 117–162. Vgl. die an Foucaults Arbeiten zur Technologie des Selbst und zur politischen Technologie der Individuen orientierte Lektüre der Lehrjahre und der Wanderjahre von Kinzel (2000), S. 193–344. Vgl. ohne Bezug auf das Politische, aber zum politischen Gehalt der Unterhaltungen Valk (2007); Schrader (2003); Reinhardt (2002); Gaier (1987); Witte (1984); Bräutigam (1977). 110 Vgl. exemplarisch Lüdemanns Lektüren zum Motiv des Brüderbundes in Schillers Räubern (2007f) und im Wilhelm Tell (2007h). Vgl. Koschorke zur Jungfrau von Orleans (2006) und zum Wilhelm Tell (2003). Vgl. zum Tell auch Vogel (2002), S. 97–111 und zum Don Carlos Vogel (2012). Vgl. Hahn (2008) zur Funktion der Verschwörung bei Schiller und Kleist. Vgl. zu Schiller als einem „Denker des Politischen“ (S. 241) Hartle (2009). Vgl. Zumbusch (2012a), die Schillers dramatisches und Goethes episches Œuvre fokussiert. Vgl. auch den system- und medientheoretischen Beitrag zu Schillers Dramatik von Werber (1996). 111 Die Goethe-Forschung hat sich dieser Frage nur selten zugewandt. Vgl. Pornschlegel (2004). Vgl. zum Xenien-Projekt Alt (2009/2), S. 329–344; von Ammon (2005). 112 Schiller als Autor darzustellen, der seine poetologischen und kulturphilosophischen Überlegungen in theoretischen Schriften bündele, geht nicht selten mit dem Hinweis auf Goethes Verzicht auf groß angelegte theoretische Reflexionen einher. Vgl. z. B. Alt (2008), S. 35.
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Direktionen der Theorieformate und der literarischen Texte zu differenzieren. Damit ist meines Erachtens ein besonderes Problem der Schiller-Forschung verbunden, das nachstehend skizziert wird. Die kulturpolitische Agenda der Schiller’schen kunsttheoretischen Schriften bzw. die darin vollzogene, systematische Verschränkung von Ästhetik und Politik arbeitet Alt in einer Reihe von Beiträgen heraus.113 Er kennzeichnet diesen Zusammenhang – in Abgrenzung zu älteren Forschungsbeiträgen114 – als eine Denkbewegung, die sich ausgehend von einer eindringlichen Gegenwartskritik hin zu einem ästhetischen Idealismus entwickele: Einerseits gehe es Schiller um die analytische Durchdringung einer korrumpierten, von machtpolitischem Kalkül und von instrumentellem Vernunftgebrauch bestimmten politischen Welt, die dieser andererseits mit den übergeordneten Ideen bzw. Idealen von Freiheit, Gleichheit, Autonomie etc. konfrontiere.115 Dieser Kontrast zwischen einem kalt kalkulierenden Staats-Pragmatismus und einem politischen Idealismus führe jedoch bei Schiller mitnichten zu einem welt- und politikfremden „Rückzug in den Elfenbeinturm der Autonomieästhetik“116, sondern zu einer groß angelegten, wenngleich aus Alts Sicht gut versteckten ästhetischen Offensive gegen eine morastige Politik.117 Schiller formuliere in seinen ästhetischen Schriften ein „kompakte[s] Kunstprogramm[ ] […], das auf eine heimliche Synthese von ästhetischer und gesellschaftlicher Praxis“118 ziele. Politik werde also nur vordergründig programmatisch ausgeklammert, da sie im Kontext ästhetischer Erfahrung, in der Konzeption des ‚ästhetischen Staats‘ wieder auftauche.119 Ob der ‚ästhetische Staat‘ derart subkutan in der Argumentationsstrategie der Ästhetischen Briefe lanciert wird, darf bezweifelt werden. Die Kunst jedenfalls, darauf kommt es Alt an, diene Schiller somit „nicht als Exil des enttäuschten Zeitkritikers, sondern als Erprobungsraum gesellschaftlicher Autonomie“120.
113 Vgl. die z. T. ähnlichen Beiträge Alt (2002a, 2002b, 2002c, 2007); Alt (2009/2), S. 129–153. 114 Sokel (1990); von Wiese (31963); Riecke-Nikleski (1986). 115 Vgl. Alt (2002b), S. 103–104. Die Überzeugung, dass sich über diese Gegensatzkonstruktion Schillers dramatisches Werk interpretatorisch aufschließe, demonstrieren die programmatischen Titel bei Guthke (1994) Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis sowie bei Feger (2006) Friedrich Schiller. Die Realität des Idealisten. Vgl. ferner Manger (2006). 116 Alt (2002b), S. 109. 117 Vgl. auch die unter der Rubrik „Schillers politische Helden“ versammelten Aufsätze in Aurnhammer u. a. (1990). Manger (1990) attestiert Schillers politischen Dramenheld*innen in seiner Sektionseinführung, gleichwohl ohne Rekurs auf die kulturphilosophischen und ästhetischen Schriften, in diesem Sinne einen grundsätzlich machtkritischen Zuschnitt (vgl. S. 301–306). 118 Alt (2002b), S. 117. 119 Vgl. Alt (2002b), S. 116–118. 120 Alt (2002b), S. 118.
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Alts „Überlegungen zu Schillers „‚nationalem‘ Kulturprogramm“121 beschreiben die politische Grundierung der Schiller’schen Kunsttheorie präzise. Problematisch ist allerdings eine daran orientierte Deutung der literarischen Texte, wie sie bei Alt mitunter auch nachzulesen ist.122 So ziele die Vorstellung einer in der Kunst erfahrbaren gesellschaftlichen Autonomie auf einen moralischen Effekt und in letzter Konsequenz auf eine immerhin in den Köpfen des Publikums aufscheinende politische Idealität, was sich ja auch im Programm der ästhetischen Erziehung unzweideutig ausdrückt. Wie sich die literarischen Texte zu einer solchen politisch ausgerichteten Moraldidaxe verhalten, ist eine sinnvolle, oft gestellte Interpretationsfrage. Die vorliegende Arbeit möchte daher nicht zum wiederholten Male analysieren, ob sich die in den ästhetischen Schriften entwickelte idealistische Allianz von Ästhetik und Politik tatsächlich in den Texten wiedererkennen lässt oder ob die Texte ihr widersprechen. Stattdessen versuchen die hier unternommenen Schiller-Lektüren, eine reflexiv-analytische Darstellung des Politischen im dramatischen Text zu exponieren, ohne dabei erneut an der Differenz zwischen einer von Schiller gattungsspezifisch projektierten Politik der Bühne (bzw. der Nationalschaubühne123) sowie an einer Darstellung von Politik auf der Bühne entlang zu argumentieren. 121 Alt (2002a). 122 Wenngleich Alt (2002a) z. B. bemerkt, dass Figurenprofile wie das des Tell oder der Johanna keinesfalls „die Vorgaben von Schillers klassischer Anthropologie – Willensfreiheit, moralische Autonomie, Inklusion der sinnlichen Erfahrung – plastisch beglaubigen“ (S. 231), so geht er doch von einer das literarische Œuvre wesentlich kennzeichnenden Problematisierung der kunsttheoretischen Positionen aus. Ähnlich auch Borchmeyer (1973), z. B. S. 15–16. Dass sich in einem solchen, durchaus auch Diskrepanzen aufzeigenden Abgleich zwischen ästhetischer Theorie und literarischen Texten Schillers politische Autorschaft nicht erschöpfen kann, stellt eine Grundannahme der vorliegenden Arbeit dar. So auch G. Willems (2006) zu dem Problem, Schillers Dramen „durch den hilfesuchenden Blick auf den ästhetisch-philosophischen Beipackzettel“ (S. 299) zu untersuchen. 123 Zweifelsfrei wäre es im Rahmen einer Arbeit zur Analytik des Politischen im Drama um 1800 sinnvoll, die besonderen ästhetischen Funktions- und Wirkzusammenhänge der betrachteten dramatischen Texte in einen Zusammenhang mit ihrem gattungsspezifischen Aufführungscharakter zu stellen, sie also als für die Bühne geschriebene Stücke ernst zu nehmen. Die politische Fragestellung ergäbe sich dabei aus der zeitgenössischen Nationaltheater-Debatte, der eine grundsätzliche Veränderung des gesellschaftspolitischen Stellenwerts der Institution ‚Theater‘ demonstriert – ein diskursives Gefüge, für das Schiller ohne Zweifel einschlägig ist. Eine solche Analyseperspektive müsste der theatralen Konstitution des Dramas Aufmerksamkeit schenken, den die zeitgenössische Dramentheorie als sinnlich-konkrete, kollektive Kunsterfahrung, die der theatrale ‚Schauraum‘ ermöglicht, konzeptualisiert und ihm damit dezidiert politische Bedeutung beimisst. Schneider (2003) argumentiert beispielsweise, dass die Institution der Nationalschaubühne „dem diskursiven Projekt der ‚Nation‘ vorgearbeitet und eine ästhetische Grundlage geliefert“ (S. 63) habe. Die Verschränkung von Nationaltheaterkonzeption und dem im 18. Jahr-
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Die sicher nicht vollständige, aber auf Grundtendenzen hinweisende Rekapitulation der Forschung zu Goethes und Schillers politischer Autorschaft demonstriert, dass die Frage nach dem Politischen für beide gestellt worden ist, häufiger im Falle von Schiller. Was Kleist betrifft, liegen – in Stoßrichtung und Quantität vergleichbar mit der Schiller-Forschung – eine Reihe von Arbeiten vor, die Kleist als Autor verstehen, dem es vor dem Hintergrund je spezifischer Aspekte der zeitgenössischen Polit-Historie um eine literarische Analyse der Voraussetzungen und Funktionsmechanismen von politischer Konstitution, Agitation und Regierungstechnik zu tun ist,124 wobei deutlich intensiver als bei Goethe und Schiller konkrete politische Positionierungen in Kleists Texten vorgefunden und diskutiert werden.125 Die Herrmannsschlacht kann dabei als der in dieser Hinsicht mit Abstand am kontroversesten besprochene Text gelten.126 Was das dramatische Werk betrifft, richtet sich die Aufmerksamkeit der Forschung daneben auf die politischen Implikationen von Penthesilea127 und Prinz Friedrich von Homburg128.
hundert entstehenden nationalpolitischen Diskurs spielt in meiner Argumentation aufgrund der Entscheidung, sich dem Drama um 1800 über die Aspekte von ‚Figur‘ sowie ‚Figuration‘ zu nähern, keine größere Rolle. Vgl. dazu Pleschka (2013), S. 71–73; Wild (2003), S. 285–291; Höyng (2000); Müller (1999). 124 Vgl. exemplarisch den Sammelband Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist Pethes (2011a), der Kleists Œuvre über die Trias ‚Krieg‘, ‚Recht‘ und ‚Leben‘ erschließt und dabei nicht zuletzt biopolitische Fragestellungen der literarischen Texte exponiert. Vgl. so auch Pethes (2013); Bergengruen/Borgards (2007) zum Erdbeben in Chili; Campe (2010) zur Penthesilea. Vgl. die im Kleist-Jahrbuch (2011) in der Sektion „Kleist und die Politik“ versammelten Beiträge, bes. Hahn (2011) und Horn (2011b). 125 Vgl. Matala de Mazzas (2013) Artikel zum Lemma „Nation“ im Kleist-Handbuch, der einen pointierten Überblick über die für Kleists „Gedichte, Kampfschriften und Dramen“ (S. 347) jeweils maßgeblichen politischen Ereignisse und Diskurse leistet (Napoleonische Besatzung und die Möglichkeit eines deutschen Widerstandes, Patriotismus-Diskurs, Propagandistik gegen die Franzosen, Diskurse der Nation bzw. eines deutschen Nationalstaates, Restitution des alten Reiches, Preußische Reformen etc.). Vgl. auch Schmidt (2013); Liggieri/Maeth/Müller (2013). 126 Vgl. zuletzt Lüdemann (2013) zur Funktionsbestimmung des Nationaltheaters anhand der Figur des weiblichen Gründungsopfers bei Lessing, Schiller und in Kleists Herrmannsschlacht. Lüdemann konstatiert eine in Kleists Drama durchgeführte „Selbst-Dekonstruktion des gleichzeitig propagierten Gründungsmodells“ (S. 595). Vgl. ebenfalls zur Herrmannsschlacht, insbesondere mit Blick auf die Frage eines deutschen Nationalstaats oder zum Problem des Nationalismus bzw. einer nationalen Mythoskonstruktion: Vinken (2011); Wagner-Egelhaaf (2008); von Essen (1998), S. 145–194; Fischer (1995), S. 271–320, darin zur Herrmannsschlacht S. 300–320 sowie der lesenswerte, an diesem Drama orientierte Forschungsüberblick zu Kleists politscher Autorschaft S. 271–282. Vgl. weiter Leonhard (2014); Riedl (2014); Balke (2011); Horn (2011b); Werber (2011); Kittler (1987). 127 Vgl. in Auswahl Ilic (2015); Geulen (2014); Campe (2010); van Marwyck (2010), S. 205–230; Kollmann (2004), S. 126–151; Theisen (2004); Hinderer (2003). 128 Vgl. meine Forschungsdiskussion im Kapitel III.5.
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Die vorliegende Arbeit argumentiert, im Anschluss an die skizzierten Forschungen zu einem autorenspezifisch je unterschiedlich in Erscheinung tretenden Politischen, dass Goethe, Schiller und Kleist eine auf das Problem des politischen Heroismus konzentrierte Dramenpoetik verbindet. Diese These impliziert den Verzicht auf eine am Epochenkonzept einer ‚deutschen (Hoch-)Klassik‘ orientierten Dramendeutung, auf deren Probleme ich hingewiesen habe. Noch nicht angemerkt wurde die Schwierigkeit, dass zwei der hier untersuchten Texte, namentlich die häufig dem Sturm und Drang oder auch der Empfindsamkeit zugeordneten Dramen Götz von Berlichingen (1773)129 und Die Räuber (1781)130, gemeinhin als in starker Diskrepanz zu einem ‚Weimarer Dramenklassizismus‘ stehend betrachtet werden.131 Meine Arbeit trennt Goethes und Schillers Frühdramatik nicht strikt von einer ‚klassischen Dramatik‘ ab Mitte der 1780er Jahre,132 sondern beschreibt über das Heroismussujet deren dezidiert politische Verbindungslinien. Darüber hinaus zielt die hier vorgenommene Synopse ‚Goethe – Schiller – Kleist‘ nicht zuletzt auch auf eine Relativierung der immer wieder vorgebrachten Einschätzung eines literaturgeschichtlichen Sonderstatus Kleists, der gern mittels einer Abgrenzung zu Goethe und Schiller begründet wird.133 129 Vgl. die Diskussionen zu Götz in den einschlägigen Einführungen und Sammelbänden zum Sturm und Drang: Dainat (2013); Buschmeier/Kauffmann (2010), S. 88; Jürgensen/Irsigler (2010), S. 72–82; Karthaus (2000), S. 86–96; Luserke (1997), S. 104–121; Huyssen (1980), S. 130–157. 130 Vgl. die Beiträge zu den Räubern in den einschlägigen Einführungen und Sammelbänden zum Sturm und Drang: M. Willems (2013), die immerhin die Verbindungslinien zur „Schillerschen klassischen Tragödie“ (S. 177) andeutet; Buschmeier/Kauffmann (2010), S. 97; Jürgensen/ Irsigler (2010), S. 106–116; Karthaus (2000), S. 123–130. Bisweilen wird auch Fiesko hinzugezählt, wobei in diesem Fall eher auf das epochengeschichtliche Klassifikationproblem der Schiller’schen Frühdramatik hingewiesen wird (so Luserke (1997), S. 322–323). Vgl. ebenso Buschmeier/Kauffmann (2010) zu Fiesko, S. 97. 131 So konstatieren etwa Schulz/Doering (2003) eine sich vom ‚Sturm und Drang-Götz‘ absetzende und mit der Iphigenie einsetzende „Wendung zum Klassischen“ (S. 83) bei Goethe. In ähnlicher Diktion argumentiert Borchmeyer (1973) für „Schillers ‚klassische‘ Wende“ (S. 91) und meint damit eine novatorische „Rückwendung zur echten Staatsaktion“ (S. 91) seit der Wallenstein-Trilogie. Vgl. so auch Borchmeyer (1998), S. 396–397; Lamport (1990), S. 32–131. 132 So problematisieren Buschmeier/Kauffmann (2010) zu Recht derartige epochengeschichtliche Klassifikationsbemühungen im Falle von Schiller, indem sie polemisch die Fragen aufwerfen: „Der junge Schiller, ein Dramatiker des Sturm und Drang?“ (S. 97) sowie „Der reife Schiller, ein Dramatiker der Weimarer Klassik?“ (S. 97). 133 Dies wird z. T. kritisch reflektiert und über inhaltliche Besonderheiten der Kleist’schen Poetik begründet (vgl. Pethes (2011b), bes. S. 7–8), erscheint mitunter aber auch als Verlegenheitsgeste literaturgeschichtlicher Überblicksdarstellungen. So rubriziert etwa G. Willems (2013) Kleist in seiner Geschichte der deutschen Literatur der Goethezeit (Untertitel) als „[l]iterarische[n] Einzelgänger“ (S. 83) neben Klopstock, Moritz, Jean Paul und Hölderlin (vgl. S. 83–162; zu Kleist S. 142–162). Das führt zu der recht schematischen Opposition von einer „Peripherie des
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Ich schlage den gattungsgeschichtlichen Begriff des politischen Held*innendramas um 1800 vor, um ein politisches Dramenprofil zu konturieren, das sich bei Goethe, Schiller und Kleist zeigt. Wenn dieser Terminus tatsächlich geeignet sein soll, die signifikante Tendenz einer als politische Analytik in Erscheinung tretenden, deutschen Dramenproduktion im ausgehenden 18. Jahrhundert synoptisch zu erfassen, so ist zu eruieren, wie sich das ausgewählte Korpus zur Gattungstradition und zum zeitgenössischen Gattungsdiskurs um das Drama verhält. Anders gesagt: Das politische Held*innendrama entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern schließt meines Erachtens in ganz bestimmter Weise – weder rein affirmativ noch gänzlich subversiv – an bestehende Gattungsformate und gattungstheoretische Diskurse an, die es im Folgenden aufzuschlüsseln gilt.
1.3 ‚Götter, Helden, Könige und Fürsten‘. Zum politischen Gattungsprofil des deutschen Dramas vor 1750 Es wäre zu einfach, die politischen Konstellationen in den fokussierten Dramentexten damit zu erklären, dass das Drama bzw. die Tragödie seit der Antike als genuin „‚politische‘ Gattung“134 gilt. Jenseits solcher zur Verallgemeinerung tendierenden Festlegungen einer Gattung auf ein bestimmtes Themenfeld bzw. Diskursgefüge ergibt es nachhaltigeren Sinn, die auffällige Präsenz politischer Held*innenfiguren im Drama um 1800 in einen Zusammenhang zu stellen mit der bis in die Antike zurückreichenden, gattungsspezifischen Ständeklausel, derzufolge politisch hochstehende, heroische Figuren die Rolle des dramatischen Haupthandlungsträgers zu spielen haben. Auf dieses Besetzungsprinzip nimmt das politische Held*innendrama um 1800 in reflexiver Manier Bezug. Um diesen Gedanken zu entwickeln, sind die gattungsgeschichtlichen Traditionslinien herausstellen, die aus meiner Sicht für Goethes, Schillers und Kleists dramatische Figurationen politischen Heldentums bedeutsam sind. Insbesondere ist dabei der Blick auf den im deutschen Kontext Mitte des 18. Jahrhunderts kulminierenden, literarischen Lebens“ (S. 162), an der die genannten ‚Einzelgänger‘ zu situieren seien und von dessen „Zentrum“ (S. 162), das „mit dem Namen Goethe verbunden“ sei (S. 162). Allerdings muss man Willems’ Darstellung zu Gute halten, dass er sich vielfach darum bemüht, Verbindungen zwischen sogenannter Peripherie und sogenanntem Zentrum herzustellen. Ebenso klassifiziert Meier (2008) Kleist zusammen mit Jean Paul und Hölderlin als „[k]lassisch-romantische Problemfälle“ (S. 383). Vgl. auch Lamports (1990) Kapitel „A Prussian meteor: Heinrich von Kleist“ (vgl. S. 158–180). Vgl. anders Benthien (2011), die Schillers und Kleists dramatisches Werk in ihrer Monographie zusammenschließt. 134 Braungart (2005), S. 277. Vgl. Meiers (1988) Studie Die politische Kunst der griechischen Tragödie; Zimmermann (21992), S. 12–21; Lehmann (1991); S. 73; Kolb (1979).
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poetologischen Diskurs um die figurale Disposition des dramatischen Helden zu richten. Denn der dramatischen Produktion der hier in Rede stehenden Autoren geht bekanntermaßen eine Phase intensiver Kontroversen über die Anlage und den Zuschnitt des dramatischen Protagonisten voraus, wobei allen voran dessen politische und soziale Kontur zum handfesten Streitgegenstand gerät. Als ein zentrales diskursives Zeugnis dafür kann der von Lessing, Mendelssohn und Nicolai in den Jahren 1755 bis 1757 geführte Briefwechsel über das Trauerspiel gelten.135 Innerhalb dieser Debatte spielt der Begriff des ‚Heroischen‘ eine maßgebliche Rolle: Im Zuge der Diskursivierung einer „emotionalistische[n] Dramaturgie“136 empfindsamer Prägung richtet man sich gegen ein von der französischen tragédie classique inspiriertes, heroisches Figurenideal, das etwa als „klassizistischpolitische[s] Trauerspiel“137 in der Gottsched-Tradition eine signifikante Tendenz der deutschen Dramenproduktion in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts darstellt. Kritisiert wird, am prominentesten von Lessing, ein sich vom französischen Klassizismus herschreibendes138 und ebenso im deutschen Barocktrauerspiel wirksames, dramatisches Modell,139 das sich thematisch auf „öffentlichstaatliche Handlungsräume“140 konzentriert und mit entsprechenden dramatis personae aufwartet. Die Grundanlage dieser frühaufklärerischen Trauerspiele, deren poetologische Reflexion und praktische Ausformung sich am deutlichsten bei Gottsched nachvollziehen lassen, besteht darin, hohe politische Amtsträger im Rahmen einer bedeutsamen Staatshandlung agieren zu lassen und in einen signifikanten moralischen Konflikt zu verstricken. Auf den Prüfstand gerät dabei ein im politischen Kontext herausgeforderter, neostoizistisch141 grundierter, von „musterhafte[r] Leidensbereitschaft“142 geprägter Tugend-Heroismus, der in der Tradition des klassizistischen Figurenkonzeptes zu sehen ist, sich jedoch in seiner aufklärerischen Prägung zugleich auch davon absetzt.143 Wenn auch die
135 Vgl. für eine Rekonstruktion Immer (2008), S. 93–108; Schings (1980), S. 34–45. 136 Meier (1993), S. 10. 137 Meier (1993), S. 12. Im Titel seiner Monographie spricht Meier auch von der „politischklassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts“. Vgl. die alternative, aber sinngemäß übereinstimmende Gattungsbezeichnung „heroisch-klassizistische[ ] Tragödie der Gottschedschule“ (S. 132) bei Pikulik (21981). Vgl. auch Guthke (62006), S. 22–30. 138 Vgl. dazu Lessings 17. Literaturbrief vom 16. Februar 1759 in Lessing, BNL, S. 499–501. 139 Vgl. bezüglich der Verbindung – insbesondere in der Gottsched-Tradition – zum Barockdrama Krummacher (1987), S. 267–270. Vgl. kritisch dazu Meier (1993), S. 23–30. 140 Meier (1993), S. 24. 141 Vgl. zur Stoizismus-Rezeption bei Gottsched Alt (1994), S. 111–123. Vgl. zur Seneca-Rezeption in der Literatur des 18. Jahrhunderts Liebermann (1978), S. 425–449. 142 Meier (1993), S. 10. 143 Vgl. Meier (1993), S. 23–30.
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Bezüge der frühaufklärerischen Dramatik (bei Autoren wie Gottsched, Johann Elias Schlegel, Behrmann)144 zu einem Heroismus-Paradigma, das in die europäische Gattungsgeschichte des 17. Jahrhundert führt, textspezifisch differenzierter aufgeschlüsselt werden müssten, lässt sich für den hier verfolgten Zusammenhang festhalten, dass man sich in den ab 1750 virulent werdenden dramenpoetologischen Debatten gegen ein klassizistisches, heroisches Figurenmodell wendet, das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts für die dramatische Produktion und Reflexion maßgeblich ist. Dabei gerät, wie eingangs bemerkt, insbesondere die tragödienspezifische Ständeklausel in die Kritik, gemäß derer „der Tragödienheld möglichst königlichen, zumindest aber fürstlichen Geblüts zu sein hat.“145 Nachlesen lässt sich diese Festlegung des der Tragödie angemessenen Personals auf „Götter[…]/ Helden/Könige[…] [und] Fürsten“146 für den deutschen Kontext in den barocken Regelwerken. Aber auch die Dramentexte selbst praktizieren diese Besetzungspolitik, wie die Zentralstellung von heroischen Herrscherfiguren im deutschen barocken Trauerspiel (am prominentesten bei Gryphius und Lohenstein) und im französischen Tragödienklassizismus (bei Corneille und Racine) erkennen 144 So das bei Meier (1993) zusammengestellte Korpus. 145 Alt (1994), S. 163. Alt weist zu Recht darauf hin, dass die Ständeklausel nicht auf Aristoteles zurückgeht, sondern auf die lateinischen Grammatiker der Spätantike, die Ciceros Lehre von den drei Redegattungen gattungstheoretisch transponieren (vgl. S. 163–164). Bei Aristoteles selbst findet sich die moralische Differenzierung zwischen den „guten Charakteren“ (Aristot., poet., 5, 1449b10) bzw. den überdurchschnittlichen Charakteren der Tragödie und dem niedrigeren Personal der Komödie (vgl. Aristot., poet., 5, 13, 15). Zur Wirkmächtigkeit der Ständeklausel vermerkt Alt: „Daß die Tragödie hohes Personal – nach Diomedes’ Definition ‚Helden und Könige‘ –, die Komödie aber Figuren niedrigen Standes – ‚Privatpersonen‘ – vorzuführen habe, bleibt bis tief ins 18. Jahrhundert hinein ein ehernes Gesetz der Dichtungstheorie. Die Poetiker des Mittelalters beachten es ebenso wie die gelehrten Aristoteles-Kommetatoren der italienischen Renaissance, die niederländischen Philologen des Späthumanismus und die deutschen Autoren des Barock.“ (S. 164). 146 Opitz (1624), S. 384. Wenngleich der Passus, dem der Zitatausschnitt entnommen ist, nicht explizit von tragischen Charakteren handelt, legt der weitere Textzusammenhang mehr als nahe, dass Opitz genau darauf abzielt: „Hergegen in wichtigen sachen / da von Göttern / Helden / Königen / Fürsten / Städten und dergleichen gehandelt wird / muß man ansehliche / volle und hefftige reden vorbringen / und ein ding nicht nur bloß nennen / sondern mit prächtigen hohen worten umschreiben.“ (S. 384) Die Passage bezieht sich unmittelbar auf den kurz zuvor für die Komödie empfohlenen Redestil: „In den niedrigen Poetischen sachen werden schlechte unnd gemeine leute eingeführet; wie in Comedien und Hirtengesprechen. Darumb tichtet man jhnen auch einfaltige unnd schlechte reden an / die jhnen gemässe sein.“ (S. 382) Vgl. expliziter Opitz (1624), S. 364–365. Vgl. auch Harsdoerffers (1648–1653) Unterscheidung zwischen dem Personal des Trauerspiels, des Freudenspiels sowie des Hirten- oder Feldspiels: Das Trauerspiels behandelt „der Könige / Fürsten und grosser Herren Geschichte“ (II. Teil, S. 71).
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lässt.147 Dass bevorzugt Regenten die Rolle des dramatischen Haupthandlungsträgers spielen, hat indessen weitreichende Konsequenzen für die politische Prägung der Gattung. Die Forschung hat das Drama des deutschen Barock sowie des französischen Klassizismus vor diesem Hintergrund als ‚Drama der Souveränität‘ beschrieben. Die Art und Weise, wie sich jene Herrscherdramen sowohl inhaltlich als auch formal auf die politischen Formen des Absolutismus und der Monarchie beziehen, wird als affirmativ-spiegelnd und als kritisch-reflexiv gleichermaßen rekonstruiert.148 Campes Beschreibung der Dramen als „Schauspiele der Souveränität“, die kein „Theater der Repräsentation“ vollzögen,149 ist geeignet, diese beiden Aspekte zusammenzufassen, welche die politischen Dramenpoetiken des Barock kennzeichnen: „Diese Schauspiele spielen vor oder hinter 147 Immer (2008) spricht in diesem Zusammenhang vom barocken Paradigma „Der Herrscher als Held“, S. 65–79. Koschorke (2006a) macht auf die spezifische Differenz zwischen den politischen Kontexten aufmerksam, in denen der französische Dramenklassizismus auf der einen Seite und das deutsche barocke Trauerspiel auf der anderen Seite zu sehen sind: „Der Bezug zwischen Dramatik und Politik stellt sich ganz anders dar, je nachdem ob die Stücke für die zentralistische französische Monarchie geschrieben und im Beisein des Königs am Hof aufgeführt wurden, oder ob sich in Schuldramen vor Glogauer bzw. Breslauer Stadtpublikum die komplizierten Loyalitätsbeziehungen zwischen den schlesischen Landständen auf der einen Seite, dem Haus Habsburg und der fernen kaiserlichen Residenz in Wien andererseits niederschlagen.“ (S. 176). 148 Vgl. Lüdemanns (2007b) Einschätzung zum Verhältnis von royalistischer Staatsform und Trauerspiel-Literatur: „Zugleich arbeiten die Trauerspiele aber mit am ‚portrait du roi‘; sie sind selbst Teil des medialen Leibs des Fürsten. Wollen die Staatstheorien seine Macht legitimieren, die politischen Traktate und Fürstenspiegel sein Handeln anleiten, so inszenieren die literarischen Gattungen (und das Trauerspiel vorab) das Imaginäre der Macht als solches – was dessen kritische Analyse, ja unterschwellige Demaskierung keineswegs ausschließt.“ (S. 158) Vgl. in diesem Sinne auch Lüdemanns (2007c, 2007d) Lektüren zu Lohensteins Agrippina und Ibrahim Sultan. Vgl. Koschorke (2007a), der den textimmanenten Verstörungen einer verherrlichenden Figuration des „rex imago dei“ (S. 150) nachgeht, wie sie in Gryphius’ Carolus Stuardus zur Geltung kommen würden. Vgl. zum Problem der souveränen Entscheidung im barocken Trauerspiel Koschorke (2006a). Vgl. Alts (2004) Studie Der Tod der Königin. Frauenopfer und politische Souveränität im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, welche „die Widersprüche weiblicher Regentschaft in einem männlich konditionierten Souveränitätssystem“ (S. VII) am Beispiel des barocken Trauerspiels untersucht. Vgl. auch Wild (2003), bes. S. 67–163. Vgl. Schäfer (2001) zur Inszenierung herrscherlicher Selbstbeherrschung in Form der stoischen clementia bei Lohenstein. Vgl. Matala de Mazzas (2007a, 2007b) Analysen von Corneilles Cinna und Racines Bérénice, die ein zwischen Affirmation und Kritik changierendes Verhältnis des französischen Tragödienklassizismus zur politischen Form der Souveränität herausstellen. Meier (1993) hingegen konstatiert etwa eine „Apologie des Absolutismus“ (S. 28) in der Tragödie Corneilles. Vgl. für eine weitaus differenziertere Betrachtung des Zusammenhangs zwischen klassizistischer Dramenpoetik, -form sowie -praxis und souveräner Macht mit einem Schwerpunkt auf Corneille Haas (2012). Vgl. Balke (2009a), S. 357–389. 149 Campe (1995), S. 56.
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der großen Sichtbarkeit, können sie aber wohl erzeugen. Es sind Schauspiele des Augenblicks, in dem der Platz des Souveräns noch und gerade leer ist.“150 Die Bühnenstücke der deutschen Frühaufklärung lassen sich sicher nicht mehr in diesem Sinne als ‚Dramen der Souveränität‘ beschreiben; gleichwohl treibt Autoren wie Gottsched und Johann Elias Schlegel nach wie vor ‚die royale Frage‘ um, allerdings unter den veränderten Voraussetzungen des aufgeklärten Absolutismus, was aus der Perspektive der wenigen, eine „Politik der Aufklärungstragödie“151 hervorhebenden Forschungsbeiträge u. a. eine Problematisierung von Staatsbürgerschaft einschließt.152 Schildern die entsprechenden Texte also weiterhin staatlich-öffentliche Szenarien, so bleibt auch für die dramatische Figurenzeichnung nach wie vor die Heroismus-Folie klassizistischer Provenienz oder aber diejenige des barocken Trauerspiel prägend.153 Johann Elias Schlegels Canut-Trauerspiel (1746) gilt aus Sicht der meisten Interpreten als „eines der wichtigsten Zeugnisse für den Abbau des heroisch-klassizistischen Heldenideals“154 und damit als Text, der den „Übergang vom heroischen zum empfindsamen Geschmack“155 markiert. Dabei ist es insbesondere der im Canut dargestellte Zusammenhang von Patriarchat und Zärtlichkeit,156 der als einschlägige thematische Verbindungslinie zu den Szenen empfindsamer Väter-Herrschaft im bürgerlichen Trauerspiel gesehen wird. Wenngleich Schlegel in seinem Trauerspiel von 150 Campe (1995), S. 56. So auch Menke/Menke (2007): „Historisch betrachtet ist das barocke Trauerspiel durch den genuinen Zusammenhang von Staatskonzept und Theatralität bestimmt, der im Konzept der Souveränität gegeben ist. Die theatrale Auffassung ist bereits Teil der staatsrechtlichen Begründungen selbst. Theatralität gehört als deren Selbstinszenierung der Souveränität an. Und Trauerspiele sind nicht deren theatrale Verdoppelung, sondern sie verhandeln die Probleme der Sichtbarmachung dessen, was, etwa als Entscheidung oder Gründung, nicht sichtbar ist, sondern auf Szenen und Gesten […] angewiesen ist.“ (S. 11). 151 Martus (2011), S. 16. 152 „Die Tragödie wird zumindest teilweise zu einem Medium, das nicht mehr primär Wissen über den Souverän zur Verfügung stellt; sie reflektiert (auch) Konzepte von Staatsbürgerschaft.“ (Martus (2011), S. 18) Vgl. weniger explizit auch Meier (1993), S. 29–30. Vgl. zum (neu bestimmten) Verhältnis zwischen Fürst und Untertan als Problem eines aufgeklärten Absolutismus im Canut auch Braungart (2005), S. 287–291. Vgl. zum Thema des Staatsbürgers in Schlegels Herrmann Hollmer (1994), S. 156–159. Vgl. auch darüber hinaus zum politischen Gattungsprofil des Aufklärungsdramas Hollmer (1994), S. 178–180, 233–238. 153 Vgl. Alt (1994), S. 108–148; Meier (1993), S. 11–19. 154 Pikulik (21981), S. 140. Vgl. Borchmeyer (1983). 155 Meier (1993), S. 10. Vgl. ebenso Martus (2011), S. 17–18. Alt (1994) weist Lessings Einakter Philotas (1759) eine ähnliche Bedeutung zu (vgl. S. 138–148). Vgl. so auch Braungart (2005) zu Philotas und Canut, S. 287–293. 156 Vgl. Braungart (2005), S. 287; Borchmeyer (1983); Martus (2011), S. 26, 40. Vgl. grundlegend SØrensens (1984) Studie Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert.
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1746 einen empfindsamen Regenten figuriert, bleibt das Drama grosso modo der Gattungstradition verhaftet, insbesondere dadurch, dass es eine Herrscherfigur als dramatischen Protagonisten exponiert.
1.4 Die politischen Implikationen der Trauerspiel-Kontroverse über den dramatischen Helden Ungleich radikaler artikuliert sich demgegenüber die Heroismus-Kritik in der Dramentheorie und -praxis ab Mitte des 18. Jahrhunderts: Gegen das regelpoetisch gefasste Diktum, das Tragödienpersonal qua Ständeklausel auf heroische, politische Funktionsträger ersten Ranges festzulegen, wie es etwa Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey (1624) zu entnehmen ist, verkündet Lessing 1767 im 14. Stück der Hamburgischen Dramaturgie: „Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stück Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. […] [E]in Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.“157 Lessings polemische Bemerkung lässt die zentrale wirkungsästhetische Stoßrichtung der empfindsamen Dramenpoetik erkennen: Es geht bekanntermaßen um die gerührte Anteilnahme bzw. um das Mitleiden der Zuschauer*innen am dramatischen Geschehen. Die Forschung hat herausgestellt, dass sich die Theoretiker und Praktiker des bürgerlichen Trauerspiels damit gegen eine sowohl für die deutsche klassizistische Tragödie der Frühaufklärung als auch für den französischen Dramen-Klassizismus charakteristische Bewunderungs-Dramaturgie richten, die im Kern mit dem heroischen Figurenkonzept verknüpft ist.158 Fürsten und Helden werden aber nicht nur deswegen als Zentralfiguren des Dramas abgelehnt, weil die höfische bzw. die staatliche Welt einem bürgerlichen Publikum, dem sich das Theater immer weiter öffnen solle, aufgrund von Standeszugehörigkeit, d. h. vor dem Hintergrund der hierarchischen Gesellschaftsordnung, notwendig fremd sein müsse. Auch erfolgt die Abgrenzung gegen ein heroisch-klassizistisches Figurenmodell sowie gegen die damit verbundene Wahl signifikanter öffentlich-staatlicher Handlungsschauplätze unter der Prämisse, dass der fürstliche Hof bzw. das Staatskabinett von Figuren bevölkert sind, die der an einer empfindsamen Anthropologie orientierten Dramaturgie des Gefühls diametral zuwider laufen.159 ‚Der Staat‘ 157 Lessing, HD, S. 251 (14. Stück). 158 Darauf rekurriert der Titel von Meiers (1993) Monographie: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Vgl. auch Pikulik (21981), S. 137–140. 159 Vgl. zu dieser gattungsspezifischen Disposition Guthke (62006), der in aller Vorsicht vor einer allzu engen typologischen Festlegung (vgl. S. 1–6) eine Gattungsskizze des deutschen bür-
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tauge demnach nicht zum Gegenstand des Dramas, weil er den Fürsprechern einer bürgerlichen Trauerspielkunst als emotionsloser Machtapparat gilt, der allenfalls „unempfindliche Helden“160 bzw. – um die zum Topos geronnene Formulierung Lessings aufzugreifen – „schöne Ungeheuer“161 auf die Bühne bringe. Der im Sinne der Aristotelischen mesotes-Lehre162 geforderte ‚mittlere‘, d. h. einen moralischen Durchschnitt verkörpernde Charakter wird einzig für geeignet gehalten, die für Lessing so zentrale Rezeptionshaltung des Mitleidens zu bedienen.163 Lessings Bemerkungen im Briefwechsel über das Trauerspiel belegen eindrücklich, dass der tragische Heroismus klassizistischer Provenienz als maßgebliche Abgrenzungsfolie dient, wenn es gilt, im Rahmen der Mitleids-Dramaturgie ein empfindsames Figurenkonzept im dramenpoetischen Diskurs zu positionieren.164 Ein einschlägiges Beispiel dafür stellt die Replik auf Mendelssohns Plädoyer für den im Dienste einer Affektdramaturgie der Admiration stehenden und – in einem zweiten Schritt – zur Nachahmung anregenden, moralisch außergewöhnlichen Dramenhelden dar:165 Was für Eigenschaften bewundern Sie denn nun? Sie bewundern einen Cato, einen Essex – mit einem Worte, nichts als Beispiele einer unerschütterten Festigkeit, einer unerbittlichen Standhaftigkeit, eines nicht zu erschreckenden Muts, einer heroischen Verachtung der Gefahr und des Todes; […] Es [die dem Dramenhelden angemessene Eigenschaft] muß eine gute Eigenschaft sein, deren ich den Menschen überhaupt, und also auch mich, fähig halte. Und diese Eigenschaften schließe ich so wenig aus dem Trauerspiele aus, daß vielmehr, nach meiner Meinung, gar kein Trauerspiel ohne sie besteht, weil man ohne sie kein Mitleid erregen kann. Ich will nur diejenigen großen Eigenschaften ausgeschlossen haben, die wir unter dem allgemeinen Namen des Heroismus begreifen können, weil jede derselben mit Unempfindlichkeit verbunden ist, und Unempfindlichkeit in dem Gegenstande des Mitleids, mein Mitleiden schwächt.166
gerlichen Trauerspiels anhand folgender Rubriken unternimmt: „Empfindsamkeit und Bürgerlichkeit“ (S. 42), „Die Theorie des ‚Privat-Trauerspiels“ (S. 50), „Das empfindsame bürgerliche Trauerspiel“ (S. 61), „Standesbewußtsein und Gesellschaftskritik“ (S. 87) sowie „Lessing und die Sozialpolitisierung des bürgerlichen Trauerspiels“ (S. 93). 160 Lessing/Mendelssohn/Nicolai, BT, S. 680 (Brief Lessing an Mendelssohn vom 28. November 1756). 161 Lessing/Mendelssohn/Nicolai, BT, S. 680 (Brief Lessing an Mendelssohn vom 28. November 1756). Vgl. dazu auch Immer (2008), S. 100–101. 162 Vgl. Aristot., poet., 13, 1453a7. 163 Vgl. Lessing, HD, S. 556–560 (75. Stück). 164 Vgl. die Darstellung bei Immer (2008), bes. S. 99–101. Vgl. auch Pleschka (2013), S. 69; Mönch (1993), S. 226–240. 165 Vgl. Lessing/Mendelssohn/Nicolai, BT, S. 675 (Brief Mendelssohn an Lessing vom 23. November 1756). 166 Lessing/Mendelssohn/Nicolai, BT, S. 680–681 (Brief Lessing an Mendelssohn vom 28. November 1756).
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Ein heroischer und d. h. im Verständnis der Zeitgenossen ein exponiert im öffentlichen Raum agierender, politischer Dramenheld ist, daran lassen die hier exemplarisch vorgestellten Bemerkungen Lessings keinen Zweifel, wesentlich ein gefühlloser Held, dessen jedes gemeine Maß übersteigende Größe ein auf der Ebene des Gefühls zu adressierendes Publikum nicht zu erreichen verspricht. Aus diesem Grund votiert Lessing für einen empfindsamen, menschlichen Dramenhelden, dessen Gefühlshaushalt für die Zuschauer*innen nachvollziehbar sein soll und dessen Handeln im Sinne der tragischen hamartia zwar fehlerhaft, aber eben weder extrem laster- noch tugendhaft sein darf.167 Dass unter dieser Prämisse auch Fürsten und Helden die Bühne (neu) betreten dürfen, zeigt an, dass die ständische Zugehörigkeit des dramatischen Personals allen voran unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten diskutiert wird, was sowohl die Trauerspieltheorie als auch -literatur nicht nur an einer Stelle belegen.168 So wird beispielsweise noch in Lessings als deutscher Gattungsprototyp des bürgerlichen Trauerspiels gehandelter Miss Sara Sampson die dramatische Haupthandlung von adeligen Figuren bestritten.
1.5 Der politische Problemhorizont des bürgerlichen Trauerspiels Die Frage, welche Schauplätze dieser empfindsame Dramenheld bespielen kann, hat ein Teil der Forschung mit dem Hinweis auf einen signifikanten Wechsel hin zu bürgerlichen169 Szenerien des Familiären bzw. des Häuslich-Privaten 167 Vgl. den entsprechenden Passus im Briefwechsel, in dem Lessing explizit auf die Aristotelische Poetik Bezug nimmt: Lessing/Mendelssohn/Nicolai, BT, S. 700 (Brief Lessing an Mendelssohn vom 18. Dezember 1756). 168 „Die Personenwahl ist also vor allem vermittels des moraldidaktisch motivierten Adressatenbezuges als gattungskonstitutives Merkmal von Bedeutung.“ (Mönch (1993), S. 243–244) Vgl. weiter die ausführliche Diskussion des Problems bei Mönch, die den ständischen Zuschnitt der dramatischen Figuren im Hinblick auf die Gesamtheit der wirkungsästhetischen Novationen im bürgerlichen Trauerspiel untersucht (S. 241–298). Ähnlich auch Alt (1994), S. 168 und Komfort-Hein (1995), S. 4–5. Vgl. zum Aspekt des Ständischen ebenso Guthke (62006), S. 56–58. Vgl. ferner Wegmann (1988), der eine strikte Klassenopposition von Adel und Bürgertum als unzureichend für eine Beschreibung des politischen Impetus der von ihm fokussierten Diskurse der Empfindsamkeit erachtet (vgl. S. 68). 169 Der Begriff des Bürgerlichen beschäftigt die Forschung zum bürgerlichen Trauerspiel erwartungsgemäß nachhaltig. Gerade dieser Terminus wirft die Frage nach der sozio-politischen Bedeutung der Gattung (Aufhebung der Ständeklausel, bürgerliche Emanzipation, Absolutismus-Kritik etc.) auf. Vgl. Guthkes (62006) kritische Rekonstruktion der Forschungsdebatte, S. 42–49. Vgl. Pikuliks (21981) kritische Infragestellung der Bürgerlichkeit des bürgerlichen Trauerspiels (S. 1–8). Frömmer (2008) spricht zu Recht von „Diskurs[en] über Bürgerlichkeit“ (S. 49) und differenziert zwischen den Funktionen des Bürgerlichen im politischen und im ästhetischen Diskurs
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beantwortet.170 Martus bemerkt zu Recht, dass diese „oftmals als Privatisierung und Intimisierung“171 gedeutete Verschiebung „zugleich als Entpolitisierung“172 des Dramas gedeutet wird. Meines Erachtens verengt eine solche Perspektive den sozio-politischen Problemhorizont der Gattung. Die skizzierte Entheroisierung und die stattdessen propagierte Vermenschlichung173 des dramatischen Helden, die im Diskurs um das bürgerliche Trauerspiel fassbar wird, hat gerade mit Blick auf die für dieses Gattungsprofil reklamierten, literarischen Texte eine komplexere politische Bedeutung, als es Formeln wie ‚bürgerliche Emanzipation‘ oder ‚Standes- bzw. Adelskritik‘ suggerieren,174 die sich am strikten Gegensatz zwischen Bürgerlich-Privatem und Politisch-Öffentlichem ausrichten. Ganz in diesem Sinne bestreiten neuere Forschungsansätze, denen hier gefolgt wird, dass das bürgerliche Trauerspiel in vermeintlich rein antihöfischer, emanzipatorischer Direktion ausschließlich private Machträume vermesse. Vielmehr werden die insbesondere in den literarischen Texten verhandelten Übergänge, Handreichungen und Wechselbeziehungen zwischen privat-häuslicher und staatlich-öffentlicher Macht herausgearbeitet.175 So gerät etwa bei Frömmer
(vgl. S. 45–58). Vgl. zur Begriffsgeschichte Riedel (1974). Vgl. ferner zur Frage der Bürgerlichkeit der Empfindsamkeit Wegmann (1988), S. 68–70. 170 Vgl. zum Aspekt des Privaten Guthke (62006), S. 50–61. Allerdings behauptet Guthke für die literarische Produktion ab der 1770er Jahre eine wachsende gesellschaftskritische Ausrichtung und Sozialpolitisierung der Gattung (vgl. S. 87–102). So auch von der Lühe (2003), S. 205, 207–208. Vgl. überdies Vogg (1993); Pikulik (21981), S. 11–18. Auch Borchmeyer (1973) spricht von einer Verlagerung der „tragische[n] Handlung ins Privatleben (in den familiären Bereich)“ (S. 16). 171 Martus (2011), S. 16. 172 Martus (2011), S. 16. 173 Mönch (1993) konstatiert die Modellierung eines menschlichen Helden, in die zwar Reflexionen über die Ständeklausel einfließen, die aber in den theoretischen Debatten eher in wirkungspoetischer, denn in genuin gesellschaftskritischer Intention geltend gemacht würden (vgl. S. 241–248). Vgl. ähnlich auch Alt (1994) zur Frage der Bürgerlichkeit des dramatischen Personals: „Als sittlichen Menschen, nicht primär als Bürger will man den neuen Protagonisten aufgefaßt wissen; die soziale Bestimmung geht meist, […] in moralischen Kategorien auf.“ (S. 169) Zentral für die Figurenkonstruktion sei der Maßstab einer herausragenden moralischen Integrität bzw. einer „innere[n] Größe“ (S. 170); derartige Figuren seien „erst in zweiter Linie Bürger“ (S. 170). 174 So von der Lühe (2003), S. 206–208. 175 Schößler (2003) benennt zwar die Familie als zentrales „Sujet“ (S. 8) des bürgerlichen Trauerspiels, lässt es aber am Hinweis auf dessen politische Kontur nicht fehlen (vgl. S. 8–9). Frömmer (2008) stellt u. a. heraus, dass das für das bürgerliche Trauerspiel thematisch zentrale Modell der patriarchalen Kleinfamilie kein bloß die private Sphäre organisierendes Herrschaftssystem bildet. Stattdessen betont sie die von der patria potestas mobilisierten, politischen Machtwirkungen (vgl. bes. S. 24–37). Komfort-Hein (1995) fokussiert das bürgerliche Trauerspiel als Gattung, die an einem mit Foucaults Konzept der Disziplinarmacht gedachten Individualitätsdiskurs
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II Drei grundlegende Perspektiven auf den Heroismus
die häufig als gattungskonstitutiv für das bürgerliche Trauerspiel behauptete, dramatische Konfliktstruktur eines Widerstreits zwischen der empfindsamen Kleinfamilie und adeliger Obrigkeit – und damit zwischen Familienvater und (Landes-)Vater – in die Kritik. Jenseits eines solchen „topischen Kontrast[s]“176 werden die spezifischen Machtstrukturen herausgearbeitet, die sich beobachten ließen, wenn sich „[i]n der ‚Empfindsamkeit‘ der Familienmitglieder […] Bluts- und Gefühlsbande zum fiktiven Bündnis von Sinnlichkeit und Seele“177 verbänden. Genauer beschreibt Frömmer die Reartikulation und Verfestigung patriarchaler Herrschaftsstrukturen im empfindsamen Diskursgefüge, woran in prägnanter Weise auch das bürgerliche Trauerspiele partizipiere: Das empfindsame Bild der bürgerlichen Familie als Bund der Herzen ist die Rückseite gesellschaftspolitischer Zweifel am Patriarchalismus der europäischen Monarchien. […] Die neuartige Vorstellung von Familie, die […] dieser autoritätskritische Impetus der Aufklärung erzeugt, geht aus der Fragwürdigkeit des Patriarchats als Herrschaftsform hervor. Das moderne Familienbild formuliert damit gewissermaßen seine eigene Aporie: In der Emotionalisierung der patria potestas werden die rationalen Zweifel an der Legitimität patriarchalischer Herrschaft weniger beseitigt als indirekt artikuliert. Wenn man in der empfindsamen Familie Herrschafts- durch Liebesbeziehungen ersetzt, geraten die Legitimationsdefizite des Patriarchalismus im Zeitalter der Aufklärung umso mehr in den Blick, […]. Die empfindsame Literatur der Aufklärung reinterpretiert und zementiert damit einerseits patriarchalische Herrschaft. Andererseits wird diese jedoch im Modus der Fiktion an die Grenzen ihrer Affirmierbarkeit geführt. Davon zeugen nicht zuletzt die vielen Leichen auf der Bühne des bürgerlichen Trauerspiels und die schönen, aber klinisch toten Seelen im Himmel des Briefromans.178
Ausgehend von diesem Befund argumentiert Frömmer, dass das für das Trauerspiel so zentrale Modell der patriarchalen Kleinfamilie mitnichten als eine ausschließlich den Bereich des Privaten organisierende Gemeinschaftsform partizipiere (vgl. S. 15–22). Auch Mönch (1993) wendet sich gegen eine „Festlegung des bürgerlichen Trauerspiels auf rein private Sujets“ (S. 250). Vgl. ferner SØrensens (1984) Studie Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert (bes. das Kapitel zum Begriff des ‚Landesvaters‘, S. 48–57), die aber nur am Rande auf die spezifischen Machteffekte einer diskursiven Aktivierung des „familialen Patriarchalismus […] im politischen Absolutismus“ (S. 49) eingeht. 176 Nitschke (2012), S. 8. 177 Frömmer (2008), S. 27. Vgl. für eine diskursgeschichtliche Analyse der politischen Strukturen im Empfindsamkeits-Diskurs Wegmann (1988), S. 56–70. Wegmann wendet sich insbesondere gegen die verbreitete These, die Empfindsamkeit sei als apolitische, resignative Fluchtbewegung des Bürgertums zu verstehen (vgl. S. 57–59). Stattdesssen geht er von einer indirekten politischen Stoßrichtung der empfindsamen Moral aus, die sich gegen eine höfisch-strategische Verhaltensrationalität richte (vgl. S. 65–68). Weiter gehende politische Implikationen diskutiert Wegmann nicht. 178 Frömmer (2008), S. 28–29.
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zu verstehen ist, dessen politische Direktion sich im Projekt einer bürgerlichen Emanzipation erschöpfe; vielmehr müsse dieses als wirkmächtige „soziale[ ] Fiktion“179 beschrieben werden, die spezifische „biopolitische[ ] Realitäten“180 zeitige. Jenseits davon, dass es für ein politisches Verständnis des bürgerlichen Trauerspiels zentral ist, die Foucault’schen Paradigmen der Biopolitik und der Disziplinarmacht ins Kalkül zu ziehen,181 weist Frömmer überzeugend darauf hin, dass die patriarchalische Norm nicht nur den inneren Kernbereich des bürgerlichen Hausstandes und allen voran des weiblichen Nachwuchs in seiner Gewalt habe, sondern als Machtprinzip in den antiabsolutistischen, politischen Projekten des späten 18. Jahrhunderts insistiere: Das Gesetz des Vater im Inneren öffnet das Tor zur sozialen Außenwelt. Aus dieser väterlichen Ätiologie des republikanischen Bruderbundes erklärt sich nicht zuletzt die mehr oder minder blinde Wirksamkeit patriarchalischer Strukturen in demokratischen Ordnungen. Der Transformation von hierarchischen in laterale Bündnisse, wie sie sich in modernen Republiken an der Schwelle des Privatraums zu vollziehen scheint, basiert auf einer ‚Verinnerlichung‘ der patriarchalischen Hierarchie. Vordergründig wird diese durch die scheinbare Loslösung vom öffentlichen Außenraum entpolitisiert […].182
Die exemplarisch ausgewählten neueren Arbeiten zum bürgerlichen Trauerspiel betonen demzufolge dessen politische Komplexität, die sich allen voran aus den literarischen Verhandlungen zwischen Privatem und Politischen ergibt. Eine strikte Grenzziehung zwischen beiden Polen sei in den entsprechenden dramatischen Texten nicht zu beobachten bzw. bilde nicht deren politische Hauptkonfliktlinie. Der Befund, dass das bürgerliche Trauerspiel weder in den entsprechenden literarischen noch in den dramenpoetischen Diskursen als eine apolitische 179 Frömmer (2008), S. 27. 180 Frömmer (2008), S. 27. Vgl. auch die etwas vorsichtigere Formulierung des Zusammenhangs bei Nitschke (2012): „So sehr den bürgerlichen Werten insgesamt eine emanzipierende Wirkung und ein Partizipationsanspruch inhärent ist […], so sehr verfolgen sie eine exklusive Sittlichkeit (die besonders die Sexualität stark reguliert). Das macht sie zugleich zu einer disziplinierenden Norm […]“ (S. 11; vgl. weiter 8–17). Vgl. auch Christopher Wilds (2003) Lektüre von Lessings Emilia Galotti (S. 263–356), der die geschlechterspezifischen Machtkonstellationen im Trauerspiel-Diskurs ins Kalkül zieht. Wild deutet die bedrohte Virginität der Protagonistin als topologisches Emblem für das diskursive Begehren, „die bürgerliche Subjektivität und Tugend“ (S. 297) als einen intimen „hortus conclusus“ (S. 291) gegen Eingriffe aus dem Bereich des Politisch-Öffentlichen abzuschirmen. 181 So auch Nitschke (2012), z. B. S. 10. 182 Frömmer (2008), S. 30. Vgl. folgende Lektüren zur Verschränkung von Familie und Politik im Konzept des Brüderbundes bei Schiller: Lüdemann (2007f, 2007h); Koschorke (2003) und im Anschluss daran Nitschke (2012), S. 185–189.
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Gattung konfiguriert wird,183 hat Konsequenzen dafür, wie man die politische Stoßrichtung der in der Literaturgeschichtsschreibung traditionell angesetzten Gattungsformate bestimmt, die auf das bürgerliche Trauerspiel folgen, namentlich das Drama des ‚Sturm und Drang‘184 sowie der ‚Klassik‘. Damit steht natürlich auch die politische Kontur von Goethes und Schillers sowohl Früh- als auch Spätdramatik zur Disposition. Im Falle des Sturm und Drang geht die Forschung von einer ‚Repolitisierung‘ der dramatischen Gattung aus. So identifiziert z. B. Guthke „Spielarten des bürgerlichen Trauerspiels im Sturm und Drang“185 und sieht deren Hauptcharakteristikum in einer radikalen, das bürgerliche Trauerspiel überschreitenden „Kritik an spezifischen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit“186. Damit ist aber über den Aspekt der Standeskritik, auf die ja schon die politische Bedeutung des bürgerlichen Trauerspiels häufig reduziert wird, wenig Konkretes zu einem politischen Gattungsprofil des Sturm und Drang-Dramas gesagt: „Der Standesgegensatz als gesellschaftlicher Defekt ist, zusammen mit der korrelierten Kritik am Verhalten und Selbstverständnis des Adels und des Bürgertums, das Hauptthema des bgl. Tr. [bürgerlichen Trauerspiels] der Stürmer und Dränger.“187 Zwar wird überdies darauf hingewiesen, dass der für die Sturm und Drang-Dramatik als charakteristisch angesetzte Individualitäts- bzw. Genie- und Gefühlskult eine politische Kritik nicht ausschließe.188 Allerdings ist meines Erachtens eher zu überlegen, wie beide Aspekte
183 Vgl. so Frömmer (2008) zum Aspekt des Biopolitischen und zum Insistieren patriarchalischer Machtstrukturen im Republikanismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Vgl. Nitschke (2012) zum Zusammenhang zwischen familiärer Paternalität und politischer Souveränität. Guthke (62006) unterscheidet in diesem Sinne Phasen in der Dramenproduktion: Bis zu den 1770er Jahren dominiere eine „empfindsame Spielart“ (S. 87) des bürgerlichen Trauerspiels. Mit dem Erscheinen der Emilia Galotti (1772) beginnend bis hin zu Kabale und Liebe (1784) sei ein zunehmender gesellschaftskritischer Impetus und eine Sozialpolitisierung der Gattung beobachtbar (vgl. S. 87–102). Vgl. zusätzlich Komfort-Hein (1995) zu den Verhandlungen geschlechterspezifisch organisierter Disziplinierungstechniken (vgl. S. 22–29). 184 Der Sturm und Drang wird weitestgehend übereinstimmend auf den Zeitraum von 1760 bis 1780 datiert; werden Schillers Räuber und Fiesko miteinbezogen auch bis 1785 (vgl. Buschmeier/ Kauffmann (2010), S. 7). 185 Guthke (62006), S. 102. Huyssen (1980) stellt dagegen die Differenzen zwischen bürgerlichem Trauerspiel und Sturm und Drang-Dramatik heraus (vgl. S. 15–16). 186 Guthke (62006), S. 103. Vgl. Jäger (1970). 187 Guthke (62006), S. 103. Noch deutlich verflachender und kaum auf konkrete politische Einsatzpunkte hinweisend resümiert Huyssen (1980) die Programmatik des Sturm und Drang als „Kritik der Aufklärung“ (S. 44) und Alt (2009/1) spricht von einer „Überbietung der Aufklärung“ (S. 265). 188 Vgl. Guthke (62006), S. 102–103.
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zusammenhängen,189 anstatt hier von einem „komplementäre[n] Verhältnis“190 auszugehen. Verengt man den Fokus auf die in dieser Arbeit diskutierten Autoren, so wird die ‚Repolitisierungsthese‘ am deutlichsten anhand von Schillers frühen Dramen diskutiert, die man dem Sturm und Drang zurechnet. Die politische Dimension von Texten wie Die Räuber, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua und Don Karlos wird darin gesehen, in verfahrenstechnischer und wirkungsästhetischer Hinsicht an die Programmatik des bürgerlichen Trauerspiels anzuschließen, aber gleichzeitig die hohe Staatsaktion als politischen Handlungsrahmen der dramatischen Gattung zu rehabilitieren.191 Im Falle von Goethe werden solche Bezüge auf das bürgerliche Trauerspiel, die mit einer dezidierten Repolitisierung der dramatischen Handlung einhergehen würden, nur vereinzelt für Götz von Berlichingen und Egmont angedeutet.192 Was die häufig als auf den Sturm und Drang folgend klassifizierte Dramenproduktion betrifft, die unter den Epochenbegriff der Weimarer Klassik bzw. der Goethezeit subsumiert wird, ergibt sich ein ähnliches Bild. Wenn das Verhältnis einer ‚klassischen‘ Dramatik zum bürgerlichen Trauerspiel überhaupt in Augenschein genommen wird, so geschieht dies fast ausschließlich anhand von Schillers literarischen Texten sowie seinen dramentheoretischen Positionierungen. Die Rede ist dann etwa von „Schillers ‚klassische[r] Wende“193 oder von einer „Zeit der hohen Kunst“194, die das „klassische dramatische Werk (1796–1805)“195 bestimme; und dies in dezidierter „Absage an das bürgerliche Trauerspiel und die private Tragödie überhaupt“196. Auch dieser Zusammenhang wird als Wiederbelebung 189 Vgl. so in Ansätzen Blawids (2011) Lektüre zu Götz von Berlichingen (S. 162–218) und zu Die Räuber (S. 218–272). Darauf zielen meine Lektüren zu Fiesko, zu den Räubern und zu Götz von Berlichingen. 190 Guthke (62006), S. 102. So auch Zenke (1980), S. 120, der vor diesem Hintergrund zwei Hauptdramentypen des Sturm und Drang identifiziert: ein „Drama der Leidenschaften und [ein] Gesellschaftsdrama“ (S. 128). Vgl. die korrespondierende Typologie bei Kafitz (21989), der „das Drama des ‚großen Kerls‘“ (S. 82) von einem „zweiten, stärker sozialkritisch ausgerichteten Dramentypus“ (S. 82) unterscheidet. Der erste Typus wird in der Forschung in aller Regel mit dem Namen Friedrich Maximilian Klingers, der zweite mit demjenigen Jakob Michael Reinhold Lenz’ verbunden. 191 Pleschka (2013), S. 59, 81–86; Meier (1990), S. 139; Borchmeyer (1973), S. 76–90. 192 Vgl. in Ansätzen zu Goethe und Schiller Lamport (1989). 193 Borchmeyer (1973), S. 91 [Hervorhebung im Original]. So auch das Großkapitel „Schillers Wendung zur Klassizität“ (S. 133–197) bei Bloch (1968). 194 Alt (2009/2), S. 365. 195 Alt (2009/2), S. 365. 196 Borchmeyer (1973), S. 91. Borchmeyer behauptet eine „Abwendung von der bürgerlichen Familiendramatik und [ ]eine[ ] Bemühung um eine Tragödie des öffentlichen Lebens“ (S. 94).
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eines vormals konstitutiven, politischen Gehalts der dramatischen Gattung beschrieben, wenn beispielsweise der Wallenstein-Prolog als Initialpunkt einer Schiller’schen „Rückwendung zur echten Staatsaktion“197 gilt. Geht man dergestalt immerhin noch von einem Verhältnis, und sei es eines der Abgrenzung, zwischen Schillers späterer Dramenproduktion und -poetik und dem bürgerlichen Trauerspiel aus, so wird ein solcher Zusammenhang zuweilen sogar schlicht negiert: Die Klassiker selbst unternehmen nicht den Versuch, das bürgerliche Drama auf eine ihren ästhetischen Anschauuungen entsprechende literarische Höhe zu heben. Werke wie Goethes ‚Faust‘ und ‚Die natürliche Tochter‘ oder Schiller ‚Don Karlos‘, ‚Wallenstein‘ und ‚Wilhelm Tell‘ wird man nicht sinnvoll für die Gattung reklamieren können, es sei denn, man definiere sie in verschwommenster und unhistorischer Weise […].198
Kontrastiv dazu bemerkt Pikulik in den Schlussbemerkungen seiner Studie ‚Bürgerliches Trauerspiel‘ und Empfindsamkeit, dass „das Drama der deutschen Klassik“199 „ohne die Empfindsamkeit nicht zu denken“200 sei und somit „tiefer im 18. Jahrhundert“201 verwurzelt sei, als man gemeinhin annehme – allerdings ebenso wie Guthke ohne nähere Begründung. Wenn man aber in Rechnung stellt, dass sich bereits das bürgerliche Trauerspiel durch eine über bloße bürgerliche Emanzipationsbestrebungen hinausgehende politische Stoßrichtung auszeichnet, indem es die Differenz zwischem Privatem und Politischem nicht schematisch ausspielt, sondern vielmehr literarisch reflektiert, können komplexere Bezüge zu einer politischen Analytik im Held*innendrama des ausgehenden 18. Jahrhunderts hergestellt werden, die sich zumal weder in einem Schiller’schen ex negativo-Rekurs erschöpfen müssen noch an eine allzu rigide Epochendifferenzierung zwischen Sturm und Drang und ‚Klassik‘ gebunden sind. Wie genau sich das skizzierte politische Gattungsformat des bürgerlichen Trauerspiels und zudem die in der Trauerspiel-Debatte verdichtete Frage nach einem politischen Figurenprofil des dramatischen Helden zum Held*innendrama verhält, erläutert das folgende Teilkapitel.
197 Borchmeyer (1973), S. 94. 198 Guthke (62006), S. 121. 199 Pikulik (21981), S. 176. 200 Pikulik (21981), S. 176. 201 Pikulik (21981), S. 176.
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1.6 (De-)Figurationen eines empfindsamen Heroismus. Zum Figurenbau und -verkehr im Held*innendrama Wenn die bisherigen Kapitel demonstrieren sollten, welche je historisch spezifizierbaren politischen Implikationen der Goethe, Schiller und Kleist unmittelbar vorausliegende dramatische Gattungsdiskurs sowohl in seinen literarischen als auch in seinen theoretischen Manifestationen aufweist, geht es im Folgenden darum, wie das vorgeschlagene Dramenprofil des politischen Held*innendramas daran anschließt bzw. sich davon absetzt. Zentral ist, dass der skizzierte gattungsdiskursive Problemhorizont im Held*innendrama in spezifischer Weise reflektiert wird. Den Dreh- und Angelpunkt bildet die in der Trauerspiel-Debatte aufgeworfene Frage nach der politischen Kontur der dramatischen Hauptfigur. Inwiefern also bei den fokussierten Texten von einer politischen Dramatik die Rede sein kann, diskutiere ich auf der Ebene des textuellen Figurenbaus und -verkehrs. Meine Grundbeobachtung besteht darin, dass das Held*innendrama um 1800 die in der Trauerspiel-Kontroverse gegeneinander aufgestellten Figurenkonzepte des an der Spitze der politischen Hierarchie agierenden, heroischen Einzelnen einerseits und des menschlich-empfindsamen Helden andererseits transformiert. Daraus wird die These entwickelt, dass in Goethes, Schillers und Kleists dramatischen Figurations- und Defigurationstechniken der wirkungsästhetische Zwiespalt, der sich in der Kontroverse zwischen Mendelssohn und Lessing zuspitzt, analytisch überwunden wird: Die für alle drei hier zur Debatte stehenden Autoren als charakteristisch angenommene dramatische Analytik des Politischen justiert die beiden in der Trauerspiel-Debatte oppositionell verhandelten Konzepte der dramatischen Figur somit neu. Im Zuge dessen werden Versatzstücke beider Typologien literarisch angedeutet, aber nie vollends ausgeschrieben bzw. erfüllt. Zwar weisen Egmont, Götz, Tell, Käthchen oder Prinz Friedrich sowohl Züge einer Mitleid und Identifikation erweckenden Emotionalität auf, sowie sie im Rahmen hoher Staatskationen ‚große Taten‘ vollbringen, über deren Bewunderungs- und Nachahmungspotential die Texte nicht schweigen. Allerdings werden beide figuralen Referenzmodelle in gänzlich anderer wirkungsästhetischer Direktion kombiniert: Entsprechend der im Kapitel II.3 exponierten These vom Feuer des Helden bzw. der Heldin zeichnen sich die heroischen Protagonist*innen, aber auch ihre jeweilige Anhängerschaft, nicht durch einen wohlaustarierten Gefühlshaushalt, sondern durch eine emotionale Überspannheitheit aus, die eine Rezepitionshaltung des Mitgefühls geradewegs durchkreuzt. Ebenso handelt es sich um Figuren, die vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskurse zur politischen Größe und zum Verdienst eben nur als Helden gelten können, was vor allem bedeutet, dass ihre heroische Tatkraft keineswegs intellektuell ausbalanciert und tugendhaft grundiert ist. Dergestalt können sie schwerlich als
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nachahmungswürdige ‚glorreiche Große‘, ja als mustergültige Vertreter*innen einer sich aus dem französischen Klassizismus herschreibenden Dramaturgie der Bewunderung eingeschätzt werden. Es handelt sich stattdessen um eine auf das Phänomen charismatischer Autorität konzentrierte, dezidiert analytische Dramaturgie, die sich zwischen den zwei Polen der Größe und des Gefühls aufspannt. In dieser Perspektive relativieren sich die geschilderten epochengeschichtlichen Periodisierungsansätze, die Goethes und Schillers frühe Dramen der Sturm und Drang-Tradition, ihr dramatisches Spätwerk hingegen einem klassischen Formparadigma verpflichtet sehen: Ein Text wie Goethes Götz von Berlichingen lässt, zugespitzt formuliert, im Hinblick auf dessen Figurationsverfahren intrikate Analogien zu Schillers Wilhelm Tell und weiter auch zu Kleists traumwandlerischem Prinz von Homburg erkennen. Eine analytische Wirkabsicht meint vor allem, dass das Held*innendrama an die Köpfe seiner Leser*innen und Zuschauer*innen appelliert, indem es die irrationalen Voraussetzungen charismatischer Herrschaft freilegt und damit eine politische Gefühlswelt zum Reflexions- anstatt zum bloßen Anschauungsgegenstand werden lässt. Darin besteht der Goethe, Schiller und Kleist verbindende, dramaturgische Zielpunkt. Eine solche, um die Figur des „charismatic hero“202 kreisende Dramenpoetik hat Lamport als charakteristisch für ein vom jungen Goethe über Schillers Frühdramatik zu dessen späteren Dramen verlaufendes und bis hin zu Kleist (sowie zu Hölderlins Empedokles-Fragment) nachvollziehbares Gattungsformat der politischen Tragödie beschrieben.203 Auch in dieser Darstellung firmiert Lessings Mitleidspoetik als Ausgangspunkt, wobei zusätzlich Lenz’ Plädoyer für eine dramenpoetische Zentralstellung des Charakters – in Abgrenzung zum gemäß Aristotelischer Gattungstheorie vorrangigen Aspekt der Handlung – als grundlegend für eine als „tragedy of character“204 antretende und in einer „tragedy of charisma“205 mündende, politische Dramatik betrachtet wird. Den Größe-Diskurs, der in den entsprechenden Texten Goethes, Schillers und Kleists zur Darstellung kommt, führt Lamport nicht auf die im Briefwechsel über das Trauerspiel diskutierten Figurenmodelle – und damit auch nicht auf das Heroismus-Paradigma des französischen Dramenklassizismus – zurück, sondern leitet diesen aus der Sturm und Drang-Programmatik her, als deren Gewährsmann neben Lenz Goethe und damit indirekt auch Shakespeare genannt wird.206 202 Lamport (1989), S. 62. 203 Vgl. Lamport (1989), S. 62. 204 Lamport (1989), S. 66. 205 Lamport (1989), S. 66. 206 Lamport (1989) führt die Rede zum Schäkespears Tag (1771) als zentrales Textzeugnis an (vgl. S. 62).
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Gleichwohl wird die wirkungsäthetische Anlage jener Charisma-Tragödien darin gesehen, Helden auf die Bühne zu bringen, „for whom we are evidently intended to feel not only affection and pity but also admiration“207. Noch zentraler als die Annahme einer Zusammenführung von Mitleids- und Bewunderungsdramaturgie ist Lamports Hinweis auf deren analytische Wendung. So würden beispielsweise Götz und Egmont als bewunderte, nicht aber als bewunderungswürdige Helden exponiert. Goethe lege dabei nicht nur die bewundernde Rezeption den übrigen dramatischen Figuren in den Mund, sondern weise diese noch darüber hinaus als grundlos aus.208 Im Zuge dessen kann offensichtlich nicht mehr von einer wirkungsästhetisch ausgerichteten Bewunderungsdramaturgie die Rede sein. Worauf ein solcher Figurenbau und -verkehr vielmehr abzielt, deutet sich bei Lamport ebenfalls an: Both Götz and Egmont are presented as charismatic heroes, leaders who are shown to exert some kind of personal magnetism, inspiring love and loyalty in their followers and some kind of respect even in their enemies. This charismatic authority, rather than the character of the hero pure and simple, is in fact the real subject of these plays. […] we obviously need to see this love and loyalty and respect, in order to recognize it as the emanation of the hero’s charisma.209
Eine tragedy of charisma rekurriert nach dieser Beschreibung zwar auf die Kategorien des Gefühls und der Größe, wobei diese nicht für eine Charakterzeichnung der dramatischen Hauptfigur funktionalisiert werden, in der sich eine Poetik des Mitleids mit einer der Bewunderung verbindet. Vielmehr stehe „a reflection […] of the call for social and political renewal […] through the agency of the charismatic leader“210 im wirkungsästhetischen Mittelpunkt. Was Lamport als politische Reflexion beschreibt, stimmt in wesentlichen Punkten mit meinem Versuch überein, eine Analytik des Politischen im Held*innendrama Goethes, Schillers und Kleists herauszuarbeiten. Die Zusammenführung und Wendung der beiden in der Trauerspiel-Kontroverse als gegensätzlich firmierenden Figurenmodelle mündet meiner Lesart nach also weder in einer emotionalistischen Dramenpoetik des Mitleids noch in einer der Bewunderung. Die fokussierten Dramenheldinnen und -helden sind vielmehr, so mein Vorschlag, als (De-)Figurationen eines empfindsamen Heroismus lesbar. In dieser das Problem des politischen Heroismus exponierenden, analytischen Dramaturgie
207 Lamport (1989), S. 65. 208 „[…] Goethe’s two great ‚Sturm und Drang‘ protagonists do not deserve the admiration which they are shown to receive within the play“ (Lamport (1989), S. 66). 209 Lamport (1989), S. 66 [Hervorhebung im Original]. 210 Lamport (1989), S. 63.
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geht es darum, die Genese und Wirkweise politischer Gefühle ebenso zu inszenieren und zu reflektieren wie die Entstehung und Funktionsmechanismen politischer Admirationsprozesse. Eine derart ausgerichtete Dramenpoetik rekonstruiert die vorliegende Arbeit, indem die im jeweiligen Text beobachtbaren Verfahren des dramatischen Figurenbaus analysiert werden. Am konkreten Text gilt es nachzuvollziehen, dass im Held*innendrama die skizzierten, im Gattungsdiskurs vorgeprägten, figurenkonzeptionellen Elemente überhaupt auftreten und welche Funktionen diese im Rahmen einer politischen Analytik erfüllen. Gleichwohl ist es meines Erachtens nicht möglich, eine einhellige Art der Bezugnahme der drei Autoren auf das dramenpoetische ‚Erbe‘, insbesondere auf das in der Trauerspiel-Kontroverse verdichtete Problem der Figurenkonzeption aufzuzeigen. Einschränkend sei daher bemerkt, dass ich die Diskussion um den dramatischen Helden in meinen Lektüren als poetologischen Horizont geltend mache, der textuell in verschiedener Weise bearbeitet, transformiert und problematisiert wird. Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass die Forschung – von denjenigen Beiträgen abgesehen, die das Politische in der einen oder anderen Facette im Drama der fokussierten Autoren verhandelt sehen – einen auf den TrauerspielZwiespalt rekurrierenden, analytischen Grundzug der hier unter der Formel des Held*innendramas zusammengefassten Texte bis dato nicht beschrieben hat. Wenn sich das Erkenntnisinteresse auf die Adaptation, oder besser: auf die Transformation der im Gattungsdiskurs kursierenden Figurenkonzepte richtet, geschieht dies üblicherweise in Form einer Zweiteilung: Entweder beschäftigt man sich mit den literarischen sowie theoretischen Bezugnahmen der Autoren auf das Heroismus- bzw. Größe-Paradigma oder auf die bei Lessing in einschlägiger Weise theoretisierte emotionalistische Dramenpoetik. Es bleibt festzustellen, dass auch in diesem Zusammenhang Schiller die mit Abstand größte Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen hat – was wohl auch darin begründet liegt, dass Schiller im Vergleich zu Goethe und Kleist sowohl quantitativ als auch qualitativ intensiver um eine eigene Theorie des Dramas bemüht ist. Es liegen insbesondere Beiträge vor, die den Einfluss der tragédie classique auf Schillers Dramatik und Dramentheorie diskutieren,211 wohingegen
211 Vgl. am ausführlichsten Bloch (1968) und Pleschka (2013). Immer (2008) rekonstruiert eine überwiegend ablehnende, aber insbesondere „den Aspekt des Heroischen“ (S. 155) wertschätzende Haltung Schillers gegenüber der klassizistischen französischen Dramenpoetik (vgl. S. 153–157). Vgl. Darras (2007); Pille (2007). Vgl. nur am Rande Barone (2004), S. 164–178. Vgl. Geisenhanslüke (2002/2003); Haas (2001); Philonenko (2001); Stellmacher (1989); Borchmeyer (1972), S. 18–31, 76–95; Rehm (1951), S. 11–100.
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sich vereinzelt auch um eine Verhältnisbestimmung zum Format des bürgerlichen Trauerspiels bemüht wird. Was Goethe und Kleist betrifft, kann bezüglich dieser beiden Traditionslinien nur auf wenige Forschungsbeiträge verwiesen werden.212 Die Zusammenführung von Gefühl und Größe bzw. wirkungsästhetisch formuliert: von Einfühlung und Bewunderung lässt sich vielleicht am intensivsten in Schillers Dramentheorie beobachten.213 Allerdings zeichnet sich ein Konzept wie das des Pathetisch-Erhabenen durch eine profund idealistische Stoßrichtung aus, was der hier angenommenen analytischen Wirkabsicht widerspricht. Die dramatischen Texte, Schillers eigene inbegriffen, können meines Erachtens gerade in dieser Hinsicht nicht einer Dramaturgie des Erhabenen zugerechnet werden. Richtungsweisend ist in diesem Zusammenhang der Forschungsbeitrag von Haas zur „Poetik und Dramaturgie der Träne bei Corneille, Schiller und Racine“214. Haas argumentiert am Beispiel des Don Carlos, wie sich der dramatische Text „an der Reflexion einer wirkungsästhetischen Synthese von Bewunderung und Einfühlung“215 abarbeite. Wichtig für meine Beschreibung des Gattungsprofils eines Held*innendramas ist die Überlegung, dass mit Schillers Konzept des Erhabenen, eben aufgrund seines dramenpoetischen Idealismus, eine solche Synthese nicht zu denken sei.216 Es fügt sich in meine Beschreibung einer die Aspekte von Gefühl und Größe analytisch exponierenden, politischen Dramaturgie, wenn Haas im Don Carlos eine wirkungsästhetische Strategie am Werk sieht, in der „distanzierte Bewunderung und einfühlende Rührung […] ihre Diskrepanz über eine komplexe Gefühlsmischung, die für beide Momente Platz hat“217, überwinden – oder kurz, wie Haas mit Blick auf das von ihm fokussierte Ventil des Gefühls, die Träne, zuspitzt: „Die Träne soll im Heldendrama, der Held in der Einfühlungsdramaturgie ankommen.“218 Dass eine solche Dramenpoetik sicher nicht (mehr) darauf zielt, ‚auf die Tränendrüse zu drücken‘, sondern das Phänomen eines empfindsamen Heroismus reflexiv anschaulich macht, zeichnet sich in Haas’ Resümee
212 Vgl. zur Bedeutung des bürgerlichen Trauerspiels für Goethes Clavigo Valk (2012), S. 144–146; vgl. ähnlich zu Clavigo und Stella Rochow (1999), S. 186–192. Vgl. zum Verhältnis Goethe – Racine am Beispiel der Iphigenie Geisenhanslüke (2002/2003), S. 21–29. Vgl. für einen rhetorischen Vergleich der Racine’schen Phèdre und der Kleist’schen Penthesilea Kanzog (2003). 213 Vgl. zum Einfluss der Debatte zwischen Mendelssohn und Lessing auf die Schiller’sche Dramenpoetik Schings (1980), S. 46–53. 214 Haas (2001), S. 131. 215 Haas (2001), S. 138. 216 Vgl. Haas (2001), S. 141. 217 Haas (2001), S. 140. 218 Haas (2001), S. 139.
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ebenfalls ab: „Tränen mögen somit noch auf der Bühne fließen, kaum aber mehr vor der Bühne. […] an die Stelle heißer Tränenflüsse tritt die kühle Bewunderung der Träne als heroisches Accessoire.“219 Wenn demnach Schillers Dramentheorie kaum geeeignet erscheint, die hier fokussierten dramatischen Figurationen eines empfindsamen Heroismus unter ein geteiltes Wirkungsprofil zu subsumieren, möchte ich nun skizzieren, wie die textuellen Rekurse auf die Trauerspiel-Kontroverse dramenanalytisch fruchtbar gemacht werden können. Im Held*innendrama radikalisiert sich meines Erachtens die Tendenz hin zu einer Überwindung der Differenz zwischen Privatem und Politischem – eine Differenz, die, wie oben dargestellt, als charakteristisch für das Gattungsprofil des bürgerlichen Trauerspiels angenommen wird. Die ausgewählten Texte nehmen, z. T. auf explizite, z. T. auf latente Weise auf Konstellationen des bürgerlichen Trauerspiels Bezug. Das Held*innendrama absorbiert insbesondere die Register familiär-häuslicher, amouröser respektive freundschaftlicher Emotionalität und verknüpft diese auf das Engste mit politischen Größe-Diskursen. Meine Studie fragt nach den Effekten eines solchen systematischen Eintrags des Emotionalen ins Politische und argumentiert, dass damit eine maßgebliche Strategie beschrieben ist, mittels derer die Dramen die Konstitution von Gemeinschaften als gefühlsbestimmte Herzensangelegenheit in Szene setzen. Es wird ein um den bewunderten, charismatischen Helden bzw. die Heldin organisiertes Familien- oder auch Liebesdrama auf die Bühne gebracht, das im großen Stil die Wirkmächtigkeit politischer Emotionen durchspielt. Dieser Deutungsansatz bemüht sich also darum, die familial-privaten Sujets nicht vom politischen Gehalt der Dramen abzutrennen. Um ein solches politisches Familien- oder Liebesdrama exponieren zu können, konzentrieren sich die Textlektüren auf den Figurenbau und den Figurenverkehr im Held*innendrama – und dies mit einem durch die figuralen Darstellungsprinzipien im bürgerlichen Trauerspiel geschärften Fokus. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geraten dergestalt – neben einigen dominanten Vaterfiguren und einer je unterschiedlich konturierten politischen Gemeinschaft – die Familienangehörigen des Helden bzw. der Heldin, von geschwisterlichen Freunden, Ehefrau oder Ehemann, Geliebter oder Geliebtem bis hin zu Söhnen. Vor diesem Hintergrund soll genauer über Modelle dramatischer Figurenanordnung und -folge, dramatischer Kommunikation sowie über die Konstruktion und Besetzung dramatischer Schauplätze aber auch Zeiträume nachgedacht werden. Es wird jedoch, wie schon angedeutet, darauf verzichtet, den dramatischen Figurenverkehr
219 Haas (2001), S. 145.
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psychologisch durchdringen zu wollen. Vielmehr gilt es, die jeweiligen Funktionen gattungsspezifischer (De-)Figurationsprinzipien im Rahmen der politischen Analytik der Stücke zu untersuchen. Die Studie betrachtet die ausdrücklich oder auch latent an das bürgerliche Trauerspiel anschließenden ‚Beziehungsgeschichten‘ als Handlungsstränge, die für die Staatsaktionen erhebliche Bedeutung haben. Der Blick in sein bzw. ihr Wohn- und Schlafzimmer stellt den Helden bzw. die Heldin als eine Figur vor, die in ein komplexes Beziehungsgefüge verstrickt ist, ja die nicht ohne Grund im Rahmen dieser erotischen wie familialen Anordnungen politisch agiert. Es soll gezeigt werden, wie die Texte fortgesetzt Elemente der traditionellen Affekt- und Empfindungsgemeinschaften von Familie und/oder Liebe in ihre politischen Szenarien einschreiben, um die heroische Autoritätsform sowie den charismatischen Herrschaftsmodus als sinnlich-emotional grundiert zu erkennen zu geben. Gleichfalls funktionieren derartige Dramenarrangements nur in Kombination mit Diskursivierungen politischer Größe. Um dies auf ein konkretes Beispiel zu bringen: Der Hauptkonflikt von Goethes Clärchen besteht nicht darin, dass ihre Liebe zum Grafen Egmont Standesgrenzen überschreitet und sie die standesgemäße Partie Brackenburg vor den Kopf stoßen muss. Der amouröse Zwiespalt geht vielmehr rasch in ein politisches Helden- und Heldinnendrama über, in dessen Verlauf Clärchen keineswegs in ihrer bürgerlichen Häuslichkeit verharrt. Die Bindung zu jenem allseits bewunderten, aristokratischen Hoffnungsträger der gegen die spanische Besatzung kämpfenden Niederländer treibt das Mädchen geradewegs auf die Straße (vgl. E, S. 530). Dort redet sie keiner zärtlichen Liebe das Wort, sondern hält eine flammende, affektgeladene Rede zugunsten der Befreiung des inzwischen eingekerkerten, politischen „Helden“ (E, S. 533). Das Held*innendrama um 1800 kennt eine Reihe solcher Szenen, in denen Heroisierungsprozesse als politische Dynamiken dargestellt werden, die durch affektive Bande in unberechenbarer Bewegung gehalten werden. Es kann, wie bereits bemerkt, auf kein – zumal auf kein von allen drei hier fokussierten Autoren geteiltes – dramenpoetisches Modell verwiesen werden, das dem beschriebenen Gattungsformat des politischen Held*innendramas zugrunde liegen würde. Dass der um den Kontrast zwischen Gefühl und Größe kreisende Streit über den Zuschnitt der dramatischen Hauptfigur allerdings mindestens für den zwischen Goethe und Schiller geführten Dramendiskurs relevant ist, kann der Blick auf einen Text vermitteln, in dem der eine Autor ein Bühnenstück des anderen kritisiert. Im Folgenden diskutiere ich Schillers EgmontRezension (1788), weil sie ex negativo ein Figurenprofil auf den Begriff bringt, das für das Held*innendrama als einschlägig gelten kann.
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1.7 Der tatenlose Held ohne ‚sinnende Runzeln‘. Schillers Egmont-Rezension und Goethes Egmont-Trauerspiel „Schillers Einwand gegen Goethes Helden ist womöglich nicht so sehr moralisch als wirkungsästhetisch begründet.“220 Was der Kommentar zu Schillers EgmontBesprechung in der Klassiker-Werkausgabe als Spekulation in den Raum stellt, lässt sich zuspitzen: Schillers im September 1788 in der Allgemeinen LiteraturZeitung publizierte Rezension zum Egmont-Trauerspiel (1788) ist in allererster Linie eine ‚sachliche‘ Kollegenkritik, deren Pointe darin zu sehen ist, Goethe einen kardinalen, figurenkompositorischen Lapsus anzukreiden. Dieser wiegt aus der Sicht des Rezensenten deswegen umso schwerer, weil Goethe eine tragische Subgattung gewählt habe, die gerade auf die dramatische Hauptfigur konzentriert sei. Egmont sei, wie Schiller auf Grundlage einer dreifachen Gattungsdifferenzierung ausführt, ein ‚Charakterdrama‘, ein sich auf „Individualität, Ausführlichkeit und Schärfe der Charakteristik“221 kaprizierendes Stück, dessen Einheit im Gegensatz zu den „alten Tragiker[n]“222 nicht auf einer Darstellung „außerordentliche[r] Handlungen und Situationen, oder […] Leidenschaften“223 beruhe. Vielmehr werde das Trauerspiel „beinahe durch nichts, als durch den Charakter, zusammengehalten“224, wobei darin für Schiller sicher kein Fehler liegt. Sein eigentlicher Kritikpunkt besteht in Goethes Ausgestaltung jener „dritten Gattung“225, die doch immerhin auf einen hoch geschätzten literarischen Gewährsmann zurückführbar sei: Erst in neuern Zeiten, und in diesen erst seit Shakespear, wurde die Tragödie mit der dritten Gattung bereichert; er war der erste, der in seinem Macbeth, Richard III. u. s. w. ganze Menschen und Menschenleben auf die Bühne brachte, und in Deutschland gab uns der Verfasser des Götz von Berlichingen das erste Muster in dieser Gattung.226
Shakespeare gilt Schiller nicht nur in dieser Rezension, sondern insbesondere während der Arbeit an der Wallenstein-Trilogie als Autor, der für die praktischen Probleme des dramatischen Figurenbaus, zumal im politischen Drama, sinnfällige Lösungen anzubieten hat.227 Allein, Goethes Egmont kann, wie Schiller im 220 Janz (1992a), S. 1503. 221 Schiller, ÜE, S. 927. 222 Schiller, ÜE, S. 927. 223 Schiller, ÜE, S. 926 [Hervorhebungen im Original]. 224 Schiller, ÜE, S. 927. 225 Schiller, ÜE, S. 927. 226 Schiller, ÜE, S. 927. 227 Vgl. Greiner (2010), S. 696–700. Vor dem Hintergrund, dass Schiller in der Rezension zu Egmont Shakespeares dramatische Herrscherfiguren als mustergültige Exempel einer Charaktertragödie auffasst, in der sich die Aspekte von Größe und Menschlichkeit verbinden, wäre zu
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Folgenden darlegt, nicht als ein ähnlich gelungenes, in Shakespeare’scher Tradition stehendes Charakterdrama eingeschätzt werden wie noch das 15 Jahre zuvor erschienene Götz von Berlichingen-Schauspiel. Dies liege darin begründet, dass es Egmont in Goethes Darstellung an einer Geisteshaltung mangele, die dessen großer politischer Mission angemessen wäre: Egmont ist ein Held, aber auch ganz nur ein flämischer Held, ein Held des sechzehnten Jahrhunderts; Patriot, jedoch ohne sich durch das allgemeine Elend in seinen Freuden stören zu lassen; Liebhaber, ohne darum weniger Essen und Trinken zu lieben. Er hat Ehrgeiz, er strebt nach einem großen Ziele, aber das hält ihn nicht ab, jede Blume aufzulesen, die er auf seinem Wege findet, hindert ihn nicht des Nachts zu seinem Liebchen zu schleichen, das kostet ihn keine schlaflosen Nächte. Tolldreist wagt er bei St. Quentin und Gravelingen sein Leben, aber er möchte weinen, wenn er von dieser freundlichen süßen Gewohnheit des Daseins und Wirkens scheiden soll.228
Goethes Porträt eines Blumen pflückenden, sinnlichen Freuden ergebenen Liebhabers will in Schillers Vorstellung offenbar nicht recht zum synchron offerierten Bild eines großen, tollkühnen Kriegshelden passen. Der Rezensent sieht Egmonts heroische Größe zwar im Stück angedeutet, aber durch andere figurale Facetten konterkariert. Dass sich Egmont ‚von seinem großen Wege‘ aber nicht nur durch leibliche Freuden abbringen lässt, sondern dass er noch darüber hinaus kein reflektierter, kontemplativer und damit auch kein ernsthafter Charakter sei, belegt Schiller mit einer Zitatcollage aus dem Dramentext. Egmonts Selbstbeschreibung gegenüber seinem Sekretär in der Mitte des zweiten Aufzuges spricht aus Schillers kritischer Sicht Bände:
überlegen, ob nicht Shakespeare ein größerer Einfluss auf den Figurenbau im Held*innendrama zugestanden werden müsste, zumal der Enthusiasmus für Shakespeare seit dem Sturm und Drang im Gattungsdiskurs insistiert. Die Verquickung von avancierter Charakterzeichnung und politischer Machtanalytik ist jedoch in erster Linie wichtig für Schillers theoretische und arbeitspraktische Einlassungen zur dramatischen Gattung. Vgl. dazu Guthrie (2011); Riehle (2011); Greiner (2010); Nagel/Reichert (2010); Ranke (2010); Horn (2009); Immer (2008), S. 151–152; Borchmeyer (2005); Guthke (2005); Cersowsky (1993); Stellmacher (1989); Henning (1986). Vgl. zu Goethe in Auswahl und nicht immer dezidiert auf das Drama bezogen: Niggl (2012); Fennell (2010); Heitz (2006); Birus (2005); Greiner (2005); Michelsen (2002); Ermann (1983) Vgl. ebenso zu Kleist: Jenn (2012); Samuel (2011); Kaul (2008); Bronfen (1999); Theisen (1999). Die Shakespeare-Diskussion ist aber insofern nicht maßgeblich für die in meiner Arbeit gezogene Linie, weil jener Fokus auf das ‚Menschliche‘ von Herrscherfiguren anderes in den Blick rückt als einen empfindsamen Heroismus, der seinen analytischen Wert als Drama charismatischer Macht im Ausgang des 18. Jahrhundert erhält. Meine Studie versucht, den Faktor ‚Gefühl‘ im politischen Spiel, wie bereits dargelegt, in gattungsgeschichtlicher Hinsicht als Rekurse auf das bürgerliche Trauerspiel und die Trauerspiel-Debatte geltend zu machen. 228 Schiller, ÜE, S. 928–929.
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‚Leb ich nur,‘ so schildert er sich selbst, ‚um aufs Leben zu denken? Soll ich den gegenwärtigen Augenblick nicht genießen, damit ich des folgenden gewiß sei? Und diesen wieder mit Sorgen und Grillen verzehren? – Wir haben die und jene Torheit in einem lustigen Augenblick empfangen und geboren, sind schuld, daß eine ganze edle Schar von Bettelsäcken und mit einem selbst gewählten Unnamen dem König seine Pflicht mit spottender Demut ins Gedächtnis rief; sind schuld – was ists nun weiter? Ist ein Fastnachtsspiel gleich Hochverrat? Sind uns die kurzen bunten Lumpen zu mißgönnen, die ein jugendlicher Mut um unsers Lebens arme Blöße hängen mag? Wenn ihr das Leben gar zu ernsthaft nehmt, was ist denn dran? Scheint mir die Sonne heut, um das zu überlegen, was gestern war?‘229
Egmonts Plädoyer für den Genuss des Augenblickes, das den vorsorgenden Blick in die Zukunft wie auch die nachdenkliche Retrospektive als übersteigerte Ernsthaftigkeit ablehnt, bringt auch, hier ist Schillers Zitatauswahl deutlich, eine politische Sorglosigkeit des Protagonisten zum Ausdruck. Goethes Text nämlich spielt hier auf eine politische Aktion des niederländischen Landadels im Jahre 1566 an: Eine Abordnung hatte bei der Regentin von Parma eine Bittschrift übergeben, in der gegen verschiedene Zwangsmaßnahmen der spanischen Besatzung protestiert wurde. Der Präsident des Finanzrates, Karel von Berlaymont, soll die Gesandtschaft voller Spott als einen „‚tas de gueux‘ (Haufen von Bettlern)“230 titutliert haben; das Pejorativum wurde in der Folge zur Bezeichnung des Widerstandes gegen die spanische Regierung aufgewertet, man nannte sich fortan die „‚Geusen‘“231 und trug als Embleme einen Bettelsack und einen Holzbecher. Egmonts Einlassungen lesen sich als Distanzierung von der Aktion und von der daran anknüpfenden Symbolpolitik der Widerständler. Er will am politischen Geschehen, wie zweimal angemerkt wird, schlicht ‚nicht schuld‘ sein, ja hält wenig von derart agitativen Auftritten vor den Besatzern, welche diese nur noch aufmerksamer auf die wiederstreitenden politischen Kräfte mache – dann doch lieber ‚den sonnigen Augenblick‘ genießen.232 Direkt im Anschluss an dieses Zitat spitzt Schiller seine Textkritik in Gestalt einer wirkungsästhetischen Schelte des Goethe’schen Figurenbaus zu: Durch seine schöne Humanität, nicht durch Außerordentlichkeit, soll dieser Charakter uns rühren; wir sollen ihn lieb gewinnen, nicht über ihn erstaunen. Diesem letztern scheint der
229 Schiller, ÜE, S. 929. Vgl. den entsprechenden Passus im Trauerspiel E, S. 492–493. Schiller lässt wie gesagt einige Sprechpassagen aus dem Dialog zwischen Egmont und seinem Sekretär aus. Das Gespräch konzentriert sich auf einen Brief des Grafen Oliva, der Egmont angesichts der angespannten politischen Situation warnt, wobei Egmont zu verstehen gibt, dieser „Ermahnungen“ (E, S. 492) mehr als überdrüssig zu sein. 230 Borchmeyer (1988), S. 1273. 231 Borchmeyer (1988), S. 1273. 232 Vgl. zu Egmonts Naivität und auch Gleichgültigkeit gegenüber machtpolitischen Zusammenhängen Lipiński (2002), S. 211.
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Dichter so sorgfältig aus dem Wege gegangen zu sein, daß er ihm eine Menschlichkeit über die andere beilegt, um ja seinen Helden zu uns herab zu ziehen; – daß er ihm endlich nicht einmal so viel Größe und Ernst mehr übrig läßt, als unsrer Meinung nach unumgänglich erfordert wird, diesen Menschlichkeiten selbst das höchste Interesse zu verschaffen.233
Schiller vermisst, das wird nicht nur an dieser Stelle deutlich, im Figurenprofil des Grafen „eine relative Größe“234, die notwendig sei, um eben nicht nur zu ‚rühren‘, sondern das Publikum ebenso ‚staunen‘ zu machen. Goethes Hauptfehler bestehe darin, den Helden über Gebühr zu vermenschlichen, ja ihn regelrecht mit dem in erster Linie empfindenden Schaubühnen-Publikum auf eine Stufe zu stellen. Zwar konzediert Schiller, nichts gegen „Züge menschlicher Schwachheit […] in einem Heldengemälde“235 einwenden zu wollen, allerdings unter der entscheidenden Bedingung, dass diese „mit großen Handlungen in schöner Mischung zerfließen“236. Eine Balance aus rührender Menschlichkeit und bewunderungswürdiger Tatkraft hält er also für die unverzichtbaren Konstituenten eines dramatischen Charakterporträts, das Goethe verfehlt habe. Denn, so die suggestive Nachfrage an den Text, „durch welche strahlende Tat, durch was für gründliche Verdienste hat sich Egmont bei uns das Recht auf eine […] Teilnahme und Nachsicht erworben?“237 In den folgenden Darlegungen manifestiert sich zwischen den kritischen Zeilen das dramenpoetische Problem, einen politischen Helden zu figurieren. Anders gesagt: Was Schiller als defizitäre Figurenkomposition an Goethes Egmont bemängelt, beschreibt ziemlich genau das auf eine analytische Wirkung zielende Profil eines empfindsamen Heroismus, das sich mithin in Schillers eigenen Heldenfiguren abzeichnet. Noch einmal verweist die Rezension auf den Aspekt der heroischen Tat; genauer wird kritisiert, dass Goethe Egmonts offenbar unbestrittene, tatkräftige Verdienste unpassenderweise nur indirekt zur Darstellung bringe: Zwar heißt es, diese Verdienste werden als schon geschehen vorausgesetzt, sie leben im Gedächtnis der ganzen Nation, und alles, was er spricht, atmet den Willen und die Fähigkeit, sie zu erwerben. Richtig! Aber das ist eben das Unglück, daß wir seine Verdienste von Hörensagen wissen und auf Treu und Glauben anzunehmen gezwungen werden; – seine Schwachheiten hingegen mit unsern Augen sehen. Alles weiset auf diesen Egmont hin, als auf die letzte Stütze der Nation, und was tut er eigentlich großes, um dieses ehrenvolle Vertrauen zu verdienen?238
233 Schiller, ÜE, S. 929. 234 Schiller, ÜE, S. 930. 235 Schiller, ÜE, S. 929 [Hervorhebung im Original]. 236 Schiller, ÜE, S. 929. 237 Schiller, ÜE, S. 929–930. 238 Schiller, ÜE, S. 930 [Hervorhebungen im Original].
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In der Tat beginnt Goethes Trauerspiel bereits mit einer Szene, die weniger den beim Armbrustschießen reüssierenden Soldaten Buyck, der unter Egmont dient, „hoch“ (E, S. 461) leben lässt, sondern rasch den Fokus darauf richtet, den im Volk kursierenden Heldenstatus seines Dienstherren in epischer Breite zu schildern. So ergeht sich Buyck in einem Bericht über die Großtaten des „Helden von Gravelingen“ (E, S. 463–464), den die Umstehenden mit der kollektiv ausgerufenen Huldigungsformel „Hoch! dem großen Egmont hoch! und abermal hoch.“ (E, S. 464) affirmieren.239 Goethes indirekte Einführung seines politischen Helden lässt also wahrlich keinen Zweifel daran, dass Egmonts Verdienste ins „Gedächtnis der ganzen Nation“240 eingetragen sind. Dass das Stück mit der Darstellung eines emphatischen Heroisierungsprozesses einsetzt und den Leser*innen die Egmont’schen Heldentaten bei Gravelingen keinesfalls eins zu eins vor Augen führt, ist indessen in meiner Lesart kein „Unglück“241, keine Schwäche in Goethes Figurenporträt, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, wie politische Helden entstehen – und zwar, mit Schillers eigenen Worten, im „Hörensagen“242, im bewundernden Wort der Gemeinschaft. Heldengröße konstituiert sich, diese Pointe ist Goethes Dramenauftakt zu entnehmen, nicht in der herausragenden Tat, sondern im ‚treuen Glauben‘, im bewundernden Blick einer Anhängerschaft. Schillers Irritation darüber, dass Egmont im Text als „Stütze der Nation“243 ausgewiesen werde, ohne dass er etwas eigentlich Großes tue, lässt sich daher wie folgt auflösen: Weil es in Goethes analytischem Heldendrama vordringlich darauf ankommt, Heroisierungsprozesse und nicht etwa einen ‚strahlenden Helden‘ mit menschlichen Zügen zu schildern, ist es kein Widerspruch, wenn ein tatenloser Egmont als nationale Gallionsfigur ausgewiesen wird. Eine solche Analyse charismatischer Herrschaft legt Goethe seinem Protagonisten mithin selbst in den Mund.244 In einem Gespräch mit Clärchen, das zunächst um die Art und Weise kreist, wie man sich Zuneigung eines geliebten Menschen erwirbt, bemerkt Egmont, dass es keiner großen Tat bedarf, um die Liebe des Volkes zu erlangen: EGMONT […] Du verdienst sie [die Liebe] weil du dich nicht darum bewirbst – und die Leute erhalten sie auch meist allein die nicht darnach jagen.
239 Vgl. zu den heroisierenden Geschichten am Dramenbeginn Whitinger (2007), S. 130–131. 240 Schiller, ÜE, S. 930. 241 Schiller, ÜE, S. 930. 242 Schiller, ÜE, S. 930. 243 Schiller, ÜE, S. 930. 244 Schiller selbst zitiert den Passus, ohne ihn allerdings für eine Erklärung von Egmonts Figurenprofil heranzuziehen (vgl. ÜE, S. 930).
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CLÄRCHEN Hast du das von dir abgenommen? Hast du diese stolze Anmerkung über dich selbst gemacht? Du den alles Volk liebt. EGMONT Hätt’ ich nur etwas für sie getan, könnt ich etwas für sie tun! Er ist ihr guter Wille mich zu lieben. (E, S. 507)
Die ganz und gar nicht auf tatkräftigen Verdienste gründende, freiwillige, emotionale Zugewandtheit der Menge ist es, die Held*innen macht – so lässt sich eine wesentliche, hier zum Ausdruck gelangende Pointe des Trauerspiels beschreiben. Dazu passt, dass Goethe sogar das Gegenlager Egmonts charismatische Größe konstatieren lässt, wenn es etwa aus dem Mund der Regentin Margarethe von Parma schon im ersten Aufzug heißt: „Die Augen des Volks sind alle nach ihm gerichtet und die Herzen hängen an ihm.“ (E, S. 472) Schiller jedoch sieht in Egmont einen dramatischen Helden vor sich, dem er auch deswegen das Attribut der Größe verwehrt, weil sich dieser in politischen Dingen nicht von seiner Vernunft leiten lasse, ja ein Held ohne „sinnende[ ] Runzeln“245 sei. Diese Charakterwertung bezieht sich in polemischer Weise auf eine Selbstbeschreibung Egmonts am Ende des zweiten Aufzuges. Kurz zuvor ist Egmont von Wilhelm von Oranien eindringlich davor gewarnt worden, in der Stadt zu verweilen, weil die von den niederländischen Aristokraten noch als einigermaßen milde eingeschätzte Margarethe von Parma mutmaßlich bald durch den für seine Grausamkeit bekannten Herzog von Alba ersetzt werden solle. Oranien habe also Egmont „mit allen Gründen der Vernunft auf sein nahes Verderben hingewiesen“246, woraufhin dieser allerdings nur den Wunsch geäußert habe, sich von jenen Sorgen schnellstmöglich abzulenken. Bei Goethe heißt es: „[D]ieser Mann [Oranien] trägt seine Sorglichkeit in mich herüber. – Weg! das ist ein fremder Tropfen in meinem Blute. Gute Natur wirf ihn wieder heraus! Und von meiner Stirne die sinnenden Runzeln wegzubaden, gibt es ja wohl noch ein freundlich Mittel.“ (E, S. 500) Der aufmerksame Leser, als der sich Schiller sogleich zeigt, weiß, welches Mittel gemeint ist: Dieses freundliche Mittel nun, – wer es noch nicht weiß – ist kein andres, als ein Besuch beim Liebchen! Wie? Nach einer so ernsten Aufforderung keinen andern Gedanken als noch Zerstreuung? Nein guter Graf Egmont! Runzeln, wo sie hingehören, und freundliche Mittel, wo sie hingehören! Wenn es euch zu beschwerlich ist, euch eurer eignen Rettung anzunehmen; so mögt ihrs haben, wenn sich die Schlinge über euch zusammenzieht. Wir sind nicht gewohnt, unser Mitleid zu verschenken.247
245 Schiller, ÜE, S. 930 [Hervorhebungen im Original]. 246 Schiller, ÜE, S. 930. 247 Schiller, ÜE, S. 930.
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Ein derart unreflektierter, ja sehenden Auges auf sein Unglück zusteuernder Held ist es in Schillers Perspektive nicht wert, mit dem Mitleid des Publikums bzw. der Leserschaft bedacht zu werden; er ist nicht geeignet, einer von Schiller anvisierten dramatischen Wirkungsästhetik gerecht zu werden, die neben Rührung eben auch auf Bewunderung zielt. Im weiteren Verlauf der Besprechung wird klar, dass Schiller Egmonts Zuwendung zu seinem ‚Liebchen‘ nicht als abgeschmacktes Detail auffasst, das den Helden nur punktuell allzu menschlich erscheinen lasse. Vielmehr stört den Rezensenten die Liebeshandlung, weil diese gerade kein Mehr an Menschlichkeit ins Bild setze. Umso schwerer wiege Goethes Erfindung der Beziehung zwischen Egmont und Clärchen, „da der Dichter noch obendrein der historischen Wahrheit Gewalt antun mußte, um sie hervorzubringen.“248 In diesem Zuge belehrt Schiller über die geschichtlichen Quellen und verweist insbesondere darauf, dass Egmont verheiratet gewesen sei und viele Kinder gehabt habe. Um nun seiner Familie ihren Lebensstandard so lange wie möglich zu erhalten, sei der historische Egmont in Brüssel geblieben, als zahlreiche Adelige bereits die Flucht vor den Besatzern angetreten hätten.249 Sein Weg in den Tod sei also ein Opfer aus Familienliebe gewesen, während „der Egmont im Trauerspiel […] aus einem leichtsinnigen Selbstvertrauen“250 heraus, ohne über seine politische Situation zu reflektieren sowie entgegen aller Warnungen, in der Stadt verharre. Die Transformation, die Goethe gegenüber der historischen Überlieferung im Hinblick auf Egmonts private Triebkräfte vornehme, hat aus Schillers Sicht aber eben auch zur Folge, dass Goethes Dramenheld an Menschlichkeit verliere: Indem der Dichter ihm Gemahlin und Kinder nimmt, zerstört er den ganzen Zusammenhang seines Verhaltens […] und verringert dadurch gar sehr unsre Achtung für den Verstand seines Helden, ohne ihm diesen Verlust von Seiten des Herzens zu ersetzen. Im Gegenteil – er bringt uns um das rührende Bild eines Vaters, eines liebenden Gemahls, – um uns einen Liebhaber von ganz gewöhnlichem Schlag dafür zu geben, der die Ruhe eines liebenswürdigen Mädchens, das ihn nie besitzen, und noch weniger seinen Verlust überleben wird, zu Grund richtet, dessen Herz er nicht einmal besitzen kann, ohne eine Liebe, die glücklich hätte werden können, vorher zu zerstören, der also, mit dem besten Herzen zwar, zwei Geschöpfe unglücklich macht, um die sinnenden Runzeln von seiner Stirne wegzubaden.251
Schiller meint, dass Egmont durch seine Beziehung zu Clärchen den Bürgerssohn Brackenburg von ihrer Seite verdrängt, ja die standesgemäße amouröse Verbindung durchkreuzt und dass sich Clärchen aufgrund von Egmonts drohender 248 Schiller, ÜE, S. 931. 249 Vgl. Schiller, ÜE, S. 931. 250 Schiller, ÜE, S. 931–932. 251 Schiller, ÜE, S. 932. [Hervorhebungen im Original].
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Hinrichtung schließlich verzweifelt das Leben nimmt (vgl. E, S. 540–541). Nicht registriert wird dabei, dass der Liebes-plot von Goethe in den politischen eingewoben wird und Clärchen im Stück ganz und gar nicht die in ihrer Stube hockende Bürgerstochter ist, die am Ende ‚nur‘ um den Verlust ihres Liebhabers trauert.252 Clärchen wird vielmehr von Beginn an als diejenige präsentiert, die Egmont in hohem Maße heroisiert und die dementsprechend vor allem an der Erosion seines Heldenstatus verzweifelt. Hinzu kommt, dass die Beziehung zwischen Clärchen und Brackenburg ebenfalls in der Frühphase des Trauerspiels keineswegs als „eine Liebe, die glücklich hätte werden können“253, gekennzeichnet wird. All dies kann ein Blick in den ersten Aufzug zeigen. Versammelt im „Bürgerhaus“ (E, S. 474) sind Clärchen, ihre Mutter und der im Personenregister als „Bürgerssohn“ (E, S. 460) charakterisierte Brackenburg. Präsent in diesem häuslich-bürgerlichen setting ist überdies und wieder einmal indirekt Egmont, und zwar im gemeinsamen Gesang des Mädchens und Brackenburgs, die zu einem „Soldatenliedchen“ (E, S. 474), zu Clärchens „Leibstück“ (E, S. 474), ansetzen: Die Trommel gerühret! Das Pfeifchen gespielt! Mein Liebster gewaffnet dem Haufen befiehlt. Die Lanze hoch führet die Leute regieret. Wie klopft mir das Herze! Wie wallt mir das Blut! O hätt ich ein Wämslein und Hosen und Hut. Ich folgt ihm zum Tor ’naus mit mutigem Schritt, ging durch die Provinzen ging überall mit. Die Feinde schon weichen wir schießen hinterdrein! Welch Glück sonder gleichen ein Mannsbild zu sein. (E, S. 474–475)
252 Vgl. für eine solche Lesart, die keinen Bezug zwischen dem Heldendrama und dem Liebesdrama herstellt Schaum (2012), bes. S. 54–58. So auch Saviane (1987): „In ‚Egmont‘ sind Privates und Öffentliches getrennt.“ (S. 57). 253 Schiller, ÜE, S. 932.
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Ob mit jenem Liebsten, der bewaffnet ‚dem Haufen befiehlt‘ und ‚die Leute regiert‘, tatsächlich Egmont gemeint ist, ist nicht eindeutig zu sagen; der Bürgerssohn, dem laut Didaskalie während des Liedes die Stimme versagt, der sich mit feuchten Augen zum Fenster abwendet und der rasch abtritt, um den Marschgeräuschen auf der Straße nachzugehen (vgl. E, S. 475), ist es ganz sicher nicht. Dass nämlich das Verhältnis von Clärchen und Brackenburg von Anfang an als eine einseitige, unglückliche Liebe ausgewiesen wird, zeigt das sich anschließende Zwiegespräch zwischen Mutter zu Tochter. Während die Mutter Brackenburg als „treue[n] Bursche[n]“ (E, S. 476) anpreist, ist Clärchens Haltung zu ihm zwar freundlich, aber, was eine amouröse Verbindung betrifft, unmissverständlich ablehnend: „Ich mache mir Vorwürfe daß ich ihn betrüge, daß ich in seinem Herzen eine vergebliche Hoffnung nähre. […] Ich hatte ihn gern und will ihm auch noch wohl in der Seele. Ich hätte ihn heuraten können und glaube ich war nie in ihn verliebt.“ (E, S. 476) Umso schwärmerischer nimmt sich ihre Beschreibung Egmonts aus, der nunmehr im Mittelpunkt des Gesprächs steht: „Ach was ists ein Mann! Alle Provinzen beten ihn an, und ich in seinem Arm sollte nicht das glücklichste Geschöpf von der Welt sein.“ (E, S. 476) Schon hier deutet sich an, dass Clärchen den, wie sie selbst sagt, „große[n] Egmont“ (E, S. 477) schätzt, ja ihren Geliebten in der Rolle des vom niederländischen Volk Angebeteten fokussiert. Wie sehr sie von Egmonts Heldenaura eingenommen ist, demonstriert ihre gegenüber der Mutter artikulierte und sich schon im Lied manifestierende Vermännlichungsphantasie, an seiner Seite in den Krieg zu ziehen:254 „Wär’ ich doch ein Bube, und könnte immer mit ihm gehen, zu Hofe und überall hin! Könnt ihm die Fahne nachtragen in der Schlacht.“ (E, S. 478) Wenn sich hier Clärchens Begehren nach einer Partizipation an Egmonts imaginierter Heldenexistenz ausdrückt, so dreht sich das Gespräch auch im Folgenden um das Bild, das sich das Mädchen vom ‚politischen Egmont‘ gemacht hat.255 Ganz in diesem Sinne erinnert sich Clärchen, wie ein „Lobliedchen“ (E, S. 478) auf Egmont, das am Haus vorbeiziehende Menschen gesungen hätten, ihr Herz habe höher schlagen lassen. Doch nicht nur „seine[en] Namen in den Liedern“ (E, S. 478) zu hören, lässt Clärchen ehrfürchtig erschauern
254 Auch Martus (1998) nimmt Clärchens Lieblingslied zum Anlass einer Interpretation, die von einer Untrennbarkeit von Liebe und Politik im Egmont ausgeht. Insbesondere verbänden sich „Liebe und Politik im Wunsch des Geschlechtertausches“ (S. 54). Vgl. Whitinger (2007): Clärchens „‚Soldatenliedchen‘ envisions a togetherness with her lover gained by experiencing the joy of being a ‚Mannsbild‘, complete with doublet, hat, and breeches“ (S. 133). 255 In diesem Sinne konstatiert Whitinger (2007), dass Egmont hier in verschiedenen Medienformaten präsent ist und liest ein derartiges Ausstellen vermittelter Anwesenheit als ironischen Kommentar, der die Künstlichkeit der Held-Werdung markiere (vgl. S. 131).
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(vgl. E, S. 478). Die Mutter weiß über eine ähnliche Reaktion zu berichten, die das Mädchen angesichts eines Holzschnittes gezeigt habe, auf dem eine heroische Szene der Schlacht bei Gravelingen abgebildet gewesen sei; so bewundernd habe das Mädchen „Graf Egmont!“ (E, S. 478) geschrien, dass der Mutter eine peinliche Röte ins Gesicht gestiegen sei (vgl. E, S. 478). Dass Clärchens heroisierende Schwärmereien so breit geschildert werden, kann als exemplarisch für den sich im Egmont-Trauerspiel manifestierenden empfindsamen Heroismus gelten. Denn selbst die vermeintlich nur ans romantische Herz gerichtete Liebeshandlung erweist sich als politisch grundiert. Zusätzlich müssen angesichts der Art und Weise, wie das Dreiecksverhältnis zwischen Clärchen, Brackenburg und Egmont im Stück eingeführt wird, Zweifel an Schillers Lesart angemeldet werden, dass Egmont eine Glück verheißende Paarbeziehung störe und sich dergestalt als ‚Unmensch‘ in Herzensangelegenheiten zeige. Goethe macht vielmehr von Anfang an klar, dass Clärchen eine Verbindung mit Brackenburg nie ernsthaft in Erwägung zieht. Und so gipfelt denn auch Brackenburgs Rolle als unglücklich Verliebter schon am Ende des ersten Aufzuges darin, dass dieser erwägt, ein Giftfläschchen zu leeren, das er sich offenbar bereits besorgt hat (vgl. E, S. 480). Egmont ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal aufgetreten. Die Straßenszene zu Beginn des fünften Aufzuges ist besonders einschlägig dafür, wie Goethe den Liebes-plot für sein Heldendrama funktionalisiert,256 ja er lässt Clärchen in der Rolle einer glühenden Anhängerin Egmonts geradewegs aufgehen.257 Egmont ist kurz zuvor von Alba verhaftet worden, (vgl. E, S. 529) 256 Vgl. so in einer Randbemerkung auch Fink (1990), S. 226. 257 Eine ganz ähnliche Strategie lässt sich in der Gestaltung der Interaktion zwischen Ferdinand von Alba und Egmont beobachten, wobei hier kein romantische Liebes-, sondern ein Freundschaftsverhältnis als Aufhänger dient. Der Sohn des neuen Regenten besucht Egmont kurz vor dessen Hinrichtung im Gefängnis, um ihm mehr als nur seine freundschaftliche Solidarität zu bekunden. Goethe führt Ferdinand als heimlichen, dem feindlichen Lager entstammenden Freund des Verurteilten ein, der diesem aber nicht nur „unerwartete[n] Trost“ (E, S. 544) bringt, sondern Egmont in der Heldenrolle affirmiert. Auf Egmonts Frage nämlich, warum Ferdinand „das Schicksal eines fremden Mannes“ (E, S. 545) so bewege, entgegnet dieser: „Nicht fremd! Du bist mir nicht fremd. Dein Name wars der mir in meiner ersten Jugend gleich einem Stern des Himmels entgegen leuchtete. Wie oft habe ich nach dir gehorcht, gefragt! […] So bist du vor mir her geschritten, immer vor und ohne Neid sah ich dich vor und schritt dir nach und fort und fort. Nun hofft ich endlich dich zu sehen und sah dich und mein Herz flog dir entgegen.“ (E, S. 545) Egmont bekräftigt Ferdinand seinerseits, der angesichts der drohenden Exekution des von ihm so Verehrten schier verzweifelt, in der Rolle eines mitfühlenden Anhängers: „Junger Freund, […] der für mich die Todesschmerzen empfindet, für mich leidet, sieh mich in diesen Augenblicken an, du verlierst mich nicht. War dir mein Leben ein Spiegel in welchem du dich gerne betrachtetest, so sei es auch mein Tod.“ (E, S. 547) Auch die späte Freundschaft zum Sohn des spanischen Regenten ist somit kein nur dem Bereich des Privat-Menschlichen zuzuordnender
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woraufhin Clärchen die Brüsseler Bürger zu einer Befreiungsaktion vereinigen will, sie will die „Stimme [sein] die sie [die Bürger] zusammenruft“ (E, S. 530). Das Mädchen steigert sich hier in ihre schon im ersten Aufzug erkennbare Heldenverehrung fast bis zur Besinnungslosigkeit herein. Die Szene beginnt dementsprechend mit einem emphatischen Aufruf: Kommt! Wir wollen uns teilen. Mit schnellem Lauf von Quartier zu Quartier rufen wir die Bürger heraus. Ein jeder greife zu seinen alten Waffen. Auf dem Markte treffen wir uns wieder und unser Strom reißt einen jeden mit sich fort. Die Feinde sehen sich umringt und überschwemmt und sind erdrückt. […] Und er in unsrer Mitte kehrt zurück, sieht sich befreit und kann uns einmal danken, uns die wir ihm so tief verschuldet worden. (E, S. 531)
Die Reaktionen der anwesenden Bürger sind jedoch ganz und gar ablehnend, da man sich vor dem strengen Regiment fürchtet, das Alba praktiziert, dessen prominentestes Opfer Egmont ja ist. Man scheut sogar davor zurück, dessen Namen überhaupt auszusprechen: „Nenn den Namen nicht! Er ist Tödlich“ (E, S. 531), heißt es aus den Reihen der Bürger. Clärchens auf Taten dringende Euphorie steigert sich draufhin immer weiter. Sie erinnert bildgewaltig an Egmonts Heldenrang unter den Bürgern, der, so der appellative Schluss ihres leidenschaftlichen Plädoyers, zur Rettung verpflichte: Bleibt! Bleibt und drückt euch nicht vor seinem Namen weg, dem ihr euch sonst so froh entgegen drängtet! – Wenn der Ruf ihn ankündigte, wenn es hieß Egmont kommt! Er kommt von Gendt; da hielten die Bewohner der Straßen sich glücklich durch die er reiten mußte. Und wenn ihr seine Pferde schallen hörtet, warf jeder seine Arbeit hin, und über die bekümmerten Gesichter, die ihr durchs Fenster stecktet, fuhr wie ein Sonnenstrahl von seinem Angesichte ein Blick der Freude und Hoffnung. Da hobt ihr eure Kinder auf der Türschwelle in die Höhe und deutetet ihnen: Sieh das ist Egmont, der größte da! Er ists! Er ists von dem ihr beßre Zeiten als eure armen Väter lebten einst zu erwarten habt. Laßt eure Kinder nicht dereinst euch fragen: wo ist er hin? Wo sind die Zeiten hin die ihr verspracht. (E, S. 531–532)
Dass Egmonts heroisch-sonnige ‚Ausstrahlung‘ allerdings keine Kerkermauern zu überspringen vermag und in der brisanten politischen Situation niemanden mehr auf die Straße zieht, belegt die sich an Clärchens Rede anschließende Replik des Bürgers Soest. An Brackenburg, der das Mädchen begleitet, richtet dieser die
Handlungsstrang, der vom Heldendrama wegführt. Schillers Rezension lobt die Szene zwischen Egmont und Ferdinand von Alba: „Was kann rührender sein, als wenn ihm dieser Sohn seines [Egmonts] Mörders die Achtung bekennt, die er längst im Stillen gegen ihn getragen.“ (Schiller, ÜE, S. 935) Auch hier fallen die Stichworte, die für meine Lesart sprechen, dass Goethe Egmonts Heldendrama über (De-)Figurationen eines empfindsamen Heroismus in Szene setzt, ohne dass Schiller eine solche Deutung teilen würde: Ihm gilt die Kombination von ‚Rührung‘ und ‚Achtung‘ als rein wirkungsästhetischer Erfolg der Gefängnis-Szene.
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Warnung: „Schämt euch Brackenburg! Laßt sie nicht gewähren! Steuert dem Unheil!“ (E, S. 532) Clärchens jedoch setzt erneut zum Volksaufruf an, indem sie Egmont eine Schlüsselrolle im politischen Konflikt zuweist und ihn als niederländischen Märtyrer stilisiert: Wendet eure Gedanken nach der Zukunft. Könnt ihr denn leben? Werdet ihr wenn er zu Grunde geht? Mit seinem Atem flieht der letzte Hauch der Freiheit. […] Für wen übergab er sich der dringendsten Gefahr? Seine Wunden flossen und heilten nur für Euch. Die große Seele, die euch alle trug, beschränkt ein Kerker, […]. (E, S. 532)
Dass Egmonts Größe ihr von Clärchen beschworenes Unifikationspotential eingebüßt hat und ihr Appell dementsprechend ins Leere läuft, demonstriert der Umstand, dass die Versammelten Anstalten machen, die Szenerie ohne weiteren Kommentar zu verlassen (vgl. E, S. 532). Das scheint dem Mädchen Anlass dafür zu sein, sich selbst in die Rolle derjenigen zu begeben, die antritt, ‚das Feuer‘ des abwesenden Helden stellvertretend wieder zu entzünden. Wie schon im ersten Aufzug imaginiert sich Clärchen als Fahnenträgerin im Dienste des großen Mannes, (vgl. E, S. 478) und dies wiederum im Verweis darauf, dass ihr qua Geschlecht kaum mehr Interventionsmöglichkeiten offen stünden, als sich in die symbolische Mitte der Gemeinschaft zu stellen: Und ich habe nicht Arme, nicht Mark wie ihr; […] Könnt euch mein Atem doch entzünden, könnt ich an meinen Busen drückend euch erwärmen und beleben. Kommt! In eurer Mitte will ich gehen! – Wie eine Fahne wehrlos ein edles Heer von Kriegern wehend anführt; so soll mein Geist um eure Häupter flammen und Liebe und Mut das schwankende zerstreute Volk zu einem fürchterlichen Heer vereinigen. (E, S. 532)
Die Rede, die Goethe dem Mädchen in den Mund legt, hat kaum mehr etwas von jener Häuslichkeit und bürgerlichen Unschuld, an die eigentlich von Anfang an auch nur Brackenburg glauben kann (vgl. E, S. 479).258 Vielmehr kann der Passus als Höhepunkt von Goethes heroischer Figuration gelten, da Clärchen hier nicht nur das Volk für den männlichen Helden entflammen will, sondern in ihrer Held*innenphantasie selbst zum weiblichen Zentrum des Kollektivs avanciert.259 Wie irreal diese Vorstellung aber ist, vermerkt der Text überdeutlich, indem der
258 Wer noch daran glaubt, ist Schiller, da er Clärchens Funktion im Heldendrama übersieht: „Auch im höchsten Adel ihrer Unschuld noch das gemeine Bürgermädchen, und ein Niederländisches Mädchen – durch nichts veredelt als durch ihre Liebe, reizend im Zustand der Ruhe, hinreißend und herrlich im Zustand des Affekts.“ (ÜE, S. 936–937) Schiller übersieht, dass Clärchen gerade während der Straßen-Szene ‚im politischen Affekt‘ handelt. 259 Im Gegenteil meint Fink (1990), Clärchen sei „nicht politisch, sondern rein persönlich engagiert“ (S. 237). Er reduziert sie auf die Rolle der liebenden Frau: „[…] nicht die Sorge um die
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Aufruf mit einem „Schaff sie beiseite, sie dauert mich.“ (E, S. 533) kommentiert wird und das Bürgerkollektiv abtritt. Einzig Brackenburg verbleibt als letzter Zuhörer der konituierlich weiter Eifernden auf der Szenerie. Immer wieder fordert er auch im Verweis auf die in der Stadt postierten Wachen des spanischen Herzogs das aus seiner Sicht außer sich geratene Mädchen nervös dazu auf, ihre aufrührerischen Worte zu zügeln und heimzugehen (vgl. E, S. 533). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang sein Hinweis auf den Ort, an dem sich beide befinden: Besinne dich nur! Sieh dich um! Dies sind die Straßen die du nur sonntäglich betratst, durch die du sittsam gefaltet nach der Kirche gingst; wo du übertrieben ehrbar zürntest wenn ich mit einem freundlichen grüßenden Wort mich zu dir gesellte. Du stehst und redest, handelst vor den Augen der offnen Welt, besinne dich Liebe! (E, S. 533–534)
Clärchen wird an ein ihrem Geschlecht angeblich gemäßes Betragen gemahnt, wobei der Raum der Straße einen besonderen weiblichen Verhaltenskodex fordere: Nur sonntags, nur sittsam, nur um in die Kirche zu gehen, habe Clärchen in der Vergangenheit die Straße betreten und sogar in übersteigertem Ehrbewusstsein den freundlichen Gruß eines Mannes abgewehrt – wohl, um nicht ins Gerede und damit in den Fokus der Öffentlichkeit zu geraten. Brackenburgs Worte legen nahe, dass es dem Bürgermädchen nicht zieme, derart vor den ‚Augen der Welt‘ aufzutreten, ja in politischer Mission auf die Straße zu gehen. Indem die Szene damit schließt, dass Brackenburg ein grundderangiertes Clärchen, das nicht einmal mehr weiß, wo sein Zuhause ist, genau dorthin geleitet, (vgl. E, S. 534) verwirft Goethe die Erfolgsaussichten eines öffentlichen weiblichen Handelns endgültig. Gleichzeitig wird der Heldenstatus des großen Mannes Egmont als politisch ineffektiv ausgewiesen; in dieser Szene ist von seiner charismatischen Breitenwirkung nichts mehr zu spüren, die einzig noch als Obsession im Kopf seiner letzten Fürsprecherin insistiert. Der Umstand, dass Clärchen nach diesem gescheiterten Heldinnenauftritt nicht zur Rolle der tugendhaften Bürgerstochter zurückkehrt, die ihr zwar von der Mutter und Brackenburg stets angetragen wird, die sie aber von Anfang an nicht wirklich ausgefüllt hat, kann die Lesart von einer Überblendung der Liebeshandlung mit dem Heldendrama stützen. In ihrem Haus bringt sich Clärchen schließlich um, nachdem ihr Brackenburg davon berichtet hat, dass alle Vorbereitungen für Egmonts Hinrichtung getroffen werden. Sie geht nach eigenen Angaben in den Tod, um „in dieser Dunkelheit ihm [Egmont] zu begegnen“ (E, S. 539). Mit den pathetischen Worten „Tod ist mein Teil!“ (E, S. 539) stilisiert Clärchen ihren Freitod
niederländischen Privilegien macht aus ihr eine Passionaria, sondern ihre Liebe; nur die Angst um Egmont bringt sie dazu, einen Aufstand improvisieren zu wollen“ (S. 237).
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als Akt einer vorgreifenden, solidarischen Partizipation an Egmonts nahendem Heldentod. Auch Brackenburg stimmt schließlich in dieses Lied mit ein, indem er Clärchens Selbstmord seinerseits mit politischer Symbolik auflädt und das Mädchen als Botin des Egmont’schen postumen Heldenruhms imaginiert: „O Egmont, welch preiswürdig Los fällt dir! Sie geht voran, der Kranz des Siegs aus ihrer Hand ist dein, sie bringt den ganzen Himmel dir entgegen!“ (E, S. 541) Nach dem Gesagten ist es erwartbar, dass sich meine Deutung der berühmten Traumsequenz am Schluss des Egmont-Trauerspiels konträr zu Schillers verhält. Der Rezensent bemängelt, man werde „mitten aus der wahrsten und rührendsten Situation […] durch einen Salto mortale in eine Opernwelt versetzt, um einen Traum – zu sehen“260. In der Tat lässt Goethe seinen Helden entschlafen und ihn im Traum auf eine Gestalt treffen, welche laut Didaskalie „[d]ie Freiheit“ symbolisiert, „die Züge von Clärchen“ trägt und die „sich gegen den schlafenden Helden“ neigt (E, S. 549–550). Sie nähert sich ihm mit einem Pfeilbündel, einem Stab und einem Hut, d. h. mit den Symbolen des niederländischen Freiheitskampfes,261 und stilisiert Egmont zum Sieger gegen die spanischen Besatzer: Sie heißt ihn froh sein und indem sie ihm bedeutet daß sein Tod den Provinzen die Freiheit verschaffen werde, erkennt sie ihn als Sieger und reicht ihm einen Lorbeerkranz. […] Sie hält den Kranz über seinem Haupte schwebend, man hört ganz von weiten eine kriegrische Musik von Trommeln und Pfeifen, bei dem leisesten Laut derselben verschwindet die Erscheinung. (E, S. 550)
Aus Schillers Sicht nun ist damit „die Illusion“262 des Stückes zu weit getrieben, erlaube doch der allegorisch-träumerische Zusammenschluss der beiden Egmont beherrschenden „Gefühle“, „Klärchen und die Freiheit“263, nicht den Genuss einer abschließenden „Empfindung“264. Es deutet sich in Schillers Zeilen nur an, was damit genau gemeint ist: Der Held habe „alle seine Angelegenheiten berichtigt“265 und könnte nun erschöpft einschlafen, wenn der Verfasser des Trauerspiels sich nicht „an Natur und Wahrheit versündigt“266 hätte. Der Traum sei ein „witzige[r] Einfall“267 Goethes, denn die Einarbeitung dieser Sequenz störe das rührende Schlussbildes eines ermatteten Helden empfindlich. Was Schiller jedoch bestenfalls als geistreicher Ausflug ins Opernhafte gilt, stellt aus meiner
260 Schiller, ÜE, S. 937. 261 Vgl. Borchmeyer (1988), S. 1280. 262 Schiller, ÜE, S. 937. 263 Schiller, ÜE, S. 937. 264 Schiller, ÜE, S. 937. 265 Schiller, ÜE, S. 937. 266 Schiller, ÜE, S. 937. 267 Schiller, ÜE, S. 937. [Hervorhebungen im Original].
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Sicht die Schluspointe von Goethes analytischem Heldendrama dar. Die Traumsequenz schließt an die Strategie des ersten Aufzuges an, der, wie Schiller richtig bemerkt, keine heroische Tat, sondern die Genese des Helden aus dem bewundernden Wort der anderen schildert. Ganz in diesem Sinne lässt Goethe Egmonts Erhebung zu einem heroischen Selbstbewusstsein einzig im Traum geschehen und weist damit den Höhepunkt der Heldenmission als Produkt der Imagination aus.268 Die damit ins Bild gesetzte Entstehung des Helden aus dem Traum fügt sich in die narrativ zur Darstellung gebrachten Heldenträume der Gemeinschaft sowie in Clärchens heroische Phantasien über den ‚großen Egmont‘. Für diese Lesart spricht, dass sich Egmonts Einschätzung, wie sein Tod mit dem Freiheitskampf zusammenhängt, mit und nach dem Traum ändert. Während er sich noch kurz zuvor im Gespräch mit Ferdinand von Alba überhaupt nicht von einer politischen Relevanz seines Todes überzeugt zeigt („Kann mein Blut für viele fließen, meinem Volk Friede bringen, so fließt es willig. Leider wirds nicht so werden.“ (E, S. 548)), transportiert Goethes Traumepisode das genau gegenteilige Bild, das sich zudem daraufhin in Egmonts traumbekränztem Kopf festsetzt. Noch im Erwachen greift er sich „nach dem Haupte“ (E, S. 550) und bemerkt: „Verschwunden ist der Kranz! Du schönes Bild das Licht des Tages hat dich verscheucht!“ (E, S. 550) Das Traumbild insistiert fortan als politische Hoffnung des Verurteilten, wie seiner retrospektiven Beschreibung zu entnehmen ist: Mit blutbefleckten Sohlen trat sie [die Freiheitsallegorie] vor mir auf, die wehenden Falten des Saumes mit Blut befleckt. Es war mein Blut und vieler Edlen Blut. Nein es ward nicht umsonst vergossen. Schreitet durch! Braves Volk! Die Siegesgöttin führt dich an! (E, S. 550)
Die ‚niederländische‘ Blutspur auf dem Kleid der Clärchen-Libertas gerät in der Imagination des Erwachten zum Indiz einer von Sieg kündenden Zukunftsvision; passend dazu wird der baldige Auftritt der Victoria antizipiert. Und auch Egmonts Haltung zu seiner nahenden Hinrichtung ändert sich: Hatte er gegenüber Ferdinand von Alba noch beklagt, „[n]icht im Tumulte der Schlacht, unter dem Geräusch der Waffen, in der Zerstreuung des Getümmels“ (E, S. 547) sterben zu
268 Vgl. gegenteilig die Lesart von Schaum (2012), der Egmont eine „humanistische Sendung“ (S. 100) unterstellt und den Traum als Zukunftsvision des Protagonisten liest, die den „poetische[n] Versuch [ausdrücke], Egmonts positive Wirkung auf die geschichtliche Entwicklung der Niederlande sinnbildlich zu vergegenwärtigen, und damit die unzweideutige Rechtlichkeit und notwendige Opferwilligkeit anschaulich zu dokumentieren.“ (S. 152) Derartige Ausführungen zeigen, dass Schaum die figuralen Bruchlinien nicht ins Kalkül zieht und ebenso das im Stück breit ausgeschriebene Heroismussujet nicht registriert. Ähnlich argumentiert auch Buck (2000), dass sich Egmont am Schluss des Trauerspiels „[w]enigstens innerlich“ erhebe und träumerisch die „sieghafte Befreiung“ (S. 43) des Landes antizipiere.
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können, so ist er sich nach dem Traum sicher, in einen Heldentod zu gehen, der im Zeichen des niederländischen Freiheitskampfes steht:269 „Auch ich schreite einem ehrenvollen Tod aus diesem Kerker entgegen, ich sterbe für die Freiheit für die ich lebte und focht, und der ich mich jetzt leidend opfre.“ (E, S. 550–551) Es ist, so zumindest Egmonts letzte Worte, ein vorbildhafter Tod mit politischer Signalwirkung: „[…] fallt freudig wie ich euch ein Beispiel gebe.“ (E, S. 551) Dass das Stück mit einer „Siegessymphonie“ (E, S. 551) endet, kann nach dem Gesagten ganz sicher nicht als musikalische Untermalung eines optimistischen heroischen Schlussbildes gelten.270 Vielmehr ist die Musik als Rückverweis auf Clärchens Tod zu verstehen, den Goethe offstage geschehen lässt und der didaskalisch ebenfalls durch eine Musikeinlage bezeichnet wird (vgl. E, S. 541). Goethe funktionalisiert an dieser Stelle den Selbstmord des Mädchens für ein Schlussbild, das den imaginären Status jener späten Heldenbekränzung vermerkt.271 Als Überbringerin des Siegeskranzes hatte ja bereits Brackenburg Clärchen stilisiert und damit ihren Freitod in eine herbeiphantasierte Heldengeschichte Egmonts eingetragen. Die Traumsequenz macht diese Vorstellung nicht wahr, führt aber die politische Reflexion weiter, indem Clärchen dem Helden im Traum,272 d. h. in einem dezidiert realitätsfernen Zustand den Siegerschmuck ja noch nicht einmal überreicht, sondern „den Kranz über seinem Haupte schwebend“ (E, S. 550) hält,
269 Vgl. so auch Whitinger (2007): „Egmont dreams himself declared – wordlessly, or in words only he can hear – the victorious father of the Netherland’s freedom, for which he now claims to have been fighting all along.“ (S. 141). 270 Martus (1998) betrachtet die Siegessymphonie als Höhepunkt einer dramenpoetischen Strategie, die Ausgriffe ins Musikalisch-Opernhafte nutze, um gegen eine ästhetische „Ganzheitssemantik“ (S. 46) anzuschreiben. Nur am Rande wird dabei vermerkt, dass die triumphale Schlussmusik keineswegs eine reüssierende Heldenmission indiziert: „Die Siegessymphonie ‚bezeichnet‘ den Sieg der Kunst, weniger den den Todeskandidaten.“ (S. 61). 271 Vgl. konträr dazu Buck (2000), der für eine ‚positive‘ symbolische Funktion Clärchens argumentiert: „Daß die Freiheit Egmont in Gestalt der Geliebten erscheint, unterstreicht die dafür unbedingt mitzudenkende Voraussetzung der Liebe. Das stumme Symbolbild wird zum beredten Plädoyer für die Liebe, zunächst zwischen Clärchen und Egmont, dann aber auch ganz allgemein zwischen den Menschen.“ (S. 39) Auch Saviane (1987) unterschätzt Clärchens Bedeutung für die politische Konfiguration des Dramas, wenn er von einer Überwindung der Opposition zwischen Privatem und Politischem im „‚opernhaften‘ Finale“ ausgeht, die dadurch erfolge, dass Clärchen, „die Personifizierung des Privaten und individuellen Glücks, zur Göttin der politischen Freiheit erhoben wird“ (S. 58). 272 „Egmont erlebt seinen schönsten Sieg im Traum – und niemand ist da, der ihm diesen streitig machen wollte durch eine korrigierende Erinnerung an die Wirklichkeit als das Bewährungsfeld des handelnden Menschen.“ (Reinhardt (1992), S. 170).
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bis „eine kriegrische Musik“ (E, S. 550) von weitem vernehmbar wird.273 Nicht nur in der Figurenrede („Verschwunden ist der Kranz!“ (E. S. 550)), sondern auch didaskalisch vermerkt Goethe das reale Fehlen des Siegeskranzes ausdrücklich: „Egmont erwacht, […]. Seine erste Bewegung ist nach dem Haupte zu greifen, er steht auf und sieht sich um, indem er die Hand auf dem Haupte behält.“ (E, S. 550) Es ist, um mit Schiller zu sprechen, in der Tat eine ‚Illusion‘, die hier vor Augen gestellt wird, aber eine, die nicht eine etwaige empfindsame Wirkabsicht durchkreuzt, sondern die im Rahmen von Goethes politischer Analytik Sinn ergibt: Auch die Schlussszene fokussiert das Illusorische der Heroisierung, in diesem Falle der erträumten Selbstheroisierung.274 Dass Clärchen, die im gesamten Stück als glühendste Anhängerin des Helden, ja als von Egmonts Größe geradezu Besessene präsentiert wird, in diesem Traum eine zentrale, aber ebenso phantasmatische Rolle spielt, spricht umso mehr dafür, dass auch der Schluss die imaginären und affektiven Kräfte ins Zentrum rückt, die für politische Heroisierungsprozesse konstitutiv sind. Das Mädchen wird an dieser Stelle symbolisch in den männlichen Heldentraum eingepasst, was durchaus im Widerspruch zu ihren Vermännlichungsphantasien im ersten Aufzug und ihrem Aufruf zur politischen Aktion am Anfang des fünften Aufzuges steht.275 Kleist wird in seinem Prinz Friedrich von Homburg eine verblüffend analoge und sein Stück rahmende Figurenkonstellation bemühen, um das Heldentum seines Protagonisten als Kollektivphantasie auszuweisen.276 Hier taucht das Requisit des Siegerkranzes wieder auf, das sich der Prinz sogar noch selbst in somnambuler Umnachtung zurechtflicht (vgl. PH, S. 557) und das ihm vom Kurfürsten aus der Hand genommen wird (vgl. PH, S. 560). Auch bei Kleist ist es eine
273 Whitinger (2007) stellt zu Recht fest, dass die Bekränzung nicht ausgeführt wird, sondern durch die Militärmusik unterbrochen wird (vgl. S. 141). 274 In diesem Sinne argumentiert Reinhardt (1992), man müsse „die Traumhaftigkeit des Schlusses von der ‚gleichsam‘ träumerischen Existenz des ‚Helden‘“ (S. 171) her begründen. 275 Vgl. dazu Whitinger (2007): „Clare is present here only as a product of Egmont’s fantasy, her features assigned to his dreamed goddess of liberty, whereby she is once again cast against established facts to suit his own vision of his achievements. While readers and audience know Clare to have longed for the role of soldier and political activist and spoken out for immediate action, he dreams her in flowing robes as the silent goddess of liberty who disappears at the sound of military music.“ (S. 141) Einzig zu ergänzen wäre an dieser Stelle, dass Egmont von den Blutflecken auf diesem Kleid durchaus auch berichtet und die baldige Ablösung der Libertas durch die Victoria andeutet. 276 Vgl. meine Lektüre in Kapitel III.5. Auch Whitinger (2007) bemerkt die Verbindungslinie zu Prinz Friedrich von Homburg (und zu Büchners Dantons Tod), ohne diese aber genauer aufzuschlüsseln. Die Dramen teilen aus seiner Sicht „the tendency […] to reflect […] on the artful nature of heroic triumph“ (S. 129). Vgl. so auch Reinhardt (1992), S. 170, FN 23.
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Frau, Prinzessin Natalie, die den Kranz in die Höhe hält und Homburg diesen entzieht (vgl. PH, S. 560). Allerdings wird Prinz Friedrich am Ende des Schauspiels von Natalie bekränzt, wobei auch diese Ehrung nicht im fulminanten Schlussbild eines auf glorreiche Taten zurückblickenden Helden mündet. Wenn Goethe seinen Helden am Ende von Sieg und Ruhm lediglich träumen lässt, schickt Kleist den frisch Bekränzten geradewegs in eine Ohnmacht (vgl. PH, S. 644). In beiden Fällen und, wie die Textlektüren zeigen können, auch in zahlreichen weiteren Held*innendramen werden keine handlungsmächtigen Heroinen und Heroen porträtiert, sondern leidenschaftlich bewunderte Figuren, die Egmonts Träumereien und Homburgs Somnambulismus auf die eine oder andere Art teilen und deren Anhänger*innen ihre Anerkennung in ähnlich irrationaler Weise vergeben. Goethes Egmont kann daher als plastisches Beispiel einer dramatischen Figurationsstrategie verstanden werden, in der sich die dramenpoetischen Kategorien der Größe und des Gefühls zu einer Analytik des politischen Imaginären verbinden, die auf die emotionalen Entstehungsbedingungen charismatischen Heldentums aufmerksam macht.
1.8 An den Gattungsgrenzen. Zur Erosion des Dramatischen im Held*innendrama Schillers Egmont-Rezension macht darauf aufmerksam, dass das Held*innendrama die Genese politischen Heldentums nicht auf sichtbar herausragende, kollektiv bezeugte Großtaten zurückführt. Damit ist die Frage nach den dramatischen Darstellungsoptionen gestellt, die Goethe, Schiller und Kleist wählen, um das Kernelement heroischen Handelns, die Heldentat, auf die Bühne zu bringen. Schiller jedenfalls ist es eine deutliche kritische Notiz wert, dass Goethes Drama Egmonts heroische Verdienste ‚nur‘ im Modus des ‚Hörensagens‘ preisgibt, d. h. in eine narrative Form fasst. Solche Ausgriffe ins Narrative sind jedoch, so meine Beobachtung, als maßgebliches und wiederkehrendes Strukturelement der hier zur Disposition stehenden politischen Dramatik zu begreifen. In Anbetracht einer dramatischen Verfahrenslogik, die gerade für die Darstellung der Heldentat im großen Stil erzählerische Formate mobilisiert, gerät die darstellerische Souveränität der Gattung Drama insgesamt auf den Prüfstand. Die Bedeutung der Gattungsfrage ist für die hier fokussierten Texte insofern nachgerade zentral, als politische Held*innen ihren bevorzugten Platz im zeitgenössischen Drama haben.277 Noch einmal ist an dieser Stelle daran zu erinnern, dass die Literatur um 1800 nicht mit
277 Vgl. Gamper/Kleeberg (2015), S. 11; Wiedemann (1993).
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einer ähnlich langen Reihe von Tell-, Götz-, Egmont- oder Homburg-Epen respektive -Romanen aufwartet. Schillers Kritik an einem Einfall des Narrativen in das Egmont-Trauerspiel, die latent auch eine fehlende dramatische Direktheit in der Darstellung zum Ausdruck bringt, wird somit zum Anlass genommen, den Blick auf den größeren Zusammenhang des zeitgenössischen Gattungsdiskurses zu richten und zu fragen, was denn diese den politischen Helden und die politische Heldin beheimatende Gattung aus theoretischer Perspektive ‚eigentlich‘ auszeichnet, wenn der Ausgriff ins Erzählen ein Manko sein soll. Ausgehend davon fragt dieses Teilkapitel danach, welche im Gattungsdiskurs fixierten Darstellungstechniken im Held*innendrama, insbesondere im Hinblick auf die Heldentat, tatsächlich abgerufen werden. Dabei zeigt sich, dass der Held bzw. die Heldin nicht nur eine politische, sondern auch eine dramenpoetische Reflexion in Gang setzt. Um eine Gattungsdifferenzierung und -bestimmung bemühen sich Goethe und Schiller gemeinsam in den späten 1790er Jahren. Als einschlägig kann in diesem Zusammenhang ihre Programmschrift Über epische und dramatische Dichtung (1797) mit dem dazugehörigen Briefwechsel gelten. Die dort entwickelte Beschreibung des Gattungsprofils ‚Drama‘ nimmt sich durchaus kontrastiv aus zur etwa in der Schaubühnen-Rede (1784) oder auch in Schillers Ästhetischen Briefen (1795) nachzulesenden didaktik-kulturpolitischen Funktionsbestimmung insbesondere des Dramatischen: Der zuschauende Hörer muß […] in einer steten sinnlichen Anstrengung bleiben, er darf sich nicht zum Nachdenken erheben, er muß leidenschaftlich folgen, seine Phantasie ist ganz zum Schweigen gebracht, man darf keine Ansprüche an sie machen, und selbst was erzählt wird muß gleichsam darstellend vor die Augen gebracht werden.278
Deutlicher noch führt Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste aus, dass ein Hauptmerkmal des Dramas in seinem darstellerischen Absolutheitsanspruch liege: Aber endlich muessen alle Erwartungen des Zuschauers voellig befriediget werden, und er muß am Ende jede Frage, die er sich waehrender Handlung gemacht hat, voellig beantwortet finden, so daß ihm von der ganzen Sache nichts mehr zu erfahren uebrig bleibet; und damit muß sich das Drama endigen.279
Das Drama wird hier als Gattung bestimmt, die keine Fragen offen lässt, nicht zum Nachdenken animiert, nicht die Phantasie seiner mit Auge und Ohr folgenden Zuschauer*innen anregt. Stattdessen soll das Theaterpublikum teilneh-
278 Goethe/Schiller, ED, S. 447. 279 Sulzer (21792/1), S. 709, Artikel „Drama. Dramatische Dichtkunst“.
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men, mitfühlen, ja sich über den dramatischen Gegenstand selbst vergessen.280 Darüber hinaus sieht Sulzer – auf die kunsttheoretische Zweiheit von prodesse et delectare rekurrierend – den Zweck der Gattung vornehmlich in ihrer Unterhaltungsfunktion: Das Schauspiel ist „vornehmlich ein Ort des lebhaften Zeitvertreibes, nicht eine Schule der Sitten […].“281 Schreibt gemäß dieser Beschreibung der Dramatiker einen Text, der ganz und gar nicht die Vernunft oder die Reflexion anzuregen gedacht ist, so gilt Goethe und Schiller der Epiker im Gegenteil als „ein weiser Mann […], der in ruhiger Besonnenheit das Geschehene übersieht.“282 Ausgangspunkt dieser Differenzierung ist dabei der zu Beginn des Programmtextes exponierte Hauptunterschied zwischen epischem und dramatischem Darstellungsmodus: Während „der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt“, stellt „der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig dar[ ].“283 Diese temporale Differenzierung dient dem Text im Folgenden und auch im dazugehörigen Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller als wiederkehrender Bezugspunkt in einer Argumentation, die das Epische als Gattung einer reflektorischen Distanz, eines nachdenklichen Innehaltens, ja einer Rezeptionshaltung der „Freiheit“284 entwirft. Im Gegensatz zum ‚weisen‘ Epiker entfesselt der Dramatiker, folgt man Schillers Brief vom 26. Dezember 1797, eine „fremde[ ] Gewalt“285, welche die Phantasie des Publikums beschränkt, in Unruhe versetzt, und jegliche kontemplative, reflektierende sowie imaginative Tätigkeit aussetzt. Letzteres nimmt denn auch Goethe zum Anlass für eine Gattungsschelte, indem er eine zeitgenössische Favorisierung des Dramas konstatiert und gerade darin begründet sieht, dass die Theatergänger*innen weder nachdenken noch sich etwas vorstellen müssten.286 Während Goethes gegen solche „eigentlich kindischen, barbarischen, abgeschmackten Tendenzen“287 polemisiert und einen theatralen Hang zu darstellerischer Deutlichkeit und figürlicher Plastizität überaus kritisch beäugt, plädiert Schillers Antwortbrief für eine konstruktive Gattungsbalance. In dem Versuch, ein übergeordnetes Konzept von Dichtkunst zu formulieren, das gattungsspezifische Gegensätze von Nähe und Distanz, von sinnlicher Plastizität und reflektorischer Freiheit zu synthetisieren und nicht gegeneinander auszuspielen bemüht ist, argumentiert Schiller für ein „wechselseitige[s] Hin-
280 Vgl. Goethe/Schiller, ED, S. 447. 281 Sulzer (21794/4), S. 258, Artikel „Schauspiel“. Vgl. auch Sulzer (21792/1), S. 709. 282 Goethe/Schiller, ED, S. 447. 283 Goethe/Schiller, ED, S. 445. 284 ED, S. 452 (Brief Schillers an Goethe vom 26. Dezember 1797). 285 ED, S. 451 (Brief Schillers an Goethe vom 26. Dezember 1797). 286 Vgl. ED, S. 448–449 (Brief Goethes an Schiller vom 23. Dezember 1797). 287 ED, S. 449 (Brief Goethes an Schiller vom 23. Dezember 1797).
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streben“288 der Gattungen zueinander. Ganz im Sinne der damit konstatierten Gattungsinterferenzen vermerkt Goethes Selbstanalyse von Hermann und Dorothea im Brief an Schiller eine Neigung seines Epos zum Dramatischen.289 Dies goutiert Schiller, um jedoch in gleichem Atemzug darauf hinzuweisen, dass Goethes Iphigenie-Schauspiel in ihren stark episierenden Zügen verfehlt sei.290 Führt die Gattungsdiskussion auch bei Goethe und Schiller zu den Texten selbst zurück, so fragt auch die vorliegende Studie danach, wie sich die fokussierten Dramen zu den zeitgenössischen Gattungsvorschriften verhalten. Legt man die skizzierte Unterscheidung der Gattungen zugrunde, dürften sich die Texte auf den ersten Blick ganz und gar nicht für eine dramatische Analytik eignen, da dieser Begriff den Dramen einen reflexiven Impetus unterstellt, der, folgt man Goethe und Schiller, eher einen epischen Text oder aber eine sich dem Epischen annähernde dramatische Form erwarten ließe. Im Gegenteil aber erscheint das Drama tauglich, dasjenige Handlungselement ‚vor Augen zu stellen‘, das Schiller im Egmont vermisst, die spektakuläre Heldentat. Nach dem vorstehenden Exkurs in die zeitgenössische Gattungstheorie könnte man meinen, dass dem Drama nichts willkommener sein dürfte als eine solchermaßen exponierte, alle Aufmerksamkeit fesselnde Handlungsstruktur. Die Heldentat hat auf den ersten Blick in gesteigertem Maße das Potential, den dramatischen Spannungsbogen zu organisieren und scheint das Strukturschema sowie den Vermittlungsmodus der Gattung zu bedienen: Gemeint sind damit die Merkmale einer visuellen sowie akustischen Textpräsenz, einer dramatischen Unmittelbarkeit und Plastizität, die etwa in direkter Figurenrede umsetzbar wäre. Zusätzlich limitiert die Handlungssequenz ‚Heldentat‘ eo ipso den darzustellenden Stoff, womit der bei Goethe und Schiller geforderten dramatischen Kürze – im Gegensatz zur sprichwörtlichen ‚epischen Breite‘ – Rechnung getragen würde.291 Zur Einlösung all dieser Gattungscharakteristika eignet sich die Heldentat scheinbar in besonderer Weise und auch in abstrakterer Hinsicht entspricht ein die dramatische Spannungskurve derart zuspitzendes Element der etymologisch indizierten und in der Aristotelischen Poetik nachzulesenden Bestimmung, die das Drama als Handlungsgattung ausweist.292 Die ausgewählten Stücke aber bringen die Heldentat in einer expliziten Überschreitung der skizzierten Gattungsdefinition auf die Bühne.
288 ED, S. 452 (Brief Schillers an Goethe vom 26. Dezember 1797). 289 Vgl. ED, S. 449 (Brief Goethes an Schiller vom 23. Dezember 1797). 290 Vgl. ED, S. 453 (Brief Schillers an Goethe vom 26. Dezember 1797). 291 Vgl. Goethe/Schiller, ED, S. 446. 292 Vgl. Aristot., poet., 3, 1448a29. So sieht Aristoteles im Rekurs auf das griechische Verb drān (handeln, tun) das Spezifikum des dramatischen Textes darin, handelnde Figuren dichterisch
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Tells Apfelschuss, Käthchens Gang durchs Feuer, Egmonts Heldentaten in der Schlacht, Homburgs Befehlsbruch – all diese Taten kommen, das ist die entscheidende Beobachtung, durch die Hintertür auf die Bühne. Gibt es eine Heldentat zu begehen, so ist in aller Regel das dramenspezifische Sichtbarkeitsregime empfindlich gestört. In der Darstellung des heroischen Aktes werden traditionelle, in den zeitgenössischen Dramenpoetiken fixierte Gattungsmerkmale in Frage gestellt, suspendiert oder sogar gänzlich ausgehöhlt. Dieses darstellerische Vakuum wird in vielen Fällen mithilfe von narrativen Verfahren aufgefüllt. Es ist zu fragen, welche Effekte ein solches dramatisches Verdecken und ein narratives Entdecken der Heldentat hat. So bedarf es beispielsweise in Goethes Egmont oder auch Schillers Fiesko unzähliger Szenen, bis die titelgebenden Protagonisten überhaupt auftreten, wobei den jeweiligen Auftritten erzählerisch verfasste Schilderungen ihres heroischen Ruhmes vorausgehen. Wenn es gilt, das Heroische zur Geltung zu bringen, dominieren episierende Verfahren wie Botenbericht und Teichoskopie, aber auch metadramatische Transgressionen und ebensolche Ausflüge ins Epische. Goethe, Schiller und Kleist stören, ja setzen den dramatischen Modus gezielt aus, und führen damit – im Sinne einer dramatischen Analytik – auch auf formaler Ebene vor, wie das Heroische nicht nur politische, sondern ebenso dramatische Ordnungsgefüge zur Disposition stellt, indem die Darstellungspotentiale des Epischen an der Figur des Helden durchgespielt werden. Obwohl die Texte in diesem Sinne von der Macht des Erzählens Zeugnis ablegen, ist zu beachten, dass sich die heroischen Geschichten stets im Rahmen der dramatischen Gattung abspielen. Das Epische bahnt sich also im Drama um den Helden zwar seinen Weg auf die Bühne, führt diesen aber gewiss nicht von der Bühne. Eine schematische Differenzierung zwischen einer in den zeitgenössischen Poetiken diskutierten, vermeintlich genuin epischen Reflexionsdistanz auf der einen Seite und einer dramatischen Unmittelbarkeit bzw. Sinnlichkeit auf der anderen Seite ist daher wenig aufschlussreich. Vielmehr können die Textlektüren zeigen, dass die Gattungsüberlagerungen sowie die metadramatischen Reflexionen ein komplexes Zusammenspiel ergeben, das die tradierten Funktionsbestimmungen der Gattungen hinterfragt. Obwohl nämlich das Zeigen der Tat oder die direkte Rede über die Tat nicht die bevorzugten Darstellungsoptionen sind, generieren die Texte in ihrer Plastizität mehr als bühnenreife Heldenbilder. Diese tragen eine merklich reflexive Signatur, indem sie, ausgestaltet als (De-)Figurationen eines empfindsamen Heroismus, vorführen, wie Held*innen in den Blicken, im Gehör, ja in der Vorstellung und Imagination ihrer jeweiligen Anhängerschaft
nachzuahmen. Arbogast Schmitt (2011) spricht in seiner Übersetzung von ‚agierenden Charakteren‘ (vgl. S. 5).
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entstehen. So wird das Vor- und Nachleben der Held*innen in sinnlich einnehmenden Erzählpassagen dargeboten, die aber kein distanziertes, episches Denkbild entstehen lassen. Zusätzlich sind die mitunter ausgesprochen umfangreichen Didaskalien aufschlussreich, die in vielen Fällen zudem den dramatischen Requisitenverkehr organisieren. Meine Studie verfolgt die These, dass diejenigen Textpassagen, die offensiv an beide Gattungsgrenzen führen bzw. diese ausstellen, als signifikante Punkte einer über das Heroische organisierten Analytik des Politischen zu lesen sind. Die Arbeit konzentriert sich vor diesem Hintergrund auf spezifische Gattungsinterferenzen, aber auch auf textuelle Konstellationen, in denen diskursiv verankerte Konstituenten der einzelnen Gattungen in quantitativer, meistens eher in qualitativer Hinsicht irritiert, parodiert oder sogar vollständig entleert werden. Beispielsweise ist angesichts der sehr unterschiedlich gestalteten Sprache der Heldinnen und Helden das Konzept einer die dramatische Gattung tragenden, direkten dramatischen Figurenrede auf den Prüfstand zu stellen: Etwa zeichnet sich die Figur des Tell, so selten er überhaupt das Wort ergreift, durch einen volksweisheitlichen Sprachgestus aus, als dessen Höhepunkte die folgenden Sentenzen zu nennen sind: „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“ (WT, V. 139), „Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst“ (WT, V. 435), „Der Starke ist am mächtigsten allein“ (WT, V. 437) oder auch, berühmt-berüchtigt, „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“ (WT, V. 1514). Des Weiteren kann an dieser Stelle nur auf Götz’ parataktischen und imperativen Sprachduktus, auf Käthchens naiv-kichernde Fragespiele, auf Homburgs Halbsätze und Stammeleien sowie auf seine nahezu chronische Unansprechbarkeit verwiesen werden. Eine solchermaßen gestörte Sprache des Helden und der Heldin kann als eines von vielen Indizien für eine sowohl politische als auch dramatische Darstellungskrise gewertet werden, die Goethe, Schiller und Kleist ausstellen.
2 Politische Antike 2.1 Karl von Moors Sehnsucht und Theseus’ Vergessen: Was ist ein antiker politischer Held? „Mir ekelt vor diesem Tintenklecksenden Sekulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen.“ (R, S. 30) – sagt Karl von Moor und „legt das Buch weg“ (R, S. 30). Um Karl von Moors Heldensehnsucht auf die Spur zu kommen, sei das Buch wieder aufgeschlagen. Der Blick wird im Folgenden auf eine Figur gerichtet, der Plutarch eine seiner Heldenbiographien widmet. Dabei geht es zunächst darum zu erfahren, was denn diese ‚großen Menschen‘ auszeichne,
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denen sich der vom Räuberhauptmann so bewunderte Plutarch widmet. In einem zweiten Schritt wird gefragt, wie der Zusammenhang zwischen Held und politischer Gemeinschaft im von Schiller alludierten antiken Referenztext gestaltet ist. Zu diesem Zwecke rücken die nachstehenden Ausführungen Plutarchs Theseus-Figur ins analytische Zentrum, handelt es sich dabei doch um den attischen Gründungsheros schlechthin. Anhand von Theseus, dem „Gründer des herrlichen, vielbesungenen Athen“ (Plut., Thes., 1), sei der Fragehorizont entfaltet, was es bedeuten kann, ein Held zu sein, dessen Prototypen Schillers Protagonist offenbar in der Antike verortet. Der narrative Ausgangspunkt der Plutarchischen Biographie besteht signifikanterweise in einer erzählerisch vermittelten Heldensehnsucht. Die überlieferten Geschichten vom Tatenruhm und von der Heldenkraft des Herakles sind es, die Theseus geradezu verschlingt und die „das Verlangen, Gleiches zu vollbringen“ (Plut., Thes., 6) in ihm wecken. Mit dem Vorbild des Herakles im Gepäck, beginnt nun die Reise des Helden, eine Reise zum verlorenen Vater. Theseus’ Vater Aigeus nämlich hat dem ungeborenen Sohn, verborgen unter einem großen Stein, Schwert und Sandalen hinterlassen und der schwangeren Aithra aufgetragen, Theseus zu ihm nach Athen zu schicken, sobald dieser stark genug sein wird, die väterlichen Hinterlassenschaften zu bergen und ihm als Erkennungszeichen zu präsentieren. Den Stein freilich schiebt Theseus beizeiten „mit leichter Mühe“ (Plut., Thes., 6) zur Seite und auch die Reise nach Athen ist er begierig anzutreten. Mehr noch zieht er, den ausdrücklichen Warnungen von Mutter und Großvater zum Trotz, den gefährlichen Landweg einer Schiffsüberfahrt vor. Mit dem sorgenvollen Hinweis, dass jenen „verderbenbringend[en]“ (Plut., Thes., 6), mit übermächtigen „Räubern und Wegelagerern“ (Plut., Thes., 6) gepflasterten Landweg bereits Theseus’ spiritus rector Herakles kühn durchwandert hat, erhöht der Großvater Pittheus den Ansporn zur Reise nur. Neben den Wunsch, dem Vorbild nachzueifern, tritt die Motivation, dem Vater auf diese Weise zu imponieren (vgl. Plut., Thes., 7). Plutarchs Schilderung lässt also keinen Zweifel daran, dass die Reise des Theseus ein besonderes und vor allem freimütig angetretenes Wagnis darstellt. Dabei fällt gleich zu Beginn des Textes auf, dass der junge Held weniger darauf aus ist, einen groß angelegten Feldzug gegen das Verbrechen im Land zu führen, sondern vielmehr von einem Abenteuerbegehren, ja gar von einer Gewaltlust getrieben ist. Geradezu entschuldigend mutet in diesem Zusammenhang der Hinweis an, Theseus sei nicht ausgezogen, „um irgend jemand Unrecht zu tun, wohl aber sich jedes gewalttätigen Angreifers zu erwehren“ (Plut., Thes., 7). Dass die Handlungen des Helden allerdings über reine Wehrhaftigkeit noch weit hinausgehen, offenbart bereits die Begegnung mit seinem ersten Gegner Periphetes. Weil der sogenannte ‚Keulenschwinger‘ ihm den Weg versperrt, wird er von Theseus umgebracht – ein Gewaltakt, der bei Plutarch mit dem komplexiven
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Hauptsatz „Er tötete ihn […]“ (Plut., Thes., 8) abgehandelt ist. Mehr Raum nimmt dagegen die Schilderung ein, wie erfreut (vgl. Plut., Thes., 8) Theseus angesichts der Waffe ist, die er Periphetes abgenommen hat. Die Keule avanciert, so heißt es, rasch zum heroischen Markenzeichen, und auch an dieser Stelle darf nicht der vergleichende Hinweis auf das Maskottchen des großen Vorbilds, das Löwenfell des Herakles, fehlen (vgl. Plut., Thes., 8). Dem zweiten Kontrahenten, dem „Fichtenbeuger“ (Plut., Thes., 8) Sinis, nimmt Theseus ebenso unkommentiert das Leben und hinterlässt dafür seiner Tochter einen Sohn. Mit einem narrativen Kommentar versehen wird die sich anschließende Tötung der Krommyonischen Sau Phaia: „Mit ihr ließ er sich nur so nebenbei ein – damit man nicht glaubte, er täte alles nur gezwungen“ (Plut., Thes., 8). Die Schilderung der in diesem Fall geradezu beiläufigen und generell nahezu unmotiviert daherkommenden Gewalttaten ließe sich fortsetzen; entscheidend ist jedoch, dass Theseus’ Tötungsserie im Text letztlich eine soziale Bedeutung und Motivation zugesprochen wird: Nach abermals gut Herakleischer Sitte nämlich bringt Theseus seine Gegner auf die gleiche Art um, wie diese ihre Opfer anzugreifen pflegen, was der Text als angemessene Strafe, ja als legitime Exekution des Rechts ausweist (vgl. Plut., Thes., 11). Die gesellschaftliche Bedeutung der Theseischen Taten ist damit schon angeklungen und im weiteren Fortgang der biographischen Erzählung wird der furchtlose Abenteurer zum attischen Gründungshelden stilisiert. Dementsprechend entwirft der Text in der Folge das Bild einer bei der Ankunft des Helden durch andauernden Bürgerkrieg zerrütteten Gemeinschaft und eines politisch in Bedrängnis geratenen Vaters: „So kam er [Theseus] […] in Athen an, fand aber beim Eintreffen in der Stadt das Ganze voll von Verwirrung und Zwietracht und Aigeus und sein Haus insbesondere in Nöten.“ (Plut., Thes., 12) Um ein Haar, das ist die dramatische Pointe der sich anschließenden Anagnorisis-Szene, wird Theseus beim ersten Zusammentreffen vom eigenen Vater vergiftet – eine Intrige Medeas bildet den Hintergrund –, dann jedoch von Aigeus feierlich als Sohn anerkannt und sogleich als prospektiver politischer Nachfolger positioniert. „Mut und […] Gemeinsinn“ (Plut., Thes., 17) sind die Eigenschaften, welche die öffentliche Wahrnehmung des Theseus fortan prägen, nachdem er „[i]n dem Willen, sich tätig zu zeigen, und auch um sich beim Volke beliebt zu machen“ (Plut., Thes., 14), sowohl einen Anschlag der Pallantiden niedergeschlagen als auch den Marathonischen Stier überwunden hat (vgl. Plut., Thes., 13–14). Die nächste Heldentat, mit der sich Theseus gesellschaftlich verdient, ja unvergesslich macht, ist die Tötung des Minotauros, mithin die wohl bekannteste Episode der Sage. Es lohnt sich, bei dieser Geschichte zu verweilen. Insbesondere führt ein Detail ins Zentrum dessen, was es schon in der Antike, hier bei Plutarch, aber nicht nur bei Plutarch, bedeutet, ein großer Mensch, ein politischer Held zu sein.
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Athen unter der Herrschaft des Aigeus ist, das macht Plutarchs Text deutlich, fremdbestimmt, und zwar vom kretischen König Minos, der Aigeus den Tod seines Sohnes Androgeos anlastet. Nach einem Sieg des Minos über Athen belegt er die Stadt mit der Strafe, alle neun Jahre je sieben junge Männer und Frauen nach Kreta zu schicken, die im Labyrinth des Minotaurus ums Leben kommen. Zum Zeitpunkt, als Theseus in Athen weilt, wird der grausame Tribut zum dritten Mal eingefordert, die attischen Bürger begehren angesichts der bevorstehenden Auslosung der Jungen und Mädchen gegen den aus ihrer Sicht für die Misere verantwortlichen Aigeus auf. In dem Moment nun, da der Volkszorn seinen Höhepunkt erreicht hat, stellt sich einer „ohne Los zur Verfügung“ (Plut., Thes., 17), um „an dem allgemeinen Schicksal teilzunehmen“ (Plut., Thes., 17). Die Rede ist natürlich von Theseus, der „unerschütterlich und unbeugsam“ (Plut., Thes., 17) mit den jungen Athener*innen das Schiff nach Kreta besteigt, in der festen Absicht, den Minotaurus ein für allemal zu bezwingen. Gesagt, getan, und zwar mit weiblicher Hilfe, denn der Held durchschreitet das Minotaurische Labyrinth in der Plutarchischen Überlieferung am Ariadne-Faden.293 Die Tötung des StierMensch-Monsters, die Heldentat als solche, findet im Text wiederum eine nahezu beiläufige, knappe Erwähnung (vgl. Plut., Thes., 19). Warum diese narrative Sparsamkeit im Kern derjenigen Episode, die Theseus etwa auch im aitiologischen Zeugnis Platons als attischen Gründungsheros instituiert?294 Es scheint, als strebe der Text geradezu fort vom heroischen Akt, wenn im Folgenden eine Vielzahl an erzählerischen Varianten des Minotaurus- sowie des Ariadne-Themas präsentiert werden (vgl. Plut., Thes., 19–20). Dass die Tat nicht direkt dargestellt, nicht in eine spektakuläre Szene gefasst wird, ändert freilich nichts an ihrer Eignung zum Kernelement der heroischen Narration. Denn bei der Präsentation der verschiedenen Tradierungen jener Episode kommt es, so legt der Text nahe, weniger darauf an festzustellen, ‚was geschehen ist‘295. Vielmehr scheint die heroische Struktur der Geschichte von vornherein angelegt zu sein, sie steuert auf das zu, was der Held unweigerlich tun muss. Dies belegt Plutarchs Text eindrucksvoll: Einer, der von Kindesbeinen an niemand Geringeren als Herakles sein Vorbild nennt, kann schwerlich vor dem Minotaurus zittern. Und so schließt der Ausgriff in konkurrierende Erzählversionen mit dem metareflexiven Kommentar: „Was nun von allen Sagenüberlieferungen für ihn [Theseus] am rühmlichsten ist, das ist, darf man sagen, in aller Munde.“ (Plut., Thes., 20) In aller Munde geblieben ist nun aber 293 Vgl. zur geschlechterspezifischen Konstellation, die Theseus’ Heldentum bedingt, am Rande Voss (2011), S. 184. 294 Vgl. Plat., Phaid., 58a10–c5. 295 Vgl. zur einschlägigen Differenzierung von Dichtung und Geschichtsschreibung Aristot., poet., 9, 1451b5–7.
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neben den heldenhaften Taten, allen voran der Befreiung der attischen Bürger vom Minotaurus, etwas anderes: eine Tat nämlich, die Theseus begeht und die weder rühmlich noch unrühmlich zu nennen ist, da sie in Plutarchs Darstellung ganz ohne Absicht geschieht. Für die politische Zukunft Athens ist sie mithin alles andere als folgenlos. Theseus empfängt bei seiner Rückkehr von Kreta eine Leiche, und zwar diejenige seines eigenen Vaters Aigeus. Der vormalige Herrscher über Attika ist zum Selbstmörder geworden – aber warum? Gleichermaßen schuldig und unschuldig am Tod des Aigeus ist Theseus: Aigeus hatte angeordnet, dass das sonst unter symbolträchtigen schwarzen Segeln fahrende Tributschiff nach Kreta bei einer wider die sorgenvolle Erwartung erfolgreichen Mission des Theseus mit weißen Segeln die frohe Botschaft der unbeschadeten Rückkehr der Entsandten ankündigen solle (vgl. Plut., Thes., 17). „Dieser Auftrag, den früher er fest im Herzen bewahrte,/ Floh aus Theseus’ Gedanken, wie durch das Hauchen des Windes/ Wolken vom luftigen Gipfel des schneeigen Berges verwehen.“296 – so die poetische Formatierung Catulls, die in der Charakterisierung Theseus’ als eines „dem unbarmherzigen Schicksal Verlorenen“297 gipfeln. Während hier Theseus allein für die unterlassene Handlung verantwortlich zeichnet, deren nicht planbarer und nicht-intentionaler Charakter durch die Wettermetaphorik und den Rekurs auf das unabänderliche fatum noch hervorgehoben wird, teilt er sich in der Plutarchischen Version die Bürde jenes folgenschweren Vergessens immerhin mit seinem Steuermann (vgl. Plut., Thes., 22). Er vergisst schlichtweg, die von der gelungenen Mission kündenden weißen Segel zu hissen, woraufhin sich Aigeus aus Verzweiflung über den antizipierten Tod des jüngst erst wieder gewonnenen Sohnes ins Meer stürzt und stirbt (vgl. Plut., Thes., 22). Das Ende des Aigeus markiert aber zugleich den Beginn einer neuen politischen Ära: Denn Theseus hat bei Plutarch keine Zeit zur Trauer, sondern stellt sich sogleich der „große[n] und bewunderungswürdige[n] Aufgabe“ (Plut., Thes., 24), die Bewohner Attikas zu einem Staat zusammenzuschließen. Damit avanciert er zum Gründungsheros von Athen; ein Heldenstatus, dessen postumer Geltung am Schluss der biographischen Erzählung etwa in der Randbemerkung Nachdruck verliehen wird, dass der bewaffnete Geist des Theseus den Athenern auf einem Barbarenfeldzug vorangeschritten sei (vgl. Plut., Thes., 35). Vor dem Hintergrund dieser Begegnung mit Plutarchs ‚großen Menschen‘ kann ein erster resümierender Blick auf die Verbindung zwischen Held und politischer Gemeinschaft geworfen werden. Zunächst einmal ist offensichtlich,
296 Cat., carm., 64, 238–240. 297 Cat., carm., 64, 245.
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dass dieser Theseus etwas tut, genauer etwas für die Gemeinschaft tut, ja sich für die Polis verdient macht und dafür kollektive, historische und dichterische Anerkennung erfährt. Er betritt die politische Bühne in einer Umbruchsituation, im Moment der Fragilität der väterlichen Herrschaft, der Fremdherrschaft durch Kreta zumal. Schon die Textkonstellation also, innerhalb derer der Held auftritt, legt nahe, dass seinen Taten eine elementare Bedeutung für das in Frage stehende politische Projekt zugeschrieben wird. Auf der anderen Seite jedoch verfolgt Plutarchs Theseus keinesfalls bewusst, intentional und stringent einen politischen Auftrag. Stellt man sich die Frage nach dessen Triebkräften, so ist auffällig, dass die Heldenbiographie mit der Schilderung einer Heldensehnsucht ihres Protagonisten einsetzt: Das große Vorbild Herakles ist ein zentraler identifikatorischer Bezugspunkt und eine allgegenwärtige mythologische Folie der Theseus-Figur, wobei Abenteuerlust, ja die Lust an Gefahr und Gewalt sowie der Wunsch nach väterlicher Anerkennung als Motivationsmomente hinzu treten. Eine genuin politische Triebkraft des Helden bleibt unerwähnt, wenngleich der Text die ‚Sache‘ des Theseus offenkundig als Politikum ausweist. Und dann tritt eben jenes frappierende Detail hinzu, auf den ersten Blick eine Unbedachtheit ohne Bedeutung, auf den zweiten Blick aber ein Vergessen, das jemanden, den Herrscher von Attika zumal, das Leben kostet und das eine fundamentale politische Neuordnung initiiert. Mit Theseus begegnet eine Figur, die in einem entscheidenden und für die Polis folgenschweren Moment ausfällt, die zudem – in einem Akt des Vergessens – in einen sich fernab von jeder politischen Intentionalität bewegenden Bewusstseinszustand gerät und gleichzeitig als politischer Held gefeiert wird. Plutarchs ‚großer Mensch‘, der „Gründer des herrlichen, vielbesungenen Athen“ (Plut., Thes., 1), was zeichnet ihn schließlich aus, wenn er kein enthusiastischer politischer Überzeugungstäter, ja nicht einmal ein zweckrational kalkulierender politischer Stratege ist? Eines ist sicher, so wenig Theseus in seinem spontanen Tatendrang eine reflektierende, kontemplative Gestalt ist, so sehr bietet diese Heldenfigur Anlass zur Reflexion, genauer zur Reflexion über die politische Konstellation, die der Text präsentiert. Ist Theseus der prototypische antike Gründungsheld,298 so sollte man doch an seinem Beispiel etwas über die Logik politischer Gründung erfahren können. Und tatsächlich liegt im Vergessen des Helden Theseus, dieser Gedanke soll im Folgenden systematisch entfaltet werden, ein zentrales Problem des Politischen beschlossen. Auf die Spur von Plutarchs Theseus wird gesetzt, wer Friedrich Schiller liest, um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen. Mit Karl von Moor sehnt sich eine Figur der Schiller’schen Frühdramatik nach Helden, die ihm aus der antiken
298 Vgl. Stenger/Bäbler (2002); Flashar u. a. (2003); ferner Brommer (1982).
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Biographik bekannt sind. Mit zwei Texten und ihren intertextuellen Bezügen möchte ich also auf die im Titel dieses Kapitels gestellte Frage ‚Was ist ein antiker politischer Held?‘ zu antworten versuchen. Diese Antwort fällt, welchen Literaturbegriff man auch immer zugrunde legen mag, somit zwangsläufigerweise so komplex wie prinzipiell mehrdeutig aus: ‚Der Held‘ wird in der vorliegenden Studie als eine Figur betrachtet, die insbesondere im hochreflexiven Medium des Literarischen in Erscheinung tritt, d. h. in je spezifischen textuellen Konstellationen konturiert wird. Dass es für diese Perspektive nicht einmal einer priorischen analytischen Setzung bedarf, belegen sowohl Schillers als auch Plutarchs Texte: Beide weisen die heroischen Sehnsüchte ihrer Protagonisten als Produkt einer Lektüre aus; Moor liest Plutarch, vielleicht seinen Theseus, Theseus lauscht „mit glühendem Eifer“ (Plut., Thes., 6) den Heldenerzählungen über Herakles. Wen Herakles gelesen haben mag, weiß kein Mensch. Nicht nur Schillers Räuber, sondern eine ganze Reihe von politischen Dramen des ausgehenden 18. Jahrhunderts zeichnen sich durch derartige intertextuelle Verknüpfungen mit und Anspielungen auf Szenerien antiken Heldentums aus. Die Dramatik um 1800 legt dergestalt zugleich die Frage nach den Konturen eines offenbar auf die antike Literatur zurück verweisenden ‚Archetyps‘ des politischen Helden nahe. Auf diese Frage ist im Sinne der hier verfolgten Perspektive nicht mit einer typologischen Skizze kulturhistorisch scheinbar verbürgter und mitunter literarisch artikulierter299 oder aber außerliterarischer300 Heroismuskonzepte
299 Vgl. für einen pointierten Forschungsüberblick von den Hoff (2015), S. 20–28. Zu verweisen ist auf einige Studien zur Figur des Helden in der griechischen Literatur und/oder Kultur: Horn (2014); Mitchell (2013); Jones (2010); Meyer/von den Hoff (2010); darin bes. zur Differenz von ‚Held‘ und dem griechischen ‚heros‘ Meyer/von den Hoff (2010), S. 10–11 sowie Himmelmann (2010). Albersmeier (2009); Himmelmann (2009); Hölscher (2009); Bremmer (2006); Currie (2005). Vgl. zum römischen Paradigma: Kühnen (2008); Hallett (2005); Roller (2004); Hölkeskamp (2003); Coudry/Späth (2001). 300 Ein solcher im engeren Sinne ‚außerliterarischer‘ Entstehungs- und Konstruktionsbereich des Heroischen stellt in der Antike der Kult dar. Bei Heil (2013) ist ein prägnanter und aktueller Überblick über den antiken Heroenkult – übrigens auch in seinen internen Dynamiken und in seinen historischen Transformationen – nachzulesen (vgl. bes. S. 37). Wenngleich dem Kontext des Kultes für die antike Ausformung des Heroischen eine zentrale Bedeutung zukomme (vgl. S. 30–39), stellt Heil die dominante Rolle heraus, die der Literatur bei der Überlieferung, und man muss hinzufügen, damit auch bei der Inszenierung des griechischen Heroismus-Paradigmas zukommt (vgl. S. 31). Vgl. auch Kerényi (181999), S. 13, 20–21. Auf den engen Nexus von Kult und Heros verweist ferner der Umstand, dass sich im Neuen Pauly lediglich ein Beitrag zum „Heroenkult“ findet. Ein separater Artikel, der den kultischen Aspekt außer Acht lässt, existiert nicht. Vgl. Graf (1998). Vgl. auch Burkert (22011), bes. S. 311–318; Gerwarth (2009); Bremmer (2006); Currie (2005). Vgl. ferner Mohr (2001); Boehringer (2001); Deoudi (1999). Vgl. zu griechischen Heroinen: Böhm (2000); Lyons (1997); Larson (1995).
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zu antworten, auf die sich Goethe, Schiller und Kleist rückblickend bezögen. Im Zuge der literarischen Analysen auf ein semantisch stabiles und diskursiv kohärentes Referenzmodell des Heroischen zu rekurrieren, das ‚der antiken Literatur‘, ‚der antiken Kultur‘ oder auch ‚dem antiken Kult‘ vermeintlich zu entnehmen wäre,301 würde eine erhebliche Vereinfachung der entsprechenden antiken Medien bedeuten.302 Denn nicht nur das heroische Figurenensemble der Antike erweist sich als hochgradig disparat, sondern auch dessen Vermittlungsmedium: Ganz davon abgesehen, dass es einer spezifischen geschichtswissenschaftlichen, archäologischen und kunstwissenschaftlichen Expertise bedürfte, um die entsprechenden Artefakte und Quellen adäquat untersuchen zu können, gerät die vorliegende Arbeit auch in literaturwissenschaftlicher Hinsicht hier an ihre Grenzen: Die mit der mehr als problematischen Globalformel ‚die antike Literatur‘ bezeichneten Texte um ‚den Helden‘ werden schwerlich ohne eine eingehende Untersuchung von deren inhaltlichen und formalen Aspekten, aber auch von deren historischen, medialen sowie sprach- und gattungsspezifischen Konstitutionsbedingungen Auskunft über ‚das Wesen‘ des Helden geben. Eine solchermaßen intensive Arbeit mit den antiken Primärtexten ist allerdings auch im Zusammenhang dieser Arbeit weder zu leisten noch für die verfolgte Fragestellung sinnvoll. Was oder wer ‚der politische Held‘ mit seinen antiken Wurzeln ist, zeigt sich – so der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen – in den fokussierten Textkonstellationen um 1800, die in je spezifischer Weise auf einen
301 Genannt seien an dieser Stelle einige Studien, die in unterschiedlicher Form und Intensität auf ein antikes ‚Ursprungsparadigma‘ rekurrieren. Vgl. die um eine überzeitliche Typologie des Heroischen bemühten Arbeiten von Campbell (1999) [erste dt. Ausg. Frankfurt a. M. 1953] und Linares (1967). Vgl. darüber hinaus die folgenden Forschungsbeiträge zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Heldenforschung, die an einer Bestimmung des Heroischen mit divergierenden historischen Schwerpunkten und mit unterschiedlich stark ausgeprägten Bezügen auf die antike Literatur und Kultur arbeiten: Vgl. den Sammelband Ästhetischer Heroismus: Immer/van Marwyck (2013). Darin mit explizitem Bezug auf die Antike Heil (2013). Vgl. Voss (2011). Vgl. das Merkur-Sonderheft Heldengedenken. Über das heroische Phantasma: Bohrer/Scheel (2009), darin bes. A. Schmitt (2009). Vgl. Reetmsma (2009); Münkler (2007); Berger (2005). Vgl. die bei der Analyse des antiken Heros an Hegels Darlegungen anschließende Studie: Früchtl (2004), bes. S. 66–83. Vgl. dann auch Hegel, VÄ, S. 236–252. Vgl. Ziolkowski (2004); Frevert (1998); Naumann (1984); Schlaffer (1973). Vgl. zusätzlich folgende Überblicksdarstellungen: Für eine Kompilation der einzelnen Heroen im griechischen Mythos und in der griechischen Literatur vgl. Kerényi (181999). Vgl. Graf (1998). Vgl. mit den einschlägigen Belegstellen aus der antiken Literatur Best (1974). Vgl. die in den Überblicksdarstellungen immer wieder angeführten Referenzen zur Definition des Heros in der antiken Literatur: Hom., Il., 12, 310–328 und Hes., erga, 156–172. 302 Auch Meyer und von den Hoff (2010) betonen aus der Sicht der Klassischen Archäologie die Unhintergehbarkeit der „Repräsentationen und Medien, die Helden als solche erst konstituieren, aber auch instrumentalisieren“ (S. 14). Vgl. auch Heil (2013), S. 31.
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Heroismus antiker Provenienz Bezug nehmen, d. h. ein solches Referenzgefüge und auch die antiken Bezugsgegenstände auf unterschiedliche Weisen zuallererst im dramatischen Text herstellen.303 Die ausgewählten Dramen kommen darin überein, dass sie heroische Figuren, Motive oder auch literarische Verfahren aus der antiken Literatur reaktivieren, um sie auf signifikante Weise politisch zu überschreiben oder neu zu schreiben. In diesen intertextuellen und transformatorischen Konstellationen treten, so die These, durchaus wiederkehrende Facetten politischen Heldentums zu Tage, die weniger eine wesensmäßige Typologie des Heroischen erkennen lassen, als vielmehr dessen Entstehungsbedingungen und damit immer auch eine irrationale Genealogie politischer Prozesse offen legen und reflektieren. Es werden ästhetisch komplexe und hochreflexive Bilder eines schon in seinen antiken Ursprüngen brüchigen, diese Entwürfe aber z. T. noch überbietenden heroischen Ideals gezeichnet. Eine solche strukturale Fragilität, die mit der Formel vom Vergessen des Theseus programmatisch gefasst ist, stellt aus der hier verfolgten Perspektive das entscheidende und rekurrente Bedeutungs- und Strukturmoment des politischen Heroismus dar.304 Es artikuliert sich in den betrachteten Texten vordringlich in dem doppelsinnigen bis dezidiert ambivalenten Figurenprofil des Helden bzw. der Heldin als politischer Ideal- oder auch Identifikationsfigur auf der einen Seite und als eines Entrückten – im Falle von Theseus als Vergessenden und vermeintlich Verlorenen – auf der anderen Seite. Der politische Held bzw. die politische Heldin figuriert in seiner bzw. ihrer Rolle als exzeptionelles und herausragendes Subjekt ein Ideal, verkörpert eine transindividuelle Vorbildfunktion, wie es schon die bei Homer artikulierte Gottähnlichkeit des Heros auf den Begriff bringt, wobei diese traditionsreiche Bestimmung freilich nicht an einen genuin politischen Handlungsrahmen geknüpft ist.305 Die hier forcierte Begegnung mit
303 Vgl. für eine solche Perspektive auch verschiedene Forschungsprojekte und Publikationen des Sonderforschungsbereichs 644 Transformationen der Antike an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vgl. exemplarisch dafür etwa die Ausführungen von Heinze u. a. (2014): „[…] Auseinandersetzungen nachantiker Kulturen mit der Antike lassen sich als Transformationsprozesse beschreiben, die in unterschiedlicher Weise sowohl […] Selbstbeschreibungen konstituieren, dabei aber zugleich den antiken Gegenstand, auf den referiert wird, modellieren“ (S. 1). Ähnlich auch Heinze u. a. (2013) mit dem Fokus auf narrative Antiketransformationen: „Erzählungen über die Antike sind für die Transformation und Konstruktion von Antike in der Geschichte der europäischen Kultur offenbar ebenso zentral wie antike Erzählungen oder Erzählelemente selbst“ (S. 1). 304 Auf die damit bezeichnete kritisch-reflexive Dimension des Heroischen sowie auf das abgründige Potential der Figur des Helden verweisen nachdrücklich Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel im Geleitwort zum Merkur-Sonderheft Heldengedenken. (Vgl. Bohrer/Scheel (2009), S. 751–752). 305 Vgl. Hom., Il., 12, 312.
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Plutarchs Theseus exemplifiziert das enorme gesellschaftliche Idealisierungspotential des Helden und zeigt einen veritablen politischen Halbgott. Darüber hinaus stellt Plutarchs Schilderung dieses Gottgleichen, wie oben dargelegt, in aller Deutlichkeit die nicht-intentionalen sowie irrational anmutenden Züge des politischen Helden aus. Schon bei Plutarch also wird ein Modell politischen Heroismus formuliert, das von der grundsätzlichen Doppelgesichtigkeit einer ideellen Höchststellung des heldenhaften Subjekts einerseits und von dessen mentaler Entstellung andererseits zeugt. Dass dies keine triviale Bemerkung ist, sondern als Kommentar zur kulturwissenschaftlichen Heldenforschung relevant ist, belegt ein beispielhafter Blick auf das Vorwort des Sammelbandes Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden. Hier wird die historische Perspektive vertreten, dass eine „‚Krise des Heroischen‘“306 erstmals in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu verzeichnen sei und dass diese ihren vorläufigen Höhepunkt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreicht habe. Auch wenn sich die Herausgeber bei ihrer eigenen Bestimmung des Heroischen nicht auf die Antike konzentrieren, suggeriert das Vorwort die Existenz eines antiken Referenzmodells, das den Helden als ungebrochenes, nicht den Ambivalenzen der Moderne ausgesetztes Ideal vorstelle.307 Ein weiteres Beispiel dafür, dass nicht nur Karl von Moor, sondern auch die aktuelle Heldenforschung immer wieder auf die Vorstellung eines mythischen Ursprungs in der antiken Literatur rekurriert, wo der Held noch als ganzheitliche Vorbild- oder Idealfigur präsent sei, ist Voss’ Beitrag: Hier ist in erklärtem Gegensatz zu einem per se gebrochenen Heldentum in der Moderne von einer „plastischen Totalität der Heroen“308 im Altertum die Rede. Solchen in die Antike projizierten Einheitsphantasien wird allerdings in der altphilologischen Forschung selbst widersprochen.309 So macht Arbogast Schmitt schon in den 1980er Jahren darauf aufmerksam, dass der von Voss 2011 bemühte Begriff des ‚Plastischen‘ mitnichten zur Beschreibung einer Wesensqualität des antiken Subjekts tauge, sondern als wirkmächtiges Element einer Antike-Fiktion des anthropologischen Diskurses im 18. Jahrhundert zirkuliert: Der „Begriff des ‚plastischen‘ Menschen“ sei in der Goethezeit „[z]um Grundbegriff der Charakterisierung des antiken Menschen“ avanciert.310 Gemeint ist damit die von Winckelmann aus der (Miss-)Deutung antiker Plastiken gewonnene Vorstellung von einer 306 Immer/van Marwyck (2013a), S. 17. 307 Vgl. Immer/van Marwyck (2013a), S. 5–16, bes. 15–16. 308 Voss (2011), S. 188. 309 Vgl. ähnlich auch Gehrke (2010) aus althistorischer Perspektive in seinem Aufsatz „Der zwiespältige Held. Zur Ambivalenz des Heroismus im antiken Griechenland“. 310 A. Schmitt (1988), S. 189. Vgl. auch Szondi (1974), S. 30–46.
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‚Ganzheitlichkeit‘ des antiken Individuums im Sinne einer ursprünglichen Identität, aus der sich dann die für die Neuzeit als charakteristisch angesetzten Dichotomien von Verstand und Sinnlichkeit, Innen und Außen, Subjekt und Objekt etc. erst entwickeln konnten. Der Topos vom ‚plastischen‘, noch nicht mit der Bürde der Kopernikanischen Wende belegten Menschen wäre dann, folgt man Schmitt, als ein kunsttheoretisches Konstrukt der Goethezeit, keinesfalls als diachrones Symptom einer unzeitlich verstandenen Ästhetikauffassung aufzufassen. ‚Der antike Held‘ dient, um das Gesagte zu resümieren, auch der vorliegenden Arbeit gelegentlich als Bezugsmodell, ohne dabei dessen mediale und formale Entstehungsbedingungen aus den Augen zu verlieren. Die antike Literatur wird dementsprechend nicht als vormoderner Hort einer heroischen Individualität verstanden, vielmehr werden auch die antiken Referenztexte in ihrer Literarizität ernst genommen, wie es in der exemplarischen Analyse eines zentralen Theseus-Textes aus der antiken Literatur versucht wurde. Plutarchs Heldenbiographie offeriert keinen abgeschlossenen Katalog von Definitionsmerkmalen des antiken Heros und beantwortet somit die Frage, was oder wer ‚ein antiker politischer Held‘ ist, alles andere als eindeutig. Theseus stellt sich vielmehr als antiker Held dar, der sich, „den Sinn umhüllt von dunklem Vergessen“311, auf eine politische Mission begibt und zum Gründungshelden wird. Gerade deswegen vermag die von Schillers Räubern ausgehende Plutarch-Lektüre aber den Blick für die Fragilität und die Ambivalenzen zu schärfen, die das Heroische nicht primordial, durchaus aber in forcierter Weise im 18. Jahrhundert konstituieren.
2.2 Räuberbande statt deutscher Republik. Das politische Reflexionspotential einer heroischen Antike Mit Karl von Moors sehnsuchtsvollem Blick auf Plutarchs große Menschen eröffnet Schillers Räuber-Drama einen thematischen Zusammenhang, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vornehmlich für die ästhetischen Diskurse bestimmend ist: Die Rezeption, Adaptation und Transformation von Formprinzipien, Motivarsenalen sowie ästhetischen Theoremen aus der antiken Kunst, Kultur und Philosophie bilden einen Schwerpunkt der kunsttheoretischen Debatten. Die Forschung hat sich dementsprechend auch schwerpunktmäßig mit der Bedeutung der Antike für die Ästhetik sowie für die einzelnen Künste beschäftigt. Dagegen soll die aus Schillers Text extrahierte Formel Karl von Moors Sehnsucht exemplarisch für eine dezidiert politische Ausprägung des Antikerekurses
311 Cat., carm., 64, 207.
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stehen, welche für die heroischen Figurationen einiger der ausgewählten Dramen eine wesentliche Rolle spielt. Das Panorama einer politischen Antike wird im Folgenden anhand von Schillers Räuber-Drama eröffnet. Aufschlussreich ist das Zwiegespräch, das der designierte Räuberhauptmann mit seinem Vertrauten Spiegelberg führt und dem der bereits diskutierte, berühmte Ausspruch entstammt. „Mir ekelt vor diesem Tintenklecksenden Sekulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen.“ (R, S. 30) – In einer „Schenke an den Grenzen von Sachsen“ (R, S. 30) treffen sich der abtrünnige Grafensohn und sein offensichtlich zwielichtiger Gefährte Spiegelberg, wird doch letzterer schon im Personenregister als ein sich im Textverlauf zum „Banditen“ (R, S. 13) verwandelnder „Libertiner“ (R, S. 13) ausgewiesen.312 Schnell ist klar, dass die aus der Plutarch-Lektüre des jungen Adeligen erwachsende Antikesehnsucht keineswegs bloß ästhetisch motiviert ist, geschweige denn eine hochtrabende kunsttheoretische Debatte in der sächsischen Kneipe nach sich ziehen würde. Die im Text entfaltete historische Klammer zwischen einem antiken Heroismus-Paradigma und der daran orientierten Heldensehnsucht Karl von Moors ist gänzlich anderen Zuschnitts. Welche Antike wird also an dieser Stelle wie aufgerufen? Die abschätzige Formel vom ‚Tintenkleksenden Sekulum‘ macht deutlich, dass jene Heldensehnsucht mit einer tief empfundenen Gegenwartsverdrossenheit einhergeht, ja mehr noch wird mit dem Terminus des ‚Ekels‘ ein starker negativer Affekt namhaft gemacht, der Karl von Moors Gefühle für sein Jahrhundert bestimmt. Weiter ist zu fragen, wovor sich der prospektive Räuber eigentlich genau ekelt und was ihn umgekehrt an jenen großen, antiken Menschen fasziniert, die als verheißungsvolle Kontrastfolie in Stellung gebracht werden. Die Antwort, die Karl von Moor gibt, besteht aus zwei Teilen. Nach einer in derbem Ton gehaltenen Kritik an einem akademischen sowie künstlerischen Antikebezug, der im Geiste aufklärerischer und als unmännlich markierter Gelehrtheit erfolge,313 verdichtet sich der erste Teil der Antwort in dem abfälligen Resümee: 312 Wenn Schillers Personenverzeichnis neben Spiegelberg auch die übrigen im Stück auftretenden Räuber mit dem Zusatz „Libertiner, nachher Banditen“ (R, S. 13) beschreibt, wird damit der Räuberbund explizit als politische Gemeinschaft und nicht als bloß deviante Vereinigung apostrophiert (vgl. Kluge 1988). Im Stellenkommentar der Klassiker-Ausgabe wird weiterhin auf die „geistige und politische Brisanz“ des Ausdrucks ‚Libertiner‘ verwiesen, der in der Übersetzung des französischen libertin „‚Freigeist, Freidenker, Ketzer‘“ bedeutet und der seit Beginn des 16. Jahrhunderts als Bezeichnung für „religiöse Abtrünnige, aber auch politische Aufständische, Anarchisten, religiöse wie politische Schwärmer“ (Kluge (1988), S. 1000) firmiert. 313 Die Überlegenheit der Antike vor den zeitgenössischen Intellektuellen und Künstlern wird im Text mittels eines dezidiert sexuell-biologistischen Registers formuliert, welches für das gesamte Gespräch zwischen Moor und Spiegelberg bestimmend ist: „Da krabbeln sie nun, wie die
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Ein „schlappe[s] Kastraten-Jahrhundert, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen und die Helden des Altertums mit Kommentationen zu schinden, und zu verhunzen mit Trauerspielen“ (R, S. 31). Zunächst also verknüpfen sich hier eine akademische und eine ästhetische314 Ebene der Gegenwartskritik, die zugleich das Gegenbild einer gerade in diesen Bereichen sich auszeichnenden, heroischen Antike evoziert. Der zweite Teil der Antwort jedoch artikuliert eine über intellektuelle und ästhetische Frustrationen hinausgehende Hoffnung: Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus. Sie verpalisadieren sich ins Bauchfell eines Tyrannen, hofieren der Laune seines Magens, […]. – Ah! daß der Geist Herrmanns noch in der Asche glimmte! – Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen. (R, S. 32)
An dieser Stelle manifestiert sich, und auf diesen Aspekt konzentrieren sich die nachstehenden Ausführungen, eine Schelte zeitgenössischen politischen Kleingeists: Moors Ekel findet seinen Ausdruck in einer Tirade gegen Zuschnitt und Wirkung der staatlichen Gesetze sowie gegen ein widerstandsloses Leben in tyrannischen Verhältnissen. Karl von Moor vermisst ‚große Männer‘, kolossales sowie extremes Handeln nicht nur in Wissenschaft und Kunst, sondern gerade auch im Bereich der Politik (vgl. R, S. 32). Auch diese Facette seines Jahrhundert-Ekels geht Hand in Hand mit der in hohem Maße bewundernden, ja sehnsuchtsvollen Bezugnahme auf eine Antike, die zum imaginativen Refugium eines Gegenmodells stilisiert wird. Die Kontrastierung von Gegenwart und Antike funktioniert hier über das normativ markierte Attribut des Heroischen, was sich insbesondere
Ratten auf der Keule des Herkules, und studieren sich das Mark aus dem Schädel was das für ein Ding sei, das er in seinen Hoden geführt hat? Ein französischer Abbé doziert, Alexander sei ein Hasenfuß gewesen, ein schwindsüchtiger Professor hält sich bei jedem Wort ein Fläschgen Salmiakgeist vor die Nase, und liest ein Kollegium über die Kraft. Kerls, die in Ohnmacht fallen, wenn sie einen Buben gemacht haben, kritteln über die Taktik des Hannibals – feuchtohrige Buben fischen Phrases aus der Schlacht bei Kannä […]“ (R, S. 31). Vgl. ferner Goethes Farce Götter, Helden und Wieland (GHW). Vgl. zum Zusammenhang von Antike- und Geschlechterkonstruktionen Heinze/Krippner (2014). 314 Dass Moor an dieser Stelle tatsächlich Kritik an der ästhetischen Kultur seiner Gegenwart übt, deutet seine Rede vom ‚Wiederkäuen‘ an. Offenbar versagt die Kunst darin, eine eigene und innovative Form zu entwickeln, die gegen die heroische ‚Vorzeit‘ bestehen könnte. Dies demonstriert ebenso Moors Hinweis, dass die zeitgenössische Kunst allenfalls zum schlecht geratenen ‚Kommentar‘ des heldenhaften Altertums tauge. Schließlich gipfelt die Kritik in einem denkbar unspezifischen Schlag gegen die dramatische Gattung: Das zeitgenössische ‚Trauerspiel‘ könne den ästhetisch maßgeblichen, antiken Kunstolymp bloß noch ‚verhunzen‘ (vgl. R, S. 31).
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in dem Wunsch manifestiert, das ‚Heldenfeuer‘ des deutschen Heros par excellence, den ‚Geist Herrmanns‘, wieder entflammt zu sehen. Bezieht sich nun die Klage, die Schiller seinem Räuberhauptmann in den Mund legt, darauf, dass zeitgenössische Kunst, Wissenschaft und Politik gleichermaßen eines auf die Antike zurückgehenden heroischen Impulses entbehren, so ist die Politik das einzige Feld, dessen mangelnden Heldengeist der Plutarch lesende Moor nicht nur in harte Worte fasst, sondern auf dem er sich seinerseits als Held im Geiste der Alten zu betätigen gedenkt. Keine von einem antiken Heroismus inspirierte literarische oder akademische Revolution steht auf seiner Agenda, wohl aber, das gibt die zuletzt zitierte Textpassage zu erkennen, ein durchaus konkretes politisches Anliegen. Karl von Moor wird als eine Figur gezeichnet, die den antiken Heros als Modellfigur einer politischen Agitation herbei sehnt, ja in einer Selbstermächtigungsphantasie noch zu überbieten trachtet, wie die Formulierung „und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen“ (R, S. 32) zu verstehen gibt. Zugleich ist damit angegeben, woran sich ein solches, an der Antike geschultes, tatkräftiges Heldentum aktuell erproben kann: Nichts weniger als eine deutsche Republik unter seiner Führung soll entstehen, so Moors prahlerische Vision. Damit ist freilich das politische Revolutionsmodell des ausgehenden 18. Jahrhunderts bezeichnet.315 An dieser zentralen Stelle in Schillers Räuber-Drama verbindet sich das Begehren nach einem Heldentypus antiker Provenienz explizit mit der zeitpolitisch spezifischen – im Zeichen der Überwindung des ancien régime stehenden – Sehnsucht nach republikanischer Einheit um 1800. Diese im Text eröffnete historische Klammer legt nahe, dass ‚der antike Held‘ im Drama des ausgehenden 18. Jahrhunderts auch als politischer Hoffnungsträger imaginiert wird, wenn es hier beispielsweise darum geht, die Realisierung einer republikanischen Volksherrschaft auszuloten. Dass die Eignung des von Hermann’schem Geist beseelten Helden zur politischen Unifikationsfigur allerdings noch in derselben Szene massiv in Zweifel gezogen wird, hat symptomatischen Wert für das dramenübergreifend nachvollziehbare Figurenprofil des Helden bzw. der Heldin. Dies zeigt sich im weiteren Verlauf der zweiten Szene des ersten Aktes der Räuber
315 Vgl. zum Begriff der ‚Republik‘ Mager (1984). Er stellt heraus, dass der Begriff von zentraler Bedeutung für die im Laufe des 18. Jahrhunderts diskutierten und revolutionär umkämpften Konzepte von Volkssouveränität ist, die in der 1792 erfolgten Proklamation der republikanischen Staatsform in Frankreich erstmals institutionalisiert worden ist (vgl. S. 596–597). Zudem kursiere der Terminus im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts vor allem als „agitatorischer Kampfbegriff“ (S. 598). Vgl. ferner die Kurzfassung des Artikels: Mager (1992). Vgl. exemplarisch für die jüngere Forschung: van Gelderen/Skinner (2002); Bödeker (2002); Zurbuchen (2001). Vgl. auch Schmidts (2006) Aufsatz zum Problem des Republikanismus bei Schiller.
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und mehr noch verdichtet sich hier, dass und wie das in Rede stehende Held*innendrama ausgehend von je spezifischen Verhandlungen einer heroischen Antike eine Analytik des Politischen hervortreibt. Wie genau lautet die politische Pointe dessen, was sich in Karl von Moors Heldensehnsucht Ausdruck verschafft? Zunächst ex negativo: Moors beschwörende Wendung „und aus Deutschland soll eine Republik werden“ (R, S. 32) ist nicht nur als literarische Kritik an der politischen Zerfaserung des spätabsolutistischen Deutschlands zu lesen. Auch kann das emphatische Diktum, das Schiller dem Räuber Moor in den Mund legt, nicht auf die Bedeutung reduziert werden, sentenzartig den revolutionären, antifeudalistischen Gehalt eines im Ausgang des Sturm und Drang situierten, dramatischen Debuts auszudrücken – um die viel diskutierte literaturgeschichtliche Einordnung des Textes nur anzudeuten.316 Wenngleich es nahe liegen mag, eine Linie von den Räubern zu den sich nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung in Frankreich Bahn brechenden Revolutionskämpfen zu ziehen, erschöpft sich der politische Impetus von Schillers Erstlingsdrama mitnichten in einem solchermaßen konkreten zeitpolitischen Bezug.317 Dies deutet sich im ersten Teil der oben in Gänze zitierten Passage an, wo durch die Gegenüberstellung zweier grundsätzlicher politischer Reflexionsbegriffe (‚Freiheit‘ und ‚Gesetz‘) eine weiter reichende Diskussionsebene eröffnet wird: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus“ (R, S. 32). Der Text führt die Vision von einer deutschen Republik in einer schwergewichtigen Rhetorik ein, ohne aber einen eindeutigen Bezug zum krisenhaften Zeitgeschehen herzustellen. Die Kontrastierung der über jede verortbare historische Referenz hinausführenden Termini ‚Freiheit‘ und ‚Gesetz‘ initiiert aber auch keine abstrakte, theoretisch hochtrabende, philosophische Grundsatzreflexion über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer deutschen Republik. Schillers Analytik hat Abgründigeres im Sinn, wenn sich ein abtrünniger, kleinkrimineller Adelssohn im Kneipengespräch mit seinem Trinkgenossen in einer heroischen Phantasie an die Spitze jener deutschen Republik imaginiert und noch in derselben Szene zum Hauptmann einer Räuberbande aufsteigt – eine Gemeinschaftsform, die bestenfalls als Zerrbild republikanischer Verfasstheit gelten kann. Tritt der designierte Räuberhauptmann mit einem politischen 316 Vgl. dazu mit weiteren Literaturhinweisen Luserke (1997), S. 322–323. 317 So hält es Berghahn (2007) für ein „Missverständnis“ (S. 579), Schiller habe beim Verfassen der Räuber konkrete politische Entwicklungen im Blick gehabt. Gleichwohl sei allen voran dieses Drama maßgeblicher Anlass dafür gewesen, dass Schiller in Frankreich als leidenschaftlicher Sympathisant der Revolution gegolten habe (vgl. S. 579).
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Gedankenspiel vor den sächsischen Tresen, das um deutsche Republiken und antike Nonnenklöster kreist, so wird er ihn als Anführer einer kriminellen Vereinigung verlassen. Schiller stellt Moors emphatisch vorgetragene Vision von einer auf den Schultern antiker Helden errichteten, deutschen Republik ausgerechnet an den Anfang derjenigen Szene, die ihren Höhepunkt in der Gründung des Räuberbundes findet. Diese Engführung von Republik und Räuberbund läuft jedoch keineswegs darauf hinaus, eine politische Verfallsgeschichte zu erzählen, die den Abstieg des überzeugten Republikaners zum kriminellen Räuberhauptmann nachzeichnen würde. Vielmehr berichtet die Szene I,2 der Räuber davon, wie Republiken bloß erträumt werden, wie dagegen Räuberbanden entstehen und nicht zuletzt davon, wie jene nur vermeintlich von ‚der freiheitlichen Sache‘ eingenommenen großen Männer an ihre Spitze treten. Die Szene kann daher als beispielhaftes Kleinformat einer Analytik des Politischen gelten, in der eine heroische Antike literarisch funktionalisiert wird. Die Rom und Sparta in den Schatten stellende deutsche Republik existiert einzig im Kopf des heroisch entflammten Karl von Moor und ist dort mithin alles andere als langlebig. Nur eine halbe Seite nach seinem hochtrabenden Bekenntnis erklärt Moor seinen Kampf für die ‚Freiheit‘ und gegen das ‚Gesetz‘ bereits altväterlich für beendet. „Mit den Narrenstreichen ists nun zu Ende“ (R, S. 33), ernüchtert er seinen begeisterten Mitstreiter Spiegelberg. Dass Schillers Drama jede ernsthafte Hoffnung auf eine heroisch-tatkräftige Realisierung des republikanischen Projekts von Anfang an durchkreuzt, tritt noch deutlicher zu Tag, wenn sich Moor wiederum nur wenige Seiten darauf revolutionsmüde in den „Schatten [s]einer väterlichen Haine“ (R, S. 37) sowie in die Arme seiner Geliebten zurücksehnt, anstatt sich als politischer Rädelsführer vor ein ‚Heer Kerls‘ zu phantasieren (vgl. R, S. 32). Das Anliegen des Textes kann vor diesem Hintergrund nicht darin gesehen werden, ‚ja‘ oder ‚nein‘ zur Republik zu sagen oder über konkrete politische Ereignisse wie z. B. die mögliche Einrichtung einer deutschen Republik in Zeiten der Erosion des absolutistisch-feudalen Herrschaftsmodells zu spekulieren. In weitaus uneindeutigerer Absicht, aber deswegen nicht weniger subtil, wird hier über die Möglichkeit republikanischer Politik reflektiert. Wenn Republiken, folgt man Schillers Text, durch den heroischen Enthusiasmus eines einzelnen spontan bei dem einen oder anderen Glas Wein (vgl. R, S. 30, 31, 34, 36) in die Welt kommen, so werden sie mindestens genauso schnell zugunsten privater Belange, hier zugunsten von Heim und Frau, wieder verabschiedet. Bemerkenswerterweise funktioniert die Entstehungs- und Bestandslogik des Räuberbundes geradewegs umgekehrt: Die Vereinigung der Räuber beruht zuallererst auf den egoistischen Privatinteressen und keineswegs auf einem heroischen Elan ihrer Mitglieder. Was Karl von Moor von seiner politischen Mission abbringt, motiviert vice versa den Zusammenschluss der Räuber. Ganz in diesem Sinne setzt
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Schiller auch keineswegs den späteren Hauptmann als ersten und überzeugten Fürsprecher des Bundes in Szene. Es ist sein Tresengenosse Spiegelberg, der sich zum „großen Mann“ (R, S. 35) der kriminellen Gemeinschaft, und das sogar vom „Schicksal“ (R, S. 35), berufen fühlt. Der Verlauf der Szene demonstriert, dass er die Heldenrolle nicht auszufüllen vermag. Analog zu Moors republikanischer Ermächtigungsphantasie findet Spiegelberg nicht weniger hochtrabende Worte zur Beschreibung seiner prospektiven Führerschaft: „Große Gedanken dämmern auf in meiner Seele! Riesenplane gären in meinem schöpfrischen Schedel! […] ich erwache, fühle, wer ich bin – wer ich werden muß!“ (R, S. 36) Sieht sich Spiegelberg bereits heroische Pfade betreten bzw. „mit ausgespreiteten Flügeln zum Tempel des Nachruhms empor“ (R, S. 36–37) fliegen, teilt indessen sein sich kurz zuvor noch als Wiedergänger Hermanns stilisierender Kumpane Moor diesen Höhenflug ganz und gar nicht. Für Moor stehen alle Zeichen auf „Abschied“ (R, S. 37) von seiner kleinkriminellen Existenz, hat er doch den Vater schriftlich um Vergebung ersucht und erwartet er doch noch im Moment des Gespräches dessen verzeihliches Antwortschreiben (vgl. R, S. 37). Der entsprechende, von Moors und Spiegelbergs Kameraden übermittelte Brief entstammt bekanntermaßen der Hand des intriganten Bruders Franz von Moor und behauptet die ungnädige Verbannung Karls durch den Vater. Während Karl daraufhin tief getroffen die Szenerie verlässt (vgl. R, S. 38), setzt Spiegelberg sogleich dazu an, die umstehenden Noch-„Libertiner“ (R, S. 13) für seine ‚Idee‘, für den Räuberbund zu gewinnen. Da er es mit nicht eben durch ihre Gesetzestreue bekannten Bürgern zu tun hat, hofft Spiegelberg Schweizer, Grimm, Roller, Schufterle und Razmann bereits mit dem Appell an ein verbindendes heroisches Ethos entflammen zu können: Er stellt sich mitten unter sie mit beschwörendem Ton. Wenn noch ein Tropfen deutschen Heldenbluts in euren Adern rinnt – kommt! Wir wollen uns in den böhmischen Wäldern niederlassen, dort eine Räuberbande zusammen ziehen, und – Was gafft ihr mich an? – ist euer bißgen Mut schon verdampft? (R, S. 39)
Dass allerdings keine ‚deutschen Helden‘ vor ihm stehen, die es auf den in Aussicht gestellten ideellen Lohn von „Ruhm und Unsterblichkeit“ (R, S. 41) abgesehen haben, tritt deutlich zu Tage, wenn die designierten Räuber umgehend andere, vor allem finanziell einträglichere Lebenswege zu diskutieren beginnen (vgl. R, S. 40–41). Nicht ein „süße[s] Gefühl der Unvergeßlichkeit“ (R, S. 41) vermag jene Libertiner zu locken; vielmehr verdichtet sich ihre ganz und gar monetäre Interessenslage in der von Grimm ausgesprochenen und von allen geteilten Handlungsmaxime: „Wer am meisten bietet, der hat mich. Nimm diese Hand, Moriz“ (R, S. 42).
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Als Spiegelberg seine Mission, den Räuberbund zu gründen, gelingen sieht, hegt er keine Zweifel, selbst der „erleuchtete[ ] politische[ ] Kopf“ (R, S. 43) des Ganzen zu werden. Die designierten Räuber allerdings zweifeln merklich an Spiegelbergs Eignung zum Anführer, was sich etwa in Schweizers abschätzigem Kommentar manifestiert: „Moriz, du bist ein großer Mann! – oder es hat ein blindes Schwein eine Eichel gefunden“ (R, S. 40). Die Beteiligten verstehen das Bündnis plötzlich nicht mehr nur als finanzielles Zweckbündnis, denn man will sich, so wird schnell klar, nicht unter die Führung von irgendjemandem begeben, sondern einen Mann an der Spitze der Räuberbande sehen, der sich durch eine gewisse Dignität auszeichnet: „Auch die Freiheit muß ihren Herrn haben. Ohne Oberhaupt ging Rom und Sparta zu Grunde.“ (R, S. 43) Wer dieser jenige ist, der so sehr für die ‚Freiheit‘ kämpft, dass die Anführer Roms und Spartas dagegen wie ‚Nonnen‘ erscheinen müssen, ist indessen seit Beginn der Szene bekannt. Dementsprechend heißt es: „Ohne den Moor sind wir Leib ohne Seele.“ (R, S. 43) Der Räuberbund ist zwar gegründet, aber ohne heroischen Anführer ‚seelenlos‘. Karl von Moor, der sehr zu Spiegelbergs Unwillen (vgl. R, S. 43) in den Herzen der Räuber schon vor seiner eigentlichen Einsetzung herrscht, kehrt kurz darauf denkbar affektgeladen in die sächsische Kneipe zurück. Über die vermeintliche väterliche Unverzeihlichkeit über alle Maßen verbittert, ergeht er sich in an seine Familie gerichteten und allen voran auf den Vater abzielenden Vernichtungsphantasien gewalttätigsten Zuschnitts (vgl. R, S. 43–45). Der Text lässt im Folgenden keinen Zweifel daran, dass Moors Eintritt in den Räuberbund und seine Einwilligung, als Hauptmann zu fungieren, auf das Engste mit seiner bodenlosen Wut über den Vater zusammenhängen. Das zweimal wiederholte Bekenntnis „ich bin euer Hauptmann!“ (R, S. 45) kommt nicht ohne eine Lossagung von der väterlichen Autorität zustande: „Ich habe keinen Vater mehr“ (R, S. 45). Hier wird also einer zum Räuberhauptmann, der von daddy issues und darauf gegründeten Rachegelüsten getrieben ist, die mit der von Spiegelberg beschworenen räuberisch-heroischen Idee des Bundes nichts zu tun haben. Weder bringt die Gemeinschaft ein kollektives Heldenethos zusammen noch zeigt sich der Held im Innersten von der gemeinschaftlichen Sache bewegt. Der Anstoß, den Räuberbund im emphatischen Sinne zu einen, geht von einem gekränkten Sohn aus. Auf seine Erklärung, die Führung der Bande zu übernehmen, folgt unmittelbar die affektive, ja die begeisterte, gemeinschaftliche Akklamation: „ALLE mit lärmendem Geschrei: Es lebe der Hauptmann!“ (R, S. 45) Auch mit einem kollektiven Handschlag verleihen die Räuber ihrer Loyalität gegenüber Moor tatkräftigen Ausdruck: „ALLE geben ihm die Hand: Wir schwören dir Treu und Gehorsam bis in den Tod!“ (R, S. 46) Erst dieser Treueschwur besiegelt die Gründung des Räuberbundes endgültig; man hat den zum Leib passenden ‚Kopf‘ gefunden.
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Es ist bemerkenswert, dass der Text gänzlich offen lässt, worauf der einhellige Zuspruch zu Karl von Moor fußt. Statt Moors Heldenkraft genauer auf den Grund zu gehen, wird mit Spiegelberg gerade derjenige, der sein persönliches Schicksal durch die Führung des Räuberbundes verwirklicht sähe, als für die Heldenrolle gänzlich ungeeignet vorgeführt; bei Schiller wird mitnichten der zum heldenhaften Räuberhauptmann, der es genau darauf abgesehen hat. Kehrt man zurück zur Ausgangsfrage, wie Republiken und Räuberbünde entstehen bzw. allgemeiner: welche Faktoren in Schillers Drama für die Gründung von Kollektiven namhaft gemacht werden, so erweist sich die Republik als auf einer antiken Heldenphantasie beruhendes und gleichermaßen kurzlebiges, beim Wein ersonnenes Hirngespinst. Die im Gegensatz dazu beständigere Räubervereinigung tritt als monetäres Zweckbündnis an. Den ‚heroischen Geist‘ erweckt erst der Beitritt eines keineswegs von der Sache, sondern vom eigenen Vater übermannten Helden, dessen charismatische Führungsenergie der Text jedoch in der zentralen Gründungszene mehr als nur konstatiert, ohne aber nachvollziehbare Gründe für die als spontane Gefühlseruption dargestellte, kollektive Anerkennung anzugeben, die Moor zuteil wird. Liest man die skizzierte Szene als literarische Analytik eines Gründungsprozesses, ist hier keiner als politischer Überzeugungstäter oder auch reüssierender Stratege ernst zu nehmen, nicht der minutenweise heroisch gestimmte Republikaner Moor, nicht der in seinen Führungsambitionen scheiternde Spiegelberg, nicht die zunächst nur geldgierigen und dann offenbar charismatisch affizierten Räuber und auch nicht der bloß vermeintlich vom Vater verstoßene Räuberhauptmann Moor, der doch letztlich einer Intrige seines diabolischen Bruders aufsitzt. Alle an der Entstehung des Räuberbundes beteiligten Parteien zeigt Schiller als affektiv sowie inkonsistent Handelnde. Initiiert wird eine derartige Reflexion über die Voraussetzungen politischer Gründung nicht nur bei Schiller durch sehnsuchtsvolle, affektgeladene, ambivalente sowie in hohem Maße abgründige Reminiszenzen an bzw. Rekurse auf ein antikes Heldentum. Der Entwurf von reflexiven Textvariationen einer heroischen Antike kann daher als eine Konstituente für das Gattungsprofil des politischen Held*innendramas gelten.
2.3 Das blutende, schwitzende ‚Sekulum‘. Heroische Antikephantasien jenseits von politischer Idealität In Karl von Moors Sehnsucht nach antiken großen Menschen manifestiert sich, wie im vorherigen Kapitel ausgeführt, ein politisches Begehren. Es macht den analytischen Gehalt jener zweiten Szene des ersten Aktes der Räuber aus, dass hier ausgerechnet die erfolgreiche Konstitution einer devianten Gemeinschaft
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geschildert wird – einer Gemeinschaftsform, die keinesfalls dem Ideal republikanischer Freiheit entspricht, dem sich Moor noch zu Beginn der Szene heroisch verschreibt. Die in die Antike ausgreifende Heldensehnsucht mündet aber nicht nur nicht in der Realisierung einer auf spezifischen Idealen beruhenden, politischen Körperschaft, sondern geht mehr noch mit begehrlichen Phantasien über eine heroische Existenz einher, die deutlich jenseits jedweder politischen Idealvorstellung liegen. Karl von Moor spezifiziert seine Sehnsucht nach Plutarchs großen Menschen in Form einer bereits bekannten Abgrenzungsgeste, und indem er seine antiken Vorbilder beim Namen nennt: Herkules, Prometheus, Alexander, Hannibal und Scipio werden gegen einen „französische[n] Abbé“ (R, S. 31), einen „schwindsüchtige[n] Professor“ (R, S. 31) und „feuchtohrige Buben“ (R, S. 31) in Stellung gebracht. Die Sympathien liegen auf der Seite des antiken Heldenensembles und richten sich gegen ein kränkelndes Intellektuellentum, das es vorzieht, jene Heroen zu ‚studieren‘, über sie zu ‚dozieren‘, ‚Vorlesungen‘ über sie zu halten und an ihnen zu ‚kritteln‘, anstatt sich an ihrer Tatkraft und Vitalität ein Beispiel zu nehmen. ‚Tatkräftig‘ und ‚vital‘ sind jedoch im Grunde beschönigende und verharmlosende Attribute für den Inhalt der Moor’schen Heldenphantasien. So setzt die Textpassage mit dem Verweis auf ein kardinales, kulturgeschichtlich berüchtigtes Vergehen ein, wenn in bewundernder Manier vom Feuerdiebstahl des Prometheus die Rede ist – einem rebellischen Akt, der keinen Geringeren als den Göttervater herausfordert. Weiter wird die Faszinationskraft eines Herkules auf dessen bevorzugte Waffe, seine „Keule“ (R, S. 31), sowie den Inhalt seiner „Hoden“ (R, S. 31) zurückgeführt. Schlag- und Manneskraft also vermag dieser antike Held wohl weniger zu lehren als zu demonstrieren. Und weiter zählen drei große Feldherren zu Moors heroischem Vorbilderreigen: Alexander der Große sowie die Kontrahenten Hannibal und Scipio stehen Pate für die hier deutlich zu Tage tretende Kriegs- und Gewaltsehnsucht des Räubers Moor (vgl. R, S. 31, 32). Fortgesetzt wird – einhergehend mit einer Diskreditierung der gelehrten Kontrastfiguren – eine heroische Welt antiken Ursprungs imaginiert, in der Menschen von „gesunde[r] Natur“ (R, S. 31) und „Herz“ (R, S. 31) unter „Schweiß in der Feldschlacht“ (R, S. 31) kämpfen und weder das eigens „verpraßte[ ] Blut“ (R, S. 31) noch den Anblick von Blut scheuen (vgl. R, S. 32). In noch gesteigertem Enthusiasmus heißt es, in diesem Heldenkosmos gehe es um nichts weniger als um die Erlangung von „Unsterblichkeit“ (R, S. 31) – einen Wert, den die zeitgenössische Intelligenz allenfalls verstandesmäßig zu fassen vermöge, ja „in einem Bücherriemen mühsam fort[ ]schleppt“ (R, S. 31). Der genauere Blick auf den von Moor beschworenen antiken Heldenreigen bringt ein Antikebild zur Geltung, das in vielerlei Hinsicht ganz und gar nicht von Balance und Maß gekennzeichnet ist und das kein der materiellen Welt
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enthobenes, überzeitliches Heldenideal kolportiert.318 Die herbeiphantasierten Heroen sind vielmehr in ihrer Körperlichkeit konturierte Wesen, die sich zumal dadurch auszeichnen, eine heterosexuelle Männlichkeit betontermaßen auszuleben – der Text lässt die diesen heroischen Männerkörpern entsprechenden Flüssigkeiten Samen, Blut und Schweiß denn auch fließen. Im Kontrast dazu fließt im Falle jener ‚schwindsüchtigen‘, lustfeindlichen und latent kranken Gelehrten,319 die permanent Gefahr laufen, in Ohnmacht zu fallen (vgl. R, S. 31, 32), bloß noch die viel zitierte Tinte, mit der schon Moors Jahrhundertschelte einsetzt. Während die in Momenten körperlicher Aktivität, ja extremer Reizung bzw. Erregung austretenden Flüssigkeiten die heroische Existenz unmittelbar beglaubigen, so drückt sich der gelehrte Körper im tintenflüssigen Schriftverkehr aus. Hier qualifiziert sich die heroische Antike als Refugium unvermittelter Ausdruckspotenz, wohingegen das ‚Tintenklecksende Sekulum‘ als mediale Abstraktionsbewegung pejorisiert wird. Ferner fürchten Herkules und seine Genossen die Versehrung ihrer Heldenkörper keineswegs, die gewaltsame bis kriegerische Auseinandersetzung firmiert in der Vorstellung des Räuberhauptmanns als fester Bestandteil eines heroischen Daseins antiker Prägung. Diese Lust an Gewalt, Krieg und Abenteuer ist, daran sei an dieser Stelle erinnert, ein Zug, der auch für Plutarchs Theseus bestimmend ist. Und so ist es in Moors Vision der Wille zur Tat und ihr furchtloser Vollzug, wodurch der antike Held einen unverstellten und direkten Umgang mit der Welt praktiziert, anstatt sich diese dozierend, studierend, lesend, reflektierend anzueignen. Es ist festzuhalten, dass der hier als repräsentative Reflexionsfigur eines politischen Antikebezugs herangezogene Karl von Moor seine Vorbilder nicht als in ‚edler Einfalt und stiller Größe‘, ja als in Marmor gemeißelte Helden entwirft. Ihm schwebt eine gewalttätige, eine körperlich-männliche, eine sexuell konnotierte Antike vor. Die Studie kann in diesem Befund an eine Reihe von Forschungsarbeiten anschließen, welche die Antikeverhandlungen in Literatur und (Kunst-) Theorie um 1800 auch über den Winckelmann’schen „Topos der ‚edlen Einfalt und stillen Größe‘“320 hinaus diskutieren, ja auf die Diskursfolie einer gewalttätigen Antike, auf das „immer wieder Zwiespältige, z. T. sogar Abgründige der
318 Vgl. zu einer solchen Antikeauffassung Grave u. a. (2007). 319 „Da verrammeln sie sich die gesunde Natur mit abgeschmackten Konventionen, haben das Herz nicht ein Glas zu leeren, weil sie Gesundheit dazu trinken müssen –“ (R, S. 31). 320 Dönike (2005), S. 7. Ganz ähnlich sieht Gutjahr (2000) das Diktum einer ‚edlen Einfalt und stillen Größe‘, das aus der Beschreibung griechischer Statuen gewonnen wird, in Anlehnung an Warburg zur Pathosformel der Klassik geronnen (vgl. S. 117).
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ästhetischen Entwürfe“321 des späten 18. Jahrhunderts aufmerksam machen.322 Auch die hier im Zentrum stehenden Dramen importieren, dafür kann Karl von Moors Heldensehnsucht exemplarisch stehen, aus der Antike mitnichten Vorstellungen eines ausbalancierten heroischen Ethos, das in den Dienst politischer Idealitätsentwürfe gestellt würde. Vielmehr bergen die Antikereferenzen in vielen Fällen ein politisches Irritations- und Konfliktpotential, sie fungieren dergestalt als katalysatorisch wirksame dramaturgische Elemente innerhalb jener so grundsätzlich unruhigen und gespannten politischen Bühnenanordnungen. Neben der inhaltlichen Ausgestaltung der Antikebezüge sind es nämlich, wie schon angedeutet, häufig auch ihre Platzierungen innerhalb der dramaturgischen Struktur, durch die sie an der textuellen Analytik mitschreiben. Karl von Moors bewundernde Reden über Herkules, Hannibal, Prometheus und andere bilden den Ausgangspunkt derjenigen Szene, aus der Moor schließlich als Räuberhauptmann hervorgehen wird. Die Szene bewegt sich von den Imaginationen über eine heroische Antike zur Schilderung des räuberischen Zusammenschlusses. Wenn die Gründung des dezidiert kriminellen Bundes in Schillers Schauspiel dergestalt mit einer von Gewaltvorstellungen getragenen, antiken Heldenphantasie verknüpft ist, exemplifiziert dies, dass die Antike hier keinesfalls als Bilderfundus politischer Harmonie und einer moralisch fundierten heroischen Idealität herangezogen wird. Will man für diesen Zusammenhang noch ein weiteres Beispiel anführen, so ist auch auf das in den Räubern zentrale Lied der Amalia zu verweisen, das den Abschied von Andromache und Hektor thematisiert (vgl. II,2). Auch hier sind die dramaturgischen Einsatzorte jener der griechischen Antike entlehnten Szene aufschlussreich. Zunächst erscheint das Lied über den vielleicht berühmtesten Verlierer eines Heldenduells äußerst geeignet, den Räuberhauptmann als scheiternden Helden auszuweisen: Karl von Moor ist mit Sicherheit kein Achill – dies wird überdeutlich, wenn seine Geliebte Amalia die klagende Stimme der Gattin Hektors führt, die bereits im Vorfeld des berühmten Zweikampfes den Tod ihres Mannes singend antizipiert und im Zuge dessen vom heroischen Sieg Achills Zeugnis ablegt: „Willst dich, Hektor, ewig mir entreißen,/ Wo des Aeciden mordend Eisen/ Dem Patroklus schröcklich Opfer bringt?“ (R, S. 60–61) Dieser Eindruck steigert sich noch, wenn Schiller in der folgenden Strophe Amalia im mutmaßlichen Geiste Hektors singen lässt und man auch in dieser Perspektivierung einem antiken Helden begegnet, der wenig heroisch von vorneherein von
321 Dönike (2005), S. 7. 322 Vgl. zuletzt Dönike (2005). Vgl. Krüger-Fürhoff (2001); Schneider (1998); Osterkamp (1996, 1991); Pfotenhauer (1991a); Rosenblum (1970).
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der eigenen Niederlage überzeugt ist („Hektor fällt, ein Vater-Lands Erretter,/ Und wir sehn uns wieder in Elysium.“ (R, S. 61)). Der Text bringt unzweifelhaft eine Analogie zwischen den Paaren Amalia–Karl und Andromache–Hektor ins Spiel, wenn Amalia betont, das Lied in der Vergangenheit oft mit Karl „zusammen zu der Laute gesungen“ (R, S. 61) zu haben. Es stellt sich zudem in gesteigerter Weise als Lied eines gebrochenen Helden dar, wenn Schiller zunächst lediglich die klagende Gattin zur Stimmführerin bestimmt. Und schließlich stimmt der bereits angeschlagene Räuberhauptmann in IV,5, angeregt wiederum durch Amalias Gesang der ersten Strophe, selbst das Lied an, und zwar diejenige Strophe, in der Hektor den eigenen Untergang bereits vor dem Kampf antizipiert. Allerdings bricht er den Gesang nach nur zwei Versen wieder ab, wirft die Laute von sich und „flieht davon“ (R, S. 124). In einem solchen Rekurs auf jenen heroischen Verlierer antiker Herkunft wird nicht bloß der prekäre Heldenstand des Räuberhauptmanns veranschaulicht. Dem abgebrochenen Lied von einem gebrochenen Helden folgt vielmehr unmittelbar ein weiterer Gesang: Es handelt sich um ein vom gewalttätigen Ethos der Bande ungeschont Bericht erstattendes Räuberlied (vgl. R, S. 124–125), das nicht eine singt und auch nicht einer nur anstimmt, sondern das die versammelte Räubergemeinschaft in Abwesenheit ihres Hauptmanns zum Besten gibt, der noch kurz zuvor als ‚hektorianisch‘ Geschlagener das Weite gesucht hat. Schillers Szenenkomposition könnte Karl von Moor kaum deutlicher vom Figurenprofil einer ‚idealen‘, politischen Unifikationsfigur fortschreiben. Kein Lied auf einen kämpferisch für ein bestimmtes Ideal zu Felde ziehenden Heros gelingt hier, sondern es wird die brutale Gemeinschaftsform einer höllischen „Brüderschaft“ (R, S. 125), der maximal deviante Bund kollektiv und ausführlich in sieben Strophen besungen (vgl. R, S. 124–125). Die abgründige politische Signatur eines solchen Antikebezugs tritt zu Tage, indem das Bild des scheiternden griechischen Heros mit dem Schicksal eines Räuberhauptmanns enggeführt wird, der keiner republikanischen Idealgemeinschaft, aber, wenn man so will, einem kriminellen Brüderbund vorsteht. Dass der Bezug auf ein antikes Heldentum somit gerade nicht die Funktion aufweist, die brüchige politische Dramen-Welt zu versöhnen, trifft sich mit der bereits in der Theseus-Lektüre dargelegten Grundüberlegung. Eine derartige Referenzierung gibt das Heroische in seiner ambivalenten Struktur von potentieller Idealfunktion, der ein grundsätzlicher interner Widerstand eingeschrieben ist, zu erkennen. Daher bildet die Moor’sche Sehnsucht zwar sicherlich ein Projektionsbedürfnis323 der zeitgenössischen Literatur und Ästhetik ab, ohne aber einer in die Antike hinein gelegten Evidenzverheißung unkritisch das Wort zu reden.
323 Vgl. Pfotenhauer (1991a), S. 145.
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Die rekurrente Bezugnahme auf textuelle Modellierungen antiken Heldentums erschöpft sich mitnichten darin, eine vermeintlich dort angelegte Idealität und Vorbildlichkeit zum Ausgangspunkt für utopische politische und in ästhetischer Hinsicht abgerundete Textszenarien zu machen.324 Der Held tritt somit weder in seinen antiken Ausgestaltungen noch in den hier fokussierten literarischen Darstellungen des späten 18. Jahrhunderts als Hüter politischer Ideale oder als unproblematischer, politischer Hoffnungsträger in Erscheinung. Vielmehr sind diejenigen Dramenpassagen, die in gesteigertem Maße auf ein antikes Form- und Motivarsenal des Heroischen rekurrieren, die zentralen Punkte, an denen die Brüchigkeit, die Irrationalität, vor allem aber das Abgründige und das Gewalttätige politischer Konstitutionsprozesse und weniger deren emphatisches Gelingen hervortreten. Die damit skizzierte, politische Signatur der Antike-Verhandlungen im Drama Goethes, Schillers und Kleists über die Figur des Helden aufzuschlüsseln, verspricht, eine die drei Autoren verbindende Linie herauszuarbeiten.325
2.4 Antike, ästhetisch – Antike, politisch. Zur Schwerpunktsetzung in der Forschung und zum dramenanalytischen Potential einer politischen Antike Wenn hier behauptet wird, dass einige der ausgewählten Dramen im Rahmen ihrer heroischen Figurationen eine politische Antike inszenieren, ist festzuhalten, dass die damit angedeutete Form einer Antikerezeption in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis dato nicht im Aufmerksamkeitszentrum der Forschung stand. Die Bedeutung der Antike wurde, wie eingangs bemerkt, vor allem anhand der zeitgenössischen ästhetischen Diskurse und der verschiedenen Kunstgattungen
324 Klinger (2002) argumentiert, dass um 1800 gar nicht mehr von einer diskursiven Dominanz des Topos von einer ‚idealen Antike‘ die Rede sein kann. Stattdessen sei die Nostalgie der beherrschende Affekt gegenüber der Antike: „In der Perspektive einer selbstkritisch werdenden Moderne wandelt sich die Rolle der Antike vom normgebenden ewiggültigen Ideal zum Fluchtpunkt einer nostalgischen Zukunftshoffnung“ (S. 132). Die ausgewählten dramatischen Texte beziehen sich allerdings gewiss nicht in nostalgischer, sondern im Sinne der These einer Analytik des Politischen, d. h. in kritisch-reflexiver Manier auf eine heroische Antike. 325 Die Argumentation richtet sich damit auch gegen eine mehr als überholte Einschätzung ihres dramatischen Œuvres: Es wird nicht von der grundlegenden Differenz zwischen einer vermeintlich von Goethe und Schiller vertretenen ‚Weimarer‘ oder ‚Deutschen Klassik‘ und einem jenseits aller literaturgeschichtlichen Zuordnungen zu situierenden enfant terrible Kleist ausgegangen, der die ehernen Prinzipien idealen klassischen Kunstschaffens ad absurdum führe. Vgl. so auch Benthien (2011) zum Verhältnis Schiller–Kleist, bes. S. 20–25. Vgl. zum problematischen Begriff der ‚Weimarer Klassik‘ zuletzt mit Verweisen auf weitere Forschungsbeiträge Zumbusch (2012a), S. 19. Vgl. dazu grundlegend Lauer (2002).
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untersucht. Indem die meisten Studien eine ästhetische Antike fokussieren, gilt – neben den verschiedenen Künsten – insbesondere der kunsttheoretische Diskurs als maßgeblicher Verhandlungsraum der Antike in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Nachstehend seien kurz die Grundlinien der entsprechenden, bisher vorgelegten Forschungsarbeiten dargelegt. In Sinne eines vorrangig in ästhetischer Hinsicht ausgedeuteten Antikerekurses erklärt z. B. Claudia Benthien, dass es Schillers und Kleists Dramatik mit der „historische[n] Rückwendung“ zur Antike – und auch zum Mittelalter – „nicht um eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, sondern im Gegenteil um eine historisierende Wirkungsästhetik [geht], die die Wucht des Tragischen in rückwärtsgewandten Affektkulturen sucht.“326 Während Benthien aktuelle und historische Theoriediskurse von Scham und Schuld heranzieht, um die ästhetische Bedeutung eines aus der Antike und dem Mittelalter abgerufenen Affektivitätskonzepts für Schillers und Kleists Dramatik darzulegen, führt der Versuch einer Funktionsbestimmung antiker Formelemente in der Literatur um 1800 in aller Regel unmittelbar ins Zentrum der zeitgenössischen Debatten in Kunst und Kunsttheorie und entfernt sich – darin kommen diese Ansätze mit Benthiens Argumentation überein – vom politischen Gehalt solcher Bezugnahmen. Dies belegen zunächst zahlreiche Beiträge zu den Antikeverhandlungen bei den fokussierten Autoren, wobei im Falle von Goethe und Schiller, nicht aber bei Kleist alle drei Großgattungen diskutiert werden.327 Auch die Arbeiten zur Antikerezeption in der zeitgenössischen Ästhetik bestätigen dieses Bild.328 Der wiederkehrende Referenzpunkt für die auf die ästhetischen Debatten um 1800 konzentrierten Studien 326 Benthien (2011), S. 14. 327 Die Beiträge, die mit explizitem Schwerpunkt die hier fokussierte dramatische Gattung diskutieren, werden in Fußnote 342 gesondert aufgeführt. Vgl. zu Goethe: Zimmermann (2009); Schmidt (2002); Witte/Ponzi (1999); Strohschneider-Kohrs (1999). S. 249–276; Riedel (1998), vgl. hier den Überblick über die Goethe-Rezeption und Goethe-Forschung zum Thema ‚Antikerezeption‘ von 1921 bis 1995: S. 69–71; Vöhler (1999); Grumach (1949). Vgl. zu Schiller zunächst die umfangreiche Bibliographie (1919–2007) bei Frick (22011), S. 119–122. Vgl. Zumbusch (2012b); Riedel (2011). Vgl. Chiarini/Hinderer (2008) mit Ausnahme der Beiträge von Foi, Neumann und Osterkamp, die auf unterschiedliche Weise eine über den ästhetischen Diskurs hinausgehende Antikerezeption herausarbeiten. Vgl. Düll (2007); Barone (2006); Osterkamp (2006). Vgl. zu Kleist: Zimmermann (2014); Bexte (2008/09); Ennen (1998); Frick (1995); Streller (1986). Vgl. den Dreibänder von Riedel (1996, 2002, 2009), der ausführlich Goethe und zahlreiche weitere literarische Autoren sowie die Antikedebatten in der Kunsttheorie bespricht. Im zweiten Band (Riedel (2002), S. 85–89) findet sich eine Auswahlbibliographie der 1912–1999 erschienenen Forschungsliteratur zur Antikerezeption bei Goethe. Vgl. Janz (2002); Kaiser (1998). 328 Vgl. Böhmer u. a. (2012), darin bes. die Beiträge von Buschmeier, Dönike und Pabst. Vgl. Chiarini/Hinderer (2006); Liebsch (2001); Pauly (1999). Auch Pfotenhauers Beiträge konzentrieren sich auf die ästhetische Dimension der Debatte, wobei sich hier Ansätze zur politi-
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sind die kunsttheoretischen Darlegungen Winckelmanns, insbesondere die dort propagierte, diskursmächtige Vorbildfunktion ‚der Alten‘; man darf ergänzen: ‚der alten Griechen‘.329 Mit dem Winckelmann’schen Griechenland-Ideal ist zweifelsfrei ein zentraler Knotenpunkt der ästhetischen Antikediskussion bezeichnet.330 Diese Diskurslinie dient denn auch einem einschlägigen Teil der Forschung als nahezu unumgängliche Bezugsgröße.331 Die entsprechenden Arbeiten stellen heraus, dass Winckelmanns Antike-Vorstellungen unter den Zeitgenossen Widerspruch auslösen und gewiss nicht unkritisch adaptiert werden. Die Forschung hat die Gegenstimmen zu einem an der griechischen Antike orientierten Kunstund Kulturideal namhaft gemacht, die in der Ästhetik und in den verschiedenen Künsten um 1800 laut werden.332 An einer solchen transformatorischen Arbeit am Diskurs um eine ‚ideale griechische Antike‘ sind mithin auch die im Zentrum dieser Arbeit stehenden Autoren beteiligt.333 schen Bedeutung der Antike-Referenzen finden. Vgl. Pfotenhauer (1991a), darin bes. S. 137–155. Vgl. Pfotenhauer (1990); Fischer (1990). 329 Dass die griechische vor der römischen Kunstlandschaft seit Winckelmann als präferiertes Bezugsparadigma gilt, stellen verschiedene Forschungsbeiträge heraus. Vgl. zu Goethe: Osterkamp (2007), z. B. S. 12; Klinger (2002), S. 131; Fuhrmann (1982), S. 135. Meier (1992) vermerkt, dass seit Winckelmann zwar die antike griechische Kunst als ästhetischer Maßstab gilt, jedoch „paradoxerweise gerade das politisch wie ästhetisch bedenkliche Rom der Kaiser und Päpste mit seiner einzigartigen Fülle an griechischen Skulpturen […] zum bequem zugänglichen Repräsentanten des genuinen Griechentums“ (S. 150) wird. 330 „Winckelmann als Person, als Mythos und als diskursive Formation ist, über archäologische Detailfragen weit hinaus, maßgebend; Kunstliteratur dieser Art macht gleichsam Epoche.“ (Pfotenhauer (1991a), S. 145) Vgl. die programmatische Schrift Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (Winckelmann, GN). Vgl. auch Pfotenhauer (2006); Riedel (2009), S. 107–133, 161–187; Grave u. a. (2007); Mülder-Bach (1998), bes. S. 20–25; Pfotenhauer (1995); Fuhrmann (1982). 331 Vgl. für die rekurrente Bezugnahme auf Winckelmann exemplarisch folgende Beiträge: Schmidt (2002), S. 1; Gutjahr (2000), S. 116–119; Gille (1998c), S. 226; Pfotenhauer (1991a), S. 142–147; Pfotenhauer (1990), S. 46–48. 332 Vgl. Held (2009); Krüger-Fürhoff (2001). Vgl. zu Herder Schwinge (1999); Pfotenhauer (1991a), S. 140–141. Vgl. zu Moritz: Pfotenhauer (1991b). Vgl. die Grundlagenstudie von Szondi (1974). Vgl. auch die Anthologie Uhlig (1988): Griechenland als Ideal. Winckelmann und seine Rezeption in Deutschland. 333 Vgl. zuletzt Zumbusch (2012a), S. 85–97. Zumbuschs Studie, welche die ethischen, poetologischen und literarischen sowie politischen Implikationen des um 1800 auf dem Höhepunkt seiner Relevanz angelangten, immunologischen Paradigmas untersucht, argumentiert, dass das Winckelmann’sche Kunstideal eine „ungerührte Antike“ (S. 85) konstruiert. Während hier die „Phantasie einer gegen Leid und Schmerz vollkommen abgedichteten Schönheit“ (S. 87) sichtbar werde, seien die Poetologien Goethes und Schillers, aber auch Moritz’ Ästhetik als Versuche zu verstehen, diese empirisch-affektiven Störfaktoren ästhetisch zu bearbeiten und dergestalt zu integrieren. Damit werden natürlich Gegenpositionen zu Winckelmann formuliert. Vgl. darüber
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Diese Schwerpunktbildung hat jenseits ihres Verdienstes, die Vielschichtigkeit des Antikediskurses im späten 18. Jahrhundert herauszustellen, zur Konsequenz, dass der Eindruck entsteht, die Antikediskussion sei ausschließlich auf der Ebene ästhetischer Theoriebildung sowie poetologischer respektive künstlerischer Reflexion geführt worden. Dass die Verhandlungen mit der und über die Antike aber nicht nur im Zeichen einer metareflexiven Selbstverständigung von Kunst und Ästhetik stehen, sondern auch im Zusammenhang mit der politischen Gemengelage in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu sehen sind, hat ein Teil der Forschung herausgestellt.334 Dabei bleibt allerdings häufig unaus-
hinaus die Darstellung divergierender, vor allem auch kritischer Stadien Schiller’scher Antikerezeption bei Frick (22011), bes. S. 106–119. Der Beitrag von Singh (2009) beleuchtet Gellerts Einfluss auf Goethes Antike-Bild und attestiert Goethes Lehrer im Unterschied zu Winckelmann insofern einen differenzierteren Zugriff, als für Gellert die Antike als „Erinnerungs- und Reflexionsraum für die Gegenwart“ (S. 228) fungiere. Allerdings wird auch hier die explizit politische Dimension der Antike-Diskussion ausgespart. Vgl. Alt (2006); Bosco (2004); Zelle (2005). Vgl. für eine Differenzierung verschiedener Phasen in Goethes Antikeverhandlungen Riedel (2002), S. 63–84. Strohschneider-Kohrs’ (1999) Beitrag fokussiert nicht nur Winckelmanns Vorstellung von der Idealität und Klassizität griechischer Kunst und Kultur, sondern macht auch die sich rasch erhebenden Gegenstimmen (Hamann, der ‚junge‘, aber auch der ‚klassische‘ Goethe der Iphigenie, Novalis, Friedrich Schlegel) und die weniger oppositionellen Positionen in Philosophie und Literatur (Hölderlin, Görres, Creuzer und Schelling) namhaft. Der Aufsatz leistet damit einen Beitrag zur Aufarbeitung einer über Winckelmann hinausführenden Vielschichtigkeit der Antike-Diskussion um 1800. Vgl. dazu auch Goethes Schrift Winckelmann und sein Jahrhundert (Goethe, WJ). Vgl. ferner Jacobs (2006); Schwinge (1986); Uhlig (1981); Irmscher (1978). 334 Vgl. dazu die folgenden, in ihrer Thematisierung einer politischen Dimension der Antikerezeption um 1800 zu stark divergierenden Ergebnissen kommenden Beiträge: Zumbusch (2012a) argumentiert, dass Goethe und Schiller zwar emphatische Modelle von Affektreinigung und -prävention erarbeiten, welche jedoch in den literarischen Texten insbesondere hinsichtlich ihrer Fähigkeit, politische Gemeinschaften zu stabilisieren, merklich problematisiert werden (vgl. S. 10). Eine politische Bedeutung Goethes und Schillers ergibt sich, wenn Zumbusch – hinausgehend über die in den kunsttheoretischen Schriften dargelegten Imaginationen der Antike als Residuum von Gesundheit, Reinheit und Schutz (vgl. S. 110–111) – deren literarische Texte als Reflexionsmedien einer biopolitischen Moderne liest (vgl. S. 17). Osterkamp (2007) beschreibt zwar nicht direkt eine politische Dimension in Goethes späten Antikeverhandlungen. Gleichwohl konstatiert er die Tendenz zur „Historisierung der Antike“ (S. 16) und bespricht den Einfluss der Französischen Revolution auf Goethes Antikebild (vgl. S. 56–58). Vgl. ähnlich auch Osterkamp (2011). Alt (2006) stellt den Einfluss der Französischen Revolution auf Schillers Antike-Rezeption im Verlauf der 1790er Jahre heraus. Er konzentriert sich dabei auf die ästhetischen Schriften und beschreibt diese recht allgemein als Reflex auf eine krisenhafte Erfahrung einer kulturellen Fragmentierung in der beginnenden Moderne, ohne jedoch näher auf die vor allem in den literarischen Texten verhandelten politischen Implikationen einzugehen. Wiedemann (2005) diskutiert am Rande die Bedeutung des Griechenland-Ideals im Rahmen der Schiller’schen Staats- und Gesellschaftskritik (vgl. S. 253). Gille (1998c) analysiert eine „politische[ ]
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geführt bis undeutlich, welche Verbindungslinien oder aber Interferenzen zwischen Antike und Politik bzw. Politischem in den entsprechenden literarischen, kunsttheoretischen oder philosophischen Texten konkret artikuliert werden. In den meisten Fällen wird dabei die Bedeutung von Antikereferenzen vor allem darin gesehen, im Rahmen einer allgemeinen Kultur- und Gesellschaftskritik als verheißungsvoller Kontrapunkt zur Gegenwart zu fungieren. So konstatiert beispielsweise Gutjahr einen „Fluchtpunkt Antike“335 und beschreibt die deutsche Antikerezeption des ausgehenden 18. Jahrhunderts als Projekt der „Erschließung eines Imaginations- und zugleich Reflexionsraumes, mit dem die eigene kulturelle Bestimmung Kontur gewinnen sollte.“336 Deutlicher noch die defizitäre Selbstwahrnehmung der deutschen Kunst- und Kultureliten in den Blick nehmend, fasst Pfotenhauer die Funktion des groß angelegten Antikerekurses in der Formel der ‚Evidenzverheißung‘337, ohne jedoch das politische Projektionsbedürfnis der zeitgenössischen Literaten und Kunsttheoretiker genauer aufzuschlüsseln. Ein sich von Winckelmann herschreibender gesellschaftlicher „Vorbildbedarf“338 kulminiere in einem merklich idealisierten, wenn nicht gar Züge des Utopischen tragenden Antikebild.339 Die angeführten Forschungsbeiträge identifizieren dementsprechend zwar die phantasmagorischen Züge des Winckelmann’schen Antikemodells und seiner Adepten, verweisen aber in der Regel nur andeutungsweise über eine allgemeine kulturkritische Ebene hinaus auf die politischen Motive derart träumerischer Blicke in die Vergangenheit. Dies illustriert etwa die folgende Beschreibung: Gegenüber der in leuchtenden Farben ausgemalten Vorstellung von der Ganzheitlichkeit und Unmittelbarkeit der antiken Welt mußte das zersplitterte, um seinen kulturellen und politischen Status innerhalb Europas kämpfende Deutschland verblassen. Diese Idealvorstellung wurde in der Suche nach dem eigenen Ursprung, in der Rede von der Antike als Wiege des Abendlandes und in der Sehnsucht nach der verlorenen Einheit als Erinnerung bewahrt.340
Gutjahr argumentiert an dieser Stelle, dass die in der Forschung allen voran in ihrer ästhetischen Dimension wahrgenommene Antike-Sehnsucht um 1800 u. a. auch eine politische Dimension aufweist. Die in diesem Kapitel leitmotivisch Funktionsbestimmung des Griechenlandmythos“ (S. 228) in Schillers Ästhetik, bei Winckelmann selbst, bei Herder und bei Friedrich Schlegel. Vgl. grundlegend Fuhrmann (1982). 335 Gutjahr (2000), S. 116. 336 Gutjahr (2000), S. 115. 337 Vgl. Pfotenhauer (1991a), S. 137. 338 Pfotenhauer (1991a), S. 142. 339 Vgl. so auch Schmidt (1992/1993). 340 Gutjahr (2000), S. 117.
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verfolgte Moor’sche Sehnsucht klingt leise an, wenn Gutjahr die Orientierung an antiken Idealen auf ein Leiden bzw. auf eine Kritik an der politischen Gegenwart zurückführt. Als Grundlage für meine Argumentation können diejenigen Forschungsbeiträge dienen, welche die Antikerezeption – wenn auch bisweilen zu allgemein – mit dem ,politischen Sujet‘ engführen.341 Ausgehend davon formuliert die Studie ihre Frage nach einer politischen Antike, die als Frage nach der Funktionalität antiker Heldenszenen im Kontext eines genuin politischen dramatischen Gattungsprofils spezifiziert wird.342 Dabei setzen die Textanalysen, wie schon angedeutet, zwar nicht auf den Ebenen gattungsästhetischer Form und Metareflexion an, blenden diese jedoch auch nicht aus. Vielmehr fußen die Lektüren auf dem Grundgedanken, dass die in den Dramen entfaltete politische Analytik mit dramenpoetologischen Grundsatzfragen verwoben ist. Die herausgestellte politische Antike ist dementsprechend nicht von der viel diskutierten ästhetischen Antike zu trennen, sondern macht vielmehr eine neue Facette dieses Diskursfeldes sichtbar. Für die Textarbeit bedeutet dies, dass die ästhetisch-formalen Reflexionsanlässe, Irritationspunkte oder Bruchstellen der Dramen, die allzu oft in den Bezügen auf eine heroische Antike sichtbar werden, in vielen Fällen innerhalb der politischen Analytik des jeweiligen Textes von entscheidender Bedeutung sind und umgekehrt die neuralgischen Punkte im politischen Handlungsverlauf Reflexionen über die Gattungsform initiieren. Ein auf dem spezifischen Zusammenspiel von politischer und ästhetischer Bedeutungsdimension beruhender Antikerekurs im Drama lässt sich in eine inhaltliche und in eine formale Art der Bezugnahme differenzieren: Erstens ist damit der motivisch-stoffliche Abruf spezifischer Figuren, Szenen, Handlungsgefüge, Zeitkonstellationen, Schauplätze etc. aus der antiken Heldenliteratur und -ikonographie gemeint. Zweitens geht es um die Mobilisierung bzw. Umschrift dramenspezifischer Darstellungsverfahren (etwa Teichoskopie, Anagnorisis usf.), die der antiken Literatur und Poetik entstammen und die im Rahmen der Heldeninszenierungen um 1800 reflektorischen Wert haben. Daraus ergeben sich
341 Vgl. auch die Untersuchungen, welche das Verhältnis von Literatur und Politik um 1800 fokussieren, ohne ein besonderes Augenmerk auf die Antikerezeption zu richten: Schings (2012); Lauer (2011, 2005); Pornschlegel (2004). Pornschlegel verweist zusätzlich auf folgende Forschungsbeiträge: Stauf (1991), darin zu Goethe S. 345–428; Harth (1988). 342 Als Anknüpfungspunkte dienen daher am Rande auch Arbeiten zu einer ästhetischen und insbesondere zur dramenspezifischen Antikediskussion bei den ausgewählten Autoren. Vgl. zu Schiller: Zimmermann (2009), S. 149–160; Jeßing (2006); Schwinge (2006a, 2006b, 2003); Latacz (1997); zu Goethe, Schiller und Kleist: Greiner (2003); Frick (2003b); zu Goethe und Kleist: Jeßing (2013); Gallas (1990); Böschenstein (1986); zu Goethe und Schiller: Pütz (1984).
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die folgenden textanalytischen Leitfragen: Welche antiken Heldenthemen und -szenen werden verhandelt? Auf welche aus dem antiken Gattungsdiskurs tradierten Darstellungsoptionen wird im Held*innendrama zurückgegriffen? Antworten sucht die vorliegende Studie nicht in literarhistorisch ausgreifenden, gattungsgeschichtlichen und -theoretischen Strukturvergleichen, sondern in scheinbaren Details. Dieses Vorgehen wird nicht gewählt, um eine umfassende Aufarbeitung sowohl der griechischen Tragödienauffassung als auch der dramentheoretischen Diskussionen im ausgehenden 18. Jahrhundert zu umgehen, die der besagte, groß angelegte Strukturvergleich erfordern würde. Vielmehr beruht eine solche Argumentationsweise auf der Überzeugung, dass sich die politische Analytik bei Goethe, Schiller und Kleist nicht über das Großformat der ‚griechischen Tragödie‘ erschließt.343 Dieser Terminus bezeichnet zudem keinen unhintergehbaren literaturgeschichtlichen Bezugspunkt, sondern insistiert als diskursorganisierende Beschreibungskategorie in der Gattungsgeschichte des Dramas. Somit stellt der Begriff die Untersuchung vor ein ähnliches Problem wie der bereits problematisierte Begriff der ‚antiken Literatur‘. Ein Vergleich des Held*innendramas um 1800 mit der ‚antiken Tragödie‘ ist insofern von nur begrenztem Erklärungswert, als zwischen disparaten Autoren und Schreibtraditionen, zwischen literarischer Praxis und den Poetiken, zwischen römischer und griechischer Antike zu differenzieren wäre, auf überlieferungsgeschichtliche Faktoren Bezug genommen werden müsste und verschiedene Forschungspositionen abzugleichen wären. Es müsste mithin das ganze Problemfeld gattungstypologischer Kategorienbildung am konkreten Beispiel eines der mitunter bedeutungsträchtigsten Begriffe der literaturwissenschaftlichen Forschung zumindestens erwogen werden. Um mit dem Modell der ‚antiken Tragödie‘ arbeiten zu können, müsste, kurz gesagt, Einheit in einen per se uneinheitlichen Komplex gebracht werden, der vielleicht allen voran in den Köpfen von Literaturhistoriker*innen existiert. Ohne die Arbeit mit heuristisch angelegten Modellen abzulehnen bzw. aufgrund der genannten Schwierigkeiten für unmöglich erklären zu wollen, wird hier ein anderer Weg eingeschlagen, um dem dramatischen Antikediskurs näher zu kommen. Ausgangspunkte sind, wie schon im Falle der Plutarch-Lektüre, die allusorischen, randständigen und von der Forschung bisher weniger verfolgten Antikebezüge, die jedoch in besonderer Weise Zugang zur politischen Reflexionsebene der Texte gewähren. Die Studie nimmt diese oftmals versteckten Fäden auf, die von den Dramen selbst ausgehen, und entwickelt daraus Deutungsperspektiven.
343 Vgl. dazu Greiner (2012); Frick (2003a); Flashar (1997).
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Im oben dargelegten Sinne werden dabei einerseits thematische Verweise auf antike Heldenszenen in den Blick genommen. Andererseits werden einzelne dramenspezifische Verfahren und Ordnungsprinzipien sowie metadramatische Passagen fokussiert, die im Diskurs um den Gattungstyp der ‚antiken Tragödie‘ firmieren und auf die sich die Dramen-Literatur des späten 18. Jahrhunderts fortgesetzt bezieht. Die Grundüberlegung lautet, dass Goethe, Schiller und Kleist ihre politischen Reflexionen in eine dramatische Form fassen, die den Bezug zum prestigeträchtigen Großformat der ‚griechischen Tragödie‘ und zu den Idealvorstellungen antiker Poetiken immer wieder aufruft, die sich selbst allerdings genauer besehen in diesem Bezug auf den poetologischen Prüfstand stellt. Ersichtlich wird dies durch die Arbeit der Texte am eigenen Gattungsprofil, indem man also die performativen Gattungspraktiken nachvollzieht. Dabei werden gattungstheoretische und -geschichtliche Bezugsgrößen keineswegs ausgeblendet, sondern es wird versucht, die damit zusammenhängenden dramenpoetischen Problemstellungen vornehmlich aus den Dramen selbst herauszuentwickeln oder aber durch eine Arbeit mit Paratexten zu exponieren. Konkret gefragt wird in diesem Sinne etwa, was es im Rahmen von Schillers Tell-Schauspiel bedeutet, wenn der dem Helden vom Lokaldespoten abverlangte Apfelschuss deutliche Affinitiäten zur bei Homer nachzulesenden Schießprobe des Odysseus aufweist. Überdies speist Schiller in die Szene, welche die berüchtigte Heldentat seines Protagonisten schildert, eine an die antike Stillehre angelehnte aptum-Diskussion ein, die dazu dient, über die Darstellbarkeit und die Rezeption heroischen Handelns zu reflektieren. Gefragt wird auch nach den Funktionen, die der dramaturgische Kniff der Anagnorisis im Verschwörungsdrama Fiesko, im Tell sowie im Käthchen von Heilbronn hat. In allen Fällen wird ein anagnoristisches Anspielungsgefüge in subtiler Weise mit der jeweiligen heroischen Figuration verknüpft. Zu fragen wäre auch, was es mit dem Gebrauch teichoskopischer Verfahren im Held*innendrama um 1800 auf sich hat. Es wird eine Ebene narrativer Distanz auf der Bühne instituiert, welche auch im Rahmen der jeweiligen politischen Analytik bedeutsam wird. Meine Arbeit erörtert diesen Zusammenhang zum einen im Hinblick auf Kleists Guiskard-Fragment: Hier wird durch teichoskopische Blicke ins Herrscherzelt ein heroischer Auftritt des Normannenherzogs ebenso hergestellt wie unterminiert. Ein anderes Beispiel begegnet mit den ‚gefärbten Botenberichten‘ in Prinz Friedrich von Homburg, die ein beredtes Zeugnis nicht von heldenhaftem Tun, sondern vielmehr von einem Heroisierungsbegehren des Brandenburgischen Lagers liefern. Es stellt, so ist zu resümieren, einen gemeinsamen Grundzug von Goethes, Schillers und Kleists Dramen dar, in Form von signifikanten Umschriften einzelner antiker Heldensujets sowie durch die transformatorische Arbeit mit aus dem antiken Dramendiskurs tradierten Darstellungsverfahren ästhetische mit politi-
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schen Grundsatzreflexionen zu koppeln. Daraus ergibt sich die konkrete Frage, welche Effekte eine sich an der Antike entlang schreibende Dramaturgie des Heroischen einerseits für die politischen Dramenszenarien zeitigt. Andererseits führen jene politischen Figurationen einer ‚heroischen Antike‘ zur Irritation tradierter Gattungsbestimmungen und -grenzen.
2.5 Tatkraft – Attentat – Heldentat. Zum Einbruch des Politischen ins Ästhetische bei Karl Philipp Moritz Das politische Drama um 1800 eröffnet mittels auf die Antike rekurrierender, heroischer Figurationen einen Reflexionsraum, in dem sich politische Grundsatzfragen mit ästhetischen verbinden. Ich möchte darüber hinaus im Folgenden argumentieren, dass dieser Nexus strukturell im Heroismus beschlossen liegt, und daher den Untersuchungshorizont über die dramatische Gattung hinausführen. Den Anlass dazu kann eine der wohl bekanntesten kunsttheoretischen Abhandlungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts bieten – ein Text, dessen Programmatik gerade darin besteht, eine von allen äußeren Einflüssen ungestörte, ‚reine‘ – und damit auch apolitische – Sphäre des Schönen zu begründen. Anhand einer Lektüre von Karl Philipp Moritz’ autonomieästhetischem Traktat Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) gilt es zu zeigen, dass antike Heroismus-Figurationen auch im kunsttheoretischen Diskurs nicht als illustrative Garanten für ästhetische Formstabilität und Darstellungshoheit fungieren. Ebenso wenig wie sich bei Goethe, Schiller und Kleist eine souveräne Dramenform in antiken Heldenszenen respektive in Bezügen auf die antike Tragödienpoetik spiegeln würde, kann im Hinblick auf Moritz’ Schrift davon die Rede sein, dass das dort bemühte Heldengleichnis um den Attentäter Mutius Scaevola der Vorstellung von künstlerischer Autonomie zuarbeiten würde. Vielmehr stört die der römischen Geschichtsschreibung entlehnte Heldenepisode das auf der vordergründigen, begrifflich-argumentativen Ebene forcierte Modell einer Exklusivität des Ästhetischen empfindlich. Allen voran wird das produktionsästhetische Primat, ja wird die Vormachtstellung des schaffenden Genies in der Attentäter-Szene subtil mit der Gegenposition des Rezipienten konfrontiert. Damit hält die von Moritz diskreditierte Wirkmacht der Kunst auf figurativer Ebene wieder Einzug in den ästhetischen Reflexionsgang. Ähnlich wie eine heroische Antike im Held*innendrama eine Gattungskritik hervortreibt, wird sie bei Moritz zum Prüfstein der autonomieästhetischen Theoreme. In beiden Fällen verbindet sich dieser kritische Impuls mit einer Reflexion über die (sinnlichen) Voraussetzungen von Politik. Und so liegt ein wesentlicher Grund für die Auswahl des Moritz’schen Theorieentwurfs für das Korpus dieser
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Arbeit darin, auch anhand eines nicht-dramatischen Textformats zu demonstrieren, wie eine antike Heldenszene zum Ausgangspunkt einer Analytik des Politischen en miniature wird. Wenn man das Heldengleichnis nicht als bloß die kunsttheoretische Argumentation veranschaulichende Szene liest, führt es vor Augen, wie ästhetische und politische Analytik ineinandergreifen; wenngleich Moritz vehement darum bemüht ist, die Kunst als ‚reines Schönes‘ zu projektieren. Es geht also im Folgenden darum, das Reflexionspotential einer heroischen Antike in einem größeren Rahmen zu exponieren. Die Beschäftigung mit Moritz’ heldenhaftem Attentäter kann den Schlussakzent dieses Kapitels setzen, da sie den Deutungshorizont exemplarisch vermisst, den eine politische Antike hervorzutreiben vermag. Um das Schöne als ein „großes Ganzes“ (BN, S. 979) geht es Karl Philipp Moritz in seiner Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen von 1788. Bekanntermaßen wird hier in denkbar radikaler Weise ein emphatischer, von allen äußeren Banden losgelöster Exklusivitätsanspruch des Ästhetischen formuliert. Das Modell, vielleicht sogar das Phantasma eines sich selbst genügenden, eigengesetzlichen Schönen (vgl. BN, S. 960) hat die Forschung in den Begriff der ‚Autonomie‘ gefasst,344 wobei der autonomieästhetische Argumentationsgang bemerkenswerterweise mit einer terminologischen Reflexion über die Interferenzen zwischen Ästhetischem und Ethischem einsetzt. So eröffnet Moritz seine Abhandlung mit dem Begriffsquartett ‚nützlich‘, ‚gut‘, ‚schön‘ und ‚edel‘, das in der ersten Hälfte des Textes nach und nach aufgefächert und in verschiedenen Kombinationen durchkomponiert wird (vgl. bes. BN, S. 958–969). Eine derartige, wahrscheinlich am prominentesten in Kants Kritik der Urteilskraft konzeptuell fixierte Begründung des Ästhetischen auf den Schultern des Ethischen,345 die Zweifel am rein autonomieästhetischen Zuschnitt des Moritz’schen Entwurfs aufkommen lässt, bildet den argumentativen Ausgangspunkt. Gerade im Hinblick auf die gängige ästhetikgeschichtliche Einordnung von Moritz als einem strengen Verfechter künstlerischer Autonomie wäre die angedeutete Liaison von Ethik und Ästhetik näher zu betrachten. Die nachstehende Lektüre jedoch versucht zu zeigen, dass darüber hinaus die latenten Beziehungen zwischen dem
344 So notiert Pfotenhauer (1991b), Moritz gelange hier zu einer „in der Ästhetik-Geschichte singulär radikale[n] Formulierung des Autonomiegedankens“ (S. 67), Zumbusch (2012a) spricht von einem „Gründungstext der Autonomieästhetik“ (S. 98) und Drügh (2004–2007) will die Nachahmungs-Schrift als „Inkunabel klassischer Autonomieästhetik“ (S. 124) verstanden wissen. Vgl. auch Fohrmann (1995), S. 183. 345 Schöll (2015) fasst diese konstitutive Verknüpfung in die Beschreibungsformel eines um 1800 florierenden „ethisch-ästhetische[n] Diskurs[es]“ (S. 14). Vgl. zu Kant Schöll (2015), S. 36– 66; Recki (2001), bes. S. 43–70.
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Politischen und dem Ästhetischen eine zentrale Rolle in Moritzʼ kunsttheoretischer Ganzheitsvorstellung spielen – zumal damit der begriffsgeschichtlich angelegten, politischen Bedeutung von ‚Autonomie‘ Rechnung getragen wird.346 Die politische Bedeutung des Textes konstituiert sich auf zwei Ebenen: Erstens zielt Moritz’ Argumentation darauf, eine Herrschaft des Schönen zu (be-)gründen. Es ließe sich genauer nachzeichnen, wie hier ein in diversen terminologischen, aber auch figurativen Manövern zur Geltung gebrachtes, pompöses ästhetisches Gründungsnarrativ erschrieben wird. Zweitens, und darauf konzentriert sich meine Analyse, thematisiert die Abhandlung, wie die Kunst im Anschluss an eine solche textuelle Einsetzungszeremonie ihre Macht nach außen richtet. Dies vollzieht sich in Form eines präganten (Helden-)Gleichnisses. Im Gleichnis wird die Frage nach der Kategorie der ästhetischen Wirkung aufgeworfen, die Moritz wenn nicht ausklammert, so doch mit merklichem Aufwand auf der begrifflich-argumentativen Textebene für irrelevant zu erklären versucht.347 Die politische Signatur der Nachahmungs-Schrift, ja das Problem der Souveränität der Kunst tritt also hervor, wenn man diejenigen Passagen aufsucht, die das Schöne emphatisch zu begründen versuchen und die bezüglich der Wirkpotentiale der Kunst allzu beredt schweigen. Da es hier in erster Linie um die Relevanz einer politischen Antike geht, konzentriert sich meine Argumentation auf den zweiten Aspekt, der prägnant in der von Moritz bemühten antiken Heldenepisode zum Ausdruck gelangt. In der Passage über den römischen Attentäter spitzt sich die Frage nach dem spezifischen Wirkvermögen des Schönen zu. Indirekt wird dergestalt darüber reflektiert, wie das Kunstwerk in die öffentliche Sphäre eintritt und dort Machteffekte zeitigt. Gleichzeitig macht der in die vermeintlich autonome Sphäre der Kunstliteratur hereinbrechende römische Attentäter, das gilt es zu zeigen, auf die sinnlichen und affektiven Möglichkeitsbedingungen von politischer Herrschaft aufmerksam. Die Szene um Mutius Scaevola exemplifiziert in ihrer engen Kopplung von ästhetischen und politischen Grundsatzfragen das reflexive Potential einer heroischen Antike. 346 Vollhardt (1997) führt aus, dass der Autonomie-Begriff als dezidiert politische Beschreibungsformel der antiken Geschichtsschreibung entstammt (vgl. S. 173). Ab dem 17. Jahrhundert sei eine Verwendung im Rechtsdiskurs zu verzeichnen. Erst mit Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 setze die ethische Konzeptualisierung ein, welche die weitere Begriffsgeschichte und insbesondere die Ausformung von Autonomie im ästhetischen Diskurs bestimme (vgl. S. 173–174). Vgl. auch Wolfzettel/Einfalt (2000), S. 431–432, 439–449. 347 Moritz’ Text lässt an zahlreichen Textstellen ein Schreibverfahren erkennen, das in einer Überschreitung und Verwirrung konsistenter philosophischer Begriffsarbeit auf die Argumentationskraft von figurativen Verfahren setzt. Vgl. dazu Berghahn (2012), der Moritz eine vehemente „Tendenz zum Bild“ attestiert und von einer „bildhafte[n] Verschiebung innerhalb der eigenen Theorie und Semiotik der Kunst“ (S. 127) spricht.
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2.5.1 Die Sehnsucht nach einem schönen Ganzen Den Hintergrund für meine Interpretation der Mutius-Episode bildet die den Text durchziehende Sehnsucht nach einem schönen Ganzen (vgl. BN, S. 979), gerade weil im Gleichnis eine gegen jenes ästhetische Exklusivitätskonzept gerichtete Position artikuliert wird. Die Forschung hat umfassend dargelegt, dass Moritz einen von den Formcharakteristika der „Ganzheit und Schließung“348 bestimmten Kunstbegriff zur Geltung bringt. „Hieraus sehen wir […], daß mit dem Begriff des Schönen der Begriff von einem für sich bestehenden Ganzen unzertrennlich verknüpft ist“ (BN, S. 967). Wenn das Schöne hier mit dem nicht eben anspruchslosen Strukturmerkmal autonomer Ganzheit versehen wird, so ist diese ‚unzertrennliche Verknüpfung‘ nicht so rigoros zu denken, wie es zunächst scheint. Nur wenige Zeilen später heißt es: Aus eben dem Grunde können wir auch mit dem ganzen Zusammenhang der Dinge den Begriff der Schönheit nicht eigentlich verknüpfen, eben weil dieser Zusammenhang, in seinem ganzen Umfange, weder in unsre Sinnen fällt, noch von unsrer Einbildungskraft umfaßt werden kann, gesetzt daß er auch von unserm Verstand gedacht werden könnte.349 (BN, S. 967)
Was schon im Titel der Abhandlung liegt, wird an dieser Stelle auf den Begriff gebracht: Eine bildende Nachahmung des Schönen steht zur Debatte, kein alles überragendes, absolutes Schönes,350 auch wenn Moritz’ Rhetorik bisweilen letzteres vermuten lässt. Auf diesen Zusammenhang hat Campe in einer aufschlussreichen Lektüre des Traktats hingewiesen. Das Zentrum seiner Interpretation besteht darin, dass Moritz keineswegs unkritisch einen ästhetischen Absolutheitsanspruch und damit eine „Ideologie des Ästhetischen“351 formuliere. Campe sieht zwei Konzeptionen von Ganzheit in der Nachahmungs-Schrift ausgehandelt: Moritz’ Argumentation zeichne sich durch eine grundsätzliche Spannung aus, die aus dem Versuch resultiere, ein aus der philosophischen Tradition des Neuplatonismus352 stammendes ganzheitliches Formkonzept innerhalb der durch die philosophische Ästhetik abgesteckten Diskursgrenzen, die sich seit Baumgarten um 348 Campe (2002), S. 225. 349 Hervorhebung im Original. 350 Vgl. Campe (2002), S. 230. 351 Campe (2002), S. 225. Genauer weist Campe (2002) darauf hin, dass sich die „goethezeitliche Kunstauffassung“ aufgrund eben dieser Bestrebungen, „Autonomie und Totalität“ als wesentliche Konstituenten ästhetischer Form auszuweisen, von so prominenten Kunstphilosophen wie Gadamer, Adorno und de Man den „Verdacht des Ideologischen“ (S. 225) eingehandelt habe. 352 Vgl. zum Einfluss neuplatonischer Philosopheme auf Moritz’ Ästhetik auch Pfotenhauer (1991b), S. 79; Bezold (1984), S. 87. Vgl. kritisch dazu Schrimpf (1980), S. 124. Vgl. Saine (1971), S. 28–30; Baeumler (21967). S. 248–251.
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den Begriff der ‚sinnlichen Anschauung‘ herum organisiere, zu thematisieren.353 Moritz rekurriere auf den insbesondere bei Plotin konturierten Begriff einer in sich selbst vollendeten, d. h. geschlossenen und ganzen Form des Seienden, die, das ist entscheidend, eine ontologische Beschreibungskategorie meint. In dem Versuch, das ontologische Formideal in der Begründung eines schönen Ganzen heranzuziehen, müssen die im ästhetischen Diskursfeld maßgeblichen Erkenntnismodi der sinnlichen Wahrnehmung und der Imagination kapitulieren, so Campe. Die Vorstellungen von seiender Form auf der einen Seite und wahrgenommener bzw. gemachter Form auf der anderen Seite verdichten sich in dieser Lesart zum „ästhetischen Paradox[ ], das im gegenseitigen Ausschluß von Sinnlichkeit und Ganzheit liegt, die andererseits erst in ihrer gegenseitigen Beziehung die Ästhetik begründen“354. Dass Moritz um das untilgbare Problem weiß, das jene ‚unzertrennliche Verknüpfung‘ zwischen einem schönen und einem ontologisch-kosmologischen Ganzen hervorruft, wird aus Campes Sicht in den Relativierungsgesten deutlich, die den Text durchziehen: Kunstwerke würden als ‚nur‘ „relative Ganzheiten“355 aufgefasst. Und so komme die Argumentation nicht ohne die Differenz von ästhetischem Schein und ontologischem Sein aus,356 wie auch die folgende Textpassage belegt: Zu dem Begriff des Schönen […] gehört also noch, daß es nicht nur oder nicht sowohl, ein für sich bestehendes Ganzes wirklich sei, als vielmehr nur wie ein für sich bestehendes Ganzes, in unsre Sinne fallen, oder von unsrer Einbildungskraft umfaßt werden könne. (BN, S. 967)
Campes Analyse ist daher insofern zu folgen, als Moritz’ Konzeption eines schönen Ganzen nur in dieser grundsätzlichen Einschränkung, in der Differenzierung zwischen einem ontologischen Formkonzept und einem ästhetischen Modell wahrgenommer bzw. gemachter Form, zu verstehen ist. Gleichfalls ist festzuhalten, dass eine solche Kunsttheorie in ihrem Bezug auf das neuplatonische
353 Vgl. Campe (2002), S. 228. 354 Campe (2002), S. 237. Campe spricht an anderer Stelle auch von einer „paradoxen Beziehung von Form und Wahrnehmung“ (S. 236). Eine Auflösung des so beschriebenen Paradoxes, eine gelingende ästhetische Formwahrnehmung also, gelte in Moritz’ Modell als „höchst unwahrscheinlich“ (S. 227). 355 Campe (2002), S. 231. 356 „Das ist […] der Status von Kunstwerken. Kunstwerke sind scheinhaft nicht deshalb, weil sie kraft ihrer formalen Geschlossenheit ein Abbild von irgendetwas außer ihnen herstellen, sondern weil sie auf scheinhafte Weise Formen sind. Kunstformen ahmen Form nach“ (Campe (2002), S. 231).
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Ganzheitskonzept „schwerste spekulative Fracht“357 auflädt. Während Campe darin eine bescheidene Limitation des ästhetischen Ganzheitskonzepts ausgedrückt sieht, wird hier davon ausgegangen, dass dieser Rekurs umgekehrt als emphatische und axiomatische Stabilisationsquelle fungiert. Auf den Umstand, dass ein derartiges „Hinaufschmachten zum Höchsten, Vollkommensten“358 den Argumentationsanspruch mitnichten beschränkt, hat Pfotenhauer hingewiesen. Im Sinne des autonomieästhetischen Programms bestimmt Moritz das Schöne als Annäherung an ein kosmologisches Ganzes. Die unter der Chiffre des „ganzen Zusammenhangs der Dinge“ (BN, S. 967) und an anderer Stelle als der „Zusammenhang der ganzen Natur“ sowie als „das größte[ ] uns denkbare Ganze“ (BN, S. 969) auftauchende Konzeption lässt sich als ontologische Fiktion bezeichnen, derer es bedarf, um im Bereich des Ästhetischen überhaupt Ganzheiten ansetzen zu können, und seien sie „uneigentlich[ ]“359. Aus Sicht Pfotenhauers liegt die Funktion der so skizzierten Argumentation darin, „[d]ie Kunst […] jenseits aller Frömmigkeit als absolutes und in sich selbst vollendetes zu adeln […] und damit auch – als Geläutertes, Hohes – zu schützen vor dem bedrängend Niederen der Erfahrungswelt“360. Während Pfotenhauer also davon ausgeht, dass Moritz in erster Linie Exklusionsformeln in Stellung bringt, um das Schöne gegen eine Sphäre ‚schnöder‘ Empirie abzugrenzen, ist die Argumentationsstrategie der Schrift meines Erachtens treffender als Logik der Inklusion zu beschreiben. Darauf hat Zumbusch hingewiesen, die das Schöne „nicht im reinlichen Ausschluß, sondern im kalkulierten Einschluß des Leidens“361 entstehen sieht. Allerdings konzentriert sich ihre Lesart darauf, wie Moritz das Gewalttätige, das Hässliche und das Leiden in das Regiment des Schönen integriert und damit auf nur einen Aspekt einer aus meiner Sicht umfassenderen Inklusionsbewegung, die in dem Versuch besteht, sich alles im Zeichen des Schönen gleichsam einzuverleiben. Dieses Einschlussverfahren dient somit zur Begründung des ästhetischen Ganzheitskonzepts. Auch wenn man Campes Hinweis auf die Zurücknahme des Autonomieanspruchs in Rechnung stellt, zeichnet sich Moritz’ so sehnsuchtsvoll zum ‚eigentlichen Ganzen‘ hinaufschmachtender Entwurf defizitärer ästhetischer Ganzheit durch das Bemühen aus, das Schöne als ein im Wortsinne Allumfassendes zu instituieren. Gleichwohl, und das ist der Fluchtpunkt dieses Kapitels, kommt Moritz im Modus des Bildlichen ungleich expliziter auf die Fragilität jenes schönen Ganzen zu sprechen. 357 Pfotenhauer (1991b), S. 80. 358 Pfotenhauer (1991b), S. 79. 359 Campe (2002), S. 233. 360 Pfotenhauer (1991b), S. 80. 361 Zumbusch (2012a), S. 104.
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2.5.2 ‚Mit angeschliffnem Stahle‘. Die Gewalt der Tatkraft Das ästhetische Ganzheitskonzept konstitutiert sich bei Moritz über die Zentralstellung eines spezifisch ästhetischen Vermögens, dem sämtliche „aus der ästhetischen oder philosophischen Diskussion bekannten unteren und oberen Erkenntnisvermögen“362 untergeordnet werden. Die alle übrigen Vermögen in den Schatten stellende,363 da umfassende „Tatkraft“ bzw. „tätige Kraft“ (vgl. BN, S. 971, 978–979) bezeichnet nun genau die Fähigkeit, die in der Lage ist, das ersehnte „große Ganze dunkel […] [zu] fühlen“ (BN, S. 979), sie ist das Sensorium für „den harmonischen Bau des Ganzen“ (BN, S. 970). Über diese gesteigerte Rezeptionsfähigkeit hinaus eignet der Tatkraft ein wesentlich produktives Moment:364 „Sie [die Tatkraft] greift daher in der Dinge Zusammenhang, und was sie faßt, will sie der Natur selbst ähnlich, zu einem eigenmächtig für sich bestehenden Ganzen bilden“365 (BN, S. 970). Die Tatkraft tritt als Kardinalvermögen eines Schaffens- bzw. Bildungsprozesses in Erscheinung, dessen Ziel nicht das, sondern ein autonomes Ganzes ist (vgl. BN, S. 971). Die Tatkraft, konzipiert als produktiv-rezeptiver „Sinn für das höchste Schöne“ (BN, S. 971), avanciert hier zur „‚Superkategorie‘ […], die notwendig [ist], um das Totalitätskonzept weiterverfolgen zu können“366. Es seien kurz die Inklusionsbewegungen angedeutet, mittels derer die Tatkraft die skizzierte ästhetische Weltwahrnehmung und -erschaffung (vgl. BN, S. 971) vollzieht. In einem signifikanten Passus wird, ausgehend von der bloßen Materie, eine aufsteigende Reihe des Lebendigen entworfen: Daher ergreift jede höhere Organisation, ihrer Natur nach die ihr untergeordnete, und trägt sie in ihr Wesen über. Die Pflanze den unorganisierten Stoff, durch bloßes Werden und Wachsen – das Tier die Pflanzen durch Werden, Wachsen und Genuß – der Mensch verwandelt nicht nur Tier und Pflanze, durch Werden, Wachsen und Genuß in sein innres
362 Fohrmann (1995), S. 182. 363 Moritz arbeitet mit den Begriffen der Denkkraft, der Einbildungskraft, der Bildungskraft, der Empfindungskraft und des äußeren Sinns (vgl. bes. BN, S. 970–971, 978–979). An dieser Stelle kann nur darauf hingewiesen werden, dass die Begriffsverwendung und -anordnung bisweilen kryptisch und uneinheitlich sind. So auch Berghahn (2012), S. 127. Vgl. für Interpretationsvorschläge zur Moritz’schen Begrifflichkeit: Fohrmann (1995), S. 181–182; Zumbusch (2012a), S. 102–104. 364 Daher ist Fohrmanns (1995) Auslegung der vermögenstheoretischen Terminologie bei Moritz zuzustimmen. Aus seiner Sicht spaltet sich die Tatkraft in „‚Bildungskraft‘ und ‚Genußfähigkeit‘“ (S. 181), d. h. in ein produktives und in ein rezeptives ästhetisches Vermögen auf. Vgl. in diesem Sinne auch Primavera-Lévy (2013), die die Moritz’sche Tatkraft als ein „synthetisierende[s] Vermögen, das Empfindungskraft mit konstruktiven Elementen vereint“ (S. 65), bezeichnet. 365 Hervorhebung im Original. 366 Fohrmann (1995), S. 182. Vgl. auch Saine (1971), S. 143–144.
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Wesen; sondern faßt zugleich alles, was seiner Organisation sich unterordnet, durch die unter allen am hellsten geschliffne, spiegelnde Oberfläche seines Wesens, in den Umfang seines Daseins auf, und stellt es, wenn sein Organ sich bildend in sich selbst vollendet, verschönert außer sich wieder dar.367 (BN, S. 979)
Als höchste Form organisierten Seins vermag der Mensch mithilfe seines ‚Organs‘, der Tatkraft, alle ihm untergeordneten Wesenheiten in sich aufzunehmen, folgt man der in der vorstehenden Passage entwickelten anthropozentrischen Hierarchie. Wie sich hier qua ästhetischer ‚Weltanschauung‘ ein ganzer Kosmos einverleibt wird, tritt in der Rede vom ‚Ergreifen‘, ‚in sich Übertragen‘, vom ‚Verwandeln‘ und ‚Auffassen‘, vom ‚Unterordnen‘ deutlich zu Tage. Stoffe, Pflanzen, Tiere, alles wird in einer umfassenden Einschlussgeste absorbiert und geht als ‚Verschönertes‘ aus jenem Prozess bildender Transformation hervor. Im Horizont des Ästhetischen wird gewissermaßen eine ganze Welt unterworfen. In seinem Versuch einer Inthronisierung des Schönen wird nicht nur die skizzierte, noch gemäßigte Herrschaftsrhetorik einer ‚sanften‘ Übernahme ins Feld geführt. Beschrieben wird im Folgenden der Prozess einer Höherentwicklung, in dem das Schöne mit zerstörerischer, ja vertilgender Gewalt eine „Obermacht des Stärkern“ (BN, S. 984) durchsetzt. Dieser Bericht von einer verschönernden Einrichtung der Welt, die den ‚natürlichen‘, seine notwendigen Opfer fordernden Gang eines survival of the fittest verzeichnet, gipfelt in einem Passus, der überdeutlich eine ästhetische Konstitutionsgewalt ins Bild setzt. Hier radikalisiert sich die herausgestellte Inklusionspolitik insofern, als Moritz ein immenses Destruktionspotential der künstlerischen Tatkraft schildert:368
367 Hervorhebung im Original. 368 Zuletzt hat Zumbusch (2012a) dargelegt, dass die Gewalt- und Zerstörungsphantasien, die Moritz’ ästhetische Schriften durchziehen, als „negative[ ] Voraussetzung des Schönen“ (S. 98) einzuschätzen sind. Auch Krüger-Fürhoff (2000) arbeitet heraus, wie die Moritz’sche Theorie der Kunstautonomie aus Figurationen verletzter weiblicher Körper heraus entwickelt wird (vgl. S. 96). Im Zentrum stehen dabei Erzählszenen um die Figuren Philomele, Lucretia und Virginia, die Moritz aus der antiken Literatur abruft und die in der 1785 publizierten Schrift Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten ausbuchstabiert werden. Vgl. des Weiteren Krüger-Fürhoff (2001), S. 129–152. Campe (2002) hält diese Narrative sexueller Gewalt gegen Frauen sowie versehrter Weiblichkeit ebenfalls für maßgebliche Begründungskonstituenten im Rahmen des „Theorem[s] der selbstbeschreibenden Form“ (S. 242). Eine anders gelagerte Deutung vertritt Schäffner (2000), der u. a. ausgehend von Moritz’ Philomele-Szene eine „konstitutive Verbindung“ (S. 450) zwischen Autonomieästhetik und einem Foucault’schen Machtparadigma der Disziplinierung rekonstruiert, die sich in einer Überlagerung von Autonomieästhetik, kriminologischem Diskurs und der empirischen Psychologie zeige (vgl. bes. S. 440, 449–453, 458–459). Vgl. zur Philomele-Episode schon
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Wo nicht, so muß er [der tatkräftige Mensch] das, was um ihn her ist, durch Zerstörung in den Umfang seines wirklichen Daseins ziehn, und verheerend um sich greifen, so weit er kann; da einmal die reine unschuldige Beschauung seinen Durst nach ausgedehntem wirklichen Dasein nicht ersetzen kann. Mit dem angeschliffnen Stahle seines eingeschränkten Daseins nicht mehr froh, strebt er, außer sich selber, ein größeres Ganzes, als er selbst, zu sein […]. Er steht auf dem höchsten Punkte seiner Wirksamkeit; der Krieg, die Wut, das Feldgeschrei, das höchste Leben, ist nah an den Grenzen seiner Zerstörung da – […].369 (BN, S. 979–980)
Hier fließt zwar im Vergleich zu anderen von Moritz entworfenen Urzenen des Ästhetischen kein Blut – die Waffen werden indes allemal gezückt. Die ästhetische Welterschaffung erfolgt mithilfe des Konzepts einer wütenden Tatkraft, die mit geschliffenem Schwert im Dienste des Schönen in den Krieg zieht. Auch wenn das bildende, harmonisierende Moment der Tatkraft ihr eigenes ‚Feldgeschrei‘ schließlich übertöne (vgl. BN, S. 980), ist das Gewalttätige expliziter Bestandteil in Moritz’ kunsttheoretischer Gründungserzählung. Das vor dem Horizont eines ontologischen Ganzen projektierte schöne Ganze kann nicht ohne eine sichtbare Blutspur zur Erscheinung gebracht werden.370 Diese Überlegungen führen über den in der Forschung bis dato fokussierten Aspekt hinaus, dass Moritz’ Ästhetik den ehernen Olymp des Schönen für ein gewalttätiges Leben öffnet, indem sie von abgeschnittenen Zungen, von vergewaltigten und ermordeten Frauen spricht. Denn nicht nur wird die hässliche Kehrseite des Schönen rhetorisch eingeschlossen, sondern eine ganze Welt unter das Regiment des Schönen gestellt.
Pfotenhauer (1991b), S. 68–69, 77–78. Vgl. auch die Beiträge von Schneider (1998), bes. Kap. 2.3., sowie Schneider (1999). Vgl. ferner Drügh (2004–2007). 369 Hervorhebung im Original. 370 Vor diesem Hintergrund kann in Bezug auf Moritz’ Kunsttheorie von einem komplementären, dialektischen oder gar harmonischen Verhältnis zwischen Gewalt und Schönem keine Rede sein. Als Beispiele für eine solche Lesart verweist Zumbusch (2012a), die das Destruktive, wenn auch in sublimierter Form, in der „Vision eines schützenden Schönen“ (S. 105) insistieren sieht, kritisch auf die Beiträge von Fohrmann (1995) und Saine (1971). Fohrmann (1995) stellt in der Tat den „Akt der Zerstörung“ (S. 184) als notwendigen Schritt des ästhetischen Bildungsvorgangs dar, der im autonomen Werk überwunden werde. Er deutet Moritz’ Kunsttheorie ganz in diesem Sinne als eine „Theologie des Ästhetischen“ (S. 186). Vgl. ähnlich auch v. a. Saine (1971); Friedrich (1994); Zelle (1989). Zumbusch (2012a) nennt überdies Pfotenhauer, der das „Verhältnis von Schmerz und Kunst“ (S. 105) als Beziehung der Komplementarität interpretiere und daher die unauflösliche Konflikthaftigkeit zwischen beiden Polen verkenne. Dieser Einwand ist meines Erachtens unberechtigt, vielmehr liegen beide Analysen recht nah beieinander, denn auch Pfotenhauer (1991b) weist nachdrücklich auf das Insistieren von Gewalt und Schmerz in der Moritz’schen Ästhetik hin, ja spricht von einer „metaphysisch gesteigerte[n] Autonomie-Ästhetik, [die] bis zum Zerbersten gespannt [sei] durch die Implikation des häßlichen Gegenteils“ (S. 81).
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2.5.3 Die Ermächtigung des tatkräftigen Genies Der Zugang zu jenem Schönen annähernd kosmischen Ausmaßes wird nun auf der argumentativ-diskursiven Textebene explizit limitiert, was einschneidende Konsequenzen für die damit verbundenen Konzeptionen von Künstler, Kunstwerk und Betrachter hat. Insbesondere werden die Vorgänge der Kunstproduktion und der Kunstrezeption vor diesem Hintergrund hierarchisch angeordnet: Im Zentrum steht der auf die Figur des genialen Künstlers konzentrierte Entstehungsprozess des Kunstwerkes, wohingegen ein gelingender Rezeptionsvorgang in den Bereich des Unwahrscheinlichen gerückt wird. Die produktionsästhetische Ermächtigung des Künstlers geht durch ihre Marginalisierung des Betrachters mit einer scheinbaren Absage an ein Konzept ästhetischer Wirkung und Einflussnahme einher. Indirekt jedoch kehrt das terminologisch Verdrängte auf der figurativen Bedeutungsebene, im Gleichnis um Mutius Scaevola, zurück. Wenig überraschend ist es, dass Moritz das Vermögen der Tatkraft für den Künstler reserviert. Dieser tritt in der Nachahmungs-Schrift abwechselnd mal als „bildende[r] Künstler“ (BN, 969, 970, 981), mal als „bildende[s] Genie“ (BN, S. 972, 974, 981) sowie als „schaffende[s] Genie“ (BN, S. 973, 974) auf. Wenn Moritz die Figur des Künstlers schon auf der attributiven Beschreibungsebene über eine Semantik des Tätigen charakterisiert, kündigt sich das produktionsästhetische Primat an: Jedes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers ist daher im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen im großen Ganzen der Natur; […]. Wem also von der Natur selbst, der Sinn für ihre Schöpfung in sein ganzes Wesen, und das Maß des Schönen in Aug’ und Seele gedrückt ward, der begnügt sich nicht, sie anzuschauen; er muß ihr nachahmen, ihr nachstreben, in ihrer geheimen Werkstatt sie belauschen, und mit der lodernden Flamm’ im Busen bilden und schaffen, so wie sie: […].371 (BN, S. 969)
Man liest weiter, wie ein solchermaßen tätig nachahmender Künstler ‚bildet und schafft‘, [i]ndem seine glühende Spähungskraft in das Innre der Wesen dringt, bis auf den Quell der Schönheit selbst, die feinsten Fugen löset; und auf der Oberfläche sie schöner wieder fügend, ihre edle Spur in weichen Ton eindrückt, in harten Stein sie bildet; oder auf flachem Grunde, mit trennender Spitze die Gestalt aus ihren Umgebungen sondert […]. (BN, S. 969)
Wenngleich Moritz die Entstehung des Kunstwerks dergestalt der tatkräftigen Kreativität des Künstlers zurechnet, ist dafür ebenso dessen gesteigerte
371 Hervorhebung im Original.
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Empfindungsfähigkeit zentral:372 Der Künstler kommt nicht umhin, ‚die Natur‘ anzuschauen und zu belauschen, wobei sein geniales Auge alles andere als ein passiver Sinn ist. Denn die dem Prozess der bildenden ‚Nacherschaffung‘ (vgl. BN, S. 969) vorgelagerte Naturbeobachtung wird als durchdringender, ja feuriger Blick in Szene gesetzt. Jene „glühende Spähungskraft“ (BN, S. 969) weist einen geradezu aggressiven Zug auf. Das Empfindungsvermögen steht somit unmittelbar und aktiv im Dienste der Kunstproduktion und ist nicht im strikten Gegensatz zur Bildungskraft zu sehen.373 Auch die zum maßgeblichen Werkzeug des Künstlers erklärte Hand (vgl. BN, S. 969, 970, 976, 981) fokussiert den Aspekt der Herstellung. Jedoch macht Moritz klar, dass sich der am Material (vgl. BN, S. 969) arbeitende Künstler sein ‚Handwerk‘ in einer „Werkstatt“ (BN, S. 969) heimlich abgeschaut hat, in der keinesfalls Menschenhände zu Werke gehen. ‚Die Natur‘ höchstpersönlich und damit die für das Traktat in jeder Hinsicht bestimmende Ordnungsinstanz tritt hier als große Lehrmeisterin des Genies in Erscheinung. Was der durch diese Schule Gegangene zustande bringt, wird mit Ausdrücken wie ‚Abdruck des höchsten Schönen im Kleinen‘ (vgl. BN, S. 969, 973) und ‚Nacherschaffung‘ (vgl. BN, S. 969) gewiss nicht zum Meisterstück par excellence erklärt, ist aber, wenn man so sagen darf, nah daran: „[B]is auf den Quell der Schönheit selbst“ (BN, S. 969) vermag der Künstler vorzudringen, ja ein „Sinn“ für die „Schöpfung“ (BN, S. 969) der Natur ist ihm eingepflanzt.374 Durch das produktionsästhetische Primat verengt sich der Kreis derer, die in der Lage sind, Kunst zu produzieren. Moritz’ Gegenüberstellung von „echte[r] Bildungskraft“ (BN, S. 977) und „falsche[m] Bildungstrieb“ (BN, S. 977) ist das in diesem Zusammenhang maßgebliche Differenzkriterium. Das Hauptproblem des „Dilettanten“375 liegt darin, dass er sich nicht gänzlich im Akt der Kunstproduktion verliert. Das Genie hingegen fokussiere das Schöne „bloß an und für sich
372 Zumbusch (2012a) plädiert im Gegensatz dazu für die Lesart, wonach Moritz das Konzept einer ‚reinen‘ Kreativität entwirft und im Zuge dessen die Bildungskraft fein säuberlich von der Empfindungskraft zu trennen sucht (vgl. S. 102–103). 373 Vgl. dazu auch: „In sofern nun diese tätige Kraft alles, was nicht unter das Gebiet der Denkkraft fällt, hervor bringend in sich faßt, heißet sie Bildungskraft: und in sofern sie das, was außer den Grenzen der Denkkraft liegt, der Hervorbringung sich entgegen neigend in sich begreift, heißt sie Empfindungskraft“ (BN, S. 979). 374 Pfotenhauer (1991b) sieht hier den Künstler als „‚second maker‘“ (S. 79) vorgestellt und weist darauf hin, dass Moritz mit einer solchen Vergöttlichung des Künstlers an die NeuplatonismusRezeption im 18. Jahrhundert anschließt. Die Vorstellung vom Künstler als zweitem Schöpfer verweist zudem auf Shaftesbury (vgl. S. 79). 375 Zumbusch (2012a), S. 102.
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selbst, in seiner Hervorbringung“ (BN, S. 977), und werde nicht durch die Antizipation des Kunstgenusses zur Produktion angeregt: Wo sich nun in den schaffenwollenden Bildungstrieb, sogleich die Vorstellung vom Genuß des Schönen mischt, den es, wenn es vollendet ist, gewähren soll; und wo diese Vorstellung der erste und stärkste Antrieb unsrer Tatkraft wird, die sich zu dem, was sie beginnt, nicht in und durch sich selbst gedrungen fühlt; da ist der Bildungstrieb gewiß nicht rein: der Brennpunkt oder Vollendungspunkt des Schönen fällt in die Wirkung über das Werk hinaus; die Strahlen gehen auseinander, das Werk kann sich nicht in sich selber ründen.376 (BN, S. 976–977, vgl. auch 977–978)
,Echter‘, eben genialer Bildungstrieb will zuallererst schaffen, nicht genießen. Das auf Wirkung abgerichtete Werk verliert seine Strahlkraft und, noch viel wichtiger: seine Rundung, d. h. seine Form als ein schönes Ganzes. Ob nun das Genie tatsächlich unter „gänzliche[r] Hinwegdenkung des Genusses und der Wirkung“ (BN, S. 977) antritt, ist ohne Gesinnungsprüfung nicht festzustellen, wird aber bei Moritz zum zentralen Bestimmungsmerkmal ‚wahrer‘ Kunst erklärt. Unter der Bedingung also, dass die Tatkraft, „den allerersten Moment ihres Anstoßes durch sich selber, und nicht durch die Ahndung des Genusses von ihrem Werke, erhält“377 (BN, S. 977–978), darf auch das Moritz’sche Genie genießen, und zwar, wie nicht anders zu erwarten, in vollem und exklusivem Umfang: [S]o bleibt der einzige höchste Genuß desselben [des Schönen] immer dem schaffenden Genie, das es hervorbringt, selber; und das Schöne hat daher seinen höchsten Zweck, in seiner Entstehung, in seinem Werden schon erreicht: unser Nachgenuß desselben ist nur eine Folge seines Daseins – und das bildende Genie ist daher im großen Plane der Natur, zuerst um sein selbst, und dann erst um unsertwillen da; weil es nun einmal außer ihm noch Wesen gibt, die selbst nicht schaffen und bilden, aber doch das Gebildete, wenn es einmal hervorgebracht ist, mit ihrer Einbildungskraft umfassen können.378 (BN, S. 974)
‚Echte‘ Kunst zu schaffen, obliegt ohnehin einzig dem Genie – ‚wahrer‘ Kunstgenuss indessen auch; dieser kann sich nur im flüchtigen Augenblick der Kunstproduktion einstellen. Moritz lässt beide Vorgänge koinzidieren (vgl. auch BN, S. 977). Während Produktion und Rezeption im Falle des Künstlers enggeführt werden, so werden beide Prozesse in einem betont niedrigstufigeren Konzept reiner Rezeption auseinanderdividiert. Denn es gibt, das weiß Moritz, „noch Wesen […], die selbst nicht schaffen und bilden“ (BN, S. 974). Die Rezeption durch den externen, und d. h. vor allem passiven, nicht tatkräftigen, Betrachter wird im
376 Hervorhebungen im Original. 377 Hervorhebung im Original. 378 Hervorhebungen im Original.
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Begriff des „Nachgenuß[es]“379 (BN, S. 974) pejorisiert. Damit ist die eingangs angedeutete Hierarchie zwischen Kunstproduktion und -rezeption auf den Punkt gebracht. Moritz nobilitiert die Produktion, indem er ein zweistufiges Rezeptionsmodell ansetzt, das die Möglichkeit eines umfassenden Kunstgenusses dem Künstler vorbehält. In einer solchen Theorie ist ‚wahre‘ Rezeption ohne Produktion schlechterdings nicht zu denken. Die rigiden Grenzziehungen zwischen Künstler*in und Betrachter*in fügen sich in eine kunsttheoretische Argumentation, die sich ‚mit angeschliffnem Stahle‘ einen ganzen Kosmos einverleibt. Mit der Herabstufung der Rezipient*innen marginalisiert Moritz indessen auch die Möglichkeit einer vom Kunstwerk ausgehenden Wirkung. Wenn das in sich selbst gerundete Meisterstück aus der Hand des Genies in dieser Konzeption nicht nach außen strahlen kann (vgl. BN, S. 977), werden die wirkungsästhetischen Fragen nach den Einflusspotentialen, nach den Agitationsmitteln sowie Herrschaftsgesten der Kunst umgangen. Allerdings eröffnet der Text eine unterhalb des vordergründigen Begriffs- und Argumentationsspiels liegende Bedeutungsebene, die in einer Szene verdichteter Bildlichkeit zum Ausdruck gelangt. Im Bild spricht Moritz sehr wohl von Wirkung, Macht und Gewalt der Kunst; und liefert – so meine Überlegung – gleichzeitig die Skizze zu einer Ästhetik der Macht. Das Politische bricht in dem der römischen Antike entstammenden Heldengleichnis auf radikale Weise in die scheinbar hermetisch aufgestellte Kunsttheorie ein. 2.5.4 Attentat – Heldentat: Mutius Scaevola Moritz lässt im ersten Teil seiner Abhandlung einigermaßen unvermittelt einen kulturgeschichtlich bekannten Attentäter auftreten. Das von dem heroischen Römer Mutius Scaevola handelnde Gleichnis sei hier in Gänze zitiert: Dadurch also, daß z. B. die Tat des Mutius Scaevola erwünschte Folgen hatte, wurde sie nicht im geringsten edler, als sie war; und würde auch, ohne den Erfolg, von ihrem innern Wert nichts verloren haben: sie brauchte nicht nützlich zu sein, um edel zu sein; bedurfte des Erfolges nicht, eben weil sie ihren innern Wert in sich selber hatte: und wodurch anders hatte sie diesen Wert, als durch sich selbst, durch ihr Dasein? [Abs.] Das Edle und Große der Handlung lag ja eben darin, daß der junge Held, auf jeden Erfolg gefaßt, das alleräußerste wagte, und, da es ihm mißlang, ohne Bedenken seine Hand in die lodernde Flamme streckte, ohne noch zu wissen, was sein Feind, in dessen Gewalt er war, über ihn verhängen würde. – So kann nur der handeln, welcher eine große Tat, deren Erfolg so äußerst ungewiß ist, um dieser Tat selbst willen unternimmt, wovon allein schon das große Bewußtsein ihn für jeden mißlungnen Versuch schadlos hält. [Abs.] Wäre Mutius, unter andern Umständen, bloß das Werkzeug eines Andern, dem er aus Pflicht gehorchte, zu einer ähnlichen Tat
379 Hervorhebung im Original.
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gewesen, und hätte sie, mit Beistimmung seines Herzens, vortrefflich, und so wie er sollte, ausgeführt: so hätte er zwar noch nicht edel, aber gut gehandelt: denn obgleich seine Handlung auch schon vielen Wert in sich selber hat, so wird doch immer ihre Güte zugleich mit durch den Erfolg bestimmt. [Abs.] Hätte aber eben dieser Mutius den Angriff auf den Feind seines Vaterlandes, meuchelmörderischer Weise, aus Privatrache und persönlichem Haß getan, und sie wäre ihm nicht mißlungen: so hätte sie seinem Vaterlande, ohne gut und edel zu sein, dennoch genützt, und hätte, ohne den mindesten innern Wert zu haben, dennoch durch den Erfolg, eine Art von äußrem Wert erhalten.380 (BN, S. 963–964)
Mutius Scaevola scheint als „Vergleichsfigur“381 zu fungieren, die zur Begründung des kunsttheoretischen Konzepts herangezogen wird. Allerdings soll im Folgenden argumentiert werden, dass der Vergleich zwischen Mutius Scaevola und einem vermeintlich autarken, gegen alle äußeren Blicke unempfindlichen Künstler-Genie nicht aufgeht.382 Nur auf den ersten Blick bestätigt das Gleichnis den im Verlauf des Traktats mehrfach wiederholten Versuch, das Problem ästhetischer Rezeption, Wirkung und damit auch Macht für irrelevant zu erklären. Auf den zweiten Blick kann Moritz’ Attentäter-Szene als figurativer Anschlag gelesen werden, der die Bedeutung wirkungsästhetischer Kategorien ins Feld führt und dabei das produktionsästhetische Plädoyer malträtiert. Auch wenn sich der Moment, in dem Scaevolas Heldentat wahrgenommen wird, im Gleichnis nicht direkt dargestellt findet, wird im Text eine Perspektive eröffnet, in der sich alle Blicke auf Scaevolas Hand richten. Diese latente narrative Schicht verhandelt die Vorgänge ästhetischer Rezeption und Wirkung und spricht damit vom Eintritt des Kunstwerks in eine öffentliche Sphäre. Gleichzeitig kann das Gleichnis als Heldenepisode gelesen werden, in der über die ästhetischen Voraussetzungen politischer Macht reflektiert wird. Wie der Held, so der Künstler – Diese Formel müsste eine Interpretation zu bekräftigen suchen, die davon ausgeht, dass Moritz im Gleichnis seiner genieund produktionsästhetischen Linie treu bleibt. Die folgenden Ausführungen werden Zweifel daran anmelden, sich aber zunächst auf den Vergleich einlassen. Im Zentrum der geschilderten Heldengeschichte stehen im Grunde zwei „große Tat[en]“ (BN, S. 963), die jedoch im Text nur kryptisch zur Geltung gebracht werden. Moritz’ Darstellung konzentriert sich darauf, dass Mutius Scaevola heldenhaft seine Hand ins Feuer legt und deutet nur an, dass diesem Akt ein weiterer, nicht weniger spektakulärer vorausgeht. Was es damit auf sich hat, ist in den
380 Hervorhebungen im Original. 381 Primavera-Lévy (2013), S. 66. Sie weist, wie gesagt, erstmals auf die Bedeutung dieses Heldengleichnisses für den Begründungszusammenhang der Nachahmungs-Schrift hin. 382 Vgl. anders Primavera-Lévys (2013) Lektüre, die Moritz’ genieästhetischen Entwurf im Gleichnis affirmiert sieht (S. 66–67).
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historiographisch niedergelegten Quellen der Episode nachzulesen. Bei Livius und Dionysius von Halikarnassos findet sich die Geschichte des Mutius Scaevola in den Berichten von der Belagerung Roms durch Porsenna im Jahre 508 v. Chr. Zur Befreiung der Römer aus dieser Lage, zur „große[n], verwegene[n] Tat“383 tritt „C. Mucius, ein junger Adliger“384, an. Er dringt, bereit zum Attentat auf den Etruskerkönig, in das feindliche Lager ein. Das Attentat auf Porsenna hätte nun gewiss das Zeug zum Heldenstoff, wäre da nicht jenes fatale Missgeschick, das Mutius und Theseus zu Brüdern im Geiste macht. Mutius nämlich kennt den Etruskerkönig nicht und erblickt, so die Darstellung bei Dionysius, vor dem Feldherrenzelt einen in royaler Pracht gekleideten Mann, der nach Einschätzung des zum Dolchstoß Entschlossenen nur der König sein kann.385 Livius berichtet: „[W]ie das blinde Schicksal es wollte, stach er anstatt des Königs den Schreiber nieder.“386 Das Attentat trifft also den Falschen und Mutius wird gefangen genommen, was freilich alles andere als eine heroische Pointe darstellt. Beide Geschichtsschreiber jedoch setzen die Heldenerzählung sogleich fort, wenn einhellig betont wird, wie überaus furchtlos Mutius seinem nunmehr drohenden Schicksal entgegentritt:387 „[M]ehr furchterregend als furchtsam“388 hält er in beiden Darstellungen eine flammende Rede, in der er die Tat als heroisches Unternehmen stilisiert, das über jede etwaige Strafe erhaben ist und für das er folglich auch keine Gnade erbittet.389 Ein maßgeblicher Zug dieser Rede besteht im Übrigen darin, dem König zu drohen, dass andere nach ihm kommen werden. Eine ganze Reihe junger römischer Helden stehe bereit, den ihm selbst misslungenen Königsmord auszuführen.390 Bei Dionysius bewegt sich die Schilderung daraufhin von Mutius fort und richtet sich auf die Strategien des Königs und seiner Berater, wie mit dieser Gefahr umzugehen sei.391 Mutius wird hier im Etruskerlager gefangen gehalten und schließlich im Zuge von Friedensverhandlungen nach Rom zurückgeschickt.392
383 Liv., 2, 12. Vgl. auch Dion. Hal., ant., 5, 27. 384 Liv., 2, 12. 385 Vgl. Dion. Hal., ant., 5, 28. Bei Livius ist von zwei Männern die Rede, die ähnlich prachtvoll gekleidet sind (vgl. 2, 12). 386 Liv., 2, 12. 387 „Weder durch Veränderung der Farbe, noch durch Niedergeschlagenheit im Gesichte verrieth Mucius Furcht, noch ging sonst Etwas in ihm vor, wie es Denen gewöhnlich ist, welchen der Tod bevorsteht […].“ (Dion. Hal., ant., 5, 29). 388 Liv., 2, 12. 389 Vgl. Dion. Hal., ant., 5, 29; Liv., 2, 12. 390 Vgl. Dion. Hal., ant., 5, 29; Liv., 2, 12. 391 Vgl. Dion. Hal., ant., 5, 30. 392 Vgl. Dion. Hal., ant., 5, 31.
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Während Dionysius Mutius’ Heldenmission also gewissermaßen im Sande verlaufen lässt, findet sich bei Livius die Darstellung jener zweiten Heldentat, die in Moritz’ Gleichnis so zentral ist. Der Geschichtsschreiber weiß diesbezüglich Folgendes zu berichten: Der König, zornentbrannt und durch die Gefahr erschreckt, befahl drohend, um ihn [Mutius] herum Feuer zu legen, wenn er nicht schleunigst erkläre, was für Anschläge er ihm da in Andeutungen androhe. Da sagte Mucius: ‚Schau her, damit du merkst, wie unwichtig der Körper für die ist, die großen Ruhm vor Augen haben!‘ und legte seine rechte Hand in das Feuer eines Opferbeckens. Als er sie verbrennen ließ, wie wenn er nichts dabei spürte, sprang der König, durch diese erstaunliche Tat wie vom Blitz getroffen, von seinem Sitz, befahl, den jungen Mann vom Altar wegzureißen, und sagte: ‚Du, geh weg! Du hast es gewagt, dir selbst mehr anzutun als mir. Ich würde dir zu deiner Tapferkeit Glück wünschen, wenn diese Tapferkeit meinem Vaterland diente. Jetzt werde ich nicht nach Kriegsrecht mit dir verfahren, ich lasse dich unangetastet und unverletzt von hier weg‘.393
Auf das misslungene Attentat folgt, darin kommen Livius und Moritz überein, die Heldentat, die in der Nachahmungs-Schrift zum Vergleich mit der künstlerischen Tätigkeit herangezogen wird. Nur nebenbei bemerkt, steht hier wie in anderen Moritz’schen Schriften auch ein extremes Gewaltszenario Pate für ein Modell veritabler Künstlerschaft. Philomeles herausgeschnittene Zunge sowie ihr, Verginias und Lucretias geschändete Körper, Mutius’ verstümmelte Hand – stets sind es Akte äußerster Gewalt, aus denen heraus das Schöne begründet wird.394 Worin nun ähneln sich Scaevolas Taten und das geniale Kunstschaffen? Es ist vorab festzuhalten, dass Moritz die Handlungsweise des Attentäters an keiner Stelle als ‚schön‘ bezeichnet. Seine beiden Taten werden mit den Attributen des Edlen und Großen versehen (vgl. BN, S. 963), was auf den eingangs skizzierten Versuch zurückzuführen ist, das Schöne über eine Nähe zu moralphilosophischen Termini zu erhellen (vgl. BN, S. 962–963). Das Edle gilt Moritz als „Mittelbegriff“ (BN, S. 962), als Brücke von der Moral zur Ästhetik und ist für die Definition des Schönen elementar: Es teilt mit dem Schönen eine wesentliche Eigenschaft, die für das Moritz’sche Kunstmodell zentral ist, und zwar die Unabhängigkeit von jedwedem Nutzen, wie im unmittelbaren Anschluss an das Gleichnis in nicht unbedingt konsistenter und distinkter Begriffsarbeit ausgeführt wird (vgl. BN, S. 964). Dass ‚die Schönheit‘ nicht wörtlich fällt, spricht vor diesem Hintergrund nicht gegen die Deutung, dass in Moritz’ Heldenepisode ein Vergleich zwischen dem um Schönheit bemühten Künstler-Genie und dem edlen römischen Attentäter angestrebt wird. Ob dieser Vergleich aufgeht, ist die entscheidende Frage.
393 Liv., 2, 12. 394 Vgl. Krüger-Fürhoff (2000), bes. S. 96, 103–104; Campe (2002), S. 239–242.
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Die maßgebliche Übereinstimmung zwischen dem künstlerischen Schaffensprozess und Mutius Scaevolas Heldentaten ist darin zu sehen, dass beide um ihrer selbst willen geschehen, d. h. ausgeführt werden, ohne dass dabei die Kategorie des Nutzens und allgemeiner der Folge relevant wäre. Dazu passt, dass Moritz auf der abstrakteren Begriffsebene das Schöne und das Edle in Abgrenzung zu genau diesen Bestimmungsmerkmalen definiert. Eine solche autonome Handlungsmaxime wird im Ausdruck des „innern Wert[es]“ (BN, S. 963) exponiert, der in der Episode, geringfügig variiert, als wiederkehrende Beschreibungsvokabel des Scaevola’schen Edelmuts firmiert. Der innere Wert, durch den sich seine großen Taten und, man darf hinzufügen: große Kunst gleichermaßen auszeichnen, wird mit einem „äußre[n] Wert“ (BN, S. 964) kontrastiert, der sich gerade im Gegenteil „durch den Erfolg“395 (BN, S. 964) bemisst. Sowohl das misslungene Attentat als auch die heroische Selbstverstümmelung sind, folgt man Moritz’ Ausführungen, edle Taten, weil sie bedenkenlos, ohne Rücksicht auf ihre etwaigen Konsequenzen und Wirkungen vollzogen werden. Darin liegt die im Text eröffnete Parallele zwischen dem heroischen Attentäter und dem Künstler: Wie „der junge Held“ „um [der] Tat selbst willen“396 (BN, S. 963) handelt, so ist das Schöne für das Genie ebenso „bloß an und für sich selbst“ (BN, S. 977) reizvoll. Das Gleichnis hebt immer wieder auf die Vorstellung einer heroisch-edlen Gesinnung (vgl. die Formulierung „das große Bewußtsein“ (BN, S. 963)) ab, um den eifrig beschworenen Eigenwert der Handlungen zu begründen und um den Kopf des Helden von Erwägungen des Erfolgs und Nutzens rein zu halten. In vergleichbarer Weise ist in Moritz’ Modell jedem veritablen Kunstschaffenden die Frage nach Wirkung und Nutzen genuin fremd, das Genie zeichnet ja in erklärtem Gegensatz zum Dilettanten gerade die Fähigkeit aus, sein Werk unter „gänzliche[r] Hinwegdenkung des Genusses und der Wirkung“ (BN, S. 977) ‚zu runden‘. Im Mittelpunkt steht in beiden Fällen die Tat als solche inklusive der einzig darauf fokussierten Gesinnung des Akteurs,397 nicht ihre Folgen. Letztere, die Handlungskonsequenzen, deuten die Instanz des scheinbar irrelevanten Betrachters an.398 Nun ist jedoch die bare Häufigkeit bemerkenswert, mit der das Gleichnis auf die möglichen „Folgen“ (BN, S. 963) jener vermeintlich so selbstgenügsamen
395 Hervorhebung im Original. 396 Hervorhebung im Original. 397 Primavera-Lévy (2013) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Glorifizierung der Tat“ (S. 66). 398 In diesem Sinne resümiert Primavera-Lévy (2013): „Der ‚Nachgenuß‘ des Schönen seitens eines Publikums ist lediglich sekundäre Konsequenz des originären Daseins des Schönen, so wie das von der Fremdherrschaft befreite Rom nur als zu vernachlässigende Wirkung der originären Tat des Scaevola erscheint“ (S. 66–67).
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Heldentaten zu sprechen kommt. Über den ganze sechsmal wörtlich genannten „Erfolg“ (BN, S. 963, 964) und den zweimal konstatierten Misserfolg (vgl. BN, S. 963, 964) der Handlungen wird ebenso spekuliert, wie an zwei Stellen zum Nutzenkalkül angesetzt wird (vgl. BN, S. 963, 964). Diese Begriffe werden auf der vordergründigen Textebene als Kontrastfolie bemüht. Gleichwohl drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, ob das Gleichnis die damit aufgerufene Instanz des Betrachters, den Gradmesser des Erfolges oder auch den Adressaten der Folgen, gänzlich ausstreicht. Moritz stellt, so meine Lesart, das Künstler-Genie im Gleichnis vor sein Publikum, auch wenn sämtliche wirkungsästhetischen Kategorien im Begriffsspiel des Textes sowie auf der propositionalen Ebene des Gleichnisses disqualifiziert werden. Es wird eine Konstellation eröffnet, die den Betrachter in einem emphatischen Sinn ins Bild setzt. Dass Moritz’ Gleichnis an keiner Stelle explizit ausführt, welche Folgen Mutius Scaevolas Taten für sich und andere haben, kann vor dem Hintergrund der in der Nachahmungs-Schrift konstant als irrelevant ausgewiesenen Betrachterposition nicht erstaunen. Mehr noch wird die Unsinnigkeit konstatiert, die Wirkungen und Konseqenzen des Tuns bei dessen Einschätzung in Rechnung zu stellen (vgl. BN, S. 963): Was nicht zur Schönheit der Tat beiträgt, verdient keine nähere Betrachtung. In dieser Logik ist es nur folgerichtig, dass das Gleichnis die Heldenerzählung an dem Punkt abbricht, an dem Mutius, ohne mit der Wimper zu zucken, seine Hand in das Feuer hält. Über sämtliche, im Livianischen Intertext ausführlich dargelegten Folgen scheint Moritz im Sinne des produktionsästhetischen Primats zu schweigen – mithin nicht ganz. Der wiederholt zum Ausdruck gebrachte Verzicht, über die von den Heldentaten ausgehenden Wirkungen zu sprechen, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass der ausgewählte Erzählstoff einen narrativen Horizont ins Spiel bringt, der auf der Frage nach dem Betrachter insistiert. Zeigt sich Livius in dieser Hinsicht äußerst beredt, so vermag Moritz’ Darstellung ebenfalls nicht zu verhehlen, dass dieser Held seine Taten mitnichten in der Einöde, in aller Stille, fernab jedes äußeren Blickes verrichtet. Und so erfährt man denn auch bei Moritz, dass mindestens ein Blick auf Mutius Scaevola gerichtet ist, wenn dieser zur Tat schreitet. Der Held steht vor niemand Geringerem als seinem ärgsten „Feind, in dessen Gewalt er war“ (BN, S. 963). Er steht als Gefangener vor dem feindlichen König, auf den er zuvor, auch das ist dem Text zu entnehmen, ein misslungenes Attentat verübt hat. Ein weiteres Mal wird König Porsenna erwähnt, in diesem Fall ist von Mutius’ Kontrahenten als „Feind seines Vaterlandes“ (BN, S. 963) die Rede. Das mit der Figur des feindlichen Königs konstellierte, dezidiert politische Blickverhältnis ist entscheidend im Rahmen einer Lektüre, die davon ausgeht, dass Moritz’ Gleichnis eine wirkungsästhetische Ebene sehr wohl diskutiert, und dies nicht in der bloßen
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Absicht, sie zu verabschieden.399 Scaevola ist auch hier keineswegs aus jeder Beobachtungssituation herausgelöst, sondern wird einem besonders mächtigen Blick, nämlich dem des feindlichen Souveräns ausgesetzt. Wenn der im Traktat so offensiv aus dem eigentlichen Kunstgeschehen ausgeklammerte Betrachter dergestalt als ‚feindlicher König‘ im Bild erscheint, ist dies als starkes Indiz dafür zu lesen, dass Moritz um dessen Macht weiß. Diese figurative Ebene wirft in aller Deutlichkeit die Frage auf, ob der Vergleich zwischen Held und Genie tatsächlich aufgeht – der Vergleich zwischen einem politischen Attentäter, der vor den Augen des feindlichen Königs seine Hand verbrennt, und einem Künstler, der immun gegen alle Blicke von außen und auch fernab jedes auf Wirkung versessenen Dilettantismus seiner Tatkraft nachgeht. Gewiss wird hier keine Wertschätzung für Rezipient und Wirkung zum Ausdruck gebracht, wohl aber deren maßgebliche Bedeutung im Rahmen einer Theorie der Kunst verzeichnet. Die Betrachter mögen mit dem Genie eine feindliche Beziehung pflegen, der Künstler kann sich gleichwohl nicht der konstitutiven Gewalt der auf ihn gerichteten Blicke entziehen. Mutius Scaevola taugt daher nicht als ungebrochene Vergleichsfigur für das Genie. Auch in der Nachahmungs-Schrift tritt somit der antike Held als Figur in Erscheinung, die im Rahmen des Gedankengangs keine bloß illustrative und affirmative Funktion erfüllt. Vielmehr stört die antike Heldenszene das Loblied auf eine ‚reine‘ Sphäre des Ästhetischen empfindlich, indem sie eine machtvolle Betrachterposition veranschaulicht. Im Zuge dessen wird eine ganz anders gelagerte Ebene der Kunstreflexion ins Spiel gebracht als diejenige, die Moritz in seiner Begriffsarbeit betont. Das antike Heldengleichnis macht somit mindestens darauf aufmerksam, dass der vermeintlich autonome Künstler in ein für sein Tun maßgebliches Herrschaftsverhältnis verstrickt ist. Dass sich der Held in einer Zwangslage besonderer Schwere befindet, zeigt auch der Begriff der „Gewalt“ (BN, S. 963) deutlich an. Überdies verweist die Rede vom römischen „Vaterland[ ]“ (BN, S. 963) auf den politischen Hintergrund, vor dem Scaevolas Handeln zu sehen ist. Wo Moritz der Antike eine solche Heroismus-Szene entlehnt, verbindet sich die ästhetische Reflexion latent mit einer politischen. Zwar wird die historiographisch überlieferte politische Brisanz der Situation im Dienste des Vergleichs zu marginalisieren versucht. Dass man es jedoch im Falle von Mutius Scaevola mit einem genuin politischen Helden, ja mehr noch mit einem Attentäter zu tun hat, dessen Handeln nur im Rahmen des Krieges zu verstehen ist, bleibt auch bei Moritz nicht verborgen. Wenn sich die Heldentaten aber gerade nicht als wirkungs- und kontextlose Akte darstellen, ergibt sich die Frage, ob Moritz ‚nur‘ eine schlechte
399 Diese Auffassung vertritt Primavera-Lévy (2013), S. 67.
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Vergleichsfigur für sein Künstler-Genie wählt. Hier wird im Gegensatz dazu davon ausgegangen, dass die Wahl gerade dieses Erzählstoffs einen deutlichen Hinweis auf die Verstrickungen des Schönen mit der Macht liefert. Wird der Künstler dergestalt in einem Machtgeflecht situiert, macht ihn dies mithin längst nicht zum vor der Gewalt des Betrachters kapitulierenden Opfer. Dies zeigt allein der Umstand, dass Moritz einen patriotischen Attentäter als Vergleichsfigur für sein Genie wählt: einen Akteur, dessen genuines Geschäft es ist, eine der äußersten und symbolträchtigsten Formen politischer Gewalt anzuwenden. Dass Mutius Scaevola als Referenzfigur herangezogen wird, ist ein entscheidender Beleg dafür, dass hier ein vom Künstler ausgehendes Gewaltpotential thematisiert wird, auch wenn über die Wirkungen und Folgen von Attentat und Heldentat geschwiegen wird. In zweifacher Hinsicht sogar übt dieser Attentäter Gewalt aus: einerseits durch den Mordanschlag auf den feindlichen König und andererseits indem er seine eigene Hand in das Feuer hält. Bezeichnenderweise ist diese Gewalt des Helden gegen sich selbst in dessen Namen eingetragen, erhält er doch „später wegen des Verlustes seiner rechten Hand den Beinamen Scaevola (Linkshänder)“400, wie die Geschichtsschreibung zu berichten weiß. Ein heldenhafter, sich selbst verstümmelnder Linkshänder wird hier zum alter ego des tatkräftigen Genies. Dass Mutius durch das Verbrennen seiner Hand jedoch nicht nur sich selbst Gewalt antut, sondern dass die Tat eine nach außen gerichtete Machtwirkung entfaltet, ist explizit bei Livius nachzulesen. So löst Mutius’ heroische Selbstverstümmelung eine unmittelbare Affektreaktion auf Seiten des Königs aus, der „durch diese erstaunliche Tat wie vom Blitz getroffen, von seinem Sitz“401 springt und befiehlt, Mutius sofort von seinem Tun abzuhalten. Wie eine Naturgewalt trifft den König das Handeln jenes gefangenen Römers, der die Schmach des verpatzten Attentats sogleich heroisch zu überwinden vermag, indem er dem drohenden Tod furchtlos ins Auge zu blicken scheint. Letzteres findet im Akt jener ungerührten Selbstverletzung sogar eine körperliche Beglaubigung. Dass die verbrannte Hand den König nicht nur affektiv berührt, sondern ihn im wahrsten Sinne des Wortes beherrscht, tritt in aller Deutlichkeit zu Tage, wenn Porsenna den Helden nach dieser, man muss sagen: Machtdemonstration straflos ziehen lässt. Mehr noch affirmiert der König in Livius’ Darstellung höchstpersönlich die über seine eigene hinausreichende Macht des Helden, wenn er das Wagnis der Selbstverletzung als höchste Form der Gewalt anerkennt, vor der die herrscherliche Gewalt kapitulieren muss: „‚Du, geh weg! Du hast es gewagt, dir selbst mehr
400 Liv., 2, 13. 401 Liv., 2, 12.
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anzutun als mir. […] Jetzt werde ich nicht nach Kriegsrecht mit dir verfahren, ich lasse dich unangetastet und unverletzt von hier weg‘“.402 Mutius’ Gewaltakt gegen sich selbst vermag das Gewaltmonopol des Königs temporär außer Kraft zu setzen, so lässt sich bei Livius der nur durch einen Irrtum dem Attentat entronnene König vernehmen: Wer sich selbst antastet, macht sich unantastbar, so die hier kolportierte heroische Herrschaftsmaxime. Die Heldentat des Mutius Scaevola erweist sich in Livius’ Darstellung offenkundig als Ermächtigungsgeste, der Griff ins Feuer entpuppt sich als Griff nach der Macht. Dass von diesem Akt eine immense Wirkung ausgeht, demonstriert der Umstand, dass die Tat die Machtbeziehung ‚gefangener Attentäter‘ vs. ‚König‘ temporär umzukehren vermag. Indes hat Scaevolas Handeln auch für die globalere politische Situation Konsequenzen: Livius, der offensichtlich eher als Dionysius geneigt ist, eine Heldengeschichte von jenem Attentäter zu erzählen,403 berichtet davon, dass Porsenna so „erschüttert“404 ist, „daß er von sich aus den Römern Friedensverhandlungen“405 anbietet. Dies kann vor dem Hintergrund, dass der Etruskerkönig Rom belagert, d. h. in seiner Gewalt hat, als immerhin partielle Kapitulation gelten, was wiederum dafür spricht, dass jener Römer mit seiner Heldentat Macht ausübt bzw. den König unter Druck zu setzen vermag. Dem sinnlich lädierten und von nun an auf seine linke Hand angewiesenen Mutius wird die heroische Mission mitunter im Nachhinein entlohnt: Er wird vom römischen Senat für seine Tapferkeit und Mannhaftigkeit mit einem seinen Namen tragenden Stück Land bedacht.406 All das steht, wie gesagt, bei Livius, nicht bei Moritz. Es ist gleichwohl der mit dem Namen Mutius Scaevola notwendig aufgerufene Intertext, der in der Nachahmungs-Schrift allusiv präsent ist. Das bei Moritz in Analogie zum Künstlertum herangezogene politische Heldentum genügt, so ist zu resümieren, mitnichten sich selbst. Der Künstler wird hier mit der Figur eines heroischen Attentäters verglichen, der, so die Livius-Vorlage, zwar am Tyrannenmord scheitert, aber dessen gegen sich selbst gerichteter Gewaltakt eine entscheidende Wende im Kriegsgeschehen hervorruft. Wenngleich Moritz diesen Römer seine Hand verbrennen lassen möchte, ohne die unmittelbar folgende Affektreaktion des Königs 402 Liv., 2, 12. 403 Bei Dionysius, der, wie gesagt, die Episode vom Verbrennen der Hand nicht schildert, versetzt Mutius’ Drohung, dass weitere Attentate auf Porsenna geplant seien, den König gewiss in Besorgnis. Von einer durch Scaevolas Handeln bewirkten Erschütterung oder Einschüchterung ist hier allerdings keine Rede; Dionysius berichtet allenfalls von Porsennas strategischen Erwägungen, den Krieg auch im Sinne seiner eigenen Landsleute möglichst rasch zu beenden (vgl. Dion. Hal., ant., 5, 30–31). 404 Liv., 2, 13. 405 Liv., 2, 13. 406 Vgl. Liv., 2, 13.
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zu schildern und ohne die weiteren politischen Konsequenzen der Tat auszuführen, bringt die von ihm gewählte und „zurechtfrisiert[e]“407 antike Heldenszene dennoch zur Geltung, dass die Sphäre der Kunst nicht als machtfreier Raum zu denken ist. Die zentralen Kontrahenten in diesem Machtspiel der Kunst sind Betrachter und Künstler, beide, so die hier verfolgte Lesart, üben Gewalt aus und unterliegen der Gewalt des Gegenübers. Wird der Künstler von seinem Publikum ‚belagert‘, so setzt sich dieser durch ein Attentat zur Wehr, welches jedoch misslingt. Sodann befindet sich der Künstler, folgt man der Logik des Bildes, in der Gewalt des Betrachters, er steht vermeintlich unbewaffnet vor dem ‚feindlichen König‘. Der Künstler verfügt aber über unvermutete Waffen, wenn er das Publikum durch jenen fulminanten Akt der Selbstverletzung seinerseits in die Knie zwingt. In diesem Sinne thematisiert die bei Moritz aktualisierte antike Heldenszene eine wechselseitige Beziehung der Gewalt zwischen Künstler und Betrachter. Während das im ersten Teil des Kapitels nachvollzogene, großflächige ästhetische Gründungsnarrativ von dem genuin gewaltsamen Begründungsaufwand zeugt, der für die Einsetzung des nicht eben bescheidenen Moritz’schen Kunstmodells von Nöten ist, schildert das Gleichnis um Mutius Scaevola die das ästhetische Spiel bestimmenden Machtdynamiken und Herrschaftsverhältnisse, womit natürlich auch das Ganzheitsmodell empfindlich gestört wird. Die in Moritz’ Abhandlung eingespeiste Szene um den römischen Attentäter traktiert aber nicht nur die ‚reine‘ Kunst mit dem Faktor ‚Macht‘, sondern wirft auch umgekehrt die Frage auf, inwiefern die Macht nicht ohne ihre ästhetischen Voraussetzungen zu denken ist. Die Geschichte führt vor Augen, dass politische Macht, um vorläufig im Bild zu bleiben, nicht ohne Berührung auskommt: Die Pointe der geschilderten heroischen Agitation besteht darin, dass der gegen sich selbst ausgeübte Gewaltakt gesehen wird, ja sich bei Moritz explizit vor den Augen des feindlichen Königs ereignet. Grundlage der Machtentfaltung ist somit eine spezifische Anordnung der Blicke oder abstrakter: des Wahrnehmungsfeldes. Politische Herrschaft ist, das impliziert das hier angestrengte Beispiel, eine im Kern ästhetische Angelegenheit, ist vor jeder blutigen Machtdemonstration und vor jedem noch so strategischen Schachzug eine Sache der Sinne. Ohne die Figur des feindlichen Königs, ohne den auf ihn gerichteten Blick wäre Scaevolas Tat ein bloß wahnsinniger, politisch vollends bedeutungsloser Akt der Selbstverstümmelung. Wer herrschen will, muss auch berühren und vice versa: Wer berührt, herrscht – so ließe sich die in diesem antiken Heldengleichnis implizierte politisch-ästhetische Logik sentenzartig zusammenfassen. Das ästhetische
407 Primavera-Lévy (2013), S. 69.
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A priori408 der Macht und das politische A priori der Kunst verbinden und verdichten sich im schmerzlichen Sinnbild der verbrannten Hand des Helden. Der Rekurs auf eine heroische Antike erzeugt somit auch in Moritz’ Schrift einen figurativen Verhandlungsraum bzw. eine narrative Ebene, die von den konstitutiven Interferenzen zwischen Ästhetik und Politik Zeugnis ablegt.
3 Politische (Un-)Sinne 3.1 Der Prinz, der seinem Herzen folgt, oder: Das Feuer des Helden Was ist eigentlich für Kleists Friedrich Wilhelm von Brandenburg so gefährlich am Befehlsbruch seines Reitereigenerals Prinz Friedrich Arthur von Homburg? Auf den ersten Blick nichts – könnte man meinen, hat doch Homburgs eigenmächtiges Eingreifen in das Kriegsgeschehen am fulminanten Sieg des Kurfürsten bei Fehrbellin einen guten Anteil (vgl. PH, V. 525–563). Auf den zweiten Blick, d. h. im strengen Blick des preußischen Regenten indessen mag der Schlachterfolg noch so „glänzend“ (PH, V. 729) sein, er ist als Werk des „Zufall[s]“ (PH, V. 732, 1566) zu diskreditieren. Es ist eben nur ein Teilsieg, der insofern vom ursprünglichen kurfürstlichen Kriegsplan abweicht, als er die vollständige Bezwingung des schwedischen Feindes verzögert (vgl. PH, V. 248–265, 294–311, 715–719).409 Dies kann als Sachgrund dafür gelten, dass Friedrich Wilhelm den Befehlsbrüchigen des Todes wissen will (vgl. PH, V. 715–721, 735–737). Darüber hinaus aber exerziert der Kurfürst an Homburg bekanntermaßen einen Gesetzesrigorismus, der von den konkreten Umständen der Tat unabhängig ist. Denn der Machthaber begreift das Gesetz als Urgrund seines politischen Herrschaftsprinzips, ja als „Mutter [s]einer Krone“ (PH, V. 1568). Genau hierin, in der Infragestellung der herrscherlichen Souveränität liegt denn auch die Gefahr, die Homburgs Befehlsbruch birgt, ließe ihn der Kurfürst ungestraft. Der gegenüber dem Obristen Kottwitz entrüstet vorgetragene Hinweis, es sei prekär, „[w]enn auf dem Schlachtenwagen, eigenmächtig,/ [ihm, dem Kurfürsten] in die Zügel jeder greifen“ (PH, V. 1562–1563) dürfe, warnt dementsprechend vor einer umfassenderen, innerstaatlichen ‚Zügellosigkeit‘. Ob die Gefahr für den Kürfürsten durch eine Exekution Homburgs gebannt ist, stellt Kleists letztes vollendetes Drama auf mehreren Ebenen in Frage. Ich möchte an dieser Stelle nur auf den für meine Arbeit zentralen Punkt
408 Vgl. Balke (2009c), S. 11. 409 Vgl. dazu Kittler (1987), S. 265–266.
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hinweisen, der deutlich macht, dass am Beispiel der Figur des Prinzen ein heroisch-charismatischer Autoritätsmodus durchgespielt wird, den Kleist mit der herrscherlichen Souveränität aneinander geraten lässt. Während Friedrich Wilhelm den Gehorsam seiner Untergebenen durch unhintergehbare Gesetzesmacht erzwingen will, folgt die militärische Führungsriege seinem Vetter Friedrich Arthur offenbar freiwillig und aus ganz anders gelagerten Gründen. So wird dem Kurfürsten zu Beginn des fünften Aktes nicht nur von einer unverhohlenen Sympathie für den inhaftierten, todgeweihten Prinzen berichtet, der die Offiziere in einer an den Regenten gerichteten Bittschrift Ausdruck verleihen. Mehr noch existiere der Plan, Homburg aus der Haft zu befreien, falls der Kurfürst auf dem Todesurteil beharren sollte. Dieser jedoch ist gänzlich ungewillt, sich unter Druck setzen zu lassen – bis er von seinem Feldmarschall einen Rat erhält, einen eindringlichen Rat, der auf die besondere Macht Homburgs aufmerksam macht: Herr, ich beschwöre dich, wenn’s überall Dein Wille ist, den Prinzen zu begnadigen: Tu’s, eh ein höchstverhaßter Schritt geschehn! Jedwedes Heer liebt, weißt du, seinen Helden; Laß diesen Funken nicht, der es durchglüht, Ein heillos fressend Feuer um sich greifen. (PH, V. 1457–1462)
Der Feldmarschall fasst die Autorität des Prinzen an dieser Stelle explizit in den Begriff des Heldentums. Ausgesagt wird zudem etwas über die Entstehungsweise des heroischen Status: Dieser erwächst, wie die Rede vom Heer und ‚seinem‘ Helden demonstriert, aus der Anerkennung des Einzelnen durch eine Gemeinschaft. Anerkennung aber erscheint hier als ein zu schwacher Begriff, geht es doch dem Feldmarschall zufolge im Verhältnis von Held und Heer um ein intensives, affektives Band, ja um ‚glühende‘ Liebe. Dies radikalisiert die bemühte Metaphorik, die den Helden als potentiellen Brandstifter ins Bild setzt. Zwar sei die Zugewandtheit der Offiziere zu Homburg noch ein bloßer Funke, der aber bereits alle durchglühe, d. h. in der Sympathie gefühlsmäßig vereinige. Doch jene Glut könne sich leicht zum verheerenden Feuer, gewissermaßen zum Großbrand steigern. Zum Ausdruck gebracht wird eine vom Helden ausgehende Ansteckungsgefahr, die für den Souverän einerseits bedrohlich ist, weil sich seine führenden Militärs einem Anderen verschreiben, und das eben nicht aus Gesetzestreue, sondern mit ihren Herzen. Andererseits besteht die konkrete Gefahr einer durch die causa ,Homburg‘ ausgelösten „Rebellion“ (PH, V. 1428), wie das Bild vom ‚heillos fressenden‘ und ‚um sich greifenden Feuer‘ deutlich macht. Der Tat könnten weitere folgen, wenn die Offiziere dem Helden folgen. Der Befehlsbruch und seine Konsequenzen werden somit als radikale Herausforderung für den Herrscher ausgewiesen. Dieser Machtkampf bildet den Kern des Kleist’schen Dramas.
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Während Kleist dem Feldmarschall Dörfling in seinem knappen Redebeitrag eine konzise Analyse des affektiven Wirkmechanismus politischen Heldentums in den Mund legt, demonstriert eine frühere Textstelle, dass eine feurige Leidenschaft, mit der die Anhängerschaft dem Helden zugetan ist, auch den Empfindungs- und den Handlungsmodus des Helden selbst bestimmt.410 Es handelt sich um die Szene, in der Homburg den Befehlsbruch begeht, nachdem er und weitere Militärs den erfolgreichen Angriff der Infanterie auf die Schweden aus der Ferne beobachtet haben (vgl. PH, V. 429–467). Es ist bezeichnend, dass der Prinz direkt nach dem kollektiven Siegesjubel zur Tat schreiten will und die Umstehenden ohne große Überlegungen ‚mitreißen‘ möchte. Der Redewechsel zwischen ihm und dem Obristen Kottwitz stellt genau diesen unbedachten Handlungseifer heraus: DER PRINZ VON HOMBURG steigt vom Hügel herab: Auf, Kottwitz, folg’ mir! OBRIST KOTTWITZ Ruhig, ruhig, Kinder! DER PRINZ VON HOMBURG Auf, Laß Fanfare blasen! Folge mir! OBRIST KOTTWITZ Ich sage, ruhig. DER PRINZ VON HOMBURG wild: Himmel, Erd’ und Hölle! (PH, V. 468–470)
Während Kottwitz zur ruhigen Besinnung mahnt, ist Homburg laut Didaskalie ‚wild‘ entschlossen, den Sieg durch eigenmächtiges Eingreifen zu vollenden. Sein unmittelbares Agitationsbegehren hat den Charakter einer beginnenden affektiven Eruption. Als Kottwitz ihn auf den kurfürstlichen Befehl hinweist, gemäß dessen die Reiterei auf eine ausdrückliche Order zur Intervention warten solle, reagiert der Prinz geradezu überheblich: „Auf Ordr’ [warten]? Ei, Kottwitz! Reitest du so langsam?/ Hast du sie noch vom Herzen nicht empfangen?“ (PH, V. 474–475) Nicht die schriftliche Anordnung ist es, die den Helden zur Tat schreiten lässt, sondern ein Sinn für die Situation. Das aufgewühlte Herz ist diejenige Instanz, die Homburgs Verhalten im Schlachtgeschehen bestimmt. Durch den Vorwurf, Kottwitz reagiere zu langsam, gibt sich der Prinz konträr dazu als instinktiv-schnell Agierender zu erkennen. Dieses Selbstbild Homburgs konfrontiert Kleist am Schluss der Szene mit stark divergierenden Fremdeinschätzungen. Denn neben Kottwitz halten weitere Offiziere den Tatendrang ihres Generals für übereilt und vor allem: für überhaupt nicht heldenhaft. So bezichtigt der erste Offizier Homburg der Unzurechnungsfähigkeit, wenn er dazu auffordert, diesem den Degen abzunehmen (vgl. PH, V. 485). Der Prinz erntet also im Vorfeld der Tat, für seinen noch unausgeführ410 Vgl. dazu Kittler (1987), S. 282–283.
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ten Plan sicher keinen Heldenruhm. Seine Heroisierung vollzieht sich erst in der Retrospektive und nur in Kombination mit der strengen Bestrafung durch den Kurfürsten. Homburg scheint jedenfalls an diesem Punkt zu registrieren, dass er weder als Held gilt noch von heroischen Mitstreitern umgeben ist. Auch wenn Kottwitz sich von Homburgs Eifer rasch anstecken lässt (vgl. PH, V. 478–482), hat offenbar niemand außer ihm selbst eine ‚Order vom Herzen‘ empfangen. Ganz in diesem Sinne ändert der Prinz seine Diktion: Da der zu Beginn der Szene geäußerte, schlicht gehaltene Folge-Appell die Soldaten offenbar nicht erreicht, wechselt er vom Register des Helden in das des militärischen Befehlshabers. Er lässt den gegen ihn aufbegehrenden Offizier gefangen setzen und wendet sich mit einer Warnung an die Übrigen: „Und jetzt ist die Parol’, ihr Herrn: ein Schurke,/ Wer seinem General zur Schlacht nicht folgt!“ (PH, V. 492–493) Auch wenn Kleist hier die militärische Befehlsstrenge über die gefühlsgeleitete heroische Autorität reüssieren lässt,411 schildert das Stück in der Folge eine groß angelegte Heroisierung des Prinzen412 und zeugt dabei vom Feuer des Helden: Von einer leidenschaftlichen Hingabe seiner Anhänger und einer gesteigerten affektiven Konstitution des Helden gleichermaßen. Das folgende Kapitel zielt darauf, diesem Befund einer besonderen Affektivität des Helden und des von ihm ausagierten Führungsprinzips in verschiedenen zeitgenössischen Diskursen nachzugehen. Diese zwei Aspekte bringt die gewählte Titelformel Politische (Un-)Sinne zum Ausdruck: Helden zeichnen sich erstens durch eine spezifische emotionale Disposition aus und adressieren zweitens vornehmlich die Gefühle der politischen Gemeinschaft – wobei sich beide Parteien im Verlaufe einer solchen Dynamik immer wieder am Rande des Unsinns bewegen.
3.2 Zur Analyse charismatischer Autorität im Held*innendrama Die am Beispiel von Kleists Prinz Friedrich von Homburg beschriebene Funktionsweise einer heroischen Autorität weist einen bedeutsamen Überschneidungspunkt zum Konzept des Charismas auf. Denn auch dieses kapriziert sich darauf, die Bedeutung des Sinnlich-Emotionalen für politische Konstitutionsprozesse und Machtdynamiken zu beschreiben: „More than any other political form, charismatic leadership privileges affective and imaginary impulses. Charisma is 411 Kittlers (1987) Homburg-Lektüre weist – im aufschlussreichen Rekurs auf die zeitgenössische Militärtheorie – darauf hin, dass die paradoxe Gleichzeitigkeit von „Subordination und Spontaneität“ (S. 283) des Gefühls den Grundkonflikt des Prinzen bestimme. 412 Vgl. dazu das Kapitel III.5.
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more about the feelings, projections, expectations, and beliefs of a society […] than about its actual interests.“413 In ihrer Bestimmung des charismatischen Führungsprinzips über die Merkmale der Irrationalität und Affektivität rekurriert Horn erwartbarerweise auf das Konzept Max Webers, der im frühen 20. Jahrhundert (1919/1920) erstmals eine Theoretisierung unternimmt. Webers Definition impliziert, dass charismatische Herrschaft auf etwas setzt, das mit verstandesmäßiger Zustimmung der jeweiligen Anhängerschaft wenig zu tun hat. Der Charismatiker wird als politischer Akteur konturiert, der von einer Gemeinschaft „als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen […] Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesendet oder als vorbildlich“414 begabte Ausnahmeerscheinung angesehen wird. Demzufolge wird ein Einzelner aufgrund von Kompetenzen, die das ordinäre Maß bisweilen sogar in transzendental-rätselhafter Weise übersteigen, kollektiv als Autorität anerkannt. Es handelt sich also um einen Vorgang, der auf die Dynamiken kollektiver Emotionalität sowie auf die Produktivität eines gemeinschaftlichen Imaginären zurückzuführen ist.415 Derartige kollektive Vorstellungshorizonte konstituieren sich, so Horn weiter, wesentlich ästhetisch: Charisma entstehe aus bestimmten Techniken der Selbststilisierung sowie der politischen Inszenierung.416 ‚Charisma‘ und ‚Heldentum‘ sind, das liegt nach dem Gesagten auf der Hand, als mindestens strukturell eng verwandte Autoritätsformen aufzufassen. Wie schon angekündigt, besteht ein wesentlicher Vorsatz dieser Studie darin, eine von Goethe und Schiller zu Kleist verlaufende Dramentradition aufzuzeigen, die Phänomene charismatischer bzw. heroischer Autorität in ihren Möglichkeitsbedingungen erörtert. Anstatt aber das Konzept Weber’scher Prägung als analytisches Modell auf die Texte zurückzuprojizieren, werden – flankiert durch die in diesem Kapitel konsultierten, zeitgenössischen Diskurse über den ‚großen Mann‘ – die literarischen Charisma-Modellierungen ins Zentrum gerückt; auch um dergestalt den Theoriegehalt der politischen Dramatik um 1800 hervorzuheben.
413 Horn (2011a), S. 2. 414 Weber, WG, S. 490. 415 Vgl. Horn (2011a) in ihrer Auseinandersetzung mit Weber: „Charisma is an imaginary quality, or rather, a quality that lies in the ability to capture the imagination of a community and focus its hopes, affects, and dreams on the charismatic figure.“ (S. 11). 416 „Like a theatrical role, charisma has to be ‚performed‘: it has to be displayed before an audience as a specific and remarkable way to speak, gesture, and communicate. Thus it intrinsically has an aesthetic side: charisma is born with the representation of an individual as extraordinary and ‚gifted‘ – representation both as self-representation or ‚performance‘ and as perception in the eyes of the supporters.“ (Horn (2011a), S. 11).
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Die Fokussierung auf diesen Zeitraum ergibt einen guten Sinn: Auch wenn, wie Horn anmerkt, kein Zweifel an antiken Beispielen charismatischer Figuralität bestehen kann, erlangt das Konzept im Zuge der Erosion des absolutistischen Herrschaftsmodells in Europa eine strukturelle politische Relevanz: „[C]harismatic leadership as a political form begins with the downfall of the kings.“417 Der König verliert im Zuge der Französischen Revolution seinen Kopf, vor allem aber, so haben Autoren wie Kantorowicz, Lefort und Marin gezeigt, sein symbolisches Potential, so dass die Neubesetzung insbesondere des Repräsentationszentrums staatlicher Souveränität zur Disposition steht. Dieser Prozess vollzieht sich als grundlegende Veränderung auf der Ebene der repräsentationalen Figuralität, ist doch der neue Souverän nicht mehr einer, sondern viele: „With popular sovereignty, the representation of power by one person becomes obsolete or at least highly problematic. The idea of the ‚people‘ as sovereign contradicts the consecration of one person as the embodiment of political and social unity.“418 Der vom Thron vertriebene König hinterlässt eine symbolische Leere, die nicht einfach dadurch aufzufüllen ist, dass alle auf eben diesem Platz nehmen. Die Modelle von Volkssouveränität bedingen eine tiefgreifende Transformation der politischen Repräsentationsverfahren. Neben dem Volk bzw. der Masse, deren Darstellungsrepertoire die Forschung beschrieben hat,419 ist es im europäischen Kontext der ‚große Mann‘, der antritt, um den leeren Platz der Macht zu besetzen, ohne dabei ein dem monarchischen Herrschaftsmodell ähnliches Präsenz-Register und ohne das Begründungsmuster dynastischer, patrilinearer Kontinuität oder auch religiöser Bevollmächtigung abzurufen.420 Gleichwohl haben gerade in jüngerer Zeit verschiedene Publikationen herausgestellt, dass der ‚große Einzelne‘ aus den Imaginationsräumen der politischen Moderne nicht wegzudenken ist.421 Vor diesem Hintergrund lese ich die Held*innenenfiguren Goethes, Schillers und Kleists als literarische Versuche über das Phänomen personaler Macht im
417 Horn (2011a), S. 2. Ähnlich argumentieren Gamper und Kleeberg (2015), dass das Phänomen des „großen Individuums“ [Hervorhebung im Original] im Zuge der revolutionären Krise „um 1800 besondere Konjunktur erfährt“ (S. 7). Vgl. auch Gamper (2016), S. 12–13. 418 Horn (2011a), S. 2–3. 419 Vgl. Meyzaud (2012); Lüdemann/Hebekus (2010); Vogl (2009), S. 220–225; Gamper (2007). 420 Auch Gamper und Kleeberg (2015) betonen die begründungslogischen Differenzen zwischen monarchischer Souveränität und dem Autoritätsprinzip des ‚großen Mannes‘ (vgl. S. 8). 421 Horn (2011a) konstatiert dementsprechend eine Obsession des 19. Jahrhunderts mit diesem Phänomen, die mit den Namen Hegel, Carlyle, Burckhardt und Nietzsche verbunden ist (vgl. S. 3). Auch Gamper (2016) spricht von einer „Diskursfigur, die im langen 19. Jahrhundert machtpolitische und epistemologische Virulenz entfaltete und für die Geschichte des sozialen Imaginären dieser Epoche von schwer zu überschätzender Bedeutung gewesen ist“ (S. 11). Vgl. ebenso Gamper/Kleeberg (2015), S. 7–8, 10; Gamper (2011); Reiling/Rohde (2011).
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Bereich der Politik. Die Argumentation des nachstehenden Kapitels gründet auf der Überlegung, dass derartige ‚Vorgeschichten‘ inspiriert sind von zwei zeitgenössischen, durchaus konträren Subjektmodellen. Erstens handelt es sich dabei um das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandene psychologische Konzept Johann Georg Sulzers, das als philosophisches Substrat der späteren Erfahrungsseelenkunde gelten kann. Hier wird ein auch in politischer Hinsicht seiner Sinnlichkeit und Emotionalität unterworfenes Ich vorgestellt. Das zweite Referenzmodell bilden einschlägige politische Typologien einer gesteigerten Verfügung des außergewöhnlichen Individuums über sich selbst: Thomas Abbt und Christian Cay Lorenz Hirschfeld stellen dabei die Kategorien des ‚Verdienstes‘, der ‚Größe‘ und der ‚heroischen Tugenden‘ ins Zentrum. Beide Modelle fungieren als diskursive Rahmungen für die Gestaltung der heroischen Figuration bei Goethe, Schiller und Kleist. Sulzers psychologische Traktate kreisen im Kern um eine das Subjekt domierende Sinnlichkeit. Problematisiert werden dabei die ‚dunklen‘ Seelenregionen, die in direktem Kontrast zu den kognitiven Kapazitäten des Ichs stehen. Das bei Sulzer verdichtete Denkparadigma einer ebenso mächtigen wie der wissenschaftlichen Erklärung rätselhaft-unzugänglichen Sinnlichkeit422 stellt eine maßgebliche philosophische Grundlegung zu dem ab der Mitte des 18. Jahrhunderts kontiuierlich expandierenden Diskursfeld der empirischen Psychologie dar.423 Als Kulminationspunkt dieser grundsätzlichen Neuordnung des psychologischen Diskurses kann das wesentlich mit dem Namen Karl Philipp Moritz’ verbundene Projekt der Erfahrungsseelenkunde gelten.424 In Zusammenarbeit 422 Sulzers Projekt einer psychologischen Erörterung der empfindenden Seelenregionen kann als beispielhaft für den Prozess einer „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (S. 19) gelten, der laut Kondylis’ (2002) [zuerst 1981] einschlägigem Befund „im Zeitalter der Aufklärung alle Ebenen der philosophischen Untersuchung gleichzeitig in fieberhafte Bewegung“ (S. 19–20) versetzt. Kondylis wendet sich damit v. a. gegen die These eines „extremen aufklärerischen Rationalismus“ (S. 21). Ähnlich auch Gaukroger (2010), allerdings erstaunlicherweise ohne Bezugnahme auf Kondylis. 423 „Niemand hat vor Sulzer sich so nachdrücklich auf die Natur der unbewußten und dunklen Phänomene der Seele, über die Lust am Unangenehmen und Widersinnigen, ja allem den traditionellen Begriffen des ‚moralischen Menschen‘ Widersprechenden eingelassen.“ (Proß (1994), S. 135) Vgl. weiter Riedel (1994), S. 411; Riedel (1992), S. 25–32. 424 Vgl. neben Moritz folgende Autoren, verstanden als repräsentative Auswahl: Jakob, Grundriß der Erfahrungs-Seelenkunde (1791), Schaumann, Psyche oder Unterhaltungen über die Seele (1791), Csaky (Hg.), Menschenkunde. Sammlung der besten und vorzüglichsten Wahrnehmungen und Erfahrungen über den Menschen (1791/1793), Hennings, Lehrreiche und unterhaltende Sachen über Träume und Nachtwandler: zur Bereicherung der Erfahrungsseelenkunde (1802). Vgl. mit einer Konzentration auf das Phänomen des Traums Alt (2002d), S. 173–189, weiter auch zu den „aufgeklärten Ärzten und Psychologen“ (S. 160) Unzer, Sulzer und Abel (S. 160–172).
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mit Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon gibt Moritz von 1783 bis 1793 in zehn Bänden das erste deutschsprachige psychologische Journal heraus. In der Gattungsform der Fallgeschichte bildet das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde „ein umfassendes Archiv auffälliger Lebensgeschichten und Krankheitsverläufe, das die Wege und Abwege des menschlichen Seelenlebens illustriert.“425 Das umfangreiche, von verschiedenen Autoren belieferte Kompendium versammelt empirische Fälle, die von minimalen psychischen Absonderlichkeiten bis hin zu als abnorm eingestuften Seelendefekten reichen: Von Blödsinnigen, Träumern, Nachtwandlern, von Selbsttäuschung, Geistesabwesenheit, Wahnwitz, Hypochondrie, ja von den Krankheiten der und Heilmitteln für die Seele berichtet das Magazin.426 Der Rekurs auf die philosophischen Grundlagen der Erfahrungsseelenkunde und weiter auch auf ihre politischen Implikationen, die ich bei Sulzer aufzeigen möchte, ist für den Lektüreteil in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Erstens sind die dramatischen Heldenfiguren, was ihre psychologische Disposition betrifft, geradezu als Paradebeispiele erfahrungsseelenkundlicher Fälle lesbar. Dies hat die Forschung allenfalls für Kleists Held*innen vermerkt,427 ohne aber einen Zusammenhang mit den politischen Konfigurationen der Dramentexte herzustellen. Mir geht es darum, die unverkennbare politische Bedeutung jener heroischen Träumereien, Schwärmereien, Somnambulien oder auch Ohnmachten herausarbeiten, und zwar sowohl im Hinblick auf die von den Held*innen exerzierte, besondere Form politischer Subjektivität als auch hinsichtlich der Wirkungen der Held*innen auf die politische Gemeinschaft, womit die Ebene der Heroisierungsprozesse und der Charisma-Zuschreibungen angesprochen ist. Im Zentrum steht demzufolge die Frage, von welchem Zuschnitt eine dramatische Analytik des Politischen ist, die träumerisch-entrückte oder gleich gänzlich psychisch derangierte Subjekte als politische Hoffnungsträger*innen präsentiert und gleichzeitig die von ihnen initiierten, politischen Träume oder sogar die Wahnvorstellungen der Gemeinschaft vor Augen führt. Die heroische Autorität funktioniert über ein Zuspruchs- und Folgeprinzip, das nicht weniger irrational erscheint als derjenige
425 Pethes (2011c), S. 13. Vgl. Dickson u. a. (2011); Fossaluzza (2006), S. 23–59; Gailus (2000); Bezold (1984). 426 Vgl. Moritz (1783, Bd. 1, St. 1–3), S. 273–276; Moritz (1789, Bd. 7, St. 1–3), S. 279–281. 427 Vgl. Košenina (2005). Hier werden einige von Kleists theoretischen Abhandlungen und Dramen in den Kontext der empirischen Psychologie (und deren systemphilosophischen Grundlagen bei Leibniz, Wolff und Baumgarten) gestellt (vgl. S. 238–241). Košenina argumentiert u. a., dass die Figurenzeichnung im Kleist’schen Dramenœuvre von Sulzers Theorie der dunklen Vorstellungen und der Erfahrungsseelenkunde inspiriert sei (vgl. S. 236, 241–255). Vgl. auch Janz (2005). Vgl. zu den Räubern Riedel (1993); Schäfer (1998), bes. S. 171–175.
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besondere Einzelne, dem gefolgt wird. Die Dramen wenden, kurz gesagt, durch ihre Darstellung psychologisch auffälliger heroischer Protagonist*innen Theoreme der empirischen Psychologie ins Politische. Die erfahrungsseelenkundlich inspirierte Gestaltung der Dramenhelden*innen lässt sich zweitens als kritisch motivierter Reflex auf die zeitgenössischen Diskurse politischer Individualität und agency verstehen. Letztere entstehen im Rahmen des philosophischen Schrifttums. Thomas Abbts Traktat Vom Verdienste (1764) sowie zwei Abhandlungen des Kieler Philosophen Christian Cay Lorenz Hirschfeld, der Versuch über den grossen Mann (1768) und die Betrachtung über die heroischen Tugenden (1770), sind einer genaueren Betrachtung wert, da es sich hierbei um Typologien gesteigerter, subjektiver Leistungsfähigkeit im Bereich der Politik handelt. Die parallel zu den genannten Abhandlungen und auch im späteren Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kursierenden ästhetischen Theorien, etwa zur Genialität, zur Erhabenheit, zu Anmut und Würde, die ebenfalls Formen individueller Exzeptionalität in den Blick nehmen, stehen hier nicht im Zentrum, weil sie selten den politischen Bereich fokussieren.428 Dort geht es schwerpunktmäßig um künstlerische sowie intellektuelle Ausnahmeerscheinungen. Allerdings lassen sich bisweilen Überschneidungspunkte feststellen, wenn etwa Hirschfeld seinen Begriff des Heroischen mit dem des Erhabenen parallel
428 Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Konzepte in den literarischen Texten keine Rolle spielen würden. Allein ist ihre Bedeutung für die dramatische Figurenzeichnung und Handlungsführung bei den ausgewählten Autoren, vor allem bei Schiller und Kleist, nachgerade umfassend beschrieben worden. Eine bibliographische Liste würde an dieser Stelle zu weit führen. Auf die entsprechenden Forschungsbeiträge wird in den jeweiligen Textanalysen verwiesen. Konzentriert man sich auf den politischen Heroismus, sind Konzepte wie ‚das Erhabene‘, wie ‚Anmut‘ und ‚Würde‘ für einige Dramentexte sicherlich relevant und finden in den jeweiligen Lektüren Beachtung. Es reicht aber nicht aus, den politischen Helden ‚nur‘ im Schatten dieser Diskurse zu betrachten. Ich möchte mich daher auf diejenigen Modelle individueller Größe beziehen, die explizit politisch konzipiert sind. Die ästhetischen Theorien thematisieren dagegen nur am Rande politische Exempel des besonderen Einzelnen. Andeuten lässt sich dies für den deutschen Genie-Diskurs. So stellt etwa Müller-Seidel (in Abel (1967)) in seinen Anmerkungen zu Jakob Friedrich Abels Rede über das Genie (1776), die zwar mit einigen Beispielen aus dem Bereich der Politik aufwartet (vgl. S. 13, 16, 18, 36–37, 40), heraus, dass die groß angelegte „Erörterung politischer Fragen im Zusammenhang des Genieproblems […] in der deutschen Ästhetik verhältnismäßig selten“ (S. 53) sei. Allein Abbts Verdienst-Traktat bilde ein solches Beispiel. Auch Ortland (2001) begreift ‚Genie‘ als einen der zentralen „Grundbegriffe, unter denen in der Neuzeit ästhetische Subjektivität entfaltet wurde“ (S. 661). Vgl. ferner zur vornehmlich ästhetischen Anlage des Genie-Diskurses Peters (1996), Sp. 738–739, 744–750; Ritter (1974), Sp. 285–286. Anders macht Peters (1982) eine politische Ausprägung des Genie-Diskurses geltend (vgl. S. 91– 120). Schmidt (1985) thematisiert ebenfalls einen „politische[n] Reflex des Genie-Denkens“ am Beispiel von Schillers Wallenstein und Demetrius sowie Kleists Robert Guiskard (vgl. S. 451–466).
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führt.429 Sofern diese Überschneidungspunkte für Abbt und Hirschfeld bzw. für die literarischen Lektüren relevant sind, werden sie mit einbezogen. Ich möchte vor dem Hintergrund sowohl das heteronome, psychologische Subjektmodell, das sich bei Sulzer als Wegbereiter der Erfahrungsseelenkunde des späten 18. Jahrhunderts konzeptualisiert findet, als auch das politische Autonomiekonzept des heroischen Einzelnen skizzieren. Damit sind die zwei Pole bezeichnet, welche die diskursive Rahmung für die Figurenprofile und -konstellationen der Dramentexte bilden. Ich argumentiere, dass Goethe und stärker noch Schiller und Kleist die emphatischen Konzepte von Größe, Verdienst etc. in ihren Figurenarrangements zwar immer wieder bemühen, aber keineswegs reüssierende, große, würdevolle Männer bzw. Frauen von politischem Verdienst auf die Bühne bringen. Stattdessen entwirft das Held*innendrama um 1800 figurale Konstellationen, in denen die zeitgenössischen Vorstellungen von individueller Exzeptionalität im Bereich der Politik unter Heranziehung eines psychologischen Registers desavouiert oder karrikiert werden. Taxiert werden vor allem die Grundannahmen einer gesteigerten Rationalität und einer vorbildlichen Sittlichkeit des ‚großen‘ bzw. ‚verdienstvollen‘ Mannes, die im Dienste einer autonomen Subjektvorstellung stehen. Durch die Referenzen sowohl auf den erfahrungsseelenkundlichen als auch auf den Diskurs um den ‚großen Mann‘ entstehen, so meine Beobachtung, dramatische Anordnungen, die sich als Analysen der Dynamiken charismatischer Autorität beschreiben lassen. Vorangestellt sei schließlich der Hinweis, dass ich die Texte von Sulzer, Abbt und Hirschfeld nicht nur als diskursiven Hintergrund der Dramen behandele. Vielmehr werden in den philosophischen Abhandlungen signifikante Perspektiven auf den Heroismus entfaltet, die sich gleichwohl merklich von den literarischen Szenarien unterscheiden.
3.3 Sulzers Theorie der dunklen Vorstellungen und Empfindungen [E]s ist […] nicht schwer zu ermessen, woher die überlegene Macht der dunkeln Vorstellungen rühre. Da es unmöglich ist, an demjenigen, was man empfindet, zu zweifeln, so zweifelt man eben so wenig an demjenigen, was man zu empfinden glaubet, und man glaubet alles dasjenige zu empfinden, was zu einer etwas dunkeln Vorstellung einer Sache gehöret. […] die Vernunft mag dazu sagen, was sie will. […] Vergeblich suchet man ihnen die Stärke der Vernunft entgegen zu stellen. Es sind Feinde, die im Hinterhalte verborgen liegen: man wird von ihnen geschlagen, und sieht nicht, wo die Schläge herkommen. Ebendeswegen ist es unmöglich, sich geradezu gegen sie zu wehren. […] Dieß ist, wo ich nicht irre, der wahre Ursprung der tyrannischen Macht der Vorurtheile, der Leidenschaften, der vorgefaßten 429 Vgl. Hirschfeld (1770), S. 5–6.
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Meynungen, und so vieler andern Feinde der Vernunft. Sie stehen in den dunkeln Gegenden der Seele, wo man ihre feindlichen Bewegungen und listigen Unternehmungen nicht eher gewahr wird, bis es zu späte ist, sich dagegen zu setzen, und eben dieses verschaffet ihnen fast immer einen unfehlbaren Sieg.430
Von einer überwältigenden Stärke der Sinnes- und Gefühlswelt ist in der von Johann Georg Sulzer 1759 publizierten Abhandlung zu lesen, deren Titel das Sujet als psychologische Paradoxie fasst: Um die Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe, sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt ist es Sulzer zu tun. Die mal als „Ideen“431, häufig als „Vorstellungen“432 und „Empfindungen“433, als „Leidenschaften“434 oder als „Vorurtheile“435 adressierten ‚dunklen‘ bzw. ‚verworrenen‘ Seelenregionen436 seien verantwortlich für das Problem eines menschlichen Urteilens oder Tuns, das ohne oder gegen sichtbare bzw. überzeugende Gründe erfolge. Die besagten widervernünftigen Regungen im Individuum zu erklären, bildet den Kern des Sulzer’schen Vorhabens, „etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten“437 – ein Vorhaben, das, wie schon angemerkt, als bedeutsamer philosophischer Initialpunkt für das erfahrungsseelenkundliche Projekt der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelten kann. Sowohl Sulzer als auch die seinen Theoremen folgenden empirischen Psychologen schreiben an einem Diskurs mit, dessen subjektphilosophische Pointe darin besteht, ein rationales und in diesem Sinne autonomes Modell des Ichs zugunsten des Primats der Empfindung und des Gefühls zu verabschieden. Sulzers Darlegungen werden hier stellvertretend für ein solches Subjektkonzept rekonstruiert. Darüber hinaus aber möchte ich am Beispiel von Sulzer den politischen Implikationen der zweifelsfrei als Wissenschaft vom Individuum antretenden empirischen Psychologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts nachgehen. Zwar kann der Befund, dass eine derart heteronom verfasste Emotionalität auch auf einer kollektiven Ebene wirksam ist, frühestens für die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts
430 Sulzer (1759b), S. 116–117. 431 Sulzer (1759b), S. 108, 109, 110, 112, 113, 115 432 Sulzer (1759b), S. 105, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 116, 118, 119. 433 Sulzer (1759b), S. 108, 110, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 119, 120. 434 Sulzer (1759b), S. 100, 102, 106, 112, 117. 435 Sulzer (1759b), S. 100, 110, 117, 119, 120. 436 Vgl. Sulzer (1759b), S. 107, 109, 110, 116, 118. 437 Sulzer (1759b), S. 100.
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etablierende Psychologie der Masse als einschlägig gelten.438 Wenngleich die empirische Individualpsychologie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts keine derart konzise Theorie kollektiver Sinnlichkeit formuliert, enthält sie einige signifikante Bemerkungen dazu, welche Bedeutung jene unbewussten, dunklen Seelenregungen für eine überindividuelle, politisch relevante Gefühlswelt haben können.439 Zweifelsfrei hält Sulzer dabei an der Vorstellung einer im Zeichen der Aufklärung stehenden, rationalen Politik fest. Dies soll in einer intensiven Lektüre demonstriert werden, die auch insofern lohnenswert ist, als die politische Grundierung seiner psychologischen Schriften sowie seiner Beiträge zur Ästhetik allenfalls in marginaler Weise untersucht worden ist.440 Daher soll herausgearbeitet werden, dass der für Sulzer so charakteristische Schulterschluss von Psychologie, Moral und Ästhetik441 Konsequenzen für sein Verständnis von Politik hat. Vorangestellt wird diesen Überlegungen zu einer politischen Erfahrungsseelenkunde eine Skizze der Sulzer’schen Theorie der dunklen Vorstellungen und der Empfindungen. Hier lassen sich die Grundzüge eines die Macht der Empfindungen in Rechnung stellenden, heteronomen Seelenmodells nachvollziehen, welches dem erfahrungsseelenkundlichen Diskurs zugrunde liegt. [E]s [ist] fast nicht möglich […], weder sich vor plötzlichen Eindrücken zu verwahren, noch diese Eindrücke in dem Augenblicke, da man sie empfindet, durch Vernunftschlüsse zu
438 Vgl. Lüdemann/Hebekus (2010), S. 8–10; Vogl (2009), S. 220–225. Vgl. ferner Meyzaud (2012); Gamper (2007). 439 Hinzuweisen ist auf Kleebergs (2014) Studie Poetik der nervösen Revolution. Psychophysiologie und das politische Imaginäre. Diese widmet sich dem Zusammenhang von „zwei scheinbar unverbundene[n] epistemische[n] Felder“ (S. 10): Herausgearbeitet wird für den Untersuchungszeitraum von 1750 bis 1860, wie sich „Konzepte des Unbewussten und der Ideenassoziation als zentrale Bestandteile soziopolitischer Organisation zu etablieren“ (S. 10) beginnen und wie umgekehrt „Beobachtungen aus dem Bereich des Politischen und Sozialen in philosophische und psychophysiologische Modelle der Vorstellungsbildung“ (S. 10) eingehen. Erwähnenswert für meine Argumentation ist der Umstand, dass Kleeberg die Entstehung der Sozialpsychologie im frühen 19. Jahrhundert ansetzt. Dies erfolgt mittels einer Analyse der Schriften des Assoziationspsychologen Johann Friedrich Herbart, den Kleeberg statt den weitaus bekannteren und im späten 19. Jahrhundert publizierenden Autoren wie Gabriel Tarde, Scipio Sighele oder Gustave Le Bon ins Zentrum rückt (vgl. S. 177–216). 440 Die Herausgeber, Grunert und Stiening, des Sammelbandes Johann Georg Sulzer (1720– 1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume bezeichnen die Erschließung von Positionierungen im Bereich der praktischen Philosophie noch 2011 als „eine terra incognita der philosophie- und ideengeschichtlichen Erforschung des Sulzerschen Œuvres“ (S. 17). Auch in diesem Band widmet sich keiner der Beiträge Sulzers Politikverständnis. Vgl. zur Aufklärungspädagogik den Beitrag von Roth (2011), vgl. zur Unterscheidung von Moral und Recht Hüning (2011), vgl. wiederum zur Moral Klemme (2011). 441 Vgl. Vesper (2011), S. 174, 186.
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schwächen. Ein einziger Augenblick ist gemeiniglich hinlänglich, eine lebhafte Empfindung hervorzubringen; und wir haben gesehen, wie schwer es sey, zu erkennen, wie dieses zugehe. Wir empfinden das Verlangen, oder den Abscheu, ohne zu wissen, warum; wir werden von Kräften in Bewegung gesetzt, die wir nicht kennen. Es ist also nicht möglich, ihnen geradezu zu widerstehen. Wir fühlen die Wunde, ohne den Pfeil zu sehen, der uns verwundet hat. Es ist also gewiß, daß der Mensch nicht Herr über die ersten Bewegungen seiner Seele ist. Es bleibt ihm nicht die geringste Freyheit übrig, zu empfinden, oder nicht zu empfinden. [Abs.] Ich schließe hieraus, daß die Empfindungen und ihre unmittelbaren Folgen unwillkührliche Handlungen der Seele sind. Man hat sie also mit Rechte Leidenschaften genannt. Denn, obgleich die Seele unstreitig bey der Hervorbringung dieser Leidenschaften handelt, so sieht sie doch nur die Wirkung davon, deren unmittelbare Ursache in dem Innersten der Seele so tief verborgen liegt, daß man sie nur selten erkennen kann.442
Sulzers Metaphern von der spürbaren Wunde und dem unsichtbaren Pfeil, der diese verursacht habe, illustrieren die praktisch unumgängliche Wirkkraft der Empfindungen sowie die Ungewissheit über deren Ursprung. Mit Vernunft scheint gegen jene Seelenbewegungen wenig auszurichten zu sein, und genau in der damit eröffneten Differenz besteht Sulzers Abgrenzungsgeste gegenüber dem psychologischen Ansatz der frühneuzeitlichen Systemphilosophie. Das Interesse an den ebenso dunklen wie mächtigen Empfindungen fußt auf einer als defizitär empfundenen Psychologia rationalis Leibnizianischer und vor allem Wolffianischer Prägung.443 Sulzer und mit ihm andere Vertreter der empirischen Psychologie zielen darauf, wie z. B. Eberhard in der Einleitung zu seiner Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens von 1776 programmatisch bekundet, „die Weltweisheit aus dem Himmel der Schulen herabzuziehen und in die menschliche Gesellschaft einzuführen.“444 Diese Wende zur Erfahrungsseelenkunde, zu deren Protagonisten neben Sulzer und Eberhard Autoren wie Tetens, Herder, Platner, Abel, Moritz u. a. m. gehören, ist als „Verlagerung der philosophischen Königswege zwischen Früh- und Spätaufklärung“445 beschrieben worden. Durchgängig projektiert und unterschiedlich konturiert wird eine sich vom Primat des Rationalismus absetzende, psychologische „Theorie der Sinnlichkeit“446. 442 Sulzer (1763), S. 241–242. 443 Vgl. auch Sulzers (21759a) Ausführungen zur philosophischen Psychologie im Kurzen Begriff aller Wißenschaften, § 204–210. Hier findet sich die Wolff’sche Unterscheidung zwischen Psychologia empirica und Psychologia rationalis (vgl. § 204), wobei Sulzer die stiefmütterliche Behandlung des empirischen Zweigs beklagt: „[S]o ist die Erweiterung der empirischen Psychologie den Liebhabern der Weltweisheit bestens zu empfehlen. Insonderheit möchten wir sie erinnern, die genaueste Aufmerksamkeit auf die dunkeln Gegenden der Seele […] zu richten.“ (§ 206) Vgl. dazu Grunert/Stiening (2011). 444 Eberhard (21786), S. 4. 445 Riedel (1994), S. 411. 446 Sulzer (21793/3), S. 90.
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Kurz zu den philosophischen Voraussetzungen dieses Paradigmenwechsels: Die Autoren stehen, wie die Forschung dargelegt hat, in der Tradition einer Ausweitung des psychologischen Untersuchungsfeldes auf das Spektrum der sogenannten ‚dunklen‘ Vorstellungen – eine Denkbewegung, die maßgeblich mit dem Namen Gottlieb Alexander Baumgartens verbunden ist.447 Baumgarten geht insofern über die in der Tradition Descartes’ und Leibniz’ verfasste Wolffianische Psychologie hinaus,448 als er im Rahmen seiner Theorie der sinnlichen Erkenntnis nicht nur das ‚gelichtetete Reich‘ („regnum lucis“) der „perceptiones clarae“ behandelt, sondern einen von den „perceptiones obscurae“ beherrschten, dunklen Bereich der Seele miteinbezieht.449 Den Ort der dunklen Vorstellungen bezeichnet Baumgarten als „Grund der Seele“ („fundus animae“)450 und konzipiert für dessen Erforschung bekanntermaßen erstmals eine eigenständige philosophische Disziplin, die Ästhetik.451 Wenngleich die dunklen Seelenkräfte damit eine systematische Verortung und auch eine Aufwertung erfahren, hat die Forschung festgehalten, dass Baumgartens Konzeption der cognitio obscura nicht ohne den nach wie vor übergeordneten Bereich der Vernunfterkenntnis zu denken ist: Was Baumgarten in den dunklen Tiefenschichten der Seele zu finden erwartet, ist nicht etwas, das der Vernunfterkenntnis […] gänzlich fremd wäre, sondern ein ihr per definitionem, als Vorstellung, Wesensverwandtes und Ähnliches, ein ‚analogon rationis‘.452
Die frühaufklärerische Philosophie konstatiert somit zwar die Existenz des fundus animae, wobei sich der Versuch, dessen „Wirksamkeit“453 im Rahmen 447 Vgl. für eine Zusammenfassung der philosophischen Terminologie in Baumgartens Metaphysica und Aesthetica Adler (1988), S. 204–207 und Riedel (1994), S. 413. 448 Vgl. zu diesem Vierschritt bündig Wegener (2005), S. 205–208. 449 Baumgarten (71779), § 518. Vgl. zur Erkenntnisgrenze, die ‚das Dunkle‘ bei Wolff darstellt, Adler (1988), S. 202. 450 Baumgarten (71779), § 511. 451 Vgl. die berühmte Definition in der Aesthetica: „DIE ÄSTHETIK (Theorie der freien Künste, untere Erkenntnislehre, Kunst des schönen Denkens, Kunst des Analogons der Vernunft) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.“ (Baumgarten (1750/1), § 1). 452 Riedel (1994), S. 415. Vgl. auch Adler (1988): „Nun ist Baumgartens Aesthetica keine Wissenschaft der dunklen, sondern der klaren und verworrenen Erkenntnis, an der, […] die dunkle ihren Anteil hat. Immerhin geht aber auf diesem Wege das Dunkle der Erkenntnis mit in den Prozeß philosophischer Reflexion ein: die cognitio obscura ist nicht mehr nur die Grenzmarke der Philosophie, sie ist in der Ästhetik zu einer ihrer Größen geworden, und, weil die Ästhetik ursprünglich die Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis ist, ist das Dunkle der Erkenntnis über die Ästhetik auf dem Wege von der Peripherie der Gnoseologie in deren Zentrum.“ (S. 206) Vgl. weiter Schmidt (1982); Schweizer (1973); Franke (1972). 453 Adler (1988), S. 208.
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ihrer begrifflichen Systemlogik zu erhellen, problematisch gestaltet. Demgegenüber schlägt die empirische Psychologie einen anderen Weg ein, um genau jene Wirkweise und -kraft der dunklen Seelenvermögen zu ergründen.454 Wesentlich dafür ist die Aufgabe der von Wolff und Baumgarten noch vertretenen Konzeption der Seele als Vorstellungskraft („vis repraesentativa“455). In Sulzers Frühschriften ist noch ein Festhalten an diesem Seelenmodell zu beobachten, allerdings nicht mehr in Analogie zur Vernunft, sondern als schlechthin intellektual: Sämtliche Operationen der Seele werden als vorstellende Denkakte aufgefasst, so auch die sinnlichen Vorstellungen bzw. die Empfindungen.456 Soweit Sulzers Auffassung um 1750; gute zehn Jahre später erscheinen seine Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet.457 Schon im Titel werden zwei Seelenvermögen differenziert, die Vorstellungskraft (auch: „die vernünftige Seele“, „das Vermögen, […] die Beschaffenheit der Dinge zu erkennen“458) und die Empfindungskraft (auch: „das Vermögen, […] auf eine angenehme oder unangenehme Art gerührt zu werden“459), womit Sulzer offensichtlich über Baumgarten und Wolff hinausgeht.460 „Zwo Seelen“461 sind es, die den Menschen bestimmen und die grundsätzlich „verschieden“462 funktionieren. Die Forschung hat die philosophische Tragweite dieser Neujustierung wie folgt beschrieben:
454 Vgl. den einschlägigen Aufsatz von Riedel (1994). 455 Baumgarten (71779), § 506. Vgl. dazu Riedel (1994), S. 414; Stöckmann (2009), S. 228. 456 Vgl. Sulzers Schrift Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751/1752). Vgl. dazu Riedel (1994), S. 415. 457 Sulzer (1763). 458 Sulzer (1763), S. 225. 459 Sulzer (1763), S. 225. 460 Vgl. Riedel (1994), S. 415. Stöckmann (2009) resümiert, dass Sulzer eine „Gliederung der Seelenvermögen entwickelt, mit der die epistemologischen Aspekte der quellengeschichtlichen Vorlagen nunmehr in dezidiert anthropologisch-vermögenstheoretische Fragestellungen überführt werden.“ (S. 231) Insbesondere werde der „ursprünglich vorstellungsdynamische Ansatz aufgegeben, der auf eine Konvergenz von Erkenntnis und Appetenz im Vorstellungsbegriff (auf der Ebene der Erkenntnisvermögen) zielte“ (S. 228). Stattdessen hebe Sulzer das „affektiv-emotionale[ ] Potential“ des Vorstellungsbegriffs in einem selbstständigen „Vermögensbegriff, den ‚Empfindungen‘“ (S. 228), auf. 461 Sulzer (1763), S. 225. In diesem Sinne spricht auch Eberhard (21786) von einer „zwiefachen Kraft der Seele“ (S. 14; vgl. auch 17), votiert allerdings für das Konzept einer einzigen „Urkraft“ (S. 25) der Seele. Erkenntnis- und Empfindungskraft sind hier als „Modifikationen“ der „Grundkraft der Seele“ (S. 31) theoretisiert, womit Sulzers strikt dichotomischem und antiintellektualistischem Modell nicht gefolgt wird. Vgl. Stöckmann (2009), bes. S. 155–161. 462 Sulzer (1763), S. 225.
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II Drei grundlegende Perspektiven auf den Heroismus
Das disjunktive Paradigma ermöglicht Sulzer, die Empfindung nicht mehr nur als Analogon und Grenzwert der Erkenntnis zu konzipieren, sondern als etwas, das ihr gegenüber als totaliter aliter gedacht werden muß. Zugespitzt gesagt, Sulzer ‚erfindet‘ die Empfindung als das Andere der Vernunft.463
Ob die Empfindung in der empirischen Psychologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts tatsächlich als das radikal ‚Andere‘ der Vernunft firmiert, scheint fraglich, zumal Sulzer selbst immer wieder zur Arbeit der Vernunft gegen die Macht der Leidenschaften aufruft.464 Was hingegen außer Frage steht, ist, dass er nach Wegen sucht, die Eigengesetzlichkeit und Wirkintensität der dunklen Vorstellungen zu ergründen – und dies gewiss nicht unabhängig von, jedoch in steter Abgrenzung gegenüber der Logik der klaren Verstandesvorstellungen. Allen voran geht es um die Differenzierung von zwei ‚Vermögen‘ der Seele, eines epistemologischen und eines affektiv-emotionalen.465 Die überragende Macht des letzteren auf das Individuum ist für das hier verfolgte Problem des politischen Helden, für seine heroische agency zentral. Um dies zu illustrieren, möchte ich im Folgenden Sulzers Psychologie der Empfindungen skizzieren und in einem zweiten Schritt auf ihre politischen Implikationen hin befragen. In seinen Anmerkungen466 über die Verschiedenheit zwischen Vorstellungsbzw. Denkvermögen und Empfindungsvermögen bemüht Sulzer das Bild einer Massenpanik, die von einem Bombenwurf ausgelöst wird, um die Entstehung und Wirkmacht der Empfindungen zu erläutern: Ich war vor einigen Jahren bey Versuchen mit dem Bombenwerfen zugegen. Der Mörser war fast scheitelrecht (vertical) gerichtet; die Bombe sollte nicht weit vor dem Platze, wo die Zuschauer stunden, niederfallen, und man beobachtete die Zeit des Steigens und die Zeit des Fallens. Die Zuschauer belustigten sich ganz ruhig damit, der Bombe nachzusehen, 463 Riedel (1994), S. 416. Riedel sieht in Sulzers Gegenüberstellung von Empfindung und Vorstellen bzw. Erkennen „eine der frühesten Wurzeln für den seit Schopenhauer anthropologiegeschichtlich dominanten Dualismus von Intellekt und Trieb“ (S. 416). Dieser setze sich im 18. Jahrhundert noch nicht durch, sei aber für die nachfolgende Empfindungspsychologie folgenreich gewesen, wie sich prägnant im Falle Herders zeige. Vgl. S. 416. So bezieht sich Herders Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) – im Übrigen eine Replik auf die 1774 von Sulzer lancierte Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften – auf Sulzers Empfindungstheorie und setzt sich in verschiedenen Punkten davon ab. Vgl. dazu Heinz (1994), S. 113–143. Vgl. zur Radikalität des Sulzer’schen Neuansatzes Stöckmann (2009), S. 228. Vgl. ferner Palmes (1905) frühe Auseinandersetzung mit Sulzers Empfindungskonzept (bes. S. 34–43). So auch Heinz (1994), S. 114. Vgl. kritisch zu Sulzers Differenzierung des Vorstellungs- und Empfindungsvermögens Thiel (2011). 464 Vgl. Sulzer (1759b), S. 120; Sulzer (1764), S. 224. 465 Vgl. Stöckmann (2009), S. 228. 466 Sulzer (1763).
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so lange sie stieg; man bemerkte den Augenblick, da sie zu steigen aufhörte, man sah sie nach und nach hernieder sinken, ein jeder war bloß mit diesem Gegenstande beschäfftiget, als man auf einmal schreyen hörte: Sie kömmt auf uns zu. Die Ideen, die dieses erregte, machten der Betrachtung dieses Gegenstandes plötzlich ein Ende; ein jeder dachte bloß an sich selbst; der eine lief rechts, der andere links, um der Gefahr zu entgehen. Diese Begebenheit ist ein Bild dessen, was allemal geschieht, wenn der Geist des Menschen aus dem Zustande der Betrachtung in den Zustand der Empfindung übergeht.467
Ein von einer unmittelbaren Bedrohung ausgelöster Schrei ist es, welcher der ruhigen Betrachtung eines Gegenstandes ein jähes Ende setzt und eine chaotische Fluchtbewegung der Menschen initiiert. Dabei ist jeder auf sich selbst zurückgeworfen. Sulzers drastisches, dem Bereich der Militärtechnik zugehöriges Bild resümiert zwei wesentliche Unterscheidungskriterien zwischen Denken und Empfinden, die in den vorhergehenden Passagen theoretisch erörtert werden. Während die Seele bei der Ausübung der Verstandestätigkeit – im „Zustand[ ] des Nachdenkens“468 – selbstvergessen ihre volle Aufmerksamkeit auf die Vorstellung eines äußeren Gegenstandes richte, entferne sie sich beim Empfinden vollständig vom Gegenstand, der diesen Zustand ausgelöst habe.469 Resultat ist ein bloßes Selbstgefühl der Seele: „Nicht den Gegenstand empfindet man, sondern sich selbst. […] bey der Empfindung ist die Seele bloß mit sich selbst beschäfftiget.“470 Die von der fallenden Bombe herrührende Reaktion, die in der Massenflucht kulminiert, weist auf eine weitere Differenz zwischen Empfindungen und vorstellenden Denkakten hin: Im Empfindungsprozess verbinde sich eine bestimmte Vorstellung mit einem Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen, mit einem Gefühl des Verlangens oder der Abscheu.471 Das Bild gibt keinen Aufschluss darüber, wie sich der Übergang vom Nachdenken zum Empfinden vollzieht. In philosophischer Diktion aber wird diese Transition als plötzlich eintretende und den Vorstellungsapparat quantitiv wie qualitativ überfordernde Wirkung einer bestimmten Idee beschrieben: Die Ursache dieser Veränderung ist gemeiniglich eine Idee, die, indem sie sich darstellet, plötzlich eine große Menge anderer Ideen erreget; dieses verwirret uns, und dann geben wir
467 Sulzer (1763), S. 232. 468 Sulzer (1763), S. 228. 469 Vgl. Sulzer (1763), S. 228–229. 470 Sulzer (1763), S. 229–230. 471 Vgl. Sulzer (1763), S. 229. Sulzer beschreibt Riedel (1994) zufolge das Empfinden als „bloßes Gewahren“ des Angenehmen bzw. Unangehmen, als ein die jeweilige Vorstellung begleitendes, „gänzlich bild- und begriffsloses Gefühl der Lust oder Unlust“ (S. 417).
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II Drei grundlegende Perspektiven auf den Heroismus
auf unsern Zustand Achtung: wir verlassen auf einmal den Gegenstand, den wir betrachtet hatten, und gehen in den Zustand der Empfindung über.472
Sulzer bemüht denn auch vergleichend den physiologischen Vorgang einer „Blendung des Auges“473, um zu illustrieren, wie der Verstand durch die abrupt einsetzende Wirkintensität der empfindenden Seelentätigkeit suspendiert wird. Hier deutet sich bereits ein drittes Differenzkriterium an, das Aufschluss über den Wirkmodus der Empfindungen gibt: Sie entstehen als „plötzliche[ ] Eindrücke[ ]“474 und wirken in „ein[em] einzige[n] Augenblick“475 auf die Seele. Diesen Überwältigungseffekt fasst Sulzer im Begriff der Unwillkürlichkeit: „Ich schließe hieraus, daß die Empfindungen und ihre unmittelbaren Folgen unwillkührliche Handlungen der Seele sind. Man hat sie also mit Rechte Leidenschaften genannt.“476 Das unberechenbar plötzliche und nicht über den menschlichen Willen477 steuerbare Eintreten der Empfindungen begründe eine grundlegende Ohnmacht des Menschen. Diese Heteronomie steigert sich noch, wenn man zwei weitere Attribuierungen hinzuzieht, die Sulzer anführt. Der Zustand des Empfindens sei keine rein seelische Tätigkeit, sondern ein auch auf den Körper wirkender Akt. Das Zuschnüren der Brust während des Schmerzes, die Erweiterung derselben beim Vergnügen, ja die Wirkung von starken Empfindungen auf den Blutkreislauf und auf die „Nerven der Gedärme“478 stellen für Sulzer sinnfällige Beispiele eines Zusammenspiels von Seele und Körper dar, an dem die rationalen Seelenkräfte nicht partizipieren.479 Sulzers Seelenmodell kulminiert darin, die Empfindungen als unbewusste Kräfte zu charakterisieren:480 Man empfindet, „ohne zu wissen, warum“ oder:
472 Sulzer (1763), S. 231–232. 473 Sulzer (1763), S. 231. 474 Sulzer (1763), S. 241. 475 Sulzer (1763), S. 241. 476 Sulzer (1763), S. 242. 477 Vgl. zum Problem von Handlungen und Urteilen, die dem Willen entzogen sind und die auf die Kraft der Leidenschaften zurückgeführt werden, Sulzer (1759b), bes. S. 99–102. 478 Sulzer (1763), S. 232. Vgl. ähnlich auch Sulzer (1764), S. 216. Als Beispiele fungieren hier die Gesichtsröte im Zustand der Scham respektive des Zornes sowie die Blässe, die mit einem Schrecken einhergeht. 479 „Während des Nachdenkens geht in dem Körper nichts vor, das die Idee von uns selbst in uns erwecken könnte; alles ist da vollkommen stille und ruhig [...]“ (Sulzer (1764), S. 232). Riedel (1994) pointiert an dieser Stelle: „In der Empfindung spürt die Seele, daß sie einen Leib hat; Empfindungen sind gleichsam Evidenzerfahrungen des commercium mentis et corporis [...]“ (S. 417). 480 Riedel (1994) merkt zu Recht an, dass der Terminus des Unbewussten zwar „anachronistisch, aber ideengeschichtlich nicht ganz ungerechtfertigt“ (S. 419) sei.
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„[W]ir werden von Kräften in Bewegung gesetzt, die wir nicht kennen.“481 Diese groß angelegte Unkenntnis über den Empfindungsmechanismus resultiere aus dem Unvermögen, den ihn in Gang setzenden Gegenstand in seinem Wirkvermögen zu dechiffrieren, was wiederum mit dem gegenstandsfernen Selbstgefühl zusammenhängt, das sich im Empfinden einstellt.482 Als Beispiel fungieren Fälle von „Verblendung“483 durch die sogenannten „starken Leidenschaften“484: Ein vor Zorn außer sich geratener Mensch etwa übe nicht selten Rache an einem Unschuldigen und lasse den wahren Missetäter straflos. Das Individuum sei sich in einem solchen, aber auch in weniger exaltierten Empfindungszuständen weder über „die Gründe, die sein Urtheil, noch die Antriebe, die seine Handlungen bestimmen“485, im Klaren und komme dementsprechend zu fehlgeleiteten, irrationalen Handlungen oder Urteilen. Es ist anzumerken, dass Sulzer der Kategorie des Bewusstseins eine eigenständige Schrift widmet.486 Dort wird die menschliche Urteilsbildung gerade nicht an das Bewusstsein geknüpft, was den intellektualistischen Seelenmodellen Cartesianischer, Leibnizianischer sowie Wolffianischer Prägung geradewegs zuwiderläuft.487 Sulzer interessiert sich demgegenüber für Fälle von Denken, Sprechen und Wahrnehmen, bei denen der Bewusstseinsgrad denkbar minimal ist: Die Philosophen verstehen durch das Wort Bewußtseyn (apperceptio) diejenige Handlung des Geistes, wodurch wir unser Wesen von den Ideen, welche uns beschäfftigen, unterscheiden, und also deutlich wissen, was wir thun und was in uns und um uns vorgeht. Jedermann weiß, daß die Aufmerksamkeit, welche wir auf unsre Gedanken und auf das, was uns umgiebt, richten, sehr verschieden ist. Es geschieht öfters, daß man träumerisch über etwas nachdenket, oder wohl gar spricht, ohne auf das, was man saget, Acht zu haben, und daß man sich dessen, was um uns her vorgeht, so wenig bewußt ist, daß man von Dingen, wovon man doch Zeuge gewesen ist, nicht das geringste Andenken behält. In solchen Fällen ist, nach der Sprache der Philosophen, das Bewußtsein sehr unvollkommen.488
Derartige Ausführungen sprechen dafür, Riedels Auffassung zu folgen, dass Sulzers psychologische Schriften ein frühes Modell des Unbewussten, „eine Theorie der Fehlleistungen avant la lettre“489 formulieren.
481 Sulzer (1763), S. 241. 482 Vgl. Sulzer (1763), S. 240. 483 Sulzer (1763), S. 240. 484 Sulzer (1763), S. 240. 485 Sulzer (1763), S. 242–243. 486 Sulzer (1764), Von dem Bewußtseyn und seinem Einfluße in unsre Urtheile. 487 Thiel (2011) rekonstruiert die systemphilosophischen Bezüge, vgl. bes. S. 23–25. 488 Sulzer (1764), S. 200–201. 489 Riedel (1994), S. 419. Vgl. dagegen Thiel (2011), der auf philosophische Inkonsistenzen in Sulzers Bewusstseinstheorie hinweist.
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Schließlich ist auf ein letztes Kennzeichen aufmerksam zu machen, das die Empfindungen vom Denken unterscheidet; es schwingt in den genannten bereits mit und wird einsichtig anhand eines Beispiels aus den Anmerkungen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung einer gesteigerten menschlichen – oder besser: männlichen – Intellektualität, die in pragmatischer Hinsicht versagt. Sulzer fragt sich, „warum sehr oft Männer, die sich im tiefen Nachdenken vorzüglich geübt haben, zu Geschäfften ungeschickt sind“490. Grund dafür sei der ‚mikroskopische‘ Blick des Verstandesmenschen, der einen Gegenstand so genau in seinen intrinsischen Details sowie in seinen Verknüpfungen zu anderen Objekten fokussiere, dass er sich selbst darin verliere. Der Sinnierende gelange auf diesem Wege sicherlich zu den „evidentesten Wahrheiten“491; abhanden komme jedoch im Zustand „tiefe[n] Nachdenken[s]“492 die ‚Geschäftigkeit‘, d. h. die Handlungsfähigkeit. Sulzer behauptet zwar nicht, dass der Handlungsstimulus bei Empfindungen unmittelbar gegeben ist, merkt aber an: Um aber zu handeln, muß man die Dinge in sich sehen, welches in einem Zustande, wo man seiner Persönlichkeit beynahe völlig vergißt, nicht möglich ist. Die Wahrheit, die einen Einfluß in unsre Handlungen haben soll, muß ohne Anstrengung eingesehen werden.493
Ein mittlerer, offenbar demjenigen des Empfindens sehr ähnlicher Zustand ist demnach geeignet, um der Verstandestätigkeit Taten folgen zu lassen. Expliziter wird Sulzer in der Frage nach der pragmatischen Dimension der Empfindungen im Traktat von 1759, wo sich bereits im Titel das Problem widervernünftiger Handlungen (und Urteile) annonciert findet.494 Dort werden die dunklen Vorstellungen als diejenigen Kräfte identifiziert, die für einen raschen Vollzug von Handlungen verantwortlich sind. Als Beispiel fungieren Meinungen, die „von Kindern und Personen, die selbst nicht nachdenken“495, übernommen und so intensiv internalisiert werden, dass eine rationale Überprüfung obsolet scheint. Weiter heißt es: Ja gesetzt, daß einige Zweifel in uns entstünden, die uns zu einer solchen Prüfung antrieben, so haben wir doch, wenn die Gelegenheit da ist, allbereits lange vorher entschieden
490 Sulzer (1763), S. 239. 491 Sulzer (1763), S. 239. 492 Sulzer (1763), S. 239. 493 Sulzer (1763), S. 239. 494 Sulzer (1759b): Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe, sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt. Vgl. zum Zusammenhang von Sulzer (1759b) und Sulzer (1763): Heinz (1994), S. 116, im Rekurs auf Palme (1905), S. 34. 495 Sulzer (1759b), S. 118.
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oder gehandelt, ehe die Vernunft Zeit gehabt hat, ihre Gründe auseinander zu setzen. Man sieht den Fehler erst, nachdem er geschehen ist, ein […].496
Ähnlich äußert sich Sulzer zum handlungsstimulierenden Wirkmechanismus von Vorurteilen, d. h. Empfindungen, die das Individuum ungeprüft rezipiert und über einen langen Zeitraum verinnerlicht.497 Dass von den Empfindungen ein im Vergleich zum Denken erheblich gesteigerter Handlungsimpuls ausgeht, hängt mit dem divergierenden Maß an Deutlichkeit zusammen, das diejenigen Vorstellungen auszeichnet, bei denen entweder die Verstandes- oder aber die Empfindungstätigkeit einsetzt. Während „nothwendig eine gewisse Anzahl von besondern Vorstellungen in einem verworrenen Ganzen beysammen seyn muß, wenn eine Empfindung hervorgebracht werden soll“498, beginnt der Verstand erst dann zu arbeiten, wenn eine Vorstellung „einen gewissen Grad der Klarheit hat“499 und daher die analytische Zergliederung einsetzen kann.500 Im Falle einer merklichen „Verwirrung“501 der Repräsentation hingegen „wirket das Ganze der Sache auf einmal auf uns, und bringt die Empfindung hervor“502. Verbunden ist damit ein Unterschied in der Wirkgeschwindigkeit der beiden Vorstellungsarten: Der „langsame[n] Wirkung der deutlichen Ideen“503, die ja erst im Verstandesapparat prozessiert werden müssen, steht „die schnelle Wirkung der dunkeln Ideen“504 gegenüber, was zu ungeahnten Überraschungseffekten auf die Vernunft führe. Und auch hinsichtlich ihrer Wirkintensität konstatiert Sulzer die Überlegenheit der von den dunklen Vorstellungen stimulierten, empfindenden Seelensphäre. Da sowohl Ursprung als auch Wirkweise der Empfindungen ungeklärt seien, ja weil der empfindende Mensch von einem verworrenen Konglomerat an Vorstellungen übermannt werde, sei es vergeblich, dem mit Vernunft zu begegnen. Die Skizze der Sulzer’schen Psychologie der Empfindungen lässt sich mit zwei Passagen aus dem Traktat über das Bewusstsein schließen, die in aller Deutlichkeit die immense Mobilisierungskraft herausstellen, die den Empfindungen attestiert wird. Dort heißt es in geradezu deklarativem Gestus:
496 Sulzer (1759b), S. 118. 497 Vgl. Sulzer (1759b), S. 116. Vgl. zum Problem des Vorurteils bei Sulzer: Godel (2002), S. 557–565. 498 Sulzer (1759b), S. 114. 499 Sulzer (1759b), S. 114. 500 Vgl. Sulzer (1759b), S. 113. 501 Sulzer (1759b), S. 114. 502 Sulzer (1759b), S. 115. 503 Sulzer (1759b), S. 115. 504 Sulzer (1759b), S. 115.
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Die wahren antreibenden Kräfte in der Seele sind vors erste die sinnlichen Empfindungen, dann so wohl die klaren, aber sehr verworrenen, als auch die bis zu einem gewissen Grade dunkeln Vorstellungen. Keine einzige deutliche Idee kann bewegen; sie kann bloß die Aufmerksamkeit leiten. […] Um sich von der Wahrheit desselben zu versichern, darf man nur die große Stille bedenken, deren die Seele genießt, so lange sie sich mit abstrakten Schlüssen beschäfftiget, und die unruhige Bewegung, in welcher sie sich befindet, wenn sie von irgend einer Leidenschaft ergriffen wird. […] Man füge noch hinzu, daß die sinnlichen Empfindungen und die Leidenschaften selbst alsdann, wenn sie ziemlich dunkel sind, nicht aufhören, diese Wirkung hervorzubringen. Dieß erhellet aus dem Beyspiele solcher Personen, welche das Unglück gehabt haben, durch eine starke Leidenschaft den Verstand oder die gesunde Vernunft zu verlieren.505
Dass der Wahnsinnige hier als Protagonist einer durch die Leidenschaften aus dem Takt geratenen Vernunft angeführt wird, ist im Übrigen das wohl deutlichste Beispiel dieses Textes dafür, wie anschlussfähig Sulzer für die Erfahrungsseelenkunde des späteren 18. Jahrhunderts ist.506 Das den undeutlichen Vorstellungen inhärente Potential, die Seele intensiv zu bewegen, verdichtet sich schließlich in einer auf die antike Mythologie rekurrierenden Personifikation, die sich am Ende des Bewußtseins-Traktats befindet: Die verworrenen Vorstellungen […] widersetzen sich dieser glücklichen Gegenwart des Geistes am meisten; sie sind Sirenen, aber um so viel fürchterlichere Sirenen, da man die Wirkung ihrer Bezauberungen empfindet, ohne sie zu sehen und zu hören.507
Wenn Sulzer die Macht der dunklen Vorstellungen mit der unwiderstehlichen Zauberkraft der Sirenen vergleicht, ist damit mehr gemeint als bloße Verführung. Der Sirenen-Gesang ist, Homer ist hier explizit, todbringend für den naiven Zuhörer: Welcher mit törichtem Herzen hinanfährt, und der Sirenen/ Stimme lauscht, dem wird zu Hause nimmer die Gattin/ Und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen;/ Denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen,/ Die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine/ Modernder Menschen umringt und ausgetrockneten Häuten.508
505 Sulzer (1764), S. 213–214. 506 Des Weiteren werden hier Fälle von Ohnmacht und Schlaf diskutiert (vgl. Sulzer (1764), S. 202–206, 208) und das Phänomen „starke[r] Zerstreuungen“ (S. 210) erwähnt. In der Erklärung eines psychologichen paradoxen Satzes ist es Sulzer (1759b) um verschiedene Eigenmächtigkeiten des Körpers (Starre angesichts des Schreckens, unwillkürliche Augenbewegungen, Versagen der Zunge beim Stottern oder Stammeln) zu tun, die als Ausdruck unwillentlich eintretender seelischer Vorgänge zur Geltung gebracht werden (vgl. S. 102). Vgl. auch die Anmerkungen zum Phänomen der „Schwermüthigkeit“ (S. 103–104). 507 Sulzer (1764), S. 223–224. 508 Hom., Od., 12, 41–46. Vgl. Hom., Od., 12, 156–157.
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Während Odysseus bekanntermaßen kein argloses Opfer jener Sangeskünste ist, ja sich den Sirenen auf Kirkes Rat gerade nicht ‚töricht‘ nähert und so ihrem Zauber zu entgehen vermag, kann man sich gegen die Macht der dunklen Vorstellungen nicht wappnen, indem man sich etwa die Ohren verstopft und sich fesseln lässt. Die Szene um die schon bei Homer ebenso betörenden wie todesgefährlichen Sirenen weiß Sulzer noch zu steigern: Seine fürchterlicheren Sirenen sind weder sicht- noch hörbar, sind lautlose und unsichtbare Kräfte, deren Ursprung und Wirkmechanismus dem Menschen vollends entzogen bleiben. Diese Personifikation fügt sich umstandslos in die von Sulzer auch sonst gepflegte Bildsprache ein, welche die Wirkung der dunklen Vorstellungen mal als unsichtbare Pfeilschüsse509 und anderer Stelle als Schläge aus dem Nichts510 beschreibt.511 Was die begriffs- und ideengeschichtliche Bedeutung einer solchen Empfindungstheorie betrifft, hat Riedel den überzeugenden Vorschlag gemacht, Sulzer als Pionier einer skeptischen Arbeit an der Psychopathologie des Unbewussten zu beschreiben.512 Begründet werde hier ein „Strang in der Begriffsgeschichte des Unbewußten“513, der über das Projekt der Erfahrungsseelenkunde weiter bis
509 Vgl. Sulzer (1763), S. 242. 510 Vgl. Sulzer (1759b), S. 116. 511 Die Szene des Bombenabwurfs bildet insofern eine Ausnahme, als der Aspekt der Unsichtbarkeit getilgt ist. Von der ‚explosiven‘ Gewalt der Empfindungen zeugt dieses Bild indessen allemal. Vgl. Sulzer (1763), S. 232. 512 „Sulzers Psychologie des Dunklen und der Empfindungen nimmt in der Frühgeschichte der ‚Entdeckung des Unbewußten‘ im deutschen achtzehnten Jahrhundert eine gewisse Sonderstellung ein. Bezeichnenderweise ist ja das Terrain, auf dem die perceptiones obscurae im Jahrhundert der Aufklärung Karriere machen, die Ästhetik.[…] auf dem ästhetischen Gebiet […] zeigt jenes Dunkle und Unbewußte […] sein freundliches Antlitz. Hier liegen […] die Wurzeln für einen begriffsgeschichtlichen Strang, den ich den enthusiastischen nennen möchte, und der, über die wesentlichen Etappen Herder, Schelling, Hartmann, Nietzsche und Jung laufend, das Unbewußte als ‚deus in nobis‘ und Quelle aller seelischen und geistigen Produktivität begreift. Doch gerade dieses ist es nicht, was Sulzer ins Auge faßt. Seine […] realistische Psychologie gewahrt im Unbewußten – […] zum ersten und in dieser elaborierten Form um die Mitte des deutschen achtzehnten Jahrhunderts auch einzigen Mal – ein pathogenes Potential. Es liegt nahe, diesen mehr als kritischen Blick auf die in der ‚Tiefe der Seele‘, gleichsam ‚hinter ihrem Rücken‘ waltende Dynamik subrationaler Kräfte der illusionslosen Haltung des Empirikers und damit dem Pionier der späteren ‚Erfahrungsseelenkunde‘ zuzurechnen.“ (Riedel (1994), S. 422). 513 Riedel (1994), S. 423. Vgl. dort auch die Hinweise zu den ideengeschichtlichen Stationen einer solchen frühen Theorie des Unbewussten in FN 34, S. 423–424. Eine ganz ähnliche Linie skizziert auch die Anthologie ‚Dieses wahre innere Afrika‘. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud: Lütkehaus (2005) [zuerst 1989]. Vgl. darin zu Sulzer knapp und lediglich in der Einleitung, S. 22–24. Vgl. auch Wegener (2005), S. 208.
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hin zu Freud führe.514 Dass die Skepsis, die Sulzers Empfindungstheorie attestiert wird, indes keine nur individualpsychologisch zu verstehende ist, wird in den rekurrenten Hinweisen auf eine kollektive bzw. soziale Dimension einer solchen „Physik der Seele“515 deutlich. Dem widmet sich das folgende Teilkapitel.
3.4 Ansätze zu einer ‚politischen Erfahrungsseelenkunde‘ bei Sulzer Gegen Ende seiner Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes stellt Sulzer heraus, dass „Fälle[ ], wo die Vernunft von der Leidenschaft dahin gerissen wird“516, nicht bloß als subjektives Urteilen oder Handeln begegnen. So sei die Wirkung starker Empfindungen in vergleichbarer Weise zu beobachten, wenn man sich „gewisse Meynungen, welchen ganze Völker, Secten und Orden zugethan sind“517, vergegenwärtige. Noch expliziter heißt es über die hartnäckige Macht solcher kollektiven Meinungen: So bald ein Irrthum der Masse von dunkeln Vorstellungen einverleibet ist, so ist es äußerst schwer, ihn aus dem Verstande herauszureissen, oder auszutreiben. Dieß ist der Grund, warum es selbst dem Weisen sehr schwer fällt, Nationalvorurtheile, oder die Vorurtheile des Standes, in welchem er erzogen worden ist, abzulegen.518
Mit den Kategorien von ‚Nation‘ und ‚Stand‘ ist eine überindividuelle Ebene angesprochen, auf der die dunklen Vorstellungen wirken, namentlich die Ebene der Vorurteile. In Rede steht hier ein Diskursfeld, das elementarer Bestandteil des Emanzipationsprojekts der europäischen Aufklärung ist und das die soziopolitische Dimension von Sulzers Argumentationsgang zu Tage treten lässt: Das Vorurteil wird im 18. Jahrhundert vornehmlich als Problem der Erkenntnistheorie, der Moralphilosophie, der politischen Philosophie und der Religionsphilosophie diskursiviert.519 Ohne auf die aufklärerische Vorurteilskritik, zu der auch Sulzer einen gewissen Beitrag geleistet hat,520 hier weiter einzugehen, ist es bemerkenswert, dass die Macht der dunklen Vorstellungen und Empfindungen auch 514 Die sich aus Riedels (1994) Sicht parallel dazu entwickelnde, „enthusiastische[ ]“ (S. 422) Modellierung des Unbewussten beschreibt ähnlich auch Wegener (2005), bes. in der Romantik, S. 210–214. Zu den entsprechenden Ausgangspunkten in der philosophischen Ästhetik vgl. Adler (1990, 1988). 515 Sulzer (1759b), S. 100. 516 Sulzer (1759b), S. 106. 517 Sulzer (1759b), S. 118. 518 Sulzer (1759b), S. 118. 519 Vgl. Reisinger/Scholz (2001), Sp. 1250, 1254, 1259. Vgl. Godel (2002). 520 Vgl. Godel (2002), S. 557–565. Vgl. ferner Riedel (1994), S. 427.
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im Hinblick auf ein Kollektiv diskutiert wird. Sulzers Bemerkungen zum Umgang mit Vorurteilen verdienen daher genauere Aufmerksamkeit, zumal die auch im Vorurteil beobachtbare Wirkintensität der Empfindungen zum Angelpunkt einer Reflexion über Herrschaft bzw. über eine durchaus auch manipulative Züge tragenden ‚Menschenführung‘ wird. Der Weg, kollektiv verankerten Vorurteilen beizukommen, funktioniert, folgt man Sulzer, gewiss nicht sola ratione. Es bedarf vielmehr der Transition vernünftig gewonnener Einsichten, die ein bestimmtes Vorurteil sachlich entkräften, in den Bereich der Empfindungen. Es ist „nicht genug zu beweisen, daß [etwas] ein Irrthum sey; man muß es empfinden, ohne dabey des langsamen Ganges der Vernunftschlüsse nöthig zu haben.“521 Sulzer wertet, so resümiert Godel diesen vorurteilskritischen Kniff, die „an der Entstehung von Vorurteilen entscheidend beteiligten Empfindungen zu deren methodischem Gegenmittel auf[ ]“522. Die „antreibende Kraft“523 für die gegen die Vorurteile antretenden Disziplinen der Ethik und Gnoseologie entspringt somit den empfindenden Seelenregionen. Dass Sulzers Theorie der dunklen Vorstellungen auch in der angedeuteten kollektivpsychologischen Dimension stets ihren vernunftoptimistischen Grundzug bewahrt,524 tritt hier zu Tage. Ganz explizit wird dies in dem schließlich bemühten und dabei doch etwas bemüht wirkenden Beispiel einer ideal verlaufenden, vernünftigen Volksführung. Wie einfach kollektive Vorurteile angenommen und hartnäckig gepflegt würden, erhellet, daß es nicht schwer seyn würde, einem einfältigen und noch von keinen Vorurtheilen eingenommen Volke vernünftige Meynungen und Gesinnungen einzuflößen und dasselbe weise und tugendhaft zu machen. Man dürfte ihm zu dem Ende nur weise und tugendhafte Anführer geben. Der Mensch, der nicht vorher für gewisse Dinge eingenommen ist, glaubet, was die andern glauben, und thut, was er andere thun sieht. Die ganze Schwierigkeit würde nur darinnen bestehen, daß man die nöthigen Einrichtungen zu treffen wüßte, dem Volke die Muster, nach welchen man es bilden wollte, vor Augen zu stellen.525
Mit seiner Vision eines Volks, das als ‚unbeschriebenes Blatt‘ einem an den Leitfäden von Weisheit und Tugend operierenden Herrscher folgt, formuliert Sulzer die Idealvorstellung einer inhaltlich gänzlich im Zeichen der ratio stehenden Politik, die in einer ausgeprägten politischen Vernunft auf Seiten der Beherrschten 521 Sulzer (1759b), S. 119. 522 Godel (2002), S. 564. 523 Sulzer (1759b), S. 121. 524 Riedel (1994) betont, dass sich Sulzers Denken trotz allem Interesse für die unterhalb des Rationalen liegenden Seelenkräfte „durch seine Bindung an die Wertungen der alten Aufklärung“ (S. 422) auszeichne. 525 Sulzer (1759b), S. 119–120.
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mündet. Geht es indes um die Methode, dem Volk die rationalen Einsichten effektiv nahe zu bringen, „so kömmt es nur darauf an, daß man den Aussprüchen der Vernunft die Stärke des Vorurtheils und der Empfindung verschaffe“526. Hier deutet sich ein Herrschaftsverständnis an, das zwar auf Vernunftwerte ausgerichtet ist, allerdings eine auf Sinnlichkeit setzende Machttechnik empfiehlt. Sulzer votiert am Ende des Traktats nachdrücklich für die Möglichkeit, die Empfindungen im Bereich der Moral in vernünftige Bahnen zu lenken.527 Festzuhalten bleibt, dass Sulzer das Theorem einer mächtigen und mobilisierenden Sinnlichkeit zwar im Kontext seiner Moralphilosophie fruchtbar macht, aber nicht kollektivpsychologisch etwa im Sinne einer Psychologie der Masse weiterdenkt. Gleichwohl finden sich Passagen, die von einer politischen Relevanz des menschlichen Empfindungsvermögens zeugen, wobei dabei stets eine moralphilosophische Ebene mitverhandelt wird. Komplementär sei an dieser Stelle auf einen Passus aus Eberhards Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens verwiesen, der einen Fall leidenschaftlicher Erregung auf kollektiver Ebene schildert, ohne dies, wie in Sulzers Beispiel, mit Vernunft abzufedern: Ist die Vorstellung eine Empfindung: so wird sie auch als solche mit einem Begehren verknüpft seyn, das man seiner Stärke und Lebhaftigkeit wegen Affekt, Gemüthsbewegung, Leidenschaft genennt hat. […] In solchen Leidenschaften ist nun der ganze Grund der Seele erregt, eine Menge dunkeler Vorstellungen von vorhergesehener Lust oder Unlust drängen sich in Eins zusammen, und alle diese bloß empfundenen Triebfedern stoßen den Menschen unverzüglich zur Handlung fort. Das löset uns am besten auf, was so viele beobachtende Geschichtskundige oft nicht haben begreifen können, und woraus sie dem patriotischen Gefühl eines Volkes wohl gar einen Vorwurf gemacht, nämlich daß ein Volk
526 Sulzer (1759b), S. 120. 527 Vgl. Sulzer (1759b), S. 120–121. Die vor 82 Jahren erschienene Monographie von Anna Tumarkin (1933) diskutiert die sich hier andeutenden Bezüge von Sulzers Moralphilosophie zum englischen Empirismus insbesondere Hume’scher Prägung (vgl. S. 96–104). Allen voran in der Schrift Vom Ursprung der angenehmen und der unangenehmen Empfindungen finde eine unverkennbare Auseinandersetzung mit Humes moralischem Sensualismus statt, den Sulzer zwar als philosophische Neupositionierung wertschätzt, aber grundsätzlich kritisiert (vgl. S. 98–100). Sulzers Interesse bekundet sich schon darin, dass er, wie Tumarkin ausführt, Humes Philosophischen Versuch über die menschliche Erkenntnis im Jahre 1755 erstmals aus dem Englischen übersetzt und mit Herausgeberkommentaren versieht (vgl. S. 98–99). Die Abgrenzungsgeste zu Hume bestehe vor allem darin, die Empfindungen bzw. die Sinneslust, die bei Hume als ungezügelter Grundtrieb des Menschen und damit auch der Moral firmiere, einem vernünftigen Zweck zu unterstellen. Sulzer plädiere für eine „objektive Richtschnur“ (S. 96) zur Lenkung der Empfindungen bzw. stelle „die Lust selbst von vornherein unter einen objektiven Maßstab“ (S. 103). Sulzers Auseinandersetzung mit Hume und die Bezüge seines Modells zur Philosophie des moral sense müssten differenzierter ausgearbeitet werden.
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nicht selten, in langwierigen Unterdrückungen geschwiegen, und durch eine Kleinigkeit zur Rache gegen die Tyranney, und zur Wiederherstellung seiner angeborenen Freyheit sey geweckt worden. Allein wenn wir bemerken, daß diese Kleinigkeit eine heftige Empfindung war, so wird alles ganz natürlich.528
Das historische Exempel, das Eberhard anfügt, berichtet vom Mord eines Vaters an seiner eigenen Tochter, die während des väterlichen Kriegsdienstes von einem römischen Machthaber sexuell bedrängt worden sei. Der Vater tötet die Tochter, um sie der tyrannischen Macht des „wollüstige[n] Decemvir[n]“529 zu entziehen. Die Tat habe eine groß angelegte Empörung über das herrschende Regime ausgelöst und gipfelt in einer leidenschaftlichen Massenagitation: […] das erregte tausenderley Empfindungen des Mitleids, des Unwillens über selbst erlittenes Unrecht, des Schreckens und […] diese Empfindungen, die aus einem Anblick entsprangen, breiteten sich mit gleicher Theilnehmung unter den zahlreichen Zuschauern aus, und dienten ihn allen zum Verbindungssignal, indem es sie zu gleicher Thätigkeit entzündete. Selbst der Anblick des Menschenblutes, der frischen Wunden in dem schönen jugendlichen jungfräulichen Leichname, die Verzückungen, die Todtenblässe, alles das erregte einen körperlichen Schauder, der sich mit dem Anschauen eines verzweifelten Vaters in die einzige Leidenschaft der Rache verlohr. Der Erfolg hat gelehrt, zu welcher Leidenschaft und Thätigkeit das Volk müsse seyn erregt worden. Das war aber die Folge einer Empfindung.530
Unhinterfragt gerät der Vatermord zum „Verbindungssignal“, zum Stimulus einer gefühlsgeleiteten Rebellion gegen die Tyrannenherrschaft. Das Beispiel zeugt damit von der abgründigen Kehrseite der Möglichkeit, ein Volk durch Empfindungen zu lenken. Im Gegensatz zur bei Sulzer angedeuteten, vernunftorientierten Massenbildung durch den tugendhaften Herrscher folgt die Menge bei Eberhard einem in seinem patriarchalen Ehrverständnis verletzten, rachsüchtigen Vater und wird getrieben vom Anblick einer schönen, jungfräulichen Mädchenleiche. Geteilt wird, das sei im Hinblick auf die geschlechterspezifische Signatur des Beispiels vermerkt, der männlich codierte Affekt der Rache sowie der Schrecken über die Gewalttat. Deren konkrete Folgen für die junge Frau scheinen irrelevant, das Vergehen wird nur vermittelt durch die väterlichen Rachegefühle und durch die erschreckende Drastik des malträtierten Mädchenkörpers handlungstimulierend. Dass Eberhard zur Abrundung seines Exkurses, der eine Psychologie der Masse skizziert, schließlich auch das Bild einer fallenden Bombe bemüht, macht die Parallelen zu Sulzers Modell endgültig offensichtlich und
528 Eberhard (21786), S. 123–125. 529 Eberhard (21786), S. 125. Gemeint dürfte hier das Verginia-Sujet sein, ohne dass es von Eberhard so benannt würde. 530 Eberhard (21786), S. 125–126.
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verweist ein weiteres Mal auf die sich in der Empfindungstheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts andeutetende kollektive Dimension.531 Für die hier fokussierte Frage nach einer auf das Kollektive gerichteten Dimension der Sulzer’schen Empfindungstheorie ist ein weiteres Diskursfeld aufschlussreich, zu dem Sulzer maßgebliche Beiträge geleistet hat. In seinem Großprojekt, der von 1771 bis 1774 in vier Bänden erschienenen Allgemeinen Theorie der schönen Künste,532 manifestiert sich zunächst der Schulterschluss zwischen psychologischer Empfindungstheorie und Ästhetik in aller Deutlichkeit.533 Die Kunst gewährt im Unterschied zur philosophischen Erkenntnis unmittelbaren Zugang zu den Empfindungen und zielt dabei in Sulzers Konzeption auf eine – durch die Vernunft auf das Sittliche zulaufende – sublimierte Sinnlichkeit: So wie Philosophie, oder Wissenschaft überhaupt, die Erkenntnis zum Endzwek hat, so zielen die schönen Künste auf Empfindung ab. Ihre unmittelbare Würkung ist, Empfindung im psychologischen Sinn zu erweken; ihr letzter Endzwek aber geht auf moralische Empfindungen, wodurch der Mensch seinen sittlichen Werth bekommt. Sollen die schönen Künste Schwestern der Philosophie, nicht blos leichtfertige Dirnen seyn, die man zum Zeitvertreib herbey ruft: so müssen sie bey Ausstreuung der Empfindungen von Verstand und Weisheit geleitet werden.534
Der Künstler firmiert als ‚Experte des Sinnlichen in moralischer Absicht‘, und dies sowohl was seine eigene Empfindungsdisposition als auch was seine Fähigkeit betrifft, Empfindungen zu produzieren.535 An dieser Stelle verbindet sich eine moralische mit einer politischen Funktionsbestimmung der Kunst: Die projektierte ‚ästhetische Erziehung‘ nämlich geschieht, anders als später bei
531 Vgl. Eberhard (21786), S. 126–127. Die von dem Bombenabwurf ausgelöste Massenpanik dient Eberhard als Beleg für die Wirkgeschwindigkeit der Empfindungen. Vgl. zur Kritik an den philosophischen Inkonsistenzen der Eberhard’schen Schrift Palme (1905), S. 36. 532 Im Folgenden wird die zweite Auflage zugrunde gelegt: Vgl. Sulzer (21792/1), (21792/2), (21793/3), (21794/4). 533 Vgl. Riedel (1994), S. 427–428. Vgl. ferner Grunert/Stiening (2011), S. 16. 534 Sulzer (21792/2), S. 54, Artikel „Empfindung. (Schöne Künste)“. 535 Vgl. dazu Sulzers (1792/1) emphatische Beschreibung des empfindenden Genies: „Diese Eigenschaften, das Feuer der Einbildungskraft, die Lebhaftigkeit des Gefühls, und die unwiderstehliche Begierde, das, was man selbst so lebhaft fühlt, gegen andere zu äußern, sind die wahren Anlagen zum poetischen Genie; sie können aber auch die Anlagen zu einer fatalen Verwirrung des Gemüths seyn, wenn sie nicht einen scharfen Verstand, eine sehr gesunde Beurtheilungskraft, und überhaupt eine hinlängliche Stärke des Geistes, sich seiner selbst und der Umstände, darinn man ist, bewußt zu seyn, zur Unterstützung haben.“ (S. 610, Artikel „Dichter“) Die Abgründigkeit einer solchermaßen gesteigerten Empfindungsfähigkeit wird hier mit verzeichnet.
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Schiller, nicht im autonom gedachten Medium der Kunst.536 Nicht das Modell eines „ästhetischen Staat[es]“537 schwebt Sulzer vor, sondern ein aufklärerisches Politikverständnis, das auf die psychologische Expertise des Künstlers angewiesen ist. Die entsprechende politische Szene, die Sulzer in seinem Artikel zum Begriff der „Künste“538 entwirft, präsentiert einen Künstler, der „an den Thron“539 des „gute[n] Regent[en]“540 gerufen wird. Hier wird die Verbindung einer an der Empfindungspsychologie geschulten Ästhetik mit zeitgenössischen Konzepten des moralischen Staats manifest. Sulzers gestaltet die Vision von einem an der politischen Machtpraxis wesentlich beteiligten Künstler, der nämlich vom Herrscher „einen eben so wichtigen Auftrag [hört], als der ist, der dem Feldherrn oder dem Verwalter der Gerechtigkeit, oder dem, der die allgemeine Landespolicey besorget, gegeben wird“541. Psychologie und Politik werden sodann in der Bestimmung der künstlerischen Profession aufs Engste verknüpft: Hieraus kann nun auch der Weg zu der wahren Theorie derselben [der schönen Künste] eröffnet werden. Sie entsteht aus der Auflösung dieser psychologischen und politischen Aufgabe: ‚Wie es anzufangen, daß der dem Menschen angebohrne Hang zur Sinnlichkeit zur Erhöhung seiner Sinnesart angewendet, und in besondern Fällen als ein Mittel gebraucht werde, ihn unwiderstehlich zu seiner Pflicht zu reizen?‘542
Richtig verstandene Kunst arbeite in wirkungsästhetischer Hinsicht demnach an den menschlichen Empfindungen und mache diese zum Stimulus politischer Pflichtausübung.543 Die konstitutionelle Dimension der Politik, Gesetze und Ver536 Vgl. das berühmte Diktum der Schaubühnen-Rede: „Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt.“ (Schiller, SW, S. 190) Trotz der Souveränität, die Schiller der Institution ‚Bühne‘ attestiert, theoretisiert er diese natürlich im Kontext staatlicher Organisation, als „eine öffentliche Anstalt des Staats“ (S. 194). 537 Schiller, ÄB, S. 673. Hervorhebung im Original. Vgl. zum Visions- bzw. hypothetischen Charakter des Schiller’schen Konzepts Alt (2009/2), S. 148–149. 538 Sulzer (21793/3), S. 72–95, Artikel „Künste; Schöne Künste.“. 539 Sulzer (21793/3), S. 89. 540 Sulzer (21793/3), S. 78. 541 Sulzer (21793/3), S. 89. 542 Sulzer (21793/3), S. 90. 543 Vgl. dazu auch Sulzers (1756) Schrift Versuch, einen festen Grundsatz zu finden, um die Pflichten der Sittenlehre und des Naturrechts zu unterscheiden. Vgl. die Diskussion des sich darin konturierenden Politikverständnisses bei Hüning (2011), bes. S. 294–299. Hüning argmumentiert, dass Sulzer im Ausgang von Wolffs praktischer Philosophie „eine umfassende Regulierungs- und Reglementierungsforderung an den Staat“ (S. 297) richte, die sich aus der moralphilosophischen Annahme einer „natürlichen Bosheit der Menschen“ (S. 294) ergebe. Rekurrierend auf Wolffs Naturrechtskonzeption votiere Sulzer für einen engen Nexus von Tugend- und Gesetzeslehre
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fassungen, seien stets ein „Werk des Verstandes“544. Die Künste hingegen stellen dem Gesetzesrationalismus eine emotionale Sphäre zur Seite. Am Erfolg jener politischen „Zauberkraft“545 des Künstlers hegt Sulzer keinen Zweifel: „Welche empfindsame Seele wird ihnen widerstehen können?“546 Hier deutet sich der in den psychologischen Schriften ausgeführte Aspekt eines starken Handlungsimpulses an, der von den Empfindungen ausgeht und der hier ins Kollektive gewendet wird.547 Die Sinnlichkeit wird dergestalt zur pragmatischen Haupttriebfeder der politischen Vernunft sublimiert – ein Gedanke, der sich bildlich verdichtet: Der Künstler bestreue den Weg zur tugendhaften Gesetzestreue „mit Blumen, die durch den lieblichsten Geruch den Wanderer zum weitern Fortgehen unwiderstehlich anloken.“548 Wird das Bewegungspotential der schönen Künste hier als olfaktorische Betörung veranschaulicht, so bemüht Sulzer einen ähnlich gelagerten, mythologischen Vergleich, der eine Macht des Künstlers über den Hörsinn ins Bild setzt. Der Künstler vermöge, die Menschen „wie ein andrer Orpheus“549 zu ihren Pflichten anzuhalten, welche vom Souverän im Geiste der Vernunft und Tugend diktiert und repräsentiert würden. Der Künstler sei, so wird an späterer Stelle des Artikels abstrakter ausgeführt, in der Lage, die Kenntnisse der philosophischen Psychologie für „den redlichen Staatsmann“550 zu operationalisieren, er gibt den Schlüssel für eine unterhalb des Rationalen laborierende Herrschaftstechnik an die Hand. Derjenige allerdings, der Orpheus auf den Weg zum Thron geschickt hat, ja der die glückliche Allianz zwischen Künstler und Regent erst ermöglicht hat, ist und bleibt, folgt man Sulzer, „[e]in deutscher Philosoph“551. Baumgartens „Theorie der Sinnlichkeit“552, die von ihm neu begründete Disziplin der Ästhetik, weise „den Weg zur völligen Herrschaft über den Menschen“553. (vgl. S. 299–303). Dieser Zusammenhang findet sich in der Allgemeinen Theorie wieder. Aufgrund der starken Rolle des Staats, in dessen Dienst Moral und Ästhetik gleichermaßen gestellt werden, beschreiben Vesper und Hüning Sulzers politische Positionierung – von einer konzisen Theorie lässt sich hier nicht sprechen – wohl nicht zu unrecht als paternalistisch. Vgl. Vesper (2011), S. 188; Hüning (2011), S. 301. 544 Sulzer (21793/3), S. 77. 545 Sulzer (21793/3), S. 77. 546 Sulzer (21793/3), S. 77. 547 „[…] der Verstand würkt nichts als Kenntniß, und in dieser liegt keine Kraft zu handeln. Soll die Wahrheit würksam werden, so muß sie in Gestalt des Guten nicht erkannt, sondern empfunden werden; denn nur dieses reizt die Begehrungskräfte.“ (Sulzer (21793/3), S. 78). 548 Sulzer (21793/3), S. 78. 549 Sulzer (21793/3), S. 78. 550 Sulzer (21793/3), S. 90. 551 Sulzer (21793/3), S. 90. 552 Sulzer (21793/3), S. 90. 553 Sulzer (21793/3), S. 90.
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Man darf angesichts eines derart umfassenden Vertrauens in die Allianz zwischen dem philosophisch geschulten Künstler und Herrscher fragen, ob Sulzer von deren Gelingen tatsächlich zutiefst überzeugt ist oder dieses regelrecht herbeiredet. Die Antwort lautet beiderseits ‚ja‘ und ‚nein‘. Zwar ist Riedels Einschätzung zuzustimmen, dass der „Glaube an die Plastizität und Meliorisierungsfähigkeit der Empfindungen […] grenzenlos“554 ist und dass hier einer auf der Ästhetik fußenden, politischen „Psychagogik“555 das Wort geredet wird, deren vernünftige Direktion für den „Utopiker“556 Sulzer – seiner skeptischen Psychologie zum Trotz – außer Frage zu stehen scheint. Die harmonische Handreichung zwischen Regent und Künstler steht sinnbildlich für einen Vernunftoptimismus der Sulzer’schen Ästhetik, der in einem aufklärerischen Modell politischer Macht mündet. Allerdings lassen sich verschiedene Belege dafür anführen, dass sich Sulzer über die Abgründe einer so konturierten Theorie der Macht als Theorie der Sinnlichkeit im Klaren ist.557 Bezeichnenderweise begegnet man an genau diesem Punkt seiner Ausführungen der Figur des politischen Helden. Dem emphatischen Loblied auf die Wirkmacht der Künste sowie auf ihr wohlwollendes Bündnis mit der politischen Macht folgt unmittelbar eine Konzession: Aber wir müssen alles gestehen. Die reizende Kraft der schönen Künste kann leicht zum Verderben der Menschen gemißbraucht werden; gleich jenem paradiesischen Baum, tragen sie Früchte des Guten und des Bösen, und ein unüberlegter Genuß derselben kann den Menschen ins Verderben stürzen. Die verfeinerte Sinnlichkeit kann gefährliche Folgen haben, wenn sie nicht unter der beständigen Führung der Vernunft angebauet wird. Die abentheuerlichen Ausschweifungen der verliebten, oder politischen, oder religiösen Schwärmereyen, der verkehrte Geist fanatischen Sekten, Mönchsorden und ganzer Völker, was ist er anders, als eine von Vernunft verlassene und dabey noch übertriebene feinere Sinnlichkeit. Und auch daher kommt die sybarititsche Weichlichkeit, die den Menschen zu einem schwachen, verwöhnten und verächtlichen Geschöpfe macht. Es ist im Grunde einerley Empfindsamkeit, die Helden und Narren, Heilige und verruchte Bösewichter bildet.558
Beschrieben werden Fälle, in denen die „Kraft der schönen Künste“559 in die falschen Hände gerät; „das herrlichste Gesundheitsmittel“560 avanciert dabei „zum
554 Riedel (1994), S. 428. 555 Riedel (1994), S. 429. 556 Riedel (1994), S. 428. 557 Riedel (1994) bemerkt kritisch, dass „Sulzers Allgemeine Theorie [beispielhaft steht] für die Bonhomie, ja Unschuld, mit der der aufgeklärte Wille zum Wissen umschlägt in Herrschaftstechnik und Willen zur Macht“ (S. 429). 558 Sulzer (21793/3), S. 78–79. 559 Sulzer (21793/3), S. 79. 560 Sulzer (21793/3), S. 79.
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tödlichen Gifte“561. Bemerkenswert ist, dass hier zwar zunächst vor den Irrwegen der schönen Künste gewarnt, sodann aber die mithin fatale Wirkung einer sublimierten Sinnlichkeit in einem ganz anderen Bereich beschrieben wird, nämlich in Bezug auf bestimmte Kollektive: Sekten, Mönchsorden und auch ganze Völker werden als Gemeinschaftsformen fokussiert, deren Zusammenhalt auf einer vernunftfernen und zu wirkintensiven Art der feineren Sinnlichkeit fuße. Kritisch-warnend vermerkt wird eine zügellose Sinnlichkeit, die aber nichtsdestotrotz effektiv im Sinne von konstitutiv für die in Rede stehenden Gemeinschaften sei. Ihre Mitglieder sind keine pflichtbewussten, sittlichen „Bürger“562, sondern schwache, in ihrer Emotionalität entgrenzte Subjekte, deren Gemeinschaftsgefühle letztlich prekäre Fälle von Schwärmerei und Fanatismus seien. Auch auf die Anführer jener Vereinigungen kommt Sulzer zu sprechen. Die Gegenüberstellung von ‚Held‘ und ‚Narr‘ sowie ‚Heiliger‘ und ‚Bösewicht‘ zeigt zwei Extrembeispiele eines in ausgeprägter Weise über Gefühle funktionierenden Führungsprinzips auf. Die Passage legt nahe, dass Held und Heiliger als Protagonisten einer vernunftgeleiteten Sinnlichkeit gelten dürfen. Im Unterschied dazu würden die von Narren und Bösewichtern evozierten Emotionen zwar dieser rationalen Fundierung entbehren, würden darum aber keineswegs ihre Wirkmacht auf diejenigen einbüßen, die ihren ‚Ausschweifungen‘ folgen. Es ist eben „einerley Empfindsamkeit“, die alle vier der genannten Figuren „bildet“.563 Es liegt nahe, das Verb ‚bilden‘ an dieser Stelle im Sinne von ‚entstehen lassen‘ zu verstehen und es damit auf die Rezeption der Figuren durch die angeführten Kollektive zu beziehen. Wer als Held bzw. Heiliger, als Narr bzw. Bösewicht wahrgenommen wird, entscheidet stets das Herz, ganz unabhängig davon, ob sich der Kopf des verliebten, politischen oder religiösen Schwärmers dazu gesellt. Sulzers Mahnung vor einer ins Irrationale fehlgeleiteten Empfindsamkeit impliziert an dieser Stelle die MiniaturAnalyse einer Form der kollektiven Hingabe an exzeptionelle Individuen, ob sie nun im Bereich der Liebe, der Religion oder eben der Politik wirken. Für den politischen Helden bleibt damit festzuhalten, dass er hier als eine von Empfindung geformte Figur konturiert und der Heroisierungsprozess als potentiell über- bzw.
561 Sulzer (21793/3), S. 79. 562 Sulzer (21793/3), S. 78. 563 Sulzer (21793/3), S. 79. Ein ähnlicher Gedanke findet sich in Eberhards Eberhard Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens (21786): „Diese Stärke der Seele, ist an sich noch nicht tugendhaft, allein sie enthält eine schöne Anlage zu einem tugendhaften Charakter. Sie kann durch Vorurtheile, Unwissenheit, Rohigkeit und Leidenschaft irre geführt werden, und aus einem Menschen so gut einen Bösewicht als einen Held machen. Man kann es oftmahls nicht ohne Bedauern bemerken, wie viel Stärke der Seele für eine ungerechte oder nichtswürdige Unternehmung verschwendet wird.“ (S. 238).
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gesteigerter emotionaler Akt beschrieben wird. Abstraker formuliert tritt der Held als beispielhafte Figur – sicherlich neben anderen – im Rahmen einer Ästhetik in Erscheinung, die sich in hohem Maße für den Zusammenhang von Kunst und Politik interessiert, und in der die „empfindsame Seele“564 als Zentraladresse einer auf die Sinne gerichteten Herrschaftstechnik firmiert. Das Phänomen eines politischen Heldentums tritt, das ist festzuhalten, weder bei Sulzer noch bei anderen Autoren der psychologischen Empfindungstheorie als Hauptproblem auf. Auch in den erfahrungsseelenkundlichen Fallgeschichten, die für die Zeichnung der Figuren in den hier betrachteten politischen Dramen ideengebend sind, finden sich keine kohäsiven Einlassungen dazu. Der Held sowie das Heroismussujet tauchen, wie es für eine Allgemeine Theorie der schönen Künste erwartbar ist, erstens in der Diskussion um die poetische Figurengestaltung (der Held als literarische Hauptfigur), zweitens und wichtiger im Rahmen der Überlegungen zum Konzept künstlerischer Größe auf. ‚Heroisch‘ nämlich ist Sulzer zufolge der geniale Künstler. Wie auch im Falle des Helden zeichnet sich dessen seelische Disposition durch ein wohl austariertes, sittlich abgefedertes Gleichgewicht aus exzeptioneller Empfindungs- und Verstandesfähigkeit aus.565 In der Typologie des heroischen Genies tritt überdies die bereits diskutierte politische Direktion wohlverstandenen Kunstschaffens deutlich zu Tage. So schildert der Beitrag zum Attribut „heroisch“566, wie der Künstler durch die Bearbeitung nationaler Heldenstoffe zu eigener Größe aufzusteigen vermag. Der Artikel setzt mit dem Hinweis auf die historische Ubiquität und den imaginären Grund nationaler Heldenvorstellungen ein und legt dar, wie sich der Künstler jenen sogenannten Helden-„Wahn“567 und das allgemein verbreitete Vergnügen an heroischen Charakteren zunutze machen müsse. ,Das Heroische‘ gilt als die Tugend des Rezipienten beförderndes, bevorzugtes Sujet einer patriotischen Kunst. Sulzer unterbreitet den Vorschlag, den in erster Instanz vernunftfernen Heldenwahn im Prozess eines künstlerischen nation building zu sublimieren. Hierzu vollziehe der Künstler eine Art politischer Seelenkunde: Er müsse die Helden seiner Nation identifizieren, mit ihnen ‚(mit-)fühlen‘, ja ihre emotionale Disposition sowie ihre Triebfedern analysieren. Wer sodann von diesen ‚großen Männern‘ handeln wolle, müsse selbst zum ‚großen Künstler‘ werden. Die Erhebung zur nationalen Heldendichtung gelinge gerade nicht durch ungezügelte Einbildungskraft, sondern durch die praktizierte Balance von Kopf und Herz. Die Ausführungen schließen nahtlos an den „Künste“-Artikel an, in dem der politische Held ebenfalls als beispielhafte 564 Sulzer (21793/3), S. 77. 565 Vgl. auch Sulzer (21792/2), Artikel „Genie. (Schöne Künste.)“, S. 363. 566 Vgl. Sulzer (21792/2), Artikel „heroisch. (Schöne Künste.)“, S. 576–578. 567 Sulzer (21792/2), S. 577.
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Figur dafür firmiert, wie Vernunft und Sinnlichkeit einstimmig im sittlich ausgezeichneten Individuum zusammenzutreten vermögen. So stellt Sulzer heraus, dass Heroismus „nicht blos in kriegerischen Thaten, oder in Ausführung kühner Unternehmungen“ bestehe, sondern dass es vielmehr auf die „stille[n] heroische[n] Tugenden“568 ankomme, die den großen Künstler und den großen Mann gleichermaßen auszeichnen würden. Der Vermerk, den Begriff des Heroischen nicht bloß in kühnen Taten aufgehen zu sehen, darf vor dem Hintergrund des bisher Gesagten mithin als Warnung verstanden werden, und zwar vor einer den heroischen Einzelnen kennzeichnenden sowie von ihm ausgelösten, übersteigerten, eben ‚lauten‘ und nicht ‚stillen‘ Empfindsamkeit. Auch wenn Sulzer das Heroische im skizzierten Artikel vordergründig auf rein ästhetischer Ebene diskutiert, ist die dabei aufscheinende Problemkonstellation schon deswegen nicht als unpolitisch zu betrachten, weil in der Allgemeinen Theorie stets, wie im vorherigen Kapitel gezeigt, das Konzept einer das Nationale im Kern betreffenden Kunst im Hintergrund steht.569 Im Eintrag zum Heroischen führt indessen der Befund eines weltweit und epochenübergreifend beobachtbaren, politischen ‚Heldenwahns‘ zu den poetologischen Fragen nach dem stofflichen Potential, ja nach der Kunstfähigkeit des Heroischen und dem damit verbundenen Phänomen der Größe des Künstlers. Das Merkmal eines ausgeprägten Kopf-Herz-Gleichgewichts bezeichnet in Sulzers Artikel den Überschneidungspunkt zwischen dem Genie und dem politischen Helden. Die Anfälligkeit bzw. potentielle Fragilität dieser Balance gelangt jedoch sowohl in Sulzers Hinweis auf die mit der Figur des Helden verbundene Gefahr politischer Schwärmerei als auch in seinen ästhetischen Ausführungen zum Begriff des Heroischen unterschwellig zum Ausdruck. Für das Folgende ist dieser Zusammenhang insofern bemerkenswert, als in den Bemerkungen zu einer gesteigerten Empfindsamkeit des Genies und der mithin gefährlich übersteigerten Empfindsamkeit des Helden etwas aufscheint, das für den politischen Größe-Diskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts maßgeblich ist.
3.5 ‚Nur ein Held‘. Kein ‚großer Mann‘ – Zur Marginalisierung politischen Heldentums bei Abbt und Hirschfeld Mit Sulzer wurde ein Subjektmodell vorgestellt, das die menschlichen Empfindungen zentral stellt. Darüber hinaus hat die Analyse gezeigt, dass diese
568 Sulzer (21792/2), S. 577. 569 Vgl. dazu auch die Artikel zur „Empfindung“ (S. 53–59, bes. 57–59) in Sulzer (21792/2) und zum „Politischen Trauerspiel“ (S. 710–716) in Sulzer (21793/3).
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individualpsychologische Grundeinsicht in Sulzers ästhetischer Theorie eine wesentliche Rolle spielt, wenn es um die Frage nach einem Einflusspotential der Kunst geht. Die Kunst arbeitet – im positiven Fall – dem ‚guten Regenten‘ zu oder ermöglicht – im negativen Fall – die Manipulation von Kollektiven. In diesem Zusammenhang erfährt man etwas über das Feuer des Helden, und zwar im doppelten Sinne als gesteigerte Empfindsamkeit des heroischen Individuums einerseits und als leidenschaftlicher Zuspruch seiner Anhängerschaft andererseits. Die nachstehend diskutierten Konzepte personaler Größe fokussieren – im Unterschied etwa zum Geniediskurs – nicht nur künstlerische oder intellektuelle, sondern dezidiert politische Ausnahmefiguren. Die Diskurse über den ‚großen‘ oder auch ‚verdienstvollen Mann‘ sowie über die ‚heroischen Tugenden‘ verdienen im Rahmen einer Arbeit zum politischen Heldentum im Drama des späten 18. Jahrhunderts Aufmerksamkeit, weil sie in den betrachteten Texten immer wieder aufscheinen, aber keineswegs als Muster für die heroischen Dramenfiguren gelten können. Fokussiert werden im Folgenden Thomas Abbts Vom Verdienste (1764), Christian Cay Lorenz Hirschfelds Versuch über den grossen Mann (1768) sowie dessen Betrachtung über die heroischen Tugenden (1770). Es handelt sich dabei um weniger bekannte philosophische Traktate, die – in einer Sulzers Bemerkungen durchaus ähnlichen Weise – die Figur des politischen Helden diskutieren. Ich möchte herausarbeiten, dass die Autoren in ihren auf die innerseelischen Dispositionen gerichteten Typologien die individuelle Autonomie und das politische Machtpotential jener großen bzw. verdienstvollen Männer über Rationalitäts- und Sittlichkeitsaxiome einhegen. Verfolgt wird dergestalt eine ähnliche Argumentationsstrategie, wie sie auch Sulzer aktualisiert, um seine ‚empfindsame Staatskunst‘ vor der Gefahr einer übersteigerten Sinnlichkeit zu schützen, durch die einer Manipulation Tür und Tor geöffnet wäre. Es handelt sich um hochtrabende Subjektivitätsmodelle, die eine seelische Stabilität und Balance des herausragenden Ichs über verschiedene Autonomieparameter (Vernunft, Tugend, Bewusstsein, Freiheit, Wille etc.) begründen und absichern. Diese Vorstellungen verhalten sich geradewegs konträr zu Sulzers psychologischem und auch zum späteren erfahrungsseelenkundlichen Individualitätskonzept. Neben derart emphatischen Festlegungen des ‚großen Mannes‘ oder auch des ‚Mannes von Verdienst‘ beinhalten die Abhandlungen signifikante Bemerkungen zu einem politischen Heldenverständnis, das in direkter Opposition zum Größe-Konzept bzw. zur Kategorie des Verdienstes steht.570 Der Held wird dabei
570 Vgl. dazu auch Gamper und Kleeberg (2015), die anmerken, dass eine terminologische Differenzierung u. a. zwischen ‚Größe‘ und ‚Heldentum‘ für das 18. Jahrhundert charakteristisch sei (S. 10).
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als bloßer Kriegsheld diskreditiert; viel entscheidender aber ist, dass die Entstehung politischen Heldentums – in Analogie zum Sulzer’schen ‚Heldenwahn‘ – als Rezeptionsakt gefasst wird, indem allen voran die Kategorie des öffentlichen Ruhmes und der Tat zum Signum des Helden erklärt wird; und dies im Unterschied zum ‚großen Mann‘. Was im Inneren eines Helden vorgeht, hat, kontrastiv zur heroischen Gesinnung eines großen Mannes, bestenfalls marginale Bedeutung. Aufgezeigt wird indessen die Gefahr eines affektiven Exzesses, der für das heroische Handlungsprofil charakteristisch sei und der sich auf seine Anhängerschaft übertrage. Wenn so zwischen den Zeilen immer auch vom (Un-)Sinn des politischen Helden zu lesen ist, begegnet man der bei Sulzer angemerkten Gefahr politischer Schwärmerei wieder. Sulzers Darlegungen zu einer überbordenden Macht der Empfindsamkeit, die u. a. Helden ‚bildet‘, schlagen daher bereits die Brücke zum Größe-Diskurs, der wesentlich über die Abgrenzung zum politischen Helden funktioniert. 3.5.1 Thomas Abbt, Vom Verdienste (1764) Gleich zu Beginn seiner Abhandlung betont Abbt, dass die Zuschreibung von Verdienst stets die (öffentliche) Rezeption bestimmter Tätigkeiten voraussetze, (vgl. VV, S. 8) um aber unmittelbar darauf den eigentlichen Grund für ein derart außergewöhnliches Handeln als spezifisch innerseelische Kapazität auszuweisen:571 Aus „eigener Entschließung der Seele“ (VV, S. 8) müsse eine Tat hervorgehen, damit sie als verdienstvoll gelten kann. Auf diese Festlegung folgt ein Kriterienkatalog, der neben der inneren Autonomie des Handlungsträgers insbesondere die moralische Dimension verdienstvollen Handelns hervortreten lässt: Lasset uns diese zerstreueten Stralen des Verdienstes sammeln, und in ein deutliches Bild ordnen. 1) Handlungen, oder überhaupt Thätigkeit, 2) die andern zum Nutzen, 3) aus freyer Entschließung und reinen Absichten, oder, welches einerley ist, aus Wohlwollen. 4) zu einem erheblichen Zwecke. 5) durch Seelenkräfte, ausgeübt worden, diese können wir Verdienst nennen. (VV, S. 10–11)
Abbt diskutiert im anschließenden Kapitel die aussichtsreichsten „Candidaten des Verdienstes“ (VV, S. 13) in Form einer Typologie der Geistesgröße, der Seelenstärke sowie der Wohltätigkeit bzw. der Gutherzigkeit (vgl. VV, S. 13–188). Es bedarf an dieser Stelle keines akribischen Nachvollzugs der vorgeschlagenen Charakteristik, weil die entscheidenden Bestimmungen bereits im vorangestellten Kriterienkatalog angelegt sind und in den drei Unterkapiteln nur noch spezifiziert werden. Beachtung verdient indessen das dritte Hauptstück der Abhandlung, das 571 Vgl. Disselkamp (1993), S. 24; Immer (2008), S. 116.
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in Form von drei Sektionen verschiedene verdienstvolle Figuren gruppiert und differenziert.572 Für meine Fragestellung ist insbesondere der erste Artikel aufschlussreich, der u. a. das Verdienstpotential des politischen Eroberers diskutiert. Der Typus des Eroberers ist Abbt zufolge insofern problematisch, als seine Taten in der Regel erhebliche Gewaltopfer fordern und damit das zweite Kriterium des Verdienstes, der Nutzen für andere, außer Kraft gesetzt wird: „Was rühmen wohl von dem Eroberer die Tausende, die er unnöthiger Weise auf die Schlachtbank geführt, und die Zehntausende, die er dem Elend […] überliefert hat?“ (VV, S. 218) Allerdings schlägt Abbt eine Differenzierung vor, die den Eroberer unter einem bestimmten Umstand für verdienstfähig erklärt, wenn dieser nämlich einen großen Plan verfolge (vgl. VV, S. 220). Abermals ist hier das Bestreben zu erkennen, die außergewöhnliche Qualität des Verdienstes als vorbildliche charakterliche Disposition zu bestimmen. Die Geistesgröße des politischen Strategen ist es, die den ‚bloßen‘, d. h. von jedweder moralischen Verpflichtung absehenden vom verdienstvollen Eroberer oder auch: vom großen Mann trennt (vgl. VV, S. 221). Abbts Typologie behauptet aber noch eine dritte Art des Eroberers, dessen Handeln nur auf den ersten Blick verdienstvoll erscheint. Es handelt sich um den kriegerischen, politischen Helden, der Abbts rigide Kritik auf sich zieht: Die dritte Art [der Eroberer] stellt sich an die Spitze der Krieger, theilt mit ihnen alle Gefahren, erwirbt sich und schmückt, mit eigener Hand die Triumphe; wird Held; ein glänzender Charakter, der fast immer die Urtheile über das Verdienst wankend gemacht hat. Man muß sich beständig erinnern, daß ich von dem bloßen Eroberer rede. Also sehe ich auch bey diesem Helden nichts als Unerschrockenheit und Verachtung der Gefahren; keine besondere Größe des Geistes: denn man hat längstens angemerkt, daß sich der Plan der Eroberungen nach den sich eräugnenden Umständen erweitere oder entziehe. Das Wohlwollen ist auch hier wie ein lebendiger Quell in der Wüste – nirgends. (VV, S. 222)
Der politische Held wird hier – in der spezifischen Gestalt des Eroberers – als planloser oder den Gegebenheiten der Schlacht unterworfener, aber dennoch furchtlos-triumphaler Ausnahmekrieger porträtiert. Sein „glänzender Charakter“ könne jedoch letztendlich nicht über den Mangel an Geistesgröße und Wohlwollen hinwegtäuschen, so dass ein Aufstieg in die Riege der Verdienstvollen in weite Ferne rücken muss. Noch stärkere Kontur gewinnt Abbts Skepsis gegenüber dem so charakterisierten, politischen Helden, wenn im Folgenden affirmativ ein Passus aus Popes Lehrgedicht Vom Menschen (1734) zitiert wird (vgl. VV, S. 222–223): 572 Die Gruppierung gestaltet sich wie folgt: „1ter Artikel, vom Verdienste des Eroberers, des Soldaten und des Heiligen“, „2ter Artikel, vom Verdienste des großen Mannes“, „3ter Artikel, vom Verdienste des Schriftstellers, des Künstlers und des Predigers“ (VV, Inhaltsverzeichnis).
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Look next on greatness; say where greatness lies? ‚Where, but among the heroes and the wise?‘ Heroes are much the same, the point’s agreed, From Macedonia’s madman to the Swede; The whole strange purpose of their lives to find Or make an enemy of all mankind! No one looks backward, onward still he goes, Yet ne’er looks forward further than his nose.573
Popes süffisante Verse diskreditieren den politischen Helden als potentiell Wahnsinnigen, dem es an Übersicht mangele und dessen Progressionsbegehren stets auf den unmittelbaren, eigenen Handlungshorizont beschränkt bleibe, ja der gewissermaßen nur um sich selbst kreise. Dass ein solches, auf territoriale Expansion ausgerichtetes Heldentum jedweder Tugend entbehre und für die Menschheit verderbenbringend sei, beglaubigt Abbt zusätzlich durch ein ähnlich gelagertes Zitat aus Miltons Paradise regained (1671) (vgl. VV, S. 223). Derartige intertextuelle Bezüge stehen im Dienst einer Argumentationsstrategie, die den Begriff des Verdienstes und auch der Größe nur für ganz bestimmte politische Handlungsträger reserviert. Große bzw. verdienstvolle Männer tun nicht nur erfolgreich etwas Außergewöhnliches, sondern unterstellen ihre Handlungen erkennbar einem durchdachten Plan sowie einem höheren Ziel von allgemeinem Nutzen. Deutlich zeichnet sich hier das Ideal eines sowohl moralisch als auch intellektuell vorbildlichen großen Mannes im Bereich der Politik ab. Und ebendieser Typus wird bei Abbt und später auch bei Hirschfeld gerade nicht als Held bezeichnet. Im Gegenteil sei der bloß tätige politische Held Gegenstand berechtigter Kritik: Nichts kann gegen diese Beschuldigungen, Vorwürfe und Drohungen vorgebracht werden, wenn der Held, nichts als Held, ist: aber wenn er noch andre Ansprüche auf Verdienst vorzuweisen hat, als Belagerungen und Schlachten, […] so wollen wir ihn […] wegen seiner friedlichen Tugenden lieben und bewundern. (VV, S. 223–224)
Der Text entwirft an dieser Stelle abermals ex negativo ein Bild politischen Heldentums, dessen Hauptmerkmal in einer bisweilen kopflosen, aber außerordentlichen kriegerischen Tatkraft besteht. Auch an früherer Stelle des Traktats wird die erfolg- und ruhmreiche Ausführung von Kriegsaktivitäten als Kern des heroischen Leistungsprofils bestimmt: Vom „Siegesgepränge des Helden“ (VV, S. 84) ist dort in striktem Gegensatz zum Seelenstarken die Rede: Während heldenhafte Handlungen wahrgenommen würden, ja mehr noch von der Welt „mit ihrem 573 Pope (1993) [zuerst 1734], S. 88; Epistle IV, V. 217–224.
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Beyfalle“ (VV, S. 84) belohnt würden, beweise sich Seelenstärke nicht selten „in verschlossenem Zimmer“ (VV, S. 84), d. h. im privaten Kampf gegen innere Neigungen. Ein maßgeblicher Aspekt von Seelenstärke besteht demzufolge darin, „sich mit dem Zeugnisse eines guten Gewissens begnügen zu können“ (VV, S. 84). Neben dieser Gewissheit über die eigene moralische Integrität ist es die Macht über den eigenen Willen, die einen seelenstarken Mann auszeichne (vgl. VV, S. 99). Indem Kategorien wie ‚Gewissen‘ und ‚Wille‘ zur Charakterisierung herangezogen werden, tritt ein weiteres Mal zu Tage, dass es der hier vorgelegten Theorie personaler Besonderheit auf die innere Autonomie des Handelnden ankommt, ganz egal, wie dessen Taten rezipiert werden. Wenn Abbt von Helden spricht, geschieht dies in steter Abgrenzung zu den eigentlich verdienstvollen Charakteren. Ganz in diesem Sinne heißt es im Abschnitt über die Verdienste großer Männer, dass einige von ihnen zwar im Leben „die Bahn des Helden laufen“ (VV, S. 248), d. h. erfolgreich im Kriegsgeschehen agieren, wobei ein derart erworbener Heldenruhm gerade keine Größe begründe.574 Gilt es als wesentliches Kennzeichen großer Männer, „wichtige Veränderungen in dem Kreise, darinn sie wirken, zu Stande zu bringen“ (VV, S. 243), so bedarf es für derartige Innovationsleistungen keiner wohlwollenden Gesinnung des Handelnden. Wer aber über die große Tat hinaus zum verdienstvollen Mann aufsteigen will, der muss, so führt Abbt aus, eine moralische Handlungsmaxime erkennen lassen: Der große Mann wird auch ein guter Mann, wenn er jene große Veränderungen aus Wohlwollen wirket. […] Größe kann ohne Güte seyn, und Güte ohne Größe. Laßt uns jedem sein Recht ertheilen, das heißt, nicht seine Größe allein, nicht seine Güte allein, sondern sein ganzes Verdienst messen.575 (VV, S. 243–244)
Die Frage nach der Lauterkeit der Motive wird für den politischen Helden gar nicht erst gestellt, ja mehr noch scheint es geradewegs bedeutungslos zu sein, was sich im ‚Inneren‘ des Helden abspielt. Stattdessen werden fortgesetzt die große, kriegerische Tat sowie ihre Anerkennung durch andere als maßgebliche Bestimmungsmerkmale politischen Heldentums angeführt. In diese Richtung weist auch eine weitere Bemerkung über die Differenz zwischen Held und großem Mann:
574 Auch Disselkamp (1993) bemerkt, dass sich die Kategorie des Ruhms, die für die Bestimmung des Helden zentral ist, mit dem übergeordneten Konzept des Verdienstes nicht verträgt: „Ein Streben nach Ruhm ist mit diesem Verdienstbegriff, der jede Art von Eigennutz ausschließt, nicht zu vereinbaren. Es gehört vielmehr zu den wiederkehrenden Formulierungen der Abhandlung, daß das wahre Verdienst seinen Lohn bereits in sich selbst trage.“ (S. 24). 575 Disselkamp (1993) stellt heraus, dass ‚Größe‘ und ‚Güte‘ in Abbts Konzeption „als Maßstäbe für die Bewertung des Verdienstes“ (S. 26) fungieren.
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Nach den Helden folgen die [großen] Männer, welche für ein oft undankbares Volk sorgen, und sich durch Geschrey und Fluchen und Lästerschriften, sogar durch Mißhandlungen, die sie leiden, von ihrem Vorhaben nicht abwendig machen lassen. (VV, S. 101)
Helden mögen durch ihre kriegerischen Taten hervortreten; die staatsmännische Sorge für ein Volk ist, folgt man Abbt, nicht ihr genuines Geschäft. Stattdessen ist damit das Betätigungsfeld des großen Mannes bezeichnet, dem zwar nicht der unmittelbare Beifall der Menge, wohl aber im Nachhinein historischer Ruhm zuteil werde. 3.5.2 Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Versuch über den grossen Mann (1768) Während Abbt dem großen Mann lediglich wenige Seiten seiner umfangreichen Abhandlung Vom Verdienste widmet (vgl. VV, S. 243–252), legt Christian Cay Lorenz Hirschfeld nur drei Jahre später einen knapp 270 Seiten starken Versuch über den grossen Mann vor. Die bei Abbt vorgezeichnete Pejorisierung politischen Heldentums findet sich darin wieder, wobei Hirschfeld seine Helden-Kritik an die Gefühlsfrage knüpft, d. h. eine übersteigerte Emotionalität des Helden kritisch in Augenschein nimmt. Hirschfelds Versuch setzt mit einer Bestimmung ein, die prinzipiell jedem die Möglichkeit eröffnet, ein großer Mann zu sein: „Nicht das zufällige Glük eines vornehmen Herkommens, sondern nur persönliche Eigenschaften, nur die Größe des Geistes, und der Sele machen einen grossen Mann. Man mus, wenn man gros heissen wil, es persöhnlich sein.“ (GM, S. 5–8) Vielleicht noch deutlicher als bei Abbt ist damit ein ständisches Zugangsreglement außer Kraft gesetzt, das es nur den höheren Gesellschaftsschichten erlauben würde, Größe zu erlangen.576 Für den hier verfolgten Zusammenhang von besonderem Belang ist allerdings die mit Abbts Darlegungen übereinkommende Festlegung, dass Größe im Kern eine spezifische charakterliche Disposition bedeute. Die konkreten Merkmale großer Männer präsentiert Hirschfeld in Form einer emphatisch vorgetragenen Liste: Nicht also der Besitz höher Würden an sich selbst, sondern der ausgebreitete, scharfsichtige und thätige Geist, der feste und standhafte Muth, die erhabenen Gesinnungen der Gerechtigkeit und Wohlthätigkeit, womit sie verwaltet werden; und die Unempfindlichkeit gegen ihre Bezauberungen, die Überwindung der Eindrükke, die sie auf das menschliche Herz gewöhnlicher Weise zu machen pflegen, und ihre freiwillige Niederlegung aus grosmüthigen Bewegungsgründen, dieses sind die ächten Kenzeichen eines grossen Mannes. (GM, S. 12–13)
Eine besondere intellektuelle Begabung, die beharrlich tätig umgesetzt wird, sowie ein ausgeprägtes moralisches Ethos sind diejenigen Eigenschaften, die den 576 Vgl. in diesem Sinne zu Abbt Disselkamp (1993), S. 24; Immer (2008), S. 116.
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veritablen großen Mann auszeichnen würden.577 Hirschfeld diskreditiert dagegen „die Grossen des Staats“ (GM, S. 11), welche diesen Titel lediglich „wegen der ihnen anvertrauten Macht, wegen ihres Ansehns, oder [...] wegen der Wichtigkeit ihrer Pflichten“ (GM, S. 11) tragen würden. Damit seien allerdings nur Fälle „äussere[r] Grösse“ (GM, S. 11) im Bereich der Politik beschrieben. Konstrastiv nobilitiert Hirschfeld eine weitere Form von Größe, die eine innere Autonomie des politisch Handelnden zum Ausdruck bringt: Bei dem Gebrauche, und bei der Verachtung des Reichthums, der Macht und der Herschaft erkennet man erst recht den grossen Mann; und hier zeiget uns die Geschichte Roms Helden, die, wegen ihrer Mässigung, Enthaltsamkeit und Verleugnung, mehr unsrer Bewunderung würdig sind, als da, wo ihr grosser Geist und ihre Tapferkeit die Gränzen seines Gebietes erweiterte. Denn der grosse Mann braucht, um diesen Nahmen zu verdienen, keines andern Reichthums, als die erhabenen Eigenschaften seines Geistes, und seines Herzens, und keiner andern Macht und Herschaft, als über sich selbst. (GM, S. 14)
Abgewehrt wird hier die Vorstellung einer ungezügelten Machtbegierde des großen Mannes; wenn dieser Macht ausübe, dann in erster Linie über sich selbst. Es geht um ein Ethos des Handelns, das keine territoriale Expansion anstrebt, sondern das stets ‚das rechte Maß‘ finde. Es folgt eine groß angelegte Schelte auf den bereits bei Abbt kritisierten Typus des „ungerechten Eroberer[s]“ (GM, S. 17) bzw. des „Eroberer[s], der weiter nichts als dieses ist“ (GM, S. 18). Hirschfeld mokiert sich über politische Akteure, die scheinbar Großes vollbringen, in Wahrheit aber bloß eigennützig, hab- und herrschsüchtig, ehrgeizig und grausam agieren würden (vgl. GM, S. 16–17).578 Der Text entwirft ein plastisches Negativbild kriegslüsterner Eroberer, die aus Ekel an der Ruhe die Waffen in die Hand nehmen, […], und, […] mit erhitzten Kriegsheeren alles in Bewegung und Unordnung sezzen, den Frieden und den Wohlstand [des] eigenen Vaterlandes untergraben, die friedfertigen Nachbaren neben sich ausrotten, die Freiheit ganzer Völker zerstören, und sie unter ein hartes Joch bringen, sich alles mit dem Schwerdte unterwürfig machen. (GM, S. 16–17)
Wie schon Abbt zeigt sich Hirschfeld bemüht, diesem Typus Größe zuzusprechen.579 Und wieder in Anlehnung an Abbt wird im Folgenden eine auf dieser 577 Gamper (2014) bemerkt, dass Hirschfeld „den ‚großen Mann‘ als Tugendhelden“ (S. 19) neu konzipiere. Zu ergänzen ist, dass das vorliegende Größe-Konzept nicht nur eine gesteigerte Moralität, sondern auch Intellektualität umfasst. 578 Vgl. dazu auch Gamper (2014), S. 19–20. 579 Gamper (2014) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Neusemantisierung“ (S. 18) des Größe-Konzepts im 18. Jahrhundert. In Erweiterung einer vereinzelt schon in der Frühen Neuzeit, etwa bei de la Bruyère, vorgeprägten Skepsis gegenüber bloßer Kriegsgröße, etabliere
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Abneigung gegen bloß kriegerische Großtaten fußende Unterscheidung zwischen dem politischen Helden und dem großen Mann vorgeschlagen: Wenn sich auch in kriegerischen Eigenschaften eine Grösse findet, und Helden von Talenten und Tugenden, die über das Gemeine sich erheben, gros genant werden, weil sie es in der That sind; so ist doch zwischen dem Helden und dem grossen Mann der Unterschied, daß sich dieser in allen Ständen, in allen Verbindungen und Sphären, und jener nur in einer einzelnen zeigt. (GM, S. 20)
Hirschfeld schließt ein Zitat aus La Bruyères Caractères (1687) an, um zu verdeutlichen, dass sich der Held lediglich im Krieg zeige. Nach dem französischen Moralisten sei die Differenz zwischen Held und großem Mann in der Schlacht nur schwer festzustellen. Eine genauere Betrachtung jedoch verrate, dass der Held „jung, unternehmend, von einer hohen Tapferkeit, standhaft und unerschrocken in den Gefahren“580 sei, wohingegen sich der große Mann „durch einen grossen Verstand, durch eine sich weit ausbreitende Vorhersehungskraft, durch eine hohe Fähigkeit, und durch eine lange Erfahrung“581 im Kriegsgeschehen auszeichne.582 Hirschfeld rekurriert hier auf eine Gegenüberstellung von Heldentum und Größe im Kontext des Krieges, welche die tapfere, unerschrockene, aber eben auch kaum durchdachte Tat zum Signum des Helden erklärt, eine gesteigerte intellektuelle und strategische Kapazität hingegen als Merkmal des großen Mannes ausweist. Letzterer könne sich denn auch in anderen Zusammenhängen beweisen, etwa „beim Nachsinnen für die Wohlfahrt anderer Menschen, bei wichtigen Erfindungen, bei verschwiegenen nüzlichen Unternehmungen“ (GM, S. 21)583.
sich im 18. Jahrhundert das „neue[ ] Ideal[ ] des ‚grand homme‘, der als Mann von besonderen Fertigkeiten im Dienste des gemeinen Wohles gezeichnet wurde“ (S. 18). So auch Gaehtgens/ Wedekind (2009), S. 4–5. Vgl. Bonnet (1998). 580 La Bruyère zit. n. GM, S. 21. Vgl. auch La Bruyère (1978) [zuerst 1687], S. 63. 581 La Bruyère zit. n. GM, S. 21. Vgl. auch La Bruyère (1978), [zuerst 1687], S. 63. 582 La Bruyère (zit. n. GM) veranschaulicht diese Gegenüberstellung auch durch den Vergleich zweier historischer Figuren: „Vielleicht war Alexander nur ein Held; und Cäsar ein grosser Mann.“ (S. 21) Immer (2008) stellt heraus, „daß Alexander vor allem im 18. Jahrhundert zu einer markanten Demonstrationsfigur für heldisches Fehlverhalten avanciert“ (S. 122), und diskutiert verschiedene literarische Alexander-Persiflagen (vgl. S. 122–127). Gamper (2014) macht auf die entsprechenden schon im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit kursierenden Textzeugnisse aufmerksam (vgl. S. 18). 583 Als konkrete Tätigkeitsfelder des großen Mannes benennt Hirschfeld Kunst, Wissenschaft und Politik (vgl. GM, S. 63).
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Darüber hinaus findet sich bei Hirschfeld das schon bei Abbt geführte Argument wieder, dass es für den Erwerb von Größe keinesfalls der öffentlichen Anerkennung bedürfe:584 Wann wird doch einmal der Mensch begreifen, daß jemand in einem vielfachen Verstande ein grosser Mann sein kan, ohne die Welt in Erstaunen zu sezzen, ohne sie mit einem Geräusche zu erfüllen, ohne sie einmal von sich reden zu machen? Die Menge legt freilich nur denen, die in der Welt ein Aufsehen machen, den Nahmen der Grossen bei; und übersieht die, die ihn durch erhabene Talente und Gesinnungen und wenig bemerkte grosse Handlungen in der Stille verdienen. (GM, S. 23)
Dem sich unmittelbar anschließenden Absatz lässt sich entnehmen, dass damit auch etwas über den Helden gesagt ist. Dort wird kritisiert, wie man „die von Vorurtheilen geblendete Menge [über] den Werth grosser Männer entscheiden“ (GM, S. 23) lassen könne. Die nur auf spektakuläre Taten achtende Menge habe „manchen Regenten und Helden […] den Beinahmen der Grosssen gegeben, weil sie vielen Lerm auf der Erde gemacht“ (GM, S. 23–24) hätten. Damit wird der Heldenstatus abermals an die öffentliche Anerkennung gebunden. Helden machen von sich reden, verbreiten Lärm, erlangen Ruhm, wohingegen „der grosse Mann, weil er bescheiden ist, um seinen eigenen Glanz eine Art von Wolken [wirft], unter welchen ihn sein blödsichtiger Zeitverwandte nicht erblickt“ (GM, S. 22)585. Was Hirschfeld dergestalt mit ins Kalkül zieht, ist die Bedeutung der Rezipient*innen für den Heroisierungsvorgang, wohingegen die Blicke der anderen für die Konstitution des großen Mannes nicht ausschlaggebend seien.586 Hirschfeld gliedert seine dem skizzierten Vorspann folgende Untersuchung in drei Teile: „[Z]um volständigen Begrif von einem grossen Manne […] gehören: ein grosser Geist, grosse Gesinnungen, grosse Handlungen“ (GM, S. 70). Ich skizziere diese Sektionen nachstehend, um exemplarisch die Grundelemente des politischen Größe-Diskurses in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu fixieren, auf die in den Dramentexten je unterschiedlich und meistens kritisch-parodierend Bezug genommen wird. Dabei kommt denjenigen Passagen besondere Aufmerksamkeit zu, in denen das emphatisch vorgetragene Größe-Konzept – in der Regel 584 Es wird sogar ein Passus aus Abbts Traktat zitiert, um diesen Zusammenhang zu belegen (vgl. GM, S. 22). 585 Hierin liegt eine weitere Parallele zu Abbts Darlegungen, die sich auch in der Wahl der Metaphorik äußert: Wo Abbts Seelenstarker „in verschlossenem Zimmer“ (VV, S. 84) verharre, bleibt Hirschfelds großer Mann „in der Dunkelheit einer entlegenen Hütte verborgen“ (GM, S. 22). 586 Zentral für Hirschfelds Konzept ist die Entkoppelung der Größe vom Aspekt der öffentlichen Wahrnehmung bzw. Anerkennung: „Es ist gewis, daß man gros sein kan, ohne berühmt zu sein; und berühmt, ohne gros zu sein. Ruhm und wahre Grösse sind weit von einander unterschieden“ (GM, S. 26).
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ex negativo – eine herabsetzende Bestimmung politischen Heldentums hervortreibt. Ein großer Geist erhebt sich nach Hirschfelds Überzeugung nicht „mit dem gewöhnlichen Maas der Erkenntniskräfte“ (GM, S. 74). In hochtrabender Rhetorik wird der Bildungsgang eines „Gelehrten“ (GM, S. 77) geschildert, der sämtliche Wissensgebiete durchlaufe (vgl. GM, S. 73–77). Doch nicht nur „von einem Bakon, von einem Grotius“ (GM, S. 77), von gelehrter Geistesgröße also, berichtet der Versuch über den grossen Mann. Auch im politischen Kontext sei diese Eigenschaft von Bedeutung, so nämlich beim Staatsmann oder Feldherren (vgl. GM, S. 77–78). Ob nun im Studierzimmer oder „im Cabinette, im Felde, auf dem Thron“ (GM, S. 79) – stets ist es ein das gewöhnliche Niveau überschreitendes Wissen über das jeweilige Betätigungsfeld, das Geistesgröße verheißt (vgl. GM, S. 79, 81, 82). Dabei handele es sich jedoch nicht um ungeprüfte Wissensanhäufung, sondern eigenständig und radikal kritisch vollziehe sich der Wissenserwerb des ‚großen Geistes‘, der sich eben „nicht [als] Sklave der Meinung, sondern [als] Herr und Richter über sich selbst“ (GM, S. 82) auf intellektuellem Gebiet hervortue. Des Weiteren seien „eine richtige und geschwinde Beurtheilungskraft, und eine durchdringende Scharfsinnigkeit […] als ein unzertrennliches Eigenthum des grossen Geistes anzusehen“ (GM, S. 86–87). Die letztgenannte Eigenschaft äußere sich auf dem Feld der Politik etwa als „Adlerauge“ des Feldherrn, das „mitten in dem Getümmel der Schlacht“ (GM, S. 88) den Überblick bewahre. Entscheidend sei überdies die Fähigkeit zur gezielten Wissensanwendung (vgl. GM, S. 89–92), woraus schließlich eine persistierende „Geschäftigkeit des Geistes mit wichtigen Vorstellungen, Entwürfen, Unternehmungen“ (GM, S. 94) resultiere, die mit einem hohen Maß an „Erfindsamkeit“ (GM, S. 95) sowie mit einer gesteigerten Geistesgegenwart einhergehe (vgl. GM, S. 97). Ein derart wacher Geist wisse seine Affekte jederzeit stillzustellen, ja zu überwinden (vgl. GM, S. 98–99).587 Hirschfeld schließt sein euphorisches Porträt, indem er die Klugheit als ranghöchste intellektuelle Kapazität unter den großen Geistesfähigkeiten inthronisiert, ja zur „götliche[n] Fertigkeit“ (GM, S. 101) erklärt. Der Abschnitt über die großen Gesinnungen ist deutlich ausführlicher als die Ausführungen zur Geistesgröße sowie zu den großen Handlungen. Auf fast 150 Seiten profiliert Hirschfeld voller Begeisterung einen in seiner moralischen Integrität nahezu makellosen großen Mann.588 So heißt es gleich zu Beginn: „Der Grund grosser Gesinnungen lieget in der Liebe zur Tugend, in der festen 587 Auf die den großen Mann auszeichnende Gewalt über seine Leidenschaften wird noch zurückzukommen sein. 588 Dass der Aspekt einer außergewöhnlichen Moralität des großen Mannes so umfänglich ausgeführt wird, spricht wiederum für Gampers (2014) Einschätzung, die Tugend als zentralen
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und unveränderlichen Neigung zur Erfüllung aller Pflichten, die der Mensch als Mensch, als Bürger, als Christ, und in ieder besondern Verbindung zu beobachten hat.“ (GM, S. 109) Als Hauptfeinde der Tugend gelten Hirschfeld in guter Tradition die Leidenschaften (vgl. GM, S. 111) und dementsprechend widmen sich die folgenden Ausführungen ganz dem Umgang des großgesinnten bzw. des tugendhaften großen Mannes mit ebendiesen. Dabei wird nicht für eine gänzliche Affektabwehr plädiert, sondern für eine maßvolle Herrschaft über die Leidenschaften, auf dass sie die große Seele „nicht in ihren erhabenen Gesinnungen, und in der Erfüllung ihrer Pflichten hindern, sondern ihr selbst darin behülflich werden“ (GM, S. 112). Die Leidenschaften werden somit als sittlicher Stimulus wertgeschätzt (vgl. GM, S. 139). Wie eine solche Affektkontrolle im Bereich der Politik aussehen kann, wird am Beispiel des römischen Feldherren Lucius Aemilius demonstriert. Hirschfeld referiert – wie so oft ohne Angabe seiner antiken Quellen – eine Episode aus dem dritten Makedonisch-Römischen Krieg. Ich möchte kurz genauer auf die Textstelle eingehen, um zu zeigen, dass Hirschfeld hier, wie gesagt ohne Verweis, insbesondere der Überlieferung der Szene bei Livius folgt und diese gleichzeitig im Sinne seines Größe-Konzeptes verändert. Der Passus über Lucius Aemilius kann als einschlägiges Beispiel dafür gelten, wie selektiv und tendenziös sich die Antike-Bezüge im Versuch über den grossen Mann nicht nur an dieser Stelle gestalten. Im gesamten Traktat werden immer wieder Figuren vor allem der römischen Historie zur Illustration der Typologie des großen Mannes angeführt. Die antiken Referenzfiguren modifiziert Hirschfeld freimütig zugunsten seines Idealbildes. So werden auch im Falle von Lucius Aemilius nur bestimmte Eigenschaften exponiert, ja der römische Konsul wird geradezu zum großen Mann verklärt. Im Fokus der Szene steht das Kriegsende – zu datieren auf das Jahr 168 v. Chr.589 – bzw. die Szene, als der unterlegene makedonische König Perseus in Trauerkleidern ins Lager des siegreichen römischen Konsuls Lucius Aemilius Paulus kommt und die Niederlage offiziell anerkennt. Hirschfeld will damit veranschaulichen, wie sich der große Mann im Krieg auch dann seiner Tugenden bewusst sei, wenn er einen Feind bezwungen hat. In diesem Fall sei die leidenschaftliche Neigung, sich in überheblicher Siegeseuphorie zu verlieren, besonders ausgeprägt, wobei der große Mann dieser Versuchung gerade widerstehe: Wenn der Feldherr an der Spizze eines tapfern Heeres, […] nicht blos mit dem Feinde, den er vor sich hat, sondern auch mit dem, den er in seinem Busen trägt, streitet, wenn er zu den
Punkt in Hirschfelds Größe-Konzept auszuweisen (vgl. S. 19), wobei dieses eben auch eine exzeptionelle Intellektualität umfasst. 589 Vgl. die Datierung in Liv., 45, 7.
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Siegen, die er über ihn erhält, auch die sezzet, die er über sich selbst erkämpft, wenn er, indem er jenen durch Klugheit und Standhaftigkeit, überwältiget hat, unter dem Getümmel seines Sieges ihnen gebietet, des Ueberwundenen zu schonen, unter den Frolokkungen und Glükwünschen der geretteten Provinzen den Stolz des Herzens, der sich alsdan so leicht erreget, bezwingt, seine Freude mässiget, nichts Uebermüthiges wil, und nur auf Beispiele der Gerechtigkeit und Grosmuth sint: wie gros, wie erhaben erscheinen uns alsdann nicht seine Gesinnungen, und wie laut wird nicht die Bewunderung, die sie der Welt abfordern? (GM, S. 122–123)
Anschließend wird die Begegnung zwischen dem römischen Feldherren und dem geschlagenen makedonischen König geschildert – eine tränenreiche Begegnung: Lucius Aemilus sei Perseus „mit weinenden Augen“ (GM, S. 123) gegenüber getreten. Mit welcher Lebhaftigkeit Hirschfeld die Szene evozieren möchte, zeigt sich auch in den an die Phantasie der Leserschaft appellierenden Konjunktivformeln: „Man stelle sich einen Aemil nach dem Tage eines der prächtigsten Siege, die jemals in der Geschichte erzählet worden, mitten unter seinem frolokkenden Heere vor“ oder „man sehe den grosmüthigen Sieger“ (GM, S. 123). Was man hier sehen könne und gleichzeitig bewundern soll, ist der mitleidig-zugewandte Empfang, den der Feldherr dem unterlegenen Kriegsgegner bereitet: Man sehe den grosmüthigen Sieger seinem überwundenen Feind, dem lezten macedonischen Könige, Perseus, der, nach dem Verluste der Schlacht, seines glänzenden Throns, seines mächtigen Reiches, […], in Trauerkleidern gehült, in das römische Lager gefangen eingeführet wird, mit weinenden Augen entgegengehen, ihm die Hände reichen, alle Demüthigungen verbitten, und ihn in die Versamlung seiner Officiere vom ersten Range sezzen. (GM, S. 123)
Es folgt ein kurzes Gespräch, in dem Lucius Aemilius Perseus zunächst „vol Sanftmuth und Mitleiden“ (GM, S. 123–124) befragt und ihm sodann „Muth unter seinem Schicksale“ (GM, S. 124) zuspricht. Doch nicht nur im direkten Umgang mit dem unterlegenen König habe Aemilius Größe bewiesen. Mehr noch habe der römische Feldherr sein tugendhaftes Ethos in Form einer pädagogischen Rede an seine Untergebenen weitertragen wollen. An dieser Stelle schiebt Hirschfeld einen Passus wörtlicher Rede des Feldherrn ein: ‚Ihr sehet hier ein grosses Beispiel von dem Unbestande der menschlichen Dinge; euch besonders, ihr jungen Kriegsmänner betrift diese Rede. Die Ungewisheit dessen, was uns von einem Tage zum andern begegnen kan, mus uns die Lehre geben, uns niemals im Glükke stolz und heftig, gegen wen es auch immer sein mag, zu bezeigen, und uns niemals auf das gegenwärtige Glük zu verlassen. Die Probe eines ächten Verdienstes ist diese, daß wir uns bei einem glüklichen Erfolg nicht hochmüthig machen und bei einem unglüklichen nicht niederschlagen lassen.‘ (GM, S. 124–125)
Als Quintessenz kann der Rat gelten, sich nicht von einem Sieg leidenschaftlich überwätigen zu lassen und in jeder Lage die Kontrolle über die eigenen Affekte
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zu bewahren; Aemilius rufe hier zur steten „Mässigung […] [der] eigenen Leidenschaften“ (GM, S. 125) auf. Und so sieht Hirschfeld in den Worten und Taten des Konsuls alle „Kenzeichen einer erhabenen Sele“ (GM, S. 125) versammelt. Was allerdings unerwähnt bleibt, ist der Umstand, dass die antike Darstellung der Episode bei Livius, auf die Hirschfeld offensichtlich Bezug nimmt, ein ungleich komplexeres Bild des römischen Feldherren zeichnet. Die entsprechende Szene findet sich im 45. Buch von Ab urbe condita. Auch bei Livius fließen Tränen, allerdings vergießt Lucius Aemilius diese nicht in unmittelbarer Gegenwart des Unterlegenen. Zunächst wird von einem Ereignis berichtet, das sich im Vorfeld des Zusammentreffens zwischen dem Konsul und dem bereits besiegten König ereignet habe: Perseus schickt hier drei Boten zu Aemilius, die diesem in Trauerkleidung und ihrerseits unter Tränen einen Brief übergeben.590 Bei ihrem Anblick „soll auch er selbst [Aemilius] geweint haben“591, und zwar über den tragischen Fall eines derart bedeutenden Kriegsherren. Sein Mitleid sei allerdings umgehend verflogen, da Perseus im Brief an der Selbstbezeichnung als ‚König‘ festgehalten und sich damit nicht in seine Verliererrolle gefügt habe.592 Erst nach Aufgabe des Königstitels sei Aemilius bereit gewesen, in Verhandlungen mit Perseus einzutreten.593 Deutet schon der bei Livius nachzulesende Vorspann zur Begegnung an, dass es hier eher um einen Machtkampf zwischen zwei Kriegsgegnern denn um die Herzenswärme des Siegers geht, so setzt sich diese Tendenz in der Schilderung des Aufeinandertreffens fort. Wesentlich verhaltener tritt Aemilius dem Trauer tragenden Perseus daher auch entgegen: Der Konsul erhob sich – die anderen aber hatte er aufgefordert, sitzen zu bleiben –, ging dem eintretenden König etwas entgegen, streckte ihm die rechte Hand hin, und als er sich ihm zu Füßen warf, hob er ihn auf und duldete es nicht, daß er seine Knie umfaßte, führte ihn in das Zelt hinein und ließ ihn denen gegenüber Platz nehmen, die er zum Kriegsrat gerufen hatte.594
Ganz im Gegensatz zu Hirschfeld berichtet Livius von einer politischen Choreographie, die ein eindeutiges Machtgefälle zwischen Sieger und Besiegtem zum Ausdruck bringt. Von einer emphatischen symbolischen Inklusion des Unterlegenen, wie sie Hirschfeld skizziert, kann dabei keine Rede sein. Vielmehr performiert der römische Regent einen Empfang, der den Gegner in einem kontrollierten Gestenspiel dem militärischen Verfahren übergibt. Es schließt sich, nach 590 Vgl. Liv., 45, 4. 591 Liv., 45, 4. 592 Vgl. Liv., 45, 4. 593 Vgl. Liv., 45, 4. 594 Liv., 45, 7.
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Livius, eine Befragung des makedonischen Kriegsherren durch Aemilius an, in der es weniger darauf anzukommen scheint, Perseus’ Kriegsgründe tatsächlich herauszufinden, sondern die nicht eben subtil das „Unrecht“595 anprangert, das dem römischen Volk durch die Makedonier widerfahren sei. Mehr noch wird Perseus als Kriegsaggressor gemaßregelt, wohingegen Rom stets eine Politik der „größten Redlichkeit“596 [„cum summa fide“] und ehrenhaften „Milde“597 verfolgt habe. Jene Milde ist aber, auch hier liegt ein entscheidender Unterschied zu Hirschfelds Darstellung, nicht eine persönliche Tugend des Herrschers, sondern „[d]ie Milde des römischen Volkes“598 [„populi Romani clementia“], auf die der während der gesamten Interrogation schweigende Perseus rechnen könne. Und so geht es auch in dem Appell, den der Livianische Aemilius an die jungen Krieger richtet,599 nicht um die tugendhafte Selbstbeherrschung des großen Mannes, sondern um ein Plädoyer für ‚mannhafte‘ und kontingenzbewusste Vorsicht angesichts schicksalsmäßiger Unberechenbarkeit im Kriegsgeschehen: ‚Ihr seht hier ein eindrucksvolles Beispiel für die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge. Dies sage ich vor allem zu euch, die ihr noch jung seid. Es ziemt sich also, wenn es einem gut geht, nicht übermütig und gewalttätig gegen jemand zu sein und nicht auf das Glück des Augenblicks zu vertrauen, da es ungewiß ist, was der Abend bringt. Der wird am Ende ein Mann sein, den ein günstiges Geschick nicht übermütig macht und ein widriges nicht zerbricht.‘ ‚Exemplum insigne cernitis‘ inquit ‚mutationis rerum humanarum. Vobis hoc praecipue dico, iuvenes. Ideo in secundis rebus nihil in quemquam superbe ac violenter consulere decet nec prasenti credere fortunae, cum, quid vesper ferat, incertum sit. Is demum vir erit, cuius animum neque prosperae [res] flatu suo efferent nec adversae infringent.‘600
Der lateinische Originaltext ist an dieser Stelle wiedergegeben, um zu zeigen, dass es sich bei dem wörtlichen Redepassus, der in Hirschfelds Traktat auftaucht, offensichtlich um eine Livius-Übersetzung handelt, die allerdings nicht als solche ausgewiesen wird. Die größte Auffälligkeit der Hirschfeld’schen Übertragung besteht darin, dass der Halbsatz „Is demum vir erit“ recht frei mit „Die Probe eines ächten Verdienstes ist diese“ übersetzt wird. Hirschfeld kommt es darauf an, das Verhalten des römischen Feldherren gegenüber dem besiegten
595 Liv., 45, 8. 596 Liv., 45, 8. 597 Liv., 45, 8. 598 Liv., 45, 8. 599 Für seine Ansprache wechselt der Feldherr, wie Livius betont, ins Lateinische, während er mit Perseus in dessen griechischer Muttersprache spricht. Dieses Detail ist als weiteres Indiz dafür zu werten, dass Aemilius auch auf sprachlicher Ebene eine klare Machtposition gegenüber dem schweigenden makedonischen König zu etablieren sucht. (Vgl. Liv., 45, 8). 600 Liv., 45, 8.
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Feind als verdienstvoll und sicher auch als tugendhaft auszuweisen, wohingegen Aemilius in Livius’ Schilderung einem militärisch-nationalen Ehrgefühl folgt. Das will natürlich nicht recht passen zu Hirschfelds euphorischem Porträt individueller Kriegsherren-Größe. Ebenso wenig zusammen geht es mit dem im 40. Kapitel der Römischen Geschichte beiläufig erwähnten Umstand, dass Perseus während des Triumphzugs durch Rom „in Ketten vor dem Wagen des siegreichen Feldherrn durch die Stadt geführt wurde“601, wobei Aemilius „in Gold und Purpur prangte“602 – ein Detail, das Hirschfeld im Sinne seines Konzepts ausspart.603 Der Exkurs zu Lucius Aemilius soll in Hirschfelds Ausführungen zu den großen Gesinnungen, daran sei noch einmal erinnert, als rühmliches Beispiel dafür gelten, wie die Affektkontrolle des großen Mannes gerade auch in Situationen verführerisch großen Erfolgs intakt bleibe. „[K]leine Selen“ hingegen verlören sich angesichts derartiger Glückssträhnen, „ganz von der Eitelkeit und der Eigenliebe trunken“, in „einem unaufhörlichen Taumel“ (GM, S. 121). Wie Naturgewalten,
601 Liv., 45, 40. 602 Liv., 45, 40. 603 Auch Plutarchs Schilderung der Episode deckt sich kaum mit Hirschfelds Größe-Phantasie. Zwar wird Aemilius hier zugewandter als bei Livius geschildert. Er sei Perseus „wie einem großen Manne, der einen vom Schicksal verhängten, herzbewegenden Fall getan hat, […] unter Tränen entgegen“ (Plut., Aem., 26) gegangen. Allerdings habe Perseus den „schmählichste[n] Anblick“ geboten, indem er sich vor Aemilius niedergeworfen und „unwürdige Lauten und Bitten“ (Plut., Aem., 26) geäußert habe. Wie bei Livius geht es auch hier allen voran um die Performanz eines nationalen Kriegsethos, denn Aemilius wirft dem Makedonier vor, er zeige sich als „unedle[r], der Römer nicht würdige[r] Gegner“ (Plut., Aem., 26) und unterminiere dadurch den Triumph. Ebenso wird eine Rede des Feldherrn an sein Heer geschildert, die sich sinngemäß mit dem Livianischen Text deckt, aber stärker betont, dass Aemilius Perseus’ Schicksal zum Ausgangspunkt einer an die Nachwuchskrieger gerichteten Erziehungsmaßnahme macht: „Viele Mahnungen dieser Art soll Aemilius an die jungen Leute gerichtet und sie erst entlassen haben, nachdem er ihre Überhebung und ihren Übermut mit seinem scharfen Wort wie mit einer Kandare gehörig gezügelt hatte.“ (Plut., Aem., 27) Beide Autoren porträtieren Lucius Aemilius somit nicht als großmütigen und maßvollen Besonderen, sondern als einen auf die nationale Ehre bedachten Kriegssieger. Zusätzlich findet sich auch bei Plutarch ein Bericht vom Triumphzug durch Rom. Für die hier verfolgte Lesart spricht dabei ein bei Plutarch geschildertes Detail: So habe Perseus den römischen Herrscher im Vorfeld darum gebeten, nicht öffentlich vorgeführt zu werden (vgl. Plut., Aem., 34). Das Gnadengesuch wird aber barsch abgeschmettert: „Aber Aemilius hatte, über seine [Perseus’] Feigheit und sein Hängen am Leben spottend, geantwortet: ‚Das stand ja schon früher in seiner Hand und steht es noch jetzt, wenn er nur will‘, womit er auf den Tod als Mittel, der Schande zuvorzukommen, hindeutete.“ (Plut., Aem., 34) Ein spöttischer Rat zur Selbsttötung – Hirschfelds Stilisierung des Römers zum großen, und d. h. großmütigen und mitleidigen Mann weicht, das bestätigt auch der Blick in Plutarchs Version, von den antiken Darstellungen erheblich ab.
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so Hirschfelds überdeutliche Bildsprache, brächen die Leidenschaften über jene ‚Kleingesinnten‘ herein. Während der große Mann unanfällig für derartige Affektexzesse sei, sieht Hirschfeld gerade den Kriegshelden dieser Gefahr ausgesetzt: Welches Glük aber […] erreget leichter diese Leidenschaften in den menschlichen Herzen, als eine erwünschte Reihe von Siegen über einen mächtigen und angesehenen Feind? Hier wird es schwer, den Verblendungen des Glüks zu widerstehen; hier fielen oft Helden, die nicht gemeine Tugenden besassen […]. (GM, S. 122)
Eine derartige Differenzierung zwischen großem Mann und Held hat im Traktat keine singuläre Stellung. Die Abgrenzung folgt dabei stets einer Logik des ‚fast‘. Augenfällig ist dies etwa im Verweis auf eine Episode um den römischen Konsul Marcus Atilius Regulus während des Ersten Punischen Kriegs. Dieser erleidet, folgt man der Paraphrase des nicht überlieferten 18. Buch von Livius’ Ab urbe condita, eine Niederlage in Karthago, wird gefangen gesetzt und kurz darauf als Unterhändler nach Rom geschickt.604 Sein Auftrag habe darin bestanden, mit dem Senat bestenfalls einen Frieden, mindestens aber einen Gefangenenaustausch auszuhandeln. Zudem habe er sich durch Eid verpflichtet, nach Karthago zurückzukehren, falls die Verhandlungen scheitern würden. Dem Senat habe Regulus geraten, beide Verhandlungsgegenstände abzulehnen und den Kampf fortzusetzen. Gleichwohl sei er eidgetreu wieder nach Karthago gekommen und somit in den sicheren Tod gegangen. Bei Hirschfeld findet sich nun folgende Ausführung der Szene: Noch mehr müssen wir diese Festigkeit der Sele in dem Regulus bei seiner Zurükkehr nach Karthago bewundern. Dieser Mann, der sich in einer Verwikkelung befand, worin man mehr die Schwachheit als die Stärke der menschlichen Natur zu sehen gewohnt ist, und worin selbst Helden nachzulassen pflegen, ließ sich durch nichts in seinem erhabenen Entschluß erschüttern, und sezte zwischen den Pflichten gegen sein Vaterland, und gegen seine Feinde, die er beide erfüllen wolte, sein Leben als ein grosmüthiges Opfer hin. Wie leicht wäre es ihm nicht gewesen, den wankenden Rath zur Auslösung der römischen Gefangenen zu bewegen, und dadurch das fürchterliche Unglük, das über ihn schwebte, zu zerstreuen? Aber seine patriotische Sele vergaß sich selbst; […]. (GM, S. 186–187)
Über mehrere Seiten wird Regulus in allen vorstellbaren Details als bewundernswürdiger Fall von Seelengröße zelebriert, die ihren festen Entschluss bis hin zum Selbstopfer in die Tat umgesetzt habe (vgl. GM, S. 186–190). Einen nachhaltigen Eindruck habe Regulus’ Verhalten aufgrund des besonderen Umstandes hinterlassen, dass er sich in der verzwickten Lage zweier konträrer Verpflichtungen
604 Vgl. die Inhaltsangabe in der von Hillen besorgten Ausgabe von Titus Livius Römische Geschichte. Buch VII–X. Fragmente der zweiten Dekade. S. 499–501.
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befunden habe. Derart aporetische moralische Extremsituationen würden eben nur große Männern meistern; ‚selbst‘ Helden, so Hirschfeld in einem Nebensatz, versagen hier und können daher, so lässt sich resümieren, eben nur ‚fast‘ als große Männer gelten. Gegen Ende der Sektion über die großen Gesinnungen kommt Hirschfeld schließlich ausführlicher auf die Eigenschaften des Helden zu sprechen. Abermals steht diese Beschreibung im Schatten der Lobeshymne auf den großen Mann. Als die den Helden auszeichnende Tugend nennt Hirschfeld die Tapferkeit, die als Sammelbegriff für einige Sekundärtugenden gelte: „Daher kan man sich die Tapferkeit als eine Mischung des Muths, der Festigkeit und der Unerschrokkenheit vorstellen, die sich in den Geschäften des Krieges äussert; und diese Tapferkeit wird den wahren Helden eigenthümlich sein.“ (GM, S. 234) Lange hält sich Hirschfeld jedoch nicht mit seiner Skizze des Helden auf, und dies im Rekurs auf das so häufig im Versuch vorgetragene Argument, dass Helden im Vergleich mit großen Männern sowohl was ihre Fähigkeiten als auch was ihren Handlungsradius betrifft defizitär seien. Der Held mag als Inbegriff der Tapferkeit gelten; er verkörpert aber nur eine von den zahlreichen Tugenden des großen Mannes. Damit ist der Held, folgt man der Metaphorik des Textes, lediglich als Teil eines größeren Organismus aufzufassen: Da wir hier nur die einzelnen Glieder samlen, aus welchen gleichsam der volkommene Körper des grossen Mannes besteht; so können wir uns nicht mit einer volständigen Abbildung des Helden aufhalten, der sich von jenem wegen der besondern Sphäre, worin er sie äussert, unterscheidet. (GM, S. 235)
Derartige Passagen demonstrieren die Logik des ‚fast ein großer Mann‘. Der Held mag ein besonderer Einzelner sein – er ist indessen, um auf die Titelformel dieses Kapitels zu rekurrieren, ‚nur‘ ein Held, d. h. einer, dem zu veritabler Größe einiges fehlt. Im kurzen Abschnitt zu den großen Handlungen (vgl. GM, S. 246–268) findet sich schließlich noch eine ähnlich gelagerte Bemerkung zur Fehlerhaftigkeit des Helden. Hintergrund ist das Hauptargument des entsprechenden Teilkapitels, dass nämlich Handlungen nur dann als „eigentlich gros“ (GM, S. 249) zu bezeichnen sind, wenn sie aus genuin moralischen Beweggründen hervorgehen. Eine solche Gesinnung kann, so Hirschfeld gewohnt hochtrabend, identifiziert werden, wenn man nichts als „die unverblendete Vernunft zur Richterin annehme[ ]“ (GM, S. 248). Es schließt sich eine Betrachtung von Handlungen an, die diesem Kriterium nicht standhalten, die also eine „unlautere und niedrige Quelle“ (GM, S. 252) erkennen lassen. Zwar könne man in diesen Fällen, sofern ein Nutzen bzw. eine vorteilhafte Wirkung festzustellen sei, von einer „gewisse[n] Grösse“ (GM, S. 252) sprechen; allerdings nur, die Einschränkung folgt sogleich, „wenn das gros heissen kan, was viele Folgen hat“ (GM, S. 252–253). Als Beispiel
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für eine solchermaßen defizitäre Größe fungiert auch in diesem Falle, so lässt sich schließen, der Held (vgl. GM, S. 253). 3.5.3 Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Betrachtung über die heroischen Tugenden (1770) Hirschfeld veröffentlicht nur zwei Jahre nach seinem Versuch über den grossen Mann eine Betrachtung über die heroischen Tugenden. Die deutlich kürzere Abhandlung ist für meine Fragestellung hinzuzuziehen, weil darin einige terminologische Differenzierungen vollzogen werden, welche die Negativbestimmung des politischen Helden im zeitgenössischen Größe-Diskurs weiter erhellen. Allen voran wird hier der konzeptuelle Zusammenhang von Größe bzw. Heroismus und Emotionalität explizit entfaltet, und zwar sowohl in Bezug auf die Akteure als auch auf die Rezipient*innen. Der erste Satz der Abhandlung benennt in aller Klarheit die „Empfindungen“ (HT, S. 1) als denjenigen Bereich, auf den die heroischen Tugenden wirken. Sie erwecken im Betrachter „Liebe oder Bewunderung“ (HT, S. 1), und dies in deutlich stärkerem Maße als andere Tugendarten. Im abgrenzenden Verweis auf historiographisch oder literarisch überlieferte Exempel der Treue und Freundschaft, stellt Hirschfeld heraus, wie intensiv der sich in heroischer Tugend übende Akteur das menschliche Herz zu bewegen vermag. Als Beispiele dienen der im Unglück standhafte, aufopferungsbereite Weise sowie der mit letzter Kraft für sein untergehendes Vaterland kämpfende Patriot (vgl. HT, S. 1). Im Hinblick auf das Wirkpotential derartiger menschlicher Ausnahmegestalten heißt es: [D]ann fühle ich einen weit mächtigern Eindruck, als jene Tugenden auf mich machten, meine Empfindungen heben sich, und meine Sele wird nicht blos von dem sanften Gefühl der Liebe, des Wohlgefallens erwärmt, nein! Bewunderung, und ein hoher Grad der moralischen Begeisterung erhitzen sie. Dieser Unterschied der Rührungen, die der Anblick oder die Erzählung der Tugenden erweckt, und dieser Unterschied des Beifals, den ihnen das Herz gibt, ist so bemerckbar, daß ich mich auf die Empfindung eines ieden berufen darf. (HT, S. 1–2)
Eine derartige, intersubjektiv geteilte Admiration besonderer, an einem bestimmten Menschen wahrgenommener Tugenden lasse „ganze Nationen“ (HT, S. 2) zu Gefühlsgemeinschaften verschmelzen. Genauer noch sei „das moralische Gefühl“ diejenige Instanz, auf welche die Tugendhelden einen „rührenden oder erschütternden Eindruck“ machen würden.605 Solche exzeptionellen seelischen
605 Hirschfeld macht an dieser Stelle seinen philosophischen Bezugspunkt deutlich, wenn er das moralische Gefühl als Konzept „einige[r] brittische[r] Philosophen“ (HT, S. 5) bestimmt und damit auf die englischen moral sense-Theorien verweist.
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Kapazitäten nennt Hirschfeld „die heroischen oder erhabenen Tugenden“ (HT, S. 5). Diese Bestimmung wird weiter ausgeführt, wobei eine terminologische Besonderheit für den hier verfolgten Zusammenhang zentral ist: ‚Heroisch‘ und ‚erhaben‘ werden als synonyme Konzepte verstanden, was natürlich einen spezifischen Begriffsgehalt des Heroischen festlegt: Wir denken uns unter dem Helden einen Mann von der ersten Classe der Menschen; das Heroische mus also das unter sich begreiffen, was diesem eigen ist, wodurch er sich von andern unterscheidet. Ebenso nennen wir das erhaben, welches über etwas ist, womit es in einer Vergleichung betrachtet wird. Daher verknüpfen wir mit dem Heroischen und Erhabenen einerlei Ideen; und wir wollen diese Wörter in einerlei Verstande gebrauchen, ohne dadurch die heroischen Tugenden auf den eigentlichen Helden, oder auf den Kriegsmann einzuschränken. (HT, S. 5–6)
Sowohl das Heroische als auch das Erhabene werden hier als Kategorien eingeführt, die eine charakterliche Distinktion ausgezeichneter Individuen gegenüber anderen bezeichnen. In Korrespondenz zum Versuch über den grossen Mann will Hirschfeld aber das Heroische nicht auf bloßes Kriegsheldentum beschränkt wissen. Dabei steht jenes Defizit des ‚eigentlichen Helden‘ im Hintergrund, das ebenfalls bereits in der Vorgängerschrift thematisiert wurde, seine mangelnde moralische Integrität. Daraus zieht Hirschfeld nun terminologische Konsequenzen: Da der Begriff des Heroischen nicht eo ipso die Idee außergewöhnlicher Tugendhaftigkeit transportiert, bedarf dieser der konzeptuellen Parallelführung mit dem Erhabenen. Um den Heroismus als Tugendheroismus ausweisen zu können, werden die Konzepte des Erhabenen und des Heroischen miteinander kurz geschlossen. Dass Hirschfeld in seinem Entwurf vor allem ein Konzept von „moralische[r] Erhabenheit“ (HT, S. 7) anvisiert, zeigt die vergleichende Betrachtung der Kategorien ‚Erhabenheit‘ und ‚Größe‘. Trotz einer „gewisse[n] Verwandschaft“ (HT, S. 8) der Begriffe sei der Unterschied insbesondere darin zu sehen, dass das Erhabene unweigerlich den Aspekt der Tugendhaftigkeit mit einschließe: „Grösse und Tugend können wir leicht in den Ideen trennen; aber die Begriffe der Erhabenheit und der Tugend gesellen sich immer so geschwind, als wenn sie zusammen gehörten, und nicht anders, als verknüpft, gedacht werden könten.“ (HT, S. 9) Dieser Gedanke deckt sich mit dem schon im Versuch artikulierten Befund, dass man bei bestimmten, moralisch defizitären Handlungen von einer gewissen Größe sprechen könne, wenngleich den ‚wahrhaftig‘ großen Mann eine unverbrüchliche Tugendliebe auszeichne (vgl. GM, S. 252–253).606 Bemerkenswert ist,
606 Vgl. auch Abbt (1772), S. 243–244. Ähnlich interpretiert diesen Zusammenhang Immer (2008), ohne allerdings auf den von Hirschfeld vorgenommenen Zusammenschluss des Heroischen mit dem Erhabenen hinzuweisen (vgl. S. 130).
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dass Hirschfeld das Problem „heroische[r] Laster“ (HT, S. 9), d. h. moralischer Verfehlungen erhabener Charaktere, als bloß theatrales Sujet ausweist. Auf der Schaubühne würden „eigene Gesetze“ (HT, S. 9) herrschen und allein dort sei es legitim, den erhabenen Mann zum Zwecke der Affekterziehung auch als lasterhaft zu zeigen. Jenseits des Theaters jedoch entbehre der Begriff heroischer Laster jeglicher Substanz, so dass damit kein Argument gegen den Nexus von Erhabenheit und moralischer Güte in der ‚Realität‘ gegeben sei. Die Betrachtung fährt in dreigliedriger, die „[h]eroischen Gesinnungen oder Empfindungen“, die „heroische[n] Entschlüsse“ und schließlich die „heroische[n] Thätigkeiten“ (HT, S. 10) differenzierender Aufteilung fort. Diese Ausführungen kommen im Wesentlichen mit den Bestimmungen des Versuchs über den grossen Mann überein. Fortgesetzt zeichnet Hirschfeld ein lebhaftes Porträt der „erhabenen Sele“ (HT, S. 11) als altruistischen, wohlwollenden, patriotischen, großmütigen und stolzen Ausnahmemenschen. Im Hinblick auf die politischen Implikationen ist ein Passus über die patriotische Disposition des erhabenen Einzelnen aufschlussreich: Man wundere sich nicht, daß die Geschichtschreiber dem Patriotismus so große Lobsprüche beigelegt haben. Er war die mächtigste der Triebfedern, die jemals in einem freien Staate gewürkt haben, die Stütze der […] sinkenden Republiken, der Schöpfer der Thaten, die nach den Wundern den ersten Platz in der Geschichte einnehmen. (HT, S. 18)
Wenn Hirschfeld die in patriotischem Geist vollzogene Tat als Phänomen ausweist, das mit Wundern vergleichbar ist, so ist damit vor allem etwas über die enorme Rezeptionsintensität erhabener Handlungen gesagt. In überbordender pathetischer Diktion wird im Folgenden das Bild eines heroischen Kriegers entworfen, der die Tugend des Patriotismus bis zum Äußersten ausagiere und dafür nichts anderes als rückhaltlose Bewunderung ernten könne: [W]enn tausend Selen das Vaterland in der Noth verließen, so blieb der Patriot allein bei ihm, empfing auf seiner Brust die Pfeile eines Heeres, stand, und fiel, das vertheidigende Schwerdt in der Hand, und lächelte, vol himlischer Heiterkeit die lezten Tropfen des Blutes an, mit welchen ihm das Leben entfloß. Welche Gemälde erscheinen hier, indem die Geschichte den Vorhang der Zeiten aufzieht! Wo sollen wir zu bewundern anfangen? Wo zuerst unsre Blicke heften? (HT, S. 18)
Der erhabene Tugendheld ziehe die Blicke der anderen auf sich, weil er die Vaterlandsliebe nachgerade verkörpere. Die blut- und pathostriefende Szene stellt die Exzeptionalität des Patrioten heraus und vermerkt zusätzlich eine Art ‚Übererfüllung‘ auf Seiten des Handelnden. Der korrespondierende Rezeptionsmodus wird als Erfahrung einer sinnlich überwältigenden Bewunderung beschrieben. Damit ist der Bogen zum Beginn der Betrachtung gespannt, wo ja bereits das Emotionale als Adresse des heroisch-erhabenen Akteurs ausgewiesen wurde.
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Deutlicher noch als im Versuch über den grossen Mann werden im Abschnitt über die heroischen Entschlüsse die Kategorien ‚Wille‘, ‚Bewusstsein‘ und eine gesteigerte intellektuelle Kapazität als maßgeblich für die Genese heroischer Entscheidungen und Handlungen dargestellt. Im Versuch geht es vornehmlich um die Affektkontrolle und Selbstbeherrschung des großen Mannes. Demgegenüber konzentriert sich das besagte Teilkapitel, indem es Entschlüsse thematisiert, nicht darauf, was im Zaum gehalten werden muss, um Größe zu erlangen. Stattdessen werden diejenigen seelischen Instanzen und Prozesse in den Blick genommen, die das Ich aktiv bei der Wahl seiner Handlungsoptionen durchläuft. Grundlage der Argumentation ist erwartbarerweise der Gedanke, dass der heroische Entschluss auf einer entsprechenden Gesinnung beruhen muss (vgl. HT, S. 27, 30). Dieser Art der Entschlüsse eigne der höchste Grad an „moralischer Güte“ (HT, S. 30). Allerdings gebe es auch Entscheidungen, die ihren Heroismus aus dem Charaktermerkmal des Mutes bezögen (vgl. HT, S. 30).607 In der Definition des Mutes spielen nun die Kategorien von Wille, Bewusstsein und Kenntnis eine maßgebliche Rolle: Wenn die Sele etwas wil, ohngeachtet es mit Schwierigkeiten und Gefahren verbunden ist, so äussert sie die Kraft, die wir Muth nennen. Ohne die Kenntnis des Schwierigen und Gefährlichen, das mit einem Vorhaben verknüpft ist, können wir uns den Muth nicht denken. (HT, S. 31)
Zentral ist, dass Mut für Hirschfeld kein kopfloses, unerschrockenes Agieren meint. Vielmehr erwäge der Mutige sämtliche Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen könnten, prüfe die Handlungsbedingungen und prognostiziere die Erfolgschancen mit realistischem Gespür (vgl. HT, S. 31). Bleibe der Handlungsträger auch nach dieser ‚Gefahrenanalyse‘ bei seinem Vorhaben, so zeige er Mut. Hinzu müsse allerdings noch ein „Bewußtsein der Mittel“ (HT, S. 31) kommen, die zur erfolgreichen Umsetzung notwendig seien, da ansonsten jedweder Mut uneffektiv implodiere. Dass Hirschfeld in seiner Studie zu den heroischen bzw. erhabenen Tugenden ein gänzlich autonomes Individuum im Sinn hat, das im eben skizzierten Verständnis willentlich, bewusst und bedacht handelt, demonstriert eine weitere Textstelle, in deren Fortgang auch die sichtlich differierende Entschlusskraft des Helden diskutiert wird. In Rede stehen hier Entscheidungen, die insofern unausführbar seien, als sie im wahrsten Sinne des Wortes ‚über das Ziel hinausschießen‘ würden und daher nicht mehr heroisch, sondern „gigantisch“ (HT, S. 34) zu
607 Hirschfeld zählt den Mut nicht zu den genuinen Tugenden, sondern zu den „würdigen Bestimmungen des Characters“ bzw. zu den „hohe[n] Eigenschaft[en] der Sele“ (GM, S. 30).
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nennen seien. Dies sei der Fall, wenn der Mut überbordend werde, ja vor allem jedes rationale Maß verliere. Besonders Helden würden Gefahr laufen, jene das Heroische rational und sittlich einhegende Grenze zu überschreiten: Unvermerkt kan oft in der heissen Brust des Helden ein Entschlus aus einem heroischen in einen gigantischen ausarten. Der Muth darf nur auf einer gewissen Höhe stehen, von Hitze des Temperaments, von starken Leidenschaften unterstützt werden, oft Erfindsamkeit und Gegenwart des Geistes, die ihm in dunkeln Labyrinthen einen Ausgang eröfnet, oft das Glück in wichtigen Vorfällen auf seiner Seite gehabt haben; dann wird er leicht sein Gefieder zu weit ausspannen, und der Held, wenn ihn nicht ein Augenblick der Ueberlegung überrascht, zu gigantischen Entschlüssen hinüberschweiffen, ohne daß er es selbst gewahr wird. Oft verliehren sich die Gränzen des Heroischen und des Gigantischen in einander; […]. Was aber an jenem Orte Muth war, kan an diesem Verwegenheit sein. Und wenn gleich der grosse Haufe dem Mann, der, allein seiner Hitze übergeben, unachtsam auf die Stimme der Klugheit, und auf die Stimme des abrathenden Freundes, unerschütterlich wil, was er nicht ausführen kan, und ernsthaft zum Werke schreitet, mit leerem Erstaunen, mit einem unbedeutenden Geschrei des Beifals folgt; so bleibt doch der verständige Zuschauer stehn, und denkt ihn aus der Classe der Helden in die Classe der Tollkühnen herab. (HT, S. 35)
Der zu stark ‚erhitzte‘, d. h. der leidenschaftlich in zu hohem Maße bewegte Held neigt gemäß dieser Warnung dazu, das von Hirschfeld bezeichnete Handlungsideal des Heroischen in fataler Weise zu überspannen. Dass es eine übersteigerte, von Vernunft verlassene Emotionalität ist, die für jene Ausschweifungen ins Gigantische, ins Verwegene, ja ins Tollkühne verantwortlich sei, deckt sich mit Sulzers Mahnung vor einem vom Helden ausgehenden politischen Schwärmertum. Gleichfalls diskreditiert der zitierte Passus auch den korrespondierenden Rezeptionsmodus des ‚großen Haufens‘ als gefühlsmäßig fehlgeleitet. Man müsse, so resümiert Hirschfeld, in solchen Fällen eher vom „ausserordentlichen Mann[ ]“ (HT, S. 35) denn vom „grossen Mann[ ]“ (HT, S. 36) sprechen. Es ist einschränkend zu bemerken, dass die Betrachtung nicht bloß von den prekären Transformationen des heroischen Mutes in ein emotional übersteigertes Gigantisches, „Ungeheuer[liches]“ und „Wunderbare[s]“ (HT, S. 35) handelt. Sofern Tugend und Vernunft bzw. Verstand die leitenden Handlungsgrundsätze blieben (vgl. HT, S. 38), sei ein „feurige[r] Muth“ (HT, S. 37) ebenso belebend wie handlungsstimulierend. Diese außergewöhnliche Hingabe des Tugendhelden, die auf einer hohen, aber eben nicht grenzenlosen Affektivität gründe, zieht, wie Hirschfeld immer wieder betont, ein enormes Maß an wiederum emotionalem Zuspruch nach sich (vgl. HT, S. 38–40). Am Ende der dafür angeführten Beispiele steht der bereits aus dem Versuch über den grossen Mann bekannte Regulus – ein Mann, der Rührung und Schrecken gleichermaßen auszulösen vermag:
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Regulus, der unter der Reihe dieser Helden so sehr hervorglänzt, und den seine Siege weniger verherlichet haben, als seine Zurückreise nach Carthago, welche Festigkeit des Muths bewieß er nicht unter einem Auftrit, in welchen alles zusammendrängte, was die Natur Rührendes und Schreckliches hat! (HT, S. 41)
Der letzte, die heroischen Handlungen thematisierende Abschnitt des Traktats steht gänzlich unter der Prämisse, dass „wahre Tugend […] thätig“ (HT, S. 43) sei. Die heroischen Gesinnungen und Entschlüsse verschaffen sich, folgt man Hirschfelds Dreischritt, stets in entsprechenden Handlungen Ausdruck. Der in die Tat umgesetzte Heroismus wirke wie „ein gewaltiges Feuer“ (HT, S. 43) und der Mensch, der dergestalt „denkt, empfindet, handelt […] ist ein Wesen aus einer höheren Classe“ (HT, S. 43–44). Auch das heroische Handlungsideal wird als harmonisches und in höchstem Maße effektives Zusammenwirken sowohl der intellektuellen als auch der sinnlichen Kräfte des besonderen Einzelnen beschrieben (vgl. HT, S. 44). Sein Tun lasse Unerschrockenheit, Standhaftigkeit sowie Enthusiasmus erkennen (vgl. HT, S. 49). Es ist allen voran der Enthusiasmus, der den heroischen Agitationsmodus als sinnlich fundierten charakterisiert: Wenn die Sele durch die sinliche Vorstellung eines wichtigen Unternehmens ihre Begierden erhitzt, und ihre Kräfte aufbietet, wenn sie frei von allen Zerstreuungen ihre ganze Aufmercksamkeit auf den gewählten Gegenstand heftet, bei dem lebhaften Bewußtsein ihrer Stärcke ihn vol Eifer umfaßt, und schon das ganze Glück des Erfolgs mit einer heissen Wallung der Freude empfindet; so erkennen wir an ihr den heroischen Enthusiasmus, der in grossen Geschäften so sehr entscheidet. (HT, S. 54)
Am Tugendhelden werde dieser Zustand sinnlicher Bewegtheit denn auch körperlich sichtbar „durch einen geschwindern Umlauf des Bluts, durch eine aufsteigende Röthe des Gesichts, durch ein lebhafteres Funckeln der Blikke, und durch eine ungewöhnliche Gewalt des Thons“ (HT, S. 55). Über die mobilisierende Wirkung des Enthusiasten auf andere äußert sich Hirschfeld gänzlich bewundernd, das Resümee lautet: „Dieser heroische Enthusiasmus setzt alles um sich her in Bewegung […].“ (HT, S. 55) Es bestehe aber nicht die Gefahr, dass sich der Protagonist der heroischen Tugenden in jener gesteigerten Emotionalität verliere, da die Verstandesaktivität stets das Gegengewicht bilde (vgl. HT, S. 56–57). Wiederum also wird die Vorstellung einer Balance von emotionalen und rationalen Kapazitäten vertreten. 3.5.4 Exkurs: Das Genie oder: Vom Reiz des Helden An dieser Stelle ist auf einen signifikanten Überschneidungspunkt von Hirschfelds Konzepten des Heroischen sowie der Größe mit dem zeitgenössischen Genie-Verständnis hinzuweisen. Es ist allen voran eine besondere sinnliche
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Disposition des exzeptionellen Individuums, die auch der ‚benachbarte‘, aber nicht genuin politisch konturierte Genie-Diskurs verzeichnet. Die konzeptuelle Nähe macht sich schon auf einer metaphorischen Ebene bemerkbar, die – wie es Hirschfeld für den heroischen Charakter betont – eine leidenschaftliche ‚Erhitzung‘ des Genies herausstreicht. So ist etwa in Abels Genie-Rede vom „echten Geniefeuer[ ]“608 oder in Sulzers Artikel in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste vom „begeisternde[n] Feuer“609 des Genies die Rede. Was diese Modelle mit Hirschfelds Überlegungen zum Tugendhelden bzw. großen Mann teilen, ist die Annahme einer gesteigerten Empfindsamkeit bzw. sinnlichen Reizbarkeit des Genies. Ganz in diesem Sinne heißt es bei Sulzer: „Zum Genie wird also auch warme Empfindung erfordert, ohne welche der Geist nie würksam genug ist.“610 Auch Abel notiert: „Aber seht […] das Genie, alles voll Kraft, Würkung, Tat, sein abgezogenster Gedanke ist Anschauen und seine leiseste Empfindung Glut.“611 Allerdings finden sich auch in diesen, hier exemplarisch angeführten Darlegungen zum Genie ähnliche Einhegungsbemühungen, wie sie die Hirschfeld’schen Konzepte bestimmen. Eindringlich wird bei Abel und Sulzer darauf hingewiesen, dass sich das Genie nicht in purer Leidenschaftlichkeit verliere, sondern als ein autonomer „Meister seiner Seelenkräfte“612 alle Vermögen und damit auch die rationalen Kräfte harmonisch in sich austariere.613 Durch diese Auffangbewegungen vermeiden die Theorieentwürfe ein Übergewicht der Affektivität im Genie, wie sich gleichfalls Hirschfeld bemüht zeigt, eine potentiell zu starke Leidenschaftlichkeit des großen Mannes rational abzufedern oder eben auf den ‚bloßen Helden‘ zu verschieben. Ebenfalls finden sich in Herders Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele – eine Replik auf die von Sulzer lancierte Preisfrage der Berliner Akademie aus dem Jahr 1773 – ähnliche Einlassungen zur Genialität, zur Seelengröße und zum Heroismus.614 In kritischer Auseinandersetzung mit Helvétius, dessen Abhandlung De l’esprit (1758) Herder die Opposition von Genialität und Tugendhaftigkeit entnimmt, votiert er für einen tugendhaften Heroismus.615 608 Abel (1967), S. 25 [zuerst 1776]. 609 Sulzer (21792/2), S. 364. 610 Sulzer (21792/2), S. 365. 611 Abel (1967), S. 25. 612 Sulzer (21792/2), S. 363. 613 Vgl. Sulzer (21792/2), S. 363–364; Abel (1967), S. 21. 614 Dass Herder in seiner Abhandlung eine Differenzierung zwischen diesen Konzepten vornähme, ist nicht festzustellen. 615 „So viel ist gewiß, jede große und starke Seele hat auch Anlage, die tugendhafteste zu werden. […] Vielleicht haben Menschen von starker Seele mehr Mühe sich zu überwinden: sie haben aber auch mehr Kraft, und nur wenn sie den Sieg vollendet haben, sollte man sie große
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Darüber hinaus diskutiert Herder auch das Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft im außergewöhnlichen Individuum. So bestehe Seelengröße zwar in einer starken Affektivität ihres Trägers, die jedoch, hier kommt Herder sowohl mit Abel und Sulzer als auch mit Hirschfeld überein, durch eine ebenso ausgeprägte Vernunft ausbalanciert werde.616 Für die hier verfolgte Leitfrage nach der Leidenschaftlichkeit des Helden ist überdies ein Passus aus der ersten Rubrik der Herder’schen Schrift erwähnenswert, die mit dem Titel „Vom Reiz“617 überschrieben ist. Den Ausgangspunkt bildet dabei Albrecht von Hallers Theorem der physiologischen Reizbarkeit, das Herder für sein Seelenmodell fruchtbar macht.618 Der Reiz gilt bei Herder als „das erste glimmende Fünklein zur Empfindung“619. Der Reiz breite sich als grundlegende sinnliche Triebfeder wie ein „unerschöpfliche[r] Brunnen und Abgrunde durch unser ganzes Ich aus, belebt jede kleine spielende Fieber – alles nach Einartigem einfachen Gesetze.“620 Ein einschlägiges Beispiel für die Wirkmächtigkeit des jeder Empfindung zugrunde liegenden Reizes ist für Herder der Held: Im Abgrunde des Reizes und solcher dunkeln Kräfte liegt in Menschen und Tieren der Same zu aller Leidenschaft und Unternehmung. Mehr oder minder Reiz des Herzens und seiner Diener macht Helden oder Feige, Helden in der Liebe oder im Zorne. Das Herz Achills wurde in seinen Netzen vom schwarzen Zorn gerüttelt, es gehörte die Reizbarkeit dazu, ein Achilles zu werden. Der satte Löwe hat seinen Mut verloren, ein Weib kann ihn jagen; ein hungriger Wolf aber, Geier, Löwe – wie mächtige Geschöpfe!621
Der Held wird hier als in gesteigertem Maße durch seine sinnliche Reizbarkeit bestimmtes Wesen gekennzeichnet, das eben daraus seine Macht beziehe. Untermalt wird dies durch den kaum subtilen Vergleich des zornigen Achilles mit ausgehungerten Raubtieren. Dies deckt sich inhaltlich wiederum recht genau mit Sulzers Erörterung des Kunstgenies: Den genialen Künstler zeichne „eine beson-
Menschen nennen, das ist, wenn sie gute Menschen geworden.“ (Herder (1774), S. 377–378) [Hervorhebungen im Original]. 616 „Tiefe Empfindungen müssen immer auch tiefe Kenntnisse gewähren können, die über jene herrschen, und so sind die stärksten Leidenschaften und Triebe, wohlgeordnet, nur das sinnliche Schema der starken Vernunft, die in ihnen würket.“ (Herder (1774), S. 378) Vgl. so auch zum Genie Herder (1774), S. 381. Wie zentral die Sinnlichkeit in Herders Konzept ist, zeigt sich darin, dass er eine nur auf gesteigerter Intellektualität beruhende Genialität der „Büchergenies und Papiermotten“ kritisiert: „[D]ie besten Genies sind außer der Bücherstube [...]“ (Herder (1774) S. 381). 617 Herder (1774), S. 331. 618 Vgl. dazu Richter (1993). 619 Herder (1774), S. 331. 620 Herder (1774), S. 332. 621 Herder (1774), S. 339.
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dere Reizbarkeit der Sinne und des Systems der Nerven“622 aus. Gleichfalls führt der Artikel zur ‚Größe‘ aus der Allgemeinen Theorie der schönen Künste einen erhöhten Affektivitätsgrad als Signum von Größe an. Auch in diesem Fall, das sei abschließend bemerkt, dient der Prototyp des griechischen Helden als Beispiel: „Jedermann empfindet diesen Charakter der Größe in dem Zorn des Achilles […]. Man muß sich starke Seelen in großen Leidenschaften, als streitende Helden vorstellen, die allemal groß sind, es sey, daß sie überwinden, oder überwunden werden.“623 Den Schluss der Betrachtung über die heroischen Tugenden bestimmen zwei Gedanken. Erstens skizziert Hirschfeld noch einmal explizit die politische Bedeutung seiner Darlegungen. Der Heroismus wird dabei als epochen- sowie nationenübergreifendes politisches Phänomen ausgewiesen, das „an kein Volk, an keine Regierungsform, an kein Clima, an keinen Stand, an keine besondere Classe der Menschen gefesselt [ist]. Die ganze Welt ist das Vaterland heroischer Selen; sie sind für alle Oerter, für alle Zeiten.“ (HT, S. 60) Als maßgeblicher Impuls „zur Stiftung und Vertheidigung der Staaten“ (HT, S. 61) sei der Heroismus von Anbeginn der Geschichte ein Kernelement politischen Fortschritts. Zweitens werden die Wirkungen der heroischen Tugenden resümiert. Wesentlich ist dabei die Erhebung der ‚gemeinen Seele‘ „zu grössern Gedanken und Empfindungen“ (HT, S. 67). Der Geist des Betrachters erweitere sich, es entstehe ein dem heroischen Ideal korrespondierender Rezeptionsmodus von „Bewunderung und Stolz“ (HT, S. 67). Mehr noch rege der Anblick heroischer Tugendhaftigkeit in der bekannten Doppeldirektion sowohl den Verstand als auch die Phantasie zur Nachahmung an (vgl. HT, S. 67). Die immense Intensität dieses Nachahmungseffekts beschreibt Hirschfeld als Kettenreaktion: So pflanzen sich heroische Tugenden […] von Sele zu Sele fort, theilen sich durch das sympathetische Verständnis der Herzen unter einander mit, und vervielfältigen sich […] von Persohn zu Persohn, von Alter zu Alter, von Stand zu Stand, von einem Theil der Nation zu dem andern. Eine heroische That darf nur hervorleuchten, und mit ihrem Glanz empfindsame Selen treffen; […] sogleich wird das Geräusch des Beifals die Umstehenden rege machen; alle Herzen werden ihn wiederhohlen. […] Die überraschende Empfindung wird sich almählich zu dem Eifer der Nachahmung befestigen; und je mehr die sich entwickelnden Ideen von der moralischen Erhabenheit sich mittheilen, desto mehr darf man die Wiederhohlung heroischer Thaten erwarten, und desto mehr werden sie Früchte der Ueberlegung werden, da sie vorher nur Früchte des Gefühls waren. (HT, S. 67–68)
622 Sulzer (21792/2), S. 365. Dieser Gedanke taucht im gesamten Artikel immer wieder auf. 623 Sulzer (21792/2), S. 445. Das ändert nichts daran, dass Sulzer im Einklang mit Hirschfeld „die stille Größe des Gemüthes“ (S. 441), d. h. die Beherrschung auch im Affekt, als vordringliches Merkmal großen Handelns betrachtet.
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Abermals wird hier herausgestellt, dass es die menschlichen Gefühle sind, worauf die Aktivitäten des Tugendhelden so stark einwirken. Allerdings deutet sich die Möglichkeit einer rationalen Erhebung des bewundernden und nachahmungswilligen Rezipienten an. Im Hintergund steht auch an dieser Stelle der Grundsatz, dass veritables heroisches Handeln und dann auch dessen Aneignung nicht ohne intellektuelle Betätigung auskommen. Dem Schluss des Paragraphen ist zu entnehmen, dass heroisches Handeln gewissermaßen eine politische Kettenreaktion in Gang setzt: Helden seien in der Lage, „den Kräften der ganzen Nation einen Schwung zu geben“ (HT, S. 68). Hirschfeld weist den Heroismus damit nicht nur als gemeinschaftsstiftende Agitationsoption des Einzelnen, sondern auch als Movens politischer Prozesse aus. Schließlich werden sogar die zeitgenössischen Historiographen dazu aufgerufen, zum Zwecke der nationalen Erbauung beispielhafte Heldenepisoden zu dokumentieren: Sorgfältig bewahrten die ehrwürdigen Schriftsteller des Alterthums sie [heroische Exempel] auf, zur würcksamen Begeisterung der Zeitgenossen, zum unauslöschlichen Ruhm bei den Nachkommen. Ihr Geschichtschreiber der neuern Nationen, gehet hin, und thut desgleichen! (HT, S. 76)624
Hirschfeld zeigt sich gänzlich vom politischen Bewegungspotential des Heroismus erfüllt und macht an dieser Stelle mehr noch auf die Möglichkeit aufmerksam, den ‚Heldengeist‘ im Medium des Textes an die nationale Gemeinschaft heranzutragen.
624 Christian Philipp Iffland, der Bruder August Wilhelm Ifflands, leistet 1775 mit seinem Traktat Ueber die Empfindsamkeit. Ein Fragment einer Abhandlung über die heroischen Tugenden einem solchen Aufruf gewissermaßen Folge. Iffland, dessen Schrift, wie Immer (2008) zutreffend bemerkt, nur lose auf Hirschfelds ähnlich betitelte Betrachtung bezogen werden kann, (vgl. S. 134) präsentiert den Leser*innen verschiedene, der römischen Geschichtsschreibung entnommene Heldenepisoden. Dies geschieht in der Absicht, „das entschlummernde Gefühl vom Großen und Erhabenen“ (Iffland (1775), Sp. 330) für seine Zeitgenossen wieder zu beleben. Verbunden ist dieser Plan mit einer Empfindsamkeitskritik. Vgl. dazu auch Immer (2008), S. 135. Die antiken Heldengeschichten hält Iffland für geeignet, einer „überhand nehmende[n] Empfindsamkeit“ (Iffland (1775), Sp. 337) entgegenzuwirken, die für das politische Klima verheerend sei. Auch wenn der Text im Vergleich zu Hirschfelds Abhandlungen nicht als konzise Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Größe oder des Heroischen betrachtet werden kann, versammelt er einige Gedanken, die Hirschfeld systematisch ausführt. Die wichtigste Parallele besteht darin, dass Ifflands politisch ausgerichtete Empfindsamkeitskritik die Wirkmacht des Emotionalen im Bereich der Politik ähnlich exponiert wie Hirschfeld in seinem Modell des großen Mannes.
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3.6 Fazit: Politische Schwärmer Sowohl Sulzers psychologisches Subjektkonzept als auch die auf den Kategorien ‚Verdienst‘, ‚Größe‘ und ‚Heroischem‘ beruhenden Theorieentwürfe personaler Erhebung entfalten, das hat das zurückliegende Kapitel gezeigt, eine eigenständige Perspektive auf den politischen Heroismus. In diesem Sinne ging es bei der Erarbeitung der empirischen Psychologie Sulzer’scher Prägung darum, hier Ansätze eines kollektiv- bzw. machtpsychologischen Interesses aufzuzeigen, welches sich aus dem besonderen Theoriestatus des Sinnlichen ergibt. Die psychologische Aufwertung der Empfindungen, die in einem heteronomen Subjektmodell mündet, stellt den Hintergrund dar für die in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste rekurrent gestellte Frage nach der Funktionsweise politischer Herrschaft. Dass der aufgeklärte Regent nur im Bund mit dem Künstler effektiv zu herrschen vermag, während letzterer wiederum auf die Expertise des philosophischen Psychologen angewiesen bleibt, bildet eine Figurenkonstellation, die sich in konzeptueller Hinsicht als untrennbarer Zusammenschluss von politischer Herrschaft, Ästhetik und Psychologie präsentiert. Dabei firmiert das Sinnliche – als psychologischer und ästhetischer Gegenstand – als die maßgebliche Adresse öffentlicher Machtwirkung, wenngleich immer wieder Rationalitäts- und Sittlichkeitsgrundsätze ins Feld geführt werden, um einem Übergewicht des Sinnlichen entgegenzuwirken. Über den politischen Helden äußert sich Sulzer nur andeutungsweise, wenn er auf das Problem einer von diesem ausagierten und ausgelösten Schwärmerei verweist. Die vorgestellte Traktatistik zur Größe, zum Verdienst und zu den heroischen Tugenden hingegen beinhaltet eine explizitere Auseinandersetzung mit der ‚Untugend‘ und auch der ‚Unvernunft‘ politischen Heldentums. Im Rahmen einer politischen Figurentypologie exzeptioneller Individualität wird dem großen oder auch dem verdienstvollen Mann ein autonomer Autoritätsmodus attestiert, der am Leitfaden moralischer sowie rationaler Prinzipien verfährt und wirkt. Meine Überlegungen zu Abbt und Hirschfeld zeigen, dass diese emphatischen Figurenideale über die Abgrenzung zu einem politischen Heldentum etabliert werden, das als bloß ruhmbegieriges und kopfloses Kriegshandeln diskreditiert wird und das die Gefahr birgt, sowohl die Affektivität seines Protagonisten als auch seiner Rezipient*innen massiv zu überspannen. Somit ist – zwischen den Zeilen – fortlaufend vom sinnlichen Ausnahmezustand, vom Unsinn des politischen Helden zu lesen – einem Unsinn, der sich auch auf seine Anhänger*innen zu übertragen vermag. Ein Beitrag aus dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde kann zum Abschluss die Verbindungen zwischen Sulzers Seelenmodell und dem Konzept des besonderen Einzelnen pointieren. In der Rubrik „Zur Seelennaturkunde“ berichtet der
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Verfasser Daniel Jenisch im Jahre 1787 „Über die Schwärmerey und ihre Quellen in unseren Zeiten“625. Die Schwärmerei wird hier als psychisches Phänomen charakterisiert, das einen intensiven Emotionalitätsgrad des Betroffenen indiziert. Dieser, aus der Beschäftigung mit einer Vielzahl von dunklen Vorstellungen resultierende Zustand richte sich gezielt gegen die rationalen Kräfte des Ichs. Jenisch illustriert den entsprechenden seelischen Prozess im Bild einer Spinne, die in ihrem eigens gespannten Netz gefangen sitzt: Die Seele sitzt unter ihren Ideen wie eine Spinne in der Mitte ihres Gewebes. Was sie von allen Seiten her in allen Weiten um sich herum sieht, oder empfindet, wird ihr Stoff zu dem geistigen Gewebe; jeder neue und lebhafte Begriff, jedes frischere Bild dient ihm, Farbe und Einschlag zu geben. So wie also nach der alltäglichen Erfahrung der Mensch immer mehr Thier als Geist ist, und durch seine sinnliche Organisation seyn muß, so wie er sich immer mehr von den untern Seelenkräften mechanisch hinziehen, als von obern vernünftig leiten läßt, mehr durch viele dunkle Ideen, als eine klare, mehr durch ihre Zahl, als ihr Gewicht, mehr durch Anschauungen der Imagination, als durch Gründe der Urtheilskraft determinirt wird; so kann also jene gespanntere Thätigkeit bei untern Seelenkräften wie eine Art von Verschwörung wider die obern, wider Vernunft und Urtheilskraft angesehen werden.626
Dass diese Beschreibung des sinnlichen Seelenvermögens auch bei Sulzer stehen könnte, ist unverkennbar. Die Rede vom Spinnennetz zeugt von einer immensen Verfänglichkeit und somit Wirkmacht der empfindenden Kapazitäten des schwärmerischen Ichs. Hinzu tritt ein politisches Bild, dem gemäß sich die unteren Seelenkräfte konspirativ gegen die Obrigkeit, d. h. die der Vernunft und dem Verstand verhafteten Seelenteile, richten. Diesen Zustand einer gesteigerten Empfindsamkeit hält Jenisch für geeignet, ‚Großes‘ zu vollbringen: Nach dieser Erklärung ist also kein Zweifel, daß nicht die Schwärmerey in dem Hirn eines jeden Erdensohns, sey’s an dieser oder jener Faser, irgendwo ihr Spinnengewebe hängen habe. Der Mensch ist keiner starken Leidenschaft, keiner tiefen Empfindung fähig, ohne eine Anwandelung von Schwärmerey. Jeder stolze unüberwindliche Vorsatz erzeugt und behauptet sich durch sie. Sie ist die Gespielinn der Leidenschaft jeder Art, und die innere mitfolgende Begleiterinn jeder höhern Würksamkeit der Seele. Ein Cato darf ihr ohne Erröthen einen Theil seines erhabnen Patriotismus verdanken […].627
Das exzeptionelle Individuum – exemplarisch wird hier der erhabene Patriot genannt – sei ein leidenschaftlich Fühlender, was jedoch immer mit einem bedrohlichen Grad von Schwärmerei einhergehe. Eine solche schwärmerische Emotionalität kennzeichne, so Jenisch weiter, „die Geisteslage der Entdecker, 625 Vgl. Jenisch in Moritz (1787), S. 211–224. 626 Jenisch in Moritz (1787), S. 216 [Hervorhebungen im Original]. 627 Jenisch in Moritz (1787), S. 217.
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Erfinder und Reformatoren jeder Art“628. Wie dem Charismatiker Homburg, aber ebenso Hirschfelds großen Männer eine ansteckende Leidenschaftlichkeit attestiert wird, so lodere auch im Schwärmer ein „Feuer“629, das sich rapide ausbreiten könne. „[G]anze Völkerschaften“630 ließen sich derart „aus hundert- und tausendjährigem Schlummer erweck[ ]e[n], und wie durch einen gewaltsamen Stoß auf einmal zu einer Höhe empor“631 heben. Noch deutlicher tritt die Fähigkeit des Schwärmers, andere für ‚seine Sache‘ einzunehmen, in einem an Jenischs Darlegungen direkt angegliederten Anhang hervor: Die Schwärmer sind im gewissen Betracht, zumal […] wenn sie mit lebhaft empfindenden Leuten zu thun haben, unwiderstehliche Verführer. […] alles dies schließt den Schwärmern leicht die Herzen der Menschen auf, und diese Herzen sind oft eher gefangen, als sie es noch glauben. […] Der Angesteckte nimmt Bewegungen des Herzens, Empfindungen in sich wahr, die er vorher nie kannte. Er fängt an in sich selbst hinein zu schauen – und das, was freylich nur eine Aufwallung des Bluts, oder eine Täuschung der Phantasie war, für Würkungen einer höhern Kraft zu halten, und was unmittelbar daraus folgt – die Welt ausser sich […] zu verachten.632
Der hier skizzierte Autoritätsmodus beschreibt eine Art der Herzensführung, die auf ihre Adressaten wie eine höhere Gewalt wirkt. Allerdings wird, wie schon bei Sulzer, eine Pathologie sowohl auf Seiten des schwärmerischen Individuums als auch auf Seiten seiner Anhänger diagnostiziert. Der Schwärmer und seine Gefolgschaft seien weltfremd und würden einer zwar wirkmächtigen, aber widervernünftigen „Täuschung“633 unterliegen. Die erfahrungsseelenkundlichen Darlegungen decken sich hier und auch in vielen weiteren Punkten recht genau mit dem 1775 veröffentlichten, populärphilosophischen Traktat des schweizerischen Polyhistors Leonhard Meister. In seiner Vorlesung Ueber die Schwermerei bestimmt dieser gleich auf der zweiten Seite den Schwärmer als denjenigen, dessen „Herz“634 einer groß angelegten Täuschung aufsitze. Auch hier wird die Schwärmerei als bedenklicher Zustand emotionaler Ergriffenheit ausgewiesen. Denn die Leidenschaften, die bereits eo ipso für ein sinnliches Übergewicht im Seelenhaushalt verantwortlich seien,635 würden „schwermerisch oder enthusiastisch, entweder wenn sie gar keinen würklichen 628 Jenisch in Moritz (1787), S. 218. 629 Jenisch in Moritz (1787), S. 217. 630 Jenisch in Moritz (1787), S. 218. 631 Jenisch in Moritz (1787), S. 218. 632 Moritz (1787), S. 227–228 [Hervorhebungen im Original]. 633 Moritz (1787), S. 228. 634 Meister (1775), S. 2. 635 Vgl. Meister (1775), S. 4.
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Gegenstand in der Natur haben, oder wenn sie demselben einen übertriebenen Werth geben“636. Ganz im Sinne von Jenischs Vorstellung eines schwärmerischen Spinnengewebes sieht Meister eine ausschweifende Einbildungskraft am Werk, die einzelne Vorstellungen in kurioseste Verbindungen setze.637 Dass es sich dabei um eine „Verrückung“638 der Seele handele, stehe außer Frage; dass diese Verrückung allerdings gleichzeitig eine „Entzündung“639 darstellt, kann als weitere Parallele zu Jenischs Erörterung, aber auch zu allen anderen in diesem Kapitel diskutierten Konzepten gelten. Wie bedingungslos und unüberlegt die Folgsamkeit jener leidenschaftlich Entflammten mitunter aussehen kann, demonstriert ein süffisanter Einwurf: „Daher jener Schwarm von Schafsköpfen, welche über Kopf und Hals mit dem Führer der Heerde in den Abgrund hinabstürzen!“640 Meisters Schrift berichtet in großem Stil von einem derart kopflosen Prinzip schwärmerischer Folgsamkeit. Die davon Betroffenen seien „Feuer und Flamme[ ]“641, von „Flammenwirbel“642 und „Hize“643 erfasst – sogar von einem „Brand“644 auf der Ebene der Imaginationen ist die Rede. Wenngleich sich die Schrift auf Formen religiöser Schwärmerei konzentriert, diskutiert ein kurzer Abschnitt den politischen Problemhorizont des Phänomens.645 Meister plädiert hier für einen gemäßigten, vernunftgeleiteten und vor allem gemeinwohlorientierten Enthusiasmus,646 dessen Wirksamkeit sich gleichwohl im „Flammenlicht der Einbildungskraft“647 merklich steigere. Auch bei Meister findet sich also die Überlegung, dass „[a]ussergewöhnliche Unternemmungen […] schwerlich ohne einen ziemlichen
636 Meister (1775), S. 5. 637 Vgl. Meister (1775), S. 6–7. 638 Meister (1775), S. 7; vgl. 4. 639 Meister (1775), S. 8. 640 Meister (1775), S. 8. 641 Meister (1775), S. 11. 642 Meister (1775), S. 8. 643 Meister (1775), S. 8. 644 Meister (1775), S. 12. 645 Vgl. Meister (1775), S. 16–24. Hier finden sich einige Anhaltspunkte zu einer Psychologie der Masse (vgl. S. 16–17). 646 Vgl. Meister (1775), S. 18–20. Eine trennscharfe Differenzierung zwischen den Begriffen des Enthusiasmus und der Schwärmerei ist nicht festzustellen, wobei den enthusiastischen Zustand offenbar ein geringerer Grad an emotionaler Derangiertheit und ein Mindestmaß an Rationalität auszeichne (vgl. Meister (1775), S. 8–12). 647 Meister (1775), S. 18, und weiter: „Gerade ists so mit dem moralischen und dem politischen Enthusiasmus. Beym Grundriß und Maaßstab jeden Punckt fest sezen; bey der Ausführung lasse man das Flammenlicht der Einbildungskraft den Gesichtskreis erhöhen!“ (S. 18).
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Grad an Enthusiasmus durchgesezt werden“648. Dies umfasst – wie auch bei Sulzer und Jenisch – explizit Formen politischer Schwärmerei. Was die öffentliche Wahrnehmung des Schwärmers betrifft, bemerkt Meister, und hierin mag die selbstkritische Pointe seiner Ausführungen liegen, dass nur ein schmaler Grat zwischen Pathologisierung und Glorifizierung verlaufe: „Nur diejenigen verbannt man ins Tollhaus, deren Chimären der bürgerlichen Ordnung gefährlich seyn würden. Wie vielen andern erlaubt man nicht auf Kanzeln oder Cathedern, in Meß-Katalogen oder selbst auf Triumphbogen zu glänzen?“649 Dass die leidenschaftliche Entzündung, die den Schwärmer, den Charismatiker, den großen oder verdienstvollen Mann und schließlich den Helden auszeichnet, einen Weg ins Tollhaus und auf den Triumphbogen gleichermaßen zu initiieren vermag, davon zeugen die ausgewählten politischen Held*innendramen.
648 Meister (1775), S. 19. 649 Meister (1775), S. 2.
III Lektüren 1 Eiserne Handreichungen. Götz von Berlichingen „Da stehn unsre heutigen Theaterhelden und verseufzen ihre letzte Lebenskraft einer bis über die Ohren geschminkten Larve zu gefallen – Schurken und keine Helden! was habt ihr getan, daß ihr Helden heißt?“650 In seiner legendären Hommage an Goethes 1773 erschienenes Schauspiel Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand mokiert sich Jakob Michael Reinhold Lenz über den mangelnden Heroismus der auf den zeitgenössischen Bühnen stehenden Figuren. Ganz anders nimmt sich dagegen, folgt man dem selbst ernannten Götz-Enthusiasten,651 Goethes dramatischer Erstling aus: [L]aßt uns den Charakter dieses antiken deutschen Mannes erst mit erhitzter Seele erwägen und wenn wir ihn gutfinden, uns eigen machen, damit wir wieder Deutsche werden, von denen wir so weit weit ausgeartet sind. Hier will ich euch einige Züge davon hinwerfen. Ein Mann der weder auf Ruhm noch Namen Anspruch macht, der nichts sein will als was er ist: ein Mann. – Der ein Weib hat, seiner wert, nicht durch Schmeichelei sich erbettelt, sondern durch Wert sich verdient – eine Familie, einen Zirkel von Freunden, die er alle weit stärker liebt, als daß ers ihnen sagen könnte, für die er aber tut – alles dran setzt ihnen Friede, Sicherheit für fremde ungerechte Eingriffe, Freude und Genuß zu verschaffen – sehen Sie da ist der ganze Mann, immer weg geschäftig, tätig, wärmend und wohltuend wie die Sonne, aber auch eben so verzehrendes Feuer, wenn man ihm zu nahe kommt – und am Ende seines Lebens geht er unter wie die Sonne, vergnügt, bessere Gegenden zu schauen wo mehr Freiheit ist, als er hier sich und den Seinigen verschaffen konnte, und läßt noch Licht und Glanz hinter sich.652
Götz’ Figurenprofil liest sich geradewegs als Musterbeispiel des bei Abbt und Hirschfeld diskursivierten großen Mannes. Einen altruistischen, nicht am eigenen Ruhm interessierten, stets zum Wohle seiner Lieben handelnden und gerechtigkeitsliebenden ‚ganzen Mann‘, den die ‚feurige‘ Tat weit mehr auszeichnet als das einfühlsame Wort, habe Goethe hier zum dramatischen Protagonisten erhoben – einen, der sogar sonnig-frohen Mutes aus dem Leben scheide, mit der utopischen Haltung, im Jenseits mehr Freiheit erfahren zu können, als er auf Erden erstritten habe. Ja, dieser Götz ist, das implizieren Lenz’ Zeilen, einer, der die im Drama geschilderte, mittelalterliche Welt mit seiner Tatkraft nicht nur ein kleines bisschen besser gemacht habe, sondern der noch darüber hinaus Hoffnung, ‚Licht
650 Lenz, ÜG, S. 638. 651 Vgl. Lenz, ÜG, S. 638. 652 Lenz, ÜG, S. 639–640 [Hervorhebung im Original]. https://doi.org/10.1515/9783110660722-004
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III Lektüren
und Glanz‘, für seine Nachgeborenen hinterlasse. Letzteres gelte nicht nur auf der stückinternen Ebene, d. h. für die in der Schlussszene zurückbleibenden Figuren, namentlich Götz’ Ehefrau, seine Schwester und sein Getreuer Lerse. Hoffnung verbreite Goethes Titelheld auch für die zeitgenössischen Deutschen, die Lenz dazu anhält, dem Ritter mit der eisernen Hand charakterlich nachzueifern. Seinem Beispiel zu folgen, könne sogar zur Wiedererlangung einer als verloren betrauerten, vor Urzeiten intakten deutschen Identität dienen. Dass Götz als Gallionsfigur einer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts offenbar dringend gebotenen Reaktivierung ‚urdeutscher‘ Identität und schließlich auch zur Etablierung eines nationalen Gemeinschaftssinns tauge, ist ein zentraler Punkt in den bewundernden Reaktionen der Zeitgenossen auf das Stück.653 Im Folgenden wird argumentiert, dass Goethes Zuschnitt der Figur des Götz von Berlichingen bei näherem Hinsehen die von Lenz artikulierte Sehnsucht nach politischer Unifikation durch einen ‚großen, vorbildhaften deutschen Charakter alten Schlages‘ nicht zu erfüllen vermag. Allerdings macht die als Einstieg gewählte, euphorische Besprechung auf die politische Grundierung des Textes aufmerksam. Indem Goethes im Mittelalter spielendes Ritterschauspiel für geeignet erklärt wird, ein ‚Deutschtum‘ wiederzuentdecken, attestiert Lenz dem Stück zugleich eine unmittelbare Relevanz für die als defizitär wahrgenommene Situation im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. In diesem Sinne diskutiert ein Großteil der Forschung die politische Problemstellung in Götz von Berlichingen als Frage nach den im Text verhandelten, zeitgenössischen Staats-, Rechtsund Geschichtsdiskursen. Insbesondere gehe es Goethe um die Exponierung des Gegensatzes zwischen einem patriotisch grundierten Reichs-Partikularismus und einem modernen, nationalstaatlichen oder absolutistischen, Zentralismus sowie Bürokratismus.654 Dabei wird in aller Regel entweder dem Titelhelden
653 Vgl. für einen Überblick über die z. T. begeisterten Reaktionen der jungen literarischen Generation – als einschlägig kann hier neben Lenz der Götz-Enthusiasmus Gottfried August Bürgers gelten – die Darlegungen von Borchmeyer (1985), S. 780–790. Vgl. auch Dainat (2013), S. 152–154; Nägele (1980), S. 70. Vgl. auch Huyssens (1980) Bewertung der politischen Wirkung von Goethes Stoffwahl: Das Stück verdeutliche beispielhaft „[d]as progressive Interesse für eine einheitliche nationale Kultur“ (S. 140). 654 Vgl. die auf das politische Reichsdenken konzentrierte Interpretation von Hien (2015), S. 186–220, die diesen Gegensatz gleichwohl kritisch in Augenschein nimmt (vgl. S. 195–196). Vgl. auch Burgdorf (2002). Vgl. Jürgensens/Irsiglers (2010) Lektüre der Götz-Figur als anachronistischen „Modernisierungsverlierer“ (S. 77). Vgl. Wilson (2007), der den Text im Spannungsfeld von literarischer Opposition gegen einen feudal-absolutistischen Staat und politischen Konservatismus verortet. Vgl. Lange (2002, 2001, 2000). Vgl. M. Willems (1995) mit einer eingehenden Diskussion der gesellschaftlichen und politischen Problemkonstellation des Textes und mit einer ausführlichen Kritik der älteren Forschung, S. 120–150. Vgl. Borchmeyer (1985), S. 795–800.
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oder seinem Autor selbst ein Votum für „einen konservativen Reichspatriotismus anstelle eines modernen Nationalismus“655 unterstellt und dies auf Goethes Rezeption der Schriften Justus Mösers zurückgeführt.656 Meine Lektüre wird nicht ein weiteres Mal nach einer in Götz von Berlichingen propagierten politischen Stellungnahme Goethes fragen und auch nicht zu identifizieren versuchen, ob der Text bestimmten, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kursierenden Staats-, Rechts-, Geschichtsauffassungen respektive Gesellschaftsdiagnosen das Wort redet oder diese kritisiert. Unterhalb solcher großformatig argumentierenden, politischen Deutungslinien, zu denen auch die oft im Vagen verbleibende Klassifikation des Stückes als Geschichts- bzw. Gesellschaftsdrama657 zu zählen ist und die letztlich um die Frage kreisen, ob im Text ein Problemhorizont moderner Nationalstaatlichkeit verhandelt wird, kommt es mir darauf an, Götz als moderne politische Figur zu beschreiben, und zwar als Helden charismatischen Zuschnitts. Was Goethes Ritter-Schauspiel meines Erachtens in einer die Fragestellung der im weiteren Verlauf dieser Arbeit diskutierten Dramen inaugurierenden Weise vorstellt, ist ein konzises Figurenprofil des politischen Helden. Dessen unifikatorische Kraft gibt der Text als Produkt einer eigendynamisch entfesselten politischen Vorstellungskraft zu erkennen. Schon in Goethes Frühdrama findet sich also der Zusammenhang von Heldentat und Heldentraum als Pointe einer politischen Analytik gestaltet.
655 Dainat (2013), S. 155. Vgl. ferner Hinderer (1992), S. 29; Martini (1972), S. 29. 656 Vgl. Dainat (2013), S. 143–144, 155; Karthaus (2000), S. 87; Luserke (1997), S. 104–106; Woesler (1999); Michelsen (1993), S. 43–45; Vgl. die einschlägige Studie von Renate Stauf (1991) Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe, bes. S. 378–392. 657 Vgl. exemplarisch Stauf (1991), da hier die These vom Geschichtsdrama insofern konkretisiert wird, als sie das Stück mit Justus Mösers Geschichtsauffassung ins Verhältnis setzt (S. 378–392). Allerdings kommt auch ihre Deutung zu der Schlussfolgerung, bei Götz handele es sich um einen „konservativen Rebellen“, mit dem Goethe die „von Möser vielfach beschriebene patriarchalisch strukturierte Welt des deutschen Mittelalters wiedererstehen“ (S. 383) lasse. Zwar erfolge im Götz keine „Glorifizierung der untergegangenen Epoche des Faustrechts“ (S. 381), wohl aber vermittele das Stück durch sein historisches Sujet und durch den anachronistischen Zuschnitt seines Titelhelden eine Kritik am modernen Reichsabsolutismus: „Der Bezug auf die älteren ‚freieren‘ Epochen deutscher Geschichte wird auf diese Weise zum wirksamen Mittel der Gegenwartskritik. Er schärft den Blick für den Substanzverlust der Freiheiten des einzelnen innerhalb des ständischen Gesellschaftssystems und macht vor allem deutlich, von wo aus diesen Freiheiten in Zukunft die größte Gefahr droht, nämlich von den absolutistischen Landesfürsten.“ (S. 380–381) Wenn etwa Martini (1972) das Schauspiel als „Experiment einer Vereinigung von Charakterdrama und Gesellschaftsdrama“ (S. 35) beschreibt, wird die geschichtlich-soziale Dimension einigermaßen unkonkret darin gesehen, Goethe wolle die Limitationen aufzeigen, die sich für ein ‚freiheitlich-autonomes Subjekt‘ aus nicht näher spezifizierten geschichtlichen und gesellschaftlichen ‚Gegebenheiten‘ ergäben (vgl. S. 35). Vgl. ähnlich Michelsen (1993), S. 54–55.
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Was sind die Kennzeichen eines solchen Figurenprofils? Außer Frage steht Götz’ heroische Tatkraft, die Goethe nicht zuletzt mittels des bereits epithetonisch exponierten, körperlichen Merkmals seines Protagonisten ausschreibt. Der Ritter mit der eisernen Hand steht von Beginn des Textes an mindestens in dem Ruf, mit seiner zwar verstümmelten, aber dadurch umso ‚durchschlagskräftigeren Rechten‘658 etwas gegen die herrschende politische Klasse und für die einfachen Leute zu tun; er gilt als „Mann den die Fürsten hassen, und zu dem die Bedrängten sich wenden“ (GB, S. 288). Dass Götz von Berlichingen das Recht in seine eigenen Hände nimmt und auf dem von Fehden und Bauernkriegen bestimmten, konfliktgeschüttelten politischen Schauplatz eigenmächtig agiert, stellt jedoch nur die eine, gern betonte Seite seiner figuralen Gestaltung dar, die mitunter auf den von Goethe selbst kolportierten Begriff des Selbsthelfertums gebracht wird.659 Meine Argumentation arbeitet in Abgrenzung zu Deutungen, die Götz’ Taten für den geradlinigen Ausdruck eines authentischen und konsistenten ritterlichen Ethos halten, heraus, wie wenig bestimmend die zweifellos vorhandene Agenda des Goethe’schen Helden für die geschilderte Machtdynamik ist. Götz hat, wie zu zeigen sein wird, die politischen Ereignisse nicht ‚im Griff‘, ihm fehlt das eigentliche ‚politische Händchen‘, die taktische Sensibilität auf dem Terrain der Machtpolitik. Das Feld der politischen Allianzbildung gestaltet Goethe als komplexes Spiel der Handreichungen, über das bezeichnenderweise gerade der Ritter mit der Handprothese nicht Herr ist. Eine vorausschauende Übersicht im Bereich der über die Opposition von Freund und Feind organisierten Bündnispolitik ist Götz’ Sache nicht. Politisch relevant ist sein Handeln, wo er in das von den veritablen Strategen initiierte und gelenkte Kriegsgeschehen ‚eingreift‘; im direkten ‚Schlagabtausch‘ ist er von allen Parteien gefürchtet und kann Erfolge verzeichnen. In seiner Rolle als heroisch für das Recht der Unterdrückten zu Felde ziehender Ausnahmekrieger besteht denn auch Götz’ charismatische Autorität: Auf genau dieses figurale Merkmal führt Götz seinen Heldenruhm selbst zurück, so wie sich die Heldenträume, die kollektiven Imaginationen und das Heroisierungsbegehren seiner Anhängerschaft eben darauf beziehen.
658 Vgl. zur Doppelbedeutung der ‚eisernen Rechten‘ als „Zeichen der Verstümmelung“ sowie als „Symbol von Kraft und Heroismus“ Nägele (1980), S. 67. 659 Vgl. den Beleg in Dichtung und Wahrheit: Goethe, DW, S. 450–451. Vgl. das entsprechende Kapitel in Estaramis (2005) Monographie Selbsthelfer in Zeiten des Umbruchs, S. 19–110, zu Götz: 55–87. Das Figurenprofil Berlichingens liest sich aus dieser Perspektive wie folgt: „Bei Götz handelt es sich um einen Selbsthelfer, der sich frei entfaltet, von innen heraus lebt, für das Fehderecht und seine Freiheit kämpft und Schöpfer seines eigenen Daseins sein will. Diese Figur steht trotz ihrer Einschränkungen auf eigenen Beinen, ist stark, edelmütig und zuverlässig und glaubt an ihren Weg.“ (S. 75) Vgl. ferner Blawid (2011), S. 165.
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Der Figur des Götz von Berlichingen ist ohne Zweifel weit mehr eine eigene Überzeugung, ein politisches Bewusstsein zu attestieren als Figuren wie Wilhelm Tell oder auch dem Prinzen von Homburg. Für das dramatische Figurenprofil des politischen Helden hat Götz indessen erheblichen Indizienwert, weil der Text jenes ritterlich-heroische Ethos seines Protagonisten konsequent aushöhlt bzw. als politisch uneffektiv vorführt. Gleichwohl wird Götz als Held eine spezifische Funktion im politischen Gefüge zugewiesen, die vor allem in seiner kriegerischen ‚Durchschlagskraft‘ und in seiner Fähigkeit besteht, andere qua seines Heldenrufes zu affizieren. Unfähig ist der Held jedoch, wenn es darum geht, machtpolitisch zu taktieren und mehr noch zu herrschen bzw. eine politische Gemeinschaft planvoll zu führen – ein Thema, das Kleist in Prinz Friedrich von Homburg als direkte Konfrontation zwischen Souverän und Held gestaltet. Goethe zeigt Götz in erster Linie als eine die Heldensehnsüchte der ihn Umgebenden beflügelnde Projektionsfigur. Ausgestellt wird, wie jemand die Heldenrolle spielt, ohne dass dabei die souveräne Figur eines großen Mannes ins Bild gesetzt würde. Das Schauspiel wird als Auftakt zu einer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer mehr Form annehmenden, deutschen Dramentradition aufgefasst, die eine textuelle Analytik politischer Machtdynamiken und Konstitutionsprozesse auf das Phänomen des politischen Heroismus konzentiert. Mein Versuch, Götz von Berlichingen als Anfangspunkt einer solchen Gattungstendenz des Held*innendramas zu untersuchen, formuliert einen Gegenvorschlag sowohl zur zeitgenössischen Rezeption als auch zu Forschungspositionen, die den Text als sogenanntes ‚Charakterdrama‘ des Sturm und Drang verstehen.660 Bereits die eingangs zitierte Rezension liefert dafür das entscheidende Stichwort, denn für Lenz besteht die politische Aktualität des Schauspiels gerade darin, dass hier ein exzeptioneller Charakter literarische Gestalt annehme. Was sich bei Lenz andeutet, macht Schiller in seiner Egmont-Rezension explizit, wenn er Goethes Trauerspiel um den niederländischen Grafen als Dramentypus analysiert, dem es im Unterschied zur antiken Tragödie nicht auf die Darstellung von „Handlungen und […] Leidenschaften“661, sondern von „Individualität, Ausführlichkeit und Schärfe der Charakteristik“662 ankomme. Schiller sieht Egmont als Charakterdrama in Shakespeare’scher Tradition stehend und bezeichnet Götz
660 Diese Einschätzung korreliert in der Regel mit dem Hinweis auf die dramenpoetischen Neuerungen (Auflösung der drei Einheiten, heterogene Figurensprache u. a. m.), durch die sich das Götz-Schauspiel auszeichnet. Vgl. dazu Valk (2012), S. 134–135, 140. 661 Schiller, ÜE, S. 926 [Hervorhebungen im Original]. 662 Schiller, ÜE, S. 927.
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als „das erste Muster in dieser Gattung“663 für den deutschen Sprachraum.664 Dies trifft sich wiederum mit Lenz’ dramenpoetischen Überlegungen in den Anmerkungen übers Theater (1774), in denen für die Abkehr vom Aristotelischen Handlungsprimat zugunsten einer prononcierten Charakterzeichnung votiert wird:665 „Der Held allein ist der Schlüssel zu seinen Schicksalen.“666 Lenz’ Traktat gilt bekanntermaßen als programmatische Theorieschrift für das Drama des Sturm und Drang.667 Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass die Frage, ob es sich bei Götz von Berlichingen um ein Charakterdrama handele, einen persistierenden Diskussionspunkt in denjenigen Forschungsbeiträgen bildet, die Goethes Schauspiel als beispielhaftes Sturm und Drang-Drama verstehen.668 Götz wird dabei einerseits – und dies insbesondere in älteren Deutungen – als bewunderungswürdiges Exempel männlicher Größe, natürlicher Stärke und Tatkraft analysiert.669 Als ‚Vorzeigecharakter‘, als literarisches Musterbeispiel eines emphatischen Individualitätskonzepts, das in der Programmatik der Sturm und Drang-Generation eine wesentliche Errungenschaft bürgerlicher Emanzipation bedeute, firmiert Goethes Protagonist hier.670 In diesem Zuge wird auch der Ter-
663 Schiller, ÜE, S. 927. 664 Vgl. dazu die Apostrophierung Goethes als ‚deutscher Shakespeare‘ in den zeitgenössischen Stellungnahmen zum Götz. Vgl. für einen Überblick über die diesbezüglichen Einlassungen Gottfried August Bürgers, Herders, Wielands und Tiecks Borchmeyer (1985), S. 769, 780–786. Vgl. zum Zusammenhang von Ritterdrama und Shakespeare-Rezeption Heitz (2006). 665 Vgl. Lenz, AT. Auch bei Lenz firmiert Shakespeare als Gewährsmann einer solchen Dramenform; dessen Historiendramen seien im eigentlichen und guten Sinne als „Charakterstücke“ (S. 669) zu bezeichnen. 666 Lenz AT, S. 669. 667 Vgl. Luserke (2001). Vgl. ferner Kühlmann/Vollhardt (2003), S. 543. Neben Lenz’ Schrift wird zudem häufig auf eine ebenso programmatische Breitenwirkung von Goethes Zum Shakespears Tag (1771) verwiesen. (Vgl. Asmuth (1997), S. 298). 668 Dementsprechend spricht Luserke (1997) von einem „Initiationstext des Sturm und Drang“ (S. 107). Vgl. die kritische Zusammenfassung der älteren Forschungsdebatte um Götz als „Charakterdrama oder Geschichtsdrama“ (S. 120) bei M. Willems (1995), S. 120–133 und Huyssen (1980), S. 144–145. Vgl. für eine Synthese von „Charakterdrama und Gesellschaftsdrama“ (S. 28) argumentierend Martini (1972). Vgl. kritisch zu dieser Opposition, und dies exemplarisch für die neuere Forschung André (2003); Lange (2002). 669 Vgl. wiederum die Forschungsparaphrase bei M. Willems (1995), S. 120–121. 670 Vgl. M. Willems (1995), S. 133. Willems stellt die Probleme derjenigen Textinterpretationen heraus, die unkritisch aus diesem Größe- und vor allem Individualitätsbegriff heraus entwickelt werden. Vgl. als Beispiel für eine solche Lektüre Karthaus (2000): „Die Tragödie Götz von Berlichingens ist die Tragödie des großen Menschen. ‚Groß‘ hat hier die für den Sturm und Drang kennzeichnende Bedeutung. […] Die Größe zeigt sich in der Freiheit des konkreten Lebensvollzuges. […] Freiheit ist Autarkie – Unabhängigkeit – und Autonomie – Leben nach eigenen Gesetzen.“ (S. 95).
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minus des „Kraftgenie[s] oder Kraftkerl[s]“ bemüht.671 Demgegenüber werden in der Forschung ab den 1960er-Jahren verstärkt die Fragilitäten und Ambivalenzen des vermeinlich so urwüchsig autonomen Götz-‚Charakters‘ betont, ohne dass dabei jedoch die Gattungsform eines Charakterdramas in der Prägung des Sturm und Drang angezweifelt würde.672 Die auf ein ‚Charakterbild‘ des Protagonisten konzentrierten Interpretationen übersehen, ganz egal, ob sie ein in emphatischem Sinne autonomes oder ein brüchiges Individuum porträtiert sehen, meines Erachtens den analytischen Impetus jenes Heldendramas. Würde man sich dem im Text unzweifelhaft zentralen Thema des politischen Heroismus vor dem Hintergrund der These vom Charakterdrama zuwenden, wäre die Deutung vor die Alternative gestellt, ob Götz ein (möglicherweise auch noch im Tod) reüssierender oder scheiternder Held sei. Vorgeschlagen wird stattdessen, sich dem Drama über den Begriff der Figuration zu nähern, um die Funktion des Helden im politischen Figurengefüge genauer aufschlüsseln zu können.673 Wählt man diese Deutungsperspektive, kommen rasch Zweifel daran auf, dass Berlichingens Heldenmission den handlungsleitenden Dreh- und Angelpunkt des Dramas bildet. Götz ritterliches Ethos, seine von ihm selbst und von den anderen Figuren darauf zurückgeführten Handlungen geben, um mit Lenz zu sprechen, gerade nicht den ‚Schlüssel‘ zur politischen Problemstellung des Textes an die Hand; das geschilderte System der politischen Handreichungen hat einen Komplexitätsgrad, dem eben nicht mit ‚eiserner Hand‘ beizukommen ist. In Goethes Ritterschauspiel geht es keineswegs um ein eindeutiges respektive ambivalentes Charakterbild des politischen Helden, sondern um den Prozess der Held-Werdung sowie um heroische Phantasien, die in ihrer politischen Funktionalität analysiert werden.
671 Schmiedt (2002/2003), S. 139. Allerdings weist Schmiedt darauf hin, dass der ‚Kraftkerl‘ in der Literatur des Sturm und Drang nur einerseits als übermäßig tatkräftiger „Figurentypus“ (S. 140) „eines vehement opponierenden, auf seine besondere Individualität pochenden Außenseiters“ (S. 139) gezeichnet wird. Im Gegenteil untersucht Schmiedt an ausgewählten Texten, u. a. auch an Götz von Berlichingen, wie jene „Kraftgenies, die so sehr den Grunddispositionen des Sturm und Drang entsprechen, […] durchaus nicht pauschal idolisiert“ (S. 140) werden. Vgl. ähnlich auch M. Willems (2013). Vgl. ferner Blawids Studie (2011) Von Kraftmenschen und Schwächlingen, die zwar ein Kapitel zu Goethes Götz-Schauspiel enthält (vgl. S. 162–218), aber den im Titel geführten Begriff des Kraftmenschen bei der Textanalyse nicht geltend macht. 672 Vgl. Luserke (1997), S. 109, 111–112; mit einer ausführlicheren Diskussion der Forschung Huyssen (1980), S. 143–149; Nägele (1980); Graham (1963, 1965); Ryder (1962, 1964). 673 Auf die Ebene der Figurenkonstellation konzentriert sich auch André (2003), der signifkante Wiederholungstrukturen im Text herausarbeitet und aus dieser Perspektive die These vom ‚Charakterdrama‘ in Zweifel zieht (vgl. S. 26).
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Ähnlich argumentierend hat Lamport die These in Zweifel gezogen, dass es sich bei Götz von Berlichingen um ein Charakterstück nach den dramenpoetischen Maßgaben des Sturm und Drang handelt. Es lohnt sich, diese Überlegungen wiederzugeben, da zusätzlich ein Vorschlag, das Figurenprofil eines Götz anders zu fassen, unterbreitet wird und überdies ein alternativer Gattungsbegriff angesetzt wird: Both Götz and Egmont are presented as charismatic heroes, leaders who are shown to exert some kind of personal magnetism, inspiring love and loyalty in their followers and some kind of respect even in their enemies. This charismatic authority, rather than the character of the hero pure and simple, is in fact the real subject of these plays. […] The personality is an image, a projection in the minds of others, perhaps to some extent in the mind of the hero himself, but one to which no tangible reality, no substance of character, adequately corresponds. The tragedy of character turns out to be a tragedy of charisma.674
Hier wird auf den wichtigen Punkt aufmerksam gemacht, dass der ‚Charakter‘ des politischen Helden nicht die substanzielle Zentralinstanz des Stücks bildet. Vielmehr wird Goethes Protagonist als Gegenstand der politischen Einbildungskraft analysiert. Wenn Lamport überdies die Darstellung der Funktionsweise charismatischer Autorität als wesentliches Thema des Götz und weiterer politischer Dramen Goethes und Schillers auffasst, trifft sich dies mit meinem Versuch, die hier ausgewählten Held*innendramen als dramatische Vorgeschichten zum modernen Charisma-Konzept zu beschreiben. Goethes Götz ist demzufolge kein psychologisch dechiffrierbarer großer Mann, der in seinem Freiheitspathos entweder scheitert oder Erfolg hat, sondern eine Figur, deren Heldentum in Form von träumerischen sowie imaginativen Fremdzuschreibungen entsteht.
1.1 Heldengeschichten statt Heldentaten Bei einem „Glas Branntewein“ (GB, S. 281) unter Bauern in einer fränkischen Herberge führt Goethes Schauspiel die Figur des Götz von Berlichingen indirekt ein: „Erzähl das noch einmal, vom Berlichingen, die Bamberger dort ärgern sich sie mögten schwarz werden.“ (GB, S. 281) Mit dieser Bitte, über Götz zu erzählen, entspinnt sich das Gespräch zweier Anführer der rebellischen Bauern,675 Sievers und Metzler, das auf eine direkte Provokation der in das Gasthaus eintretenden Gefolgsleute des Bambergischen Bischofs zielt. Recht genau wird im Zuge dessen die politische Konfliktlage des Stücks inauguriert. Götz eignet sich nämlich insofern als 674 Lamport (1989), S. 66 [Hervorhebung im Original]. 675 Den historischen Hintergrund dieser Szene bilden die spätmittelalterlichen Bauernkriege (1524/1525).
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Ärgernis für die Bamberger, als er mit dem Bischof und dessen „rechte[r] Hand“ (GB, S. 281), Adelbert von Weislingen, verfeindet ist. Nach der wiederholten Aufforderung „Ich bitt dich erzähls doch noch einmal!“ (GB, S. 281) werden die jüngsten Ereignisse der Auseinandersetzung referiert, und zwar im Brustton der Überzeugung, „der getreuherzige Berlichingen“ (GB, S. 281) befinde sich im Recht. Nach einer vertraglichen Beilegung des Zwistes zwischen Götz und dem Bischof, die nur zu Stande gekommen sei, weil sich ersterer aus siegreicher Position heraus nachgiebig gezeigt habe, sei der Streit von Neuem entbrannt, als der Bischof einen Gefolgsmann Berlichingens gefangen gesetzt habe (vgl. GB, S. 281). Überdies schildert Sievers einen geplanten, fulminanten Racheakt Götz’ gegen den Bischof, der lediglich durch Verrat verhindert worden sei (vgl. GB, S. 282). Die den Bischof verunglimpfende und Götz idolisierende Rede erreicht ihren Zweck, es kommt zum Handgemenge zwischen den Bauern und den Bamberger Reitern, das unterbrochen wird durch den Auftritt zweier in Götz’ Diensten stehender Reiter (vgl. GB, S. 282). Diese sind jedoch auch nach expliziter ‚Einladung‘ (vgl. GB, S. 283) ganz und gar nicht gewillt, sich in jene Kneipenschlägerei einzumischen, sondern bestrebt, die Information, dass sich Weislingen auf dem nahe gelegenen Schloss aufhalte, rasch an ihren Dienstherren weiterzugeben. Bereits hier zeigt sich, dass die politische Lagerbildung keineswegs als zweipoliger Konflikt gestaltet wird: Als bloße Söldner und „Scheißkerle“ (GB, S. 283) beschimpft Sievers die davon preschenden Berlichingischen Reiter, was einerseits zeigt, dass die Zugehörigkeit zu Götz keineswegs eine unmittelbare Sympathie für die Bauern bedeutet und andererseits vor Augen führt, dass Götz’ Lager nicht nur aufgrund reiner Treuherzigkeit zusammengehalten wird. Darüber hinaus demonstriert die Eingangsszene, dass Götz in der politischen Auseinandersetzung als Figur funktionalisierbar ist: Eine Erzählung ‚vom Berlichingen‘ wird hier gezielt genutzt und hat die Wirkung, die gegnerische Partei zu einer handfesten Prügelei anzustacheln. Der erste Auftritt des Titelhelden portätiert diesen als unermüdlichen Krieger in Bereitschaft. Im Wald unter einer Linde liegt Götz „auf der Lauer“ (GB, S. 283), um Adelbert von Weislingen stellvertretend für den Bischof gefangen zu setzen. „Auf und ab muß ich gehen, sonst übermannt mich der Schlaf“ (GB, S. 283), lauten die Worte, mit denen sich Götz gemahnt, die eigene Mission tatkräftig weiter zu verfolgen. Beschwingt vom Wein und erklärtermaßen mit „frischem Mut“ (GB, S. 283) will er „der Fürsten Herrschsucht und Ränke“ (GB, S. 283) trotzen. „Nur immerzu. Ich bin wach.“ (GB, S. 283) – Dergestalt erklärt Berlichingen, sich selbst motivierend, die Bereitschaft zur Tat, die auch nach fünf Tage und Nächte dauerndem Schlafentzug ungebrochen sei. Mit dem Ruf nach seinem Buben tritt ein weiterer auf, den es, bereits anhand seiner Kostümierung ersichtlich, nach kriegerischer Aktivität geradezu dürstet.
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Georg tritt „im Panzer eines Erwachsenen“ (GB, S. 283), in der Rüstung eines schlafenden Gefolgsmanns Berlichingens, auf. Das daraufhin einsetzende Gespräch zwischen Götz und Georg macht deutlich, dass hier jemand seine adoleszente Phantasie nach einem heroischen Ritterleben im Kleinen ausgelebt hat, wie Georg verlegen gesteht: „Zürnt nicht. Ich nahm ihn [den Küraß] leise weg, und legt ihn an, und holt meines Vaters altes Schwert von der Wand, lief auf die Wiese und zogs aus.“ (GB, S. 284) Götz scheint gegen diese hochfliegenden und spielerisch in die Tat umgesetzten Träume nichts einzuwenden zu haben, wie sein „Schäm dich nicht Junge“ (GB, S. 284) demonstriert. Allerdings mahnt er Georgs Frühreife im Modus des Konjunktivischen an: „[…] ja, wenn du ihn [den Küraß] ausfülltest“ (GB, S. 284). Georgs Schwertproben kommentiert er mit dem augenzwinkernden „Da wirds den Hecken und Dornen gut gegangen sein.“ (GB, S. 284) Doch der Eifer des Buben, sich auf dem Schlachtfeld tatkräftig zu beweisen, ist so vehement, dass Georg nachdrücklich darum bittet, ja geradewegs fordert, beim Anschlag auf Weislingen dabei sein zu dürfen. Als Georg von Götz aber wieder einmal vertröstet wird (vgl. GB, S. 284), insistiert er auf seiner Eignung für den Kriegsdienst, indem er eine Episode aus Götz’ Ritterleben anführt und behauptet, dass der Verlust von Berlichingens Armbrust durch ihn, Georg höchstselbst, hätte verhindert werden können (vgl. GB, S. 284). Was der Bube hier zu Götz’ Erstaunen beweist, ist eine genaue Kenntnis der vergangenen Heldentaten Berlichingens. Goethes Text zeichnet die Figur des Georg nicht nur an dieser Stelle als einen von jugendlichem Ehrgeiz beseelten Heldenanwärter, der es kaum erwarten kann, in die Fußstapfen seines großen Vorbilds zu treten. Dazu passt, dass sich dieser von den Berlichingischen Knechten kontinuierlich über Götz’ Kriegsabenteuer Bericht erstatten lässt (vgl. GB, S. 284–285). Zu bemerken ist, dass bis zu diesem Zeitpunkt des Stücks von der heroischen Tatkraft des Ritters mit der eisernen Hand noch kein Exempel vorgeführt wurde. Sowohl in der einführenden Bauern-Szene als auch im skizzierten Dialog wird das Bild des Protagonisten als eines heldenhaften Rittersmanns in bewundernden erzählerischen Retrospektiven gezeichnet, ohne dass sich Götz dafür tatsächlich in Bewegung setzen müsste:676 „Durch die dramatische Komposition erscheint Götz als der große rechtschaffene Mann zunächst in der Rede der anderen. Sein
676 Hinderer stellt ebenfalls heraus, dass in der Exposition „alle Information über narrative Formen erfolgt“ (S. 34), und weitet diesen Befund auch für den weiteren Verlauf des Schauspiels aus: „Die Erzählungen von Sievers […], der Knechte […], des Mönches Martin […] und von Lerse […] liefern res factae, Wirklichkeitsberichte, die aber wie im Falle der Knechte, des Mönches oder Lerses auch so etwas wie eine öffentliche Meinung über Götz konstituieren.“ (S. 34) Zu ergänzen ist, dass die Frage nach dem ‚Wirklichkeitsgehalt‘ jener öffentlichen Meinung insofern aufgeworfen wird, als Berlichingens Heldentum bevorzugt im Modus diverser Erzählakte thematisch wird.
1 Eiserne Handreichungen. Götz von Berlichingen
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Bild und seine Vorstellung sind da, ehe er als Bühnenfigur präsent ist.“677 Auf der dramatischen Handlungsebene befindet sich Berlichingen allenfalls ‚auf der Lauer‘. Indem das Stück dergestalt eine Heroisierung des Protagonisten an epische Formate knüpft, wird zudem die Darstellungshoheit der dramatischen Gattung für das Heldenthema in Zweifel gezogen.678
1.2 Verliebt in eine Rüstung. Heldenphantasien Dies ändert sich im Folgenden nicht; im Gegenteil wird auch in der Unterhaltung zwischen Götz und einem vorbeiziehenden Mönch ausschließlich über ein – vor allem in der Vorstellung des Geistlichen blühendes – tätig-glückliches Heldenleben Berlichingens gesprochen.679 Die Konversation nimmt ihren Auftakt mit der Einladung zu einem Glas Wein, die den Mönch sogleich zur neidvoll klagenden Kontrastierung des heroischen Ritterdaseins mit der eigenen Existenzform veranlasst. Während der Genuss leiblicher Freuden den Rittersmann zur gesteigerten Tätigkeit anrege und somit seiner Profession zugute komme, erhöhe der Nahrungs- und Alkoholkonsum nur die „Begierden“ (GB, S. 286) des auf Askese ausgerichteten Klosterlebens. Was den Ritter „doppelt“ (GB, S. 286) befähige, ihn „noch einmal so leicht denkend, noch einmal so unternehmend, noch einmal so schnell ausführend“ (GB, S. 286) mache, bewirke für einen Mann Gottes das genaue „Gegenteil“ (GB, S. 286) dessen, was er sein solle. Jener Bruder, der bezeichnenderweise nicht mit seinem Klosternamen Augustin, sondern mit seinem Taufnamen Martin angesprochen werden möchte (vgl. GB, S. 285), tritt Berlichingen von Beginn an voller Bewunderung entgegen – offenbar Grund genug, doch noch nach dem ihm angebotenen Glas Wein zu greifen. Fortgesetzt bringt er seine Hochachtung für ein tätiges Dasein zum Ausdruck (vgl. GB, S. 286) und betont, auf eigenen Wunsch ruhelos wandernd unterwegs zu sein. Dass sich sein Blick wahrhaft begehrend auf Götz richtet, manifestiert sich in folgendem Wortwechsel: GÖTZ Was seht Ihr mich so an, Bruder? MARTIN Daß ich in Euren Harnisch verliebt bin. GÖTZ Hättet Ihr Lust zu einem? Er ist schwer und beschwerlich zu tragen. (GB, S. 286)
677 Nägele (1980), S. 68. 678 „Oft scheint es, als ob Handeln in diesem Stück nur stattfinden könnte, wo schon eine Geschichte ist. Gerade darin aber liegt die Bedrohlichkeit des Erzählens: daß es die Fiktion der Unmittelbarkeit unterminiert, indem es sie erzählt, daß es das Handeln seiner ‚Unschuld‘ beraubt, indem es davon berichtet und, scheinbar nachkommend, sich doch beständig vorgängig behauptet.“ (Nägele (1980), S. 75). 679 So auch van Ingen (1986), S. 2.
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Frei heraus artikuliert Martin an dieser Stelle den Wunsch nach heroischen Kriegsabenteuern. Seine drei Gelübde „Armut, Keuschheit und Gehorsam“ (GB, S. 287) erscheinen ihm ‚unerträglicher‘ als jede schwere Rüstung und damit als die Bürden des Ritterstandes, „der die besten Triebe, durch die wir werden, wachsen und gedeihen“ (GB, S. 287), hervortreibe. Die abwechselnd die eigene Situation beklagenden und sehnsuchtsvoll auf Götz’ ritterliche Lebensführung konzentrierten Worte des Mönchs veranlassen Berlichingen zu einer indirekten Einladung, sich seinem Tross anzuschließen (vgl. GB, S. 287). Martin allerdings gibt an, nicht die Helden-„Kraft“ (GB, S. 287) zu fühlen, die er für das ritterliche Tagewerk als notwendig erachtet. Seine „[a]rme schwache Hand“ sei „von je her gewöhnt Kreuze und Friedensfahnen zu führen, und Rauchfässer zu schwingen“, anstatt „Lanze und Schwert regieren“ (GB, S. 287) zu können. Was Goethe jenem seiner Profession offenbar mehr als überdrüssigen Mönch sodann in den Mund legt, liest sich als abermalige Lobeshymne auf Götz’ Heldenexistenz, wobei die Darstellung immer distanzlosere Züge annimmt:680 Martin versetzt sich phantasierend regelrecht an die Stelle Berlichingens, ja imaginiert, so die Didaskalie, in einem Zustand „feuriger“ (GB, S. 287) Leidenschaft die Szene einer beseelt-erschöpften Rückkehr des Helden nach vollzogenem Tatendrang: Wenn ihr wiederkehrt, Herr, in Eure Mauren, mit dem Bewußtsein Eurer Tapferkeit und Stärke, der keine Müdigkeit etwas anhaben kann, Euch zum erstenmal nach langer Zeit, sicher für feindlichem Überfall, entwaffnet auf Euer Bette streckt, und Euch nach dem Schlaf dehnt, […]; da könnt Ihr von Glück sagen! […] Wenn Ihr zurück kehrt mit der Beute Eurer Feinde beladen, und Euch erinnert: den stach ich vom Pferd, eh er schießen konnte, und den rannt ich samt dem Pferd nieder. Und dann reitet Ihr zu Eurem Schloß hinauf […]. (GB, S. 287–288)
Auch Götz’ unverständige Entgegnung „Was meinet Ihr?“ (GB, S. 288) kann der mönchischen Einbildungskraft keinen Einhalt gebieten, die noch zügelloser wird, wenn er schließlich, abermals Wein nachschenkend, von den „Weiber[n]“ (GB, S. 288) schwärmt, die den ermatteten Ritter daheim erwarten würden. Festzuhalten ist, dass die Figur des Götz von Berlichingen und insbesondere seine Heldenhaftigkeit durch eine derartige Dialoggestaltung in der begeisterten Vorstellung einer anderen Figur Kontur annehmen, ohne dass etwa monologisch oder mittels der Darstellung bestimmter Handlungen eine direkte Charakteristik des Protagonisten entwickelt würde.
680 Wenn Luserke (1997) Martin als eine die Begrenzungen aufklärerischer Rationalität kritisierende „Kontrastfigur zu Götz“ (S. 110) analysiert, übersieht er das die Szene bestimmende Thema der Heroischen. Dadurch dass sich der Mönch massiv in sein Heldenbild von Berlichingen hineinsteigert, wird ein verstandesferner Heroisierungsprozess beschrieben.
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Die Verabschiedungsgeste löst eine weitere rückhaltlos idolisierende und äußerst signifikante Beschreibung Berlichingens durch den Mönch aus. Auf Martins Irritation darüber, dass ihm Götz die linke Hand und nicht „die ritterliche Rechte“ (GB, S. 288) reicht, folgt ein Wortwechsel über die körperliche Versehrung des Ritters: GÖTZ Und wenn Ihr der Kaiser wärt, ihr müßtet mit dieser vorlieb nehmen. Meine Rechte, obgleich im Kriege nicht unbrauchbar, ist gegen den Druck der Liebe unempfindlich. Sie ist eins mit dem Handschuh, Ihr seht, er ist Eisen. MARTIN So seid Ihr Götz von Berlichingen! Ich danke dir Gott, daß du mich ihn hast sehen lassen, diesen Mann den die Fürsten hassen, und zu dem die Bedrängten sich wenden. Er nimmt ihm die rechte Hand. Laßt mir diese Hand, laßt mich sie küssen. GÖTZ Ihr sollt nicht. (GB, S. 288)
Nicht nur wird Götz’ Handprothese hier als Erkennungszeichen des Ritters ausgewiesen,681 sondern Martin knüpft daran sogleich die nächste bewundernde Charakteristik Berlichingens: ‚Dieser Mann‘, den zu treffen geradezu ein Gottesgeschenk sei, wende sich gegen die Obrigkeit und agiere im Dienste der ‚kleinen Leute‘. Dies steht in erheblichem Kontrast zu Götz’ eigenem understatement, die eiserne Hand sei mitunter ein brauchbares Kriegsinstrument, aber erlaube ihm nicht zu fühlen, wozu überdies passt, dass er den Handkuss des Mönchs abwehrt. Martins Euphorie darüber, leibhaftig vor dem Ritter mit der eisernen Hand zu stehen, scheint grenzenlos. Dementsprechend steigert er sich derart in seine Huldigung jener „belebte[n]“ (GB, S. 288) Heldenhand hinein, dass er, immerhin ein Mann Gottes, diese sogar in ihrem Wert über jede „Reliquienhand“ (GB, S. 288) erhebt, d. h. sie höher schätzt als die postumen Überreste von Heiligen. Während Götz sich bereits zur Schlacht rüstet und gar nicht mehr mit Martin, sondern mit seinen Knechten spricht (vgl. GB, S. 288–289), referiert der Mönch schier begeistert vor sich selbst eine zentrale Szene, ja wenn nicht sogar die Initialepisode der Götz’schen Heldenbiographie. Der Bericht wird eindeutig als vermittelter markiert: Der Mönch Martin erzählt, was ein reisender Mönch ihm und den übrigen Klosterbrüdern einstmals erzählt hat (vgl. GB, S. 288–289). Für besonders bemerkenswert hält Martin Götz’ Umgang mit dem Verlust seiner rechten Hand: Es war ein Mönch bei uns vor Jahr und Tag, der Euch besuchte, wie sie [die Hand] Euch abgeschossen ward vor Landshut, wie er uns erzählte, was Ihr littet, und wie sehr es Euch schmerzte, zu Eurem Beruf verstümmelt zu sein, und wie Euch einfiel, von einem gehört zu haben, der auch nur eine Hand hatte, und als tapferer Reutersmann doch noch lange diente. Ich werde das nie vergessen. (GB, S. 288–289)
681 Vgl. zur eisernen Hand als identifizierendes „Pars pro toto“ (S. 158) van Kempen (2000).
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Auch ein Götz von Berlichingen hat, das implizieren Martins im Brustton der Bewunderung formulierte Ausführungen, seine düsteren Momente, aber eben auch seine heldenhaften Vorbilder, die ihn inspiriert hätten, seines körperlichen handicaps zu trotzen. Und noch ein weiteres Detail des Berichts um die Verletzung könne Martin „nie vergessen“ (GB, S. 289): Dass nämlich Berlichingens eine Hand von Gott begnadet sei (GB, S. 289) und somit wertvoller sei als „zwölf Händ“ (GB, S. 289), die dieser Auszeichnung entbehren würden. In Martins Bericht gerät das Ereignis jener schmerzlichen Verstümmelung somit rasch zur Ursprungsszene einer dem Ritter attestierten besonderen Heldenkraft. Götz lässt die ihn heroisierenden Schwelgereien des Mönchs gänzlich unkommentiert und bricht zum nächsten Gefecht auf (vgl. GB, S. 289). Diese Wortkargheit gilt Martin als ein Indiz unter vielen, die ihn zum resümierenden Höhepunkt seiner imaginierten, zurechterzählten und nicht zuletzt erotisch grundierten Heldengeschichte kommen lassen: „Es ist eine Wollust, einen großen Mann zu sehn.“ (GB, S. 289) Die Szene schließt mit einem kurzen Zwiegespräch, das nochmals in aller Deutlichkeit vor Augen führt, dass Goethes Schauspiel bis zu diesem Zeitpunkt allen voran von heroischen Sehnsüchten berichtet. So treffen nämlich mit Martin und Georg zwei aufeinander, deren Heldenbegehren bekanntermaßen hoch ist. Als der Bube dem Mönch sein Nachtlager zuweist, wird jener sogleich mit einem Bildnis seines „tapfern Patron[s]“, des heiligen Georg, beschenkt. Während die dezent-ermunternde Aufforderung „Folge seinem Beispiel, sei brav und fürchte Gott“ (GB, S. 289), mit der Martin abtritt, noch nachklingt, löst das Heiligenbild indessen eine etwas anders gelagerte Reaktion des Buben aus als den Wunsch, sich fortan in braver Gottesfurcht zu üben. Stattdessen entfacht es Georgs Phantasie, dem Heiligen in einer seiner tatkräftigeren Missionen nachzueifern:682 Ach ein schöner Schimmel, wenn ich einmal so einen hätte! – und die goldene Rüstung! – Das ist ein garstiger Drach – Jetzt schieß ich nach Sperlingen – Heiliger Georg! mach mich groß und stark, gib mir so eine Lanze, Rüstung und Pferd, dann laß mir die Drachen kommen. (GB, S. 289)
Der Anblick der heroischen Accessoires des heiligen Georg im Bilde generiert sogleich den Wunsch, durch den Namensvetter heroisch ermächtigt zu werden und aktiv an dessen Stelle zu treten. War es zunächst „Hannsens Küraß“ (GB, S. 284), der die heroischen Ambitionen des Bubens beflügelte, so ist es nun der
682 Hinderer (1992) verkennt, dass Martins ‚religionspädagogisches‘ Bestreben, Georg mit dem Heiligenbild „auf ein höheres Ziel“ (S. 45) zu lenken, offensichlich scheitert, denn in allererster Linie möchte der Bube gegen Drachen kämpfen.
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Blick auf die ikonographische Darstellung eines Drachentöters, die von eigenen Heldentaten träumen, aber eben auch nur träumen macht.
1.3 Gegenperspektiven: Die Geschichte vom frommen Kind Die sich im Anschluss auf der heimischen Burg „Jaxthaussen“ (GB, S. 290) abspielende Szene zwischen Götz’ Ehefrau Elisabeth, seiner Schwester Maria und seinem Sohn Carl hat die Funktion, die zuvor präsentierten, begeisterten Blicke auf den Protagonisten anhand verschiedener Gegenperspektiven zu problematisieren. Ausgerechnet Berlichingens eigener Sprössling wird dabei als Figur eingeführt, die dem als Götz’ Nacheiferer stilisierten Buben Georg diametral entgegengesetzt ist.683 Und auch diejenige Figur, die doch recht direkt eine kritische Haltung gegenüber Götz’ heldenhafter Ritterlichkeit artikuliert, entstammt seiner näheren Verwandtschaft, es handelt sich um seine Schwester Maria. Diese alles andere als affirmativen, verwandtschaftlichen Nahperspektiven auf Götz von Berlichingen gilt es im Folgenden nachzuvollziehen. Ihren Auftakt nimmt die Konversation, wie bereits die Kneipenunterhaltung der Bauern, mit dem Wunsch nach einer Erzählung. Carl aber möchte etwas ganz anderes hören als eine Heldengeschichte über den Vater: „Ich bitte dich, liebe Tante, erzähl mir das noch einmal vom frommen Kind, ’s gar zu schön.“ (GB, S. 290) Der Inhalt der lehrstückhaften Anekdote, die Maria ihrem Neffen offenbar schon dutzende Male vorgetragen hat, ist rasch paraphrasiert: Ein Kind wird von seiner kranken Mutter losgeschickt, um ihr ein Frühstück zu besorgen. Auf dem Weg trifft es einen armen, alten Mann, dem es aus Mitleid das für die Versorgung der Mutter gedachte Geld schenkt, woraufhin sich der Mann als „schöner glänziger Heiliger“ (GB, S. 290) zeigt und seinerseits dem Knaben etwas schenkt: MARIA Für deine Wohltätigkeit, belohnt dich die Mutter Gottes durch mich, welchen Kranken du anrührst – CARL Mit der Hand – es war die rechte glaub ich. MARIA Ja. CARL Der wird gleich gesund. MARIA Da lief’s Kind nach Haus, und konnt für Freuden nichts reden. CARL Und fiel seiner Mutter um den Hals, und weinte für Freuden – MARIA Da rief die Mutter, wie ist mir! […] Und war gesund. Und das Kind kurierte König und Kaiser, und wurde so reich, daß es ein großes Kloster bauete. (GB, S. 290–291)
683 Vgl. Hinderer (1992), S. 37.
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In mehrfacher Hinsicht tauchen in der ‚Geschichte vom frommen Kind‘ figurale Elemente aus den vorangegangen Szenen wieder auf, allerdings in Form von signifikanten semantischen Inversionen: Das bemühte figurale Arsenal steht nicht mehr im Dienste einer unumwundenen Heroisierung Götz’ (Martin) respektive einer Darstellung der in Berlichingens Schatten erstehenden Heldenphantasien (Georg). Die betontermaßen rechte Hand des frommen Kindes fungiert in der Geschichte keineswegs als Kriegswerkzeug, sondern wird zum Medium mitleidender Wohltätigkeit, zur heilenden Hand. Zudem divergieren die Funktionen der präsentierten Heiligenfiguren in erheblichem Maße. Während der heilige Georg vom Buben Georg explizit als ritterlich-martialischer Drachentöter imaginiert wurde, erscheint die sich von einem armen, alten Mann zum Heiligen verwandelnde Gestalt als ein gänzlich pazifistischer Vermittler göttlicher Gnade, genauer: gottgleicher Heilungskräfte. Wenn Götz’ Sohn nach jener Geschichte vom frommen Kind verlangt, so wird er als Kontrastfigur zum Heldenanwärter Georg entworfen. Die Geschichte an sich und das so skizzierte Figurenprofil Carls beinhalten für sich genommen keine Problematisierung der Götz’schen Ritterlichkeit. Allerdings gerät letzterer direkt im Anschluss an die Erzählepisode ins Zentrum des Gesprächs. Maria nämlich bringt ihre Sorge über die lange Abwesenheit des Bruders und allgemeiner noch über dessen gefährlichen Lebenswandel zum Ausdruck (vgl. GB, S. 291). Es entspinnt sich eine im Beisein Carls, der als gänzlich arglos-naiver Knabe präsentiert wird („Aber muß dann der Papa ausreiten, wenn’s so gefährlich ist?“ (GB, S. 291)), zwischen Elisabeth und Maria geführte Auseinandersetzung darüber, wie Götz’ Ritterexistenz moralisch einzuschätzen sei.684 Elisabeth verweist dabei auf ein Beispiel, das die Motive und Handlungen ihres Gatten auf dessen äußerst stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zurückführen will (vgl. GB, S. 291). Carls kindliche Furcht wird daraufhin bishin zur Karrikatur gesteigert, wenn dieser entgegnet, dem Exempel des Vaters dennoch nicht folgen zu wollen, führe doch dessen Weg durch einen von „Zigeuner[n] und Hexen“ (GB, S. 291) bevölkerten „dicken dicken Wald“ (S. 291). Was von der eigenen Mutter mit einiger Süffisanz abgetan wird (vgl. GB, S. 291), nimmt indessen die Tante zum Anlass, Carls Zurückhaltung zu loben und stattdessen Zweifel an der Lauterkeit der Götz’schen Unternehmungen anzumelden: Du tust besser Carl, leb du einmal auf deinem Schloß, als ein frommer christlicher Ritter. Auf seinen eigenen Gütern findet man zum Wohltun Gelegenheit genug. Die rechtschaffensten Ritter begehen mehr Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit auf ihren Zügen. (GB, S. 292)
684 Vgl. zum antithetischen Verhältnis Elisabeths und Marias Hinderer (1992), S. 37.
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Mit einem barschen „Schwester du weißt nicht was du redst“ (GB, S. 292) wehrt Elisabeth die Kritik ab, ihr Mann werde dem Ideal frommer, christlicher Ritterlichkeit nicht gerecht. Die ‚Geschichte vom frommen Kind‘ dient somit auch dazu, Götz’ moralische Integrität mit einem Fragezeichen zu versehen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch dadurch, dass Elisabeth rasch das Thema auf denjenigen lenkt, der ihr als Musterbeispiel treuloser Ungerechtigkeit gilt, auf Adelbert von Weislingen, jenen Jugendfreund Berlichingens, der sich auf die Seite des Feindes geschlagen habe (vgl. GB, S. 292). Der im Dienste des Bamberger Bischofs stehende Weislingen ist, so die Erfolgsmeldung eines auf der Burg eintreffenden Reiters, in der Zwischenzeit von Götz und seinem Trupp gefangen worden (vgl. GB, S. 292). Was im Vorfeld der Rückkehr aufällt, betrifft die Figur Carls, denn abermals wird vermerkt, wie wenig der Knabe mit dem kriegerisch-heroischen Vater gemein habe: Götz’ Sohn ziehe es vor, die Frauen bei den Essensvorbereitungen zu unterstützen, anstatt die Ritter mit den Knechten im Stall zu erwarten: „Der wird nicht sein Vater, sonst ging er mit in Stall“ (GB, S. 293) mokiert sich ein Reiter.
1.4 Auf die guten alten Zeiten. Berlichingens Verbrüderungsversuch Die folgende, recht ausführliche Szene zwischen dem Burgherren und seinem Gefangenen führt in aller Deutlichkeit die mangelnde Sensibilität des ritterlichen Helden auf dem Terrain der politischen Bündnispolitik vor Augen. Dass Goethe die politische Freund-Feind-Dynamik als System von gelingenden und – besonders in Götz’ Fall – scheiternden freundschaftlich-verbündlerischen Handreichungen in Szene setzt, wird gleich zu Beginn des Dialogs klar. Von seiner Mission ermattet legt Berlichingen Rüstung und Kriegswerkzeuge ab, um es sich in einem Wams bequem zu machen (vgl. GB, S. 293); nicht ohne jedoch dem Gefangenen vorzuschlagen, diesem „ein hübsches saubres Kleid“ (GB, S. 294) auszuleihen, das Götz selber nicht mehr passt. Ein solches Angebot zum Kleidertausch hat mit Blick darauf, dass Berlichingen im Folgenden eine Wiederannäherung an den ihm einstmals brüdergleich Verbundenen forcieren will, proleptischen Wert. Das Kleid wird für Götz zum Auslöser einer Reminiszenz an eine frühere Begegnung mit seinem größten Gegner, dem Bambergerischen Bischof. Berlichingen berichtet, es auf der Hochzeit des Pfalzgrafen getragen zu haben und dort auf den Bischof getroffen zu sein. Es sei zu einem Handschlag mit dem ihm damals schon feindlich Gesonnenen gekommen, wobei der Handschlag gänzlich anders verläuft als die zuvor geschilderte Handreichung zwischen Götz und dem Mönch Martin. Im nun geschilderten Fall nämlich löst der Handschlag weder die Erkenntnis aus, vor dem Ritter mit der eisernen Hand zu stehen, noch wird
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dadurch eine heroisierende Beschreibung Berlichingens in Gang gesetzt. Götz kommentiert den Vorfall sichtlich amüsiert: Ich lacht in meinem Herzen, und ging zum Landgrafen von Hanau, […] und sagte: Der Bischof hat mir die Hand geben, ich wett er hat mich nicht gekannt. Das hört der Bischof, denn ich redt laut mit Fleiß, und kam zu uns trotzig – und sagte: Wohl, weil ich Euch nicht kannt hab, gab ich Euch die Hand. Da sagt ich: Herre ich merkts wohl, daß Ihr mich nicht kanntet, und hiermit habt Ihr Eure Hand wieder. Da wurd’s Männlin so rot am Hals wie ein Krebs vor Zorn, […]. Wir haben nachher uns oft was drüber zu gute getan. (GB, S. 294)
Dem Text ist nicht zu entnehmen, ob es die eiserne, ritterliche Rechte war, die der Bischof verkannt hat. Jedoch wird hier bereits subtil darauf angespielt, dass Götzʼ Hand jenseits ihrer handfesten Schlagkraft nicht zum politischen Sensorium taugt. Die Szene der Handreichung mit dem Bischof gibt Berlichingen sichtlich belustigt wieder, was deutlich zeigt, dass er die Gefahr keineswegs ernst nimmt, die der Konflikt mit dem Bischof für ihn birgt: Nichts weniger als die „Urszene der Fehde“685 gerät in Götz’ Bericht zum bloßen „Wortspiel[ ]“686: Das Zurückgeben der Hand nämlich ist, vergegenwärtigt man sich die schon zuvor geschilderte, tiefe Feindschaft zwischen Berlichingen und dem Bischof, nicht bloß als amüsante Anekdote, sondern als Darreichung des Fehdehandschuhs lesbar.687 Während der über seine Gefangenschaft sichtlich missmutige Weislingen durch den nun folgenden Auftritt von Berlichingens Sohn Carl das erste Mal eine emotionale Regung zeigt, die sich der Kindheitsfreund Götz so sehr erhofft, (vgl. GB, S. 295–296) offenbart kontrastiv dazu die Wiederbegegnung zwischen Carl und Götz ein merklich gestörtes Vater-Sohn-Verhältnis. Carls Lernerfolge, die er dem Vater voll kindlichem Stolz nach dessen Abwesenheit präsentieren möchte, gelten Götz als null und nichtig: So wehrt er nicht nur Carls Vorschlag ab, die Geschichte „vom frommen Kind“ (GB, S. 295) zu erzählen, sondern mokiert sich auch über die abstrakte „Gelehrsamkeit“ (GB, S. 295) seines Knaben. Despektierlich titutliert er Carl als „Hanns Küchenmeister“ (GB, S. 295), als dieser auf die Details des geplanten Menüs aufmerksam macht. Wie schon zuvor einer der Berlichingischen Reiter Carls häusliche Verweichlichung monierte, so wird der gebratene Apfel, den der Sohn von seiner Tante zum Nachtisch erwartet, zum – einen ganz ähnlich gelagerten Vorwurf veranschaulichenden – Zankapfel zwischen Götz und Carl:
685 Van Kempen (2000), S. 159. 686 Van Kempen (2000), S. 159. 687 Vgl. van Kempen (2000), S. 159.
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GÖTZ Kannst du sie nicht roh essen? CARL Schmeckt so besser. GÖTZ Du mußt immer was apartes haben. (GB, S. 295)
Dass hier weder nur eine „Fremdheit […] zwischen Vater und Sohn“688 noch eine bloße „Abneigung der Sturm-und-Drang-Generation gegenüber lebensfremder Gelehrsamkeit und theoretischem Wissen“689 ins Bild gesetzt wird, sondern dass Carl im politischen Figurenverkehr des Stückes eine spezifische Funktion erfüllt, wird im Folgenden klar: So begrüßt Weislingen den Knaben im Gegensatz zu Götz voller Herzlichkeit mit einem Kuss (vgl. GB, S. 295) und verfällt gleich darauf in eine von keiner anderen Figuren bezeugte, nostalgische Reminiszenz an seine glückselige, jugendliche Zweisamkeit mit dem „alte[n] treuherzige[n] Götz“ (GB, S. 296). Die durch die Begegnung mit Carl wach gerufenen Zeiten aber, in denen er und Berlichingen sich „liebten wie die Engel“ (GB, S. 296), gehören für Weislingen eindeutig der Vergangenheit an, erinnert er sich doch rasch wieder an den Bischof und seine aktuellen „Freunde“ (GB, S. 296) im „ganze[n] Land“ (GB, S. 296), d. h. an seine politischen Verbündeten. Götz gleichwohl zeigt im Folgenden das Bestreben, den einstigen Freund durch genau solche Erinnerungen an die gemeinsame Jugend, die der Anblick des Knaben Carl ohne große Mühen auszulösen vermag, zurückzugewinnen und verkennt dabei in großem Stil sowohl die politischen Gegebenheiten als auch Weislingens eigene Beweggründe. ‚Auf die guten alten Zeiten‘ möchte Götz sogleich mit Weislingen anstoßen, die er mit Wendungen wie „Denkt, Ihr seid wieder einmal beim Götz. Haben doch lange nicht beisammen gesessen, lang keine Flasche mehr mit einander ausgestochen.“ (GB, S. 296) oder dem Anekdoten verheißenden „Wißt Ihr noch, wie […]?“ (GB, S. 296) in Erinnerung zu rufen hofft. Man könne auf eine mehr als glückliche Vergangenheit zurück blicken, in der man wie „Castor und Pollux“ (GB, S. 297), also in noch zwillingshaft gesteigerter geschwisterlicher Verbundenheit, zusammenhielt. Überhören muss er dabei, dass Weislingen derart wehmütig-emotionale Retrospektiven ernüchtert abwiegelt (vgl. GB, S. 296–297). Die Spannung zwischen ehemaliger Zugewandtheit und aktueller Feindschaft wird im Text ein weiteres Mal über das Motiv der Hand in Szene gesetzt. Genauer gerät die Verstümmelung der Hand in Berlichingens Darstellung zur Urszene eines brüderlichen Ritterbündnisses, dessen erwiesene Unbeständigkeit jedoch durch den Wechsel in den Konjunktiv am Schluss der folgenden Passage unmittelbar vermerkt wird:
688 Hinderer (1992), S. 37. 689 Hinderer (1992), S. 37.
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Freilich, wenn ich wieder so bedenke, wie wir Liebs und Leids zusammen trugen, einander alles waren, und wie ich damals wähnte so sollts unser ganzes Leben sein. War das nicht all mein Trost wie mir diese Hand weggeschossen ward vor Landshut, und du mein pflegtest, und mehr als Bruder für mich sorgtest, ich hoffte Adelbert wird künftig meine rechte Hand sein. Und nun – […] Wenn du mir damals gefolgt hättest, […] es wäre alles gut geblieben. (GB, S. 297)
Um sich Weislingens Abtrünnigkeit bzw. seinen Verzicht darauf, ihm als ‚rechte Hand‘ zur Seite zu stehen, zu erklären, eröffnet Berlichingen sodann einen schlichten figuralen Kontrast, der ihn selbst die Rolle des „freien Rittersmanns, der nur abhängt von Gott, seinem Kaiser und sich selbst“ (GB, S. 297), spielen lässt und Adelbert „zum ersten Hofschranzen eines eigensinnigen neidischen Pfaffen“ (GB, S. 298) abqualifiziert. Die Replik jedoch demonstriert weniger eine Korrumpierung ritterlicher Werte durch das Leben am Hof; vielmehr vertritt Weislingen eine andere Auffassung von den politischen Verhältnissen im gegenwärtigen „Teutschland“ (GB, S. 298). Die von Götz so gern gescholtenen Fürsten stilisiert Adelbert als um das Wohl ihrer Untertanen besorgte und für den Frieden kämpfende Kaisertreue, die sich allen voran gegen eine „ungerechte[ ]“ (GB, S. 298) Ritterschaft zur Wehr zu setzen hätten. Klar wird im weiteren Verlauf der Kontroverse, dass sich beide Parteien, die von Götz vertretenen freien Ritter sowie die politischen Landesherren, in deren Diensten Weislingen steht, gleichermaßen dem deutschen Kaiser verpflichtet sehen, aber der jeweils gegnerischen Seite ebendieses Motiv absprechen (vgl. GB, S. 298). Während sich Adelbert immerhin in der Lage zeigt, die perspektivgebundene Positionierung seines Antipoden zu registrieren („Ihr sehts von Eurer Seite“ (GB, S. 299)),690 wettert Götz konkret gegen Weislingens nächsten Verbündeten, den Bambergischen Bischof. Und mehr noch nimmt er den jüngsten Affront des Bischofs, die bereits in der Eingangsszene von den Bauern als unrechtmäßig getadelte Gefangennahme des Buben, zum Anlass, einmal frei „von der Leber weg [zu] reden“ (GB, S. 299): Er und seine ritterlichen Genossen Hans von Selbitz und Franz von Sickingen seien dem Bischof aufgrund ihrer ‚Nibelungentreue‘ zum Kaiser und Gottesfurcht „ein Dorn in den Augen“ (GB, S. 299). Das unverwüstliche Freiheitsethos und den Unabhängigkeitssinn der Reichsritter auf der einen Seite und die Herrschsucht der Landesfürsten auf der anderen Seite identifiziert Götz als zentrale Konfliktgründe. Das Stück diskutiert im weiteren Verlauf allerdings keineswegs, ob Götz mit dieser politischen Diagnose sowie mit der
690 So auch Hinderer (1992), S. 35.
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allzu klaren moralischen Bewertung des Konfliktes richtig oder falsch liegt.691 Was indessen explizit thematisiert wird, und zwar am konkreten Beispiel der Hauptfigur, ist die erfolglose Kurzsichtigkeit einer auf schierer Kaisertreue und Ritterehre gegründeten heroischen Politik.
1.5 Nicht einmal im Traum: Berlichingens und Weislingens Handreichung Während der bischöfliche Palast zu Bamberg durch die Nachricht von der Gefangennahme Weislingens in äußerste Unruhe versetzt wurde (vgl. GB, S. 304–305), bahnt sich auf Jaxthaussen tatsächlich ein neues Bündnis an: Weislingen verschreibt sich jedoch keineswegs direkt Berlichingens eisernen Rechten, sondern buhlt um die Hand von dessen Schwester Maria (vgl. GB, S. 305–306). Wie rasch sich seine Liebesschwüre verflüchtigen und wie fragil diese zunächst auch die Freundschaft zwischen Götz und Weislingen reaktivierende Verbindung ist, wird spätestens im zweiten Akt klar, wenn Adelbert anstelle von Marias (vgl. die Didaskalie GB, S. 306) eine andere Frauenhand, nämlich diejenige Adelheid von Walldorfs „nimmt“ (GB, S. 322). Darauf wird noch zurück zu kommen sein. Der Text legt in jedem Falle nahe, dass der Liebesbund zwischen Weislingen und Maria auf den ersten Blick vor allem die prekäre männliche, politische Allianz zwischen Adelbert und Götz restabilisiert, aber auf den zweiten Blick sichtlich problematisiert. Dementsprechend weist Weislingen seine Gefangennahme als Glückstag aus: „Gesegnet sei dein Bruder, und der Tag an dem er auszog mich zu fangen.“ (GB, S. 306), worauf Maria angibt, ihr Bruder sei nicht mit der Absicht ausgezogen, eine Kriegsmaßnahme gegen den Feind zu vollziehen, sondern in der Hoffnung, einen Freund „wieder [zu] finde[n]“ (GB, S. 306). Mit Götz’ Auftritt kommt es schließlich zur zweifachen Handreichung zwischen Mann und Frau sowie zwischen den ritterlichen Freunden. Ebenso wie sich die Verlobung Weislingens mit Maria rasch wieder auflösen wird, streut der Text Zweifel an einer gelingenden Reunifikation von Götz und Adelbert, ohne dass Weislingen aber als moralisch zweifelhafter Betrüger ins Bild gesetzt würde.
691 Vgl. anders Estarami (2005), der vor dem Hintergrund seiner Deutung des Protagonisten als Selbsthelfer eine moralische Ebene bzw. Fragen politischer (Un-)Rechtmäßigkeit im Stück diskutiert sieht (S. 58–60, 62–63, 68). Dazu ist sagen, dass der Begriff des Selbsthelfers nachgerade zu einer solchen Betrachtung herausfordert, die Götz von vorneherein als moralisch Integeren verklärt. Der Terminus suggeriert, etwa im Gegensatz zu Rebell oder eben auch Held, hier wehre sich jemand in schlimmstenfalls über das Ziel hinaus schießender Art gegen ungerechte Machthaber. Estarami konstatiert im Falle von Götz sogar einen „Zwang zur Selbsthilfe“ (S. 69).
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Die Wiederannäherung vollzieht sich vor dem Hintergrund einer Geste der Freigebigkeit: Berlichingen berichtet, dass der inhaftierte Knabe vom Bischof nach wie vor nicht frei gelassen worden ist und letzterer nunmehr einen Vergleich vor einer kaiserlichen Kommission anstrebe. Götz allerdings hält dennoch nicht an seiner potentiellen Geisel fest und verkündet: „Dem sei wie ihm wolle, Adelbert, Ihr seid frei, ich verlange weiter nichts als Eure Hand, daß Ihr inskünftige meinen Feinden weder öffentlich noch heimlich Vorschub tun wollt.“ (GB, S. 306–307) Weislingens Replik könnte dieses Angebot zur Handreichung inbrünstiger und emphatischer nicht bekräftigen. Zusätzlich verbindet er seinen ritterlichen Treueschwur damit, um die Hand von Berlichingens Schwester anzuhalten: „Hier faß ich Eure Hand. Laßt von diesem Augenblick an Freundschaft und Vertrauen gleich einem ewigen Gesetz der Natur unveränderlich unter uns sein. Erlaubt mir zugleich, diese Hand zu fassen. Er nimmt Mariens Hand; […].“ (GB, S. 307) Auf Götz’ sodann an Maria gerichtete Suggestivfrage „Darf ich ja für Euch sagen?“ (GB, S. 307) reagiert diese, indem sie ihr Liebesglück an die Frage nach der Qualität des männlichen Freundschaftsbundes knüpft, die sie ihren Bruder zu erwägen anhält: „Bestimmt meine Antwort nach dem Werte seiner Verbindung mit euch.“ (GB, S. 307) Im Hinblick darauf, dass Weislingen schon sehr bald nicht nur Maria, sondern auch Götz abermals fallen lassen wird und sich zudem bereits in der Vergangenheit von ihm abgewandt hat, ist Marias Entgegnung als Vorzeichen auf Berlichingens mangelnde (politische) Einschätzungsfähigkeit sowie Sensiblität zu verstehen. Götz nämlich hält keineswegs inne, um über den ‚Wert‘ des neuen Bundes zu reflektieren – eine Vorsichtsmaßnahme, zu der die schwesterliche Erwiderung gemahnt. Euphorisiert steht er stattdessen einer Handreichung Pate, welche die eigene Schwester, der er als Stifterin jener neuen, verheißungsvollen Doppelallianz huldigt, ins Unglück stürzen wird: „Ja denn Weislingen! Gebt euch die Hände, und so sprech ich Amen! Mein Freund und Bruder! Ich danke dir Schwester! Du kannst mehr als Hanf spinnen. Du hast einen Faden gedreht diesen Paradiesvogel zu fesseln.“ (GB, S. 307) Es hat für die in dieser Arbeit exponierte und sich zwischen den beiden Polen von Heldentat und Heldentraum aufspannende, politische Analytik Indizienwert, wenn Goethe den Umstand, dass jenes in der zweifachen Handreichung symbolisierte Bündnis mit Adelbert von Weislingen alles andere als wiedergewonnene Freundschaft, Brüderlichkeit und Vertrauen bedeutet, ausgerechnet in einem Traumbericht Götz’ notiert. So heißt es in unmittelbarem Anschluss an den zuletzt zitierten Passus: Ich – bin ganz glücklich; was ich nur träumend hoffte, seh ich, und bin wie träumend. Ach! nun ist mein Traum aus. Mir wars heute Nacht, ich gäb dir [Weislingen] meine rechte eiserne Hand, und du hieltest mich so fest, daß sie aus den Armschienen ging wie abgebrochen. Ich erschrak und wachte drüber auf. Ich hätte nur fort träumen sollen, da würd ich gesehen haben, wie du mir eine neue lebendige Hand ansetztest. (GB, S. 307)
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Die in dieser Traumsequenz vollzogene Handreichung ist zunächst denkbar destruktiver Natur: Als Götz Adelbert die eiserne Rechte reicht, ist der Händedruck seines Gegenübers so stark, dass die Prothese aus ihrer Verankerung gelöst wird und Götz ohne seine Rechte dasteht. Die zerstörerische Intensität dieses Handschlages wird durch den Affekt des Erschreckens bekräftigt. Allerdings spekuliert Berlichingen unter dem Eindruck, den Freund wiedergewonnen zu haben, über eine aus seiner Perspektive notwendige Fortsetzung des Traums, in der jener Verlust der Hand umso schöner kompensiert erscheint. Wenn der Traum weitergegangen wäre, hätte der nunmehr zweimal amputierte Ritter von seinem Freund eine „neue lebendige Hand“ erhalten. Dieser „Implantationsversuch“692 aber geschieht, hält man sich an Goethes Darstellung, nicht einmal in Götz’ Traum – die Realitätsferne, die der träumerische Erfahrungsmodus bereits an sich indiziert, wird hier noch konjunktivisch als bloße Vorstellung einer Traumsequenz gesteigert, die es gar nicht gab, die es aber in der Vorstellung des Protagonisten hätte geben müssen. Dergestalt deutet Götz den Traum vom Handschlag – in markiert imaginativem Modus – als Beleg für die Substanz und den Bestand des Bündnisses. Und so formuliert Berlichingen an dieser Stelle auch eine Art Heilungsphantasie, wenn er den hoffnungsvollen Wunsch äußert, durch Weislingen sein körperliches handicap überwinden zu können. Der ‚Handschlag im Traum‘ hat eine zentrale Bedeutung für das politische Hauptsujet des Textes, d. h. für die politische Allianzbildung; insbesondere zeigt sich, wie der Held auf diesem Terrain agiert. So erfolgt der Traumbericht genau zu dem Zeitpunkt, als sich Götz und Adelbert emphatisch wieder verbrüdern, und ist somit als Kommentar zu verstehen, der die Prekarität jenes Bundes festhält. Beim Zusammentreffen der Hände wird die ‚Heldenhand‘ vielleicht nicht gänzlich zerstört, wohl aber temporär disloziert, ihrer Schlagkraft beraubt und der Held somit kurzfristig außer Gefecht gesetzt. Vergegenwärtigt man sich, dass die eiserne Rechte zuvor vom Mönch Martin als den Wert jeder Reliquienhand übersteigendes, ‚durchschlagendes‘ heroisches Merkmal Berlichingens stilisiert wurde, so lässt sich der Traumbericht als Hinweis darauf lesen, dass der sich auf das Feld der Bündnispolitik begebende Held seine besondere Kraft verliert.693 Der Traumrapport analysiert somit auch die 692 Van Kempen (2000), S. 159. 693 André (2003) stellt heraus, dass ‚die Hand‘ „in allen nur denkbaren metaphorischen und metonymischen Versionen im Text präsent“ (S. 27) ist. Ihm ist zuzustimmen, dass sich an der Beweglichkeit und Variation dieses Motivs die Komplexität der politischen Figuration ablesen lässt: „Indem der Signifkant Hand in vielerlei Gestalt und auf beunruhigende Weise semantisch multipliziert wieder und wieder erscheint, entsteht ein Netz von Bezügen und indirekten Ver-
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Fähigkeiten und Unfähigkeiten des politischen Helden. Ihren politischen Sinn hat die eiserne Hand dort, wo sie, wie Götz selbst gegenüber Martin angibt, als Kriegswerkzeug fungiert, auf diesem Terrain erweist sie sich, wie auch der weitere Verlauf des Textes belegt, als heroisches Alleinstellungsmerkmal mit besonderer Wirkung: einerseits als Signum gesteigerter kriegerischer Durchsetzungskraft und andererseits als andere affizierendes Phantasma. Gleichzeitig deutet die Textpassage die Unfähigkeit der eisernen Heldenhand zur sensiblen Allianzbildung an.694 Dass die Hand nicht zum politischen Sensorium taugt, das Freund und Feind präzise unterscheiden könnte und das mehr noch den einstigen Freund und aktuellen Feind binden könnte, belegt der Umstand, dass sich Adelbert von Weislingen nach kürzester Zeit wieder von Berlichingen abwenden wird. Vor diesem Hintergrund ergibt es denn auch einen guten Sinn, dass Goethe seinen Helden von einer ,lebendigen Hand‘, und d. h. im politischen Bedeutungskontext des Stückes von einem empfindungsstarken Tastsinn, noch nicht einmal träumen lässt. Die Substitution der eisernen Rechten bleibt dergestalt eine bloße Vorstellung und die sogar noch abgebrochene Prothese exemplifiziert die mangelnde machtpolitische Sensibilität des Helden. Zwar streut der Text keine (moralischen) Zweifel an Weislingens Aufrichtigkeit im Moment der Verbrüderung; jedoch wird vor Augen geführt, dass Götz den von Maria ins Spiel gebrachten Reflexionsprozess auslässt, indem er eben nicht den ‚Wert seiner Verbindung‘ mit Weislingen prüft, bevor er diesem seine und zugleich die Hand der Schwester reicht. Ebenso missachtet der Held die in den Traum gefasste Warnung vor der Handreichung. Ob man in Götz’ Traumauslegung einen „Selbstbetrug“695 erkennen kann, erscheint fragwürdig. Denn der gesamte Dialog zwischen Berlichingen und Weislingen liefert keinen Hinweis darauf, dass ihn letzterer arglistig täuschen würde, was die Voraussetzung dafür wäre, dass sich Berlichingen überhaupt etwas vormachen könnte. Anstatt also die Frage aufzuwerfen, ob sich hier jemand selbst etwas vormacht oder sich die Dinge nicht klar vor Augen stellt, markiert der weisen, das unter anderem die so klar aufgeteilt scheinende Figurenkonstellation – hier Götz und die freien Ritter, die sich nur dem Kaiser verpflichtet fühlen, dort Weislingen und der auf der Seite der Fürsten stehende Adel und Klerus – untergräbt und stattdessen zwischen Götz und Weislingen Verstrickungen sichtbar macht, die das Idealbild, das Götz zu verkörpern scheint, grundlegend problematisieren.“ (S. 27) Vgl. auch die weniger auf die politische Bedeutung des Motivs abhebende, sondern subjekttheoretische Lektüre von Nägele (1980), S. 67. Vgl. auch Hinderer (1992), S. 38–39. 694 Etwas allgemeiner und v. a. ohne Goethes komplexe Inszenierung des Motivs der Hand im Rahmen des politischen Sujets zu registrieren, spricht Luserke (1997) von einem durch den Verlust der Rechten symbolisierten „zunehmenden Realitätsverlust“ (S. 113) Berlichingens. 695 Martini (1972), S. 39.
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Text Götz’ – angesichts der jüngsten Ereignisse nicht unbegründete – Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit Weislingen weitaus subtiler als Resultat einer reflexionsfernen Phantasie.
1.6 Die Faust des Helden Die soeben entwickelte Deutung lässt sich durch eine Passage aus der Mitte des vierten Aktes bekräftigen. Zu diesem Zeitpunkt ist Götz nach der Belagerung seiner Burg gefangen genommen worden und hat sich kurz zuvor dem Kaiserlichen Gericht im Heilbronner Rathaus gestellt. Weil er sich aber der rebellischen Auflehnung gegen den Kaiser nicht für schuldig bekennen will und sich stattdessen in schlichter Ausschließlichkeit auf sein unbeflecktes ritterliches Ethos beruft, steht eine Eskalation im Gerichtssaal kurz bevor (vgl. GB, S. 358–359). Zu Hilfe eilt ihm in dieser mehr als misslichen Lage Franz von Sickingen, (vgl. GB, S. 362) der inzwischen mit Maria verheiratet ist. Gegenüber Sickingen, ein sich als Ehemann der Schwester und als tatkräftiger Beistand während der Gefangenschaft in doppelter Hinsicht treu Erweisender, rekurriert Götz erneut auf jenen Traum, den er beim Handschlag mit Weislingen als gutes Omen für das Bündnis geltend gemacht hat. Goethe figuriert hier eine Spiegelszene, in der es abermals um das Thema politischer Allianzbildung und um Götz’ heroischen Aktionsradius auf diesem Feld geht. Sickingen nämlich rät dem Inhaftierten, der sich im vorangegangenen Prozess ‚eisern‘ auf Kaisertreue und Ritterethos berufen hat (vgl. GB, S. 358–360) und nach eigenen Angaben „nichts als ritterliche Haft“ (GB, S. 362) verlangt, letztlich genau dazu, die eigene Lage einmal taktisch, mit Blick auf die politische Großwetterlage zu erwägen.696 Dies verdichtet sich in dem einfachen „Du bist zu ehrlich.“ (GB, S. 362) Äußerst konkret weist Sickingen sodann darauf hin, dass Götz beim Kaiser mehr gilt, als er selbst meint und er somit auch „auf mehr dringen“ (GB, S. 362) könne: GÖTZ Ich bin von jeher mit wenigem zufrieden gewesen. SICKINGEN Und bist von jeher zu kurz kommen. Meine Meinung ist: sie sollen deine Knechte aus dem Gefängnis, und dich zusamt ihnen auf deinen Eid nach deiner Burg ziehen lassen. Du magst versprechen nicht aus deiner Terminei zu gehen, und wirst immer besser sein als hier. GÖTZ Sie werden sagen: Meine Güter sein dem Kaiser heimgefallen. SICKINGEN So sagen wir: Du wolltest zur Miete drin wohnen bis sie dir der Kaiser wieder zu Lehn gäbe. Laß sie sich wenden wie Äle in der Reuse, sie sollen uns nicht entschlüpfen. Sie
696 Etwas zu allgemein attestiert Schwidtal (2003) Götz hier einen „Mangel an Gewandtheit und Gewitztheit“ (S. 501).
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werden von Kaiserlicher Majestät reden, von ihrem Auftrag. Das kann uns einerlei sein. Ich kenn den Kaiser auch und gelte was bei ihm. Er hat von jeher gewünscht dich unter seiner Armee zu haben. Du wirst nicht lang auf deinem Schloß sitzen, so wirst du gerufen werden. (GB, S. 362)
Sickingens direktives „So sagen wir“ zeigt in aller Deutlichkeit an, dass Götz offenbar jemanden braucht, der in seiner Sache das Wort führt. Der Schwager tritt hier als souveräner, taktischer Ratgeber auf und Götz’ Beharren auf seiner ritterlich-treuen Position erscheint im Kontrast dazu schlichtweg naiv und insbesondere als eine wenig effektive politische Verhaltensmaxime. Die Prophezeiung, Götz werde schon bald vom Kaiser in dessen Dienste gerufen werden, ist zudem als Wink zu verstehen, sich in politischer Hinsicht eher auf seinen Heldenruhm als auf sein ritterliches Pflichtgefühl zu verlassen. Diese figurale Gegensatzbildung zwischen Sickingen und Berlichingen steigert sich noch, wenn Franz zu erkennen gibt, eigene politische Ambitionen zu hegen, für die er wiederum den Ritter mit der eisernen Hand bestens gebrauchen könne: Sorge vor nichts, wenn deine Sachen in der Ordnung sind geh ich an Hof, denn meine Unternehmung fängt an reif zu werden. Günstige Aspekte deuten mir, brich auf! Es ist mir nichts übrig als die Gesinnung des Kaisers zu sondieren. […] Und wenn wir unser Schicksal machen können, so sollst du bald der Schwager eines Kurfürsten sein. Ich hoffte auf deine Faust bei dieser Unternehmung. (GB, S. 363)
In Götz’ Entgegnung erfolgt nun der Rekurs auf den Traum vom Handschlag mit Weislingen, allerdings in geradewegs diametraler Deutung: GÖTZ besieht seine Hand: O! das deutete der Traum den ich hatte, als ich Tags drauf Marien an Weislingen versprach. Er sagte mir Treu zu, und hielt meine rechte Hand so fest daß sie aus den Armschienen ging, wie abgebrochen. Ach! Ich bin in diesem Augenblick wehrloser als ich war da sie mir abgeschossen wurde. Weisling! Weisling! (GB, S. 363)
Goethe legt den beiden Dialogpartnern an dieser Stelle eine Analyse von Berlichingens politischem Kompetenzprofil in den Mund: Götz selbst führt rückblickend seine aktuelle Wehrlosigkeit auf sein mangelndes politisches Händchen in der causa ,Weislingen‘ zurück, das ihn die Traumwarnung vor dem Bündnis damals nicht hat ‚begreifen‘ lassen. Die von Weislingen abgebrochene Hand wird in dieser Rekapitulation gerade nicht wieder angesetzt, es erfolgt keine imaginierte Substitution der eisernen Rechten durch eine lebendig-fühlende neue Hand, sondern die abgebrochene Hand wird zum Sinnbild der Brüchigkeit des Bundes. Mehr noch aber registriert Götz hier, dass ihn der einstmalige Verlust der Hand weniger an Wehrhaftigkeit hat einbüßen lassen als die Handreichung mit Weislingen. Die durch die eiserne Hand symbolisierte Heldenkraft versagt, so lässt sich Goethes
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Analytik zuspitzen, wenn es zur machtpolitischen Handreichung kommt. Auch wenn Berlichingen es selbst nicht expliziert, so ist den vorangehenden Einlassungen Sickingens zu entnehmen, wozu die Hand taugt, wenn sie sich nicht für eine instinktsichere Freund-Feind-Differenzierung eignet: Der naiv von einer politischen Bedrängnis in die nächste Tapsende ist zugleich derjenige, dessen „Faust“ (GB, S. 363) anderen zum Vollzug ihrer machtpolitischen Manövern nützen kann. Damit ist Götz’ Position im politischen Spiel recht genau bestimmt: Als für seine Schlagkraft gefürchteter Krieger kann er im Dienste anderer, welche im eigentlichen Sinne politische Pläne verfolgen, wirkungsvoll agieren. Unfähig ist er jedoch, wenn es gilt, eine etwaige ureigene Agenda strategisch umzusetzen. Vor diesem Hintergrund ist es denn auch zutreffend, wenn Götz vor dem Kaiserlichen Gericht den Vorwurf, ein „Rebell“ (GB, S. 358) zu sein, rigoros ablehnt. Der erste Akt des Schauspiels steht ganz im Zeichen der eisernen Hand: Vornehmlich wird das Figurenprofil des politischen Helden und sein Aktionsradius mithilfe von Szenen analysiert, welche die imaginäre Konstitution des Heroischen durch ein Spiel mit unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen veranschaulichen. Der Text führt dabei einerseits vor, dass Götz von Berlichingen zum Gegenstand handfester heroischer Phantasien wird. In diesem Sinne, d. h. in den Köpfen der anderen bindet die eiserne Hand sehr wohl, wohingegen andererseits der Berlichingen-Weislingen-Konflikt zeigt, wie reflexionslos und unbedarft der Held im blanken Vertrauen auf ein unumstößliches ritterliches Ethos politische Verbindungen eingeht, die Goethe ‚unter der Hand‘, also noch bevor sie auf der dramatischen Handlungsebene unmittelbar relevant werden, als scheiternd zu erkennen gibt.
1.7 Weislingen als ‚politischer Mellefont‘. Zur Rolle des Höfischen für den politischen Konflikt Der zweite Akt ist durch einen Schauplatzwechsel bestimmt: Er spielt überwiegend am Hof, wobei die sich dort vollziehende Handlung durch vier kürzere Szenen unterbrochen wird, welche die parallel an Berlichingens jeweiligem Aufenthaltsort ablaufenden Ereignisse schildern. Die im ersten Akt exponierte politische Konfliktlage wird insofern fortgeschrieben, als die vom Bischof lancierten Bemühungen, Adelbert von Weislingen wieder auf die Bambergische Seite zu ziehen, das zentrale Thema des zweiten Aktes bilden. Es erscheint geradezu überflüssig, darauf hinzuweisen, dass der Hof hier als Ort eines gezielt mit Emotionen kalkulierenden – und somit auch als unmoralisch markierten – politischen Spiels in Szene gesetzt wird. Ritterliche Treue ist hier sicher nicht gefragt. Allerdings steht zu erwägen, welche Funktion die Nahperspektive auf eine Götz’
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urwüchsig-freiem Rittertum so diametral entgegengesetzte Sphäre höfischer Machtpolitik für den am Ende des ersten Aktes zwischen Götz und Adelbert geschlossenen Bund hat, will man die Bedeutung des zweiten Aktes nicht auf eine von Goethe eingespeiste Hofkritik um ihrer selbst willen reduzieren. Im Folgenden soll daher argumentiert werden, dass diejenigen Szenen, die sich dem Figurenverkehr am Hof widmen, die im Stück dargestellte politische Dynamik nicht im Sinne einer klaren moralischen Frontenbildung verflachen, indem sie Weislingen eindeutig einer amoralischen höfischen Sphäre zuordnen würden. Mein Deutungsvorschlag hat insbesondere Konsequenzen für das Figurenprofil Weislingens, der, wenn auch nicht als Antipode, so doch als derjenige gelten kann, der sich politisch mit Götz auseinanderzusetzen hat.697 Weislingen wird nicht als berechnender Machtpolitiker gezeichnet, der, kaum dass er sich wieder im höfischen Einflussbereich befindet, ohne Skrupel seinen mit Götz geschlossenen Ritterbund aufkündigen würde.698 Stattdessen demonstriert insbesondere die Interaktion zwischen Weislingen und Adelheid von Walldorf, dass sich dieser ebenso wenig wie Berlichingen in der Lage zeigt, mit Bedacht Allianzen einzugehen: Seine Entscheidung für den Hof fällt nicht aufgrund eines politischen Kalküls, sondern der brüderliche Bund mit Götz und auch die Verletzung des Verlobungsversprechens gegenüber Maria werden durch die erotische Bindung an oder besser: die Verführung durch das adelige Fräulein substituiert.699 Adelheid allerdings verfolgt ihrerseits mit der nur vorgeblich ernstgemeinten Liebe zu Weislingen an vorderster Front politische Ziele und kann, wie noch zu zeigen ist, als die veritable und zudem intrigante Strategin gelten. Adelbert jedenfalls beweist in diesem Zusammenhang kaum ein besseres machtpolitisches Händchen als Götz. Die damit nur skizzierte Figurenkonstellation, die sich als politische Umschrift der figuralen Ordnung von Lessings bürgerlichem Trauerspiel Miss Sara Sampson lesen lässt, lanciert eine feinsinnige Analyse des politischen Gefüges, in dessen Mitte Götz von Berlichingen agiert; sie ist somit zentral für das im Schauspiel entworfene 697 Der Bischof tritt zwar im zweiten Akt als Drahtzieher in der causa ,Weislingen‘ auf, ist aber letztlich nicht derjenige, der im Falle Götz politisch verantwortlich zeichnet. Es ist Adelbert von Weislingen, der im fünften Akt als „Kommissar“ (GB, S. 381) über Götz richtet und das Todesurteil über ihn verhängt (vgl. GB, S. 382). 698 Vgl. anders Neuhaus (1997), der Weislingen als dem bürgerlichen Trauerspiel entsprungenen, „fähige[n] – und zugleich zu allem fähige[n]–, skrupellose[n] und rechtlich unverantwortliche[n] Minister“ (S. 93) beschreibt. 699 Huyssen (1980) argumentiert, dass „der Konflikt zwischen Götz und Weislingen durch Einbeziehung des intriganten ‚Machtweibes‘ Adelheid von Walldorf“ eine neue Dimension gewinnt, und dies vor allem, „weil Weislingen hier auf andere Weise [als zuvor durch Götz] persönlich gebunden wird“ (S. 153). Deswegen kann Adelheid aber nicht als Berlichingens „Gegenspieler[in]“ (S. 153) aufgefasst werden.
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Heldenbild. Wenn der vermeintlich den Prototyp des intriganten homo politicus verkörpernde Weislingen als emotional fremdgesteuertes Opfer machtpolitischer Intriganz inszeniert wird,700 lässt sich dies als eine Art von ‚Entschuldungsmaßnahme‘ für seinen Treuebruch gegenüber Götz lesen. Die Schuld daran wird einer anderen übertragen, was für die Gestaltung der politischen Dynamik nicht unerheblich ist: Der dramatische Konflikt entspinnt sich dergestalt nicht zweipolig zwischen Weislingens etwaiger am Hof ‚erlernter‘, instrumenteller Vernunft und Berlichingens ritterlichem Ehrgefühl, was den Helden von vorneherein in einer Position moralischer Überlegenheit fixieren würde: In diesem Sinne würde er gegen den per se ungerechten Hof kämpfen.701 Beide politischen Hauptfiguren erweisen sich vielmehr in ihren politischen Entscheidungen, v. a. im Hinblick auf die von ihnen eingegangenen Allianzen, als durch emotionale Triebkräfte bestimmt, die ihnen zum Verhängnis werden, ohne dass aber dem Text eine eindeutige Schuldzuweisung oder eine klare Aussage über die Verteilung von politischen Verantwortlichkeiten zu entnehmen wäre. Geläutert nun tritt Adelbert von Weislingen aus der in der Verlobung mit Maria gipfelnden Verbrüderungsszene hervor: Gott im Himmel! konntest du mir Unwürdigen solch eine Seligkeit bereiten. Es ist zu viel für mein Herz. Wie ich von den elenden Menschen abhing die ich zu beherrschen glaubte, von den Blicken des Fürsten, von dem ehrerbietigen Beifall umher. Götz teurer Götz hast mich mir selbst wieder gegeben, und Maria du vollendest meine Sinnesänderung. Ich fühle mich so frei wie in heiterer Luft. Bamberg will ich nicht mehr sehen, will alle die schändliche Verbindungen durchschneiden, die mich unter mir selbst hielten. (GB, S. 308–309)
Was Goethe hier abzurufen scheint, sind die im bürgerlichen Trauerspiel so mannigfaltig durchexerzierten Register „empfindsame[r] Hofkritik“702. Wenn Weislingen als ein ehemals der höfischen Sphäre Zugehöriger präsentiert wird, dessen Sinn sich durch die Begegnung mit Götz und Maria wandelt, so spielt er hier die „‚Mellefont-Rolle‘“703. Wie Lessings libertin, der sich in der Vergangenheit den
700 So bemerkt Hinderer (1992) mit Verweis auf Wielands Götz-Rezension (1774), dass Weislingen zwar „aus dem Holze der politischen Intriganten und Zwitterwesen geschnitzt“ (S. 52) sei, aber keineswegs als ‚vollwertiger‘ Prototyp eines solchen Figurenprofils gelten könne. 701 Van Ingen (1986) bemerkt in seiner Kritik der älteren Forschung: „Die traditionelle Literaturgeschichte […] pflegt den edlen Charakter des Helden in den Vordergrund zu stellen und wenig nach den komplexen Ursachen seines Untergangs zu fragen. Es wird in der Regel nur auf die der moralischen Dekadenz entgegengehende Zeit und die Gerissenheit von Berlichingens Feinden verwiesen; Recht und Unrecht sind durch klare Fronten geschieden.“ (S. 1–2) Vgl. auch Hinderers (1992) Kritik an einer derart schlichten Entgegensetzung (S. 55–56). 702 M. Willems (1995), S. 181. 703 M. Willems (1995), S. 181.
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Vergnügungen und der Ränke bei Hofe hingegeben hat und der nach eigenen Angaben durch die Liebe der Aristokratentochter Miss Sara Sampson den Weg zur Tugend wieder gefunden haben will,704 so präsentiert sich auch Adelbert von Weislingen hier selbst als unwürdiger, aber bekehrter Hofgünstling. Er habe aufgrund der ihm entgegengebrachten Liebe und Freundschaft zu sich selbst zurück gefunden. Wenn jedoch die Abwendung vom Hof nicht nur wie in Miss Sara Sampson durch die geliebte Frau, sondern und vor allem durch den treuherzigen, ritterlichen Freund ausgelöst wird, so transformiert Goethe Weislingen zum politischen Mellefont.705 Dazu passt, dass Maria im Stück keine gesteigerte Macht über Weislingen zugestanden wird. So sinniert Adelbert im fünften Akt, von Adelheids Giftanschlag gezeichnet, über seine Verfehlungen und es ist der Treuebruch gegenüber Götz, der hier im Zentrum steht und für den Weislingen Verachtung ebenso erwartet wie fürchtet (vgl. den Gifttraum, GB, S. 381–382). Daran, dass er sich auch an Maria durch die nicht einmal persönlich erfolgende Aufkündigung der Verlobung versündigt hat, muss Adelbert in dieser Szene erst durch ihren Auftritt eigens erinnert werden. Maria von Berlichingen kann daher bestenfalls als angedeutete Miss Sara Sampson gelten, deren Einfluss weit hinter demjenigen von Lessings „tugendhafte[r] Freundin“706 zurückbleibt. Durch diese figuralen Neuakzentuierungen, die im Vergleich mit Miss Sara Sampson sichtbar werden, rückt Goethe den Freundschaftsbund in den Mittelpunkt und politisiert im Zuge dessen eine aus dem Trauerspiel hinlänglich bekannte Konfliktfolie: Die Abwendung vom Hof erfolgt nicht aus Liebe zur tugendhaften Frau,707 sondern aus ritterlicher Verbundenheit gegenüber dem Jugendfreund, der auf dezidiert politischem Terrain aktiv ist. Wie wenig nachhaltig sich die am Ende des ersten Aktes platzierte, emphatische Solidaritätsbekundung Weislingens gegenüber Götz ausnimmt, tritt deutlich zu Tage, wenn letzterer nur vier Szenen darauf erfährt, dass Weislingen „bundbrüchig“ (GB, S. 318) geworden ist. Die Gründe hierfür bringt Liebetraut, ein Bediensteter am bischöflichen Hof, süffisant auf die Trias „Weiber- Fürstengunst und Schmeichelei“ (GB, S. 317), wobei es vor allem das erstgenannte ‚Weib‘ ist, das im Rahmen von Weislingens Rückwendung zum Hof eine zentrale Rolle spielt: Es handelt sich um Adelheid von Walldorf, die 704 Vgl. Lessing, MS, etwa S. 446, 453. 705 Anders als M. Willems (1995) meint (vgl. S. 183), ist aus meiner Sicht Götz der entscheidende Faktor für den Sinneswandel, und dies nicht nur, weil Weislingen Maria in diesem Zusammenhang eine nur ‚vollendende‘ Rolle zuspricht (vgl. GB, S. 308). 706 Lessing, MS, S. 453. 707 So etwa auch in Schillers Kabale und Liebe (1784).
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Weislingen bereits am Schluss des ersten Aktes von seinem Buben Franz als „Engel in Weibergestalt“ angepriesen wird, ja die Bamberg zu einem „Vorhof des Himmels“ (GB, S. 310) werden lasse. Das jüngst verwitwete Fräulein hat es auf den frisch mit Götz’ Schwester Verlobten abgesehen, und dies keinesfalls aufgrund ‚wahrer‘ Liebe. Im Folgenden seien die Stationen nachvollzogen, die das Schauspiel durchschreitet, um Weislingens Bundbruch zu schildern oder besser: latent zu entschuldigen. Letzteres geschieht durch die Einführung einer Intrigantinnenfigur.
1.8 ‚Wie man Schnepfen fängt‘. Weislingens Bundbruch Dass der zweite Akt mit einer Schachspiel-Szene zwischen dem Bischof und Adelheid von Walldorf eröffnet wird (vgl. GB, S. 312), kann als überdeutlicher Hinweis darauf gelten, dass die politischen Ereignisse im Folgenden wesentlich als taktische Züge geschildert werden. Noch hinzu kommt, dass der Höfling Liebetraut die Partie mit einem Lied auf der Zither begleitet, in dem es – nicht minder ostentativ – um den römischen Liebesgott Cupido geht, der gerüstet antritt, um in den Krieg zu ziehen, aber auf dem „Schoß“ und am blanken „Busen“ (GB, S. 312) namen- und geschlechtslos Bleibender endet und seine Pfeile dem Feuer übergibt. Ganz in diesem Sinne will der Bischof den von Götz „eingenommen[en]“ (GB, S. 314) Weislingen nicht mit kriegerisch-brutalen, sondern mit sanfteren Mitteln zurückgewinnen. Der Plan lautet, Liebetraut, der sich nach eigenen Angaben darauf versteht, „Sympathie“ (GB, S. 314) zu erwecken, als „Lockvogel“ (GB, S. 314) zu Weislingen zu schicken. Man ist sich einig, den Abtrünnigen mit dem „Lächeln einer schönen Frau“ (GB, S. 314), d. h. durch den Einfluss Adelheids, wieder auf die Seite des Bischof ziehen zu können. Deutlich werden hier die Unterschiede zwischen der Taktik des Bischofs einerseits und dem Ansinnen Berlichingens andererseits: Während Götz auf die Bindekraft von Jugendfreundschaft und ritterlichem Handschlag ‚von Mann zu Mann‘ nicht einmal strategisch setzt, sondern in vollem Ernst darauf vertraut, nähert sich der Bischof Weislingen zunächst gerade nicht persönlich. Vielmehr setzt er zwei Vermittler*innen ein, die dem Kollaborateur auf der Ebene seiner niederen Instinkte die Hand reichen sollen. Die Art und Weise, wie Liebetraut Weislingen auf Geheiß des Bischofs nach Bamberg lockt, gleicht, so der sich seiner erfolgreichen Verschlagenheit rückblickend brüstende Diener, der Art, „wie man Schnepfen fängt“ (GB, S. 317). Das „Kunststückgen“ (GB, S. 317), das er an Weislingen vollbracht habe, beschreibt er gegenüber Adelheid wie folgt:
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Dann redete ich von Bamberg und ging sehr ins Detail, erweckte gewisse alte Ideen, und wie ich seine Einbildungskraft beschäftigt hatte, knüpfte ich würklich eine Menge Fädger wieder an, die ich zerrissen fand. Er wußte nicht wie ihm geschah, er fühlte sich einen neuen Zug nach Bamberg, er wollte – ohne zu wollen. Wie er nun in sein Herz ging, und das zu entwickeln suchte, […] warf ich ihm ein Seil um den Hals, aus drei mächtigen Stricken, WeiberFürstengunst und Schmeichelei gedreht, und so hab ich ihn hergeschleppt. (GB, S. 317)
Liebetrauts Skizze seiner politischen Verführungskünste ist ganz im Gegensatz zu Götz’ aufrechtem Versuch, die ‚alte‘ Freundschaft durch rührselige Reminiszenzen wiederzubeleben, erklärtermaßen ein Akt der Manipulation, wobei die Strategie nicht darin besteht, kühl kalkulierend die Vorteile einer neuerlichen Allianz mit Bamberg vorzurechnen. Liebetraut habe vielmehr an der Imagination und am Gefühl seines Gegenübers anzudocken verstanden.708 Jenes „er wollte – ohne zu wollen“ resümiert den Wirkmechnismus der hier skizzierten Form politischer Einflussnahme. Weder Herr über sein Bewusstsein noch über seinen Willen sei Weislingen in „gewisse alte Ideen“ ‚verwickelt‘ worden, die ihn derart intensiv eingenommen hätten, dass er sie nicht zu ‚entwickeln‘ vermocht habe. Zusätzlich macht sich Liebetraut, der hier als Intrigant en miniature gekennzeichnet wird,709 offensichtlich Weislingens egoistische Neigungen zunutze. Alles zusammen ergebe ein ‚Band‘, das den vermeintlich so fest mit Götz Alliierten unwiderstehlich an den Bambergischen Hof zurückziehe. Dort trifft Weislingen mit dem Bischof zusammen, wobei die Unterredung denkbar kurz ausfällt. Goethe entwirft in dieser Figureninteraktion ein Gegenbild zur Szene zwischen Götz und Weislingen, das vor Augen führt, wie wenig persönliche Ausstrahlung der geistliche Landesherr im Vergleich zu Götz hat. Der gegenüber Berlichingen geleistete Eid gilt dem Bischof bestenfalls als törichte und keineswegs alternativlose Befreiungsmaßnahme eines Gefangenen (vgl. GB, S. 318), was im Widerspruch dazu steht, dass Weislingen das Götzʼsche Verbrüderungspathos offensiv und nicht in erkennbar strategischer Absicht geteilt hat. Lakonisch gibt der Bischof dem Abtrünnigen seinen „Segen“ (GB, S. 319) und beklagt den Verfall der Freundschaft: „Es hat sich leider nur schon zu viel geändert. Vielleicht seh ich dich einmal als Feind vor meinen Mauern, die Felder verheeren, die ihren blühenden Zustand dir jetzo danken.“ (GB, S. 319) Die mangelnde Fähigkeit, Weislingen mit Worten zu binden, tritt deutlich am Schluss des kurzen Zwiegesprächs zutage, wenn der Bischof den ehemaligen Partner mit einem schlichten „Geht Weisling! Ich habe Euch nichts mehr zu sagen.“ (GB, S. 319) verabschiedet, worauf Adelbert seinerseits nichts mehr zu entgegnen weiß. 708 Auch hier spielt Goethe, wie M. Willems (1995) herausstellt, mit der „Topik empfindsamer Hofkritik“ (S. 252), wobei der Text weit davon entfernt ist, eine moralische Disqualifizierung höfischer Lebensart um ihrer selbst willen zu betreiben. 709 Vgl. zu Liebetrauts Intriganz Memmolo (1995), S. 213–214.
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Die Zeichnung des Bischofs als eines jeglichen Charismas entbehrenden Herrschers ist mit Blick darauf, dass dieser die Verfolgung seines politischen Ziels bereits im Vorfeld in die Hände von Vermittler*innen gegeben hat, nur folgerichtig. So hat er gegenüber Adelheid explizit gemacht, dass er sich nicht im Stande sieht, einen Einfluss auf Weislingen auszuüben, der ihren (weiblichen) Möglichkeiten gleichkomme (vgl. GB, S. 314). Dass das adelige Fräulein sich in der Zwischenzeit in der Tat Weislingens „Herz geangelt“ (GB, S. 320) hat, schreibt Goethe in einer emotionalen Szene zwischen beiden aus, die mit einer ebenso dramatischen wie strategisch motivierten Hassbekundung Adelheids endet (vgl. GB, S. 322). Adelheid wird in diesem Zuge nicht nur als effizient verfahrende Machtpolitikerin, sondern geradewegs als Intrigantin figuriert. Gleich zu Beginn tritt sie Weislingen, der im Begriff ist, den bischöflichen Hof zu verlassen, mit der kühlen Distanz einer Verlassenen entgegen (vgl. GB, S. 320–321). Doch gerade indem sie ihm den Abschieds-Handkuss verwehrt, stößt sie ein Gespräch über Weislingens politische Triebkräfte an (vgl. GB, S. 321). Adelbert ist, das wird rasch klar, mindestens zwiegespalten: Er wolle nicht, sondern müsse gehen, und zwar aufgrund seiner „Ritterpflicht“, aufgrund des „heilige[n] Handschlag[es]“ (GB, S. 321) zwischen ihm und Berlichingen. Das aus einem männlichen Ritterethos politische Verpflichtungen erwachsen würden, diskreditiert Adelheid mit dem Hinweis, dies könne man „Mädgen die den Teuerdank lesen, und sich so einen Mann wünschen“ (GB, S. 321) weis machen. Bestenfalls also ein Gegenstand romanhafter Darstellung sei jene „Ritterpflicht“, die Adelheid mehr noch als „Kinderspiel“ abwertet, das Halbwüchsigen anstehe, „die den Rübezahl glauben“ (GB, S. 321). Nachdem Adelheid ‚den Ritter‘ somit schon per se als politisch nicht ernst zu nehmende Figur charakterisiert hat, so fällt ihre Bewertung der Person Berlichingens ähnlich vernichtend aus: Götz sei ein „Feind des Reichs […], ein Feind der Bürgerlichen Ruh und Glückseligkeit! Ein Feind des Kaisers“ und Weislingen demzufolge der „Geselle eines Räubers“ (GB, S. 321). Einer so wenig Achtung verdienenden Gestalt könne sich Weislingen nur „mit ungerechte[m] gezwungene[n] Eid“ (GB, S. 321) verbunden haben. Als Weislingen dieser Charakterzeichnung widerspricht, ändert Adelheid ihre Strategie und stellt Adelberts politische Aufstiegschancen bei einer anhaltenden Allianz mit Götz in Abrede: Eine derart „hohe, unbändige Seele“ wie Berlichingen dulde niemanden in gleicher Position neben sich, wohingegen es Weislingen im Bund mit dem Bischof offen stehe, „Herr von Fürsten“ (GB, S. 321) zu werden. Zum Abschluss des Gesprächs, als Weislingen trotz allem sein Vorhaben der Abreise bekräftigt, aber schweigend in sichtlicher innerer Zerrissenheit Adelheids Hand hält, (vgl. GB, S. 322) zieht das Fräulein alle Register, indem sie sich dem politisch Abtrünnigen als Frau entzieht. Sie schickt den ihr offenbar amourös zugewandten Weislingen mit einem „Ich hasse Euch!“ (GB, S. 322) fort. Dass
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Adelheid sicher nicht von ‚wahrer‘ Liebe entflammt und aus diesem Grund über Weislingens Weggang enttäuscht ist, markiert Goethe eindeutig im Schluss der Szene. Ihrem Kammerfräulein gibt sie nämlich die abermals strategisch gerichtete Anweisung: „Margrethe wenn er kommt weis ihn ab. […] Weis ihn ab. Wenn er noch zu gewinnen ist, so ist’s auf diesen Weg“ (GB, S. 322). Die Folgeszene zeigt, dass der Liebesentzug seine gewünschte Wirkung tut, ja dass die ‚Schnepfe‘ eingefangen ist. „Wir bleiben hier.“ (GB, S. 323) lautet Adelbert von Weislingens Beschluss, der auch dem sich wieder einmal durch falsche „Treu […] betrogen“ (GB, S. 325) sehenden Berlichingen durch einen nach Bamberg eingeschleusten Spitzel nicht lange verborgen bleibt (vgl. GB, S. 323–325). Wenn Berlichingen noch dazu die „[a]rme Marie“ (GB, S. 325) aufgrund des damit ebenfalls offensichtlich gewordenen Treuebruchs ihres Verlobten betrauert, werden die Geschwister Berlichingen zunächst als betrogene Opfer eines wieder in den höfischen Einflussbereich übergewechselten Wendehalses präsentiert. Ein solches scheinbar klares Schuldschema verwischt der Text jedoch bereits in der direkt anschließenden Szene am Bamberger Hof wieder, in der Adelheid auf die Rolle der politischen Intrigantin festgelegt wird. Insbesondere wird in dem entsprechenden Streitgespräch zwischen Adelbert und Adelheid vor Augen geführt, dass letztere vor allem aus politischen Gründen an Weislingen interessiert ist. Für die Figurenkonstellation lässt sich festhalten: Die Treulosigkeit eines Weislingen wird in Goethes Zeichnung der Figur der von Walldorf noch überboten, was wiederum Konsequenzen für die dramatische Schuldverteilung hat. Das, wie sich noch zeigen wird, nach politisch Höherem strebende Fräulein hat sich nach einer nur kurzen Zeit inniger Verbundenheit wieder von Weislingen abgewandt. Grund für ihre Enttäuschung sei, dass Adelbert, der im Ruf stehe, ein über die Maßen verdienstvoller Mann zu sein, sich wider Erwarten nicht als „Quintessenz des männlichen Geschlechts“ (GB, S. 326) gezeigt habe. Besonders an der Planung wie an der Umsetzung großer Taten habe es Weislingen in der gemeinsamen Zeit gänzlich fehlen lassen: Ich sah statt des aktiven Manns der die Geschäfte eines Fürstentums belebte, der sich und seinen Ruhm dabei nicht vergaß, der auf hundert großen Unternehmungen wie auf übereinander gewälzten Bergen zu den Wolken hinauf gestiegen war; den seh ich auf einmal, jammernd wie einen kranken Poeten, melancholisch wie ein gesundes Mädgen, und müßiger als einen alten Junggesellen. (GB, S. 326)
Zwar kann Weislingen Adelheid an dieser Stelle noch einmal von seinen tatkräftig verfolgten politischen Ambitionen überzeugen. Dies ist denn auch, da das Fräulein ihre eigenen politischen Interessen mit Weislingen verknüpft sieht, der einzige Grund, ihn nicht direkt zu verlassen. Offensichtlich wird Adelheids machtpolitische Agenda schließlich in der Schlussphase des vierten Aktes, als das
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bischöfliche Lager einen Rückschlag in der causa ‚Götz‘ hat hinnehmen müssen. Götz nämlich hat – nicht zuletzt durch die tatkräftige und taktische Unterstützung Sickingens – vor der Kaiserlichen Kommission erwirkt, wieder auf seine Burg zurückkehren zu dürfen. Dies gilt Adelheid und Weislingen, folgt man ihrem Dialog, als ebenso „verhaßt[er]“ (GB, S. 363) wie signifikanter Erfolg der freien Reichsritter, zumal der alternde Kaiser offenbar durchaus Sympathie für Götz zeige (vgl. GB, S. 364). Man hofft dementsprechend auf ein baldiges Abdanken Maximilians I., und zwar, so das Fräulein, zugunsten seines politisch vielversprechenden Enkels Karl, der Adelheid, so wiederum der eifersüchtige Weislingen, „ungewöhnliche Aufmerksamkeit“ (vgl. GB, S. 364) widme. Dass die Liebe zu Weislingen, die Adelheid bei der Verabschiedung beider in beruhigender Absicht bekräftigt (vgl. GB, S. 365), gerade noch bis zur nächstbesten Gelegenheit reichen wird, manifestiert ihre direkt nach Adelberts Abtritt artikulierte Einlassung. Sie habe, statt einem bestimmten Mann, „groß[e]“ politische Pläne und daher vor allem den designierten Kaiser Karl im Sinn. Mit dem die Szene beschließenden Credo „Weislingen […], mein Weg geht über dich hin“ (GB, S. 365) ist allerdings die äußerste Kontur ihres überzeichneten Figurenprofils einer machtversessenen Intrigiantin noch lange nicht angegeben, wird das Fräulein doch im fünften Akt einen Giftanschlag auf den vermeintlich Geliebten lancieren (vgl. GB, S. 380). Dafür und für die Affäre mit Weislingens Buben Franz wird sie im fünften Akt von einem „Heimlichen Gericht[ ]“ (GB, S. 384) schließlich zum Tode verurteilt. Goethe verhandelt somit die krassesten Auswüchse machtpolitischer Abgründigkeit nicht anhand der Figur von Götz’ scheinbarem Antagonisten Weislingen, sondern führt zu diesem Zweck eine Frauenfigur ein. Das macht Adelheid aber noch lange nicht zur Gegenspielerin Berlichingens, denn das Fräulein arbeitet, wie schon angemerkt, in erster Linie an ihrem eigenen politischen Aufstieg, der sie unter anderem ‚über Weislingen hinwegführt‘ und sich in diesem Zuge gegen Götz richtet, ohne dass sie aber gezielt gegen Berlichingen persönlich intrigieren würde.710 Ihr Anliegen, einen ‚großen Mann‘ zu ehelichen (vgl. GB, S. 365), stellt für sie die oberste Priorität dar. Dadurch erklärt sich auch, dass sie in dem Moment den Plan fasst, Weislingen umzubringen, als dieser sich von ihr emanzipiert, ja sie politisch kalt stellen will (vgl. GB, S. 380).
710 Huyssen (1980), der zu Recht auf die Provenienz der Adelheid-Figur aus „der Tradition der adligen Buhlerinnen und Zauberinnen im bürgerlichen Drama“ hinweist, verkennt die im Stück geschilderte politische Figurenkonstellation, wenn er in Adelheid „das genaue Gegenbild zu Götz“ bzw. eine „adelige Kontrafaktur zum bürgerlichen Idealbild“ (S. 153) sieht.
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Adelheids extremer Zuschnitt als ‚Machtweib‘711, Giftmörderin und Ehebrecherin in Personalunion712 fungiert in der Figurenkonstellation des Stücks als Entlastungsfaktor für Weislingen, aber auch für den Bischof, so dass Deutungen widersprochen werden muss, die Weislingen als rückhaltlosen Machtpolitiker oder aber als durch das adelige Fräulein Verführten dem treuherzigen Götz als direktes Pendant gegenüber gestellt sehen.713 Noch allgemeiner hat die Figur Adelheids, die sogar von ihrem späteren ‚Opfer‘ Weislingen selbst bereits im zweiten Akt als „Zauberin“ (GB, S. 328) tituliert und somit in ihrer figuralen Direktion unumwunden exponiert wird, die Funktion, das System der Handreichungen zu verkomplizieren: Ihre nachgerade grelle Darstellung als ‚Machtweib‘ verwischt insbesondere den Eindruck, es handele sich um einen politischen ‚Männerkampf‘, der von starren, diametral entgegengesetzten und moralisch klar konturierten Positionen bestimmt sei. Betrachtet man die Figur der Adelheid genauer, kann kaum mehr von einer virilen Auseinandersetzung die Rede sein zwischen einem, der treuherzig-ritterlich die Hand reicht, und anderen, die sich auf Handschläge nur zum Schein einließen und kalt lächelnd ihre eigenen politischen Interessen verfolgen würden. Nicht nur das heroische Ritterethos und damit auch das ritterliche ‚Charakterbild‘ Götz von Berlichingens höhlt Goethe also aus, indem er es als Produkt fremder Imaginationen und Phantasien vorführt, sondern genauso benimmt er die vermeintliche Kontrastfigur Adelbert von Weislingen ihrer figuralen Eindeutigkeit. Adelheid von Walldorf erscheint gar als figurale Hülse,714 die für die Darstellung des männlich codierten Konflikts die skizzierte Funktion erfüllt, insbesondere eine moralische Bewertung der sich vermeintlich so klar gegenüber stehenden Parteien zu verkomplizieren.
1.9 Die Macht der Amputierten. Der Held im Krieg I Der dritte Akt steht wie der erste gänzlich im Zeichen der eisernen Hand, was erstens bedeutet, dass Götz’ bisher nur erzählerisch lancierte heroische Tatkraft für das Kriegsgeschehen relevant wird. Zweitens wird Berlichingens charismatische
711 Vgl. dazu Benz (1985). 712 Ganz in diesem Sinne argumentiert Alt (2004b), dass Adelheid von Walldorf „ihr Vorbild“ (S. 16) Lady Macbeth noch übertreffe. 713 Auch André (2003) widerspricht der Auffassung von einem antagonistischen Verhältnis zwischen Berlichingen und Weislingen, diskutiert aber kaum den politischen Gehalt, sondern fokussiert die subjekttheoretischen Implikationen des Stücks (vgl. S. 42). Adelheids Rolle findet dabei erstaunlich wenig Beachtung (vgl. S. 38). 714 Vgl. dazu auch meine Ausführungen zu Adelheids Verurteilung im fünften Akt.
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Wirkung auf Freund und Feind breit ausgeschrieben. Letzteres zeigt schon die Eingangsszene in Augsburg, in der Weislingen und Kaiser Maximilian mit Kaufleuten zusammentreffen, die nach eigenen Angaben jüngst von Berlichingen sowie Hans von Selbitz „niedergeworfen und beraubt“ (GB, S. 331) wurden und sich kaiserliche Unterstützung erbeten. Die besondere Macht der zwei Ritter betont der Kaiser höchstpersönlich, und zwar bezeichnenderweise, indem er auf die jeweiligen körperlichen Versehrungen beider – Selbitz fehlt ein Bein – aufmerksam macht: „Heiliger Gott! Heiliger Gott! Was ist das? Der eine hat eine Hand, der andere nur ein Bein, wenn sie denn erst zwo Hände hätten, und zwo Beine, was wolltet ihr dann tun?“ (GB, S. 331) Obgleich Maximilian das Anliegen der Kaufleute abwehrt, zeigt er sich sichtlich besorgt über jene neuen Verwerfungen im Land, denen nicht beizukommen sei: „Sie wachsen nach wie die Köpfe der Hydra.“ (GB, S. 331) Weislingen personalisiert jene offenbar unverwüstlichen politischen Kräfte in Form einer Anklage an „Sickingen, Selbitz – Berlichingen“, „[d]enn sie sind’s deren Geist die aufrührische Menge belebt.“ (GB, S. 332) Der Kaiser indessen zeigt sich weniger daran interessiert, die Aktivitäten der Ritter politisch zu bewerten, sondern daran, sich ihre kriegerische Effizienz zunutze zu machen: „Ich mögte die Leute gerne schonen, sie sind tapfer und edel. Wenn ich Krieg führte, müßt ich sie unter meiner Armee haben.“ (GB, S. 332) Weislingen gibt daraufhin zu bedenken, dass sich das Ritter-Trio keineswegs gehorsam fügen werde, und wiederholt seinen Vorwurf, es handele sich um Aufrührer (vgl. GB, S. 332). In diesem Zuge spezifiziert er überdies die besondere Wirkung, ja die Ansteckungsgefahr, die von Sickingen, Selbitz und Berlichingen ausgehe, indem er sie für die anwachsende Zahl an Auflehnungsakten von Untertanen und Leibeigenen gegen ihre Feudalherren verantwortlich erklärt (vgl. GB, S. 332). Die Ritter würden einen „Schwindelgeist, der ganze Landschaften ergreift“ (GB, S. 332), auslösen, womit Weislingen ihnen eine charismatische Breitenwirkung attestiert. Die Szene schließt mit Maximilians Plan, die Ritter vorerst nur ‚kalt zu stellen‘, was konkret bedeutet, sie gefangen zu setzen, „Urfehde“ (GB, S. 332) schwören zu lassen und zum Verbleib auf ihren Schlössern zu nötigen. Auch dieses verhältnismäßig milde Vorgehen passt zu der schon zuvor durchscheinenden Haltung des Kaisers, jene besonderen Einhändigen und Einbeinigen für die eigenen politische Zwecke einspannen zu wollen. Im „Lager der Reichsexekution“, die gehalten ist, Götz von Berlichingen „lebendig gefangen zu nehmen“ (GB, S. 333), weiß man ebenfalls, dass man es mit einem besonderen Gegner zu tun hat. „[E]r wird sich wehren wie ein wildes Schwein“ und „dergleichen Leut packen sich nicht wie ein flüchtiger Dieb“ (GB, S. 334) lauten die unter den Armeeführern im Vorfeld der Mission ausgetauschten, zur Vorsicht gemahnenden Einschätzungen bezüglich Götz’ kriegerischer Fähigkeiten. Dass Berlichingens Souveränität tatsächlich ‚auf dem Feld‘ liegt, ist ebenso das bestimmende Thema auf der Gegenseite. In einem dem Feldzug
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vorangehenden Gespräch mit seinem Schwager Sickingen legt Götz seine Kriegsstrategie, ja allgemeiner sein kriegerisches Ethos offen, das wesentlich darin bestehe, stets „Herr von seinen Handlungen“715 (GB, S. 335) zu sein. Mit dieser Betonung martialischer Tatkraft geht die Ablehnung von papiernen Strategieentwürfen einher,716 die ja bekanntermaßen auch Kleists Prinz Friedrich von Homburg wahnsinnig machen (vgl. PH, V. 421). Berlichingen stellt seinen diesbezüglichen Unwillen in Form einer Retrospektive heraus: So kamen sie mir auch einmal, wie ich dem Pfalzgraf zugesagt hatte gegen Conrad Schotten zu dienen, da legt er mir einen Zettel aus der Kanzlei vor, wie ich reiten und mich halten sollt, da wurf ich den Räten das Papier wieder dar, und sagt: ich wüßt nicht darnach zu handeln; ich weiß nicht was mir begegnen mag, das steht nicht im Zettel; ich muß die Augen selbst auftun, und sehn was ich zu schaffen hab. (GB, S. 335–336)
Dass Götz immerhin nicht gänzlich planlos in die Schlacht zu ziehen gedenkt, demonstriert seine an Sickingen gerichtete Aufforderung, dieser solle vorerst nicht an Berlichingens Seite kämpfen, sondern sich „neutral“ (GB, S. 335) zeigen, um dann in einem strategisch günstigen Moment ins Kriegsgeschehen einzugreifen. Allerdings ist das Vertrauen auf die eigene Kraft so denkbar hoch, dass Götz Sickingens Warnung vor einer zu erwartenden Übermacht des Feindes mit dem siegesgewissen „Ein Wolf ist einer ganzen Herde Schafe zu viel“ (GB, S. 335) abwiegelt.
1.10 Ein schlagkräftiges Heldenbündnis (Franz Lerse) Nicht nur wird Götz’ kriegerischer Tatendrang in dieser Phase des Schauspiels ausführlich geschildert; Goethe führt zudem in einer bemerkenswerten Szene aus, dass Berlichingen durchaus auch gelingende und beständige Bündnisse einzugehen vermag, die allerdings auf ganz anderen Voraussetzungen beruhen als die – schon von Beginn des Textes an in Zweifel gezogene – Handreichung mit Weislingen. Der Mann, der auf Jaxthaussen eintrifft, um in Berlichingens Dienste einzutreten, ist nach den Angaben des Buben Georg „ein stattlicher Mann, mit schwarzen feurigen Augen“ (GB, S. 337). Franz Lerse ist dem Burgherrn „willkommen, doppelt willkommen“ (GB, S. 337), trete er doch in einem Moment an Götz heran, da dieser „nicht hoffte neue Freunde zu gewinnen, vielmehr den Verlust der Alten stündlich fürchtete“ (GB, S. 337). Mit dieser Bemerkung wird
715 Hervorhebung C. R. 716 Vgl. André (2003), S. 29.
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die Begegnung in einen Zusammenhang mit Adelberts Treuebruch gestellt, wobei der sich im Folgenden anbahnende Bund zwischen Lerse und Berlichingen chiastisch zu demjenigen zwischen Berlichingen und Weislingen konstelliert wird. So gibt Franz Lerse an, sich Götz bereits zu einem früheren Zeitpunkt, allerdings auf unangenehme Weise, bekannt gemacht zu haben. Man sei auf dem Schlachtfeld erstmals aufeinander getroffen, auf dem schon erwähnten Feldzug Berlichingens gegen Conrad Schotten. Noch genauer habe die Begegnung, wie sich Götz selbst erinnert, in einem Moment der extremen kriegerischen Bedrängnis stattgefunden. Berlichingen referiert die Szene, in der er einen Trupp feindlicher Reiter zahlenmäßig unterschätzt habe und dadurch mit seinen Leuten in die Bredouille „Fünf und zwanzig gegen acht!“ (GB, S. 338) geraten sei. Lobend indessen äußert er sich über zwei Kämpfer der gegnerischen Seite: „Erhard Truchses durchstach mir einen Knecht, dafür rannt ich ihn vom Pferde. Hätten sie alle gehalten wie er und ein Knecht, es wäre mein und meines kleinen Häufgens übel gewahrt gewesen.“ (GB, S. 338) Besagter Knecht habe sich, so Götz weiter, in einem Zweikampf denkbar tapfer geschlagen: Er war der bravste, den ich gesehen habe. Er setzte mir heiß zu. Wenn ich dachte ich hätt ihn von mir gebracht, wollte mit andern zu schaffen haben, war er wieder an mir, und schlug feindlich zu. Er hieb mir auch durch den Panzerärmel hindurch, daß es ein wenig gefleischt hatte. (GB, S. 338)
Schnell gibt sich Franz Lerse als jener Tapfere zu erkennen, der Götz „mehr als zu wohl“ (GB, S. 338) gefallen habe, und ebenso rasch wird er von Berlichingen in Dienst genommen. Dieses Bündnis gestaltet sich, das demonstriert die Beschreibung des Zweikampfs eindrücklich, als figurale Konstellation, welche die Handreichung zwischen Berlichingen und Weislingen im ersten Akt chiastisch umkehrt: Während Weislingen dort in erster Linie als ‚alter Freund‘ Berlichingens adressiert wurde und sich umgehend als ‚neuer, politischer Feind‘ entpuppte, tritt Lerse als ‚alter‘ Feind an Götz heran, um sein ‚neuer Freund‘ zu werden. Gerade derjenige, „der auf das feindseligste [ihn] zu überwältigen trachtete“ (GB, S. 338), wird zu Götz’ neuem „Diener[ ]“ (GB, S. 338). Wenn Berlichingen diesen Übergang von Feind- in Freund- bzw. treue Dienerschaft zunächst irritiert aufnimmt, betont Lerse im Gegenteil die Folgerichtigkeit einer solchen Verbindungslogik. Beide nämlich teilen, so Franz, das ritterliche Ethos und passen umso besser zueinander, gerade weil sie sich in dieser Hinsicht miteinander gemessen haben: Von Jugend auf dien ich als Reuters Knecht, und habs mit manchem Ritter aufgenommen. Da wir auf Euch stießen freut ich mich. Ich kannte Euren Namen, und da lernt ich Euch kennen. Ihr wißt ich hielt nicht Stand, Ihr saht, es war nicht Furcht, denn ich kam wieder. Kurz ich lernt Euch kennen, und von Stund an beschloß ich Euch zu dienen. (GB, S. 338)
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Das Bündnis fußt dieser Textpassage zufolge auf zwei Gründen: Erstens weiß Lerse bereits im Vorfeld um Berlichingens besonderen Ruf; es habe sich aus der Sicht des jungen Ritters somit ein schon länger gehegter Wunsch erfüllt, als er endlich auf jenen ‚Ausnahmeritter‘ getroffen sei. Zweitens habe der direkte Schlagabtausch bestätigen können, dass Berlichingen sein Ruf nicht nur vorauseile – aus Lerses Sicht Gründe genug, unter Götz kämpfen zu wollen, und dies auch noch umsonst (vgl. GB, S. 338). Die bindende ‚Währung‘ zwischen diesen beiden Rittern steht in Diskrepanz zum Söldnertum der übrigen Berlichingischen Reiter, die ohne Bezahlung „keinen Streich“ (GB, S. 283) tun, wie die Bauern schon in der Eröffnungsszene klagen. Umgekehrt schätzt auch Berlichingen den Kriegsmut jenes feindlichen Knechtes hoch, anstatt sich, wie im Falle Weislingens von alter Verbundenheit für sein Gegenüber eingenommen zu zeigen. Die damit angezeigte figurale Inversionsstruktur lässt sich besonders deutlich am Thema der Versehrung ablesen: Während Weislingen den verstümmelten Götz brüderlich pflegt und umsorgt, (vgl. GB, S. 297) fügt Lerse diesem eine Wunde am Arm zu. Über die Wunde indessen können sich Lerse und Berlichingen finden, da sie ‚unter Rittern‘ nicht als Mal schmerzlicher Feindschaft gilt, sondern, das demonstriert der Dialog in aller Deutlichkeit, als Signum eines verbindenden, kriegerischen Heldenmuts. Der Passus steht somit im Zeichen einer doppelten Heroisierung, die abermals im Modus epischer Distanz zur Darstellung gelangt: „In seinem Schlachtbericht empfiehlt und charakterisiert sich Lerse nicht nur selbst, sondern liefert auch ein bezeichnendes Porträt des bewunderten Kriegers Götz.“717 Dass Franz Götz einstmals verletzt hat, bildet geradezu die Basis für ihren späteren Zusammenhalt. Im Falle Adelberts führt jedoch die brüderliche Sorge um die Verletzung des Freundes nicht zu einer reziproken Fortsetzung der Freundschaft. Im Gegenteil träumt Götz, dass ihn sein Freund der Prothese beraubt, und er erlebt, dass Adelbert sich trotz Handschlag – und eben nicht im heroischen Schlagabtausch – abermals feindlich gegen ihn wendet. Auch mit Blick auf eine spätere Szene des dritten Aktes bestätigt sich, dass Götz erfolgreiche Verbindungen nur mit den ihm im handfesten Kriegsgeschehen beispringenden Figuren einzugehen vermag. Was für den durchaus machtbewussten Franz von Sickingen, der Götz vor dem Heilbronner Gericht durch einen militärischen Aufmarsch, aber eben auch als taktischer Ratgeber zu Hilfe eilt, mit Einschränkungen gilt, wird im Figurenprofil Lerses und Georgs vollständig ausgeschrieben: Nach einem wichtigen Schlag gegen die Reichsexekution sind es gerade der Bube mit Heldenambitionen und der heroische, einstige Kriegsgegner, denen Götz in einer rückblickenden Schilderung des Kriegs für sein Leben
717 Hinderer (1992), S. 34.
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dankt (vgl. GB, S. 344). Und noch eine weitere wäre dieser Reihe von Figuren hinzuzufügen, zu denen Götz gelingende Allianzen unterhält, da man in ritterlichheroischer Attitüde überein kommt. So ordnet der Text auch den Einbeinigen, Hans von Selbitz, dem Heldenreigen zu, indem er ihn als Ausnahmekrieger kennzeichnet, der nicht nur seine Kriegsverletzungen mannhaft erträgt, sondern sogar noch sichtlich angeschlagen sein Leben demjenigen Berlichingens zu unterstellen bereit ist. Der in der Schlacht „[V]erwundet[e]“ (GB, S. 343) nämlich fordert seine Knechte auf, ihn zurückzulassen und stattdessen Berlichingen tatkräftig zu unterstützen (vgl. GB, S. 343). Er gibt überdies noch an, sterben zu wollen, als er Götz tot glaubt (vgl. GB, S. 344).
1.11 ‚Fortzulaufen vor einem Mann‘. Der Held im Krieg II Bevor es in der Schlussphase des dritten Aktes zur Belagerung der Burg Jaxthaussen kommt, wird abermals Götz’ Kriegsheroismus in einigen signifikanten Szenen ausgestellt, und dies in erster Linie aus der Perspektive seiner Feinde. So resümiert der Hauptmann der Reichsexekution die Bedrohung durch Götz folgendermaßen: „Er schlägt uns ein Detaschement nach dem andern, und was nicht umkommt und gefangen wird das lauft in Gottes Namen lieber nach der Türkey als ins Lager zurück, so werden wir alle Tag schwächer.“ (GB, S. 341) In dieser hyperbolischen Rede, die des Kaisers eigene Soldaten in die verfeindete Türkei flüchtend vorstellt – Hintergrund ist der von Kaiser Maximilian geplante Krieg gegen das Osmanische Reich –, gelangt die kriegerische Durchsetzungsfähigkeit des Ritters mit der eisernen Hand unumwunden zur Geltung. Hinzu kommt die offenbare Schwierigkeit, den Helden selbst festzusetzen, da dieser die einheimischen Gefilde so gut kenne, „daß er so wenig zu fangen ist, wie eine Maus auf dem Kornboden“ (GB, S. 341). Berlichingens furchtlosen Zug gegen den zahlenmäßig überlegenen Feind bezeichnet der Hauptmann denn auch als „impertinent“ (GB, S. 342). Und Götz’ kriegerische Hyper-Kraft verdichtet sich in der folgenden, brutalen Vision eines Ritters der Reichsexekution: Götz „hat das Ansehn als ob er den ersten der ihn anstoßen mögte umgekehrt in die Erde pflanzen wollte.“ (GB, S. 342) Derartige Beschreibungen kulminieren schließlich im Wutausbruch des Hauptmanns gegenüber seiner Armee nach der bereits erwähnten Niederlage gegen Götz. Hier zeigt sich ein weiteres Mal, wie viel im Krieg von ‚einem Mann‘ abhängen kann bzw. wie effektiv der politische Held im Krieg ‚zuzuschlagen‘ vermag: „HAUPTMANN Ich mögt euch alle mit eigener Hand umbringen, ihr tausend sakerment. Was, fortzulaufen! Er hatte keine handvoll Leute mehr! Fortzulaufen wie die Scheißkerle! Vor einem Mann.“ (GB, S. 345)
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Trotz der Kriegserfolge kann Berlichingen mit seinen Verbündeten der Übermacht der Reichsexekution nicht standhalten und so kommt es zur Belagerung der Burg Jaxthaussen (vgl. GB, S. 349). Es passt ins Bild des tatkräftigen Kriegshelden, wenn Götz auch in dieser Situation im Modus der Auseinandersetzung zu verbleiben vorzieht und mit der gern zitierten, vulgaristischen Wendung jegliche Verhandlungen mit der Gegenseite ausschlägt (vgl. GB, S. 349).
1.12 Bei einer letzten Flasche Wein: Träumereien von politischer Freiheit „Die Flasche ist leer. […] Es ist die letzte. Und mir ist’s als ob wir nicht zu sparen Ursach hätten.“ (GB, S. 352) – So lauten Götz von Berlichingens einleitende Worte zu einem Tischgespräch, das sich in der Endphase der Belagerung im Saal auf Jaxthaussen entspinnt. Man ist sich allseits sicher, dass die Burg nicht mehr lange zu halten ist und so setzt der Burgherr bei jener letzten Flasche Wein zu einer Rede über die politische Zukunft an, die anfangs niedergeschlagen und todesbewusst ausfällt, dann aber immer optimistischer wird. In jedem Falle zeugt sie von Götz’ politischer Naivität und seiner Unfähigkeit, die politischen Geschicke selbst zielgerichtet in die Hand zu nehmen. Goethe legt hier kein ‚Charakterbild‘ des politischen Helden vor, sondern führt dessen Visionen von Rittertum und Reich als irreale und utopisch stilisierte Träumereien über eine Fürstenherrschaft vor, die gänzlich im Dienste des Allgemeinwohls steht. Mitgeliefert wird eine figurale Funktionsbestimmung des politischen Helden, der nämlich keineswegs den Anspruch formuliert, selbst herrschen zu wollen respektive zu können. Der Szene eignet eine monologische Struktur, die einzig aufgrund der knappen affirmativen Zwischenrufe der Tischgesellschaft einen minimalen Gesprächscharakter erhält. Ganz in diesem Sinne beginnen Götz’ Ausführungen mit einem schlichten „Es lebe der Kaiser!“, von allen kommentiert mit der anaphorischen Bekräftigung: „Er lebe!“ (GB, S. 352) Mit dieser Huldigungsformel an den aktuellen, aber betontermaßen altersschwachen und ihm darin gleichenden Machthaber gedenkt Berlichingen abzutreten. Es soll aber sein „vorletztes Wort“ (GB, S. 352) sein, denn wichtiger noch als der Kaiser ist dem Helden nur eine Sache: GÖTZ […] Er tröpfelt das letzte in sein Glas. Was soll unser letztes Wort sein? GEORG Es lebe die Freiheit! GÖTZ Es lebe die Freiheit! ALLE Es lebe die Freiheit! (GB, S. 352)
Götz’ Hoffnung in jener weinseligen letzten Stunde besteht darin, eine nicht näher inhaltlich spezifizierte, aber offenbar zur politischen Repetitio taugliche ‚Freiheit‘ auch auf höherer Systemebene statt nur innerhalb seiner Gefolgschaft
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verwirklicht zu sehen: „Und wenn die [die Freiheit] uns überlebt können wir ruhig sterben. […] Wenn die Diener der Fürsten so edel und frei dienen wie ihr mir, wenn die Fürsten dem Kaiser dienen wie ich ihm dienen mögte.“ (GB, S. 352) Zur genaueren Kritik an den Landesherren, gegen die Berlichingen so enthusiastisch zu Feld gezogen ist, setzt er auch hier nicht an. Auf einen pessimistischen Einwurf Georgs reagiert Götz mit dem banalen Hinweis auf die faktische Existenz von Fürsten, die sowohl ihren Untertanen wohlgesonnen seien als auch mit dem Ritterstand friedlich zusammen leben könnten (vgl. GB, S. 352). Der Fürst als „gute[r] Mensch[ ]“ (GB, S. 352) – mit diesem Ausgangsbild formt sich in Götz’ Rede Schritt für Schritt die politische Utopie von einer „allgemeine[n] Glückseligkeit“ (GB, S. 353) im Lande. Auch ein konkretes Beispiel für seine politische Idealvorstellung hat der Schwelgende parat: Ich erinnere mich zeitlebens, wie der Landgraf von Hanau eine Jagd gab, und die Fürsten und Herrn die zugegen waren unter freiem Himmel speisten, und das Landvolk all herbei lief sie zu sehen. Das war keine Maskerade die er sich selbst zu Ehren angestellt hatte. Aber die vollen runden Köpfe der Burschen und Mädels die roten Backen alle, und alles fröhliche Gesichter, und wie sie Teil nahmen an der Herrlichkeit ihres Herrn, der auf Gottes Boden unter ihnen sich ergötzte. (GB, S. 353)
Dass Götz hier schwerlich Aussagen zum politischen Alltag im Reich trifft, könnte deutlicher nicht sein. Geschildert wird eine gräfliche Jagdpartie mit anschließender Feier, bei der sich, man darf sagen: erwartbarerweise alle aneinander ‚ergötzen‘. Ein solchermaßen unbeschwert-freudiges Miteinander von Obrigkeit und Untertanen könnte Goethe nur dadurch noch stärker als eine blauäugiger Weinseligkeit entsprungene Vorstellung markieren, wenn er Götz nicht nur von der ‚Rotbackigkeit‘ des jugendlichen Landvolks, sondern auch von ihren blauen Augen schwärmen ließe. Das Modell einer derartigen Herrschaft sieht Georg denn auch in Götz selbst bereits vorbildlich verkörpert (vgl. GB, S. 353). Doch die Naivität der politischen Hoffnungen, die Berlichingen an dieser Stelle formuliert, steigert sich noch im nun dargebotenen Entwurf einer empfindsamen, politischen Genealogie: „Sollten wir nicht hoffen, daß mehr solcher Fürsten auf einmal herrschen können, und Verehrung des Kaisers, Fried und Freundschaft der Nachbarn, und der Untertanen Lieb, der kostbarste Familien Schatz sein wird der auf Enkel und Urenkel erbt.“ (GB, S. 353) Die Hemmnisse zur Verwirklichung einer derartigen, gänzlich auf die altruistischen und sympathetischen Neigungen, auf politischen Familiensinn sowie auf generationenübergreifendes Einverständnis setzenden Zukunftsphantasie erwähnt Berlichingen allenfalls am Rande. Den heroischen Wahlsohn interessiert indessen vor allem, ob unter diesen Voraussetzungen denn überhaupt noch ein ritterliches Leben zu führen sei: „Würden wir hernach noch reiten?“ (GB, S. 353) Berlichingen weiß den Eifernden
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zu beruhigen: Auch wenn es „keine unruhige[n] Köpfe in ganz Deutschland“ gäbe, könne man „noch zu tun genug finden“ (GB, S. 353). Die Beschreibung des für den Ritterstand verbleibenden Aktionskreises schließt direkt an das naive Bild der gräflichen Jagdgemeinschaft an: „Wir wollten die Gebürge von Wölfen säubern, wollten unserm ruhig ackernden Nachbar einen Braten aus dem Wald holen, und dafür die Suppe mit ihm essen.“ (GB, S. 353) Jagd, Essen und ein harmonisches Miteinander unter ‚deutschen Familienmitgliedern‘ sind die Bestandteile jenes ruhig gestellten Ritterlebens. Wem das nicht genug sei, dem bleibe immer noch die Option, in brüderlicher Rittergemeinschaft „vor die Grenzen des Reichs, gegen die Wölfe der Türken, gegen die Füchse der Franzosen [zu] lagern, und zugleich unsers teuern Kaisers sehr ausgesetzte Länder und die Ruhe des Ganzen [zu] beschützen.“ (GB, S. 353) Bestenfalls also der äußere Feind könne in derart beruhigten politischen Verhältnissen noch Anlass zur kriegerischen Intervention bieten, wobei Termini wie ‚lagern‘ und ‚beschützen‘ eher ein passivisch-erhaltendes Tätigkeitsprofil beschreiben. Was bereits der konjunktivische Modus von Berlichingens Visionen andeutet, gerät in einem scheinbaren Detail am Schluss des Gesprächs zur Offensichtlichkeit: der durchweg realitätsferne und naive Zug der politischen Vorstellungswelt des Ritters mit der eisernen Hand.718 So löst Götz’ verheißungsvolles Fazit „Das wäre ein Leben Georg! wenn man seine Haut vor die allgemeine Glückseligkeit setzte“ eine unmittelbare körperliche Reaktion des Angesprochenen aus: Der von Berlichingen begeisterte Bube „springt auf“ (GB, S. 353) und scheint die gerade formulierte ‚Agenda‘ direkt umsetzen zu wollen, ja, wenn man so will, unmittelbar auf ‚Wolfs- oder Türkenjagd‘ gehen zu wollen. Gleich darauf jedoch wird ihm bewusst, dass das soeben von seinem Dienstherren Präsentierte keinesfalls der Realität entspricht: „Ach ich vergaß daß wir eingesperrt sind. – Und der Kaiser hat uns eingesperrt – und unsere Haut davon zu bringen, setzen wir unsere Haut dran!“ (GB, S. 353) En passant führt der Bube mit seinen Worten in die politische Wirklichkeit des Stücks zurück: Die Burg ist umzingelt und man kann eigentlich nur noch hoffen, ‚mit heiler Haut davon zu kommen‘, statt auf Grundlage ritterlicher Ehre anderen ‚die Haut retten zu wollen‘. Dergestalt resümiert Georg die akute Bedrängnissituation der Belagerung, was einen kaum größeren Kontrast zu Berlichingens Phantasien von einer harmonisch-patriarchalischen deutschen
718 Vgl. ähnlich, aber ohne eine Lektüre der Szene Martini (1972): „Und wenn Götz, während der letzten Tafelrunde in der belagerten Burg, in die Zukunft schaut, verklärt sie sich zum Traum einer patriarchalischen Idylle, die die alte Ständeordnung zu einer harmonischen Friedensgemeinschaft humanisiert.“ (S. 29) Vgl. auch Hinderer (1992), S. 32.
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Unifikation, die unter ritterlichem Schutz steht, bilden könnte.719 Für die dramatische Darstellung der politischen Konstellation spielt dieser Verweis auf die verschiedenen Realitätsebenen, die während des Tischgesprächs beim letzten Tropfen Wein eröffnet werden, eine maßgebliche Rolle. Der Text porträtiert den Helden an dieser Stelle als politischen Traumtänzer und als in machtpolitischer Hinsicht Ambitionslosen, möchte er doch lieber Wölfe im Gebirge jagen als gar selbst ein Fürstentum zu übernehmen. Zu bemerken ist, dass diese Figurenzeichnung in derjenigen des ‚Alpenjägers‘ Tell wiederkehren wird.720
1.13 ‚Ich bin kein Rebell‘. Der Held vor Gericht Die Schlussszene der Belagerung hat mit Blick auf den nunmehr folgenden vierten und fünften Akt proleptischen Charakter, da sie Götz’ mangelnde Fähigkeit zu einer realistischen Einschätzung der politischen Lage demonstriert. Was allerdings in den Akten vier und fünf überdies exponiert wird, ist das schiere Versagen des Helden zum taktischen Handeln in einer sich für ihn zuspitzenden, komplexen politischen Konfliktsituation. Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die Gerichtsszene, ein Zwiegespräch mit seiner Frau Elisabeth, die Rolle Berlichingens im Bauernkrieg sowie natürlich das berühmte Schlussbild des Schauspiels. Der Held steht, so muss man sagen, nur aus dem Grund tatsächlich vor Gericht, weil er das Angebot der Reichsexekution, er könne bewaffnet aus dem belagerten Jaxthaussen abziehen, (GB, S. 354) für bare Münze genommen hat, und dann, kaum dass er die Burg verlassen hat, von den feindlichen Soldaten gefangen genommen wird (vgl. GB, S. 355). Aus Weislingens Treuebruch scheint Götz somit nichts gelernt zu haben: Goethe setzt seinen kurz vor dem Prozess stehenden Protagonisten dementsprechend als schier Beleidigten ins Bild, dem 719 Martini (1972) bemerkt zwar eine „politische[ ] Naivität“ Berlichingens in dieser „alle Wirklichkeit überfliegende[n] Vorstellung eines allgemeinen sozialen Friedens, die so völlig seiner realen Situation, der Situation des bereits in seiner Burg Gefangenen, widerspricht“ (S. 40). Die interpretatorische Schlussfolgerung indessen, dass Götz’ Gesellschaftsutopie als Marker einer in Tragödienform gefassten Kritik Hegelianischer Couleur zu lesen ist (vgl. S. 40), will deswegen nicht einleuchten, weil sie Berlichingen mehr analytischen Scharfsinn unterstellt, als er hier und auch im übrigen Verlauf des Dramas an den Tag legt. 720 Nicht nur in Bezug auf diese Szene, sondern grundsätzlich konstatiert Hinderer (1992) Überschneidungen von Berlichingens und Tells Figurenprofil: „[S]o verkörpert Götz nicht nur das ‚Kraftgenie‘, das Goethes Zeitgenossen wie Bürger und Lenz in ihm bewunderten, sondern vor allem den naiven, ‚treuherzigen‘ […], gutgläubigen, unverbildeten, redlichen Naturmenschen, der Züge von Schillers Tell vorwegnimmt.“ (S. 52–53).
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nichts bleibt, als sich in der Heilbronner Gefangenschaft bei seiner Frau über „Meineid[ ]“ (GB, S. 355) und Treuebruch der Gegner, aber auch über den Verlust seiner engsten Vertrauten zu beklagen. Elisabeth besitzt immerhin so viel Realitätssinn, den Gatten zur Vorsicht vor der kaiserlichen Kommission anzuhalten, was jedoch ein geradewegs vergebliches Ansinnen ist, wie Götz’ Auftritt vor dem Gericht veranschaulicht. Dass die Gegenseite bedeutend kalkulierter vorgeht, nämlich sämtliche Vorkehrungen getroffen hat, den Angeklagten notfalls auch mit Gewalt festzuhalten, wird ebenfalls noch vor der Schilderung der Verhandlung betont. Man hat „die stärksten und tapfersten Bürger versammlet“, ja „Männer mit geübten Fäusten“ (GB, S. 357) in der Hinterhand, um dem Ritter mit der eisernen Hand im Falle eines Falles beikommen zu können. Seinen Auftakt nimmt das Verfahren damit, dass sich Götz diesem schon körperlich widersetzt. Der Aufforderung, sich zu setzen, begegnet er despektierlich: „Ich kann stehn! Das Stühlgen riecht so nach armen Sündern, wie überhaupt die ganze Stube.“ (GB, S. 357) – ein derart mangelnde Achtung des Helden bzw. der Heldin vor der gerichtlichen Instanz, die Götz’ Verhalten während der gesamten Szene bestimmt, wird Kleist im Käthchen von Heilbronn in seiner fulminanten Eingangssequenz ausschreiben. Das Gericht nun legt Berlichingen den kaiserlichen Vorschlag zur Beendigung des Konflikts vor: Der Kaiser wolle ihm verzeihen, die Acht aufheben und ihn von jeglicher Strafe freisprechen, wenn er „Urfehde“ (GB, S. 358) schwöre, d. h. wenn er per Eid versichere, fortan keine Fehden mehr zu führen. In einem weiteren Akt offensichtlicher Auflehnung gegen das Gericht wiegelt Götz den Vorschlag schlicht ab und drängt im Geiste ritterlicher Kameradschaft und erfolglos darauf, etwas über den Verbleib seiner Getreuen zu erfahren. Stattdessen wird die Erklärung verlesen, die man vom Angeklagten abzugeben erwartet. Dieser jedoch wehrt sich ganz entschieden gegen die Deklaration, gemäß derer er sich „gegen Kaiser und Reich rebellischer Weise aufgelehnt“ (GB, S. 358) habe. Seine Begründung bezeugt über eine enorme Empörung hinaus ein weiteres Mal die politische Agendalosigkeit des Helden: „Ich bin kein Rebell, habe gegen Ihro Kaiserliche Majestät nichts verbrochen, und das Reich geht mich nichts an.“ (GB, S. 358–359) Nichts könnte deutlicher zum Ausdruck bringen, dass das politische Bewusstsein Berlichingens seinen eigenen, engen ritterlichen Dunstkreis nicht übersteigt, denn auf Reichsebene denkt dieser Mann erklärtermaßen nicht. Mehr noch bringt er im Folgenden zum Ausdruck, selbst keinerlei Herrschaftsansprüche zu hegen, sondern beschreibt sich als mustergültigen Untertanen, der stets handelnd unter Beweis gestellt habe, dass er „besser als einer fühle was Deutschland seinen Regenten schuldig ist, und besonders was die Kleinen, die Ritter und Freien ihrem Kaiser schuldig sind.“ (GB, S. 359) Die
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sodann erfolgende Drohung, ihn im Falle einer ausbleibenden Unterschrift zu inhaftieren und vor ein Gericht zu stellen, das weniger Gnade walten lassen werde als die kaiserliche Kommission, lässt den selbsternannten Überzeugungstäter schier ausrasten: Er wettert vom Missbrauch der „kaiserliche[n] Gewalt“ (GB, S. 359), von Verrat, von gebrochenen Zusagen, wobei am schlimmsten der Bruch des gegebenen Ritterwortes zu wiegen scheint: „Was! mir erst, die Verräter! eine Falle stellen, und ihren Eid, ihr ritterlich Wort zum Speck drin aufzuhängen!“ (GB, S. 359) Diese Selbstauskunft erweist sich mit Blick auf die im Text bis zu diesem Zeitpunkt vollzogene Figurenzeichnung als in fast schon ironischer Weise zutreffend, hat sich Götz doch tatsächlich wie eine Maus mit Speck ködern lassen. Der Eid ist, wie Götz erstaunlicherweise selbst registriert, ein bloßes Lockmittel, mit dem man naive Ritter fangen kann. Während die kaiserlichen Räte Götz jenes ritterliche Ethos absprechen (vgl. GB, S. 359), insistiert dieser aber noch einmal darauf, indem er die eigene politische Situation mit der aus seiner Sicht ehrenwertesten Auseinandersetzungsform überhaupt beschreibt: „Ich bin in einer ehrlichen Fehd begriffen.“ (GB, S. 359) Mehr noch habe er eine „groß[e], […] eine so edle Tat“ (GB, S. 359) vollbracht, für die er unrechtmäßigerweise gefangen genommen worden sei. Starr und ohne auch nur den geringsten Ansatz zu zeigen, die ihm noch verbleibenden politischen Optionen zu erwägen, beharrt Götz auf seiner Position und fasst seine vermeintlichen Untaten als bloße Wehrmaßnahmen gegen den aggressiven Bischof (vgl. GB, S. 359). Dass sich der Held letztlich einzig in kriegerischer, nicht aber in rhetorisch-strategischer Schlagfertigkeit politisch tätig zeigen kann, wird allzu deutlich, wenn er seine Verteidigungstirade mit der Aussage „Ich habe Gott sei Dank noch eine Hand, und habe wohl getan sie zu brauchen.“ (GB, S. 359–360) beschließt.721 Dies ist denn auch der Moment, in dem eine Eskalation im Heilbronner Rathaus kurz bevor steht, denn auf den Plan treten die im Vorfeld abgestellten Bürger, allesamt bewaffnet mit „Stangen in der Hand“ (GB, S. 360). Da die Auseinandersetzung somit ‚handfest‘ zu werden beginnt, ist Berlichingens Heldenmut geweckt, wie auch seine Warnung an die Angreifer belegt: „Wer kein Ungrischer Ochs ist, komm mir nicht zu nah. Er soll von dieser meiner rechten eisernen Hand eine solche Ohrfeige kriegen, die ihm Kopfweh, Zahnweh und alles Weh auf Erden aus dem Grund kurieren soll.“ (GB, S. 360) Unmittelbar darauf setzt es dann auch, wie der Didaskalie zu entnehmen ist, tatsächlich etwas (vgl. GB, S. 360). Abermals beweist Götz seine dominante, körperliche Schlagkraft, vor der sogar die ‚Männer mit den geübten Fäusten‘ rasch „weichen“ (GB, S. 360), wobei sie von Berlichingen
721 „Götz kann eben Rechtsfragen bloß ‚handgreiflich‘ lösen.“ (Hinderer (1992), S. 42).
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noch mit „Kommt! Kommt!“-Rufen (GB, S. 360) angestachelt werden, den Faustkampf fortzusetzen.722 Siegessicher begegnet er der Aufforderung, sich zu ergeben, mit einem Ausruf, der neben dem Vertrauen in die bewaffnete Hand den Vorsatz zum Ausdruck bringt, gerade in diesem Moment ein Lehrstück ritterlicher Redlichkeit und Gesetzestreue abzugeben: Mit dem Schwert in der Hand! Wißt Ihr daß es jetzt nur an mir läge mich durch alle diese Hasenjäger durchzuschlagen, und das weite Feld zu gewinnen. Aber ich will Euch lehren wie man Wort hält. Versprecht mir ritterlich Gefängnis, und ich gebe mein Schwert weg und bin wie vorher Euer Gefangener. (GB, S. 360)
Würde man ihm also erneut ein eidlich verbrieftes Angebot unterbreiten, das den eigenen Bedingungen entspräche, ihm also wiederum den Speck vor die Nase halten, ließe er sich, so darf man den Passus interpretieren, abermals darauf ein bzw. würde die Maus wider besseren Wissens ein zweites Mal in die Falle tappen. Diese Aussage kann als wohl deutlichstes Zeichen dafür gewertet werden, dass Berlichingens politischer Aktionsradius über ein ritterliches Wort und den dazu passenden Handschlag sowie über eiserne Faustschläge nicht hinausreicht.723 Nahtlos wird dieses Figurenporträt in der bereits oben diskutierten Szene fortgeschrieben, in der Franz von Sickingen Götz zu Hilfe eilt (vgl. GB, S. 362–363), denn hier präsentiert der Text ebenfalls einen von Naivität Geschlagenen, einen taktisch Unfähigen, sich politisch ständig Verkalkulierenden, der allerdings zur – von anderen geplanten – kriegerischen Auseinandersetzung über die Maßen brauchbar ist. Dies tritt besonders auch im Kontrast mit seinem Schwager hervor.
722 Estarami (2005) diskutiert den gewaltsamen Ausgang der Gerichtsszene nicht. Das ergibt einen guten Sinn in einer Argumentation, die Götz als in moderater Weise für seine Rechte eintretenden Selbsthelfer beschreibt, der sich einsetze für „ein friedliches Reich, in dem Ruhe und Gerechtigkeit herrschen und die Rechte der Ritter respektiert würden.“ (S. 65) Ohne die politische Eindimensionalität zu registrieren, die Goethe seinem Protagonisten gerade in dieser Szene auf den Leib schreibt, heißt es glorifizierend: „Und dies ist die Stärke von Götz, dessen Selbsthilfe von Vernunft geprägt ist. Er ist kein Abenteurer, der aus Unachtsamkeit egoistisch und unverantwortlich die Ordnung des Reiches zerstört, um in dieser Anarchie rauben zu können.“ (S. 65) Vgl. für eine Kritik an einer Lesart des Götz als „überzeugende Selbsthelfer-Figur“ (S. 151) Schmied (2002/2003). 723 Van Kempens (2000) Hinweis, dass die Verkrüppelung der „Schwerthand“ mit einer Versehrung der „Schwurhand“ (S. 160) einhergeht, fügt sich in die hier entwickelte Deutung: In den Fällen, in denen Götz schwörend die Hand reicht, zieht dies in aller Regel kein beständiges Bündnis bzw. kein für ihn erfolgreiches politisches Handeln nach sich.
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1.14 Die Aufforderung zur Heldenautobiographie Eine weitere Szene verdient in diesem Zusammenhang insofern Beachtung, als sie in anderer Hinsicht demonstriert, dass Goethe das Figurenprofil des politischen Helden wesentlich aus den einfachen Komponenten eines naiven Ritterwortes und einer schlichten Tatkräftigkeit zusammensetzt. Schon die Eröffnung des Gesprächs mit seiner Gattin am Schluss des vierten Aktes ist diesbezüglich eindeutig: Dem nunmehr nach Sickingens Intervention und unter der kaiserlichen Auflage, sich ruhig zu verhalten, nach Jaxthaussen Zurückgekehrten ist schlichtweg langweilig: Er klagt über den „Müßiggang“ (GB, S. 367), die Enge seines Daseins, ja über Schlaflosigkeit. Elisabeth zeigt Götz nun einen weniger agitativen Weg auf, sich als Held zu zeigen: „So schreib doch deine Geschichte aus die du angefangen hast. Gib deinen Freunden ein Zeugnis in die Hand deine Feinde zu beschämen, verschaff einer edlen Nachkommenschaft die Freude dich nicht zu verkennen.“ (GB, S. 367) Besorgt ist Elisabeth offenbar um Götz’ postumen Heldenruhm, an den schließlich auch der heroische Mitstreiter Franz Lerse in der allerletzten Zeile des Schauspiels nahezu wortgleich gemahnen wird (vgl. GB, S. 389).724 Doch den eigentlich nur ‚mit dem Schwert in der Hand‘ in vollem Umfang vollzogenem Tatendrang vermag, so Berlichingen, kein Schreibakt zu kompensieren:725 „Ach! Schreiben ist geschäftiger Müßiggang, es kommt mir sauer an. Indem ich schreibe was ich getan habe, ärgere ich mich über den Verlust der Zeit in der ich etwas tun könnte.“ (GB, S. 367) Wenn ihn auch der Umgang mit der Schrift nicht „irr“ (PH, V. 421) macht wie Kleists Prinz Friedrich, so stößt Götz die sogenannte Pseudo-Tätigkeit mindestens ‚sauer‘ auf, zumal ihm das Verfassen der eigenen Heldenautobiographie im Wortsinne als vertane Zeit gilt. Goethe liefert im Folgenden eine Art sneak peek des autobiographischen Schriftstücks, das indessen nichts verrät, was die Leser*innen nicht ohnehin längst wissen: Götz stellt hier nämlich offenbar seine wohl bekannten, altruistisch-ritterlichen Sentenzen anhand bestimmter Episoden seines Lebens zusammen. Man erfährt also beispielsweise, dass es dem Ritter mit der eisernen Hand ein konsequentes Anliegen sei, „[s]eine Haut“ ebenso für „Gut und Geld“ anderer zu riskieren, so wie er mit ‚eigener Haut‘ stets für sein „Wort“ (GB, S. 367) einstehe. Die hier über die Maßen affirmativ auftretende Gattin scheint dem schreibfaulen Helden gewissermaßen den Stoff für eine weitere Textszene bereit 724 Vgl. dazu auch André (2003), S. 44. 725 Auf Götz’ Aversion gegen die Schrift bzw. auf seine misslingenden Schreibversuche verweist André (2003), S. 29, 33. Auch van Kempen (2000) betont die scheiternde autobiographisch projektierte Identitätskonstitution (vgl. S. 162).
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III Lektüren
stellen zu wollen, wenn sie sogleich eine eigene Erinnerung zum Besten gibt, die Berlichingens Helden-„Ruf“ (GB, S. 367) überdeutlich affirmieren soll: Es fällt in die Zeiten wie ich die von Miltenberg und Singlingen in der Wirtsstube fand, die mich nicht kannten. Da hat ich eine Freude als wenn ich einen Sohn geboren hätte. Sie rühmten dich unter einander, und sagten: Er ist das Muster eines Ritters, tapfer und edel in seiner Freiheit, und gelassen und treu im Unglück. (GB, S. 367)
Dass die Ehefrau beim Belauschen eines Wirtshaus-Gesprächs, in dem ihr Mann zum Helden stilisiert wird, eine jungem Mutterglück, das freilich nur den männlichen Nachkommen als volle Erfüllung empfindet, gleichkommende ‚Freude‘ verspürt haben soll, lässt sich als ironischer Fingerzeig darauf lesen, wie Götz’ Heldenstatus zustande kommt, hier nämlich in einer schmeichelhaften Reminiszenz der Gattin an eine Kneipenszene. Von der schwelgenden Elisabeth hört man somit in der Unterredung nicht anders als von Götz selbst eine sich der Vergangenheit versichernde Bekräftigung Berlichingischen Heldenruhms und -muts. Mit einem gewohnt schlichten, abschließenden Wort ordnet Götz den heroischen Ruhm seiner selbstlosen Gesinnung unter: „Und Gott weiß, daß ich mehr geschwitzt hab meinem Nächsten zu dienen als mir, daß ich um den Namen eines tapfern und treuen Ritters gearbeitet habe, nicht um hohe Reichtümer und Rang zu gewinnen.“ (GB, S. 368)
1.15 Hauptmann? ‚Meinetwegen‘. Götz’ Rolle im Bauernaufstand Mit dem eindrucksvollen Bild einer Gruppe von „Weiber[n] und Alte[n] mit Kindern und Gepäcke“ (GB, S. 369), die aus einem vom Bauernkrieg heimgesuchten Dorf flüchten, beginnt der fünfte Akt des Schauspiels. Eine „blutrot[e]“ (GB, S. 369) Spur ziehen die revoltierenden, sich mit ihrem brutalen Rachefeldzug gegen den Adel brüstenden Bauern hinter sich her (vgl. GB, S. 369–370). Bedeutsam für das Thema des politischen Heldentums sind diejenigen Szenen, die eine Nahperspektive auf die unter den Anführern des Bauernaufstandes geführten Strategiegespräche richten. Besonders beschäftigt die Rädelsführer das Begehren des „großen Haufen[s]“ nach einem „Hauptmann, vor dem das Volk all Respekt hat“ (GB, S. 370). Dass man hierbei durchaus massenpsychologische Kompetenzen an den Tag legt, demonstriert der Hinweis Metzlers, dass keiner aus den eigenen Reihen dieses Amt ausfüllen könne: „Denn wir sind doch nur ihres gleichen, das fühlen sie und werden schwürig.“ (GB, S. 370) Über zwei andere jedoch wird rasch diskutiert, nämlich über „Max Stumpf oder Götz von Berlichingen“ (GB, S. 370). Man favorisiert offensichtlich von Beginn an Berlichingen, zumal sich Stumpf bereits von den Aufständischen losgesagt hat (vgl. GB, S. 372). Die Begründung
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zeigt in aller Deutlichkeit, dass Götz auch an dieser Stelle für ein fremdes politisches Anliegen instrumentalisiert wird, und dies, indem man seinen ritterlichen Heldenruf auszuschlachten gedenkt: „Das wär gut gäb auch der Sache einen Schein wenn’s der Götz tät, er ist immer für einen rechtschaffnen Ritter passiert.“ (GB, S. 370) Dieser Linie folgend inszeniert Goethe die Anführer Link und Metzler in einer weiteren Gesprächssequenz als scharfsichtige Analytiker der rebellischen Masse,726 was abermals einen Kontrast bildet zum Figurenprofil Berlichingens, der über derartige Fähigkeiten gerade nicht verfügt. Versinnbildlicht wird der bereits erwähnte „große[ ] Haufen“ durch einen „großen Kometen“ (GB, S. 370). Dass damit tatsächlich die Masse der aufständischen Bauern gemeint ist, belegt die bemühte Farbsemantik: Ähnlich wie schon zu Beginn des fünften Aktes die Flüchtenden unter dem Eindruck der ‚mörderischen‘ Menge „Himmel […] und Sonne blutrot“ (GB, S. 369) gefärbt sahen, beschreibt Metzler den im Zeichen des Kometen stehenden Zug der Bauern nach Heilbronn: „Wie ein gebogner Arm mit einem Schwert sieht er aus, so blut gelb rot.“ (GB, S. 371) Noch deutlicher wird die Parallelführung von Menschenmasse und Naturgewalt in Links schreckenvollem Kommentar: „Mir hats gegraust. Wie das alles so bleichrot, und darunter viel feurige helle Flammen und dazwischen die grausame Gesichter mit rauchen Häuptern und Bärten.“ (GB, S. 371) Es ist ein unruhig bewegter, die sinnliche Wahrnehmung überfordernder, blutdürstender Haufen, der sich gänzlich ohne Ordnung und Kontrolle nach Heilbronn aufmache: „Und das zwitsert alles durcheinander, als läg’s in einem blutigen Meere und arbeitet durcheinander, daß einem die Sinne vergehn.“ (GB, S. 371) Daran anknüpfend schildert die folgende Szene den Versuch, der chaotischen Masse Herr zu werden. Max Stumpf, nach eigenen Angaben ein „Pfalzgräfischer Diener“ (GB, S. 371), lehnt den Hauptmannsposten mit der Begründung ab, die Bauern würden seine Loyalität gegenüber der gemeinsamen Sache anzweifeln, da sich der Feldzug gegen Stumpfs eigenen Dienstherren richtet. Auch Berlichingen zeigt sich zunächst alles andere als überzeugt von seiner Eignung zum Kopf des Aufstandes, und dies erwartbarerweise im Rekurs auf sein „ritterlich Wort“ (GB, S. 371), das er dem Kaiser gegeben hat, als er auf dessen Angebot eingegangen ist, sich ruhig zu verhalten. Doch auch politisch lehnt Götz das Unterfangen der aus seiner Sicht „schändlichen rasenden“ (GB, S. 372) Bauern ab und er erklärt emphatisch: „[E]her sollt ihr mich tot schlagen wie einen wütigen Hund, als daß ich euer Haupt würde.“ (GB, S. 372) Gerade Stumpf, der sich selbst nicht
726 Dieser Zusammenhang bleibt in Beises (2010) Lektüre des Götz von Berlichingen unbeachtet, obwohl er sich dem Text mit der Frage nach dem ‚Volk‘ zuwendet (vgl. S. 372–378).
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für das Amt des Hauptmanns hergeben will, appelliert im Folgenden schmeichlerisch an Berlichingens Führungskompetenzen. Das Problem sei eben, dass die Aufständischen bis dato „keinen Führer hatten den sie geehrt und er ihrer Wut Einhalt [hat] tun können“ (GB, S. 372): „Die Fürsten […], ganz Deutschland“ (GB, S. 372) wären Berlichingen zu Dank verpflichtet, würde er die Menge führen. Götz, der auch auf die direkte Bitte „sei unser Hauptmann“ bekräftigt, in dieser Sache mehr als „entschlossen“ (GB, S. 372) zu sein, erklärt sich jedoch nur wenige Zeilen später durchaus bereit, nichts anderes als der Hauptmann sein zu wollen, wenngleich sein plötzlicher und im Text nicht motivierter Sinneswandel mit einer Konzession einhergeht: „Was wütet ihr und verderbt das Land! Wollt ihr abstehen von allen Übeltaten, und handeln als wackere Leute, und die wissen was sie wollen, so will ich euch behülflich sein zu euren Forderungen, und auf acht Tag euer Hauptmann sein.“ (GB, S. 372) Wiederum nur kurz darauf sollen aus besagten acht Tagen „vier Wochen“ werden und Götz stimmt der Ausweitung der temporären Führerschaft mit einem lapidaren „Meinetwegen“ (GB, S. 372) zu. Vergegenwärtigt man sich, wie beiläufig dieser politische Schritt erfolgt, der immerhin die zentrale Verfehlung Berlichingens, den Wortbruch gegenüber dem Kaiser, begründet und der zusätzlich der von Götz vermeintlich so hoch gehaltenen ritterlichen Größe klar zuwiderläuft, steht zu fragen, ob Goethe an dieser Stelle, tatsächlich „eine bestimmte Vorschrift der aristotelischen Tragödientheorie befolgen und das tragische Ende Götzens durch ein Versagen, eine hamartia, des Helden begründen, aber nicht dessen Vorbildcharakter schmälern“727 will. Ein Zuwachs an tragischer Dignität ist in jenem ‚Meinetwegen‘ schwerlich zu erkennen. Berlichingens Schritt an die Spitze des Bauernaufstandes wird vom Text in zweierlei Hinsicht als unbedacht und insbesondere als politisch wirkungslos ausgewiesen.728 Erstens wird festgehalten, dass letztlich die internen Anführer die eigentliche Autorität behalten, denn man einigt sich hinter vorgehaltener Hand darauf, den Hauptmann Götz von Berlichingen zu bewachen und abzuschotten (vgl. GB, S. 373). Zweitens wird der „Vertrag“ (GB, S. 372), den Götz von den Aufständischen einzuhalten fordert und der darauf zielt, von unverhältnismäßiger Brutalität Abstand zu nehmen, umgehend von denjenigen Anführern, die den
727 Michelsen (1993), S. 53. 728 Langes (2002) Deutung, dass sich Götz im Zuge der Bauernrebellion als „a radical conservative“ zeige, dem es um die Wiederherstellung einer mittelalterlichen politischen Ordnung und mehr noch um die Abschaffung von „political modernity as such“ (S. 181) gehe, lässt sich meines Erachtens nicht belegen. Im Gegenteil führt die Passage eindrücklich vor Augen, dass Götz agendalos politisch agiert und zusätzlich in seinen Handlungen nicht ernst genommen wird. Vgl. so auch Schmied (2002/2003), S. 148.
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Verhandlungen mit Berlichingen fern geblieben sind, vehement abgelehnt (vgl. GB, S. 373). Mehr noch wird das besagte Abkommen rasch zum Zankapfel innerhalb der Führungsriege (vgl. GB, S. 373); man ist schon auf dieser Ebene nicht bereit, sich daran zu halten. Deutlich wird dadurch, dass die Bedingungen, unter denen sich Götz in die Position des Rebellen-Hauptmanns begibt, keine politischen Konsequenzen zeitigen, weil sie von niemandem ernst genommen werden.729 Wie wenig sich der Held zum Hauptmann und d. h. allgemeiner gesprochen zum politischen Anführer eignet, demonstrieren die sich anschließenden Ereignisse. Der von Götz geforderte Vertrag, der „gegen seine sonstigen Gepflogenheiten“730 „schriftlich“ (GB, S. 372) an alle Bauern-Trupps geschickt werden sollte, wird sichtbar gebrochen; ja Goethe lässt Berlichingen und Georg selbst dabei zuschauen, wie Miltenberg – ob die Burg oder das gesamte Dorf gemeint ist, wird nicht klar – von den Bauern in Brand gesetzt wird (vgl. GB, S. 375).731 Dass Götz sich kaum in der Lage sieht, den „Mordbrenner[n]“ Einhalt zu gebieten, manifestiert sich in seinem Wunsch, „tausend Meilen“ von den politischen Geschehnissen, am liebsten in der „Türkey“ (GB, S. 375), entfernt zu sein. Zwar distanziert er sich dann auch explizit von den Aufständischen (vgl. GB, 375), allerdings kommt diese Maßnahme deutlich zu spät.732 Schon in der vorangegangenen Szene hat Berlichingens Ehefrau sein Agieren im Bauernkrieg als fatalen Schritt ausgewiesen. Im Dialog mit dem Getreuen Lerse beweist Elisabeth weit mehr politisches Gespür als ihr Gatte, dessen selbst verschuldetes Schicksal sie ungeschönt prophezeit: Götz habe seinen Eid gegenüber dem Kaiser gebrochen und sich überdies „zu Rebellen, Missetätern, Mördern gesellt“ (GB, S. 374). Während Lerse, mit ähnlicher Naivität wie sein Dienstherr geschlagen, noch auf den Dank der Obrigkeit dafür hofft, dass Götz „freiwillig Führer eines unbändigen Volks“ geworden sei, ist sich Elisabeth sicher, man werde ihren Mann „als Rebell behandel[n]“ (GB, S. 375) und für seine Beteiligung am Bauernaufstand zum Tode verurteilen – 729 Wenn Nägele (1980) argumentiert, Götz’ Kaisertreue käme „jedem rebellischen Gestus in die Quere“ (S. 73), steht zu fragen, wie er Berlichingens Schritt an die Spitze der Bauernrevolte bewertet. Zwar trifft es zu, dass Götz nicht der Protagonist eines vom historischen Stoff nahe gelegten „revolutionäre[n] Drama[s]“ (S. 73) sei; allerdings stört nicht die Bindung an den Kaiser das Bild eines politischen Rebellen, sondern Berlichingens bestenfalls im Vagen verbleibende politische Agenda. 730 André (2003), S. 32. 731 André (2003) bemerkt zu Recht, dass der Vertragsschluss „in der naiven Annahme [erfolgt], dass sie [die Aufständischen] sich durch das Schriftstück an seine [Berlichingens] Order gebunden fühlen“ (S. 32). 732 Vgl. zur Erfolglosigkeit von Götz’ „Übernahme einer Führungsrolle im Bauernaufstand“ Schmied (2002/2003), S. 148.
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eine Prognose, mit der sie Recht behalten soll (vgl. GB, S. 381, 383). Ebenso registriert sie, was Götz entgangen ist, als er sich dazu bereit erklärt hat, die Bauern zu führen, nämlich dass er zu keinem Zeitpunkt als veritabler Kopf des Aufstandes hat gelten können. Der Hauptmann sei schlicht kein Hauptmann, würden doch er und Georg von den vermeintlichen Untergebenen „bewacht […] wie Feinde“ (GB, S. 375). Indem sie bemerkt, dass Götz unter den Aufständischen kein gutes standing hat, demonstriert die Ehefrau mehr Weitsicht und Realitätssinn als Berlichingen selbst. Elisabeth registriert präzise die Strategie der Rädelsführer, die Götz erstens vor allem deswegen an der Spitze des Aufstandes wissen wollten, weil er der Sache den ‚Schein der Rechtschaffenheit‘ verleihen würde (vgl. GB, S. 370), und die ihn zweitens von Beginn an unter Beobachtung zu stellen beabsichtigten (vgl. GB, S. 373). Als Georg gemeinsam mit den Bauern, die für den Angriff auf Miltenberg veranwortlich zeichnen, von der Gegenseite gefangen genommen wird, kommt es zum offenen Konflikt zwischen Götz und den eigentlichen Köpfen des Bauernaufstandes. Berlichingen insisitiert zu erfahren, wer für den Gewaltakt verantwortlich sei, was aus seiner Perspektive bedeutet, wissen zu wollen, wer sich vertragsbrüchig gezeigt habe. Dass der von ihm ins Werk gesetzte Vertrag indessen unter den Bauern für null und nichtig gilt, demonstrieren Metzlers despektierlicher Hinweis, Götz solle sich hüten, an dieser Stelle „Umstände“ (GB, S. 376) zu bereiten, und Kohls Anweisung, er solle sich stattdessen in der kurz bevorstehenden Schlacht gegen den Feind engagieren (vgl. GB, 376–377). Von Metzler sogar als „feige[r] Kerl“ und „Fürstendiener“ (GB, S. 377) beschimpft, weiß sich der Ritter mit der eisernen Hand einzig noch auf die bereits bekannte Weise, also gerade nicht mit Worten zu verteidigen und schlägt zu (vgl. GB, S. 377). Im Chaos der nun folgenden, finalen Schlacht der kaiserlichen Truppen gegen die Bauern wird Berlichingen, ganz der Vorhersage seiner Frau entsprechend (vgl. GB, S. 381), gefasst, im Heilbronner Gefängnis inhaftiert und vom als Richter eingesetzten Weislingen zum Tode verurteilt.
1.16 Kein heroisches Finalduell: Weislingens Ende – Adelheids Schuld Dass Götz das eigene Schicksal schon lange nicht mehr oder besser: nie wirklich in der eigenen Hand hatte, legt Goethe dem nach dem Giftanschlag durch seine Frau dahinsiechenden und somit auch dem Machtspiel anheimgefallenen Adelbert von Weislingen in den Mund. Wieder ist es das Motiv der Hand, das bemüht wird, um die politischen Verhältnisse, insbesondere einen Verlust von politischer agency zu veranschaulichen:
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Im halben Schlummer giftige Träume. Die vorige Nacht begegnete ich Götzen im Wald. Er zog sein Schwert und forderte mich heraus. Ich faßte nach meinem, die Hand versagte mir. Da stieß ers in die Scheide, sah mich verächtlich an und ging hinter mich. – Er ist gefangen und ich zittere vor ihm. Dein Wort hat ihn zum Tode verurteilt und du bebst vor seiner Traumgestalt wie ein Missetäter. […] – Götz! Götz! – Wir Menschen führen uns nicht selbst, bösen Geistern ist Macht über uns gelassen, daß sie ihren höllischen Mutwillen an unserm Verderben üben. (GB, S. 382)
Was Goethe hier als Traumszene verfremdet ins Bild setzt, liest sich als Zusammenfassung eines politischen Versagens der beiden männlichen Hauptfiguren. Dass Adelbert einem Handgemenge, einem direkten Schlagabtausch mit Götz nicht stand hält, sondern dass er Berlichingen allenfalls emphatisch die Hand reichen kann, um sie ihm unter dem Einfluss anderer wieder zu entziehen, war bereits im zweiten Akt klar und wird an dieser Stelle noch einmal aufgerufen. Doch auch das eigens verantwortete ‚Machtwort‘ über Berlichingen gesprochen zu haben, hinterlässt bei Weislingen nicht den Eindruck, politisch triumphiert zu haben. So sucht ihn der Verurteilte im Traum heim und darüber hinaus erweist sich der politische Aufstieg dadurch getrübt, seinerseits ‚zum Tode verurteilt‘ zu sein, und zwar durch eine Intrige, durch einen Giftanschlag der eigenen Frau. Beide im Drama durchgespielten Formen der politischen Auseinandersetzung, eine heroisch-martialische Tatkraft einerseits und ein machtpolitisches Taktieren andererseits, beherrscht Weislingen somit nicht. Doch auch Götz selbst ist zu diesem Zeitpunkt bestenfalls noch als ‚Traumgestalt‘ aktiv, der das Schwert, so lässt sich der Traumbericht deuten, nicht mehr führt. So wenig Adelbert von Weislingen als reüssierender Machtpolitiker gelten kann, der andere Menschen zu führen vermag, so wenig ‚führt‘ Götz von Berlichingen in der Endphase des Stücks heroisch das Schwert und dergestalt sich selbst. Wenn aber der Kampf unterbleibt, dies kann als Kern des Götz’schen Figurenprofils gelten, kann sich der politische Held nicht beweisen; er macht vielleicht noch den für sein Todesurteil Verantwortlichen ‚zittern‘, ohne dass er jedoch eine konkrete Gefahr darstellen würde. Welche politische Dynamik von einem totgeweihten Helden auszugehen vermag, dessen Handlungsradius der Souverän merklich eingegrenzt hat, führt der Schlussakt des Prinz Friedrich von Homburg eindringlich vor Augen. In Goethes Schauspiel indes fußt ein charismatisch affizierender Heroismus notwendig auf dessen performierter respektive imaginierter Tatkräftigkeit. Es fügt sich in das oben entwickelte Argument, demzufolge die überzeichnete Intrigantin Adelheid vor allem diejenige figurale Funktion erfüllt, die vermeintlich antagonistische Konstellation zwischen Götz und Adelbert aufzuweichen, wenn letzterer am Schluss des Dramas von einem finalen Duell mit Berlichingen nur schuldbewusst träumt und stattdessen durch den Giftanschlag seiner Frau stirbt. Goethe scheint es nicht darum zu gehen, die beiden Hauptfiguren
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im männlichen Zweikampf ihr heroisches Ende finden zu lassen und auch nicht darum, einem oder beiden die Schuld am Verlauf des politischen Konflikts anzulasten. Ganz im Gegenteil wird parallel zur Bekanntwerdung der weiblichen Intrige eine Wiederannäherung des todgeweihten Weislingens an Götz ins Bild gesetzt. Dies geschieht, als Berlichingens Schwester Marie Adelbert aufsucht, um für ihren zum Tode verurteilten Bruder zu bitten. Sie trifft auf einen bereits durch das Gift entkräfteten und offenbar unter diesem Einfluss zum Gnadenerweis bereiten Ex-Verlobten. Zwar werden Weislingens Aufhebung des Todesurteils und die Offenbarung des Attentats im Text nicht direkt kausal verbunden, aber beide Ereignisse derart eng aneinander gefügt, dass der Eindruck entstehen muss, Weislingen habe sich nur aufgrund der Manipulationen des Fräuleins gegen Berlichingen gewandt, sei durch die Intoxikation dafür bestraft worden und unternehme nun in einer Art letzten Volte den Versuch der Selbstentschuldung durch die Suspension des Todesurteils (vgl. GB, S. 382–383). Vergegenwärtigt man sich abermals die Konstellation in Miss Sara Sampson, so ist überdies zu sagen, dass dort ‚die weibliche Unschuld‘, Miss Sara, einem Giftanschlag der Intrigantin Marwood zum Opfer fällt. Hier und in anderen Texten impliziert das Motiv des Giftanschlags eine klare Schuld-Unschuld-Verteilung. Vor diesem intertextuellen Hintergrund lässt sich argumentieren, dass Goethes Schauspiel das Motiv im Sinne einer politischen Figuration funktionalisiert: Da es hier der abtrünnige ritterliche ‚Bruder‘ Weislingen ist, der durch die Intrigantin vergiftet wird, legt der Text nahe, dass es gewissermaßen noch eine ‚größere‘ Schuld gibt als Weislingens doppelten Treuebruch an Götz und Maria. Letztere begleitet denn auch Weislingen, man könnte meinen wie Sir Sampson den reuigen Selbstmörder Mellefont,733 vergebungsvoll bis zum Tod (vgl. GB, S. 384). Über die Figur Adelheids wird somit eine ‚Entschuldung‘ Weislingens ins Spiel gebracht, weil das Fräulein als diejenige präsentiert wird, die durch den Giftanschlag und auch durch die Verführung des Buben Franz über die Maßen Schuld auf sich geladen hat.734 Für diese rein funktionale Lesart der Figur spricht, dass Goethe Adelheid im letzten Akt des Dramas gänzlich von der Auftrittsliste streicht; ein abschließendes ‚Charakterbild‘ der entweder schuldig triumphierenden respektive mit ihrem schuldigen Scheitern konfrontierten Intrigantin
733 „[S]o laßt uns ihm [Mellefont] diese Gnade erbitten helfen! Er stirbt! Ach, er war unglücklicher als lasterhaft.“ (Lessing, MS, S. 526). 734 Wenn laut M. Willems (1995) die Schuldfrage in Weislingens Sterbeszene überdeutlich hervortritt, so sieht sie diese ausschließlich an der Figur Adelberts verhandelt (vgl. S. 257). Dabei wird übersehen, dass Adelheids Giftanschlag hier entdeckt wird und sich zudem der vom Fräulein verführte Franz kurzerhand das Leben nimmt. Dadurch verkompliziert sich das Schuldproblem.
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wird im Text somit nicht entwickelt.735 Durch ein solchermaßen abgebrochenes Charakterprofil des ‚Machtweibs‘ weist der Text denn auch indirekt die Frage ab, wer die Schuld am politischen Geschehen trägt. Nachdem Adelheid Weislingen an machtpolitischer Intriganz so unmissverständlich überboten hat, d. h. ihm die Schuld abnimmt und als die ‚eigentlich‘ Schuldige dasteht, wird der Aspekt personaler Schuld, der etwa in der antiken Tragödientheorie als hamartia, als tragische Verfehlung der Hauptfiguren, firmiert, als schrittweises und auf einen Höhepunkt zusteuerndes Verfahren des Figurenbaus und -verkehrs regelrecht aus dem dramatischen Darstellungsrepertoire gestrichen. So springt nämlich zunächst Adelheids Handlanger Franz, nachdem er Weislingen und Marie den Giftanschlag und seine Beteiligung daran gestanden hat, aus dem Schlossfenster. Nicht nur die ‚Mitschuld‘ stürzt im Zuge dieses Freitods jedoch „wütend in den Mayn hinunter“ (GB, S. 383). Auch die ‚Hauptschuld‘ wird in der Folgeszene vor den maskierten Richtern des „Heimlichen Gerichts“ (GB, S. 384) und vor einem anonym bleibenden Kläger in der Abgeschiedenheit eines unterirdischen „finstern engen Gewölb[s]“ (GB, S. 384), man darf sagen unterhalb der primären dramatischen Handlungsebene, verhandelt.736 Und mehr noch wird die Schuldfrage durch die Verurteilung der abwesenden Adelheid zum „doppelten Tod“ durch „Strang und Dolch“ (GB, S. 385) gelöst oder besser: mit ihrer Trägerin in Form eines performativen Richtspruchs „in [den] Staub“ (GB, S. 385) befördert.737 Das Charakterporträt einer ihrer Stafe zugeführten Intrigantin vereiteln bereits Goethes figurale Abstraktionsmaßnahmen: Vor dem heimlichen Gericht treffen keine ausgestalteten Figuren mehr aufeinander, die sich auseinandersetzen, steht doch das Urteil nach vorgetragener Klage ohne Beweisaufnahme binnen weniger Augenblicke fest (vgl. GB, S. 385). Die Figurennamen verlieren sich in den rein funktionalen Bezeichnungen der „Richter“, des „Älteste[n]“, des „Rufer[s]“, (GB, S. 384) des „Kläger[s] und des „Rächer[s]“ (GB, S. 385); Adelheid von Weislingen findet namentliche Erwähnung allein in der Rede des Klägers (vgl. GB, S. 385), ohne aber selbst noch einmal aufzutreten und sich gar zu rechtfertigen oder schuldig zu bekennen. Und noch ein letztes Detail fügt sich in dieses Bild, nämlich dass die Kommunikation zwischen der Intrigantin und ihrem
735 Vgl. anders Memmolos (1995) nur skizzenartige Analyse Adelheids, in der ihre dramenpoetische Funktion keine Berücksichtigung findet (S. 213–217). Das gleiche Problem stellt sich bei Hinderer (1992), vgl. S. 57. 736 Vgl. zur Intransparenz des Gerichtsverfahrens van Kempen (2000), S. 161. 737 So sinngemäß auch Alt (2004b) in seinem knappen Vergleich von Adelheid und Lady Macbeth: „Im Gegensatz zu Shakespeare hat Goethe seiner Heldin keine moralische Läuterung zugestanden; die Strafinstanz des schlechten Gewissens wird substituiert durch den Bannfluch des ältesten Richters […].“ (S. 16).
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Handlanger durch Franz’ Selbstmord gekappt ist, wie Weislingen eigens betont: „Weh! Weh! Gift von meinem Weibe. Mein Franz verführt durch die Abscheuliche. Wie sie wartet, horcht auf den Boten, der ihr die Nachricht brächte: er ist tot.“ (GB, S. 384) Der Botengang, durch den Adelheid die Nachricht vom Gelingen ihres Anschlages erhalten könnte und der einen weiteren Anlass zu ihrer Charaktersierung liefern würde, findet nicht statt.
1.17 Der ‚letzte‘ Held? In der Schlussphase des Dramas deutet sich noch ein zweiter Botengang an, der zwar nicht direkt scheitert, aber unausgeführt bleibt. Die Nachricht stammt vom sterbenden Weislingen und soll von Marie an Götz überbracht werden: „Dein Bruder ist außer Gefahr. Die andere Kommissaren […] sind seine Freunde. Ritterlich Gefängnis werden sie ihm auf sein Wort gleich gewähren. Leb wohl Marie und geh.“ (GB, S. 383) Auch wenn Marie zunächst an der Seite Weislingens bleiben möchte (GB, S. 383–384), tritt sie schließlich im Garten des Heilbronner Gefängnisses auf, der den Schauplatz der letzten Szene des Schauspiels bildet (vgl. GB, S. 387), und wird dort von Elisabeth als designierte Botin empfangen (vgl. GB, S. 387). Die Nachricht von der Aufhebung seines Todesurteils wird Götz jedoch nicht erreichen, weil er in einer so altersschwachen und sichtlich lebensmüden Verfassung ist, dass ihn seine Vertrauten vor jeglicher Nachricht, sei sie positiv oder negativ, fernzuhalten gedenken (vgl. GB, S. 387); „laßt Götzen nichts merken“ (GB, S. 387), lautet die entsprechende Bitte Elisabeths an Marie. Dass sich Götz in der Tat gänzlich geschwächt in einem Zustand lebensverneinender Depression befindet, demonstriert der Maries Auftritt vorangehende Dialog mit seiner Frau. Der Held hat sein Feuer verloren, wie Elisabeths besorgte Beschreibung zu verstehen gibt: „Ich bitte dich lieber Mann rede mit mir. Dein Stillschweigen ängstet mich. Du verglühst in dir selbst. […] In der mutlosen Finsternis erkenn ich dich nicht mehr.“ (GB, S. 386) Und auch Berlichingen selbst sieht sich am Ende seines heroischen Ritterlebens angekommen, dem er hinterhertrauert: „Suchtest du den Götz? Der ist lang hin. Sie haben mich nach und nach verstümmelt, meine Hand, meine Freiheit, Güter und guten Namen. Mein Kopf was ist an dem? – Was hört Ihr von Georgen? Ist Lerse nach Georgen?“ (GB, S. 386) Ex negativo erfolgt an dieser Stelle eine abschließende Selbstcharakteristik des Mannes mit der eisernen Hand, in der die hinlänglich im Text ausbuchstabierten Konstituenten seiner ritterlichen Heldenexistenz wieder auftauchen: die versehrte Hand, die Freiheit, Ritterburg und -ruf und nicht zuletzt die Sorge um seinen Getreuen Georg. Goethes politischer Held, sein „Ritter von der traurigen
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Gestalt“738 zeigt sich hier vollends niedergeschlagen und auch nach einer entsprechenden Aufforderung seiner Frau erklärtermaßen unfähig, sich ein letztes Mal heroisch aufzurichten (vgl. GB, S. 386). Goethe legt Götz von Berlichingen aber nicht nur die floskelhaft wirkende Klage um das nunmehr endende Ritterleben in den Mund, sondern eine bemerkenswerte und bisher nicht von ihm vernommene Einsicht in die Komplexität seiner, aber auch der über ihn hinausreichenden politischen Situation: „Wen Gott niederschlägt, der richtet sich selbst nicht auf. […] Und jetzt ist’s nicht Weislingen allein, nicht die Bauern allein, nicht der Tod des Kaisers und meine Wunden. – Es ist alles zusammen. Meine Stunde ist kommen.“ (GB, S. 386) Ein derartiges, fast schon analytisches Beobachtungsvermögen, das mehrere Faktoren bzw. die Dynamik verschiedener Interessen für den Ausgang der politischen Auseinandersetzung verantwortlich erklärt, beweist Götz hier zum ersten Mal im gesamten Stück. Das Schlussbild des Schauspiels liest sich als heroische Endspielszene, in deren Zentrum jedoch nicht der sterbende Berlichingen selbst steht. In Gestalt einer abermals komplexen Figuration verkündet der Text die Abschlussbotschaft, dass die Fortsetzung einer ritterlich-heroischen Berlichingischen Genealogie nicht zu erwarten steht.739 Damit hängt zusammen, dass die von Götz selbst und auch von seinen Getreuen kolporierte Aussage, mit ihm trete der ‚letzte‘ Held ab (vgl. GB, S. 388), in dieser Szene merklich in Zweifel gezogen wird. Die Rede der im Heilbronner Gefängnisgarten um den todgeweihten Berlichingen Versammelten kapriziert sich bemerkenswerterweise auf einen in der Tat schon toten Helden. Zwischen Elisabeth und Marie wird das Ende des Buben Georg zum Gegenstand einer heroischen Narration: ELISABETH […] Und Georg ist tot. MARIE Georg! Der goldne Junge! ELISABETH Als die Nichtswürdigen Miltenberg verbrannten, sandte ihn sein Herr ihnen Einhalt zu tun, da fiel ein Trupp Bündischer auf sie los. Georg! hätten sie alle gehalten wie er, sie hätten all das gute Gewissen haben müssen. Viel wurden erstochen, und Georg mit, er starb einen Reuterstod. MARIE Weiß es Götz? ELISABETH Wir verbergens vor ihm. Er fragt mich zehnmal des Tags, und schickt mich zehnmal des Tags zu forschen was Georg macht. Ich fürchte, seinem Herzen diesen letzten Stoß zu geben. (GB, S. 387)
Die sowohl durch Elisabeth als auch durch Marie erfolgende direkte Anrufung Georgs, das Lob seiner kriegerischen Fähigkeiten, Götz’ massive Sorge um seinen
738 Hinderer (1992), S. 61. 739 Darauf verweist am Rande auch Hinderer (1992), S. 45.
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heldenhaften Buben und schließlich die ehrfurchtsvolle Bewertung, dieser sei einen rühmlichen Rittertod gestorben – all dies steht im Dienste einer postumen Heroisierung des Buben, die Goethe schließlich noch seinen Protagonisten fortführen lässt. Götz, der angesichts seines nahenden Todes den Wunsch hegt, sich noch einmal am Anblick des jungen Helden zu ‚erwärmen‘, d. h. ein heroisches Feuer noch einmal zu verspüren („Ach daß ich Georgen noch einmal sähe, mich an seinem Blick wärmte!“), zeigt sich dabei insbesondere an der Todesart des Heldenaspiranten interessiert (vgl. GB, S. 388). Elisabeths Antwort und Berlichings Entgegnung erheben den Buben endgültig in den Heldenstand: GÖTZ […] Ach fingen sie ihn unter den Mordbrennern, und er ist hingerichtet? ELISABETH Nein er wurde bei Miltenberg erstochen. Er wehrte sich wie ein Löw um seine Freiheit. GÖTZ Gott sei Dank. Er war der beste Junge unter der Sonne und tapfer. (GB, S. 388)
Ein Held geht, so ist es dieser Passage zu entnehmen, mit löwengleicher Tapferkeit und Freiheitsliebe im Kampf zugrunde, statt mit gemeinen Mördern hingerichtet zu werden. Diese am Schluss des Textes platzierten Gespräche über den von allen als heroisches Ende goutierten Tod Georgs stehen in erheblichem Kontrast dazu, wie Götz’ Sterben geschildert wird. So nehmen die heroisierenden Reden über den Buben in der Todesszene Berlichingens einen erheblichen Raum ein. Sicherlich wird Georg im Verlauf des Textes vornehmlich als in Götz’ Schatten erstehender und letztlich in seinem Schatten verbleibender Jüngling mit noch ausbaufähigen heroischen Ambitionen präsentiert. Allerdings vermag Georg, folgt man der Gestaltung des Schlussbildes, sein Vorbild im Tod zu übertrumpfen, stirbt doch Götz von Berlichingen keineswegs ‚wie ein Löw‘ in Verteidigung seiner Freiheit auf dem Schlachtfeld, sondern endet umgeben von seinen Getreuen im Gefängnis. Seine „Freiheit! Freiheit!“ (GB, S. 388) existiert denn auch nur im letzten Wort und realisiert sich nicht in einer den ehrenhaften Heldentod verbürgenden, kämpferischen Volte. Götz’ Heroismus wird somit durch die Darstellung der Figur Georgs mindestens relativiert; der Wahlsohn erscheint, wenn man so will, als der ‚eigentliche‘ Held. Hinzu kommt, dass der leibliche Sohn Berlichingens ebenfalls zum Thema wird, und dies gerade hinsichtlich der ihm abgehenden Fähigkeit, in des Vaters heroische Fußstapfen treten zu können. Auf Elisabeths Frage, ob Götz den mittlerweile im Kloster weilenden Carl noch einmal sehen und segnen möchte, entgegnet der Vater: Laß ihn er ist heiliger als ich, er braucht meinen Segen nicht. – An unserm Hochzeittag Elisabeth ahndete mirs nicht, daß ich so sterben würde. – Mein alter Vater segnete uns, und eine Nachkommenschaft von edlen tapfern Söhnen, quoll aus seinem Gebet. – Du hast ihn nicht erhört, und ich bin der letzte. (GB, S. 388)
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Dass der sich für die Geschichte vom frommen Kind begeisternde Carl ‚heiliger‘ als Götz und auch als dessen Heldenzögling Georg ist, der ja im Bildnis seines Namensvetters wenig Heiliges, dafür aber viel Heroisch-Martialisches entdeckte, steht außer Frage. Allerdings tönt aus Berlichingens Charakterisierung des eigenen Sohnes als eines religiösen Ausnahmemenschen kaum die veritable Anerkennung eines Vaters, sondern eher die Enttäuschung darüber, dass Carl die familiäre Heldentradition nicht fortsetzen wird. Das vom alten Berlichingen mit dem Segenswunsch zur Hochzeit von Götz und Elisabeth verbundene Gebet für eine heldenhafte, männliche Nachkommenschaft habe sich in Carl nicht realisiert, woran – kaum indirekt – auch noch der Mutter Elisabeth die Schuld gegeben wird. Weil der Sohn aus der Art geschlagen sei, sehnt sich der Vater im Augenblick des Todes nach dem ‚feurigen‘ Georg und nicht nach dem ‚heiligen‘ Carl, hat letzterer doch die großväterliche Hoffnung auf den Fortbestand des Berlichingischen Heldengeschlechts durch die Klosterexistenz ein unerfülltes Bittwort bleiben lassen. Auch dass sich Berlichingen dergestalt als ‚Letzter‘ einer heroischen Genealogie inszeniert, verleiht der Szene ihren Endspielcharakter. Zwar könnte man vor diesem Hintergrund argumentieren, dass ‚nur‘ das selbst gewählte Heiligenleben Carls die Möglichkeit einer familiären Fortführung Berlichingischer Ritterlichkeit vereitelt. Allerdings lässt die Gestaltung der Schlussszene in mehr als einer Hinsicht Zweifel daran aufkommen, mit Götz selbst trete tatsächlich der ‚letzte‘ Held ab.740 Goethe irritiert ja bereits dadurch jenes Selbstbild Berlichingens, demnach er den fulminanten Schlusspunkt einer Reihe heroischer Existenzen verkörpere, dass er einen anderen als Götz, nämlich Georg, den allseits bewunderten Heldentod finden lässt. Mehr noch aber versehen die viel interpretierten letzten Zeilen des Schauspiels die ‚Substanz‘ sowie die postume Nachhaltigkeit von Götz’ Heroismus mit einem deutlichen Fragezeichen. So merkt die Gattin nach dem denkbar unspektakulär didaskalisch festgehaltenen Tod Berlichingens („Er stirbt.“ (GB, S. 388)) an, die von diesem im letzten Atemzug beschworene Freiheit sei nur „droben“ und nicht in der „Welt“, die ein „Gefängnis“ (GB, S. 388) sei, zu haben. ‚Die Freiheit‘ kann indessen als einer der zentralen heroischen Werte gelten, auf die Goethe seinen Protagonisten immer wieder rekurrieren lässt. Wenn nun Elisabeth die Verwirklichung der Freiheit
740 Ganz ähnlich deutet Lange (2002) den Schluss des Stücks: Götz’ „unified […] self, which is so eerily free of conflict and self-doubt, is simply too good to be true, and thus is marked as an ironic fiction.“ (S. 187) Wichtig erscheint Langes Nachsatz: „But there are those who take this fiction for reality.“ (S. 187) Ob das Ende des Schauspiels einen ironischen Impetus mit sich führt, ist meines Erachtens weniger zentral als die hier und auch bei Lange aufgeworfene Frage, ob nicht gerade die Schlussszene die Möglichkeit einer „celebration of Götz’s lager-than-life-character“ (S. 188) in Zweifel zieht.
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bestenfalls in himmlischen Gefilden für möglich hält, impliziert dies auch, dass ihr Mann als Verfechter der Freiheit auf Erden zu Lebzeiten gescheitert ist.741 Es geht am Schluss des Textes somit nicht um eine Transzendierung des ritterlichen Freiheitsethos,742 sondern um dessen Bankrotterklärung. Diese Botschaft ist auch dem Kommentar der Schwester Marie zu entnehmen, die dem Toten zwar mit der Repetitio „Edler Mann! Edler Mann!“ (GB, S. 389) Tribut zollt, aber eben auch darüber klagt, dass Götz’ Heldentum schon während seines Lebens kaum unbezweifelt geblieben sei: „Wehe dem Jahrhundert das dich von sich stieß.“ (GB, S. 389) Der Getreue Lerse wiederholt die zwischen Klage und an die Allgemeinheit gerichteter Drohung changierende Interjektion in der das Stück beschließenden Zeile: „Wehe der Nachkommenschaft die dich verkennt.“ (GB, S. 389) Hier manifestiert sich in aller Deutlichkeit eine Sorge um die in der Zukunft eintretende Rezeption Berlichingens, ja mehr noch die Befürchtung, eine postume Heldenverehrung könne ausbleiben. In jedem Fall ist nach einem solchen Schlusswort alles andere als gesichert, ob Götz von Berlichingen, dessen eigene Nachkommenschaft sein heroisches Erbe schon nicht fortzusetzen vermag, in der historischen Retrospektive, bei den Nachgeborenen also, als anerkannter Held firmieren wird. Goethes Stück schließt daher mit einer erkennbar getrübten Aussicht auf die politische Wirksamkeit und historische Nachhaltigkeit politischen Heldentums; Götz’ Betrübnis darüber, dass nach ihm kein Held mehr kommen werde, überführt das Schauspiel in die ‚letzte‘ Frage, ob in Götz von Berlichingen bzw. in Götz von Berlichingen überhaupt ein politisch ernst zu nehmender Held gesehen werden kann.
2 Der dramatische ‚Finger des Ohngefährs‘. Die Verschwörung gegen den Helden Fiesko 2.1 Zufall und Politik. Die Vorrede zum Fiesko Schillers Vorrede zum Fiesko offeriert einen Blick in die Konzeptionsarbeit des Dramatikers, der sich mit den – allesamt ordnungsgemäß ausgewiesenen
741 Schmied (2002/2003) stellt mit Blick auf Götz’ Ende, aber auch für „die meisten Sturm-undDrang-Heroen“ fest, dass sie, „sofern sie denn überhaupt zu handeln vermögen, eine Korrektur der für sie unbefriedigenden Wirklichkeit nicht oder nur für kurze Zeit zustande bringen“ (S. 145) und letztlich scheiternd sterben. 742 So Hinderer (1992), S. 43. Auch van Ingen (1986) meint, „daß Goethe die Aporie der Freiheit thematisierte und seinen Helden nicht ohne eine Hoffnung auf bessere Zeiten untergehen ließ“ (S. 20).
2 Der dramatische ‚Finger des Ohngefährs‘
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(vgl. VF, S. 317) – historiographischen Stoffquellen abmüht. Zwei Hauptprobleme werden genannt, die dem Dichter das im Fiesko anvisierte Projekt eines ‚republikanischen Trauerspiels‘ erschweren. Erstens stirbt der Verschwörer den Überlieferungen des Stoffes zufolge „durch einen unglücklichen Zufall“ (VF, S. 317); er stürzt auf dem Höhepunkt des politischen Geschehens versehentlich ins genuesische Hafenbecken. Schiller schreibt gegen jenen zufälligen Tod seines Titelhelden an, wenn er ihn, zumindest in der Erstausgabe von 1783,743 von einem zwar der Idee der republikanischen Verschwörung, aber mitnichten Fiesko Anhängenden ins Meer stürzen lässt. Was also in der Geschichtsschreibung zufällig geschieht, wird im Drama zum politisch motivierten Mord. Zentral ist dabei, dass Schiller seine Modifikation des Stoffes, die Tilgung des Zufalls aus dem plot, mit einem Gattungsargument begründet: Es wird nachdrücklich eine Unvereinbarkeit von Zufall und dramatischer Gattung herausgestellt, wenn es heißt, dass „die Natur des Dramas […] den Finger des Ohngefährs“ (VF, S. 317) nicht duldet. Dass der Fiesko-Stoff bis dato noch keine tragische Bearbeitung erfahren habe, liege genau im Störpotential einer solchermaßen „undramatischen Wendung“ (VF, S. 317) begründet. Nur auf den ersten Blick aber verhandelt die Vorrede die Kategorie des Zufalls in dezidierter Spannung zur dramatischen Gattung. Wenn auch als Kulminationspunkt der Handlung ungeeignet, so habe der Zufall in wirkungsästhetischer Hinsicht einige Berechtigung: Dies manifestiert sich in der unmittelbar folgenden Unterscheidung, die den Zufall mit den Prinzipien von Zusammenhang und Notwendigkeit kontrastiert: Höhere Geister sehen die zarten Spinneweben einer Tat durch die ganze Dehnung des Weltsystems laufen, und vielleicht an die entlegensten Grenzen der Zukunft und Vergangenheit anhängen – wo der Mensch nichts, als das in freien Lüften schwebende Faktum sieht. Aber der Künstler wählt für das kurze Gesicht der Menschheit, die er belehren will, nicht für die scharfsichtige Allmacht, von der er lernt. (VF, S. 317)
Im Vergleich zur Fähigkeit einer allumfassenden Überschau, die ein Erkennen von Notwendigkeit im Weltganzen ermöglicht und die Schiller in Form einer Theodizee-Anspielung für ‚höhere Geister‘ reserviert, greife das ‚gemeinmenschliche‘ Vorstellungsvermögen zu kurz. Genau diejenigen aber, die „nichts, als das in freien Lüften schwebende Faktum“ (VF, S. 317) sehen, diese Zufallsaffinen, sind das Publikum des dramatischen Dichters. Bei der Konzeption eines Dramas
743 Die im April 1783 bei dem Mannheimer Verleger Christian Friedrich Schwan publizierte Ausgabe wird im Folgenden zugrunde gelegt. Vgl. zu den verschiedenen Fassungen Koopmann (22011), S. 379–380; Roßbach (2005), S. 53–54.
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sei eben dort, bei der genuin menschlichen Kurzsichtigkeit anzusetzen, die im Gegensatz zur Perspektive jener „scharfsichtige[n] Allmacht“ (VF, S. 317) ein Sensorium für den Zufall impliziere. In handlungskompositorischer, nicht in wirkungsästhetischer Intention verwirft Schiller den Zufall. Diese nicht eben problemlose Liaison von Zufall und Drama verkompliziert sich im Fortgang noch weiter, wenn Schiller abermals in Form einer dramenästhetischen Metareflexion auf die Bühnentauglichkeit seines Protagonisten und damit auf die bereits von mir im Kapitel I.1 diskutierte Differenz von ‚Herz‘ und ‚Kabinett‘ zu sprechen kommt. Es gerät nämlich, und das ist Schillers zweites Problem mit dem Stoff, das politische Thema auf den Prüfstand. Im Zentrum des Dramas stehe mit Fiesko ein „politische[r] Held“744 (VF, S. 317), was aus Schillers Sicht ein kardinales Problem für das dramatische Wirkungsprofil generiert: „Wenn es wahr ist, daß nur Empfindung Empfindung weckt, so müßte, deucht mich, der politische Held in eben dem Grade kein Subjekt für die Bühne sein, in welchem er den Menschen hintenansetzen muß, um der politische Held zu sein.“745 (VF, S. 317) Nur Figuren, die empfinden, können auch Empfindungen bei den Rezipient*innen auslösen, so Schiller im Geiste Lessing’scher Mitleids-Ästhetik. Wenn nun aber einzig ein die Gefühle anregender und Mitgefühl erregender Gegenstand das Wirkungsziel des Dramas erfüllt, wird die gewählte Figur zum Problem, da die politische Heldenrolle offenbar nur um den Preis des Verzichts auf menschliche Empfindungsfähigkeit zu spielen ist. Indem Schiller den empfindenden ‚Menschen‘ mit dem politischen Helden kontrastiert, weist er zugleich den in den Quellen vorgefundenen Fiesko-Stoff als ungeeignet für eine Dramatisierung aus, weil man es mit einer „kalte[n], unfruchtbare[n] Staatsaktion“ (VF, S. 318) zu tun habe. Dies wirft die Frage auf, wie die Geschichte eines solchen empfindungslosen und daher publikumsfernen politischen Helden doch noch zum dramatischen Sujet avancieren kann. Schillers Antwort führt zurück zum Menschen, mithin zu den zufallssensiblen Schaubühnengänger*innen. Der Dichter müsse „die kalte, unfruchtbare Staatsaktion aus dem menschlichen Herzen heraus[ ]spinnen, und eben dadurch an das menschliche Herz wieder an[ ]knüpfen“ (VF, S. 318). Aufgabe des Dramatikers ist es, so kann man Schillers Reflexion resümieren, den der Sphäre gefühlsarmer Machtpolitik entstammenden Helden an ‚das Menschliche‘ anzunähern, das hier als Chiffre für das empfindende Publikum entworfen wird. Das bedeutet jedoch nach dem bisher Gesagten auch, dass der Zufall zumindest wirkungsästhetisch mit ins Kalkül zu ziehen ist, zeichnet doch
744 Hervorhebung im Original. 745 Hervorhebung im Original.
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den in der Vorrede vielbeschworenen ‚Menschen‘, wie bereits dargelegt, ganz wesentlich ein Sinn für das Zufällige aus. Schillers Bemerkungen in der Vorrede zum Fiesko werfen sicherlich die Frage auf, was im Hinblick auf ein maßgeblich durch seine Empfindungsfähigkeit bestimmtes und durch eine ‚beschränkte‘, d. h. zufallsbewusste Weltsicht gekennzeichnetes Publikum bühnentauglich sein kann. Allerdings möchte ich argumentieren, dass die Vorrede in ihrem Dreischritt Zufall – Politik – Gefühl eine wirkungsästhetische Konfiguration aufwirft, die im Dramentext selbst ungleich komplexer gestaltet, ja regelrecht dynamisiert wird. Im Trauerspiel spielt weder der Zufall nur als Konzession an ein ‚kurzsichtiges‘ Publikum eine Rolle, noch ist das Stück als Versuch lesbar, einem mit offenem Herzen gen Bühne blickenden Publikum einen von emotionsloser Machtpolitik bestimmten Heldenstoff an ebendieses Herz zu legen. Meine These lautet, dass ‚Zufall‘ und ‚Gefühl‘ die inhaltlichen Kernaspekte in Schillers Heldendrama bilden, über die sich das analytische Profil des Textes erschließt. Die wirkungsästhetische Problematisierung von ‚zufälligen Wendungen‘ und politischer Thematik in der Vorrede beschreibt daher nicht Schillers im Fiesko zur Geltung gebrachte dramatische Analytik des Politischen, spielt aber subktuan deren wesentliche Punkte an. Schiller gestaltet einen signifikanten Gegenentwurf zu einer gefühlsreduzierten, rein kalkülförmig funktionierenden politischen Sphäre, wobei sein Dramenarrangement nicht in dem wirkungsästhetischen Vorsatz der Vorrede aufgeht, den Zuschauer*innen und Leser*innen den Bereich ‚kühler‘ Machtpolitik gefühlsmäßig näher zu bringen. Stattdessen richtet sich das analytische Dramenprofil geradewegs an die Köpfe der Rezipient*innen, da es jene ‚Staatsaktion‘ nicht auf einer Gefühlsebene zugänglich macht, sondern diese als zutiefst affektives, irrationales und nicht zuletzt auch zufälliges Spiel um die Macht reflektiert. Schiller knüpft somit nicht bloß eine von sich aus ‚kalte Staatsaktion‘ ans menschliche Herz wieder an, sondern zeigt, dass ‚Herz‘ und ‚Kabinett‘ miteinander verwoben sind. Gleichwohl versuchen die verschiedenen dramatischen Akteure, ihre jeweilige Agenda in durchaus strategischer Manier durchzusetzen, indem sie mit politischen Affekten kalkulieren. In solchen strategischen Manövern geht es im Kern darum, den Zufall aus dem politischen Spiel zu verbannen. Und so besteht ein wesentlicher Zug des Textes darin, Affekt, Gefühl und Zufall sowohl auf der Ebene der Machtinstitution als auch der Machtexekution als entscheidende Faktoren auszuweisen. Aus genau diesem Grund lässt das Drama den politischen Strategen grandios scheitern.746
746 Kleinschmidts (2001) These, Schiller vermische in einer „Schwellensituation ‚politischer Dramatik‘“ (S. 105) in inkohärenter Weise „Politik- und Gefühlsdiskurs“ (S. 104) greift somit zu
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Mehr noch: Der Zufall wird als dramaturgisches Bauprinzip gezielt – d. h. entgegen der in der Vorrede artikulierten Aversion – eingesetzt, um die heroische Agenda des Titelhelden zu destruieren. Schiller betreibt, so lässt sich zuspitzen, mit dem dramatischen ‚Finger des Ohngefährs‘ eine Verschwörung gegen seinen Helden. Dass der Finger erhoben wird, hat damit zu tun, dass Fiesko ein ge- und schließlich auch übersteigertes heroisches Selbstbewusstsein an den Tag legt und damit eigentlich kein Held im in dieser Arbeit entwickelten Verständnis ist. Fiesko entpuppt sich im Laufe des Stücks immer mehr als der Stratege, den Schiller später in der Figur des Wallenstein und Kleist in der Figur des Herrmann noch filigraner zeichnen. Von den hier ins Zentrum gerückten Held*innen unterscheidet sich Fiesko aber gerade darin, eine planvolle Affektpolitik zu betreiben. Figuren wie Tell, Götz, Käthchen oder auch Prinz Friedrich geraten mehr oder weniger ungewollt und letztlich auch zufällig als heroisierte Figuren ins Zentrum der Gemeinschaft. Fiesko wird demgegenüber als Figur porträtiert, die jene von Schiller als unberechenbares Zufallswerk attribuierten kollektiven Gefühlsdynamiken für seine heroischen Ermächtigungsvisionen zu instrumentalisieren antritt. Der Text lässt ihn, so möchte ich zeigen, aufgrund dessen als Helden scheitern. Die nachstehenden Ausführungen werden somit Zweifel an der in der Vorrede formulierten Skepsis gegen das Zusammenspiel von Zufall und Drama anmelden. Stattdessen wird argumentiert, dass der Zufall als zentrale dramaturgische Instanz in einer textuellen Analytik fungiert, die den Protagonisten überaus kritisch als eine sich ihres Heldenstatus allzu bewusste Figur porträtiert.747 Der Zufall erweist sich, auch in Verbindung mit seinem Gegenbegriff der Notwendigkeit, als maßgebliche Bezugsgröße für das – im Gegensatz zur Vorrede – im Text dynamisch forcierte analytische Wirkungsprofil. Letzteres gewinnt Form mittels einer zweifachen dramenpoetischen Metareflexion: Erstens lässt sich
kurz. Das Fiesko-Drama führt, so die hier verfolgte Lesart, die genuine Verwobenheit von Emotionalität bzw. Affektivität und Politik auf verschiedenen Ebenen vor. 747 Für Guthke (2011) ist Fiesko keine „Zufallstragödie[ ]“ (S. 434) in vollem Sinne (vgl. S. 405– 406, 412–414). Als solche klassifiziert er die Wallenstein-Trilogie, Don Karlos und Demetrius. Eine Zufallstragödie liege nur dann vor, wenn „[d]er eine, führende Zufall […] die Kausalität der Handlungsführung in dem Sinne [durchbricht], daß er unvermittelt, unvorbereitet, unerwartet eintritt und seinerseits eine Kausalkette von Schritten und Gegenschritten, Aktionen und Reaktionen in Gang setzt.“ (S. 433) Im Folgenden wird im Gegensatz dazu argumentiert, dass der Zufall für das Fiesko-Drama keine untergeordnete dramaturgische Relevanz als, wie Guthke meint, „blindes Motiv“ (S. 413) hat, sondern wesentlicher Bestandteil von Schillers analytischem Heldendrama ist. Vgl. auch die Lektüre von Wischnewsky (2002), der das Drama ebenfalls im Ausgang von der Vorrede, allerdings über den meines Erachtens weniger aufschlussreichen Begriff der ‚Vorsehung‘ analysiert.
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eine Umschrift bestimmter Motiv- und Verfahrenselemente beobachten, die im Diskurs um die griechische Tragödie firmieren; in Rede stehen der Götterfluch sowie die Anagnorisis. Zweitens markiert Schiller die Differenzen zwischen seinem ‚republikanischen Trauerspiel‘ und dem Modell des bürgerlichen Trauerspiels. Darüber hinaus möchte ich zeigen, dass im Fiesko die Funktionslogik politischer Emotionalität anhand der Kategorie des Zufalls spezifiziert wird: Indem die für das Verschwörungsgeschehen entscheidenden politischen Prozesse, d. h. insbesondere der Zuspruch des Volks und die Konstitution der konspirativen Gemeinschaft, als zufällige Affektdynamiken präsentiert werden, tritt zugleich deren genuine Unberechenbarkeit in gesteigerter Weise hervor. Die Versuche verschiedener dramatischer Figuren, mit derartigen Kollektivgefühlen zu kalkulieren, bleiben dementsprechend erfolglos. Schiller verbindet dergestalt die in der Vorrede angespielten Kategorien von ‚Zufall‘ und ‚Gefühl‘ in seinem analytischen Heldendrama. In doppelter Hinsicht wird hierbei der Terminus des ‚Spiels‘ wichtig: Das Drama setzt ein Spiel um die Macht, oder, mit Foucault gesprochen, ein ‚politisches Spiel‘748 in Szene, das zwischen den Polen von Notwendigkeit und Zufall oszilliert. Dieses politische Spiel ist ganz wesentlich als affektmobilisierende Bildpolitik gestaltet, ja wird als ein in hohem Maße auf ästhetische Verfahren zurückgreifender Wettstreit des Erzählens bzw. des Inszenierens modelliert. Die im Text geschilderten Ermächtigungsprozesse werden als Ringen um die beste Geschichte respektive um das beste Schauspiel dargestellt, wobei die konkurrierenden Akteure jeweils versuchen, politische Notwendigkeiten zu generieren. Die Arbeit der Verschwörer und v. a. des Helden gegen den Zufall werden aber in letzter Instanz durch Schillers analytische Dramenpoetik durchkreuzt: Der dramatische ‚Finger des Ohngefährs‘ hinterlässt an politisch wie auch dramaturgisch entscheidender Stelle seine unverkennbare Handschrift im Text.
748 Die Formulierung ist Michel Foucaults (1989) Die Sorge um sich entlehnt. Foucault analysiert im mit der Überschrift „Das politische Spiel“ versehenen Kapitel 2 den Niedergang der Stadtstaaten im Hellenismus und entwirft dabei ein im Kern relationales und dynamisches Modell politischer Macht, das als theoretischer Referenzpunkt dieses Kapitels gelten kann, ohne dass dabei in Foucaults historische Analyse eingestiegen werden muss. Das ‚politische Spiel‘ fungiert im Folgenden als Beschreibungsformel für das im Fiesko beobachtbare, dramatische „Spiel der Gleichgewichte und Transaktionen“ (S. 121) um die politische Macht, das mit Foucault als „ein Feld komplexer Beziehungen“ (S. 120) zu bestimmen ist. Fokussiert werden die politischen Schachzüge auf dem dramatischen Spielfeld, indem den bei Schiller gestalteten Verästelungen, den Irrwegen sowie den (temporären) Erfolgspfaden im „dichten Netz der Macht“ (S. 125) nachgegangen wird. Dass in ein solches Modell des ‚politischen Spiels‘ im Übrigen auch das Prinzip des Zufalls mit einkalkuliert werden muss, deutet sich bei Foucault immerhin an zwei Stellen an (vgl. S. 125, 127).
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2.2 Kein Herz. Fiesko als ‚kalter‘ politischer Held Vor dem Hintergrund der in der Vorrede platzierten Problematisierung der Figur des politischen Helden scheint es, als wolle Schiller schon zu Anfang seines Dramas klar machen, dass hier von einem solchen gehandelt wird – und zwar von einem, der zu diesem Zeitpunkt in der Tat als ‚Mensch‘ und nicht als eiskalter Stratege in Erscheinung tritt. Dazu passt, dass der Text mit keiner in erster Linie politischen Szene, mit einem Blick ins ‚Kabinett‘ also, eröffnet wird, sondern mit einer Nahperspektive auf Fieskos Ehefrau Gräfin Leonore von Lavagna. Diese betritt die Bühne in einer wahrlich ans ‚Herz‘ gehenden Stimmung, nämlich in der Rolle der geprellten Gattin. Ihren Kammermädchen berichtet sie in tiefer Verzweiflung von den amourösen Fehltritten ihres Angetrauten. Dieser habe der Schwester des genuesischen Thronfolgers auf dem gerade im Schloss stattfindenden Festball unverhohlene Avancen gemacht (vgl. VF, S. 321). Während der Graf hier zunächst als Privatmann, genauer als abtrünniger Ehemann und Frauenheld eingeführt wird, schlägt der Text rasch die Brücke zu dessen politischem Figurenprofil. So wechselt Leonore noch in der Anfangsszene das Beschreibungsregister: In blumiger Nostalgie schwelgend heißt es von Fiesko, jenem „blühende[n] Apoll“ (VF, S. 322): „Stolz und herrlich trat er daher, nicht anders, als wenn das Durchlauchtige Genua auf seinen jungen Schultern sich wiegte; […] Wie verschlangen wir seine Blicke!“ (VF, S. 322) Leonore stilisiert Fiesko auch im Folgenden unumwunden als politischen Helden, wenn sie ihn etwa als „Genuas größten Mann“ oder als „Halbgott der Genueser“ (VF, S. 323) bezeichnet. Überdies berichtet sie von ihrer politischen Vision, die sie, mit Fiesko vor dem Traualtar stehend, überkommen habe: „[D]ieser Dein Fiesko – […] wird – uns Genua von seinen Tyrannen erlösen!“ (VF, S. 323) Gemeint sind damit der amtierende Herzog Andreas Doria und ganz besonders dessen machthungriger Neffe, Gianettino Doria. Die direkt nachfolgende Szene gibt zu erkennen, dass auch das gegnerische politische Lager um Fieskos Heldenruhm weiß bzw. dass Fiesko als politischer Charismatiker so bekannt wie gefürchtet ist. Schon an dieser Stelle, im zweiten Auftritt des ersten Aufzuges, erteilt der besagte Kronprinz Gianettino Doria seinem Diener den Auftrag, Fiesko zu ermorden, und begründet dies explizit mit der politischen Anziehungskraft, die der Graf auf das Volk ausübe: „Dieser Mensch ist ein Magnet. Alle unruhigen Köpfe fliegen gegen seine Pole.“ (VF, S. 324) Unverkennbar ist hier das Bestreben, einen aus dem Weg räumen zu wollen, von dessen Heldenstatus sich die royale Führungsriege bedroht fühlt. Obwohl Fiesko aus diesen zwei konträren Perspektiven dezidiert als politischer Held porträtiert wird, zeigt er sich im ersten Akt nicht in das politische Geschehen involviert. Während zwei Adelige bereits einen Anschlag gegen den Doria-Clan planen, ist Fiesko damit befasst, Julia, die Schwester Gianettinos,
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zu betören (vgl. I,4), und die Gäste des gerade in seinem Hause stattfindenden Balls bei Laune zu halten (vgl. I,6–7); er wird als Kavalier, launiger Gastgeber und Lebemann inszeniert. Auch als einige der Verschwörer, konsterniert über seine scheinbare politische Gleichgültigkeit, versuchen, ihn von der Dringlichkeit zu überzeugen, gegen die anwachsende Tyrannenmacht aufzubegehren, reagiert der Graf gänzlich unbeteiligt: „[W]as kümmerts uns? Wir trinken Zyprier und küssen schöne Mädchen. […] Staatsgeschäfte werden uns keine grauen Haare mehr machen.“ (VF, S. 332–333) Fieskos vermeintliche Machtvergessenheit bildet allerdings keinen Kontrast zu dem ihm zugeschriebenen Heroismus, der dadurch gewissermaßen eine ‚menschliche‘ Dimension erhielte. Vielmehr gewinnt das Figurenprofil des Grafen im Folgenden an Komplexität, denn es wird rasch klar, dass Fiesko nicht nur sehr wohl um den Staat besorgt ist, sondern mehr noch bereits zu diesem Zeitpunkt, versteckt hinter einer „Maskerade als Epikuräer“749, seinerseits eine politische Agenda verfolgt. Dass Fieskos gesellschaftliche Umtriebigkeit als Ablenkungsstrategie zu verstehen ist, erklärt er in II,4 höchstpersönlich, wenn er gegenüber seinem Handlanger angibt, sich die „Schellenkappe“ (VF, S. 354) des Unpolitischen bloß aufgesetzt zu haben, um die Machthaber von seinen längst existierenden Umsturzplänen abzulenken. Noch deutlicher wird dies, als der Graf in I,9 den von Gianettino lancierten Mordanschlag abwehrt und nunmehr in gänzlich strategischer Pose in das politische Spiel eintritt. Kurzerhand verzichtet er auf eine Bestrafung des gescheiterten Attentäters, den Mohren, und nimmt diesen sogar in seine Dienste, wobei er in seiner Begründung deutlich macht, sich am Beginn einer Heldenmission zu sehen: „Dein Ungeschick ist mir ein Unterpfand des Himmels, daß ich zu etwas Großem aufgehoben bin, und darum bin ich gnädig, und du gehst frei aus.“ (VF, S. 337) Fiesko bringt sein politisches Unterfangen denn auch im wahrsten Sinne des Wortes berechnend ins Rollen, indem er den Mohren in die Stadt schickt, um etwas über die politische Stimmung zu erfahren – im Notfall auch mithilfe von Alkohol und Geld: Geh also gleich Morgen durch Genua, und suche die Witterung des Staats. Lege dich wohl auf Kundschaft, wie man von der Regierung denkt und vom Haus Doria flistert, sondiere daneben, was meine Mitbürger von meinem Schlaraffenleben und meinem Liebesroman halten. Überschwemme Ihr Gehirne mit Wein, bis ihre Herzensmeinungen überlaufen. Hier hast du Geld. Spende davon unter den Seidenhändlern aus –. (VF, S. 339)
749 Janz (1992b), S. 71. Während Janz argumentiert, Fiesko verfolge einen „durchrationalisierten“ (S. 71) Verschwörungsplan, in dessen Dienst die Selbstinszenierung als Machtvergessener stehe, möchte ich im Folgenden darlegen, dass Schiller seinen Titelhelden von Beginn des Stückes an als einen bestenfalls dilettantischen „Techniker der Macht“ (S. 92) vorführt.
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Eine solche Figurengestaltung steht in offensichtlichem Widerspruch zu Schillers in der Vorrede kolportiertem Vorsatz, die Geschichte eines politischen Helden dramatisieren zu wollen, der gerade kein ‚kalter‘, berechnender politischer Machtmensch ist, sondern mit dem ‚an das menschliche Herz anzuknüpfen‘ möglich sei. Sogar die amouröse Verwicklung, d. h. der Flirt mit der Schwester des genuesischen Thronfolgers, die einen Ansatzpunkt für eine Annäherung an ‚das Menschliche‘ darstellen könnte, wird von Fiesko selbst schon hier als „Liebesroman“ (VF, S. 339) – und im weiteren Verlauf des Stücks immer deutlicher – als Posse zu erkennen gegeben. ‚Herz‘ zeigt Fiesko gerade nicht, sondern das Bestreben, Heldenruhm zu erlangen, und dies, indem er die „Herzensmeinungen“ (VF, S. 339) des Volks, d. h. die kursierenden politischen Gefühle ins Kalkül zieht.
2.3 Trauer muss Bertha tragen. Für Genua. Verrinas republikanische Bildpolitik Neben Fiesko und Gianettino ist auch ein Zirkel von Verschwörern, dem sich Fiesko trotz Aufforderung im ersten Aufzug noch nicht anschließt (vgl. I,7), bereits rege auf dem politischen Spielfeld aktiv. Die Szene, in der sich die Verschwörung konstituiert, ist insofern wichtig für das Heldendrama, als sie eine mit Fieskos heroischer Agenda konfligierende Strategie darstellt, die aber in ähnlicher Weise, wie es der Graf am Ende von I,9 ankündigt, eine Affektpolitik zur Geltung bringt. Wie genau dies mit Fieskos Heldenmission zusammenhängt, wird noch zu diskutieren sein. Ebendieser Verschwörungsversuch jedenfalls erreicht im zehnten Auftritt des ersten Aufzuges, der direkt an das Gespräch zwischen Fiesko und dem Mohren anschließt, einen vorläufigen Höhepunkt – ganz ohne eine Beteiligung des Grafen wohlgemerkt. Als Hauptakteur der Verschwörung gegen den Doria-Clan tritt Verrina auf, ein, so das Figurenregister, „Mann von 60 Jahren. Schwer, ernst und düster. Tiefe Züge“ (VF, S. 319). Wer nun in Schillers Fiesko ein Verschwörer ist, der hat in aller Regel eine Geschichte zu erzählen bzw. eine Inszenierung zu vollführen. Verrinas politischer Kunstgriff ist so ernst und düster wie sein Antlitz und kreist wesentlich um die Tochter Bertha, die das Figurenverzeichnis mit der schlichten Bezeichnung des „[u]nschuldige[n] Mädchen[s]“ (VF, S. 320) versieht. Diese suggestive Charakterisierung, die bereits von der potentiellen Zerstörung der mädchenhaften Unschuld kündet, gewinnt im fünften Auftritt an Kontur, wenn Kronprinz Gianettino seinem Vertrauten unmissverständlich zu verstehen gibt: „Das Mädchen ist hübsch, und trutz allen Teufeln! muß ich sie brauchen.“ (VF, S. 329) Der Prinz und das Mädchen, die sich, hier spielt Schillers ‚republikanisches Trauerspiel‘ unverkennbar auf Lessings bürgerliches, konkret
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auf Emilia Galotti, an,750 erstmals in einer Kirche begegnet sind (vgl. VF, S. 329),751 treffen erneut aufeinander. Diese Episode, deren direkte Schilderung das Drama ausspart, gelangt in einem denkbar emotionsgeladenen Zwiegespräch zwischen Vater und Tochter zur Darstellung.752 Konnte Emilia Galotti ihrem Vater noch als unversehrte Jungfrau eingestehen, dass Verführung die wahre Gewalt sei,753 so ist Bertha, wie sie stotternd preisgibt, von einem Unbekannten in der Nacht des feierlichen Balls bei Fiesko tatsächlich sexuelle Gewalt angetan worden (vgl. VF, S. 340–341). Wenngleich sich der Täter hinter einer Maske verborgen hat, ist Verrina nach Berthas Beschreibung rasch klar, dass der Kronprinz höchstpersönlich seine Tochter überfallen hat. Wiederum in enger Verflechtung mit Lessings Trauerspiel zeigt Schiller einen Vater, der im Rekurs auf die von Livius überlieferte Verginia-Geschichte mit dem Gedanken spielt, die vom Tyrannen entehrte Tochter eigenhändig umzubringen (vgl. VF, S. 342).754 Anders aber als Odoardo Galotti lässt Verrina das Schwert gegen die Tochter sinken, knüpft aber im Folgenden ihr Schicksal mit nachgerade zwingender Notwendigkeit an das politische Schicksal Genuas. Schiller ruft in diesem intertextuellen Spiel nicht nur den Livianischen Bezugstext, sondern auch das diesen entpolitisierende Modell des bürgerlichen Trauerspiels auf,755 um seine politische Analytik zur Geltung zu bringen.756 Wenngleich die Lessing-Umschrift zentral für die politische Reflexion ist, gewinnt letztere ihren vollen Sinn in Kombination mit dem aus der antiken Literatur tradierten und bei Schiller transformierten Handlungsmodell des Fluches. Eine solche Arbeit an der Gattung des ‚republikanischen Trauerspiels‘ bringt überdies eine dramenpoetische Metaebene mit ins Spiel. In Schillers ‚republikanischem Trauerspiel‘ steht offensichtlich nicht die Sorge des Hausvaters um die jungfräuliche Ehre der Tochter im Zentrum. Und
750 Vgl. Lüdemann (2007g), S. 303–305. 751 Vgl. die Referenzszene II,6 bei Lessing, EG, S. 314–318. 752 Vgl. die eine Vielzahl an Affekten benennenden Didaskalien VF, S. 340–341. 753 Vgl. Lessing, EG, S. 369. 754 Vgl. Liv., 3, 44–48; Lessing, EG, S. 370. 755 Bei Livius ist Verginias Tötung der Ausgangspunkt für die Auflehnung gegen die Dezemvirn und weiter für die Restitution der römischen Republik 449 v. Chr. (vgl. Liv. 3, 49). Schiller mobilisiert mit dem Verginia-Narrativ, so Lüdemann (2007g), „eine der ältesten Gründungslegenden der römischen Republik“ (S. 303). Der bereits in der Emilia Galotti adaptierte, aber dort erklärtermaßen entpolitisierte Stoff, werde im Fiesko-Drama „gegen das Modell des bürgerlichen Trauerspiels“ (S. 304) gewendet. Vgl. auch Lüdemann (2013), S. 594–595. 756 Vgl. in anderer Akzentuierung Lüdemann (2007g), die argumentiert, dass Schiller, „auf der Suche nach einem ‚Drehbuch‘ für die Revolution“ (S. 302), mit dem Lessing-Rekurs dem aristokratischen Modell republikanischer Brüderlichkeit einen rivalisierenden, „bürgerlichen Plot“ (S. 304) zur Seite stellt.
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so verhandelt das Drama den Übergriff des Tyrannen auf das Mädchen als kaum mehr privates Schicksal, sondern als durch und durch politische causa. Diese Repolitisierung des Livius-Stoffes führt zu einer Inversion desjenigen Handlungsgefüges, durch das sich Lessings Referenztext gerade auszeichnet. Während bei Lessing – und bei Livius – von keiner ausgeführten Vergewaltigung die Rede sein kann und Emilias tödliches Schicksal durch den nur drohenden Ehrverlust besiegelt wird, wird Bertha vergewaltigt, stirbt aber nicht durch die Hand ihres Vaters.757 Allerdings schlägt Verrina aus Berthas Schändung umgehend politisches Kapital,758 wenn er die sexuelle Gewalttat einzig im Tyrannenmord gesühnt sieht. „Mit dieser Instrumentalisierung des Frauenopfers zu Staatszwecken“759 entsteht gewissermaßen auf den Schultern des bürgerlichen ein republikanisches Trauerspiel „nach römischem Vorbild“760. Im Folgenden soll genauer betrachtet werden, wie diese Instrumentalisierung als politischer Akt funktioniert. Nachdem Verrina den übrigen Verschwörern weis zu machen versucht hat, dass der „Räuber“ von Berthas Unschuld auch der „Dieb Genuas“ (VF, S. 344) sei, inszeniert er ein affektgeladenes, mit Gesten und Requisiten reichhaltig untermaltes politisches Rührstück; ein Rührstück mit seiner Tochter in der Hauptrolle, das darauf zielt, die verschwörerische Gemeinschaft zu einen und schließlich zum Mord an Gianettino zu bewegen. In einem Vokabular politischer Schicksalhaftigkeit heißt es: Wenn ich deinen Wink verstehe, ewige Vorsicht, so willst du Genua durch meine Bertha erlösen! er tritt zu ihr, indem er den Trauerflor langsam von seinem Arm wickelt, darauf feierlich. Eh das Herzblut eines Doria diesen häßlichen Flecken aus Deiner Ehre wäscht, soll kein Strahl des Tags auf diese Wangen fallen. Bis dahin – er wirft den Flor über sie. Verblinde! (VF, S. 344)
Verrinas Inszenierung der Tochter als lebendige Allegorie der trauernden Republik761 wird sodann in ihrer Eindringlichkeit durch eine noch deutlich drastischere
757 Vgl. Geulen (2009), S. 257. 758 Vgl. Lüdemann (2013), S. 594. 759 Lüdemann (2007g), S. 304. Vgl. dagegen die Deutung bei Kleinschmidt (2001), der die politische Relevanz des Vergewaltigungsthemas für gering hält (vgl. S. 110). 760 Lüdemann (2007g), S. 299. 761 Der Inszenierungscharakter des Geschehens wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, woher Verrina das Requisit des Trauerflors hat: Es handelt sich, darauf weist Geulen (2009) hin, um ein Teil des Kostüms, das Verrina auf dem Maskenball in Fieskos Schloss getragen hat (vgl. S. 256; vgl. VF, S. 332). Bei Livius tritt Verginius im Übrigen ebenfalls mit einem „Trauergewand“ (Liv., 3, 47) bekleidet vor die versammelte Bürgerschaft, in deren Gegenwart er die Tochter schließlich ersticht.
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Geste gesteigert, denn die politische Symbolbildung erfolgt fluchend.762 Im Zuge dessen schreibt der Text ein paradigmatisches Struktursujet der antiken Literatur um und führt damit das die politische Analytik hervortreibende, dramenpoetologische Anspielungsgefüge über das bürgerliche Trauerspiel hinaus. Während nämlich besonders die griechischen Tragödiendichter in zahlreichen Variationen die mythisch präformierte Unentrinnbarkeit eines Familienfluchs durchspielen,763 so ist es bei Schiller der Vater selbst, der sein Geschlecht aus „politstrategischem Kalkül“764 mit einem Fluch belegt. Herauszustellen ist, dass der (Sprech-)Akt des Fluches ein bestimmtes, zu dessen Lösung notwendig erforderliches Verhalten mehr als nur suggeriert. Die Fähigkeit oder besser: die Kraft, derart emphatisch zum Handeln aufzufordern,765 die in der antiken Tragödie ein den Göttern obliegendes Vermögen bezeichnet,766 legt Schiller in die Hände seiner Figuren. Ein von Menschenhand gemachter Fluch also, der nur durch eine außerordentliche politische Tat aufgehoben werden kann, wie Verrina in einer ebenso mit Pathos angereicherten wie manipulativen Rede zu verstehen gibt: VERRINA feierlicher, seine Hand auf Berthas Haupt gelegt: Verflucht sei die Luft, die dich fächelt! Verflucht sei der Schlaf, der dich erquickt! Verflucht jede menschliche Spur, die deinem Elend willkommen ist. Geh hinab in das unterste Gewölb meines Hauses. Winsle. Heule. Lähme die Zeit mit deinem Gram. unterbrochen von Schauern fährt er fort. […] Dieser Fluch hafte auf dir, bis Gianettino den letzten Odem verröchelt hat. […] Großes Schweigen. Auf allen Gesichtern Entsetzen. Verrina blickt jeden fest und durchdringend an. (VF, S. 345)
762 Vgl. dazu insgesamt Geulens (2009) instruktive Lektüre des Fiesko zum Zusammenhang von Fluch und Eid. Ich akzentuiere anders als Geulen, wenn ich die Bedeutung des Fluchs auch vor dem Hintergrund der politischen Dramenform untersuche, um die Schiller in Auseinandersetzung mit Lessings bürgerlichem Trauerspiel (vgl. dazu einschlägig Lüdemann (2007g, 2013)), aber auch mit der antiken Tragödie ringt. 763 Dass ein Fluch als Initiations- und Inspirationsmoment v. a. tragischer, aber auch epischer Handlungsverläufe dient, stellt eines der ältesten mythischen Sujets dar. Zu nennen ist beispielsweise der von den Göttern verhängte Tantalidenfluch, der auf den Atreus-Nachkommen lastet. Dieser wird zur Bedingung des Trojanischen Krieges und ist zudem für die Mordtaten in der Elektra (Klytaimnestra an Agamemnon, dann Orest an Klytaimnestra) von entscheidender Bedeutung. Vgl. auch das vom Delphischen Orakel verkündete Verhängnis des Laios, das erst die tragische Handlung des Ödipus in Gang bringt. Vgl. ferner das als narrative Triebfeder fungierende Fluchgebet des Apollon-Priesters Chryses zu Beginn der Ilias. 764 Geulen (2009), S. 255. 765 Friedrich/Schneider (2009) stellen im Rekurs auf Agamben die besondere performative Struktur des Fluchs heraus und betonen vor diesem Hintergrund eine ‚Sprechkraft‘ von Fluch und Eid (vgl. bes. S. 9, 14). Vgl. ferner Agamben (2010). 766 Friedrich/Schneider (2009) weisen ebenfalls, in Anlehnung an Agamben, darauf hin, dass der Fluch seit seinen archaischen Ursprüngen ein „Sprechen[ ] mit Gott“ (S. 9) bedeute, aus der diese Redeform ihre Kraft beziehe.
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Ganze dreimal spricht der Vater den Fluch über die eigene Tochter aus und bindet dessen Lösung an den Tyrannenmord. Der in der antiken Dramatik von den Göttern aufgrund eines menschlichen Fehltritts ausgesprochene Fluch wird hier vom Vater über das – so die schon im Figurenregister ersichtliche Suggestion – ganz und gar unschuldige, ja zum Gewaltopfer erniedrigte Kind ‚verhängt‘, und dies sogar körperlich, wie die Verhüllung Berthas mit dem Requisit des Trauerflors zeigt. Ausgehend davon, dass Schiller zunächst Lessings bürgerlichen plot repolitisiert, mobilisiert er überdies in einer Inversionsbewegung das antike Fluchschema. Der v. a. in der griechischen Tragödie firmierende Götterfluch wird kurzerhand im Zuge seiner Arbeit an der Gattung des politischen Dramas auf die Figurenebene überschrieben. Wenn nicht mehr Götter Flüche über die in Misskredit geratenen Menschen verhängen, sondern ein irdischer Vater seinen geschändeten weiblichen Nachwuchs zu Staatszwecken verflucht, wird die Frage nach der politischen Verbindlichkeit, die fluchend generiert werden soll, ins Zentrum gestellt: Kann ein Fluch tatsächlich binden, wenn er entgegen seiner aus dem Mythos tradierten Struktur kein Götterwort mehr darstellt, sondern von Verrina in strategischer Absicht performiert wird? Meiner Lesart zufolge führt der Text in erster Linie den politischen Zynismus vor Augen, der in einer Rhetorik liegt, welche die „exzentrische Wucht“767, die „archaische Macht“768 und das affektmobilisierende Potential der Fluchrede für das konspirative Projekt instrumentalisiert. Dies tritt im weiteren Verlauf der Szene deutlich zu Tage, denn Schiller weist Verrinas Inszenierung – wiederum in kontrastiven Anspielungen auf Figurationselemente des bürgerlichen Trauerspiels – zwar als Erfolg im Sinne einer gelingenden Gemeinschaftsstiftung aus, verzeichnet aber gleichzeitig die ‚Kälte‘ jenes affektpolitischen Manövers, das überdies in seiner Funktionslogik offengelegt wird.769 Eine solchermaßen kritische Perspektive auf das mit Bertha betriebene Spiel deutet sich bereits an, wenn auch Schillers Dramenpersonal um die ‚göttliche‘ Pointe des antiken Strukturmodells der Fluchkommunikation zu wissen scheint und darauf zunächst gemäß den figuralen Stereotypen des bürgerlichen Trauerspiels reagiert: Man zeigt sich dementsprechend über Verrinas republikanischen Fluch entsetzt. Daran lassen nicht nur die didaskalisch festgehaltenen Reaktionen keinen Zweifel, (vgl. VF, S. 345)
767 Geulen (2009), S. 263. 768 Geulen (2009), S. 263. 769 Vgl. ähnlich auch Geulen (2009): „Dass Verrina den Ernst seiner Gesten und Worte beteuert […], exponiert mittelbar die faktische Theatralität seiner Anstrengungen. Affektiver Anstöße dieser Art bedürfen in seinen Augen zwar die anderen Anwesenden, aber Verrina selbst ist die fluchend hergestellte Identifikation von Genua und Bertha evident, bevor er flucht und ohne dass er fluchen müsste.“ (S. 256).
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sondern auch die anschließenden Redebeiträge; Verrina und seiner Fluchinszenierung begegnet man zunächst mit denkbar negativen Affekten. So reagiert Berthas Verlobter Bourgognino, der nach dem kollektiv als drastisch empfundenen Akt als Erster die Sprache wieder findet, mit der unmittelbaren Anklage: „Rabenvater! Was hast du gemacht? Diesen ungeheuren gräßlichen Fluch deiner armen schuldlosen Tochter?“ (VF, S. 345) Bourgognino adressiert hier explizit den empfindsamen Familienvater, den Schiller jedoch – unter anderem dadurch, dass er die Figur mit der Handlungsoption des Fluches ausstattet – längst verabschiedet hat. Verrina seinerseits zitiert die Figurencharakteristik des bürgerlichen Trauerspiels bloß noch an, wenn er Bourgognino zwar als „zärtliche[n] Bräutigam“ (VF, S. 345) tituliert, um ihn aber gleich darauf als Hauptakteur im republikanischen Trauerspiel zu besetzen. So stellt Verrina gerade jenen ‚empfindsamen Verlobten‘ vor die pathetisch vorgetragene Alternative: „Ich verwahre sie zum Geisel deines Tyrannenmords. […] Genuas Despot muß fallen, oder das Mädchen verzweifelt.“ (VF, S. 345) Zusätzlich steigert sich die Emphase der Fluchrede noch dadurch, dass Verrina nicht nur seine Tochter mit jenem für die politischen Geschicke folgenschweren Fluch belegt, sondern auch die Liebesbeziehung zwischen Bertha und Bourgognino ganz in dessen Zeichen stellt: Die Liebenden gelten ihm als „[d]as erste Paar, das die Furien einsegnen“ (VF, S. 346). Hier wird überdies deutlich, dass Verrinas Inszenierung auch den Affekt der Rache zu mobilisieren versucht, denn das Paar steht fortan unter dem zweifelhaften Segen der Rachegöttinnen.770 Wird in einer solchen politischen Dramaturgie der liebende Verlobte zum prospektiven Tyrannenmörder transformiert, so hat auch die Darstellung des Vaters selbst mit dem Figurenprofil eines emotionalen Patriarchen nichts mehr zu tun. In einer kahlschlagenden Volte gegen Lessings Mitleidsästhetik setzt der Text eine Vater-Tochter-Konstellation in Szene, deren zynischer Zuschnitt noch über den Effekt hinauszugehen scheint, das Verginia-Motiv in einer Wendung gegen Emilia Galotti zu repolitisieren. Während bei Lessing in gesteigerter Form das emotionale Band zwischen Vater und Tochter zur Disposition steht, ohne dass es freilich einen Tyrannen zu ermorden gilt, kappt Schiller diese Verbindung gänzlich, um zu zeigen, dass hier ein Vater die Tochter für seine politische Agenda missbraucht. Dabei setzt der Text nicht zuletzt den als ‚klassisch‘ zu bezeichnenden Interessenskonflikt zwischen Vaterliebe und politischem Sachzwang, wie er sich in zahlreichen antiken Szenen und Erzählsträngen gestaltet findet, gänzlich aus. Als Paradebeispiel hierfür kann die Opferung der Agamemnon-Tochter Iphigenie gelten. Während die verschiedenen antiken Bearbeitungen den Stoff als kardinalen familiär-staatlichen Problemfall in Szene setzen, wo die zweifache
770 Auf die besondere Bedeutung des Affekts der Rache verweist Geulen (2009), S. 255.
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Juxta-Stellung von Vaterliebe (pietas) und öffentlicher Angelegenheit (causa publica) sowie König (rex) und Vater (pater) die jeweiligen Interessensbereiche konfligieren lässt,771 scheint Schiller jedwedes Gefühl von Verbundenheit oder Mitleid des Vaters gegenüber der Tochter, das den Kern von Lessings Konfiguration bildet, aus dem Figurenprofil zu tilgen. So erklärt Verrina: „Genuas Los ist auf meine Bertha geworfen. Mein Vaterherz meiner Bürgerpflicht überantwortet.“ (VF, S. 345) Eine solche, von allen familiär-empfindsamen Banden absehende Haltung des strategisch fokussierten Vaters kulminiert in der zynischen Redefigur „Gehe nun, Tochter. Freue dich, des Vaterlands großes Opfer zu sein“ (VF, S. 346), die Schiller einem nicht nur fluchenden, sondern sogar noch „erheitert[en]“ (VF, S. 346) Verrina in den Mund legt. Dies stellt im Vergleich zu der Livianischen Konstellation eine ungleich subtilere Form der Gewalt gegen die Tochter aus: Während nämlich Verginius den Tyrannen Appius Claudius aufgrund des Tochter-Mordes verflucht,772 muss bei Schiller das vergewaltigte und obendrei noch verfluchte Mädchen letztlich seiner eigenen Opferung zusehen – eine performance, an der Bertha sogar noch freudig partizipieren soll. Das Fluch-Spiel um Bertha macht den gewünschten Eindruck: Die Versammelten, Calcagno und Sacco, knien nieder, verschreiben sich der republikanischen Konspiration und schwören der Trauer tragenden Bertha voller Ergriffenheit die Treue; besiegelt ist somit der Rachevorsatz, d. h. Gianettinos Tod (vgl. VF, S. 346). „Der Fluch schafft die Voraussetzungen des anschließenden Schwurs; durch ihn werden aus den […] Zusammentreffenden vereinte und vereidigte Verschwörer.“773 Und auch der aus dem Trauerspiel entlaufene Verlobte ist am Ende der Szene sicher, sich seinen „Bräutigamskuß“ (VF, S. 346) einzig durch den Tyrannenmord erwerben zu können. Verrinas Inszenierung, deren Höhepunkt die emphatische Verfluchung darstellt, ist vorläufig geglückt. Resümierend ist festzuhalten, dass Schiller hier eine Szene baut, die das politische Spiel insbesondere in seinen an die Affekte appellierenden, rhetorischen Dynamiken analysiert. So dient der Bezug auf die mit großen Gefühlen gesättigte Vater-Tochter-Szene des Trauerspiels in meiner Lesart dazu, die politische Verschwörung nicht bloß als strategisch-rationale Notwendigkeit, sondern als verbindliche sowie das Kollektiv verbindende Gefühlssache zu erkennen zu geben. Was könnte die genuesischen Gemüter mehr bewegen und schließlich zusammenbringen als eine vom Tyrannen geschändete weibliche Unschuld?774 Auch 771 Vgl. etwa Eur., Iph. A., 350–362, 511–542; ferner Ov., metam., 12, 29–30. 772 „Dann durchbohrte er [Verginius] die Brust des Mädchens und rief, zur Gerichtstribüne zurückgewandt: ‚Dich, Appius, und dein Haupt verfluche ich mit diesem Blut.‘“ (Liv., 3, 48). 773 Geulen (2009), S. 255. 774 Vgl. zur politischen Logik des weiblichen Opfers Lüdemann (2007a).
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die Transformation des antiken Tragödienfluchs hat die Funktion, eine Rhetorik analytisch transparent zu machen, die qua emotionaler Mobilisierung auf eine politische Unifikation abzielt. Verrinas feierliche, von Schauern unterbrochene Fluchrede (vgl. VF, S. 345) sowie der Akt, den verfluchten Körper zu verhüllen, sind als Elemente einer pathetischen, politischen actio zu beschreiben.775 Bertha bleibt bei all dem als stummes Requisit auf der Bühne präsent, wird aber eben auch nicht wie Lessings Emilia und Livius’ Verginia getötet. Lüdemann hat darauf hingewiesen, dass Schiller damit „den Kurzschluss vom römischen Modell auf die repräsentierte Realität des Dramas“776 vermeide; das Frauenopfer wird nicht bis in letzter Konsequenz durchgeführt. Zu Recht kann man daher auf eine Linie von „Verginia-Variationen bei Lessing, Schiller und Kleist“777 verweisen und konstatieren, dass sich „der Fiesko schon auf halbem Weg zu Kleists Hermannsschlacht [befindet], wo die Schändung und Zerstückelung der Jungfrau Hally dann als Propagandamaßnahme regelrecht inszeniert wird, um die affektiven Energien für den totalen Krieg freizusetzen.“778 Schillers Trauerspiel führt dergestalt vor, wie eine Frauenfigur und ihr privates, im Vergleich zur Kleist’schen Hally vielleicht weniger grausames Schicksal zum politischen Symbol funktionalisiert werden, dessen sich die männlichen Machtpolitiker bedienen. Im Zentrum von Schillers Bertha-Szene steht somit der Zusammenhang von Ästhetik und Politik.779 Zieht man überdies mit ins Kalkül, dass Bertha verflucht (und nicht getötet) wird, lässt sich noch Genaueres darüber sagen, wie die „Opferlogik und die ihr zugehörigen Identifikationsmechanismen“780 in Schillers Darstellung funktionieren. Der Fluch lässt sich als Ersatz für den Tod der Frau verstehen: Wie in Kleists Herrmannsschlacht Hallys Tod eine symbolische und affektmobilisierende Zentralfunktion in der männlichen Machtagenda erfüllt, so verhält es sich im Fiesko mit Berthas Verfluchung: „Bertha ist nicht das Opfer, sondern die repräsentative Instanz, der geopfert werden soll.“781 Im Rekurs auf Geulen lässt sich also das Verfahren präzise aufschlüsseln, durch das Bertha als Zentrum der republikanischen Bildpolitik gesetzt wird: Auf die affektgesättigte Verfluchung der Frau
775 Vgl. dazu C. Schmitt (2009), bes. S. 19–28. 776 Lüdemann (2013), S. 595. 777 Lüdemann (2013), S. 588. 778 Lüdemann (2007g), S. 304. 779 Diese Deutung spitzt Lüdemann (2007g) in ihren Bemerkungen zu derjenigen Szene (vgl. VF, II,17) weiter zu, in der Verrina Fiesko mithilfe eines Gemäldes, das die römische VerginiaEpisode darstellt, für die bürgerliche Verschwörung gewinnen will (vgl. S. 304–305). 780 Geulen (2009), S. 265. 781 Geulen (2009), S. 265.
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folgt der männliche Eid, mit dem man sich zu einem politischen Racheakt, zum Tyrannenmord, verpflichtet, als dessen „Legitimationsinstanz“782 die Frau fortan gilt. Dass Schillers Fluch-Anordnung prinzipiell die Möglichkeit für die Frau offen lässt, sich aus einer solchen Degradierung heraus immerhin klagend Gehör zu verschaffen, dafür mag die Manuskript gebliebene Szenenskizze „Bertha im Kerker“ sprechen, wobei hier keine subversive Agenda der Verfluchten zum Ausdruck gebracht wird (vgl. VF, S. 442). Wenn Verrinas in Wort, Stimme und Geste reüssierender Redeauftritt vom politischen Machtpotential rhetorischer Affekterregung Zeugnis ablegt, wird diese Reflexion im zweiten Aufzug fortgeführt. Im Zuge dessen werden die ästhetischen Möglichkeitsbedingungen des Politischen noch einmal stärker auf einer Metaebene zum Thema. Ausgangspunkt dafür ist die der Bertha-Verfluchung unmittelbar folgende Kurzszene I,13. Der Text kündigt hier die Idee zu Verrinas neuestem politischen Schauspiel an. Dieser berichtet, schon vor einiger Zeit einen Künstler damit beauftragt zu haben, den Sturz des Appius Claudius, d. h. des bei Livius auftauchenden Tyrannen, zu malen (vgl. VF, S. 346). Mit Hilfe des Bildes soll Fiesko, den Verrina als einen „Anbeter der Kunst“ kennt, der „sich gern an erhabenen Szenen“ „erhitzt“ (VF, S. 346), dazu bewegt werden, sich der bürgerlichen Verschwörung anzuschließen. Dass es sich bei dem Gemälde um ein Auftragswerk Verrinas handelt, kann als signifikantes Detail in Schillers Analytik des Zusammenhangs von Ästhetik und Politik gewertet werden: Wenn Verrina nach eigener Aussage „längst einen Maler im Solde [hat], der seine ganze Kunst verschwendet, den Sturz des Appius Klaudius fresco zu malen“783 (VF, S. 346), so reicht offenbar der Plan, den Verginia-Stoff für das Verschwörungsnarrativ zu mobilisieren, noch vor Berthas Vergewaltigung zurück.784 Das zuvor im Bild, welches als politisches Agitationsmedium konzipiert ist, aufgehobene Schicksal des vom Tyrannen vergewaltigten Mädchens widerfährt der Tochter schließlich leibhaftig und Verrina zögert keine Sekunde, das eigene Kind in den Dienst seiner verschwörerischen Bildpolitik zu stellen, ja sie als Trauernde, in den Kerker Verbannte zu ästhetisieren, um die Verschwörer zu mobilisieren. Wenn Lüdemann den Versuch Verrinas, mit dem Bild aus der „römischen Episode erneut politisches Kapital zu schlagen“785, als Hinweis auf die hier manifest werdenden
782 Geulen (2009), S. 266. 783 Hervorhebung C. R. 784 Der Text lässt hier keine andere Lesart zu, denn weder verlässt Verrina die Bühne seit dem Zeitpunkt, als er von Berthas Schändung erfährt noch gibt es einen Hinweis darauf, dass er den Maler etwa durch einen Boten beauftragt. 785 Lüdemann (2007g), S. 305.
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ästhetischen Voraussetzungen des Politischen liest,786 so lässt sich diese Interpretation durch das Detail, dass Verrina den Auftrag zum Bild schon vorab ausspricht, noch zuspitzen: Der Umstand, dass der Text die ‚tatsächliche‘ Vergewaltigung dem Bild nachordnet, benennt ein ästhetisches Apriori des Politischen, der politische Bildwert der Gewalttat steht von vorneherein und zu jedem Zeitpunkt im Vordergrund.
2.4 Der Umsturz des Fluch-Bildes. Fieskos heroisches Gegenprogramm Als es nun in Anwesenheit des Künstlers sowie der Verschwörer zur Enthüllung des Gemäldes in Fieskos Haus kommt, zeigen sich erstens die Schwachstellen von Verrinas Bildpolitik und zweitens die Differenzen zu Fieskos konkurrierender, heroischer Strategie. In einer von übersteigerter „Begeisterung“ (VF, S. 374) getragenen Rede tritt Verrina „unter Verkennung des Kunstcharakters, im halluzinativen Kurzschluss vom Bild auf die Realität“787 an, das Bild gewissermaßen zum Leben zu erwecken, ja zur politischen Handlungsanweisung zu stilisieren: „Sprütz zu eisgrauer Vater – Zuckst du Tyrann? – Wie so bleich steht ihr Klötze Römer – Ihm nach Römer – das Schlachtmesser blinkt – Mir nach Klötze Genueser – Nieder mit Doria! Nieder! Nieder! er haut gegen das Gemälde.“ (VF, S. 374) Der sodann von seiner republikanischen Rage sichtlich „[E]rschöpft[e]“ (VF, S. 374) erntet von demjenigen, den er so dringlich zu überzeugen trachtet, lediglich ein müdes Lächeln (vgl. VF, S. 374). Anstatt in das politische Pathos einzusteigen, lobt Fiesko die Erotik in der Darstellung der sterbenden Verginia, um aber sodann zu einer rigiden Schelte des Künstlers und dessen Berufsstandes anzusetzen: Tritt her Maler. äußerst stolz und mit Würde. So trotzig stehst du da, weil du Leben auf toten Tüchern heuchelst, und große Taten mit kleinem Aufwand verewigst. Du prahlst […] ohne Tatenerwärmende Kraft; Stürzest Tyrannen auf Leinwand; […] Geh! – Deine Arbeit ist Gaukelwerk – der Schein weiche der Tat – mit Größe, indem er das Tableau umwirft. Ich habe getan, was du – nur maltest. alle erschüttert. Romano trägt sein Tableau mit Bestürzung fort. (VF, S. 375)
Gegen die Macht des Bildes als Vorbild, auf die Verrina setzt, stellt Fiesko die ‚große Tat‘, das heroische Handeln des Einzelnen, das jedes Bild überrage; nicht umsonst 786 Lüdemann (2013) vertritt die Auffassung, dass Schiller die bei Livius exekutierte Gründungsgewalt, als die das Frauenopfer gelten kann, nur zitiert bzw. „ästhetisch imitiert“ (S. 595), und zwar im Sinne seines „Konzept[s] der ästhetischen Erziehung, die, auf lange Sicht, jegliche Art von Gründungsgewalt überflüssig machen und eine gewaltfreie republikanische Revolution vorbereiten soll“ (S. 595). 787 Lüdemann (2007g), S. 305.
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wird das Gemälde auf den Boden befördert und schließlich vom geknickten Künstler abtransportiert. Im Wettstreit des Malers mit dem ‚großen Mann‘ gewinnt, so zumindest die Überzeugung von Schillers Protagonisten, letzterer.788 Verrina jedenfalls wird hier von Fiesko als ästhetischer Naivling789 vorgeführt, dessen Bildpropaganda der tatkräftigen Agenda des selbsternannten politischen Helden kaum gewachsen sein kann. Ganz in diesem Sinne verkündigt der Graf in der Folgeszene (II,18) seinen eigenen, betontermaßen bereits angelaufenen Verschwörungsplan und lässt die Maske des Unpolitischen nunmehr gänzlich fallen (vgl. VF, S. 376). Dass seine Strategie punktuell gelingt und Verrinas Bildpolitik überschattet, demonstriert der von Bourgognino angeregte, gemeinsame, diesmal explizit ein heroisches, und kein Racheethos exponierende Schwur der Versammelten am Ende der Szene. Man bildet einen Kreis, um „den heldenmütigen Bund durch eine Umarmung [zu] beschwören“ (VF, S. 377). In sogar „inniger“ (VF, S. 377) Umarmung proklamiert Bourgognino die unverbrüchliche Einheit eines „fünffache[n] Heldenblatt[s]“ (VF, S. 377). Dass diese Einheit jedoch durch zwei Figuren von Beginn an gefährdet ist, vermerkt Schiller. So fordert Verrina Bourgognino mit dem Hinweis, er werde „etwas seltsames hören“ (VF, S. 377), auf, ihm zu folgen. Der für Fiesko Entflammte erfährt nur zwei Szenen später (vgl. III,1), dass das soeben rituell beschworene Heldenquintett doch nicht so unzertrennlich ist wie gedacht: Verrina nämlich plant die Ermordung des Grafen, weil er dessen tyrannische Herrschaftsansprüche fürchtet (VF, S. 380). Dass Verrina damit richtig liegt, zeigt Fieskos direkt auf die Schwurszene folgender Monolog. Wenn auch unter Zweifeln und Vorbehalten phantasiert der Graf schon hier über die Möglichkeit einer heroischen one-man-show, die ihn vom „Republikaner Fiesko“ zum „Herzog Fiesko“ (VF, S. 377) aufsteigen lassen könnte. Auch Fiesko hat somit seine eigenen Pläne: Gemach – […] Eben hier haben Helden gestrauchelt, und Helden sind gesunken, und die Welt belagert ihren Namen mit Flüchen – Eben hier haben Helden gezweifelt, und Helden sind stillgestanden, und Halbgötter geworden – rascher. Daß sie Mein sind die Herzen von Genua? Daß von meinen Händen dahin, dorthin sich gängeln läßt das furchtbare Genua? – […] Unglückselige Schwungsucht!“ (VF, S. 377– 378)
Dass er kontrastiv zum Schlussbekenntnis des Monologs „Sei frei Genua, und ich […] dein glücklichster Bürger!“ (VF, S. 378) aber genau dieser ‚Schwungsucht‘ verfallen wird, demonstriert der weitere Verlauf des Stücks, v. a. der zweite Auftritt 788 Vgl. dazu Lüdemanns (2007g) Hinweis, dass ein derartiger Szenenbau Fieskos „Urheberschaft an der Verschwörung“ als eine Art von „‚Künstlerschaft‘“ (S. 305) ausweise. Insgesamt betrachtet Lüdemann den 17. Auftritt des zweiten Aufzuges als „Schlüsselszene“ (S. 305) für den im Text reflektierten Nexus von Kunst und Politik. 789 Vgl. Lüdemann (2007g), S. 306.
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des dritten Aufzuges. Hier bringt Fiesko seine heroischen Allmachtsphantasien unumwunden monologisch zum Ausdruck. Die gesamte Szenenanlage lässt diesbezüglich keine Fragen offen: Fiesko blickt von einem Saal seines Schlosses durch „eine große Glastüre, die den Prospekt über das Meer und Genua öffnet“ (VF, S. 381), in die aufgehende Morgensonne. Der Blick auf die „majestätische Stadt“ (VF, S. 381) befeuert die Vorstellungskraft des Helden: Ob er „der größte Mann […] im ganzen Genua“ werden könne, ob er die Stadt mit „Monarchenkraft“ (VF, S. 381) zu regieren bestimmt sei, darum kreisen Fieskos Gedanken unter dem Einfluss des den Absolutismus ikonographisch herbeizitierenden Sonnenlichtes. Mit dem Ausruf „Ich bin entschlossen!“ endet die Ermächtigungsvision des „heroisch auf und nieder“ (VF, S. 382) Schreitenden. Schiller lässt seine Leser*innen allerdings schon im Vorfeld wissen, dass Fiesko Gegner hat, die seine Alleinherrschaftsansprüche immerhin erahnen bzw. der republikanischen Ausrichtung seiner Heldenmission nicht trauen.
2.5 Den Wind des Zufalls lenken? Der Held und das republikanische Wetter Wie allmächtig sich jener selbsternannte Große wähnt, tritt bereits vor dem Monolog zu Tage. Zentral dafür ist der vierte Auftritt des zweiten Aufzuges, der überdies als Kernszene dafür gelten kann, wie das analytische Heldendrama mit der Kategorie des Zufalls operiert: Der Text zeigt einen Protagonisten, der das politische Gefüge durch den Zufall bestimmt sieht und dem Fehlschluss verfällt, er könne mit dem Zufall Politik machen, ja diesen in den Dienst seiner Heldenmission stellen. ‚Politik machen‘ bedeutet auch im Falle Fieskos, eine gute Geschichte zu erzählen bzw. ein gutes Schauspiel aufzuführen, das die eigene politische Agenda als notwendigen Gang der Staatsdinge auszugeben versucht. So hat der Graf also schon in I,9 politische ‚Witterung‘ aufgenommen, obwohl er vorgibt, in erster Linie an Frauen und Festen interessiert zu sein. In II,4 lässt er sich von seinem Spion die herrschende politische Stimmung in Genua schildern. Der Mohr berichtet von einem kollektiven Unverständnis darüber, dass gerade der charismatische Graf die prekären politischen Verhältnisse offenbar nicht registriert: „Man kanns nicht verdauen, daß ein […] Kavalier wie Fiesko, dem auf den ersten Wink alle Herzen zufliegen würden – – […] Daß Genuas großer Mann Genuas großen Fall verschlafe.“ (VF, S. 354) Das von Fiesko erbetene revolutionäre Stimmungsbild zeichnet der Mohr wie folgt: Wie aus des Himmels Räuspern der ausbrechende Sturm. Man steckt die Köpfe zusammen, rottiert sich zuhauf […]. Durch ganz Genua herrscht eine dumpfige Schwüle – Dieser Mißmut hängt wie ein schweres Wetter über der Republik – nur einen Wind, so fallen Schloßen und Blitze. (VF, S. 355)
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Die von Schiller gewählte Wetter-Semantik weist die politischen Kräfte als unberechenbare Naturgewalten aus. Fiesko gleichwohl glaubt, sich dieses vom Zufall bestimmte ‚republikanische Wetter‘ zu Nutze machen zu können, wenn er seinem Handlanger, als sich nach der Prokuratorwahl auf den Straßen von Genua ein spontaner Tumult erhebt (vgl. VF, S. 355), folgenden Befehl erteilt: „Es ist ein Aufruhr. Spreng unter sie. Nenn meinen Namen. Sieh zu, daß sie hieher sich werfen. […] Was die Ameise Vernunft mühsam zu Haufen schleppt, jagt in einem Hui der Wind des Zufalls zusammen.“ (VF, S. 356) Die zufällig eintretende Bewegung des Volks gedenkt Fiesko in den Dienst seines heroischen Unterfangens zu stellen. Er beabsichtigt, seinen eigenen ‚Namen‘ auf die im Wind wehenden Fahnen des unruhigen Volkes zu schreiben, ja den von sich aus ziellosen ‚Aufruhr‘ in seine Richtung zu lenken. Als schließlich das gegen den Doria-Clan aufbegehrende Volk vor seinen Schlosstoren steht, beschließt Fiesko, nunmehr in das politische Spiel einzusteigen. Aktiv in die politische ‚Wetterlage‘ einzugreifen, bedeutet aber eben, nichts mehr dem Zufall zu überlassen. Fieskos Strategie ist zwar insofern zufallsaffin, als er inmitten des revolutionären Chaos auf einen günstigen Augenblick sinnt, der eine erfolgreiche Intervention seinerseits verspricht. Von dem Moment an aber, als er selbst offensiv den politischen Auftritt sucht, erhebt sich der Graf über die Macht des Zufalls. Dies ist das erste Mal in II,8 der Fall, wenn nämlich Fiesko dem revolutionären Volk durch ein Gleichnis aus dem Tierreich in überaus manipulativer Absicht ganz und gar nicht republikanische bzw. demokratische Ideale vermittelt (vgl. VF, S. 361), sondern eine auf Alleinherrschaft abzielende Heldenphantasie zum Besten gibt. Sein parabelhaftes Plädoyer gegen jede Form von, letztlich selbstzerstörerischer, Demokratie und für die Vorteile einer monarchischen Herrschaft erweist sich als außerordentlich wirkungsvoll; die Bürger gehen Fieskos tendenziösem Durchgang durch die Staatenlehre auf den Leim, der zunächst verschiedene Formen der Demokratie verwirft, um schließlich die Überlegenheit der Monarchie zu propagieren. Als monarchischer Herrscher kommt, so wird rasch klar, nur einer in Frage, wie nach Fieskos Erzählstunde aus den Reihen des Volkes zu vernehmen ist: „Und Genua solls nachmachen, und Genua hat seinen Mann schon.“ (VF, S. 362) Der republikanische Wind hat sich auf seine Seite gewendet. Dementsprechend wähnt sich ‚Genuas großer Mann‘ auf sicherem Erfolgskurs: „Es geht erwünscht. Volk und Senat wider Doria. Volk und Senat für Fiesko – […]. Ich muß diesen Wind benutzen – Ich muß diesen Haß verstärken! dieses Interesse anfrischen!“ (VF, S. 362) Er handelt fortan in der vollen Überzeugung, sein heroisches Charisma790 gehe dem Volk derart ans Herz,
790 Janz (1992b) arbeitet in seiner Fiesko-Deutung am Rande mit dem Weber’schen CharismaBegriff (vgl. S. 73) und weist auf das für das Drama zentrale Problem des politischen Heroismus
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dass dadurch jeder Zufall und im Übrigen auch jede andere politische Agenda außer Kraft gesetzt würden. Ganz in diesem Sinne stilisiert sich Fiesko zum Herrn über das republikanische Wetter, ja versetzt sich selbst in die Position desjenigen, der die politischen Elemente wenn nicht dirigiert, so doch immerhin zu überblicken vermag: Glücklich! Glücklich! das Stroh der Republik ist in Flammen. Das Feuer hat schon Häuser und Türme gefaßt – Immerzu! Immerzu. Allgemein werde der Brand, der schadenfrohe Wind pfeife in die Verwüstung. […] Die Empörung kommt wie gerufen. Aber die Verschwörung muß meine sein. (VF, S. 359)
Der Ursprung des Volkszorns ist, folgt man Fieskos politischem Wetterbericht, allenfalls ein ‚glücklicher‘ Zufall. Die beobachtete Umbruchstimmung könne jedoch in den Dienst der eigenen Verschwörungsabsichten gestellt werden und somit letztlich doch gelenkt werden. Keineswegs hält die Einsicht, dass die genuesische Großwetterlage die Dynamik unbeeinflussbarer Naturgewalten anzunehmen vermag und sich damit potentiell auch gegen ihn selbst wenden könnte, den Grafen davon ab mitzuspielen. Dass er im Gegenteil zum Spiel mit jenen machtvollen Kräften verleitet wird, verdichtet sich in dem Ausspruch: „Ich muß diesen Wind benutzen.“ (VF, S. 362) Schiller jedoch bescheidet dieser Strategie, den durchaus als solchen erkannten ‚Wind des Zufalls‘ zu instrumentalisieren, wenig Erfolg, wie im Folgenden nachzuvollziehen ist. Fieskos Verschwörung erweist sich nicht nur als blind gegenüber den übrigen im Drama vorangetriebenen Verschwörungen. Mehr noch wendet Schillers Dramenarrangement den ‚Wind des Zufalls‘ an politisch entscheidender Stelle und in einer Szene verdichteter bis zynisch überspitzter Tragik just gegen den Protagonisten selbst.
2.6 Heroische Verblendung oder: Ein schlechter politischer Spieler Das Drama besteht, neben der markanten Bertha-Episode, aus einer ganzen Reihe von narrativen wie inszenatorischen Interventionen der verschiedenen Akteure. Allesamt zielen sie darauf, eine gemeinschaftsstiftende Szene bzw. Geschichte an hin (vgl. S. 90, 93–94). Immer (2008) widmet Fiesko ein Teilkapitel seiner Monographie Der inszenierte Held (S. 234–257). Dabei werden zwar auf der Ebene der dramatischen Handlungsführung und Figurenzeichnung die Ambivalenzen sowie das abgründige Potential konstatiert, mit denen Schiller seinen heldenhaften Protagonisten reichhaltig versieht (vgl. etwa S. 241–245). Unbeachtet bleiben jedoch die ebenso zahlreichen wie signifikanten dramenpoetologischen Bruchstellen, die dieses Heldendrama entscheidend prägen.
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die Stelle eines vom Zufall bestimmten politischen Handlungsverlaufs zu setzen. Der Blick wird an dieser Stelle exemplarisch auf diejenige Szene gerichtet, die als Höhepunkt in Fieskos selbsternanntem politischen „Possenspiel“ (VF, S. 363) gelten kann. In II,9 nämlich tritt der Graf auf, um das von Gianettino gegen ihn lancierte Attentat mit größtmöglichem Effekt öffentlich und dergestalt für seine heroische Agenda nutzbar zu machen. Zu diesem Zweck soll der mittlerweile in Fieskos Diensten stehende Mohr dem entrüsteten Volk als gescheiterter Attentäter vorgeführt und schließlich in einer Geste vorgeblichen Großmutes begnadigt werden. Vorab soll der Mohr der genuesischen Justiz übergeben werden. Fiesko befiehlt ihm, das drohende Verhör unter Folter eine gewisse Zeit durchzustehen, um sodann zu gestehen. Dass all dies ein großes Theater ist, konstatiert das prospektive Folteropfer selbst voller Zynismus: „Ein Schelm ist der Teufel. Die Herrn könnten mich beim Essen behalten, und ich würde aus lauter Komödie gerädert.“ (VF, S. 363) Um die Inszenierung noch glaubhafter zu gestalten, ist aber auch der Graf selbst bereit ‚zu bluten‘: So ritze mir hurtig mit deinem Dolche den Arm auf, bis Blut darnach läuft – Ich werde tun, als hätt ich dich erst frisch auf der Tat ergriffen. Gut mit gräßlichem Geschrei. Mörder! Mörder! Mörder! Besetzt die Wege! Riegelt die Pforten zu. er schleppt den Mohren an der Gurgel hinaus. (VF, S. 363)
Hier wird zudem Fieskos schauspielerische ‚Begabung‘ überdeutlich, denn kaum hat er sich die Wunde zufügen bzw. seine Kostümierung verpassen lassen, wechselt er schon in seine Rolle als Opfer eines Mordanschlags, die er lautstark, textund gestensicher ausfüllt. Dass die Wunde dem Charismatiker den gewünschten Dienst erweist, tritt zu Tage, als Gianettino von dem höchst theatralischen Auftritt des Grafen berichtet wird: [S]o zeigte sich Fiesko vor dem Volk. Sie kennen ihn den Mann, der befehlend flehet, den Wucherer mit den Herzen der Menge. Die ganze Versammlung hing ihm odemlos in starren, schröcklichen Gruppen entgegen, er sprach wenig, aber streifte den blutenden Arm auf, das Volk schlug sich um die fallende Tropfen wie um Reliquien. Der Mohr wurde seiner Willkür übergeben, und Fiesko – ein Herzstoß für uns – Fiesko begnadigte ihn. Itzt raste die Stille des Volks in einen brüllenden Laut aus, jedem Odem zernichtete einen Doria, Fiesko wurde auf tausendstimmigem Vivat nach Hause getragen. (VF, S. 367)
Fiesko aktualisiert hier, glaubt man dem Bericht von Gianettinos Vertrautem, sämtliche „Medien der actio“791: Ein befehlend flehender, d. h. ein höchst suggestiver Ton und ein Gestenspiel, das auf die Überzeugungskraft der gefälschten Wunde setzt, und das noch dazu den Körper des mit nur wenigen Worten auftretenden 791 C. Schmitt (2009), S. 28. Vgl. auch Cic., de orat., 3, 216.
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Redners effektvoll inszeniert. Die Wirkung bleibt freilich nicht aus, das künstlich zum Fließen gebrachte Blut avanciert zum genuesischen Kollektivheiligtum und der Volkszorn wendet sich gegen den Doria-Clan. Fiesko gilt als Held der Stunde. Die Art und Weise, wie Fiesko gezielt, in manipulativer Absicht und durch ein wohlplatziertes Täuschungsmanöver den politischen Auftritt sucht, hat ein berüchtigtes Vorbild in der europäischen Dramenliteratur. Eine Wunde lässt sich der in Rede stehende Shakespeare’sche Richard zwar nicht zufügen, allerdings versteht er wie Fiesko „seinen Weg zur Macht als Komödie“792. Zwar bekennt sich Fiesko keinesfalls so offen und unumwunden wie Richard – schon in Shakespeares Eröffnungsmonolog – zu einem politischen Schurkentum793 und führt es vor allem nicht ansatzweise so präzise aus wie der Herzog von Gloucester.794 Beide Figuren aber performieren „ein Spiel der Macht, als Spiel im wörtlichen Sinn“795. Ich möchte daher zumindest auf die Parallelen zwischen der soeben diskutierten Fiesko-Szene und einer in ihrer analytischen Direktion strukturell vergleichbaren Szene aus King Richard III aufmerksam machen. Was Fiesko in der Tat von Richard gelernt haben könnte, ist, dass es nicht vieler Worte bedarf, um sich vor einer Menge effektiv politisch in Szene zu setzen. Wie auch Fiesko vor den Genuesern nur ‚wenig gesprochen‘ habe (vgl. VF, S. 367), ist Shakespeares Herzog in der siebten Szene des dritten Aktes für den Londoner Bürgermeister und eine ihn begleitende Gruppe von Bürgern vorgeblich ‚nicht zu sprechen‘. Diese wollen ihn nach dem Tod Edwards IV. gekrönt sehen. Bemerkenswerterweise ergibt sich der Zuspruch der Londoner Bürgerschaft zu Gloucester auch ‚zufällig‘ und wird – wie im Falle von Fiesko vom Mohren – von einem Handlanger des Machtversessenen forciert. Während eine vom Herzog von Buckingham vor den Londonern geführte Hetz-Rede über Edward IV. sowie über dessen Nachkommenschaft, mit der Gloucester als potentieller Thronfolger ins Spiel gebracht werden soll, ihren Zweck verfehlt (vgl. KR, III,7, V. 1–30), ergibt sich der Enthusiasmus für Gloucester durch eine spontane und kaum auf Sachgründen fußende Kollektivdynamik. Letztere wird von Buckingham stante pede befeuert. Obleich nur eine kleine Gruppe der anwesenden Bürger am Ende der
792 Greiner (2010), S. 693. Vgl. ausführlicher zur intertexuellen Beziehung zwischen King Richard III und Fiesko S. 691–695. 793 „I am determinèd to prove a villain.“ (KR, I,1, V. 30). 794 Vgl. anders Greiner (2010): „Zu jeder Zeit, in jeder Situation ist er [Fiesko] der geschickte Intrigant, der auch Unvorhergesehenes zu extemporieren weiß. In allem erweist sich Fiesko als ein begabter Schüler seines Lehrmeisters Richard.“ (S. 694) Es ist, wie noch genauer auszuführen ist, aber gerade die Macht des Unvorhersehbaren bzw. des Zufalls, mit der Schiller seinen Helden sichtbar konfroniert und gewissermaßen in die Schranken weist. 795 Greiner (2010), S. 692.
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Rede die bekräftigende Huldigungsformel „‚God save King Richard!‘“ (KR, III,7, V. 36) ausgerufen habe, habe Buckingham diese Reaktion einiger Weniger zum „general applause and cheerful shout“ (KR, III,7, V. 39) zugunsten Gloucesters stilisiert. „I took vantage of those few/ […] And even here brake off, and came away.“ (KR, III,7, V. 37–41) – So das Vorgehen des Herzogs von Buckingham, das offenbar seine Wirkung erzielt, denn kurz darauf macht der Londoner Bürgermeister mitsamt einer Gruppe von Bürgern dem Herzog von Gloucester seine Aufwartung (vgl. KR, III,7, S. 233). Buckingham nun rät Gloucester zur wortkarg vollführten und mit theatralischen Mitteln – durch ein aussagekräftiges Requisit sowie durch zwei Mitspieler – inszenierten politischen Verstellung: The Mayor is here at hand. Intend some fear; Be not you spoke with, but by mighty suit; And look you get a prayer book in your hand, And stand between two churchmen, good my lord, For on that ground I’ll build a holy descant. And be not easily won to our requests. Play the maid’s part: still answer ‘nay’ – and take it. (KR, III,7, V. 45–51)
Lässt sich Fiesko eine Wunde zufügen, die ihm angeblich im Zuge des Mordanschlags zugefügt worden ist, und erscheint er mit dem Attentäter vor dem Volk, so stattet sich Gloucester gemäß Buckinghams Rat mit einem Gebetsbuch aus und tritt begleitet von zwei Priestern in erhöhter Position, wohl auf einer Galerie in seinem Hause, auf (vgl. KR, III,7, S. 233, V. 98). Er begibt sich vor den Londonern in die Pose eines „Christian Prince“ (KR, III,7, V. 96), der „[d]ivinely bent to meditation“ (KR, III,7, V. 62) im Gegensatz zu dem als lasterhaft diskreditierten Edward (vgl. KR, III,7, V. 7–9, 74–76) England glücklich machen könne (vgl. KR, III,7, V. 78–79). Was diese Inszenierung noch verstärkt, ist die von Sir William Catesbys in Gloucesters Auftrag übermittelte Bitte, am Tag darauf wieder zu kommen, da er so tief in sein Gebet versunken sei (vgl. KR, III,7, V. 59–64). Der Auftritt, jenes ‚sich rar Machen‘, stellt sich denn auch rasch als gelungen heraus: Man beobachtet den sich als gottesfürchtig Ausgebenden mit einiger Bewunderung, die durch Buckingham noch angeheizt wird, aus der Ferne (vgl. KR, III,7, V. 95–103), bis er schließlich ‚von oben herab‘ das Wort an die Londoner Gesandtschaft richtet und so tut, als sei ihm an der Krone, die ihm nun offensiv in Aussicht gestellt wird, nicht im Entferntesten gelegen (vgl. KR, III,7, V. 104–163). Dies verdichtet sich sinnfällig in der Erklärung „Alas, why would you heap this care on me?/ I am unfit for state and majesty.“ (KR, III,7, V. 194–195) Während Shakespeare in einer langen, den dritten Akt von King Richard III beschließenden Szene die auf eine Manipulation des Kollektivs zielenden, machtpolitischen Verstellungs-‚Künste‘ des aufstrebenden Herzogs von Gloucester
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ausschreibt, findet sich die Struktur dieses Handlungsmodells in verdichteter und episch komprimierter Form in Lomellinos Bericht über Fieskos Auftritt vor dem genuesischen Volk wieder. Richard setzt auf die Täuschungskraft des Requisits und seiner zwei geistlichen Mitspieler – Fiesko ‚spielt‘ mit der Wunde und mit seinem Mohren. Dass eine solche Nähe zu Shakespeares berühmtem Schurkenkönig einen klaren Widerspruch zu Schillers in der Vorrede artikuliertem Vorsatz bildet, einen politischen Helden mit Herz portätieren zu wollen, liegt auf der Hand. Es steht nun allerdings zu fragen, welcher Erfolg Fieskos an König Richard Maß nehmendem Spiel im Text beschieden wird. Bis zu diesem Zeitpunkt reüssiert der Graf mit seiner Strategie auf ganzer Linie, was ihn in dem Eindruck weiter bestärkt, zum eigenen Nutzen mit den politischen Kräften spielen zu können. Während er die Konstitution der revolutionären Gemeinschaft zwar als Zufallsprodukt analysiert, wähnt er sich in der Folge immer mehr als souveräner Lenker des Geschehens. Allerdings stellt sich im weiteren Fortgang des Stücks zunehmend heraus, dass der sich gottgleich gerierende und dem überkommenen Glauben an eine ihm gewogene Schicksalsmacht folgende Graf ein denkbar „schlechter Spieler“796 ist. Dementsprechend setzt das Drama diesem Glauben mehrere einschlägige Szenen entgegen, die demonstrieren, dass politische Notwendigkeit bzw. Verbindlichkeit immer nur temporär, im Moment der jeweiligen Erzählung bzw. Inszenierung, herzustellen ist. Der Text führt im Zuge dessen den Titelhelden insofern als ‚schlechten Spieler‘ vor, als dieser an die Persistenz seines eigenen Spiels glaubt und konkurrierende Inszenierungen geflissentlich übersieht. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang etwa an die oben diskutierte Szene, in der die Verschwörer Fiesko mit Hilfe des Gemäldes von der Notwendigkeit ihrer politischen Sache überzeugen wollen. Der Graf zeigt sich geradezu überheblich immun gegen die Überzeugungskraft dieses Bildes, das er ja auch als „Gaukelwerk“ (VF, S. 375) des Malers diskreditiert und verkündet, Republiken seien nicht mit einem Pinsel zu befreien (vgl. VF, S. 375). Während Fiesko im festen Glauben an die eigene politische Genialität daraufhin den eigenen Umsturzplan als heroisch-tatkräftiges und nicht ‚bloß‘ künstlerisches Unterfangen feiert (vgl. VF, S. 375), wissen die Leser*innen, dass jener ‚Tatmensch‘ seinerseits längst ‚den Pinsel in die Hand genommen hat‘, d. h. schon mindestens zwei dezidiert ästhetische Interventionen hinter sich hat, als die sowohl der bluttriefende Auftritt vor den Bürgern als auch die politische Erzählstunde über das Tierreich gelten können. Der von seiner Heldenmission beseelte Fiesko ist, das macht diese Szene deutlich, erstens voller Blindheit und Ignoranz, was die Bildpolitik seiner
796 Hahn (2008), S. 188. Schiller führe anhand der Fiesko-Figur vor, dass eine auf die Kategorien von ‚Gott‘ und ‚Schicksal‘ zentrierte Diskursform um 1800 nicht mehr greife (vgl. S. 186).
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Gegenspieler betrifft.797 Ganz in diesem Sinne lässt der Text denn auch keinen Zweifel daran, dass der Graf von Verrinas feindlicher Gesinnung, die im Mord an Fiesko zum Ende des Dramas ihren Höhepunkt erreicht, nicht das Geringste ahnt. Zweitens ist der Graf so eingenommen von seiner Heldenmission, dass er deren mögliches Scheitern nicht einmal in Erwägung zieht. Allerdings arbeitet nicht nur Verrina gegen den charismatischen Grafen. Eine weitere, nicht politische, sondern amouröse Verschwörung ist im Gange, die sich zwar nicht direkt gegen Fiesko, wohl aber gegen dessen Gattin Leonore richtet. So hat Fieskos Flirt Julia den Mohren mit einem Liebesbrief an den Grafen und zusätzlich mit Gift ausgestattet, um Leonore zu töten. Als Fiesko davon erfährt, beginnt er, an ganz offensichtlich falscher Front zu kämpfen: Er sieht sich nach wie vor als Günstling Fortunas, dankt der „himmlische[n] Vorsicht“ (VF, S. 388) für die Entdeckung des Mordkomplotts gegen seine Ehefrau und lädt kurzerhand ausgewählte Personen zu einer „Komödie“ (VF, S. 392) auf sein Schloss ein. Dieses Spiel im Spiel hat zum Ziel, Julia für ihre Intrige bloß zu stellen. Als der Graf sie persönlich zum geplanten „Schauspiel“ (VF, S. 399) abholt, trifft er dort auf Gianettino Doria, der emsig damit beschäftigt ist, Maßnahmen gegen die ihm längst bekannte Verschwörung zu koordinieren. Obgleich der Text in zahlreichen Didaskalien sowie in der Figurenrede deutlich macht, dass Fiesko die Zurüstungen des Prinzen registrieren müsste (vgl. VF, S. 398–399), ist dieser so vertieft in seine Inszenierung, dass er sämtliche alarmierenden Zeichen übersieht. Überheblich und kalt lächelnd wähnt er sich als Herr der Lage, so dass er auf Julias Befürchtung, sie erwarte doch hoffentlich „kein Trauerspiel“ (VF, S. 399), „tückisch“ (VF, S. 399) entgegnet: „O es ist zum totlachen Gräfin.“ (VF, S. 399) Dass jene ‚Tücke‘ allerdings bestenfalls als Bauernschläue durchgeht, die in politischer Hinsicht ins Leere läuft, davon zeugt der weitere Textverlauf unübersehbar. So bringt Fiesko Julia im Konzertsaal seines Schlosses in heimlichem Beisein der Verschwörer sowie Leonores dazu, ihm wortreich ihre Liebe zu gestehen (vgl. IV,12). Auf das flammende Bekenntnis folgt die öffentliche Demütigung. Fiesko holt das verborgene Publikum auf die Bühne, um Julia in ostentativ theatraler Pose, etwa durch das Zeigen des Giftfläschchens (vgl. VF, S. 415), zu demonstrieren, dass ihr Anschlag auf Leonore entdeckt ist. Er hat jedoch eine denkbar sinnlose „Komödie“ (VF, S. 410) um die Schwester des Prinzen veranstaltet: Während er nämlich, merklich verliebt in die eigenen Schauspielkünste, betont, er habe die „Harlekinsleidenschaft“ (VF, S. 415) für Julia nur vorgegeben, um gegenüber
797 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man kurz darauf erfährt, dass neben dem Doria-Clan eine weitere Partei gegen Fiesko spielt. Es ist, wie bereits erwähnt, Verrina, der die Ermordung des Grafen plant (vgl. VF, III,1).
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dem Doria-Clan seine eigentlich genuin politischen Ambitionen zu verbergen, sind diese der gegnerischen Partei längst bekannt. Denn Gianettino ist bereits von Beginn des Stücks an damit befasst, gegen den Grafen zu arbeiten. Fiesko ist zu Unrecht vom Ablenkungspotential seiner mit reichhaltigem „Theaterschmuck“ (VF, S. 416) aufgeführten Komödie überzeugt. Seine geradezu obsessive Spiel- und Inszenierungslust lässt ihn übersehen, dass die politische Bühne fortwährend auch von anderen Akteuren bespielt und bestückt wird. Seine Frau ist es, die Fiesko am Ende des vierten Aufzuges eindringlich auf die Komplexität und gefährliche Brisanz der bevorstehenden politischen Ereignisse hinweist. Ihre Warnung fasst sie in die Metapher des Würfelspiels: [D]enke, du spieltest um den Himmel, Fiesko. Wenn eine Billion Gewinste für einen einzigen Fehler fiel, würdest du dreust genug sein, die Würfel zu schütteln, und die freche Wette mit Gott einzugehen? Nein, mein Gemahl! Wenn auf dem Brett alles liegt, ist jeder Wurf Gotteslästerung. (VF, S. 417)
Der Graf aber glaubt nach wie vor an sein „Glück“ (VF, S. 417) im Spiel und zeigt sich anhaltend von seiner heroischen Ermächtigungsphantasie beseelt. So will er es keinesfalls dem „gaukelnden Zufall“ (VF, S. 417) überlassen, nach einem geglückten Aufstand Herzog zu werden – ein Ausspruch, der endgültig klar macht, dass Fieskos heroisches Narrativ eines der Notwendigkeit ist, das gegen den Zufall gerichtet ist. Als schließlich sämtliche Verschwörer auftreten, um Fiesko zum bewaffneten Kampf abzuholen, fällt Leonore kurzerhand in Ohnmacht (vgl. VF, S. 420). Die Diktion, in der Fiesko kommentiert, wie Leonore das Bewusstsein wieder erlangt, liest sich vor dem Hintergrund der im fünften Aufzug geschilderten Handlung als geradezu süffisante Prolepse: „Leonore! Rettet! […] Sie schlägt die Augen auf – er springt entschlossen in die Höh. Itzt kommt – sie dem Doria zuzudrücken.“ (VF, S. 320) Im Angesicht des Augenaufschlags seiner aus ihrer Ohnmacht wieder erwachenden Gattin bekräftigt Fiesko seinen Vorsatz, sie umgekehrt dem Tyrannen zuzudrücken, was als subtile textuelle Anspielung darauf zu verstehen ist, dass die Ehefrau im Rahmen des verschwörerischen Unternehmens, den Tyrannen zu ermorden, eine Rolle spielen wird; und zwar eine, mit der Schiller seinen Helden auf dem Höhepunkt von dessen Mission scheitern lässt.
2.7 Die Verwundung des Helden mit dem dramatischen ‚Finger des Ohngefährs‘ Der Tyrannenmord könnte den Höhepunkt in Fieskos politischer Heldengeschichte bilden. Er wird allerdings ohne dessen Wissen im dritten Auftritt des fünften Aufzuges von Berthas Verlobtem begangen – eine Tat, die nicht Fieskos,
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sondern vorerst Verrinas republikanische Bildpolitik affirmiert. Ganz in diesem Sinne kommentiert Bourgognino seinen Mord mit den Worten „Genua frei, und meine Berta“ (VF, S. 423–424). Der Text steuert sodann auf seine tragische Pointe zu, die als merklich perfide Zufalls-Konstellation gestaltet ist. Der siegesgewisse Fiesko, der alles daran setzt, sein Heldenprojekt mit dem Tyrannenmord zu krönen, spielt in dieser Szene, die als Höhepunkt der politischen Analytik zu betrachten ist, unfreiwillig die Hauptrolle. Im Zentrum der besagten Zufalls-Konstellation steht Leonore. Fieskos Frau irrt nach dem gescheiterten Versuch, ihren Gatten aufzuhalten, geistesabwesend und „in Mannskleidern“ (VF, S. 425) durch die revoltierende Menge. Kurz bevor sie sich wahnhaft in die Schlacht stürzen will, macht sie einen ganz und gar zufälligen Fund: „Sachte! Woran stößt mein Fuß? Hier ist ein Hut und ein Mantel. Ein Schwert liegt dabei.“ (VF, S. 425) Gefunden hat sie Schwert, Hut und Mantel des ermordeten Gianettino, dessen Leichnam in der vorherigen Szene abtransportiert wurde (vgl. VF, S. 424) – offenbar ebenso zufällig ohne Schwert, Hut und Mantel. Aus Zufall mit der Kriegsgarderobe des Tyrannen ausgestattet zieht Leonore los, wird von Fiesko für Gianettino gehalten und kurzerhand von ihm getötet (vgl. VF, V,11).798 Schillers Protagonist, der andere politische Inszenierungen fortwährend verkennt, fällt in einer mit der Aristotelischen Poetik spielenden Anagnorisis-Konstellation einem dramatischen Zufalls-Kniff zum Opfer. Dass sich die entsprechenden Szenen um das für die antike Tragödie so bedeutsame Strukturmoment des Wiedererkennens organisieren, demonstriert ein Ausspruch, den Fiesko dem versehentlichen Mord an seiner Frau vorausschickt: „Kenn ich nicht den Busch und Mantel? Ich kenne den Busch und Mantel!“ (VF, S. 430) Fiesko glaubt, Gianettino wiederzuerkennen, und zwar aufgrund der für den Prinzen charakteristischen Kleidung. Damit ruft Schiller, invertiert als ein Verkennen, die nach Aristoteles handwerklich schlechteste Form des Wiedererkennens auf, nämlich die durch äußere Zeichen,799 die hier auch noch zufällig gefunden und angeeignet werden. Zwar könnte man mit Blick auf die antike Tragödienkonzeption dieses offensichtliche Verkennen der hamartia, d. h. einer moralischen Verfehlung des Helden zurechnen, der in seiner Machtgier übereilt handele.800 Hier wird aber die Lesart verfolgt, dass sich die Ermordung Leonores nicht notwendig aus dem bisherigen Dramenverlauf ergibt, sondern dass an dieser Stelle Schillers politische 798 Wischnewsky (2002) sieht in einer derart überzeichneten Verkettung von Zufällen zu Recht eine „tragic irony“ (S. 40) am Werk. 799 Vgl. Aristot., poet., 16, 1454b19–31. 800 Eine solche Interpretation deutet sich bei Turk (1996) an, der argumentiert, dass die Ermordung Leonores sinnbildlich für den von Fiesko „veruntreuten Geist der Republik“ (S. 142) stehe.
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Reflexion kulminiert. Dies geschieht in Form einer Wendung gegen die antike Tragödientheorie. Die letzte große Inszenierung des Textes führt gerade denjenigen durch einen Zufall vor, der das politische Spiel zu beherrschen glaubt. Wenngleich der Faktor ‚Zufall‘, so die Vorrede, hinsichtlich der Todesumstände Fieskos im Sinne der Gattung neutralisiert ist, wird er an diesem Punkt mobilisiert, um die heroische Inszenierung des Titelhelden zu durchkreuzen, deren Höhepunkt der Tyrannenmord sein könnte, den Fiesko noch mehr als nur verpatzt: Er bringt schlicht die falsche Person um, die zu allem Überfluss auch noch seine Frau ist. Dass diese Zufallskonstellation ihre poetologische Bedeutung vor allem im Bezug auf das Strukturelement der Anagnorisis entfaltet, zeigt die dem vermeintlichen Wiedererkennen des Tyrannen vorgelagerte Szene zwischen Bourgognino und Bertha. Nur drei Auftritte (vgl. V,8) zuvor hat der Text in einer Spiegelszene anhand des zweiten Liebespaars vorgeführt, wie eine Wiedererkennung gelingen kann. Die beiden treffen im Revolutionsgewirr aufeinander und, da Bertha wie Leonore verkleidet ist und zudem ihre Stimme verstellt, bleibt sie zunächst unerkannt. Die Wiedererkennung vollzieht sich schließlich dadurch, dass sich Bourgognino an ihre Stimme erinnert. Schiller reaktiviert hier die nach Aristoteles dritte Art der Wiedererkennung, da Bourgognino auf Berthas Stimme mit einer Gefühlsäußerung reagiert, was die Anagnorisis auslöst.801 Er zeigt sich „betroffen“ (VF, S. 428), worauf der das Strukturmodell erfüllende Satz „Ich kenne diese Stimme.“ (VF, S. 428) folgt. Wie nun funktioniert das Wiedererkennen im Falle von Fiesko und Leonore? Nach der Tötung Leonores will der bereits als neuer Herzog von Genua Gefeierte die Freude mit seiner Frau teilen (vgl. VF, S. 431). Unterdessen kommt seitens der Getreuen die Frage auf, was mit der Leiche des Tyrannen geschehen soll. Ein Vorschlag lautet: „Laßt seinen zerrissenen Rumpf unsre Pflaster kehren“ (VF, S. 432), womit der Text deutlich auf die Schändung von Hektors Leiche durch den prototypischen griechischen Helden Achill anspielt.802 Allerdings handelt es sich um eine mehr als düstere Referenz auf den antiken Prätext. Die Platzierung dieser Allusion noch vor der Wiedererkennung macht deutlich, dass hier der Einsatzpunkt für die nächste heroische Narration läge, welche aber durch die sich direkt anschließende dritte Anagnorisis-Konstellation vereitelt wird. Nachdem ein Mitverschwörer den Leichnam inspiziert hat, wird sich auch Fiesko dessen wahrer Identität bewusst, was aber eben auch bedeutet, dass er – gänzlich geschockt – die eigenhändig getötete Frau wiedererkennt: „Spiegelfechterei der Hölle! Es ist mein Weib.“ (VF, S. 432) Die Wiedererkennung, die sich Aristoteles zufolge im
801 Vgl. Aristot., poet., 16, 1454b37–1455a4. 802 Vgl. Hom., Il., 22, 396–405.
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gelungensten Fall gemäß dem Grundsatz der Wahrscheinlichkeit aus der Handlungsfolge selbst ergibt und zwischen Personen – lebenden zumal – stattfinden soll,803 vollzieht sich bei Schiller als Blick des Gatten in das Gesicht der Leiche seiner Frau. Durch diese wesentlich auf Zufallsfaktoren beruhende Wiederbegegnung mit einer Toten schreibt der Text gegen das in der Poetik so zentrale Primat eines konsistenten und in großen Wiedererkennungsszenen kulminierenden tragischen Handlungsgefüges an. Denn dass sich eine Anagnorisis auch qua Zufall ergeben kann, ist Aristoteles allenfalls eine wenig wertschätzende Nebenbemerkung wert.804 Schillers Drama konzentriert eine solche Entstellung antiker dramenpoetologischer Theoreme auf seinen Protagonisten. Der nach der Wiedererkennung in Wort und Tat ausrastende Fiesko analysiert sein Schicksal zwar zunächst als neuerliches Schauspiel, genauer als ‚höllisches Meisterstück‘ (vgl. VF, S. 434). Alsbald aber ordnet er, der eigentlich im Angesicht der Leiche seiner Frau über die Maßen tragisch getroffen sein dürfte, das ihm Widerfahrene getreu dem Ideal eines notwendigen Handlungszusammenhangs in das große Ganze ein: „Höret Genueser – die Vorsehung, versteh ich ihren Wink, schlug mir diese Wunde nur, mein Herz für die nahe Größe zu prüfen? Es war die gewagteste Probe […]. Ich will Genua einen Fürsten schenken, wie ihn noch kein Europäer sah – […].“ (VF, S. 435) Wer seinen politischen Helden hier auf die Probe gestellt und vor allem mit dem Zufall geschlagen hat, ist, so ließe sich zuspitzen, der Dichter selbst. Fiesko wird eine ‚Wunde‘ verpasst, durch die seine politische Heldenmission nachhaltig gestört und in ihrer Kontingenz vorgeführt wird. Die nur scheinbar erhabene Überwindung dieser Verwundung besteht dementsprechend auch mitnichten in der von Fiesko antizipierten schicksalhaften Erfüllung seines heroischen Unternehmens; obschon der selbsternannte Herzog umgehend einen weiteren Akt in seinem Heldenstück plant, wenn er ankündigt, Leonores Beerdigung effektvoll politisch in Szene setzen zu wollen (vgl. VF, S. 435). Schiller zeichnet Fiesko, der kurz darauf von Verrina ermordet wird, weil er sich zum fürstlichen Herrscher aufschwingt (vgl. VF, S. 440), in den Schlussszenen als eine Figur, die sich nicht von ihrer heroischen Geschichte abbringen lässt, die trotz übelster Verwundung weiterzuspielen gedenkt, aber deren Spiel schließlich ein jähes und sicherlich nicht heroisches Ende findet. Bezeichnenderweise 803 Vgl. Aristot., poet., 11, 1452a29–33; 11, 1452a36–38; 16, 1455a16–18. 804 Aristoteles erwähnt hier zwar die Möglichkeit einer Anagnorisis „bei leblosen Gegenständen oder zufälligen Ereignissen“ (Aristot., poet., 11, 1452a34–35), kontrastiert diese aber sogleich mit den poetisch überlegeneren Formen der Wiedererkennung, die „im eigentlichen Sinn zur Darstellung eines Handlungsverlaufs oder auch zum Handeln selbst gehör[en].“ (Aristot., poet., 11, 1452a36–38).
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spielt die Kleidung, die Fiesko während der Todesszene trägt, eine entscheidende Rolle: Dass der Graf nunmehr einen „herzoglichen Schmuck“ (VF, S. 437) angelegt hat, ist dem alternden Republikaner Verrina ein Dorn im Auge. Mehrfach fordert er Fiesko auf, sich des „häßlichen Purpur[s]“ (VF, S. 440) zu entledigen. Als beide im genuesischen Hafen über eine Schiffsbrücke laufen, ergreift Verrina genau diesen purpurfarbenen „Mantel“, nimmt ihn Fiesko ab und stürzt den neuen „Fürst[en]“ (VF, S. 440) ins Meer, wo dieser ertrinkt. Der Verlust des Fürstenmantels, der bereits zu jener folgenschweren Verwechslung geführt hat, aufgrund derer es Fiesko gerade nicht ‚vergönnt‘ ist, den Tyrannen heldenmütig umzubringen, wird nunmehr zum symbolischen Vorboten seiner eigenen Ermordung, der im Übrigen nicht einmal ein standesgemäßes Duell ‚von Mann zu Mann‘ vorangeht, in dem Fiesko seine kämpferische Tatkraft unter Beweis stellen könnte: FIESKO Was zerrst du mich so am Mantel? – er fällt! VERRINA mit fürchterlichem Hohn: Nun, wenn der Purpur fällt, muß auch der Herzog nach. er stürzt ihn ins Meer. FIESKO ruft aus den Wellen: Hilf Genua! Hilf! Hilf deinem Herzog! sinkt unter. (VF, S. 440)
Es ist ein politisch motivierter Mord, der aber so beiläufig und unspektakulär daherkommt, dass er sicherlich nicht als heldisches Ende bezeichnet werden kann.805 Jemand, der unter Hilferufen in den Fluten des Ligurischen Meeres nahezu unbeachtet ertrinkt, soll als ‚Genuas größter Mann‘ in die Geschichte eingehen? Doch damit nicht genug: Der dramatische ‚Finger des Ohngefährs‘ erhebt sich in einer das Heldenbild des Grafen noch post mortem weiter zerstörenden Schlusspointe ein allerletztes Mal. Der vor die Stadtmauern geflüchtete Altherzog Andreas erweist sich dabei als den Verschwörern mindestens ebenbürtiger politischer Spieler: Er schickt seinen Diener nach Genua, und zwar ausgestattet mit dem Requisit einer seiner „eisgraue[n] Haarlocke[n]“ (VF, S. 436), das die Bürger an seine jahrelange und noch anhaltende Verbundenheit mit der Stadt erinnern soll. Diese Geste, so die Suggestion des Textes, hat den Effekt, dass sich der republikanische Wind am Ende des Stücks zu Andreas’ Gunsten und gegen den mittlerweile toten Fiesko wendet. So wird der 17. und letzte Auftritt des Stücks, der die Verschwörer und das Volk versammelt, mit einem Schrei (vgl. VF, S. 441) eröffnet, der den inzwischen eingetretenen, mehr als raschen politischen Umschwung auf den Begriff bringt: „KALKAGNO schreit: Fiesko! Fiesko! Andreas ist zurück, halb Genua springt dem
805 Wenn Kleinschmidt (2001) darauf hinweist, dass Fieskos in den Überlieferungen zufällig eintretender Tod „das vertraute Modell heroischer Tragik“ (S. 108) gefährdet, dann trifft dies für Schillers Zuschnitt der Szene ebenso zu.
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Andreas zu. Wo ist Fiesko?“ (VF, S. 441) Auf Fieskos Ableben wird diese Änderung der politischen Windrichtung nicht zurückgeführt, denn die Todesnachricht verkündet Verrina erst in der Folgezeile (vgl. VF, S. 441). Diese Variante der Frage nach dem Ort des Helden hat nichts mit der etwa im Tell während der feierlichen Bruderbund-Versammlung aufkommenden Frage nach dem ersehnten und unglücklicherweise abwesenden „Stifter“ (WT, V. 3083) zu tun. Fiesko ist schlicht „[e]rtrunken“, oder besser: „[e]rtränkt“ (VF, S. 441), wie sein eigener Mörder die längst (wieder) dem alternden Fürsten zugewandte Menge kurz und knapp, ohne Anzeichen eines Schuldbewusstseins wissen lässt. Betont wird diese ‚zufällige Wendung‘ noch dadurch, dass ausgerechnet auch der überzeugteste Republikaner sein Fähnchen nach dem herrschenden politischen Wind dreht. So beschließt Verrina das Stück mit dem Satz „Ich geh zum Andreas.“ (VF, S. 441) Damit führt das Drama abermals vor, dass sich das politische Spiel durch eine Pluralität von je mit Notwendigkeitsanspruch auftretenden Geschichten bzw. Inszenierungen konstituiert, deren Erfolg letztlich so unvorhersehbar und unbeständig wie das Wetter ist. Mehr noch wird durch die Exponierung der von den antagonistischen Akteuren und auch vom Helden selbst betriebenen Bildpolitik der vermeintlich unterkühlten Machtpolitik eine emphatische Politik der Sinne zur Seite gestellt, die sich sicherlich nicht bloß als edukative Mission auf Schillers ‚Menschen‘ richtet,806 sondern die in reflektorischem Gestus demonstriert, dass Republiken ebenso wie Fürstentümer nicht im „Kabinet“, sondern allererst in den „Herzen“ (VF, S. 318) der Menge entstehen. Schillers Heldendrama zeugt damit allen voran von einer unhintergehbaren Affektivität und Irrationalität des Politischen. Zusätzlich, und darin unterscheidet sich das Drama von allen anderen in dieser Arbeit besprochenen Stücken, handelt es sich bei Fiesko um einen Helden, der eben nicht in den politischen Kernszenen abwesend ist, sondern um einen, der voller Berechnung eine heroische Selbstinszenierung betreibt. Schiller lässt, so lautet meine Schlussfolgerung, Fiesko als Helden grandios scheitern, weil sich dieser selbst als Held versteht. In allen anderen hier diskutierten Dramen ist es ein wesentlicher Punkt, dass die Held*innen gerade nicht gezielt auf das ihnen zugesprochene Charisma setzen bzw. sich dessen bewusst wären;
806 Eine solche Lesart vertritt Meier (2009), der zwar die Kategorien von ‚Affekt‘ und ‚Gefühl‘ als entscheidende Textkomponenten herausarbeitet, diese aber ausschließlich im Rahmen einer im Fiesko projektierten politischen Rezipientensteuerung untersucht. Die wirkungsästhetische Einflussnahme „auf die Affektstrukturen“ ziele auf den empfindsamen Schaubühnengänger und weiter auf die konkrete Maßnahme von dessen „Einübung in den Republikanismus“ (S. 46). Ein derartiges Programm einer Erziehung zum Republikanismus sieht die vorgenommene Analyse im Text nicht bestätigt.
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sie werden dennoch als Held*innen gefeiert. Ein charismatischer Held – und als solcher wird Fiesko zu Beginn des Stücks fraglos eingeführt –, der aktiv und strategisch an seiner eigenen Heroisierung arbeitet und der noch darüber hinaus nicht nur zum Helden, sondern zum Herrscher werden will, ist, folgt man Schillers dramatischer Analytik, am Ende kein Held mehr,807 sondern verschwindet in den Fluten oder besser: fällt einer dramatischen Verschwörung gegen ihn zum Opfer, die mit dem Zufall operiert808.
3 Der Meisterschütze. Wilhelm Tell „Doch nicht den Tell erblick’ ich in der Menge.“ (WT, V. 1097) Die Tatsache, dass Schillers Titelheld nicht zu den „drei und dreißig“ (WT, S. 426) auf dem Rütli versammelten Bundesbrüdern zählt, wird mancherorts angemerkt. Sie dient dieser Studie, wie in der Einführung beschrieben, zum ebenso irritierenden wie signifikanten Ausgangspunkt. Tells Abwesenheit ist, das macht das obige Zitat deutlich, eine Abwesenheit von der ‚Menge‘. In Frage steht seine Rolle im Rahmen des republikanischen Revolutionsprojekts, um das Schillers letztes vollendetes Drama kreist. Durch die Zentralstellung der Themen ‚Republikanismus‘ und ‚Revolution‘, aber auch durch die Wahl genau dieses Protagonisten809 nimmt
807 In seiner Wallenstein-Trilogie gestaltet Schiller ein ähnliches Figurenprofil des Charismatikers, der sich seines Charismas erstens bewusst ist und der zweitens klare Herrschaftsambitionen hegt. Allerdings wird hier ein insofern von weit intensiverer tragischer Dignität getragener Konflikt gestaltet, als der Text keinen selbstvergessenen player im wahrsten Sinne des Wortes vorführt, sondern die charismatische Bindungskraft eines mächtigen Generals breit ausschreibt. Der Unterschied zwischen beiden Dramen ist recht einfach zu benennen, liegt er doch in der Art und Weise, wie jeweils die ästhetische Dimension des Charismas konturiert wird: Schiller gestaltet den künstlerischen Zug der Wallenstein’schen Führungspraxis wesentlich seriöser als im Fiesko. Zwar verfolgen beide Figuren ein machtpolitisches Kalkül, wobei Fiesko ein von ihm selbst so benanntes komödiantisches „Possenspiel“ (VF, S. 363) betreibt, während Wallenstein über weite Strecken der Trilogie als ein auf politischem Terrain extrem erfolgreiches „Künstlergenie“ (Riedl (2006), S. 98) in Szene gesetzt wird. Der jenem Sternengläubigen zugeschriebene ästhetische Dezisionismus verdichtet sich in der Bezeichnung Wallensteins als eines „große[n] Rechenkünstler[s]“ (W, V. 2853). Letztlich aber teilt Wallenstein Fieskos Schicksal: Auch Wallensteins Machtkalkül geht am Ende nicht auf. Schiller streut vor allem im letzten Teil der Trilogie fortwährend Hinweise, dass das exzessive Machtstreben des Herzogs auf irrationale Bahnen gerät, ja aufgrund von Fehlurteilen und –entscheidungen, die der Text nicht zuletzt seinem Größenwahn anlastet, zum Scheitern verurteilt ist; dies annonciert ja bereits der spoilerförmige Titel Wallensteins Tod. 808 Vgl. auch meine früheren Überlegungen Rocks (2015). 809 „Die Französische Revolution hatte den legendären Schweizer Volkshelden Tell zu ihrem Schutzpatron erklärt, und die unter dem Einfluß dieser Revolution gegründete helvetische Repu-
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das Tell-Schauspiel eindeutigen Bezug auf die zeitgenössische Polit-Historie, v. a. auf die Französische Revolution und die Gründung der helvetischen Republik.810 Meiner Lektüre kommt es, ausgehend von diesen zeitgeschichtlichen Bezügen, darauf an, den politischen Problemhorizont im Tell als literarische Laborsituation zu beschreiben. Ganz in diesem Sinne sieht Koschorke in der Rütlischwurszene „eine kühl kalkulierte Versuchsanordnung“811, welche die Bedingungen republikanisch-revolutionärer Gemeinschaftsbildung verhandelt.812 Es geht also weniger darum, die konkreten Referenzen des Textes auf das politische Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts aufzuzeigen und ebenso wenig darum, Schillers Drama eine konzise Stellungnahme etwa zur Französischen Revolution und den ihren Prozess sowie ihre Rezeption begründenden und begleitenden Philosophemen abzuringen.813 Der Text spielt – auf abstrakterer Ebene – die symbolischen und repräsentationslogischen Voraussetzungen eines vermeintlichen Schweizer Revolutionsidylls durch, und dies mit einem analytischen Impetus, der die imaginären Konstituenten der Republikwerdung hervortreten lässt.814 Dabei möchte ich das Augenmerk aber nicht nochmals auf die emphatischen Kollektivszenen des Stücks richten, wie es Koschorke und Lüdemann leisten, sondern dem Zusammenhang des republikanischen Gründungsaktes mit dessen erklärtem Gründungshelden nachgehen: die Menge und Tell.
3.1 Der ‚geringe Mann‘ und die ‚fürstliche Tat‘. Zweifel an Tells Heroismus Dass sich dieser Zusammenhang in Schillers Stück problematisch gestaltet, wird nicht nur in der Forschung immer wieder bemerkt.815 Mehr noch sei dieser, so
blik führte ihn als eine Art Nationalheiligen sogar in ihrem Wappen.“ (Koschorke (2003), S. 107). Vgl. weiter Alt (2009/2), S. 568–569. 810 Vgl. Koschorke (2003); Lüdemann (2007g). 811 Koschorke (2003), S. 107. 812 Auf die gleiche Grundidee in einfacherer Formulierung hingewiesen wird man bei Borchmeyer (1973): „Er [Schiller] versucht in seinem Drama ein Volk auf dem Wege […] zu einem republikanischen Gemeinwesen zu schildern […].“ (S. 188). 813 Vgl. für einen kritischen Überblick dazu: Knobloch (1998), S. 502–510. Vgl. Alt (2009/2), S. 572–580. 814 Vgl. in diesem Sinne Lüdemann (2007h): „Die Idylle entfaltet einen politischen Traum, aber sie bezeichnet ihn als solchen und markiert zugleich die Stelle, an der dieser Traum politisch wirksam werden kann: da, wo er hilft, den ‚mystischen Grund der Autorität‘ durch eine ‚wohltätige Täuschung‘ zu überblenden.“ (S. 315). 815 Vgl. exemplarisch Guthke (1994), der die Isolierung der Tell-Handlung vom Revolutionsgeschehen als „Crux jeder Interpretation“ des Dramas bezeichnet, sofern „sie nicht einfach in das
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die Meinung eines bekannten politischen Feuilletonisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem Dichter gründlich missraten: „Ihm zittert das Herz, ihm zittert die Hand, welche formen soll, und formlos schwanken die Gestalten.“816 – So zumindest lauten die Eingangszeilen von Ludwig Börnes Rezension zum Tell. Dass dem Dichter beim Verfassen des Schauspiels Hand und Herz gezittert hätten, bildet den polemischen Ausgangspunkt in Börnes Besprechung, die im Fortgang zahlreiche „Fehler des Gedichts“817 dingfest zu machen versucht. Defizitär, ja eine ‚schwankende Gestalt‘ sei insbesondere der Protagonist selbst, und zwar gerade in seiner Heldenrolle, d. h. im Hinblick auf sein Verhältnis zum Volk. Und so kapriziert sich die Kritik darauf, Schiller sei bei der figuralen Komposition seines Helden allenfalls halbherzig, eben mit zitterndem Herzen vorgegangen. Derart „linkisch[ ]“818, kleinbürgerlich, devot, ängstlich, verbal verstockt, unbeholfen sei Tell geraten,819 dass es Börne rätselhaft scheinen muss, wie ein solcher Mann – „mutig mit dem Arm und furchtsam mit der Zunge“820 – zum Helden taugen solle. Es bestehe allen voran eine erhebliche Diskrepanz zwischen Tells schlichter Geisteshaltung und seiner heroischen Tatkraft: Wie könne man einen „so geringen Mann“821 eine so „fürstliche Tat“822 begehen lassen? Börne sieht durch die Figurenzeichnung des Titelhelden denn auch vornehmlich die politische Dramenhandlung, „die ernste Feier“823 des Bundesschlusses, in Gefahr, ins Lächerliche abzudriften, und hält sogar die ebenso „ernste[ ] Würde der Tragödie“824 durch Tell für bedroht. Anstatt dem gewiss irritierenden Zuschnitt des Helden und seinem Verhältnis zur Revolutionshandlung genauer nachzugehen, unterbreitet Börne im Folgenden zwei Vorschläge, wie der Dichter seine zitternde Hand hätte still stellen können; er weist gewissermaßen den Weg zu einem politischen Drama von ‚ernster Würde‘. Die erste Option besteht in einem dezidiert republikanischen Drama, in dem sich das Volk als alleiniger politischer Handlungsträger behauptet: „Man muß das Bürgervolk nur immer in Masse kämpfen lassen; man darf keinen Helden aus seiner Mitte an seine Spitze stellen. Der schönste Kampf
Hurra auf den Stifter der helvetischen Freiheit einstimmt und ‚glückliche Symbiose‘ und ‚bruchlose‘ Verbindung konstatiert […].“ (S. 289). 816 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 813. 817 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 813. 818 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 813. 819 Vgl. Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 814, 816. 820 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 814. 821 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 814. 822 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 814. 823 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 814. 824 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 815.
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kommt in Gefahr, dadurch lächerlich zu werden.“825 Die Rolle des exzeptionellen und tatkräftigen Einzelnen wäre aus dieser Version eines Schweizer Revolutionsstücks getilgt, die Heldenrolle übernähme das Kollektiv, das seinen ‚schönen Kampf‘ kämpft; dass hier ein Sympathisant des Jungen Deutschland spricht, ist unverkennbar. Doch enthält Börnes Besprechung noch einen zweiten Hinweis, wie Schiller sein politisches Sujet mit dem nötigen Ernst hätte angehen können, ohne dass dabei die Idee des Heroismus hätte aufgegeben werden müssen: Schiller führte uns mit Bedacht und Geschicklichkeit die Leiden der Schweizer vor Augen; wir sehen, was Baumgarten, Melchtal, Berta und die übrigen dulden und fürchten. Diese Leiden fließen endlich in ein Meer der Not zusammen, das alles bedeckt; diese Klagen bilden endlich eine Vereinigung, die das Land rettet. Tell aber ragt im Tun und Leiden zu monarchisch vor, gehört nicht zu dem topographischen Schicksale der Schweiz und ist übrigens der Mann nicht, eine monarchische Rolle zu spielen. Er ist zu ängstlich, bedenkt zuviel und duckt sich gern. Den Mann mit breiten Schultern füllt nicht ganz seine Seele aus. Warum ihn aber Schiller so behandelt, ist schwer zu erklären. Er hätte ihn alles tun, alles ertragen lassen, was er getan und ertragen, und ihn dabei trotziger, hochsinniger, gebietender machen können. Wilhelm Tell bleibt aber doch eines der besten Schauspiele, das die Deutschen haben. Es ist mit Kunstwerken wie mit Menschen: sie können bei den größten Fehlern liebenswürdig sein.826
Börne wiederholt hier seine Auffassung, dass ohnehin nur das Volk als veritabler politischer Agent des Stücks gelten könne: Das Volk sei es, das unter dem Regime der Vögte leide; es bilde die „Vereinigung, die das Land rettet“827. Tell oder besser: Derjenige, der die Rolle des exponierten, heroischen Einzelnen spielt, sei im Grunde genommen von vornherein obsolet: Der Held ist in Börnes Verständnis eine ‚zu monarchische‘ Figur, die das republikanische Projekt zu überblenden droht. Wenn sich Schiller aber schon entschieden habe, die Heldenrolle zu besetzen, so hätte Wilhelm Tell ‚breitere Schultern‘ gebraucht. Zu unheroisch, weil nicht eigensinnig, erhaben, ja souverän genug ist Börne der Schiller’sche Held geraten: Wenn schon ein Held, dann ein richtiger Held, einer, der weiß, was er tut, und den in seinem politischen Handeln „der edle Trotz der Freiheit“828 antreibt. Anstatt aber erkennbar engagiert für die ‚Sache des Volks‘ zur „fürstlichen Tat“829 zu schreiten, entwerfe Schiller das Bild eines Mann, den „eine schnelle Hand und ein[ ] langsame[r] Kopf“830 kennzeichne. Dieser Held scheint nicht recht zum 825 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 816 [Hervorhebungen im Original]. 826 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 818. 827 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 818. 828 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 815. 829 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 814. 830 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 814.
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emphatisch in Szene gesetzten Revolutionsgeschehen des Stücks zu passen und so bemängelt denn auch Börnes von republikanischem Pathos getragene Besprechung den Umstand, dass Tell eben nicht als 34. Mann auf dem Rütli erscheint, „wo die Besten des Landes zusammenkommen“831. Börnes feuilletonistisches und politisch gefärbtes Urteil zum Tell verzeichnet etwas als ‚Fehler‘, was meiner Interpretation zufolge konstitutiver Bestandteil von Schillers dramatischer Analytik des dargestellten republikanischen Gründungsaktes ist. Für diese Analytik ist Tells eigentümliche Abwesenheit – eine bisweilen mentale, bisweilen physische Absenz – zentral: Das Drama zeichnet das Bild eines Helden, der sich zu keinem Zeitpunkt erklärtermaßen der vom Volk getragenen politischen Bewegung anschließt oder sich gar davon ergriffen zeigt. Umgekehrt aber vermag Tell das Volk mit seinen Taten nachhaltig zu ergreifen, die Revolutionsgemeinschaft schließt den Helden ein. Ich möchte zeigen, dass sowohl der Apfelschuss als auch der Geßlermord für die revolutionäre Symbolpolitik von immenser Bedeutung sind, ohne dass Wilhelm Tell dabei dem Kurs der Bundesbrüder folgen würde oder gar eine eigene, genuin politische Agenda ins Werk setzen würde. Während Börne Tell für einen gründlich missratenen, weil politisch ‚unterbelichteten‘ Volkshelden hält, argumentiere ich, dass gerade in Tells entrückten Geisteszuständen, in seiner mitunter politischen Indifferenz Schillers analytische Pointe liegt. Der Text zeigt ihn als ‚Mann mit den breiten Schultern‘ und markiert gleichzeitig in aller Deutlichkeit die Sphäre, in der er zum Helden wird und als Held persistiert: Ausgerechnet der Schütze mit der ‚schnellen Hand und dem langsamen Kopf‘ wird zum Nationalhelden, nicht indem er als edel-trotziger Freiheitskämpfer direkt am Bundesschluss partizipiert, sondern indem er sich durch seine Taten in den Köpfen und Herzen der Bundesbrüder festsetzt. Börnes Irritation darüber, dass Schiller die Heldenrolle mit einer dafür ‚ungeeigneten‘ Figur besetzt, fußt auf einem bestimmten Bild des politischen Helden, und zwar als eines bewussten, eigensinnigen Überzeugungstäters, der erklärtermaßen im Dienste der Gemeinschaft steht. Das Drama zielt indessen weniger darauf, eine bruchlose Verbindung von Held und Volk zu demonstrieren, sondern rückt den Vorgang der Heroisierung ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Es wird vorgeführt, dass und wie einer zum Nationalhelden werden kann, der statt auf dem Rütli lieber bei Frau und Kindern weilt oder mit Pfeil und Armbrust durchs Gebirge zieht. Schiller unterläuft, wie zu zeigen sein wird, kein kompositorischer Lapsus, wenn er beachtliche Mühen darauf verwendet, seinen Helden einerseits vom republikanischen Sujet zu entfernen und andererseits Tells unaufhaltsamen Aufstieg zum Schweizer Gründungsheros in Szene zu setzen. Vielmehr entsteht
831 Börne, zit. n. Luserke (1996), S. 815.
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dadurch, dass Tells Weg zum Nationalhelden auf eine Weise nachgezeichnet wird, die erhebliche Zweifel am vernünftigen bzw. sachlichen Grund seines Heldenstatus aufkommen lässt, ein ebenso skeptisches wie subtil argumentierendes politisches Drama, dem es weniger um eine ‚ernste Würde‘ des Revolutionsgeschehens als um dessen imaginäre Konstituenten zu tun ist.
3.2 ‚Der Hut auf der Stange‘ Schiller lenkt die Aufmerksamkeit in der letzten Szene des dritten Aufzuges des Schauspiels, in der sich der Apfelschuss ereignet, bereits in der vorangestellten Didaskalie auf das zentrale Requisit: „Wiese bei Altorf. Im Vordergrund Bäume, in der Tiefe der Hut auf einer Stange. […] Frießhardt und Leuthold halten Wache.“ (WT, S. 447) Im sichtbaren Hintergrund und visuellen Fluchtpunkt der Bühne befindet sich also der Hut des Despoten Geßler, ein mehr als deutliches Symbol herrscherlicher Gewalt – es stimmt die Szene auf das sie dominierende Sujet ein. Mittels dieser Anordnung symbolträchtiger Requisiten im Bühnenraum etabliert das Drama ein der Repräsentationslogik des Absolutismus folgendes Sichtbarkeitsregime, das den Blick des dramatischen Ensembles und der Zuschauer*innen in die Höhe zwingt. Dass die Souveränität des Reichsvogts dennoch zur Disposition steht, bezeugen wiederum schon die Eingangszeilen der Szene, in denen der Wachmann Frießhardt seinen Kollegen ernüchtert wissen lässt: „Wir passen auf umsonst. Es will sich niemand/ Heran begeben und dem Hut seinʼ Reverenz/ Erzeigen.“ (WT, V. 1732–1734). Auch Leuthold diskreditiert den Dienst am Hut auf der Stange als „Schimpf für einen Rittersmann“ (WT, V. 1754) und mehr noch als „närrische[n] Befehl“ (WT, V. 1758). Dass der mit dem Hut verbundene Befehl, sich im Vorübergehen vor ihm zu verbeugen, in der Tat keine Welle des Gehorsams nach sich zieht, wird deutlich, als kurz darauf drei Bäuerinnen mit ihren Kindern die Bühne betreten. Sie postieren sich um die Stange, vollführen aber keineswegs die vom Reichsvogt geforderte Ehrbezeugung. Im Gegenteil ist ein despektierlicher Kommentar zu vernehmen: MECHTHILD Da hängt der Landvogt – Habt Respekt, ihr Buben. ELSBETH Wollts Gott, er ging, und ließ uns seinen Hut, Es sollte drum nicht schlechter stehn ums Land! (WT, V. 1765–1767)
Mögen Frauen und Kinder politisch so wenig ernst zu nehmende Subjekte sein, dass sie ob ihres offensiven Ungehorsams von den Wachleuten bloß verscheucht werden, setzt Frießhardt immerhin zu der Minimaldrohung an, die Bäuerinnen mögen ihre Männer schicken, „[w]enn sie der Muth sticht, dem Befehl zu trotzen.“ (WT, V. 1770)
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Alsbald betritt der entscheidende Mann des Stücks mit seinem Sohn und mit geschulterter Armbrust die Bühne und zwar, so die Didaskalie, ohne dem Hut Beachtung zu schenken (vgl. WT, S. 449). Von dessen Bedeutung muss er allemal wissen, war er doch dabei, als dieser in Altdorf aufgestellt und die entsprechende Anordnung Geßler verlautbart wurde (vgl. WT, V. 387–414). Warum Tell die geforderte Verbeugung unterlässt, bleibt bei Schiller „merkwürdig unklar“832, zumal er von seinem Sohn explizit auf den Hut aufmerksam gemacht wird (vgl. WT, V. 1815). Die naive Beiläufigkeit, mit der er Walther jenes „Was kümmert uns der Hut? Komm, laß uns gehen.“ (WT, V. 1816) entgegnet, spricht jedoch ohne Zweifel dagegen, dass hier in bewusstem Trotz gegen die lokale Autorität aufbegehrt würde.833 Der Fortgang der Szene ist bekannt: Die Wachleute wollen den Ungehorsamen verhaften, einige Landleute ergreifen Partei für Tell, eine handgreifliche Auseinandersetzung steht kurz bevor, bis der Reichsvogt höchstpersönlich mit großem Gefolge auftritt.
3.3 Held vs. Herrscher: Der Apfelschuss als Heldenprobe Tell nun begibt sich, bevor ihm von Geßler jene ‚ungeheure‘ (vgl. WT, V. 1890, S. 453) Tat abverlangt wird, den legendären Apfel vom Kopf des eigenen Sohnes zu schießen, offensiv in die Rolle des devianten Untertanen: Der selbsternannte Unbesonnene (vgl. WT, V. 1872) bittet den Vogt um Verzeihung, um Gnade und gelobt zudem umgehend Besserung (vgl. WT, V. 1870–1873). So tritt schlechterdings kein schießwütiger Revolutionär auf. Als solchen fasst ihn Geßler auch nicht auf, jedoch als einen, der mitnichten so unbedeutend ist, wie es seine Selbstauskunft glauben machen will: „Du bist ein Meister auf der Armbrust, Tell,/ Man sagt, du nehmst es auf mit jedem Schützen?“ (WT, V. 1874–1875) Und jenes außerordentliche Geschick wird im direkt folgenden Einwurf von Tells Sohn stolz bekräftigt: „[…] Herr – ’nen Apfel schießt/ Der Vater dir vom Baum auf hundert Schritte.“ (WT, V. 1876–1877) Von Beginn an adressiert der Vogt nicht den befehlsbrüchigen Knecht, sondern den meisterhaften Schützen und weist Tell im Zuge dessen eine spezifische Position im politischen Spiel zu. Es kommt dem Machthaber, so meine Lesart, nicht in erster Linie darauf an, die Missachtung des Autoritätssymbols zu ahnden. Die Aufforderung zum Apfelschuss hat stattdessen zum Ziel, Tells Heldenruhm herauszufordern, wenn nicht gar zu
832 Klein (2007), S. 208. 833 Hahn (2006) vermerkt in diesem Sinne, Tells „Nichtbeachtung des Hutes […] scheint tölpelhaft, zumal sie nicht als Provokation gedacht war“ (S. 39).
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brechen, da Geßler fortgesetzt und spöttisch auf Tells herausragendes Talent als Armbrustschütze sowie auf seine öffentliche Beliebtheit rekurriert. Die brutale Nervenprobe erklärt der Machthaber daher zum heroischen Abenteuer, dem nur ein Besonderer gewachsen sei: Man sagte mir, daß du ein Träumer seyst, Und dich entfernst von andrer Menschen Weise. Du liebst das Seltsame – Drum hab’ ich jetzt Ein eigen Wagstück für dich ausgesucht. Ein andrer wohl bedächte sich – Du drückst Die Augen zu, und greifst es herzhaft an. (WT, V. 1903–1909)
In diesem Passus, der Geßlers Wissen um Tells Heldenimage demonstriert, und auch im Folgenden entfernt sich die Rhesis zunehmend vom eigentlichen Anlass der Auseinandersetzung. Der dramatische Spannungsbogen speist sich aus den penetranten Hinweisen des Vogts auf Tells heroische Begabung und den flehenden Einwürfen der Versammelten. Ausgehend von Tells Befehlsbruch spielt die Apfelschussszene weniger die Exekutionslogik absolutistischer Herrschergewalt durch, sondern bildet vielmehr den Ausgangspunkt für einen showdown zwischen herrscherlicher Souveränität und heroischer Tatkraft.834 Für diese Deutung spricht, dass die Konfrontation zwischen Tell und Geßler im Drama eine Vorgeschichte hat. In einem früheren Aufeinandertreffen habe sich Geßler zu einer Geste der Schwäche hinreißen lassen: Tell, der von seiner Frau Hedwig sorgenvoll als permanent vom Tode bedrohter, „verwegene[r] Alpenjäger“ (WT, V. 1504) tituliert wird, berichtet dieser zu Beginn des dritten Aufzuges, den Vogt allein auf einem engen Felsweg getroffen zu haben. Dort sei Geßler aus Furcht vor ihm erblasst, erzittert, ja in die Knie gesunken (vgl. WT, V. 1561–1563). Hedwig schätzt die Provokation, die aus dieser Begegnung für den Herrscher erwächst, realistisch ein, wenn sie Tell zu bedenken gibt: „Er hat vor dir gezittert – Wehe dir!/ Daß du ihn schwach gesehn, vergibt er nie.“ (WT, V. 1570–1571) Dass der Vogt in der Tat nicht vergeben hat und der Apfelschuss auch vor diesem Hintergrund zur Machtprobe zwischen Herrscher und Held wird,835 tritt deutlich zu Tage, wenn Geßler seinen herausfordernden Spott noch weiter treibt und überdies seine genuin herrscherlichen Kompetenzen, das Recht zu töten sowie zum souveränen Gnadenerweis, ins Feld führt:
834 So auch Haas (2015), S. 130. 835 Klein (2007) bezeichnet die Konfrontation zwischen Tell und Geßler nicht unpassend als „großes heroisches Spiel unter Männern“ (S. 212). Seine Beschreibung lässt jedoch das Machtgefälle zwischen Held und Herrscher außer Acht, das die Szene in ihrer politischen Brisanz konstituiert.
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[…] Was zauderst du? Dein Leben ist verwirkt, ich kann dich töten, Und sieh, ich lege gnädig dein Geschick In deine eigne kunstgeübte Hand. […] Du rühmst dich deines sichern Blicks. Wohlan! Hier gilt es, Schütze, deine Kunst zu zeigen, Das Ziel ist würdig und der Preis ist groß! Das Schwarze treffen in der Scheibe, das Kann auch ein andrer, der ist mir der Meister, Der seiner Kunst gewiß ist überall, Dems Herz nicht in die Hand tritt noch ins Auge.836 (WT, V. 1930–1941)
Tell, vom Reichsvogt hier zum wiederholten Mal als herausragender sowie kunstfertiger Schütze adressiert, wird etwas abverlangt, was seine Rolle als devoter Untertan weit übersteigt. Das heldenhafte Unterfangen erfordert, folgt man Geßlers provokanter Rede, ein Ausblenden jedweder emotionaler Regung bei vollständiger Beherrschung des Körpers, vor allem des Seh- und Tastsinns: Das Herz dürfe weder Hand noch Auge des Helden beeinflussen. Indem der Vogt Tells Sohn zur Zielscheibe bestimmt, erhöht er zudem den psychischen Druck auf den Schützen enorm; ein missglückter Schuss könnte neben der sportlichen Demütigung den Tod Walthers durch des Vaters eigene Hand bedeuten. Für den Schützen also gilt es, sein väterliches Herz temporär zu überwinden, was die affektive Anspannung der Szene noch weiter steigert.
3.4 Augenmaß: Heroische Sinneskraft Der Passus hat mithin exemplarische Bedeutung, denn die gesamte Szene durchzieht ein auf den optischen Sinn konzentriertes dichtes Motiv- und Metaphernnetz, das den Helden als politischen Akteur inszeniert, der seine Sinne – vor allem seine Augen – und auch die Sinne der anderen, insbesondere deren Blicke, zu führen vermag (vgl. WT, V. 1909, 1936, 1942, 1959–1962, 1966, 1983, S. 457, V. 2005, 2016).837 Von Tells sicherem Blick ist da die Rede, der ihm ‚Ruhm‘ einbringt, ihm also vice versa die bewundernden Blicke sichert (vgl. WT, V. 1936). Geßlers
836 Hervorhebungen im Original. 837 Auch Cersowsky (2007) konstatiert eine „Prädominanz des Optischen“ (S. 106) im Stück. Allerdings sieht er dies nicht im Zusammenhang mit dem politischen Thema, sondern deutet die Exponierung des Sehsinns im Sinne einer von Schiller verfolgten gattungsspezifischen Wirkungsästhetik (vgl. S. 106). Ähnlich bezeichnet auch Utz (1990) das in der Apfelschussszene dargestellte Geschehen als „Augen-Kunst“ (S. 79), wobei er eine politische Implikatur der Szene herausarbeitet.
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spöttischer Rekurs auf Tells ‚Adlerauge‘, das die Augen aller auf sich zu ziehen vermag, steht in scharfem Kontrast dazu, dass die eigene Strategie des Vogts, die Blicke der politischen Gemeinschaft auf sich zu ziehen, gänzlich versagt. Sein Versuch, die Blickregie mit Hilfe des auf der Stange drapierten Hutes zu übernehmen, ist von Beginn an nichts als der besagte ‚närrische Befehl‘. Mehr noch aber gehört es, so Geßler, zur heroischen Tatkraft eines Meisterschützen, die Augen zum richtigen Zeitpunkt schließen zu können: Die mit einiger Süffisanz vorgetragene Bemerkung „Du drückst/ Die Augen zu und greifst es herzhaft an.“ (WT, V. 1908–1909) spielt auf die Fähigkeit an, wenn nötig jeden Zweifel auszublenden und zur Tat zu schreiten. Schiller wählt in der Apfelschussszene ein Beschreibungsregister, das Tells heroisches Geschick insbesondere als Herrschaft über den optischen Sinn ins Bild setzt. Auch das Verhalten von dessen Sohn ist in diesem Zusammenhang signifikant: Walther Tell lehnt es entschieden ab, sich vor dem Schuss die Augen verbinden zu lassen (vgl. WT, V. 1960–1961), weil er vom Gelingen der heroischen Mission des Vaters überzeugt ist. Walther wird dergestalt als prospektiver Nachfolger des Helden in Szene gesetzt, der seinerseits ein souveränes Auge zu beweisen antritt: Er sieht dem Schuss unerschrocken und ohne mit der sprichwörtlichen Wimper zu zucken entgegen (vgl. WT, V. 1961–1962), ja fordert den Vater sogar noch unmissverständlich zur gegen den Vogt gerichteten Machtdemonstration auf: „Dem Wüttrich zum Verdrusse, schieß und triff.“ (WT, V. 1965) Wiederum ist es hier eine exzeptionelle Beherrschung des Sehsinns, die Schiller in seiner Zeichnung des Helden bemüht. Dass Walther gewissermaßen noch in den Kinderschuhen steckt und dass sich sein Heldentum in jener Nervenprobe auf ein passives Erdulden beschränken muss, fügt sich in das hier angedeutete Narrativ vom ‚Heldensohn‘; Walther gibt sich, mit einem Wort Georg Kleins, als „Spross vom selben Holze“838 zu erkennen. Im Fortgang des Textes wird diese am Motiv des Auges entwickelte Verbindung von Sinneskraft und politischem Heldentum weitergesponnen; und dies meiner Lesart zufolge auch auf einer poetologischen Bedeutungsebene. Dass das Drama in diesen Passagen den Zusammenhang von Sinnlichkeit und Macht reflektiert, bemerkt Utz.839 Im Unterschied zur hier verfolgten Deutung geht er aber davon aus, dass der Apfelschuss ein machtkritisches und ein – das Projekt der Ästhetischen Briefe fortschreibendes – publikumszentriertes Entfremdungsszenario gestaltet, in dem Tell als Leidtragender der gefühlsarmen Machtdemonstration des Vogts figuriert wird. Aus einer solchen Perspektive muss man 838 Klein (2007), S. 211. Vgl. auch die Rezension zur Erstausgabe des Tell in der Zeitung für die elegante Welt (Nr. 123, vom 13.10.1804), in der geurteilt wird: „Walther Tell dagegen spricht wie ein Mann und gebehrdet sich wie ein Held.“ (Zit. n. Luserke (1996), S. 773). 839 Vgl. Utz (1990), S. 79.
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das im Text präsentierte Machtgefälle anders deuten: Geßler trete in der Rolle des herzlosen Despoten auf, der Tell die ebenso gefühlskalte Ausführung des Befehls abverlange; Geßler fordere „die Isolierung des Auges, seine Abtrennung von Tells väterlichem ‚Herz‘“840. Vernachlässigt wird dabei, dass nicht nur der Vogt Macht ausübt. Meiner Lesart zufolge kreist die Szene keinesfalls nur darum, ein emotionales Defizit der herrscherlichen Macht vorzuführen, sondern darum, die sinnlichen Bedingungen politischer Macht auszuloten. Aus dieser Perspektive ist die Tell-Figur nicht nur ex negativo am im Text verhandelten Nexus von Sinnlichkeit und Herrschaft beteiligt; sein heroisches Handeln demonstriert vielmehr genau diesen Zusammenhang, indem seine gesteigerte Sinneskraft die Blicke der anderen auf sich zieht. Tell zeigt sich in der Folge für einen kurzen Moment ähnlich schwach wie der Vogt während der Begegnung auf dem abgelegenen Felsweg. Sein Verhalten deckt sich recht genau mit Geßlers Angstattacke in den Bergen: Von Zittern, bebenden Händen und wankenden Knien ist in Stauffachers Beschreibung die Rede (vgl. WT, V. 1981–1982). Viel wesentlicher ist aber, dass gerade das Adlerauge des Meisterschützen, Symbol seiner heroischen Handlungskraft, temporär versagt, wenn dieser die Armbrust sinken lässt und verzweifelt konzediert: „Mir schwimmt es vor den Augen!“ (WT, V. 1983) Der sich seiner ausweglosen Lage nunmehr schmerzlich bewusst werdende Tell selbst ist es, der den Regenten in aller Drastik an die souveräne Verfügungsgewalt über das Leben des Untertanen erinnert, wenn er sich die Brust entblößt und Geßler auffordert, ihn zu töten und ihm im Gegenzug den Schuss zu erlassen (vgl. WT, V. 1984–1985, S. 456). Geßlers Replik macht überdeutlich, dass hier mitnichten absolutistisches Recht an einem Untergebenen exerziert werden soll, sondern dass es der Vogt darauf abgesehen hat, Tells Autorität dadurch zu unterminieren, dass dieser in der Heldenrolle versagt. So bestimmt der Despot in abermals explizit spöttischem Rekurs auf Tells heroische Talente: „Ich will dein Leben nicht, ich will den Schuß./ – Du kannst ja alles, Tell, an nichts verzagst du,/ Das Steuerruder führst du wie den Bogen,/ Dich schreckt kein Sturm, wenn es retten gilt,/ Jetzt, Retter, hilf dir selbst – du rettest alle!“ (WT, V. 1986–1990) Der nicht gewagte oder misslingende Meisterschuss ist es, dessen der Herrscher bedarf, um das Bild des Helden zu untergraben, wenn nicht gar zu zerstören. Die eigentliche Gefahr für den Vogt besteht darin, dass Tell, gelingt ihm die eigene, ein übermenschliches Augenmaß erfordernde Rettung durch den Meisterschuss, eben ‚alle‘ rettet, d. h. das revolutionäre Geschehen und damit das Projekt einer schweizerischen Volkssouveränität vorantreibt – ohne dass Tell es
840 Utz (1990), S. 79.
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selbst darauf abgesehen hätte.841 Die nahezu prophetisch anmutende Einlassung des Vogts nimmt damit den in der letzten Szene des Stückes explizit allen (vgl. WT, S. 505) in den Mund gelegten Ruf vorweg: „Es lebe Tell! Der Schütz und der Erretter!“ (WT, V. 3281) Das Kollektiv erklärt Tell damit endgültig und gerade in seiner Eigenschaft als Meisterschütze zum Revolutionshelden.
3.5 ‚Der Apfel ist gefallen‘. Und niemand hat’s gesehen – Poetologische und politische Implikationen der Apfelschussszene Tells letzter Versuch, den Schuss abzuwenden, darf als gescheitert gelten, daran lässt das Insistieren Geßlers keinen Zweifel. Schiller zeigt daraufhin einen in höchster Verzweiflung mit sich ringenden Schützen und veranschaulicht dies erneut am Motiv des Auges: „Tell steht in fürchterlichem Kampf, mit den Händen zuckend, und die rollenden Augen bald auf den Landvogt, bald zum Himmel gerichtet […].“ (WT, S. 457) Mit den Worten „Es muß!“ (WT, V. 1991) trifft er sodann wohl oder übel alle Vorkehrungen zum Schuss, nimmt bekanntermaßen nicht nur einen, sondern zwei Pfeile aus dem Köcher und legt an (vgl. WT, S. 457). Trotz bereits angespanntem Bogen bleibt der erwartete Schuss zunächst aus. Stattdessen wird im Text ein Dialog-Intermezzo eingeschaltet, das allerdings nur vordergründig eine retardierende Wirkung für den unbestreitbaren Höhepunkt der Szene hat. Geßlers Gefolgsmann Ulrich von Rudenz kann ob der grausamen Forderung des Vogts nicht mehr an sich halten und ergreift offen Partei für Tell (vgl. WT, V. 1997–2002). Auf den ersten Blick verdoppelt die Intervention des mit Tell Sympathisierenden den figuralen Konflikt und lenkt damit von der bevorstehenden Heldentat ab. Dass Schiller einen weiteren Antipoden Geßlers in Stellung bringt, dient jedoch dazu, ein verdichtetes szenisches Aufmerksamkeitsregime zu etablieren, das den Apfelschuss mit größtmöglichem dramaturgischen Effekt paradoxerweise ein- und gleichermaßen ausblendet. Der Text wird damit als metadramatische Reflexion lesbar, die um die Darstellbarkeit der politischen Heldentat kreist. Dass Schiller mit Rudenz’ Eingreifen mehr als nur dramaturgische Zwecke verfolgt, offenbart schon dessen erster Redebeitrag, der die poetologische Dimension der gesamten Szene markiert:
841 Haas (2015) perspektiviert seine instruktive Tell-Lektüre über das Thema der heroischen Rettung und stellt zu Recht heraus, der Vogt habe verstanden, „dass der heroische Retter nutzbar gemacht werden kann für jede Form der politischen Agitation“ (S. 132), und zwar insbesondere „auf imaginärer Ebene“ (S. 132).
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RUDENZ der die ganze Zeit über in der heftigsten Spannung gestanden und mit Gewalt an sich gehalten, tritt hervor: Herr Landvogt, weiter werdet ihrs nicht treiben Ihr werdet nicht – Es war nur eine Prüfung – Den Zweck habt ihr erreicht – Zu weit getrieben Verfehlt die Strenge ihres weisen Zwecks, Und allzustraff gespannt zerspringt der Bogen.842 (WT, V. 1992–1996)
Schiller problematisiert an dieser Stelle die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten dramatischer Komposition, meint doch jener ‚Bogen‘ nicht bloß Tells Armbrust bzw. die vom Vogt geforderte, allzu grausame Schießprobe, sondern sicher auch den dramatischen Spannungsbogen, der ‚allzustraff gespannt zu zerspringen‘ droht. Dass der Apfelschuss ein ‚überspanntes‘ Geschehen ist, das ein signifikantes, auch auf die Gattungsform zu beziehendes Darstellungsproblem aufwirft, lässt sich nicht nur an Rudenz’ mahnender Diktion ablesen. Seine unmissverständliche Anklage, hier gehe jemand ‚zu weit‘, schreibt die Szene in einen bereits von der antiken Stillehre formulierten, übergeordneten rhetorisch-poetologischen Problemhorizont ein, und zwar in die aptum-Diskussion. Wenn etwa Cicero im Orator seinen Ausführungen zur rhetorischen Angemessenheit die Maßregel „In allen Dingen muss man sehen, wie weit man geht“843 voranstellt, so finden sich auch im Vorlauf zur Apfelschussszene einige Wendungen, die markieren, dass hier ein Dichter vor eben jenem Problem steht, wie weit man in der künstlerischen Darstellung dieses Geschehens – der Heldentat – gehen kann. Als Geßler z. B. den Befehl, den Apfel von Walthers Kopf zu schießen, zum ersten Mal an Tell richtet (vgl. WT, V. 1882–1889), äußern nicht nur sämtliche Umstehenden „Zeichen des Schreckens“ (WT, S. 453), sondern auch Tell selbst bezeichnet jene Forderung als ‚ungeheuerlich‘ (vgl. WT, V. 1890). Die durchgängig konstatierte Ungeheuerlichkeit des Geschehens bringt schließlich noch direkter der bereits erwähnte Rudenz auf den Begriff. Der Text weist also mehrfach in aller Deutlichkeit darauf hin, dass hier – noch einmal mit Cicero gesprochen – ein ungeheuerliches „Zuviel“844 an die Grenzen des poetisch Angemessenen zu rühren droht. Schiller wählt einen Ausweg aus diesem Darstellungsdilemma, der die einschlägigen antiken Stillehren anzitiert und in den Dienst seiner subtilen Engführung von politischer und (dramen-)poetologischer Reflexion stellt, welche die Szene durchzieht. Genau der Moment, als die Auseinandersetzung zwischen Rudenz und dem Landvogt zu eskalieren droht und der Empörte bereits das
842 Hervorhebung im Original. 843 Cic., orat., 22, 73. 844 Cic., orat., 22, 73.
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Schwert gegen den Herrscher zückt – ein Moment höchster Spannung und Aufmerksamkeit –, wird jäh unterbrochen: „STAUFFACHER ruft: Der Apfel ist gefallen! indem sich alle nach dieser Seite gewendet und Bertha zwischen Rudenz und den Landvogt sich geworfen, hat Tell den Pfeil abgedrückt.“ (WT, V. 2031, S. 458) Die Handlung, auf welche die gesamte Szene zusteuert, Tells Heldentat, hat sich im fein komponierten Abseits ereignet. Die Didaskalie markiert, dass das Augenmerk des dramatischen Ensembles während des Schusses auf die Parallelkonfrontation gerichtet ist; niemand kann den heldenhaften Schuss mit eigenen Augen gesehen haben.845 Schon die in der Nachträglichkeit des Perfekts gehaltene Didaskalie deutet an, dass kein dramatisches Präsens den heroischen Akt auf die Bühne zu bringen vermag, womit eine Darstellungsgrenze der Gattung markiert wird, über die noch zu sprechen sein wird.846 In erster Instanz schreibt Schiller in Form dieses offensichtlich metadramatischen Spiels um Sichtbarkeit und Darstellbarkeit das Problem des aptum weiter aus. Konsultiert man in der Frage nach demjenigen Darstellungsmodus, der einem allzu drastischen Geschehen angemessen sein kann, Autoren wie Cicero und Horaz, so empfehlen diese ziemlich genau den Kniff, auf den Schiller zurückgreift, wenn er die Augen der potentiellen Zeug*innen des Apfelschusses auf die Auseinandersetzung zwischen Geßler und Rudenz (ab-)lenkt. Cicero beispielsweise drückt im Orator seine künstlerische Wertschätzung für einen Maler aus, der die Szene der Opferung Iphigenies durch Agamemnon angemessen zur Darstellung bringe.847 An dem allumgreifenden Schrecken, den das Geschehen 845 Dass dies auch Schillers zeitgenössischem Publikum keinesfalls entgeht, belegt eine Rezension in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek, die den Bau der Apfelschussszene und insbesondere das Verbergen des heroischen Aktes euphorisch lobt: „In ihrer ganzen Zauberkraft enthüllt sich hier Schillers Darstellungsgabe. […] Mit der feinsten Ueberlegung, mit dem richtigsten Wahr- und Schönheitssinne werden die Augen der Zuschauer von dem gräßlichen Anblicke des Pfeilabsendens ab, auf die Geßlern umringende Menschengruppe hingezogen; […]. Zwar das Gefühl, daß dieser Anblick, theils der Schwierigkeit der Ausführung durch den Schauspieler, theils seiner innern Gräßlichkeit wegen, überhaupt untheatralisch sey, ließ sich von einem Dichter, wie Schiller, erwarten; aber das Wie? seiner Vermeidung und zugleich Nichtvermeidung war eine Aufgabe, deren befriedigende Auflösung man seinem Genie wohl zutrauen, aber nicht erahnen konnte.“ [Hervorhebungen im Original] (Zit. n. Luserke (1996), S. 778) Zweifelsfrei erkennt der Verfasser, Johann Friedrich Schink, zwar das poetologische Problem, stellt es aber nicht mit dem politischen Sujet des Textes in einen Zusammenhang. 846 Vgl. anders Zymners (2002) Analyse, der die Didaskalie lediglich auf inhaltlicher Ebene betrachtet. Die Bemerkung diene der Bekräftigung von Tells Rolle als eines ‚einsamen Selbsthelfers‘ (vgl. S. 154). 847 Eine Parallele zum Tell liegt darin, dass es sich auch hier um eine Konstellation handelt, in der ein Vater sein eigenes Kind durch mehr oder weniger eigenes Verschulden in tödliche Gefahr bringt.
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auslöst, scheint kein Zweifel zu bestehen: So sei „Kalchas betrübt, Odysseus noch trauriger und Menelaos tieftraurig“848. Die besondere Leistung des Malers liege nun aber in dessen Erkenntnis, „dass er Agamemnon sein Haupt verhüllen lassen musste, weil er eine so tiefe Trauer mit dem Pinsel nicht nachahmen konnte“849. Der Blick auf die dem Tod geweihte Tochter läuft, folgt man den Darlegungen im Orator, dem Maßstab des Angemessen-Seins zuwider, er ‚passt‘ weder zum dargestellten Sujet noch ‚eignet‘ er sich für die Figur Agamemnons,850 handelt es sich doch um einen Vater, der vor Trauer vergehen und seine Augen abwenden muss. Bereits Ciceros im engeren Sinne rhetorische, aber auch auf die verschiedenen Künste applizierbare Stillehre empfiehlt somit das Verfahren, den visuellen Sinn im Dienste des aptum auszusetzen. Im Einklang damit findet sich bei Horaz – und hier explizit auf die dramatische Gattung gemünzt – die Warnung vor einer Zurschaustellung allzu drastischer Ereignisse. In der Überzeugung, dass unmittelbares Gesehenes eine stärkere Wirkung auf den Zuschauer hat als Gehörtes, in einer wirkungsästhetischen Hierarchisierung der Sinne also,851 rät Horaz dem Dramatiker zur berichtenden Distanz statt zur visuellen Unmittelbarkeit: [D]och wirst du nicht […] auf die Bühne bringen, wirst vieles den Augen entziehen, was dann die Beredsamkeit allen verkündet: damit ihre Kinder vor allem Volke Medea nicht schlachte noch öffentlich menschliche Eingeweide der ruchlose Atreus koche […].852
Das aptum bildet auch im Wilhelm Tell den formalen Umschlagsmoment: Den von Horaz empfohlenen Registerwechsel ins Berichtende, ins Narrative – Horaz und den ihm hier folgenden Dramentheoretikern schweben Verfahren wie Botenbericht oder Teichoskopie vor – realisiert Schiller nicht direkt auf der Verfahrensebene, sondern thematisiert ihn auf der Ebene der Figurenrede. Obschon in der Didaskalie überdeutlich ausgestellt wird, dass niemand den Schuss gesehen hat, wird dieser unmittelbar als revolutionärer Akt von nationaler Tragweite gedeutet und zugleich in seiner Tauglichkeit zum politischen Erzählstoff erkannt: „Das war ein Schuß! Davon/ Wird man noch reden in den spätsten Zeiten.“ (WT, V. 2038–2039), heißt es, oder, noch expliziter: „Erzählen wird man von dem Schützen Tell,/ Solang die Berge stehn auf ihrem Grunde.“853 (WT, V. 2040–2041) An dieser Stelle verbinden sich (gattungs-)poetologische und politische Reflexion in aller Deutlichkeit: Tells offensiv dem figuralen Augenzeugnis entzogene Tat wird 848 Cic., orat., 22, 74. 849 Cic., orat., 22, 74. 850 Vgl. Cic., orat., 22, 74. 851 Vgl. Hor., ars, 180–181. 852 Hor., ars, 182–186. 853 Hervorhebungen C. R.
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postwendend für die nationale Repräsentationspolitik in Dienst genommen, ja das Anlegen auf das Haupt des eigenen Sohnes hat aus der Perspektive des versammelten Volks das Potential, in das Narrativ der eidgenössischen Nationalgeschichte einzugehen.854 Dieses darstellerische Potential wird denn auch sogleich in einer pathetischen Sterbeszene durch eine abermalige Verquickung von narrativen mit dramatischen Verfahren eingelöst. Es handelt sich um eine in ihrer affektgetragenen Dramaturgie schlicht gestrickte Szene (IV,2), in der Werner, Freiherr von Attinghausen, immerhin der Bannerherr des Vogtes Geßler, den Tellʼschen Apfelschuss nachträglich und vom Totenbett aus zum nationalen Befreiungsakt erklärt. Bedeutungsschwanger verkündet der sterbende Alte eine politische Prophezeiung, die Tells Tat zum narrativen Ausgangspunkt einer Zukunftsgeschichte macht. In Aussicht gestellt wird die freiheitliche Neuordnung der Schweiz durch den Dreierbund der Landleute aus Schwytz, Uri und Unterwalden. Diese erzählerische Vision – Schiller vermerkt in der Didaskalie, Attinghausen spreche „mit dem Ton eines Sehers“ (WT, S. 473) – ist Teil einer Szene, die nachgerade ein politisches Standbild gestaltet. Erreicht wird dieser Effekt nicht nur durch das begeistert vorgetragene (vgl. WT, S. 473) und ungebrochen siegesgewisse politische Zukunftsnarrativ (vgl. etwa WT, V. 2446) des mehr als nur altersschwachen Freiherrn, sondern auch durch eine Reihe von eindringlichen Gesten, die allen voran in den Didaskalien festgelegt sind und die einer offensiv pathetischen Dramaturgie folgen. Dabei entsteht die verheißungsvolle Vision eines politischen Generationenwechsels; dementsprechend treffen denn auch ‚Alt‘ und ‚Jung‘ in einer Szene der Handauflegung aufeinander: Der sterbende, sich ein allerletztes Mal aufrichtende Alte (vgl. WT, S. 469, 471) legt dem halbwüchsigen, seit Beginn der Szene vor ihm knieenden Sohn Tells (vgl. WT, S. 469) bedeutungsvoll die Hand auf das
854 Hier und auch im weiteren Fortgang des Stücks zeigt sich deutlich, dass Geßlers Agenda, die politische Symbolkraft des Apfelschusses zu untermininieren, ins Leere läuft. So argumentiert Haas (2015) mit Verweis auf WT, V. 1931–1933, dass der Vogt es darauf anlege, über die heroische Rettungstat zu verfügen, indem er diese rechtlich einklammere (vgl. S. 130). Geßler rahme den Apfelschuss als herrscherlichen Gnadenakt souveränitätspolitisch und versuche dergestalt, der Heldentat ihren „rechtlose[n] Grundzug“ (S. 132) und damit ihr Potential zu nehmen, als Projektionsfläche „neuer oder wenigstens anderer Rettungs- und Rechtsverheißungen“ (S. 132) zu fungieren. Haas konzediert, dass diese Bemühung des Souveräns, qua Gnadenakt über den Helden zu verfügen, nicht gelingt (vgl. S. 133). Aber er vertritt die These, dass die rechtliche Einklammerung letztlich doch erfolgreich sei, weil Geßler in Tell die Absicht weckt, ihn – mit dem zweiten, von Tell vor dem Schuss im Köcher deponierten Pfeil – zu töten. Tell lasse sich also in die Position eines ‚gemeinen Untertanen‘ drängen, der nicht mehr heroisch rette, sondern der, wie es prinzipiell jeder Untertan tun könne, gegen das Gesetz töte. Auf diese Lesart wird noch zurückzukommen sein.
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Haupt (vgl. WT, S. 473). Was Attinghausen in dieser Pose mit letztem Atem verlauten lässt, trifft den traditionellen religiösen Ritualsinn der Handauflegung, denn seine Worte haben sowohl segnerischen als auch indirekt bevollmächtigenden Charakter: „Aus diesem Haupte, wo der Apfel lag,/ Wird euch die neue beßre Freiheit grünen,/ Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,/ Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“ (WT, V. 2423–2426) Tells Sohn tritt hier nicht einfach als Repräsentant der jungen Generation, sondern als Mitbeteiligter an der heroischen Schießprobe auf und wird in dieser Doppelrolle zum Sinnbild eines revolutionären Neuanfangs erklärt, dessen weitere Schritte der Freiherr konkret ausmalt (vgl. WT, V. 2430–2446). Für den hier verfolgten Zusammenhang ist zentral, dass man sich im symbolischen Schatten jener Tat, die von niemandem bezeugt werden kann, politisch unifiziert. So schließt Attinghausens mit der beschwörenden politischen Repetitio „Seid einig – einig – einig –“ (WT, V. 2451), was denn auch zugleich den Schlusspunkt seines Lebens markiert: „[E]r fällt in das Kissen zurück – seine Hände halten entseelt noch die andern gefaßt.“ (WT, S. 474) Die Umstehenden und die Knechte verabschieden sich „mit Zeichen eines stillern oder heftigern Schmerzens, einige knien bei ihm nieder und weinen auf seine Hand, während dieser stummen Szene wird die Burgglocke geläutet.“ (WT, S. 474) Die Funktion der in Schillers Didaskalien fixierten affektmobilisierenden Gesten, Tonlagen, akustischen Signale und Körperzustände erschöpft sich nicht darin, das in die Zukunft ausgreifende Befreiungsnarrativ zu untermalen. Vielmehr wird hier vorgeführt, dass die Gründung der in Attinghausens Rede bekräftigten Schwurgemeinschaft wesentlich auch der nonverbalen, d. h. der körperlichen wie emotionalen Beglaubigung bedarf. Dies findet seinen Ausdruck zunächst einmal in der anrührenden Figurenkonstellation – der sterbende, mit seherischen Fähigkeiten begabte, revolutionsoptimistische (vgl. WT, S. 474) Freiherr und der von ihm geehrte, jüngst erprobte Heldensohn –, nicht weniger aber im suggestiven Gestenspiel der Szene. Beachtenswert ist dabei insbesondere das Motiv der Hand, das den Passus durchzieht: Wird zunächst Tells Sohn und mit ihm natürlich auch sein Vater durch die Handauflegung zur Symbolfigur der politischen Bewegung stilisiert, so ergreift der Freiherr kurz vor seinem Tod auch die Hände zweier Vertreter aus Schwytz und Uri (vgl. WT, S. 474) und fungiert damit als Mediator des Bundesschlusses. Er affirmiert gestisch den Gehalt seines verbalisierten politischen Imperativs „Drum haltet fest zusammen – fest und ewig –“ (WT, V. 2447). Er wird diese beiden Hände, die Hände Walther Fürsts und Werner Stauffachers, wie schon angedeutet, noch als Toter fest- und damit, so die Suggestion, immerhin schon zwei Parteien des Bundes zusammenhalten. Doch das Hand-Motiv wird noch weiter politisch ausgeschrieben: Die Hand verbindet nicht nur Apfelschuss und revolutionären Zusammenschluss, sondern wird auch für einen ehemals Geßler-Treuen zum Anlass für ein Bekenntnis zum Bund. Ulrich
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von Rudenz ist es, der kurz nach dem Ableben Attinghausens eintrifft und ausgerechnet in die „kalte Totenhand“ (WT, V. 2467) seines Onkels gelobt, sich von Geßler losgesagt zu haben und sich nun dem Schweizer Volk verschreiben zu wollen. Nach dem „Gelübde“ (WT, V. 2480) fordert Rudenz die Vertreter der drei Kantone dazu auf, ihm – was sonst – ihre Hände zu reichen, um seine beherzte Beteiligung am Bündnis und damit die politische Unifikation zu testieren (vgl. WT, V. 2476–2480). Und schließlich beweinen noch Attinghausens Knechte – unter der minimalistischen musikalischen Begleitung der läutenden Burgglocke – die tote Hand, die fortan symbolträchtig über dem Bund schwebt. Auch diese Szene veranschaulicht nachdrücklich, wie Tells Tat zum Einsatzpunkt und später auch zum Nukleus des nationalen Befreiungsnarrativs erklärt wird, obwohl der Akteur nicht im festen Glauben an die Agenda der Bruderbündler handelt oder erklärtermaßen gegen Geßlers Despotismus antritt. Das Drama präsentiert nicht einmal einen vor aller Augen spektakulär agierenden Schützen, sondern verlegt die Heldentat, über deren Hergang niemand ein verlässliches Augenzeugnis abzulegen vermag, ins darstellerische Abseits. Jeglichen politischen Indienstnahmen des Schusses wird somit letztlich schon an dieser Stelle das Fundament entzogen. Wenn Schiller die ‚Augenfälligkeit‘ des heroischen Apfelschusses – d. h. die sinnliche Wahrnehmbarkeit und damit auch dessen ‚Realität‘ – derart in Zweifel zieht, die Tat jedoch in der Folge zum Ausgangspunkt des revolutionären Narrativs avancieren lässt, schreibt er die imaginäre Dimension des Bundesschlusses aus. Die Arbeit an und mit der Gattungsgrenze verbindet sich hier mit einer politischen Reflexion über dasjenige, was in den Köpfen und Herzen der Revolutionsgemeinschaft Blüten treibt – und was offenbar nur erzählerisch ‚zu fassen‘ ist. Tells Apfelschuss kann als signifikantes Beispiel dafür gelten, dass das politische Drama um 1800 die Heldentat nicht als zentrales visuelles Handlungselement in den Dienst vermeintlich gattungsspezifischer Gegenwärtigkeit stellt.855 Der Apfelschuss belegt, wie der Schaucharakter des Dramas bei der Darstellung des heroischen Aktes suspendiert wird. Statt vor aller Augen und Ohren agierender Held*innen wird das für die Gattung so zentrale Handlungsmoment als darstellerische Lücke markiert, die nachträglich narrativ aufgefüllt wird. Das Drama weicht, will es von der gemeinschaftsstiftenden Heldentat handeln, aus der Gattung aus, es beginnt zu erzählen bzw. macht darauf aufmerksam, dass nun erzählt werden kann und wird. Schillers Heldenszenen
855 Vgl. dazu das Kapitel II.1.8 dieser Arbeit.
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notieren somit in metatextuellen Wendungen die Darstellungsperipherien des Dramatischen.856 In der Apfelschuss-Szene sowie in den daran anknüpfenden Unifikationsszenen verbindet sich eine subtile Gattungsreflexion mit einer Analytik, welche die Dynamiken politischer Affektmobilisierung, Emotionssteuerung und nicht zuletzt Imaginationskraft umkreist. Dass Tells politische Heldengeschichte über derart intrikate Blickverhältnisse in Szene gesetzt wird, kann als Fingerzeig auf die im Visuellen beginnenden und ins Imaginative übergreifenden Vorgänge gedeutet werden, die den politischen Sinnstiftungsprozess sukutan konstituieren.
3.6 Die Schießprobe: Tell und Odysseus Wie geht es mit Wilhelm Tell nach dem berühmt-berüchtigten Apfelschuss weiter? Letztlich ist der weitere Verlauf schon vor dem Schuss ‚angelegt‘, und zwar durch ein symbolisch in hohem Maße aufgeladenens Requisit. Nach dem vollzogenen „Meisterschuß“ (WT, V. 2043) ist Tell bereits im Begriff zu gehen, ohne auf eine fortgesetzte Konfrontation mit dem Vogt aus zu sein. Allerdings stellt dieser die folgenreiche Frage nach der Bedeutung des zweiten Pfeils, den sich Tell vor dem Schuss in den Köcher gesteckt hat. Vergeblich Ausflüchte suchend räumt Tell schließlich ein, dass der Pfeil für den Machthaber selbst vorgesehen war, falls Walther getroffen worden wäre (vgl. WT, V. 2060–2062). Tell wird nach dieser Offenbarung gefangen gesetzt, symbolisiert doch der im Köcher verbleibende 856 Anzumerken ist, dass die auf den Apfelschuss folgenden Textpassagen noch auf eine weitere Weise das durch die heroische Tat ins Spiel gebrachte gattungsspezifische Darstellungsproblem exponieren. Als Tell seinen Sohn nach dem geglückten Schuss in die Arme schließt, zeichnet die Didaskalie abermals ein eindeutig pathetisches Bild: „Tell stand mit vorgebognem Leib, als wolltʼ er dem Pfeil folgen – die Armbrust entsinkt seiner Hand – wie er den Knaben kommen sieht, eilt ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen, und hebt ihn mit heftiger Inbrunst zu seinem Herzen hinauf, in dieser Stellung sinkt er kraftlos zusammen. Alle stehen gerührt.“ (WT, S. 459) An diese porträtartige und affektgeladene Wiedervereinigungsszene zwischen Vater und Sohn schließen sich Redebeiträge verschiedener Figuren an, die Erklärungen für das außergewöhnliche Geschehen anbieten. So kommentiert Bertha „O gütiger Himmel!“ (WT, V. 2037) und auch Stauffacher ruft aus: „Gott sei gelobt!“ (WT, V. 2038) Sogar der Vogt selbst konzediert voller Hochachtung: „Bei Gott! der Apfel mitten durch geschossen!/ Es war ein Meisterschuss, ich muß ihn loben.“ (WT, V. 2042–2043) Wenn schließlich noch eine weitere Figur den gewagten Schuss als Versuchung Gottes (vgl. WT, V. 2044–2045) ausweist, ist in nur wenigen Versen ganze vier mal zu lesen, die Ereignisse seien auf eine göttliche bzw. himmlische Intervention zurückzuführen. Schiller zitiert hier das dramenspezifische Darstellungsverfahren des deus ex machina an, indem er den Apfelschuss von seinen Figuren nachträglich als eine durch höhere Gewalt gesteuerte Tat deuten lässt.
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zweite Pfeil die anhaltende Bedrohung des Herrschers durch den Helden (vgl. WT, V. 2065–2069). Bekanntermaßen wird Tell den Pfeil in der hohlen Gasse bei Küßnacht abfeuern und Geßler „[m]itten ins Herz“ (WT, V. 2788) treffen. Ein zweiter Schuss also, der die wichtige Frage aufwirft, wie Tells Heldengeschichte weitergeht und wie sie mit dem Revolutionsnarrativ zusammenhängt, tötet doch der Pfeil die Symbolfigur einer despotischen Gewaltherrschaft der Vögte. Was es mit diesem zweiten Schuss auf sich hat, tritt im Kontrast mit einer antiken Szene hervor, die Schillers Drama aufruft: Wird die Figur des Wilhelm Tell derart insistierend als meisterhafter Schütze bzw. als einer, der durch eine Schießprobe Heldenruhm erwirbt, porträtiert, so hat er diesbezüglich einen berühmten epischen Ahnen – und nicht nur einen in der nordischen Sagenliteratur des Mittelalters testierten und in der Schweizer Historiographie auftretenden Vorläufer.857 Einzig Ueding deutet an, führt aber nicht genauer aus, dass der Tell’sche Apfelschuss ebenso in seiner intertextuellen Verknüpfung mit der bei Homer gestalteten Schießprobe des Odysseus zu lesen ist.858 Im Homerischen Referenztext tritt Odysseus als Bettler verkleidet zu einer Schießprobe an, die seine Gattin Penelope angeordnet hat, um nach langen Jahren eine Entscheidung unter den um ihre Hand buhlenden Freiern zu erwirken. Kein Apfel ist das Ziel, sondern gefragt ist ein Schuss mit dem offenbar nicht eben leicht gängigen Bogen des Odysseus durch die Öhren von zwölf in gerader Reihe hintereinander aufgestellten Äxten – genau die Schießübung, die Odysseus vor der Fahrt nach Troja in seinem Palast gepflegt hat.859 Auf die bei Homer präfigurierte Szene einer heroischen Schießprobe wird im Wilhelm Tell weniger im Detail als durch die Übernahme verschiedener narrativer Kernelemente angespielt, wobei Schillers Drama die bei Homer gestaltete politische Konstellation und Stoßrichtung der Schießprobe in spezifischer Weise transformiert. Identisch ist die Ausgangssituation einer außergewöhnlichen Probe, die beide Protagonisten vor die Herausforderung des Meisterschusses stellt. Allerdings divergieren die jeweiligen Auftraggeber: Während Schiller, ganz im Sinne der historiographischen Überlieferungen, einen Herrscher jenen Schuss
857 Die Forschung hat sich auf die letztgenannten Stoffeinflüsse konzentriert und herausgestellt, dass Schiller hier auf die traditionsreiche Legende vom Schützen rekurriert, der durch einen Herrscher zum Apfelschuss gezwungen wird und sich in der Folge an diesem mit einem zweiten Pfeilschuss rächt – ein Stoff, der, wie gesagt, aus nordischen Sagenüberlieferungen in die Schweizer Annalen eingewandert ist. Vgl. für einen Überblick über diese Quellen sowie zu ihrer Kritik Suppanz (2005), S. 58–78; Schulz (2005), S. 214–218; Knobloch (1998), S. 486–490; Bergier (1990). Vgl. ferner Piatti (2004). 858 Vgl. Ueding (1992), S. 406. 859 Vgl. Hom., Od., 19, 572–575.
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erzwingen lässt, ruft die vermeintlich verwitwete Penelope mit dem Schuss zum sportlich-erotischen Wettkampf auf. Darin dass ihr prospektiver Gatte natürlich auch die Herrschaft über Ithaka übernehmen wird, liegt der politische Einsatz der Probe.860 Der bei Homer zentrale Wettkampfcharakter der Schießprobe wird von Geßler in der Apfelschussszene fortwährend ins Spiel gebracht – allein: Da Schiller den Despoten zum Initiator des Schusses macht und die gesamte Szene als Machtprobe zwischen Held und Herrscher modelliert, muss hier nur einer sein Adlerauge unter den Augen des Souveräns unter Beweis stellen. Zweitens gelingt in beiden Fällen der Schuss, die heroische Aufgabe wird erfüllt. Im Falle von Tell geschieht dies mit einem langen, nervenaufreibenden Vorspann, der die Szene mit politischer Brisanz auflädt. Von Odysseus hingegen, der zunächst nicht als heimkehrender König, sondern im Bettlerkostüm antritt, wird keine Heldentat erwartet. Noch spektakulärer muss daher ein Schuss sein, der in geradezu prahlerisch souveräner Pose, im Sitzen nämlich abgegeben wird.861 Die für meine Argumentation zentrale Analogie zwischen beiden Meisterschüssen besteht darin, dass ihnen jeweils ein zweiter folgt, der erst die damit verbundenen politischen Zusammenhänge zur vollen Entfaltung bringt, in die Odysseus wie auch Tell verstrickt sind. Erst nach dem Schuss durch die zwölf Äxte entdeckt Homers Schütze den zum Abendessen im Palast versammelten Freiern seine wahre Identität. Und er tut es, indem er sich sogleich ein zweites Ziel sucht, „ein Ziel, das noch kein Schütze getroffen“862 hat. Es handelt sich um den vollständig ahnungslosen Antinoos, genauer um dessen Gurgel. Antinoos ist einer der Anführer von Penelopes Freiern863 und offenbar eher an Odysseus’ Thron, denn vordringlich an seiner Frau interessiert.864 Auch dieses Detail spricht dafür, dass der zweite Pfeilschuss den Anfang der sich im Folgenden vollziehenden fulminanten Machtdemonstration des heimgekehrten Königs markiert. Odysseus setzt beginnend mit Antinoos’ Ermordung ein kaum auf die Wertschätzung der Gattin gemünztes, sondern ein grausames wie deutliches politisches Zeichen: Gemeinsam mit seinem Sohn erschießt er alle übrigen Freier und zwingt das treulose Gefolge zur Reinigung des Blutbades. Odysseus handelt in dieser Szene mit einer glasklaren Agenda, sein zweiter Schuss und das anschließende Gemetzel im
860 Ueding (1992) weist darauf hin, dass Homers Darstellung auf eine mythologisch überlieferte politische Praxis rekurriere, bei der über die Vergabe des Throns mit einer Schießprobe entschieden worden sei. Dabei sei ein Ring, den es zu durchschießen gegolten habe, auf dem Kopf eines Knaben platziert worden (vgl. S. 406). 861 Vgl. Hom., Od., 21, 405–412, 419–423. 862 Hom., Od., 22, 6. 863 Vgl. Hom., Od., 21, 186–187. 864 Vgl. Hom., Od., 22, 49–53.
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Palast dienen, sowohl gegen seine Konkurenten als auch gegen seine Dienerschaft gerichtet, der äußeren und inneren Wiederherstellung seiner Macht. Auf den heroischen Meisterschuss folgt also bei Homer eine weit im Vorfeld geplante, mit göttlicher Unterstützung vollzogene,865 fulminante Rückkehr des Odysseus. Die Schießprobe ist der effektvolle Auftakt eines Heldenauftritts, der letztlich auf die rachevolle866 Restitution herrscherlicher Souveränität zielt.867 Bei Tells antikem Heldenvorbild steht somit das politische Ziel eines Akteurs im Zentrum.868 Genau diesen Schritt, den Schritt vom heldenhaften Meisterschützen zum eine spezifische Agenda exerzierenden, politischen Handlungsträger tut Tell, so meine Lesart, Odysseus nicht nach. Das narrative Schema, demnach auf die Heldenprobe die Episode vom heimkehrenden und sein Recht gewaltsam durchsetzenden König folgt, bedient Schiller nicht, indem er Tell mit dem zweiten Pfeilschuss zum politischen Attentäter werden lässt. Die erzählerische Grundstruktur des Homerischen Epos wird aufgegriffen, aber im Sinne der politischen Analytik transformiert. Damit ist ein wichtiger Punkt meiner Lektüre berührt, weil die Forschung das ‚Odysseus-Schema‘ im Tell realisiert sieht, d. h. weitestgehend
865 Athene verleiht Odysseus die Gestalt eines greisen Bettlers (vgl. Hom., Od., 13, 380–438). 866 Vgl. zum Rachebedürfnis des Odysseus: Hom., Od., 22, 63– 67. 867 Der 22. Gesang setzt diese heroische Selbstermächtigung eindrucksvoll in Szene. Odysseus, der gerade im Bettlerkostüm in der Schießprobe brilliert hat, begibt sich gegenüber den versammelten Freiern in eine erhöhte Position und eröffnet ihnen seine royale Identität. Daraufhin werden die Heldenwaffen präsentiert, die den Freiern den Tod bringen werden, und der Schuss auf Antinoos wird zum zweiten Heldenstreich stilisiert: „Jetzo entblößte sich von den Lumpen der weise Odysseus,/ Sprang auf die hohe Schwell’, und hielt in den Händen den Bogen/ Samt dem gefüllten Köcher, er goß die gefiederten Pfeile/ Hin vor sich auf die Erd’, und sprach zu der Freier Versammlung:/ Diesen furchtbaren Kampf ihr Freier, hab’ ich vollendet!/ Jetzo wähl’ ich ein Ziel, das noch kein Schütze getroffen,/ Ob ich’s treffen kann, und Apollon mir Ehre verleihet./ Sprach’s, und Antinoos traf er mit bitterm Todesgeschosse“ (Hom., Od., 22, 1–8). 868 Beachtenswert ist, dass eine dringliche politische Motivation des Odysseus’, nach Ithaka zurückzukehren, in anderen Passagen der Odyssee und in anderen antiken Bearbeitungen des Sujets in Zweifel gezogen wird. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang die Episode, als Odysseus ein geschlagenes Jahr auf der Insel Äolia bei der Zauberin Kirke verweilt und von seinen Gefährten an das herrscherlose Vaterland erinnert werden muss (vgl. Hom., Od., 10, 467–474). Auch in Ovids Epistulae Heroides, genauer in einem fiktionalen Brief Penelopes an Odysseus, klingt mehrfach der Verdacht an, der Gatte habe es mit der Heimkehr nicht allzu eilig, wie die anklagenden Adressierungen an den Verschollenen verraten: „In welchen Ländern lebst du, wo trödelst du denn herum?“ (Ov., epist. (her.), 1, 66) oder „Möglicherweise irre ich mich und dieser Vorwurf mag sich in Luft auflösen, oder ich irre mich nicht und du willst fernbleiben, obwohl es dir freisteht zurückzukehren!“ (Ov., epist. (her.), 1, 79–80; vgl. auch 1, 41) Wenngleich derartige Textpassagen gerade im Hinblick auf seine politischen Antriebe ein ambivalenteres Bild des Odysseus und damit natürlich auch von dessen Heroismus zeichnen, ist er in dem hier zugrunde gelegten Erzählstrang der Odyssee als Held und machtbewusster Herrscher figuriert.
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übereinstimmend darlegt, dass Tells politisches Bewusstsein spätestens mit jenem zweiten Schuss zu Tage trete und er Geßler als im revolutionären Geiste der Eidgenossen agierender Attentäter umbringe. In der nachstehenden Interpretation des Tell’schen Monologs in der hohlen Gasse argumentiere ich dagegen, dass Tell mit dem zweiten Schuss willentlich und bewusst zum politischen Funktionsträger avancieren würde.869 Tells sogenannte Selbstreflexion fügt sich, so sollen die nachstehenden Überlegungen zeigen, alles andere als bruchlos in das volkssouveräne Befreiungsnarrativ.
3.7 Tyrannenmord oder Meisterschuss? – Attentäter oder Held? Für einige Interpreten stellt der Monolog des Helden kurz vor dem Schuss auf den Vogt, wie schon angedeutet, ein beredtes Zeugnis von Tells (erwachender) politischer Motivation und auch Reflexionsfähigkeit dar.870 Ich behaupte in einer auf die heroische Grundierung der Tell’schen Selbstauskunft abzielenden Deutung
869 Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang Haas’ (2015) Tell-Lektüre, die sich in vielen Punkten mit meinen Überlegungen trifft. Haas konstatiert zwar keine mit dem zweiten Schuss manifest werdende Politisierung, wohl aber eine „rechtliche Subjektwerdung“ (S. 133) Tells. Nicht dass Tell Geßler umbringe, sondern bereits dass er sich den zweiten Pfeil einstecke, demonstriere im Kontrast zu Tells heroischen Rettungsaktionen, die Haas zufolge gerade keine Rechtsakte darstellen (vgl. S. 127), eine „Tötungsabsicht“ (S. 133). Damit regrediere er vom heldenhaften Retter in die Position eines ‚gemeinen Untertanen‘: „Er beschließt (wie ‚jeder‘) gegen das Gesetz töten zu können und ist damit keine dem Recht äußerliche Figur mehr“ (S. 133), sondern ein „verrechtlichter und depotenzierter Held“ (S. 135). Obwohl Haas in anderen Aspekten seiner Deutung zuzustimmen ist – vor allem in seiner Einschätzung, dass das Stück die „Tell-Idolatrie der Eidgenossen […] in immer neuen Anläufen aus[höhle], indem es offenbart, dass sie um ein leeres Zentrum kreist“ (S. 136) –, lässt sich anhand des Monologs in der hohlen Gasse zeigen, dass es Tell keineswegs in erster Linie darum geht, ‚gegen das Gesetz‘ zu töten. Sicherlich hat Tell den Plan, den Vogt zu töten, mit dem Einstecken des zweiten Pfeiles gefasst, jedoch versendet er diesen nicht als Untertan und schon gar nicht als gegen die Obrigkeit revoltierender Untertan, sondern, wie noch genauer zu zeigen wird, als Held. Indem sich Haas’ Lektüre auf heroische Rettungsnarrative konzentiert, verengt sich meines Erachtens der Begriff des Heroischen. 870 Bloch (2005) konstatiert hier im Rekurs auf Schillers Poetologie eine Entwicklung Tells vom „naive[n] Naturbursche[n] […] zum sentimentalischen Helden“ (S. 258, ferner 263). Vgl. ähnlich auch Cersowsky (2007), S. 102 sowie Immer (2008), S. 428–430. Auch Frick (2005) spricht – die Bruchstellen des Monologs außer Acht lassend – von einer „Wandlung des Politikfernen zum sein Widerstandsrecht gebrauchenden Rebellen“ (S. 164) und analysiert die Szene des Geßler-Mordes als „showdown mit republikanisch-parteiischer Tendenz“ (S. 165). Alts (2009/2) Urteil fällt differenzierter aus: Zwar geht auch er davon aus, dass Tell im Monolog „über den Verlust seiner naiven Gesinnung räsoniert“ und seine „sentimentalische Bewußtseinslage, in die ihn der Konflikt mit Geßler getrieben“ habe, hier vernehmlich werde (S. 582). Allerdings vermerkt Alt darüber
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das Gegenteil. Zunächst aber ist festzuhalten, dass der Monolog frappierende Ambivalenzen insofern erkennen lässt, als er ein eigentümlich chaotisches Panorama von Motivationen verschiedenster Provenienz versammelt.871 Die Tat wird als persönlicher Racheakt des sein Haus schützenden Vaters beschrieben (vgl. WT, V. 2577–2582, 2631–2634),872 als „heilge Schuld“ (WT, V. 2589) auf eine religiöse Legitimation zurückgeführt (vgl. auch WT, V. 2596), so wie mit einem Fingerzeig auf die übergeordnete politische Autorität des Kaisers die Unrechtmäßigkeit des Geßlerschen Lokalregimes herausgestellt wird (vgl. WT, V. 2590–2595). Im Text wird jedoch ein weiterer Antrieb Tells ausgestellt, dem in der Forschung bisher weniger Beachtung geschenkt wurde, wenngleich dieser fortgesetzt auftaucht und auch den fulminanten Schlusspunkt der Rede markiert: Tell tritt schon recht zu Beginn seiner vermeintlich sentimentalischen Selbstfindung in der Rolle des – hier noch ‚einfachen‘ – Jägersmannes auf:873 „Ich lebte still und harmlos – Das Geschoß/ War auf des Waldes Tiere nur gerichtet,/ Meine Gedanken waren rein von Mord – “ (WT, V. 2568–2570). Das Jagdmotiv hängt, so zeige ich im Folgenden, ganz wesentlich mit dem heroischen Figurenprofil Tells zusammen. Gern zitiert wird Tells berühmte Anklage an den Tyrannen: „Du hast aus meinem Frieden mich heraus/ Geschreckt, in gährend Drachengift hast du/ Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt,/ Zum Ungeheuren hast du mich gewöhnt –“ (WT, V. 2571–2574). Jene ‚Wandlung der frommen, milchweißunschuldigen Denkart‘ wirft wie auch andere Passagen des Monologs die für eine Tell-Interpretation nachgerade zentrale Frage auf, ob an dieser Stelle eine Politisierung Tells zugunsten des Brüderbund-Projekts zu beobachten ist. Das trifft meiner Lesart zufolge nicht zu; vielmehr dient die Selbstauskunft, die Schiller
hinaus die Multiperspektivität des Monologs und sieht den Mord an Geßler keineswegs in direktem Zusammenhang mit der politischen Programmatik der Eidgenossen (vgl. S. 582–583). 871 Auf die Widersprüchlichkeit der im Monolog anklingenden Motivationen für den Mord an Geßler verweist Kurz (2007), S. 289. 872 Koschorke (2003) dient die im Monolog bloß anzitierte, aber für die Konfliktstruktur des Dramas grundlegende Differenz zwischen oikos und polis als Ausgangspunkt seiner Deutung, die sich auf das im Tell so prominent verhandelte Brüderbund-Modell konzentriert. Er stellt heraus, dass es sich bei den Verschworenen um von ihrer Entmachtung bedrohte Hausväter handele, die „sich als Verteidiger eines […] ursprünglich außerhalb der Politik beheimateten Lebens zu politischen Akteuren erklären […] müssen“ (S. 109). Schiller modelliere ihre Gemeinschaftsform als „im Vorraum der polis“ (S. 110) verharrenden Brüderbund. Koschorke arbeitet die in- und exkludierenden Maßnahmen heraus, die im Zuge der Konstitution des republikanischen Volkskörpers am Werk sind und die Schiller in Form einer minutiösen „politischen Choreographie“ (S. 107) verzeichne. 873 Eine Ausnahme bildet Ueding (1992), bes. S. 402–409. Auch Hahn (2006) verweist auf das Jagdmotiv, ohne es jedoch auszudeuten (vgl. S. 41).
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seinem Protagonisten in den Mund legt, allen voran der abermaligen und zugespitzten Fixierung Tells auf die Heldenrolle, ohne dass in diesem Zuge aber das heroische Narrativ in das republikanische integriert würde. Es wird stattdessen noch weiter davon fortgeschrieben. Zwar richtet Tell anklagende Worte an den Vogt; diese drücken jedoch vor allem seine persönliche Wut angesichts des grausamen Verhaltens Geßlers in der Apfelschussszene aus (vgl. WT, V. 2577–2582). Bis auf eine Ausnahme, die allerdings nur wenige Verse umfasst und gewiss nicht den Grundton des Monologs bestimmt,874 ist kein Klagewort von allgemeinerer politischer Bedeutung zu vernehmen, das die Tat als Attentat ausweisen würde. Stets ist es der Schutz ‚nur‘ der eigenen Kinder, den Tell als handlungsleitend ins Feld führt: „– Und doch an euch nur denkt er, lieben Kinder,/ Auch jetzt – Euch zu verteidgen, eure holde Unschuld/ Zu schützen vor der Rache des Tyrannen“ (WT, V. 2631–2633). Ganz in diesem Sinne weist Tell den vom Vogt geforderten Apfelschuss auf seinen Sohn als Initiationsmoment seiner Entscheidung aus, Geßler zu töten, ohne aber das ihm Widerfahrene mit dem von anderen erlittenen Unrecht durch die Obrigkeit,875 geschweige denn mit dem Revolutionsgeschehen auch nur annähernd in Zusammenhang zu bringen (vgl. WT, V. 2581–2587). Stattdessen wird immer wieder die ‚sportliche‘ Herausforderung des besonderen Schusses betont, vor die sich der Meisterschütze gestellt sieht. Signifikant ist dabei ein Passus, der Tell in einen Dialog mit seiner Heldenwaffe treten lässt:
874 „Du bist mein Herr und meines Kaisers Vogt,/ Doch nicht der Kaiser hätte sich erlaubt/ Was du – Er sandte dich in diese Lande,/ Um Recht zu sprechen – strenges, denn er zürnet –/ Doch nicht um mit der mörderischen Lust/ Dich jedes Greuels straflos zu erfrechen,/ Es lebt ein Gott zu strafen und zu rächen.“ (WT, V. 2590–2596) Hier klingt immerhin an, dass Tell bewusst ist, nicht das einzige Opfer der herrscherlichen Grausamkeit zu sein. 875 Dass die Lokaldespotie nicht nur ihm persönlich übel mitspielt, kann Tell schwerlich entgehen, setzt doch das Drama mit einer Szene ein, die genau dies vorführt und in der die erste heroische Intervention des Titelhelden geschildert wird. Die erste Szene des ersten Aktes zeigt den atemlosen Konrad Baumgarten (vgl. WT, S. 390), der sich auf der Flucht befindet, weil er den Burgvogt, der seiner Gattin zu nahe getreten ist, erschlagen hat. Zu seiner Rettung muss Baumgarten den Schiffsweg über den von einem Unwetter heimgesuchten Vierwaldstättensee antreten. Seine verzweifelte Suche nach einem mutigen Fährmann bleibt vergebens, bis Wilhelm Tell auftritt: „Wer ist der Mann, der hier um Hülfe fleht?“ (WT, V. 127), so lautet der erste, von Tell geäußerte Satz im gesamten Drama. Tell steuert Baumgarten auf einem Kahn durch das tosende Wasser des Sees und rettet ihn vor den herannahenden Verfolgern. Die gefährliche Fahrt vollzieht sich unter den Augen einiger Beobachter, die Tell schon im Vorfeld der Tat in der Rolle des Helden beglaubigen (vgl. WT, V. 163–164, 153–154, 168–169). Ueding (1992) misst dieser Initiationsszene mithin programmatische Bedeutung für die das gesamte Stück durchziehende Heldensemantik bei (vgl. S. 396).
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[…] Und du Vertraute Bogensehne, die so oft Mir treu gedient hat in der Freude Spielen, Verlaß mich nicht im fürchterlichen Ernst. Nur jetzt noch halte fest du treuer Strang, Der mir so oft den herben Pfeil beflügelt – Entränn er jetzo meinen Händen, Ich habe keinen zweiten zu versenden. (WT, V. 2601–2608)
Die beschwörenden Worte, die der Schütze an seinen Bogen richtet, die geradezu intime Eintracht und Vertrautheit zwischen dem Helden und seiner Waffe, die hier zum Ausdruck gelangen, und nicht zuletzt die Einmaligkeit des Schusses, dem kein zweiter folgen soll – All diese Aussagen stehen im Dienste einer Bekräftigung der heroischen Figurenzeichnung, wobei Schiller die Heldenmission dadurch als für sich bestehend und keineswegs für das Rütli-Projekt stehend ausweist. Es folgt eine zwischenspielartige Passage, in der Tell wiederum denkbar losgelöst von jeglichem politischen Bezug und in halbherzig philosophischem Gestus über einen Mangel an Mitgefühl unter den vergesellschafteten Menschen zu sinnieren anhebt (vgl. WT, V. 2609–2621). Allenfalls anzitiert wird hier eine Gesellschaftstheorie Rousseau’schen Geistes, welche die zwischenmenschlichen Sympathien – und damit auch den prospektiven ‚Mörder‘ (vgl. WT, V. 2621) – in der ‚Geschäftigkeit‘ (vgl. WT, V. 2621) des Alltagslebens untergehen sieht. Sodann jedoch steuert der Monolog auf sein Ende zu, in dem erneut und nun ausführlich das Motiv des heldenhaften Jägers und Schützen entfaltet wird. Beschrieben wird hier in der Tat eine Wandlung Tells; allerdings keine Wandlung zum politischen Attentäter, sondern ein heroischer Wendepunkt in der Karriere des Schützen. „Sonst wenn der Vater auszog, liebe Kinder,/ Da war ein Freuen, wenn er wieder kam,/ Denn niemals kehrt’ er heim, er bracht’ euch etwas,/ Wars eine schöne Alpenblume, wars/ Ein seltner Vogel oder Ammonshorn“ (WT, V. 2622–2626). – So beginnt Tells Schilderung seines Sinneswandels, die ihn anhand seiner bis dato präferierten Trophäen als den einigermaßen harmlosen „Alpenjäger“ (WT, V. 1504) attribuiert, dessen Profession allenfalls seiner Frau Sorge bereiten kann. Blumen, Vögel oder Fossilien sind jedoch in der hohlen Gasse ganz und gar nicht mehr im Visier des Schützen: Ein anderes „Waidwerk“ (WT, V. 2628) verfolgend „lauert“ er auf „[d]es Feindes Leben“ (WT, V. 2630). Der Schluss des Monologs bekräftigt diese Inszenierung eines heroischen Schützen, der vor der Probe seines Lebens steht: Ich laure auf ein edles Wild – Läßt sichs Der Jäger nicht verdrießen, Tage lang Umher zu streifen in des Winters Strenge,
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Von Fels zu Fels den Wagesprung zu tun, Hinan zu klimmen an den glatten Wänden, – Um ein armselig Grattier zu erjagen. Hier gilt es einen köstlicheren Preis, Das Herz des Todfeinds, der mich will verderben. […] Mein ganzes Lebenlang hab ich den Bogen Gehandhabt, mich geübt nach Schützenregel, Ich habe oft geschossen in das Schwarze, Und manchen schönen Preis mir heimgebracht Vom Freudenschießen – Aber heute will ich Den Meisterschuss tun und das Beste mir Im ganzen Umkreis des Gebirgs gewinnen.876 (WT, V. 2635–2650)
Der Schlussteil des Monologs führt in aller Deutlichkeit vor Augen, dass eine Interpretation zu kurz greift, die in der Figur des Tell einen bewusst gegen die Obrigkeit revoltierenden, gewissermaßen vom „Drachengift“ (WT, V. 2572) der Politik zugerichteten Assassinen sieht. ‚Vergiftet‘ hat ihn, wenn man so will, sein Ehrgeiz, der sich nicht mehr mit der einsamen und langatmigen Gämsenjagd zufrieden gibt, sondern der den ‚Todfeind‘ mit nur einem Pfeil im Köcher zu ‚erlegen‘ antritt. Das Unrecht, das ihm Geßler zugefügt hat, tritt an dieser Stelle gänzlich in den Hintergrund; stattdessen geht es um die Krönung seiner bisher lediglich auf ein „Freudenschießen“ (WT, V. 2648) ausgerichteten Schützenlaufbahn. Kein Plädoyer für die Freiheit der Hütten (vgl. WT, V. 2793), die Schiller seinen Protagonisten im Nachgang beschwören lassen wird, ist hier zu vernehmen, sondern die Rede ist von Preisen (vgl. WT, V. 2642, 2647), von Gewinnen (vgl. WT, V. 2650), und zwar nicht von irgendwelchen: „[E]in edles Wild“ (WT, V. 2635) soll hier niedergestreckt werden, das „Herz des Todfeinds“ (WT, V. 2643) getroffen werden, ja „das Beste […]/ Im ganzen Umkreis des Gebirgs“ (WT, V. 2649–2650) gilt es zu erlangen – kurzum: Nach ‚lebenslanger‘ (vgl. WT, V. 2644) Jagdschützenkarriere steht hier jemand vor der Herausforderung seines Lebens, dem „Meisterschuß“ (WT, V. 2649). Diesen das heroische Unterfangen resümierenden Terminus platziert Schiller denn auch prominent, wenn er den Monolog mit dem Verweis darauf enden lässt. Dass der Mord an Geßler in Tells Selbstauskunft so beständig und intensiv als Tat eines heroischen Schützen präsentiert wird, dem keine politische Sonntagsrede in den Mund gelegt wird, sondern den nicht zuletzt ein enormer sportlicher
876 Hervorhebung im Original.
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Ehrgeiz antreibt,877 lässt Zweifel an Tells Rolle als eines im Dienste des entstehenden Gemeinwesens agierenden Helden aufkommen.878 Die Zeichnung der TellFigur als eines exzeptionellen Jägers und Schützen – nahegelegt nicht zuletzt mittels der intertextuellen Referenz auf die Schießprobe des Odysseus – ist mithin nicht nur im Monolog in der Hohlen Gasse erkennbar. Vielmehr durchzieht diese figurale Folie den gesamten Text: Der Monolog steht nur am Ende der Schritt für Schritt entfalteten Inszenierung einer Figur des „wagemutigen, aus einer anderen Zeit herüberragenden Abenteurer[s]“879, den ein „Zug griechischer Heroenzeit“880 877 Es ist erstaunlich, dass Ueding (1992) gerade den Monolog, welcher nach meiner Lesart in nochmals gesteigerter Deutlichkeit einen heldenhaften Schützen präsentiert, als Bruchstelle des Tellʼschen Heroismus analysiert: „Hatte Tell seine Handlungen bisher in völliger Übereinstimmung mit seinem Charakter erbracht, so daß Wille, Tat und Vollzug eine unmittelbare Einheit genau wie bei den antiken Helden bildeten, so tritt er nun in dem großen Reflexionsmonolog aus dem unmittelbaren Zusammenhang seines Lebens heraus, um durch die Reflexion seinen Vorsatz, die Ausführung und die Folgen der Tat zu vermitteln. […] Wiedergeboren wird der Held Wilhelm Tell […] als moderner Freiheitskämpfer, der nachweisen muß, daß er bewußt und absichtlich handelt, unter Berücksichtigung aller ihm einsichtigen Bedingungen und Umstände.“ (S. 413) Abgesehen davon, dass meine Betrachtung des Monologs diese These nicht bestätigt, ist anzumerken, dass Uedings hier dargelegtes Bild des antiken Helden eindimensional erscheint. Vgl. zu einer Kritik daran A. Schmitt (1988), S. 189. 878 Auch Guthke (1994) artikuliert Zweifel an einer Konvergenz zwischen der im Monolog entwickelten Position Tells und der Revolutionshandlung: „Sonderbar ist daher die verbreitete Auffassung: es gehe in diesem Monolog um Tells Rechtfertigung seiner privaten Tat und zugleich der politischen Sache. […] Indem Tell die Familie verteidige, verteidige er zugleich die naturhafte Urzelle und Ordnung auch der politischen Gemeinschaft, was ja durchaus zum Ethos der Rütli-Verschwörer paßt.“ (S. 299) Die hier verfolgte Lesart setzt ebenfalls bei diesem Befund an, unterscheidet sich aber von Guthkes im engen Sinn figurenpsychologisch konturierter Deutung. Gegen Guthkes These, dass sich im Monolog ein persönliches „Schuldbewußtsein“ (S. 298) Tells, eine Erschütterung seines seelischen Friedens (vgl. S. 300) angesichts der beschlossenen Mordtat manifestiere, spricht die Inszenierung der Tell-Figur als eines erfolgsversessenen Schützen. 879 Ueding (1992), S. 403. Ähnlich auch Borchmeyer (1973): „Die Zufriedenheit in sich selber ist auch das hervorstechende Charaktermerkmal des Schillerʼschen Tell, der wirklich wie ein antiker Heros auftritt […].“ (S. 181) Borchmeyer analysiert Tells Heroismus in strenger Orientierung an Hegels Differenzierung von heroischem Weltzustand antiker Provenienz und von prosaischem Weltzustand modernen Zuschnitts (vgl. S. 178–184). Er liest das Drama vor diesem Hintergrund als literarisches Zeugnis von Schillers Kritik und Analyse des modernen Staats (vgl. S. 179). Tell fungiere als anachronistische Figur, seine „heroische[ ] Selbständigkeit“ diene als Kontrastfolie zum Modell „republikanischer Gemeinschaftlichkeit“ (S. 185). Es komme Schiller darauf an, „die Morgenröte eines republikanischen Gemeinwesens“ (S. 189) nachzuzeichnen. Borchmeyer lässt im Gegensatz zur hier verfolgten Lesart außer Acht, dass Tells Heroismus eine reflexive Funktion für den im Text geschilderten Vergemeinschaftungsvorgang hat. Darüber hinaus stellt sich, wie schon bei Ueding (1992), S. 413, die Frage nach dem hier zugrunde gelegten Konzept ‚des antiken Heros‘. 880 Ueding (1992), S. 405.
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im wahrsten Sinne des Wortes auszeichnet. Als einen Unerschrockenen, den „die Aura des gefährlichen Lebens“881 umgibt, wird Tell bereits in der Eingangsszene vorgestellt und als ein solcher wird er im Verlauf des Textes fortgesetzt und nicht nur in der Apfelschussszene beglaubigt.882 Die Beglaubigungen durch die Gemeinschaft sind es denn auch, die Tells Heroismus im Rahmen von Schillers Analytik Sinn verleihen. Das Heldentum steht also, so meine Lesart, sehr wohl mit der politischen Problematik des Stücks in Verbindung, allerdings nicht im Sinne eines planen ‚Für oder wider den Brüderbund‘. Vielmehr dienen die skizzierten heroischen Szenen dazu, die imaginären Vorgänge vorzuführen, die das Revolutionsprojekt vorantreiben. Wurde schon der von Schiller allen Augen entzogene Apfelschuss sogleich als erinnerungspflichtige Episode im nationalen Gedächtnis ausgewiesen, so wird auch der zweite „Meisterschuß“ (WT, V. 2649), der den Vogt tötet, umgehend und voller Euphorie vom Volk als nationaler Befreiungsakt gefeiert: „ALLE tumultuarisch: Das Land ist frei.“ (WT, V. 2821) Dass es der Mörder bei seinem Schuss
881 Ueding (1992), S. 404. 882 Dies ist bereits in der Eingangsszene des Dramas erkennbar. Auch Tells spektakuläre Befreiung aus seiner Gefangenschaft in der ersten Szene des vierten Aktes bestätigt dieses Bild. Schon der Schauplatz dieser neuen Heldentat wird im Text mit der ihr gebührenden Dramatik in Szene gesetzt. Es handelt sich um den Vierwaldstättensee, auf dem das Schiff des Landvogts in ein plastisch geschildertes Unwetter schlimmster Sorte gerät (vgl. WT, S. 462). Ein Beobachter vermutet gar eine „zweite Sündflut“ (WT, V. 2148) hinter dem äußerst bedrohlichen Naturschauspiel (vgl. auch WT, V. 2127–2149). Alsbald sieht man das Schiff in den Fluten verschwinden, einer jedoch erscheint urplötzlich vor den Versammelten, und zwar „Wilhelm Tell mit der Armbrust“ (WT, S. 465). Umgehend berichtet er von seiner aufsehenerregenden Flucht: Da die Knechte des Vogts sich ob der Schwere des Unwetters außer Stande gesehen hätten, das Schiff zu steuern, habe ein Diener mit den Worten „Nun aber ist der Tell/ Ein starker Mann und weiß ein Schiff zu steuern.“ (WT, V. 2239–2240) vorgeschlagen, dem Gefangenen die Fesseln zu lösen und ihm das Steuer zu übergeben (WT, V. 2229–2241). Es erstaunt nicht, dass der Tell das Schiff in der Tat zu steuern weiß, allerdings direkt in Richtung eines in den See hineinragenden Felsenriffs und gleichzeitig auf seine Armbrust schielend (vgl. WT, V. 2249), so sein Bericht. Kaum ist die Felsenplatte erreicht, ergreift der Held die Gelegenheit: „Jetzt schnell mein Schießzeug fassend, schwing ich selbst/ Hochspringend auf die Platte mich hinauf,/ Und mit gewaltgem Fußstoß hinter mich/ Schleudr’ ich das Schifflein in den Schlund der Wasser –“ (WT, V. 2264–2267). Dass Tell mit einem einzigen Fußtritt besagtes ‚Schifflein‘ versenkt haben soll, zieht sogleich die bewundernden Repliken seiner Zuhörer nach sich: „Tell, Tell, ein sichtbar Wunder hat der Herr/ An euch getan, kaum glaub ich’s meinen Sinnen –“ (WT, V. 2271–2272). Vgl. hierzu auch Hahn (2006), der argumentiert, dass Tell durch derartige ‚Wundertaten‘ „zum Über- oder Außermenschen im Herderschen Sinne, d. h. zum Genie“ (S. 40) stilisiert werde. Diese Heldentat verweist zusätzlich zurück auf den Anfang des Dramas, auf den ersten Auftritt des Helden, der ihn als edlen Retter einführt und der sich ebenfalls während eines Unwetter am Vierwaldstättensee vollzieht.
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aber eben vor allem auf ein ‚edles Wild‘ abgesehen hat, und dass er den Pfeil, ganz ohne von Freiheit zu träumen, unter dem Adrenalineinfluss einer ehrgeizigen sportlichen Extremanspannung verschickt hat, bleibt den Rütlianern verborgen. Schillers Leser*innen hingegen lernen auch diesen Zug des Meisterschützen kennen, was die Angemessenheit jener emphatischen Vereinnahmung des zweiten Schusses für das politische Projekt mindestens mit einem Fragezeichen versieht. Tell selbst setzt nach dem Schuss mitnichten zur großen Begründungsrede an, sondern verschwindet mit nur wenigen Worten von der Szenerie.883 Dies fügt sich recht genau in Schillers Figurenprofil, denn Tell wird über weite Teile des Stücks geradezu der Sprache benommen. Gerade weil der Held nicht als sprachgewaltiger politischer Überzeugungstäter auftritt und dennoch vieles ‚tut‘, was sich, daran lässt der Text keinen Zweifel, ohne große Mühen in das revolutionäre Narrativ einfügen lässt, eignet er sich zur nationalen Gallionsfigur. All dies hat den Effekt, eine eindeutige Einsicht in die Motivationslage des Helden zu verwehren, wie die Analyse des Monologs in der hohlen Gasse demonstriert. In diesem Zuge wird Tells nicht von sich aus politisches Heldentum anschlussfähig und offen für die kollektiven Träume und Phantasien der Brüderbündler. Dies findet dann auch seinen Niederschlag in der das Revolutionsgeschehen begleitenden Repräsentationspolitik. Als zu Beginn des fünften Aufzuges der Erfolgskurs des Volksaufstands geschildert wird (vgl. WT, V. 2841–2915), steuert die Szene auf eine Symbolhandlung zu, die wiederum eindeutig auf Tells Heldentum Bezug nimmt. In seine Einzelteile zerlegt, wird das Signum des Geßlerʼschen Regimes von Kindern über die Bühne getragen; begleitet vom Ruf „Freiheit! Freiheit!“ (WT, V. 2913) und unter den Klängen lokaler Blasmusik: „[D]as Horn von Uri wird mit Macht geblasen.“ (WT, S. 492) Als Kollektivritual inszeniert Schiller sodann die symbolische Neubesetzung des Geßlerhutes.884 Nachdem einige Stimmen für eine Zerstörung jenes „Denkmal[s] der Tyrannenmacht“ (WT, V. 2919) plädiert haben, ist es Tells Schwiegervater Walther Fürst, der für eine politische Umcodierung des Hutes votiert: „Nein, laßt ihn aufbewahren!/ Der Tyrannei mußt’ er zum Werkzeug dienen,/ Er soll der Freiheit ewig Zeichen sein!“ (WT, V. 2921–2923) Die sich anschließende Regiebemerkung
883 Tell richtet hier folgende Verse an den sterbenden Vogt: „Du kennst den Schützen, suche keinen andern!/ Frei sind die Hütten, sicher ist die Unschuld/ Vor dir, du wirst dem Lande nicht mehr schaden.“ (WT, V. 2792–2794) Gewiss wird hier auf eine politische Motivation für den Mord an Geßler abgehoben. In Zusammenschau mit dem Monolog und auch mit dem Schluss des Dramas ist dieser Passus jedoch alles andere als bezeichnend oder einschlägig. Vgl. anders Zymner (2002), S. 150–151. 884 Vgl. zu dieser Szene Ueding (1992), S. 407–408, der auf die symbolische Vieldeutigkeit des Hutes auf der Stange hinweist. Vgl. auch Alt (2009/2), S. 583.
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enthält die der Symbolhandlung entsprechende choreographische Anweisung: „[D]ie Landleute, Männer, Weiber und Kinder stehen und sitzen auf dem Balken des zerbrochenen Gerüsts malerisch gruppiert in einem großen Halbkreis umher.“ (WT, S. 492) Das zerstörte Gerüst wird in dieser die entstehende Gemeinschaft affirmierenden Anordnung in paronomastischem Pathos zu den „Trümmern/ Der Tyrannei“ (WT, V. 2923–2924) erklärt. Wenngleich bereits der Geßlerhut für sich an jenen gemahnt, der ihm so folgenschwer die Verbeugung verwehrt hat, fehlt an dieser Stelle keinesfalls der explizite Verweis auf Tells Heldentat. Es ist Walther Fürst, der die Gemeinschaft mit den Worten „Gott! Unter diesem Hute stand mein Enkel!“ (WT, V. 2918) an den Apfelschuss erinnert. Der Text führt hier zum wiederholten Mal und in einem mit beträchtlichem Pathos angereicherten Bühnengeschehen vor, wie Tells Heldentat in der Genealogie des Brüderbundes verankert wird. Und auch der Schluss dieser ersten Szene des letzten Aufzuges bekräftigt das im Text dargebotene Kollektivbegehren nach einem, der für die politischen Umwälzungen symbolisch Verantwortung zeichnet. Hier findet sich schließlich auch derjenige Passus, der die eigentümliche Absenz des Helden notiert und der den Ausgangspunkt dieser Studie markierte: „Wo ist der Tell? Soll Er allein uns fehlen,/ Der unsrer Freiheit Stifter ist? Das Größte/ Hat er getan, das Härteste erduldet,/ Kommt alle, kommt, nach seinem Haus zu wallen,/ Und rufet Heil dem Retter von uns allen.“ (WT, V. 3082–3086) Wie schon in der Szene, die den feierlichen Schwur der drei Kantone so eindrücklich zur Darstellung bringt (II,2),885 fehlt Tell auch während dieses gemeinschaftskonstituierenden Volksauflaufs. Aus den symbolträchtigen Massenszenen hält Schiller seinen heroischen Protagonisten ostentativ fern, wobei ihm auch darin stets ein Auftritt gesichert bleibt: Die Rütlianer imaginieren ihn fortgesetzt und beharrlich als Symbolfigur ihres Widerstands gegen die Vögte und in diesem Sinne exponiert die Frage nach Tells Ort gleichermaßen die An- wie auch die Abwesenheit des Helden im politischen Geschehen. Der Text reflektiert in einem solchen Vexierspiel figuraler (De-) Präsenz die Stilisierung eines einzelnen zum Volkshelden und macht im Zuge dessen auf das aufmerksam, was jenseits der suggestiven politischen Konstitutionsreden in der Schwur-Szene die Herzen der Schweizer zu bewegen und die nationalen Phantasien zu befügeln vermag.886
885 Dort bemerkt Konrad Baumgarten, den Tells Talent am Steuerruder zu Beginn des Dramas vor den Häschern des Vogts gerettet hat: „Doch nicht den Tell erblick’ ich in der Menge.“ (WT, V. 1097) Auf diese Feststellung folgt die für das Brüderbund-Projekt zentrale und emphatische Kollektivszene, die im Schwurgeschehen gipfelt. 886 Ich folge, was eine Deutung der Rütlischwur-Szene betrifft, weitestgehend Koschorke (2003). Koschorke untersucht vor dem Hintergrund des zeitgenössischen politischen Geschehens, insbesondere der Französischen Revolution, die begründungslogischen Manöver, die in
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Um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Tell-Handlung und Rütli-Republikanismus – und damit allgemeiner die Frage nach dem Verhältnis von Held und Gemeinschaft – abschließend noch einmal zuzuspitzen: Beide Handlungsstränge hängen insofern zusammen, als sie auf ein Problem verweisen, das Albrecht Koschorke anhand der Rütli-Szene exponiert hat: Denn es ereignet sich ja auch auf dem Rütli nichts anderes als eine revolutionäre Rechtsetzung aus dem Nichts, und gerade um dieses Nichts, diesen leeren Grund der Autorität zu kaschieren, wird eine Begründungsrede nach der anderen gehalten. […] Alle Topoi der politischen Selbstermächtigung, deren sich die französischen Revolutionäre in Anknüpfung an Rousseau und an den Gesetzgeberdiskurs des 18. Jahrhunderts bedienten, sind hier versammelt […].887
Diejenigen Dramenpassagen, die den Zusammenschluss der drei Schweizer Kantone so eindrucksvoll in Szene setzen, und die heroischen Tell-Szenen kommen darin überein, dass sie jenen leeren Grund der Autorität888 auf unterschiedliche Weise sichtbar machen. Im Falle des Rütli-Schwures ist es ein von Schiller ins Überbordende getriebener „gründungslogische[r] Aufwand“889, der die rhetorisch-figurativen, die narrativen sowie die „repräsentationstechnischen und -logischen“890 Möglichkeitsbedingungen des republikanischen Konstitutionsakts vor Augen führt. Zu Recht weist Koschorke darauf hin, dass keiner der auf dem Rütli Versammelten zum Zwecke des Bundesschlusses abgesandt oder gewählt worden ist,891 was in der Tat die Frage nach dem Grund ihrer politischen Legitimation aufwirft. Mit seinem in hohem Maße irritierenden und ambivalenten Titelhelden stellt Schiller die Frage noch einmal anders: Welchen Grund könnte es geben, diesen Tell, diesen meistens Schweigsamen, geradezu Machtvergessenen, diesen gewiss Tatkräftigen, aber mitnichten überzeugten Republikaner, ja diesen vor allen Dingen Schießwütigen als nationalen Gründungsheros zu verehren? Ganz sicher keinen vernünftigen Grund, dürfte nach dem Gesagten die Antwort lauten; aber ganz sicher einige gefühlsgeleitete. Natürlich fügen sich seine Taten in das Revolutionsgeschehen ein und es nimmt nicht Wunder,
dieser Szene zu beobachten sind und zeigt u. a., dass auch die Rhetorik der Rütlianer, wenn man so will, ans Herz geht: „Gott und Herz, Formeln der Immediation, triumphieren über die institutionellen Kategorien Zahl und Buch.“ (S. 112). 887 Koschorke (2003), S. 111–112. 888 Koschorkes Referenz ist an dieser Stelle Derridas Gesetzeskraft. Vgl. Koschorke (2003), S. 111; Derrida (1991). 889 Koschorke (2003), S. 112. 890 Koschorke (2003), S. 107. 891 Vgl. Koschorke (2003), S. 112.
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dass Apfelschuss und Geßlermord892 von den Rütlianern begeistert in Dienst genommen werden. Allerdings verwendet Schiller beträchtliche Mühen darauf, grundsätzliche Zweifel an Tells Eignung zur republikanischen Ausnahmeerscheinung aufzuwerfen. Darin besteht denn auch der gründungsanalytische Zug der Tell-Figur. Der Text zeichnet nach, wie einer zum Gründungshelden anvanciert, den keine sich in das politische Projekt fügende Gesinnung umtreibt,893 ja dessen Gesinnung bisweilen überhaupt nicht politisch und mithin gänzlich inkonsistent erscheint. Wichtig ist, dass der Held etwas Besonderes tut, wobei die Pointe von Schillers politischer Analytik gerade darin zu sehen ist, dass der Tells heroische Autorität installierende Apfelschuss, die Heldentat, offensiv unsichtbar gemacht wird und dass der Grund seiner Autorität in diesem Sinne ‚leer‘ bleibt. Der reflexive Zug des Textes erschöpft sich jedoch nicht darin, den Grund der Tellʼschen Heldengeschichte fortgesetzt zu untergraben. Schiller zeigt darüber hinaus in einer Reihe von Szenen, wie ein derartig auf tönernen Füßen stehendes Heldenbild in den Köpfen und Herzen der Brüderbündler Blüten treibt und in diesem Sinne am politischen Imaginären mitschreibt.
3.8 Kurz vor Schluss: Die Wiedererkennungsprobe. Tell und Parricida Die erste Szene des fünften Aufzuges schließt, wie oben dargelegt, mit der Frage des revolutionsbeseelten Volks nach seinem Helden (vgl. WT, V. 3082–3086). Das Drama endet nun aber nicht einfach damit, dass sich die Masse der Verbrüderten um Tells Haus gruppiert (vgl. WT, S. 505) und jenen, den es schon längst zum nationalen Freiheitsstifter und Retter erklärt hat (vgl. WT, V. 3083, 3086), hochleben lässt (vgl. WT, V. 3281). Schiller fügt vor dieser ebenso kurzen wie emphatischen Schlussszene eine Zwischenszene (V,2) ein, die erstens die Heimkehr des Helden zu Frau und Kindern zum Inhalt hat und die zweitens das in der Forschung häufig recht knapp abgehandelte Zusammentreffen zwischen Tell und dem berüchtigten Kaisermörder Johannes Parricida schildert. Was hat es mit jener doch recht sperrigen Szene auf sich, die schon Iffland für die Bühnenaufführung getilgt wissen wollte?894 Schiller – und mit ihm Goethe – ist jedenfalls „überzeugt, daß […] ohne die persönliche Erscheinung des Parricida der Tell sich gar nicht hätte denken lassen“895. Schillers Insistieren steht im Kontrast zur Meinung seiner 892 Auch der Mord am Vogt wird für das republikanische Projekt vereinnahmt (vgl. WT, V. 2817– 2821). 893 So auch Guthke (1994), S. 286. 894 Vgl. Iffland an Schiller, Brief vom 7.4.1804. Zit. n. Luserke (1996), S. 808. 895 Schiller an Iffland, Brief vom 14.4.1804. Zit. n. Luserke (1996), S. 770.
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zeitgenössischen Rezensenten. So liest man etwa bei Johann Friedrich Schink, der für die „dramatische[ ] Zusammenstellung“896 des Stücks bis zum Geßlermord nur hochlobende Worte findet, dass der Auftritt des Kaiser- und Onkelmörders Johann von Schwaben das dramaturgische Gesamtbild und das politische Schlusstableau empfindlich störe. Es handele sich um ein Intermetzo, das fremd und gewaltsam das herrschende Interesse störet, und unwillkommen unsere Aufmerksamkeit von der großen Begebenheit abzieht, die jetzt ganz allein uns beschäfftigen und erfüllen sollte […] und dem erfreuenden Genusse, den uns des großen Bundes heilvoller Ausgang gewährt, wird eine bittere, widerwärtige Empfindung beygemischt, die unsere volle Theilnahme daran schwächt und abkühlt.897
Ein anderer, anonym bleibender Rezensent vermerkt ganz in diesem Sinne „die unverhoffte Ankunft Johanns von Schwaben“898 am Schluss des Stücks. Weiter heißt es: Es ist sichtbar, daß der Dichter den Kaisersmörder blos deswegen nach Uri in Tells Hütte führt, um in der Paralelle [...] mit ihm dem Tyrannen-Mord eine Apologie zu halten; aus eben dieser Ursache muß Johann die widerliche Armesünder-Gestalt annehmen, damit Tell sich nebem ihm desto hochherziger brüsten könne. Das Alles war Ueberfluß. Tells That war durch sich selbst schon gerechtfertigt; sie wird durch den gewaltsam herbeigeführten Contrast weder größer, noch kleiner; ja, Schiller verfehlte seinen Zweck so sehr, daß zuletzt der arme Johann mehr Theilnahme und Mitleiden einflößt, als für den Tell vortheilhaft ist.899
Die hier vertretene Auffassung, dass die Szene für den Titelhelden eine nur zweifelhafte apologetische Funktion erfüllt, teilt Braun in seiner Besprechung und macht zudem darauf aufmerksam, dass eine solche Rechtfertigung Tells reichlich spät im Text erfolge. So erscheint ihm der gesamte fünfte Akt als „baare Zugabe“900, durch die Schillers Text „nicht gewonnen, sondern vielmehr verloren hat“901: „[A]uch wird der Herzog von Oesterreich, des Kaisers Oh’m, unter der Maske eines Mönchs Parricida aufgeführt, sichtlich um dem Werke eine Morale noch am Ende anzuhangen, und den Mord Tells durch den Kontrast in sein rechtfertigendes Licht zu stellen.“902 896 Johann Friedrich Schink in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek. Zit. n. Luserke (1996), S. 779. 897 Schink, zit. n. Luserke (1996), S. 779. 898 Rezension in Isis vom März 1805. Zit. n. Luserke (1996), S. 784. 899 Rezension in Isis vom März 1805. Zit. n. Luserke (1996), S. 784–785 [Hervorhebungen im Original]. 900 Rezension in der Zeitung für die elegante Welt vom 13.10.1804. Zit. n. Luserke (1996), S. 774. 901 Rezension in der Zeitung für die elegante Welt vom 13.10.1804. Zit. n. Luserke (1996), S. 774. 902 Rezension in der Zeitung für die elegante Welt vom 13.10.1804. Zit. n. Luserke (1996), S. 774.
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Die skizzierten Rezensionen zur Erstausgabe des Tell machen auf zwei Aspekte aufmerksam, die auch für meine Deutung der als irritierend bis unnötig wahrgenommenen Parricida-Szene zentral sind: Erstens ist darüber nachzudenken, welche Bedeutung Tells Zusammentreffen mit Parricida für das in der letzten Szene dargebotene Schlussbild hat, in dem ein vom Volk emphatisch gefeierter Nationalheld porträtiert wird. Meine These lautet, dass der Auftritt Parricidas abermals das Verhältnis von Held und Volk, allen voran Tells Heroisierung durch das Volk problematisiert. Zweitens möchte ich argumentieren, dass die Konfrontation mit Parricida nicht das semantische Angebot einer späten, expliziten Rechtfertigung von Tells Mord unterbreitet, sondern vielmehr die Frage aufwirft und diskutiert, ob es im Falle des politischen Helden überhaupt einer solchen Apologie bedarf. Zunächst mutet die Szene, wie ja auch schon die Besprechungen vermerken, eigentümlich deplatziert an und dies sowohl in inhaltlicher wie auch in formaler Hinsicht. Wenn die erste Szene des fünften Aktes mit der Frage nach dem Verbleib Tells (vgl. WT, V. 3082) und dem Entschluss der Brüderbündler, „nach seinem Haus zu wallen“ (WT, V. 3085), endet, so schließt die dritte und letzte Szene des Stücks nahtlos daran an: Man wallt in der Tat nach dem Haus des Helden und hat, so die umfangreiche Didaskalie, „den ganzen Talgrund vor Tells Wohnung, nebst den Anhöhen, welche ihn einschließen, mit Landleuten besetzt, welche sich zu einem Ganzen gruppieren.“ (WT, S. 505) In dieser Szeno- und Choreographie, die den Einschluss des Helden in die politische Gemeinschaft kaum plastischer und greifbarer machen könnte, wird der aus seinem Haus heraustretende Tell „mit lautem Frohlocken“ (WT, S. 505) in Empfang genommen. Und auch mit kollektivsprachlicher Emphase wird seine Heldenrolle zelebriert: „ALLE Es lebe Tell! der Schütz und der Erretter!“ (WT, V. 3281) So umstandslos sich die erste und die dritte Szene des fünften Aufzuges ineinander fügen, so störend erscheint die dazwischen platzierte zweite, in Tells Hausflur spielende Szene. Klar ist, dass Schiller hier einen Handlungsstrang unterbricht, der den reüssierenden Volksaufstand und die Heroisierung Tells durch die Rütlianer zum Inhalt hat, mehr noch: auf einen Höhepunkt zulaufen lässt. Der Sinn, den sowohl die Forschung als auch die Rezensionen dieser Szene unterstellen, besteht nun darin, hier einen späten Rechtfertigungsversuch Tells sowie eine Diskussion seiner Schuld am Werk zu sehen. Für Guthke etwa verleiht die Auseinandersetzung mit Johannes Parricida wie auch schon der Monolog in der hohlen Gasse „Tells latente[m] Schuldbewußtsein“903, ja einer „bleibende[n]
903 Guthke (1994), S. 301.
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Agonie seines Gewissens“904 Ausdruck. Auch Koschorke deutet die Szene als „Entlastungsmanöver“905: Schiller lasse den Helden auf eine Art von „alter ego“906Figur treffen, die als „Sündenbock, dem Tell seine Schuld überträgt“907, fungiere. Dass der Text an dieser Stelle die Schuldfrage aufwirft, ist nicht zu bezweifeln. Meiner Lesart zufolge wird sie jedoch nicht ins Spiel gebracht, um, wie Guthke meint, zu zeigen, dass die Revolution nur um den Preis der persönlichen Tragik der Tell-Figur gelinge, die als Einzelner, „seelisch Gebrochener“908 das politische „Glück des Volks“909 bedinge. Es geht im Schlussakt des Wilhelm Tell um alles andere als das individuelle Schicksal einer Figur, die zum Opfer der politischen Verhältnisse wird bzw. die für das politische Projekt Schuld auf sich lädt. Den letztgenannten Aspekt macht Koschorke stark, dessen Überlegungen kurz skizziert seien, weil damit ein avancierter Deutungsvorschlag zu Schillers politischer Analytik unterbreitet wird, dem gleichwohl mit Blick auf das Heroismus-Problem zu widersprechen ist. Ausgehend davon, dass die Verurteilung Ludwigs XVI. durch den Nationalkonvent in Frankreich den Hintergrund des Dramas bilde, argumentiert Koschorke, Schiller trenne Republikgründung und Tyrannenmord,910 um „die Idee der Republik, die durch die realen Ereignisse in Mißkredit geraten war, zu dekulpabilisieren“911. Wenn Wilhelm Tell den Tyrannen als Privatmann zur Strecke bringe, befänden sich beide im Naturzustand; die Frage, vor die sich die Revolutionäre in Frankreich gestellt sahen, nämlich diejenige nach der Legitimität eines per Gerichtsverfahren beschlossenen Königsmordes, entfalle somit in der Dramenfiktion.912 Der Souverän Geßler und der „outlaw[ ]“913 Tell träfen, so Koschorke weiter, außerhalb des Sozialvertrages aufeinander, so dass Tells gewissermaßen
904 Guthke (1994), S. 303. Vgl. auch Alt (2009/2), S. 584. Ähnlich auch Zymner (2002), der allerdings im Unterschied zu Guthke und Alt wenig differenziert annimmt, dass die Parricida-Szene eine Rechtfertigung sowohl des privat motivierten Geßlermordes als auch des Handelns der politischen Revolutionäre darstellt (vgl. S. 151). 905 Koschorke (2003), S. 119. 906 Koschorke (2003), S. 119. 907 Koschorke (2003), S. 119. Koschorkes Interpretation erschöpft sich darin nicht und es wird darauf noch zurückzukommen sein. 908 Guthke (1994), S. 304. 909 Guthke (1994), S. 304. In diesem Sinne äußert sich auch Alt (2009/2) im Verweis auf Guthke: „Tell hat die Last seiner Tat zu tragen, ohne daß ihm die soziale Gemeinschaft, der er angehört, den Druck der Selbstrechtfertigung nehmen könnte.“ (S. 584). 910 Vgl. Koschorke (2003), S. 115–118. 911 Koschorke (2003), S. 116. 912 Vgl. Koschorke (2003), S. 117–118. 913 Koschorke (2003), S. 118.
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ausgelagerter Mord dem republikanischen Projekt keinen ideologischen Schaden zufügen könne.914 Allerdings besteht Koschorkes Pointe darin, zu argumentieren, dass Tells Meisterschuss und damit eine Gewalttat als „blinder Fleck in den Kontrakt einbeschrieben“915 bleibe, ja als negatives Konstituens des Bundesschlusses im Text vorgeführt werde. Das Aufeinandertreffen von Tell und Parricida wird vor diesem Hintergrund im Rückgriff auf Agambens Analysefigur des homo sacer beschrieben: „Bevor die Gründungsgewalt in den Gründungsmythos der Republik einverleibt werden kann, muß sie symbolisch gebannt werden.“916 Tell übertrage seine Schuld auf Parricida, „um sich, derart entsühnt, gleich im Anschluß an diese Szene in den Rang eines Nationalhelden erheben zu lassen.“917 Wenn Koschorke Tells analytische Funktion für ein im Drama verhandeltes kontraktualistisches Projekt herausarbeitet, in dessen Horizont ein Diskurs über die Legitimität des Tyrannenmordes geführt werde, lässt er aus meiner Sicht das dafür entscheidende Problem des politischen Heldentums außer Acht. Zugespitzt gefragt: Zeigt das Drama in der Tell-Figur tatsächlich einen Tyrannenmörder, der von seiner Gewalttat durch die Parallelführung mit Parricida in letzter Minute entlastet werden müsste, um zum Gründungshelden zu taugen? Der erste Teil meiner Antwort lautet, dass Tell auch in dieser Szene nicht als Tyrannenmörder gezeigt wird, der erst nach erfolgtem Entschuldungsritual die nationale Heldenrolle spielen kann. Vielmehr begegnen Leser und Leserin einem, dem diese Rolle schon längst auf dem politisch entscheidenden Spielfeld zugewiesen ist, und zwar in den Köpfen der Rütlianer. Für diese stellt sich die Schuldfrage an keiner Stelle des Textes, so dass es wenig erstaunlich ist, wenn das Volk Tell in der Schlussszene endgültig – und in der Logik des im gesamten Dramenverlauf zu verfolgenden Heroisierungvorgangs nur folgerichtig – zum heldenhaften Tyrannenmörder stilisiert. In diesem Sinne, und darin besteht der zweite Teil meiner Antwort, weist Schiller mit dem Parricida-Intermezzo die Frage nach einer etwaigen Schuld des Helden, die im Übrigen nicht einmal in dessen Monolog thematisch ist, als irrelevant für den Heroisierungsvorgang aus. Die Szene führt auf verschiedenen Ebenen aus, dass die Schuldfrage im Falle des Helden Tell schlicht nicht greift. Zunächst ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass das Aufwerfen der Schuldfrage in der Parricida-Szene in dramenarchitektonischer Hinsicht als verspätet anmutet. Liest man den Monolog, wie ich vorgeschlagen habe, nicht als politische Rechtfertigungstirade, sondern als aufgeregtes Vorspiel zum 914 Vgl. Koschorke (2003), S. 118. 915 Koschorke (2003), S. 118. 916 Koschorke (2003), S. 119. 917 Koschorke (2003), S. 119.
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heroischen Meisterschuss, so fällt auf, dass eine Schuld Tells bis zu diesem Zeitpunkt nicht von ihm selbst und schon gar nicht von den Bundesbrüdern aufgeworfen wurde. Eine reflexive Einlassung des Helden über die Legitimität seines Handelns, die erst in der vorletzten Szene des finalen Aufzuges erfolgt, darf, so sie denn tatsächlich diesen Sinn hätte, im Hinblick auf den dramaturgischen Spannungsbogen als mindestens nachgetragen gelten bzw. sie wirkt, wie schon ein zeitgenössischer Rezensent bemerkt, wie eine in letzter Minute angehängte moralische Versicherung.918 Erscheint also das Auftauchen der Schuldfrage bereits formal eigenartig, so bestätigt dies auch ihre inhaltliche Ausgestaltung. Tritt Tell hier tatsächlich als Schuldiger bzw. Schuldbewusster auf? Und weiter: Wenn die Szene über die Parallelführung mit Parricida eine Schuld des Titelhelden diskutiert, um welche Schuld handelt es sich dann genau? D. h. natürlich nichts anderes, als zu überprüfen, wie der Geßlermord hier thematisiert wird, womit – wie schon im Falle des Monologs – die Frage nach einem politischen Impetus von Tells Tat zu stellen ist: Zeigt also die Parricida-Szene endlich den sich seiner Schuld bewusst werdenden Tyrannenmörder oder trifft der Kaisermörder Johann von Schwaben etwa auf den Familienvater, der sich gerächt hat? Oder ist es wiederum der heldenhafte Meisterschütze, der diesmal aus der Retrospektive über sein Tun Auskunft erteilt? Die Szene spielt, wie schon erwähnt, in „Tells Hausflur“ (WT, S. 498), das Herdfeuer brennt, während Hedwig und die „liebe[n] Kinder“ (WT, V. 3087) die Heimkehr des Vaters erwarten. Doch schon in den Anfangsversen wird deutlich, dass sich hier keine bloß familiäre Wiedervereinigung abspielen wird, kehrt doch, so Hedwig, ein Vater heim, „der’s Land gerettet“ (WT, V. 3089) habe. Noch expliziter wird Tell von seinen Lieben als Nationalheld adressiert, wenn Sohn und Gattin sogleich auf ihre jeweilige Rolle in Tells Heldengeschichte aufmerksam machen. Walther verweist auf seine Beteiligung an des Vaters Tat: „Und ich bin auch dabei gewesen, Mutter!/ Mich muß man auch mit nennen. Vaters Pfeil/ Ging mir am Leben hart vorbei und ich/ Hab’ nicht gezittert.“ (WT, V. 3090–3093) Walthers Begehren, sich namentlich im heroischen Narrativ zu verankern, bietet wiederum der Mutter dieses ‚Heldensohnes‘ die Möglichkeit, daran anzuknüpfen. Der Angliederungsversuch vollzieht sich auch körperlich, da Hedwig den Sohn umarmt (vgl. WT, S. 498) und ihre persönliche Teilhabe am heroischen Apfelschuss darin sieht, einen zweifachen „Mutterschmerz“ (WT, V. 3095) um Walther gelitten zu haben, ja ihn zweimal geboren zu haben (vgl. WT, V. 3094). Mit den Worten „Es ist vorbei – […]/ Und heute kommt der liebe Vater wieder!“
918 Vgl. die Rezension in der Zeitung für die elegante Welt vom 13.10.1804. Zit. n. Luserke (1996), S. 774.
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(WT, V. 3096–3097) deutet Hedwig an, dass die Heldengeschichte ihres Mannes nunmehr an ein Ende gekommen sein könnte; wäre da nicht jener unbekannte Mönch, der plötzlich anstelle des erwarteten Vaters an der Haustür erscheint (vgl. WT, S. 498). Auf dessen verstörenden Auftritt und Hedwigs massive Beunruhigung über sein Erscheinen ist zurückzukommen (vgl. WT, V. 3104–3124). Im Text jedenfalls wird mit Tells Ankunft (ab WT, V. 3125) die Szene vom Familienvater, der von seiner heroischen Abenteuerreise heimkehrt, weiter ausgeschrieben. Während Tell sich zunächst als über die wiedergewonnene Häuslichkeit erfreutes Familienoberhaupt gibt,919 ist es sein Sohn Wilhelm, der sich sogleich nach dem Verbleib der Heldenwaffe erkundigt: „Wo aber hast du deine Armbrust Vater?/ Ich seh sie nicht.“ (WT, V. 3136–3137) Tells Antwort stellt, wie schon Hedwigs Worte andeuteten, gewissermaßen eine Pensionierung des Helden, ein Ende seiner Schützenkarriere in Aussicht: „Du wirst sie [die Armbrust] nie mehr sehn./ An heilger Stätte ist sie aufbewahrt,/ Sie wird hinfort zu keiner Jagd mehr dienen.“ (WT, V. 3137–3139) Dass Tell seine Armbrust offenbar versteckt hat und den Ort des Verstecks noch dazu als heilig verrätselt, dient abermals der im Text betriebenen Heldeninszenierung, wie auch der Hinweis, man strebe keine ‚Jagd‘ mehr an, den sich zur Ruhe setzenden Heros ins Bild setzt.920 Als Hedwig im Folgenden ihren Mann an der Hand fasst, aber sogleich wieder vor dieser zurückschreckt – offenbar weil sie ihren Gatten ganz und gar nicht unschuldig glaubt –, legt Schiller seinem Protagonisten ein Bekenntnis in den Mund, das sein privates wie politisches Handeln erklären soll und das mehr noch einem Freispruch seiner selbst gleich kommt: Die Hand, so Tell an seine Gattin gerichtet, „[h]at euch verteidigt und das Land gerettet,/ Ich darf sie frei hinauf zum Himmel heben.“ (WT, V. 3143–3144) Wenn Tell sein Tun hier „herzlich und mutig“ (WT, S. 500) und so deutlich wie an kaum einer anderen Stelle im Stück als durchaus auch politisch grundiert ausweist, so wird er noch in derselben Szene, in der Auseinandersetzung mit Parricida wieder von einem derartig expliziten politischen Bekenntnis abrücken, mit dem er natürlich auch seine Rolle als Nationalheld annehmen würde. Diese ansatzweise Selbstheroisierung scheint
919 „Da bin ich wieder! Das ist meine Hütte!/ Ich stehe wieder auf dem Meinigen!“ (WT, V. 3134– 3135). 920 Dass das Ende der Heldenkarriere mit der Trennung von der Heldenwaffe einhergeht, kann als in der mittelalterlichen Artusdichtung vorgeprägter Topos gelten. Verschiedene Fassungen schildern die Episode, in der König Artus nach seiner letzten Schlacht einem Ritter befiehlt, das Schwert Excalibur in einem See zu versenken. Auch wird der Verbleib der Waffe mystifiziert, denn der Ritter versucht das Schwert zunächst zweimal zu verstecken, bis er es schließlich in den See wirft, wobei es von einer aus dem Wasser greifenden Hand aufgefangen wird. (Vgl. Simek (2012), S. 108).
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indessen der ideale Zeitpunkt für den dem Gespräch Tells mit seiner Familie beiwohnenden Mönch alias Johann von Schwaben zu sein, auf sich aufmerksam zu machen. Mit den Worten „Seid ihr der Tell, durch den der Landvogt fiel?“ (WT, V. 3147) wendet sich der als Mönch Verkleidete an Tell. Offenbar über dessen Heldentaten im Bilde unternimmt der flüchtige Herzog, der seinen Onkel, Kaiser Albrecht I., erschlagen hat,921 im Folgenden den Versuch, bei einem vermeintlichen ‚Bruder im Geiste‘ Schutz zu finden. Wie schon zuvor Hedwig und Walther ist auch Parricida bemüht, an Tells Heroismus zu partizipieren. Er tut dies, indem er einen Vergleich zwischen seinem und Tells Handeln anstellt: „Ihr erschlugt/ Den Landvogt, der euch Böses tat – Auch ich/ Hab einen Feind erschlagen, der mir Recht/ Versagte – Er war euer Feind wie meiner –/ Ich hab das Land von ihm befreit.“ (WT, V. 3151–3155) Die Reaktion des vermeintlichen ‚Heldenbruders‘ könnte allerdings ablehnender nicht sein: Voller „Entsetzen“ (WT, V. 3156) weicht Tell vor jenem zurück (vgl. WT, S. 500), den er als den Herzog von Österreich erkennt, und schickt Frau und Kinder ins Haus. An der sich anschließenden Auseinandersetzung zwischen Tell und demjenigen, der von nun an im Text nicht mehr als namenloser Mönch, sondern als Johannes Parricida geführt wird, fällt – zunächst auf rein inhaltlicher Ebene – auf, dass besagter Verbrüderungsversuch gehörig misslingt. Auf sämtliche Argumente, die der Flüchtige anbringt, um eine Parallele zwischen sich selbst und Tell herzustellen, reagiert letzterer mit schroffester Ablehnung. Tell reagiert nicht einmal inhaltlich auf den ersten, von Parricida angeführten Vergleichspunkt, der beide in der politischen Rolle als ‚Befreier‘ des Landes zusammen zu bringen versucht (vgl. WT, V. 3155–3158). Dies steht in erheblichem Widerspruch zu Tells noch wenige Verse zuvor artikuliertem politischen Bekenntnis (vgl. WT, V. 3143). An keiner Stelle im Dialog kommt die von Parricida anfangs projektierte ‚politische Bruderschaft‘ weiterhin zur Sprache, ein Wortwechsel von Tyrannenmörder (oder Kaisermörder) zu Tyrannenmörder (oder Vogtmörder) findet schlicht nicht statt. Stattdessen lässt Schiller den Herzog von Schwaben umgehend das Register wechseln, wenn dieser Tell alsdann mit einer in erster Linie privaten Begründung seiner Tat für sich einzunehmen antritt. Kaiser Albrecht habe ihn um sein Erbe betrogen (vgl. WT, V. 3164–3165), ein Vergehen, dass Tell, folgt man Parricidas verzweifeltem Verbündungsversuch, verstehen müsse, habe schließlich auch Tell ‚Rache an einem Feind‘ (vgl. WT, V. 3174) genommen. Es folgt die wohl eindringlichste Abwehr des Apfel- und Meisterschützen: Unglücklicher! Darfst du der Ehrsucht blutge Schuld vermengen 921 Der Mord wird bereits in V,1 von den Revolutionären thematisiert (vgl. WT, V. 2938–3028).
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Mit der gerechten Notwehr eines Vaters? Hast du der Kinder liebes Haupt verteidigt? Des Herdes Heiligtum beschützt? das Schrecklichste, Das Letzte von den deinen abgewehrt? – Zum Himmel heb’ ich meine reinen Hände, Verfluche dich und deine Tat – Gerächt Hab ich die heilige Natur, die du Geschändet – Nichts teil’ ich mit dir – Gemordet Hast du, ich hab mein teuerstes verteidigt. (WT, V. 3174–3184)
Wird ein Vergleich im Sinne einer geteilten politischen Handlungsgrundlage beider im Text von vornherein nicht ernsthaft angestrengt, so geht Tell in seiner Replik an dieser Stelle erstmals ex negativo darauf ein. Von Politik oder gar Tyrannenmord ist auch hier keine Rede, denn Tell präsentiert sich – wie schon im Monolog zu beobachten – als durch Notwehr gedrängter Verteidiger des eigenen oikos. Was Schiller seinen Protagonisten hier rechtfertigend anführen lässt, ist vielmehr eine vehement vertretene Differenzierung im Bereich genuin privater Tötungsmotive: Während den um sein Erbe Geprellten das egoistische Motiv der Ehrsucht antreibe, habe Tell in Verteidigung seiner Familie und noch dazu in gerechter Notwehr gehandelt. Ja, mehr noch semantisiert er die Tötung Geßlers – mit Ausnahme des Rachebegriffs – überwiegend mittels passiver und damit die Tat entschärfender Termini wie ‚Verteidigung‘, ‚Notwehr‘, ‚Schutz‘ und ‚Abwehr‘, während er den Herzog der ‚blutigen Schuld‘, der ‚Schändung‘ und schließlich explizit des ‚Mordes‘ bezichtigt. Tell gibt sich, das dürfte klar sein, erhebliche Mühe, die Parallele zwischen ihm und Parricida zu vermeiden. Klar ist auch, dass in derartigen Passagen kaum mehr nur latent die Frage nach Tells Schuld verhandelt wird, wobei es an keiner Stelle um eine im engeren Sinne politische Schuld eines bzw. zweier Attentäter oder Tyrannenmörder geht. Tell wehrt überdies jede Art von möglicher Schuld ab, auch die des aus privat-familialen Gründen Tötenden, wenn er seine Tat allen voran als Akt gerechter Notwehr ausgibt. Auffällig daran sind die frappierenden Inkonsistenzen dieser Argumentation mit Tells Einlassungen im Küßnachter Monolog. Guthke weist darauf hin, dass Tell den beschlossenen Schuss auf Geßler dort mehrfach als Mordtat bezeichnet (vgl. WT, V. 2570, 2621, 2629, 2634).922 Im Aufeinandertreffen mit Parricida hingegen wird Tatbestand des Mordes zum Differenzkriterium:923 Gemordet habe, so Tell, einzig der Herzog, und das aus denkbar niederen Motiven. Doch auch im Hinblick auf das im Monolog so extensiv entfaltete Motiv des ehrgeizigen Meisterschützen muss die Rede von Notwehr, Verteidigung und Schutz der Lieben, aber 922 Vgl. Guthke (1994), S. 297. 923 Vgl. Guthke (1994), S. 298.
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auch von Rache erstaunen. Ein später Rechtfertigungsversuch und letztlich auch ein implizites Schuldeingeständnis Tells?924 Dagegen spricht einiges: Im Hinblick auf den Dramenaufbau ist festzuhalten, dass ein solcher Handlungsstrang, der auf eine Selbstrechtfertigung und auf ein Schuldbekenntnis des Protagonisten hinausliefe, keinesfalls vorbereitet wird; auch der Monolog kann – angesichts der genannten Widersprüche zur Parricida-Szene – in meiner Lesart nur schwer als Vorspiel, sondern geradezu als gegenläufig dazu verstanden werden. Für den Meisterschützen, als der Tell in der hohlen Gasse vornehmlich präsentiert wird, stellt sich die Frage nach der (moralischen) Legitimation seines Handelns explizit nicht, dort ist allen voran der Erfolg die maßgebliche Maxime. Zwar wird im Monolog auf die private Tötungsmotivation rekurriert, wobei diese auch dort nicht im Horizont der Schuldfrage verhandelt wird, da Tell sein Handeln an keiner Stelle ernsthaft problematisiert oder in Zweifel zieht. „Tells Entschluß, Geßler zu töten, ist unerschüttert – vom Anfang des Monologs an“925, resümiert Guthke. Die Parricida-Szene komplettiert dieses Bild: Sie zeigt einen Tell, für den es auch im Nachhinein kein veritables Problem darstellt, den Vogt getötet zu haben. Stattdessen zeigt das Drama, dass „Tells That […] durch sich selbst schon gerechtfertigt“926 ist, wie ein anonymer Rezensent treffend bemerkt. Das ‚durch sich selbst‘ mag verwirrend klingen – wenn man sich aber vergegenwärtigt, dass Tells Tat/en im Text fast ausschließlich über die Perspektive der übrigen Figuren vermittelt werden, ja den politischen Deutungen der Revolutionsgemeinschaft unterliegen, ergibt dies einen guten Sinn. Schiller führt – zugespitzt formuliert – vor, dass es gleichgültig ist, was ein politischer Held tut und warum er es tut, solange ihn andere in dieser Rolle fortgesetzt affirmieren. Dass die Schuldfrage mithilfe der Parricida-Szene eingeschoben wird, ist, so meine Lesart, als Kommentar auf den im Text vom Anfang bis zum Ende ausgefalteten und reflektierten Heroisierungsprozess zu werten; daher auch die so störend anmutende Platzierung zwischen zwei Szenen, die den Helden in das vermeintlich harmonische, republikanische Schlussbild aufnehmen. Es spricht zusätzlich dafür, dass sich die Frage nach einer etwaigen Schuld des Helden für die Rütlianer bis zum Schluss nicht stellt, wenn Schiller die Parricida-Szene in Tells Haus verlagert und somit von der Sphäre des Öffentlichen distanziert. Was ‚im Inneren des Hauses‘, und d. h. weiter auch ‚im Inneren des Helden‘ vorgeht, ist, so lässt sich sagen, für dessen politische Indienstnahme irrelevant, wie Schiller ja auch nicht müde wird, Tell ein genuin politisches Bewusstsein abzusprechen. Die Brüderbündler feiern ihn
924 So deutet Guthke (1994) die Szene, vgl. S. 300–301. Ähnlich auch Alt (2009/2), S. 584. 925 Guthke (1994), S. 300. 926 Rezension in Isis vom März 1805. Zit. n. Luserke (1996), S. 784.
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am Ende des Stücks in aller Emphase als ihren nationalen Meisterschützen, ohne sich für seine Antriebe, sein Wollen und Trachten auch nur im Entferntesten zu interessieren. Im Zentrum der im Tell vorgelegten politischen Analytik steht folglich das symbolische politische Potential von Tells Heldentaten und in übergeordneter Hinsicht die revolutionäre Symbolpolitik, nicht die Frage nach seiner individuellen Schuld, nicht die Frage nach seinen persönlichen Wünschen und Überzeugungen. Und so macht Schiller mit jener irritierenden zweiten Szene des fünften Aufzuges ein semantisches Angebot, das er schon durch deren Rahmung desavouiert und in der Schlussszene gänzlich ausstreicht: Der Held Tell, nach dem in den Schlussversen der ersten Szene so drängend verlangt wird, ist eben nicht auf dem Büßergang nach Rom, den er Johannes Parricida so wohlfeil als Entschuldungsritual ans Herz legt (vgl. WT, V. 3232–3235), er muss nicht vor jedem Kreuz am Wegesrand auf die Knie fallen (vgl. WT, V. 3250–3251). Und er zeigt sich auch nicht, wie einige Interpreten meinen, als latent Schuldbewusster. Auf seinen eigenen Fall bezogen wehrt er die Frage, ob er sich durch die Gewalttat vergangen habe, in einer für ihn mitnichten charakteristischen, souveränen Rhetorik ab.927 Er markiert, auch körperlich (vgl. WT, S. 500, 502), fortwährend und vehement seine Differenz zu Parricida (vgl. WT, V. 3186–3188), ja tritt sogar als derjenige auf, der jenem ‚gemeinen Mörder‘ den Weg der Buße, den religiösen zumal, aufzeigt. Wenn Tell von Schuld spricht, so von derjenigen Parricidas (vgl. WT, V. 3235, 3251, 3256), der offenbar der einzige ist, für den diese Kategorie greift. Das geht sogar so weit, dass Tell das Opfer Parricidas, den machthabenden Kaiser, explizit ‚entschuldigt‘ und damit eine etwaige Ähnlichkeit zwischen sich selbst und Parricida auf einer weiteren Ebene nivelliert: Als der Herzog von dem Unrecht berichtet, das ihm durch Albrecht widerfahren sei,928 entgegnet Tell: „Unglücklicher, wohl kannte dich dein Ohm,/ Da er dir Land und Leute weigerte!/ Du selbst mit rascher wilder Wahnsinnstat/ Rechtfertigst furchtbar seinen weisen Schluß.“ (WT, V. 3204–3207) Um das Gesagte zu resümieren: Die merkwürdig nachgetragen wirkende Platzierung dieser vermeintlichen Schuldszene im Dramengefüge sowie ihre inhaltliche Ausgestaltung sprechen dafür, dass Schiller die Frage nach der Schuld des Helden stellt, um sie jedoch umgehend wieder für unbedeutend zu 927 Wobei, wie schon angemerkt, vieles, was Tell Parricida entgegen hält, ganz und gar nicht im Einklang mit dem steht, was er in Küßnacht geäußert hat. Vgl. zu Tells Rhetorik auch Koschorke (2003), der argumentiert, dass sich Tell zum Zwecke der Schuldabwehr „auf exzessive Weise des Vokabulars der Reinheit“ (S. 119) bediene. 928 Johann führt an, der Kaiser habe ihm Ländereien vorenthalten, die ihm erblich zustünden (vgl. WT, V. 3195–3203).
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erklären. D. h. auch, dass der Vergleich zwischen Tell und Parricida in meiner Lesart bereits strukturell hinkt. Die figurale Konfrontation führt vielmehr vor, dass der Held Tell gar keiner Entsühnung bedarf und, ex negativo, dass Parricida eben kein Held ist, weil ihm die zur Heroisierung entschlossene, politische Gemeinschaft im Rücken fehlt. Was Tell betrifft, so steht letztere nicht erst in der Schlussszene hinter ihm. Daher schlägt auch Parricidas Angliederungsversuch an das Heldennarrativ von vornherein fehl. Im Sinne seiner politischen Analytik baut Schiller ein denkbar schlechtes alter ego für Tell auf, um auf die Bedeutung und vor allem auf die Eigenlogik des Heroisierungsprozesses im Gründungsakt aufmerksam zu machen. Dass der Text zwar eine Parallele zwischen Tell und Parricida anbietet, diese aber sogleich wieder durchstreicht, findet seinen Ausdruck nicht zuletzt in einem anagnoristischen Anspielungsgefüge, das im Vorfeld und im Verlauf der Szene am Werk ist und auf das abschließend der Blick gerichtet sei. Die Szene V,1, die dem Aufeinandertreffen zwischen Tell und Parricida unmittelbar vorangeht, thematisiert, dass es neben dem Geßlermord einen weiteren Mord an einem Machthaber gegeben hat. Dieser ist deswegen so brisant, weil der Mörder im Hinblick auf die politische Hierarchie nicht höher hätte greifen können. So verlautbart Pfarrer Rösselmann den Bundesbrüdern in heroldischem Gestus: „Hört und erstaunet! […] Der Kaiser ist ermordet.“ (WT, V. 2941–2943) Schiller entfaltet den Bericht von der Ermordung Albrechts in 90 Versen, genug Raum für die notwendigen Sachinformationen, aber auch, um die aufgeregten Reaktionen der Rütlianer zu schildern (vgl. WT, S. 493). Es sei vorläufig beiseite gelassen, dass bereits in diesem Passus – und nicht erst in V,2 – eine Differenz vermerkt wird zwischen jenem, vom schwäbischen Herzog begangenen „Vatermord[ ]“ (WT, V. 2953) und Tells Meisterschuss auf Geßler. Entscheidend ist, dass durch die bare Okkurrenz des Kaisermörders dramaturgisch auf die Konfrontation mit Tell und auch auf das figurale Vergleichsangebot hingearbeitet wird, das die zweite Szene des fünften Aufzuges denn auch unterbreitet. Jenseits der politischen Folgen, die der Mord am ranghöchsten weltlichen Regenten für die Aufständischen hat, streut das Drama durch die indirekte Einführung eines ‚zweiten‘ Obrigkeitsmörders den Keim zu einem Handlungsstrang, der die Szene einer Zusammen- und Parallelführung zwischen Tell und Parricida in den Bereich des politisch Wahrscheinlichen rückt. Der Hinweis „Herzog Johann soll irren im Gebirge.“ (WT, V. 3010) ist aus dieser Perspektive keinesfalls beiläufigen Charakters, sondern stellt die Möglichkeit seines Auftritts und auch seines Zusammentreffens mit Tell in Aussicht, zumal das ‚Gebirge‘ der präferierte Aufenhaltsort des heldenhaften „Alpenjäger[s]“ (WT, V. 1504, vgl. auch 163–164) ist. Es mag auf den ersten Blick erstaunen, die Szene zwischen Tell und Parricida vor diesem Hintergrund als Konstellation des Wiedererkennens beschreiben
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zu wollen, sind sich doch der Herzog von Schwaben und Wilhelm Tell zuvor nie begegnet. Eine eng gefasste, ‚klassische‘ Anagnorisis etwa zwischen Verwandten, Freunden oder Liebenden wird in der Parricida-Szene sicher nicht nahe gelegt, wohl aber wird – ganz im Sinne der Aristotelischen Definition – „der Übergang aus dem Zustand der Unwissenheit in den des Wissens, der zu Freundschaft oder Feindschaft führt, bei Handelnden, die zu Glück oder Unglück bestimmt sind“929, geschildert. Ich möchte argumentieren, dass Schiller eine umfassende Wiedererkennung auf der Ebene der Tat suggeriert,930 diese aber scheitern lässt. Damit ist natürlich auch die Schuldfrage berührt: Tell müsste, wäre die Schuld-These zutreffend, seine eigene Tat, die Tötung Geßlers, in der fremden Tat, dem Kaisermord, wiedererkennen und damit auch Parricidas Vergleichsangebot annehmen. Das anagnoristische Allusionsnetz durchzieht die Parricida-Szene auf verschiedenen figuralen Ebenen. War bereits im Gespräch der Revolutionäre von einem Flüchtigen, im Gebirge Herumirrenden die Rede, so erscheint dieser denn auch tatsächlich an Tells Haustür (vgl. WT, S. 498), allerdings in der Maskerade eines reisenden Mönchs. Die Verkleidung verzögert zwar, dass ihr Träger als der flüchtige Herzog von Schwaben erkannt wird, jedoch lässt sein hochnervöses (vgl. z. B. WT, S. 498) Verhalten bei Tells Frau sehr schnell erhebliche Zweifel an der Echtheit jener aufgesetzten Identität entstehen (vgl. WT, V. 3109–3111, 3114–3115). Als der Mönch in seiner paranoiden Überspanntheit und wohl als Versicherung gegen etwaige im Haus lauernde Verfolger die Kinder als Geiseln ergreift (vgl. WT, S. 499), äußert Hedwig in aller Deutlichkeit, die Verkleidung durchschaut zu haben: „[…] Ihr seid kein Mönch! Ihr seid/ Es nicht! Der Friede wohnt in diesem Kleide,/ In euren Zügen wohnt der Friede nicht.“ (WT, V. 3119–3121) Wer er eigentlich ist, gibt der falsche Mönch, der sich recht kryptisch als „der unglückseligste der Menschen“ (WT, V. 3122) vorstellt, Tells Gattin gegenüber noch nicht preis. Der Wortwechsel zwischen ihm und Hedwig, die ihre diffuse Abwehr klar artikuliert („Doch euer Blick schnürt mir das Innre zu“ (WT, V. 3124)), wird an dieser Stelle durch Tells Ankunft unterbrochen. An der sich anschließenden Wiedersehensszene ist im Hinblick auf die Anagnorisis zweierlei bemerkenswert: Erstens reagiert Hedwig ähnlich auf ihren heimkehrenden Mann, wie sie sich kurz zuvor Parricida gegenüber verhalten hat, nämlich mit einem in seiner Provenienz nur angedeuteten, abwehrenden Unbehagen. Auf Tells Erklärung, er habe seine Armbrust für immer niedergelegt, folgt dieser Dialog:
929 Aristot., poet., 11, 1452a29–32. 930 Laut Aristoteles kann sich die Wiedererkennung auch auf dieser Ebene vollziehen (vgl. Aristot., poet., 11, 1452a35–36).
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HEDWIG O Tell! Tell! tritt zurück, läßt seine Hand los. TELL Was erschreckt dich, liebes Weib? HEDWIG Wie – wie kommst du mir wieder? – Diese Hand – Darf ich sie fassen? – Diese Hand – O Gott! TELL herzlich und mutig: Hat euch verteidigt und das Land gerettet, Ich darf sie frei hinauf zum Himmel heben. Mönch macht eine rasche Bewegung, er erblickt ihn Wer ist der Bruder hier? (WT, V. 3140–3145, S. 500)
Das Zurückweichen vor Tell, die Furcht, seine Hand zu berühren, mit der er sich, so suggeriert es der Wortwechsel, versündigt bzw. schuldig gemacht haben könnte – all diese Gesten, Hedwigs ängstlich prüfende, stammelnde Annäherung an Tell, die als Kombination anaphorischen und elliptischen Sprechens gestaltet wird, und nicht zuletzt die Unwissenheit, was ihr Mann getan haben könnte, sind Verhaltensweisen, die in offensiverer Form auch in Hedwigs Interaktion mit dem fremden Mönch zu beobachten sind. Beide stehen, diese Parallelität baut der Text feinsinnig auf, unter Verdacht; womit natürlich die Erwartung ins Spiel gebracht wird, diesen aufzuklären. Die Aufklärung vollzieht sich denn auch in Gestalt einer reziproken, zunächst gelingenden Anagnorisis-Konstruktion. Tell und Herzog Johann erkennen sich gegenseitig jeweils aufgrund dessen, was sie getan haben. Tells Identität geht dem verkleideten Herzog wohl schon mit der schlichten Nennung seines Namens durch Hedwig auf, ist es doch genau dieser Begrüßungsmoment zwischen den Eheleuten, in dem der Mönch, so die Didaskalie, „aufmerksam“ (WT, S. 499) wird. Auf sich selbst macht er kurz darauf, nach Tells Bekenntnis, er habe das Land gerettet (vgl. WT, V. 3143, S. 500) aufmerksam: „Seid ihr der Tell, durch den der Landvogt fiel?“ (WT, V. 3147) lautet die Frage, die der Herzog an Tell richtet und mit der er die Tat des Meisterschützen als dessen maßgebliches Erkennungsmerkmal ausweist. Tell bestätigt diese Identitätsbestimmung durch die Tat in einer Offensivität, die durchaus als erste, indirekte Abwehr jeglichen Schuldvorwurfes verstanden werden kann: „Der bin ich, ich verberg es keinem Menschen.“ (WT, V. 3148) Ein solch freimütiges Bekenntnis zu seiner Tat steht in erheblichem Widerspruch zum Verhalten des Herzogs, der seinen Mord unter der Mönchskutte zu verbergen antritt. Es löst allerdings auch den ersten Selbstenthüllungsakt Johanns aus, welcher gleichzeitig das noch kryptisch gehaltene Angebot impliziert, Tell möge sich mit seiner Tat in derjenigen des Herzogs wiedererkennen: „Auch ich/ Hab einen Feind erschlagen, der mir Recht/ Versagte – Er war euer Feind wie meiner –/ Ich hab das Land von ihm befreit.“ (WT, V. 3152–3155) Es reicht aus, wenige Wortfetzen aus Tells unmittelbarer Replik anzuführen, um zu erahnen, dass die hier zur Disposition stehende
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Wiedererkennung des einen Täters im anderen fehl gehen wird: Blankes „Entsetzen“ (WT, V. 3156) löst die Rede des Mönchs, den er als „Unglückliche[n]“ (WT, V. 3157) tituliert, in ihm aus, so dass er Frau und Kinder ins Haus schickt, um sie gewissermaßen im gnadenvollen Zustand der Unwissenheit über die Schreckenstat des Herzogs zu halten (vgl. WT, V. 3156–3161). Dramenpoetisch gesprochen wird an dieser Stelle die Möglichkeit der Anagnorisis im Sinne des aptum931 für Tells Familie durchgestrichen. Den Titelhelden hingegen lässt Schiller den Pfad der Wiedererkennung beschreiten; und dies zwar mit einem Wissenszuwachs über den anderen, aber nicht über sich selbst. So richtet Tell schließlich die das anagnoristische Strukturschema erfüllenden Worte an den falschen Mönch: „Ihr seid der Herzog/ Von Österreich – Ihr seids! Ihr habt den Kaiser/ Erschlagen, euern Oh’m und Herrn.“ (WT, V. 3162–3164) Nicht nur die Erwiderungen des Herzogs, sondern auch der Umstand, dass im Text von nun an statt des Mönchs namentlich „Johannes Parricida“ (WT, S. 501) das Wort führt, weisen die Wiedererkennung auf dieser Ebene als gelungen aus. Nun müsste Tell, spinnt man den Faden weiter, nur noch aufhören, das eigene Handeln von Parricidas Tun abzugrenzen, sich in Parricida selbst als politischen Attentäter wiedererkennen, und das Schuldeingeständnis des Titelhelden wäre in allerletzter Minute durch ein fraglos textuell angelegtes Anagnorisisgefüge auch formal platziert. Allein, wie soll eine solche Schuld-Anagnorisis gelingen, wenn Tell in der vollen Überzeugung, selbst ein „gute[r] Mensch[ ]“ (WT, V. 3171) zu sein, die Tat seines vermeintlichen alter ego als diejenige eines Unmenschen bezeichnet: „Euern Ohm/ erschlagen, euern Kaiser! Und euch trägt/ Die Erde noch! Euch leuchtet noch die Sonne!“ (WT, V. 3165–3167) Tell wird zwar im Laufe der Szene von dieser doch äußerst rigiden Abwehrhaltung gegenüber Parricida abrücken. Bezeichnenderweise vollzieht sich die Minimalannäherung in ähnlicher Diktion: Tell konzediert eine Parallele zwischen sich und Parricida in der geteilten Globalqualität des ‚Menschseins‘ (vgl. WT, V. 3224). Gewissermaßen als ‚Gattungsgenosse‘ gewährt Tell dem Kaisermörder Trost und Unterstützung, allerdings explizit seiner „gräßliche[n]“ (WT, V. 3223) Tat zum Trotz und keineswegs, weil sich der erprobte Meisterschütze und schon lange designierte Nationalheld darin wiedererkennen würde. Er schickt ihn stattdessen auf den Büßergang nach Rom. Durch eine solche, in letzter Instanz scheiternde Anagnorisis-Konstellation desavouiert Schiller die Möglichkeit, dass sich Tell am Dramenschluss als 931 Parricidas Tat wird von Tell als entsetzliches Geschehen rezipiert und im Zuge dessen als an die Grenzen des Angemessenen rührendes, undarstellbares Ereignis ausgewiesen. Entsprechend will der Vater den Bericht über den Kaisermord den Ohren der Kinder entzogen wissen: „Fort! Fort! Die Kinder dürfen es nicht hören.“ (WT, V. 3159) Auch dadurch wird im Text eine Differenz zwischen beiden Taten bzw. Tätern aufgebaut.
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politischer Attentäter erkennt und zu erkennen gibt. Zwar vollzieht sich, und das auch noch reziprok, die Wiedererkennung zweier ‚Täter‘ und auch in dramenkompositorischer Hinsicht ist der Boden für eine gelingende Schuldanagnorisis mehr als bereitet, die den Helden als dezidiert politisch Handelnden ausweisen würde. Als ein solcher argumentiert er jedoch auch in der Parricida-Szene nicht. Der entscheidende Punkt ist indessen, dass es für seinen Heldenstatus gänzlich unerheblich ist, ob er sich als Tyrannenmörder selbst erkennt, der mit seiner Tat Schuld auf sich geladen hat. Die Bundesbrüder sind längst auf dem Weg zu Tells Haus, um ihn endlich auch körperlich in ihre Mitte aufzunehmen. Ganz in diesem Sinne wird sein Zwiegespräch mit Parricida mit dem Hinweis auf das nahende Volk unterbrochen: „Wo bist du Tell?/ Der Vater kommt! Es nahn in frohem Zug/ Die Eidgenossen alle –“ (WT, V. 3271–3273). In der unmittelbar bevorstehenden politischen Choreographie – die revolutionäre Gemeinschaft umringt ihren Helden – stört freilich ein egoistisicher Kaisermörder. Und so wird Parricida, jener „Unglückliche[ ]“ (WT, V. 3174), der Szenerie verwiesen, er wohnt dem Bund der „Glücklichen“ (WT, V. 3274) nicht bei. Weil er kein Held ist. Im Hinblick auf den analytischen Gehalt eines solchen figuralen Arrangements lassen sich folgende Schlussbemerkungen formulieren: Johannes Parricida ist allenfalls seinem punktuell artikulierten Selbstverständnis gemäß ein Tyrannenmörder, er wird jedoch nicht als solcher und schon gar nicht als jemand, dem Heldenruhm gebührt, wahrgenommen. Worauf Schiller das Augenmerk richtet, ist die massiv divergierende Rezeption seiner und Tells Tat durch die politische Gemeinschaft. Das belegt schon die Reaktion der Bundesbrüder auf die Nachricht des Kaisermordes in V,1: Von Beginn wird ein kollektives Entsetzen über jene „grauenvolle Tat“ (WT, V. 2949) artikuliert, die der Herzog mit zwei Verbündeten begangen hat. Der Mord an Albrecht wird als persönlicher Racheakt (vgl. WT, V. 3012), ja als gänzlich selbstsüchtige „Untat“ (WT, V. 3011) aufgefasst, die, wie zweimal betont wird, für die Mörder „keine Frucht“ (WT, V. 3011) trägt, keinen „Gewinn“ (WT, V. 3015) bringt. Dies steht in offensichtlichem Gegensatz dazu, wie unmittelbar und unhinterfragt Tells Taten im kollektiven Imaginären Blüten treiben, d. h. für die revolutionäre Symbolpolitik produktiv gemacht werden.932 Und Tell selbst erlangt dadurch, ob er will oder nicht, Heldenrang.
932 Die Rede von der ‚Fruchtlosigkeit‘ des Kaisermordes steht in frappierendem Widerspruch etwa dazu, welche symbolische ‚Fruchtbarkeit‘ Attinghausen dem Tellʼschen Apfelschuss für die politische Gemeinschaft zuspricht: „Aus diesem Haupte, wo der Apfel lag,/ Wird euch die neue beßre Freiheit grünen,/ Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,/ Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“ (WT, V. 2423–2426).
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Zwar sprechen die Rütlianer auch dem Kaisermord einen politischen Nutzen für ihre Sache keineswegs ab; die Tat kann indessen nicht umstandslos in das republikanische Narrativ integriert werden, weil sie – anders als Tells Heldentaten – explizit hinterfragt wird. Man interessiert sich im Falle Johanns von Schwaben sehr wohl für dessen Motive.933 Wenn im Text die Gerüchtekunde dargelegt wird, dass der Herzog wegen eines hintertriebenen Erbes aus Rachsucht getötet hat (vgl. WT, V. 2954–2957, 2963, 3011–3017) und die Tötung Albrechts als heimtückische Bluttat einer Mörderbande (vgl. WT, V. 2965–2987) ausführlich geschildert wird, so torpediert dies seine Eignung zur nationalen Befreierfigur, ja sein Potential, durch die Tat zum Helden werden zu können. Der Mord ist in diesem Sinne für die Täter selbst ‚fruchtlos‘ und für das Rütli-Projekt bedingt ‚fruchtbar‘, weil mit dem Kaiser „der Freiheit größter Feind“ (WT, V. 3019) beseitigt worden ist, wobei man sich im Klaren darüber ist, dass damit das Kaisertum mitnichten abgeschafft ist, sondern der Nachfolger bereits designiert ist (vgl. WT, V. 3020– 3028). Der Unterschied zu Tell besteht ganz wesentlich darin, dass in seinem Fall nicht erst „[d]es blutgen Frevels segenvolle Frucht“ (WT, V. 3017) mühevoll geerntet werden muss. Ein etwaiger Makel, der dem Mörder Geßlers anhaften könnte, wird im Text von Seiten der Revolutionäre an keiner Stelle ernsthaft diskutiert. Es scheint dem Volk gleichgültig zu sein, Genaueres über Tells Beweggründe zu erfahren, was dadurch konterkariert wird, dass das Drama etwa im Monolog durchaus auch unehrenhafte Gründe des Nationalhelden ins Spiel bringt und Tells Rolle als eines politischen Attentäters merklich in Zweifel zieht. Vom Geßlermord geht insbesondere in Kombination mit dem ihm vorangehenden Heldenstreich, dem Apfelschuss, eine fundamental andere, in ihrer symbolischen ‚Pro-Rütli‘-Direktion rasch fixierte Symbolwirkung aus. Das führt der im Text sowohl inhaltlich als auch auf formaler Ebene angestoßene, aber ad absurdum geführte Vergleich zwischen Wilhelm Tell und Johannes Parricida eindrucksvoll vor Augen. Indessen versteht sich Tell weder selbst in emphatischem Sinne als politischer Attentäter noch wird er im Text konsistent als ein solcher präsentiert. Er gilt vielmehr als Assassine, wird doch sein Tun anhaltend für das republikanische Projekt in Dienst genommen. Der Text demonstriert, dass es für den Heroisierungsvorgang gleichgültig ist, was im Vorfeld, während und im Nachgang des Apfelschusses bzw. des Meisterschusses im Kopf desjenigen vorgeht, der jene Taten vollzieht. Schiller bannt somit eine etwaige mit der Gründungsgewalt verbundene
933 „Was trieb ihn zu der Tat des Vatermords?“ (WT, V. 2953) lautet die Frage nach den Beweggründen des Herzogs – eine Frage, die man sich im Falle von Tell schlicht nicht stellt.
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Schuld nicht in der Figur des Parricida, wenn er diesen nach Rom pilgern lässt.934 Der Text überschreibt in süffisanter Manier das gewiss aufgerufene Problem, wie Republikgründung und Tyrannenmord – oder auch revolutionäre Gewalt im Allgemeinen – ideologisch zu vereinbaren sind, indem weitaus grundsätzlicher in Zweifel gezogen wird, ob sich im Falle Geßlers (und letztlich auch Parricidas) überhaupt ein genuin politisch motivierter Tyrannenmord ereignet. Der zweite Schritt in einer solchen Analytik besteht darin, vorzuführen, wie Tell nichtsdestotrotz vom Volk zum heroischen Tyrannenmörder stilisiert werden kann. Schillers Drama lässt sich damit als Kommentar zum politischen Imaginären verstehen: Er notiert die imaginäre Produktivität, die von der Tötung Geßlers ausgeht, wenn er den vor allem als Meisterschützen antretenden Täter dadurch endgültig zum Nationalhelden werden lässt. Genau besehen zeigt das Tell-Drama, wie Gewalt im politischen Heroisierungsprozess allererst zur Gründungsgewalt semantisiert wird. Die Parricida-Szene fungiert dabei als Kontrastfolie: Der Kaisermord des Herzogs bleibt von Beginn an blutiger, innerfamiliärer Frevel (vgl. WT, V. 3017), es tritt schlicht niemand und schon gar kein Bruderbund an, um den Dolchstoß des Herzogs in des Kaisers Kehle (vgl. WT, V. 2978) zur Heldentat zu erklären. Wenn der Text die figurale Zusammenstellung des möglichen politischen Heldenduos ‚Tell – Parricida‘ derart scheitern lässt, so ist damit mehr über die Funktionsweise der die Revolution begleitenden Symbolpolitik gesagt – deren elementarer Bestandteil das Heldennarrativ der Gemeinschaft ist – als über das prekäre Verhältnis von Tyrannenmord bzw. politischer Gewalt und kontraktualistischer Republikgründung.935 Dementsprechend inszeniert das Drama in der Schlussszene den hochsymbolischen Höhepunkt der Tellʼschen Heldengeschichte, indem es die Aufnahme des Helden in die Gemeinschaft publikumswirksam vor Augen stellt. Dieses Schlussbild erinnert wieder an Tells antiken Heldenahnen: Während der heroische Meisterschütze bei Homer als alter-neuer König aus der Probe hervorgeht und in den den 22. Gesang beschließenden Versen feierlich von seinem Gefolge umringt wird,936 versammelt sich auch am Ende des Tell-Schauspiels das Volk mit den Worten „Es lebe Tell! Der Schütz und der Erretter!“ (WT, V. 3281) um seinen schießerprobten Helden. Tell endet inmitten der Gemeinschaft, in die er nicht selbst tritt und zu der er sich auch an dieser Stelle nicht verhält. Dass dieses malerisch-harmonische politische Schlussbild trügt bzw. seinen rechten Ort in den Köpfen der Schweizer, in ihren Phantasien, Vorstellungen und Träumen hat,
934 So Koschorke (2003), S. 118–122. 935 Vgl. Koschorke (2003), S. 118–122. 936 Vgl. Hom., Od., 24, 498–501.
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bemerkt Guthke mit einiger ironischer Schärfe: „Wenn also die Bevölkerung im Schlußtableau Tell als den Befreier des Landes und Urheber der Freiheit feiert, bekundet sie einen bemerkenswerten Mangel an realistischem Bauernverstand und um so mehr Talent zum Mythenbilden.“937 Anders formuliert: Es bleiben der schweigende Tell und die freudige Menge.
4 Wie man eine Kaisertochter wird. Käthchens Näschen 4.1 Wien 1810 – Zwei unglückliche Kaisertöchter Es mag die Spannung nehmen, die letzte Seite eines Buches zuerst zu lesen. Im Fall von Kleists Käthchen von Heilbronn gelangt man jedoch auf diesem Weg, gleichsam durch die Hintertür, auf die Spur eines ganz besonderen politischen Heldinnendramas. Der vierzehnte Auftritt des fünften Aktes zeigt das „Käthchen im kaiserlichen Brautschmuck“ (KH, S. 434), eine Rampe herabschreitend. Ein fünfmal wiederholter Segensgruß schallt ihr entgegen: GRAF OTTO Heil dir, o Jungfrau! RITTER FLAMMBERG und GOTTSCHALK Heil dir, Käthchen von Heilbronn, kaiserliche Prinzessin von Schwaben! VOLK Heil dir! Heil! Heil dir! (KH, Z. 2736–2739)
Wie wird aus dem für seine Schlichtheit und vor allem für seine Untertänigkeit so berüchtigten Bürgermädchen, wie wird aus dem devoten Käthchen von Heilbronn niemand Geringeres als die Kaisertochter „Katharina […] von Schwaben“ (KH, V. 2620)? Die Frage scheint auf den ersten Blick eher die Peripherie des Kleist’schen Stückes aus dem Jahr 1810 zu betreffen, zumal zwar im Textverlauf immer wieder und in unterschiedlichen Subtilitätsgraden darauf angespielt wird, aber erst im oft als irritierend wahrgenommenen, dramatischen Schlussteil eine Antwort angeboten wird. Und auch auf den zweiten Blick bildet der politische Aufstieg der Protagonistin zur Prinzessin nicht das Zentrum des Dramas, folgt man dem bisherigen Interpretationskonsens. Grund dafür ist der so offensiv ins Auge springende, in seiner Exzentrizität faszinierende Liebesplot zwischen Käthchen und jenem Adeligen, der auf den schönen Namen „Friedrich Wetter, Graf vom Strahl“ (KH, S. 322) hört. Vor allem um Liebe und nur am Rande um Politik gehe es demnach im Käthchen von Heilbronn.
937 Guthke (1994), S. 286.
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Im Gegensatz zu dieser vornehmlich auf den amourösen Handlungsgang fokussierten Deutungslinie wird hier das Augenmerk auf die politischen Implikationen des Textes gerichtet. Daher also der vorgreifende Blick auf die letzte Seite, der die zur Kaisertochter Ermächtigte präsentiert – ein Status, der Käthchen selbst hoffnungslos überfordert. Noch auf eine andere, ebenfalls neue und ihr ebenso unverhofft zuteil werdende Rolle macht das Schlussbild aufmerksam: auf diejenige als Braut des von ihr so obsessiv verfolgten Grafen vom Strahl, dessen Traum es ist, eine Kaisertochter zu heiraten. Dass sie angesichts des euphorischen Ausrufs ihres Bräutigams „Käthchen! Meine Braut! Willst du mich?“ (KH, Z. 2746–2747) umgehend „Gott und alle Heiligen“ (KH, Z. 2748) um deren Schutz ersucht und plötzlich niedersinkt, taugt allerdings nicht als happy end der Liebeshandlung, die auf ebendiesen Ehebund zwischen der frisch gebackenen Kaisertochter und dem Grafen zuzulaufen scheint. Eine andere Kaisertochter wird im Jahre 1810 ähnlich wie Käthchen in gewissem Sinne wider Willen vor den Altar geführt, und zwar von einem Mann, dem es zur Absicherung seiner Macht nur von Vorteil sein kann, eine solche zu heiraten. Am 11. März findet in Wien die Trauung zwischen der Tochter des österreichischen Kaisers Franz, Marie Louise, und Napoleon Bonaparte statt – in Abwesenheit des Bräutigams; die offizielle Hochzeit erfolgt am 1. April im Pariser Louvre. Dem französischen ‚Aufsteiger‘-Kaiser und korsischen Kleinadeligen fehlt es am dynastischen Legitimationsgrund seiner Herrschaft.938 Durch die Ehe mit Marie Louise ist aus dem bereits errungenen militärischen Sieg über Österreich für Napoleon zuvorderst symbolisches Kapital zu schlagen. Der Brautvater Franz hingegen erhofft sich nach der Niederlage im Fünften Koalitionskrieg (1809) und dem Friedensschluss auf Schönbrunn (1809) eine Stabilisierung der politischen Beziehungen mit Frankreich. Die Braut allerdings ist die Leidtragende in diesem machtpolitischen Kalkül; legendär ist die Anekdote, Marie Louise habe als Kind eine Puppe mit dem Namen ihres Zukünftigen besessen, die sie beschimpft und nach Herzenslust, stellvertretend für den ihr verhassten Kontrahenten des Vaters, malträtiert haben soll.939 Legendär ist auch der resignierende Kommentar des österreichischen Diplomaten Fürst Schwarzenberg gegenüber Metternich, in dem die Kaisertochter zum politischen Tauschobjekt erklärt wird: „‚[M]an muß sie opfern. […] Kann man zögern, zwischen dem Untergang der Monarchie und dem Unglück einer Prinzessin zu wählen?‘“940 Die Erfüllung von Napoleons „Kaiserträume[n]“941, sein Einheiraten in 938 Vgl. Heimann (32006), S. 92. 939 Vgl. Schiel (1983), S. 28. 940 Zit. n. Schiel (1983), S. 25. 941 Heimann (32006), S. 92. So auch Kohler (1994), S. 471.
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eine der ältesten regierenden Dynastien Europas, wird dem Unglück der Braut zum Trotz in Wien feierlich zelebriert. Auf die Bühne kommt dabei am 17. März 1810 vom Autor lang ersehnt, aber keineswegs für diesen Anlass vorgesehen, Kleists Kaisertochter-Drama. Der Autor selbst erwähnt in einem Brief an Georg Andreas Reimer, Das Käthchen von Heilbronn sei „auf dem Theater an der Wien, während der Vermählungsfeierlichkeiten, zum Erstenmal gegeben“942, an zwei weiteren Tagen in Folge und auch danach noch häufig gespielt worden. Kleists Korrespondenz lässt keinen Schluss dahingehend zu, wie er die Koinzidenz der Uraufführung mit jener Eheschließung bewertet, die doch seine Hoffnungen auf einen Widerstand Österreichs gegen Napoleon gänzlich zerstreut haben dürften. Bekanntermaßen gilt der österreichische Kaiser für Kleist als Gallionsfigur einer deutschen „Nationalerhebung“943, wie seine politische Schrift Über die Rettung von Österreich aus dem Jahr 1809 eindringlich dokumentiert. Diese schließt fulminant mit einer Franz in den Mund gelegten „Proklamation“944 zur kampfbereiten Wiederherstellung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Erklärtes Ziel dieses fiktiven Restitutionsversuchs ist es, „die Franzosen aus dem Lande zu jagen“945. Dass die Inszenierung des Stücks in Wien mit der Hochzeit von Napoleon und Marie Louise zusammenfällt, wird im aufführungsgeschichtlichen Kommentar der Kleist’schen Klassiker-Ausgabe erwähnt.946 Barth und Seeba erscheint es genauer als Ironie der Geschichte […], daß nach Napoleons Sieg in Wien nicht mehr die Herrmannsschlacht (von der Kleist noch ein Jahr vorher, am 1.1.1809 in einem Brief an Collin, gewünscht hatte, ‚daß es früher auf die Bühne käme als das Käthchen‘, weil sie den bevorstehenden Kampf gegen Napoleon beflügeln sollte), sondern, ausgerechnet im Anschluß an die dynastische Besiegelung des Sieges über Österreich, das Käthchen von Heilbronn aufgeführt wurde […].947
Zwar wird hier vermerkt, dass das Drama in einer Stadt erstmals auf die Bühne gebracht wird, die als zentraler Schauplatz des tagesaktuellen, politischen Geschehens gelten kann, und dass es überdies in einer Situation aufgeführt wird, in der durch die ehelich verbriefte Allianz mit Frankreich alle auf Österreich ruhenden Hoffnungen enttäuscht werden, dem Napoleonischen Imperialismus
942 Kleist, Briefe, S. 447 (Kleist an Georg Andreas Reimer, 10. August 1810). 943 Kleist, RÖ, S. 501. Vgl. dazu Kittler (1993). 944 Kleist, RÖ, S. 501. 945 Kleist, RÖ, S. 503. 946 Vgl. Barth/Seeba (1987a), S. 911. 947 Barth/Seeba (1987a), S. 911.
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entgegenzuwirken. Allerdings werden diese besonderen Umstände der Theaterpremiere allenfalls als ‚ironischer Zufall‘ bewertet und nicht weiter kommentiert. Dies mag aus der Vorsicht resultieren, dass keine Zeugnisse darüber existieren, ob und wie konkrete zeitpolitische Bezüge in den Text eingeflossen sind. Hinzu kommt, dass das Käthchen natürlich lange vor der politisch symbolträchtigen, französisch-österreichischen Heirat abgeschlossen ist und dementsprechend kaum als literarische Reaktion darauf verstanden werden kann. Ohne weiter über die Gründe für die Zurückhaltung der Kommentator*innen zu spekulieren, fällt auf, dass man im Falle eines anderen Kleist’schen Stücks weniger vorsichtig und andeutungsreich dessen zeitgeschichtliche Rekurse interpretatorisch geltend macht. Es handelt sich um die im zuletzt angeführten Zitat auftauchende Herrmannsschlacht, die in der Forschung regelmäßig – Barth und Seeba sind hier nicht die einzigen – als Paradebeispiel für Kleists politische Autorschaft ausgewiesen wird, welche die aktuellen, politischen Entwicklungen in welcher Absicht auch immer zu Papier bringe.948 Dagegen ist kaum etwas einzuwenden, zumal Kleist selbst eifrig an einer Rezeption des Dramas als ‚Stück für den politischen Augenblick‘ mitschreibt.949 Einschlägig dafür ist der Brief an Heinrich Joseph von Collin, ein als patriotisch geltender Literat mit engen Beziehungen zum Wiener Burgtheater, vom 20. und 23. April 1809, in dem Kleist eindringlich um eine Inszenierung der Herrmannsschlacht in Wien wirbt: Als ‚Geschenk an die Deutschen‘ im beginnenden Krieg der Österreicher gegen Napoleon weist er sein Drama hier gar aus.950 Bemerkenswert ist, dass der Autor in seiner Korrespondenz mit Collin neben der in ihrer antifranzösischen Direktion so explizit im politischen Diskurs positionierten Herrmannsschlacht stets auch das vermeintlich der Gegenwart enthobene Käthchen mit erwähnt. Zwei Briefe vom 1. Januar 1809 sind dafür anzuführen, dem ersten, an Collin gerichteten ist die Herrmannsschlacht beigefügt.951 Dort heißt es:
948 „Kleist aber ging es um Aktuelles.“ lautet der entsprechende Satz im „Herrmannsschlacht“-Artikel des Kleist-Handbuchs. Müller-Salget (2009), S. 76. Vgl. auch die dortigen weiterführenden Literaturhinweise. 949 Vgl. Kleist, Briefe, S. 432 (Kleist an Heinrich Joseph von Collin, 20./23. April 1809). Ähnlich auch im vorangegangenen Brief an Collin vom 22. Februar 1809, vgl. Kleist, Briefe, S. 429. 950 Vgl. Kleist, Briefe, S. 432 (Kleist an Heinrich Joseph von Collin, 20./23. April 1809). 951 Eine Bühnenfassung des Käthchens hat Kleist bereits im Oktober 1808 an Collin geschickt (vgl. Kleist, Briefe, S. 422 (Kleist an Heinrich Joseph von Collin, 2. Oktober 1808)), ohne aber über einen langen Zeitraum eine Rückmeldung darauf erhalten zu haben. Dementsprechend erkundigt er sich noch im Januar 1810 nach den Aufführungschancen sowohl der Herrmannsschlacht als auch des Käthchens auf dem Theater an der Wien. (Vgl. Kleist, Briefe, S. 440–441 (Kleist an Heinrich Joseph von Collin, 28. Januar 1810)).
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Schlagen Sie es [das Drama, d. h. die Herrmannsschlacht] gefälligst der K. K. TheaterDirection zur Aufführung vor. Wenn dieselbe es annehmen sollte, so wünschte ich fast (falls dies noch möglich wäre) das es früher auf die Bühne käme, als das Käthchen; es ist um nichts besser, und doch scheint es mir seines Erfolges sichrer zu sein.952
Dass Kleist das Herrmann-Drama früher auf der Bühne sehen will als sein Ritterschauspiel, liegt darin begründet, dass er dieses als politisches Stück der Stunde versteht oder besser: inszeniert. Das ist dem bereits angeführten, späteren Brief an Collin aus dem April 1809 in aller Deutlichkeit zu entnehmen,953 deutet sich aber ebenfalls in einem Brief an Karl von Stein zum Altenstein an, der auf den Neujahrstag 1809 datiert ist: Die Herrmannsschlacht sei „auf keinem so entfernten Standpunct gedichtet […], als ein früheres, das jetzt daselbst [in Wien] auf die Bühne kommt.“954 Abgesehen davon, dass Kleist nur vorgibt, dass dieses ‚frühere‘ Stück – gemeint ist Das Käthchen von Heilbronn – ‚jetzt‘ in Wien aufgeführt wird,955 betont er auch hier die tagespolitische Aktualität der Herrmannsschlacht, und dies in Abgrenzung zum ‚unpolitischen‘ Käthchen. Mehr noch formuliert er den Vorsatz, fortan „lauter Werke [zu] schreiben, die in die Mitte der Zeit hineinfallen“956. Derartige briefliche Einlassungen sind ein beredtes Beispiel für Kleists Lust, seine eigene Autorschaft und mit ihr seine Texte in ein sehr bestimmtes Licht zu rücken.957 Allzu erkennbar ist das Bestreben, die Herrmannsschlacht als agitatorisch wirksames Stück im Kampf gegen Napoleon auszuweisen.958 Unzweifelhaft lässt sich die Korrespondenz angesichts solch deutlicher Aussagen in eine Textanalyse einbeziehen, und sicher wird das Autorwort in diesem Falle nicht überwiegend in ein unkritisches Verhältnis zum Drama gesetzt; kaum allerdings kommt man darauf zu sprechen, wie Kleist im Zuge seiner Inszenierung der Herrmannsschlacht als eines genuin politischen Bühnenstücks zugleich eine 952 Kleist, Briefe, S. 425–426 (Kleist an Heinrich Joseph von Collin, 1. Januar 1809). 953 Vgl. Kleist, Briefe, S. 432 (Kleist an Heinrich Joseph von Collin, 20./23. April 1809). 954 Kleist, Briefe, S. 426–427 (Kleist an Karl von Stein zum Altenstein, 1. Januar 1809). 955 Vgl. den Brief an Collin vom selben Tag (Kleist, Briefe, S. 425–426), in dem Kleist darum bittet, die Inszenierung der Herrmannsschlacht derjenigen des Käthchens vorzuziehen. Letzteres steht also keinesfalls bereits auf dem Wiener Spielplan, wie Kleist den Freiherrn von Stein glauben machen will. 956 Kleist, Briefe, S. 427 (Kleist an Karl von Stein zum Altenstein, 1. Januar 1809). 957 Als besonders einschlägig darf hier der Fall des Guiskard-Fragments gelten. Vgl. dazu Rocks (2016a), S. 126–127, 145 mit weiteren Literaturhinweisen. 958 Vinken (2011) kritisiert – aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive und weniger mit Blick auf die Korrespondenz – eine Tendenz der Forschung, „Herrmann als Sprachrohr Kleists, das Drama als Aufruf zu politischem Handeln“ (S. 11) zu verstehen. Zu Recht moniert sie, „[w]arum man Kleist bei aller, nicht zu bezweifelnden vehementen Ablehnung Napoleons diese Eindeutigkeit unterstellt“ (S. 11).
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bestimmte Lektüreanweisung für das Käthchen von Heilbronn kolportiert. Als ‚aus der Zeit gefallenen‘ bzw. ‚in eine entfernte Zeit zurück fallenden‘ Text schreibt er es fort von jedweder tagespolitischen Relevanz.959 Ich möchte, ausgehend von den skizzierten paratextuellen Manövern und den bisher von der Forschung verfolgten Interpretationsansätzen, vorschlagen, den Autor hier nicht beim Wort zu nehmen. Das bedeutet, u. a. eine Deutungsperspektive daraus zu entwickeln, dass Napoleons Heirat mit der österreichischen Kaisertochter in Wien mit der Uraufführung von Kleists Schauspiel um die schwäbische Kaisertochter koinzidiert. Dabei wird ohne Zweifel einiges über Ironie, mehr noch aber über Komisches zu sagen sein. Ferner fußt die Auswahl des Käthchens für diese Studie auch darauf, neben der viel besprochenen Herrmannsschlacht eine weniger offen zu Tage liegende Facette von Kleists politischer Autorschaft zur Geltung zu bringen.960
4.2 Käthchens Heroismus im Spannungsfeld von Geschlecht und politischer Genealogie Käthchens Aufstieg zur Kaisertochter und ihre in der irritierenden Eheschließung mündende Beziehung mit dem Grafen vom Strahl stehen im Zentrum der
959 Vgl. zum politischen Gehalt der Herrmannsschlacht und Käthchen sowie zur Beziehung der beiden Stücke auch Delbrück (1986), der allerdings die paratextuelle Inszenierung Kleists nicht ins Kalkül zieht (vgl. S. 283–286). 960 Es mag irritieren, Kleists Herrmann in einer Arbeit über politisches Heldentum im Drama um 1800 auszunehmen. Ich teile jedoch Vinkens (2011) Auffassung, dass im Stück „wenig […] Heldisches“ (S. 17). verhandelt wird. In der Zeichnung der Herrmann-Figur erscheint vielmehr das Strategisch-Machtpolitische bis ins brutal Zweckrationale gesteigert. Keineswegs agiert der Kleist’sche Titelheld eine ebenso tätige wie träumerische heroische Autorität aus und er fügt sich damit nicht in die hier entwickelte, übergeordnete Beschreibungsformel eines politischen Heldentums. So betont auch Vinken, Herrmann sei gerade „kein Held“ (S. 23), seine ‚Schlacht‘ keine „heroische[ ]“ (S. 17), sondern ein tyrannisches Unterfangen, das den Krieg bis in die eigene Familie hineintrage (vgl. S. 16–17). Herrmanns antiheroischer Zug tritt, auch das stellt Vinken heraus, bereits im Kontrast mit anderen Bearbeitungen des Stoffes zu Tage: Es gebe „keinen negativen Herrmann – bis auf den Kleist’schen Herrmann“ (S. 28). In der Herrmannsschlacht konturiert Kleist vielmehr ein anderes politisches Figurenprofil, das Horn (2011b) als Typus des ‚strategischen Führers‘ beschrieben hat. Sie argumentiert zudem gegen eine Auffassung Herrmanns als Charismatiker, richtet sich doch dessen ganzes Kalkül darauf, die zerstrittenen Germanenvölker affektiv gegen den äußeren Feind, im Hass gegen die Römer und keinesfalls im Kult um die eigene Person wieder zu vereinen. Herrmann ist also nicht einmal, wie beispielsweise Schillers Fiesko, ein charismatisch antretender und dabei scheiternder Machtmensch (vgl. Kapitel III.2 dieser Arbeit). Es geht Kleist, mit Horn gesprochen, „nicht um die auratische Persönlichkeit, sondern um Führung als eine Funktion“ (S. 68–69).
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hier verfolgten politischen Lesart des Stücks. Ein deutlicher Unterschied zu den anderen Heldendramen besteht darin, dass es hier um kein konkretes Gemeinschaftsprojekt geht, für dessen Wiederherstellung oder revolutionäre Neustrukturierung eine heroische Intervention relevant wäre. Käthchens Heldentum ereignet sich im Rahmen einer politischen Konstellation, die auf den ersten Blick ebenso deutlich wie stabil zu sein scheint. So präsentiert schon das Personenverzeichnis eine klare politische Hierarchie monarchischen Zuschnitts: An erster Stelle steht der namentlich nicht weiter spezifizierte „Kaiser“ (KH, S. 322). Dieser betritt jedoch die Bühne – gemeinsam mit dem direkt nach ihm genannten religiösen Machthaber, dem „Erzbischof von Worms“ (KH, S. 322) – erst im letzten, fünften Akt (vgl. KH, S. 417), in dem Käthchens dynastische Herkunft ‚enthüllt‘ wird. Fulminant repräsentiert wird der Kaiser gleichwohl bereits in der Initialszene durch seine dem Femgericht vorstehenden Räte. Das Register führt nachstehend den Grafen vom Strahl samt familiärem Anhang sowie Gefolge, dann Kunigunde von Thurneck mit Dienerschaft und danach den bürgerlichen Vater Theobald Friedeborn und dessen Tochter Käthchen an. Diese Käthchen vorstehende Figurenreihe spiegelt, wohlgeordnet in der Logik des top-down, recht genau die Stationen wider, die Käthchen im Laufe der dramatischen Handlung passiert, die ihr aber auch passieren: Das dem Grafen so verstörend, so bedingungslos folgende und deswegen vom eigenen Vater vor das Femgericht gerufene Bürgermädchen als eine für den geliebten Mann und zum Argwohn ihrer Nebenbuhlerin ins Feuer gehende Heldin, als Kaisertochter und schließlich als Braut – fast jeder ihrer Schritte stellt eine Kollision mit den patriarchalen Machtinstanzen des Stücks dar.961 Ich argumentiere im Folgenden, dass im Zuge der Darstellung von Käthchens vermeintlich bloßer ‚Passion‘ die Einsatzpunkte, aber auch die Grenzen einer weiblichen, politischen Handlungsmacht geltend gemacht werden.962 Kleists Drama kann sicher nicht als gelingende Heldinnengeschichte gelesen werden, aber der Umstand, dass Käthchen sich dem Grafen in aller Rigidität unterwirft, stellt weder eine nur amouröse Verstiegenheit noch eine rein passive Devotie dar. Vielmehr diskutiert der Text in Form eines solchen Figurenprofils die Möglichkeit einer spezifischen Form politischer agency, ja einer heroisch konturierten Agitation aus der weiblichen Subordination heraus. Käthchen entwickelt, gerade in
961 Vgl. Neumann (1997), S. 185; Scholze (2015), S. 205. Eine Ausnahme bildet einzig Kunigunde, deren Rolle noch genauer zu beleuchten sein wird. 962 Als Ausgangspunkt für diese These kann die Käthchen-Lektüre von Ruth Klüger (21997) fungieren, die erstmals dafür plädiert hat, Käthchen „nicht als den Inbegriff passiver Weiblichkeit hin[zu]nehmen“ (S. 163). Sie arbeitet einige Aspekte einer Käthchen charakterisierenden Handlungsmacht heraus, durch welche die vermeintliche Übermacht der männlichen Protagonisten irrtiert wird (vgl. Klüger (21997), S. 164–166, 169–172). Vgl. so zuletzt auch Scholze (2015), S. 11.
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ihrer „hündische[n] Dienstfertigkeit“ (KH, V. 1928), über weite Teile des Stücks eine erstaunlich souverän anmutende Haltung gegenüber den auf den Plan tretenden und an sie herantretenden männlichen Machtinstanzen. Der Text spielt in diesem Zuge ein merkwürdiges Szenario der Befehlsgewalt und der Machtergreifung durch, das sich mit einem ambivalenten Begriff der ‚Folge‘ fassen lässt: Käthchens untertänige, ja für sie selbst und das übrige dramatische Personal gänzlich unverständliche Folge (Subordination) bringt sie schließlich, das kann als politische Pointe des Textes gelten, in die Position einer Kaisertochter, d. h. einer politischen Nachfolgerin (Sukzession).963 Diese Pointe indessen, Käthchens Aufstieg in die kaiserliche Dynastie, ist unübersehbar tragikomisch entstellt.964 Es hieße, den subtilen Zuschnitt von Kleists Stück zu verkennen, läse man die Inthronisierungsszene des letzten Auftritts als glorioses Schlussbild. Denn dieses präsentiert eine niedersinkende, eine
963 Delbrück (1986) ist der einzige Interpret, der eine dezidiert politische Lesart des Stücks verfolgt. Er zeigt sich aber an allen anderen Figuren des Stücks mehr interessiert als an der Titelheldin. Seine Analyse kapriziert sich in einem ersten Schwerpunkt auf eine spezifische, machtpolitische Konstellation im Spätmittelalter, genauer auf den „Salier-Kaiser Heinrich IV., dessen einziger Schwiegersohn Friedrich I. von Schwaben von ihm erst in den Herzogstand erhoben wurde, nachdem er ihn mit seiner Tochter verlobt hatte“ (S. 272). Delbrück sieht darin die historische Folie für die in Kleists Stück präsentierte Beziehung zwischen dem Kaiser und dem Grafen vom Strahl, wobei er relativierend anmerkt, Kleist habe „keinen Wert darauf gelegt, diese historischen Bezüge in seinem Drama explizit zu machen“ (S. 273). Ferner gilt Delbrücks Aufmerksamkeit der Kunigunde-Figur (vgl. S. 274–278). Der zweite interpretatorische Fokus liegt darin herauszufiltern, „welchen politischen Standpunkt Kleist in seinem Stück tatsächlich vertreten hat“ (S. 268). Delbrück bemüht sich um den Nachweis, dass sich im Käthchen Kleists kritische Haltung zur Napoleonischen Europapolitik, insbesondere zum Rheinbund, einhergehend mit einer Spitze gegen den deutschen Adel, manifestiere (vgl. S. 280–295). Aus meiner Perspektive überfrachtet Kleist aber nicht, wie Delbrück meint, den plot des Dramas mit einem historischen Sinn, so dass Inkongruenzen enstünden (vgl. S. 288). Vielmehr übersieht Delbrück in seinem Versuch, die dramatische Figurenkonstellation bis ins Detail auf eine konkrete historische Situation zu beziehen, die Eigengesetzlichkeit und den komischen Zuschnitt des literarischen Textes, so wie er auf eine Analyse der eigenwillig-autonomen Protagonistin verzichtet. 964 Das zwischen tragischen und komischen Elementen changierende Dramatisierungsverfahren im Käthchen folgt grosso modo dem Strukturprinzip des Lustspiels, wie Fritz Martini (1976) in einem älteren und gleichwohl erhellenden Forschungsbeitrag gezeigt hat. Mit Martinis These von „Kleists dritte[m] Lustspiel“ (S. 420) kommt Ruth Klügers (21997) Beschreibung des Stücks als „Kleists dritte Komödie“ (S. 176) überein. So in Ansätzen auch Zimmermann (2001), S. 208, 211. Vgl. dazu kritisch: Kreutzer (1995), S. 6. Auf diese Überlegungen wird zurückzukommen sein, wobei meine Lektüre, anders als Martini und Klüger, die lustspielhaften und auch die komischen Verfahren unauflöslich mit dem politischen Substrat des Dramas verknüpft sieht. Für Allemann (2005) hingegen widerspricht es dem „parodistischen Grundzug des Schauspiels“, diesem „irgendeine politische Absicht“ (S. 217) abzuringen.
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kurz vor der Ohnmacht stehende Kaisertochter (vgl. KH, S. 434).965 Der tragische Impetus liegt darin, dass Käthchens Weg auf den Thron mitnichten als eine Beifall auf sich ziehende Erfolgsgeschichte gestaltet wird. In Kleists Heldinnendrama geht es somit nicht, wie beispielsweise in Schillers Tell oder in Prinz Friedrich von Homburg, in expliziter Weise um die Logik politischer Heroisierungsprozesse. Das Heroismus-Problem ist sehr viel latenter in den Text eingelassen und erschließt sich in erster Linie über die besondere Sinnesbegabung der Protagonistin. Und so teilt sie wiederum mit Tell – und auch mit den anderen in dieser Arbeit untersuchten Heldenfiguren – einen heroischen Sinn, der politisch überaus bedeutsam ist. Besonders deutlich tritt im Falle von Käthchen die zweite Facette des politischen Helden bzw. der Heldin zu Tage: Die Heldentat sowie Käthchens sonstige Partizipation am politischen Geschehen gehen mit einer bis aufs Äußerste gesteigerten Machtvergessenheit einher. Es wird eine Frauenfigur in Szene gesetzt, die in somnambuler Gewissheit966 heroische Macht ausübt und politische Macht erlangt, ohne – im Gegensatz zum Grafen oder zu Kunigunde – von einem politischen Traum oder Plan beseelt zu sein. Kleist verwendet beträchtliche Mühen darauf vorzuführen, dass Käthchen trotz ihrer instinktiven Handlungssicherheit jede Art von politischer Intention ferner nicht liegen könnte. Sie handelt nach eigenen Angaben entweder aus diffuser Hingabe an ihren „hohe[n] Herr[n]“ (KH, V. 387), den Grafen, oder, mindestens ebenso wichtig: unbewusst. Niemand versteht, was sie warum tut, am allerwenigsten sie selbst. ‚Ich weiß nicht‘ entgegnet sie nicht nur an einer Stelle auf die Frage nach ihren Beweg- und Handlungsgründen (vgl. KH, V. 490, 1966, 1969, 2614, 2674, 2711). Und so empfindet sie auch ihre eigene Ermächtigung als unverständliche Überforderung (vgl. KH, V. 2611–2625; V,12–14). Wenn am Ende die vom Grafen so sehnlichst erträumte, durchs Feuer gegangene Heldin und Kaisertochter Katharina von Schwaben auf der Bühne steht, präsentiert Kleist abermals das sinnverwirrte, derangierte Mädchen, das die übrigen Figuren während des gesamten Stücks irritiert. Darin, dass Käthchen erstens nicht versteht, wie sie es zu ihrer neuen Position als Kaisertochter und gräflicher Braut gebracht hat, und dass sie zweitens vor diesen Rollen deutlich furchterfüllt zurückschreckt, liegt die Tragik ihrer Figur. Es handelt sich um eine Heldin, der die politische Ermächtigung ‚widerfährt‘, ohne dass sie selbst willentlich oder wissentlich darauf hinarbeiten würde. Käthchens beklemmende Überforderung hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, dass ihre Inthronisierung stets eine Sache der männlichen Machthaber bleibt; dies belegt der Schluss des Stücks eindrücklich. 965 Vgl. so auch Scholze (2015), S. 217. 966 Barkhoff (1995) betont in seiner auf den Magnetismusdiskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts rekurrierenden Analyse, Käthchen kennzeichne eine „unverbrüchliche Handlungsorientierung ‚aus dem Bauch‘“ (S. 247) heraus.
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Fragt man nun aber nach dem Legitimationsgrund dieser Machtinstanzen, die Käthchen mehr als nur in der Hand haben, tritt unweigerlich die komische und auch die ironische Kontur des Kleist’schen Ritterschauspiels zu Tage. Alle Männer, mit denen Käthchen konfrontiert ist, machen sich und gleichzeitig den ihrer je spezifischen Position eigenen Autoritätsgrund lächerlich. Der in seiner väterlichen Sorge um die bürgerliche Tochter merklich über das Ziel hinausschießende Theobald legt vor dem Femgericht einen ins Komische ausgreifenden Auftritt hin, die Gerichtsherren, die kaiserlichen Räte werden von Käthchen von Beginn an nicht ernst genommen und der vermeintlich kriegerisch-heroische Graf mit seinen dynastischen Aufstiegsträumen ist alles, aber kein Held – und auch seine adeligen Genossen werden – wenig heldenhaft – von Kunigunde an der Nase herumgeführt. Der im Stück selten gesehene Kaiser komplettiert die Reihe solcher wenig souveränen ‚Machtmänner‘: Peinlich berührt erinnert er sich am Ende des Stücks an einen außerehelichen Fehltritt (vgl. V,2) und bekennt sich im Zuge dessen schließlich als Käthchens Vater. Die Genealogie der Katharina von Schwaben wird, so muss man diese Offenbarung zusammenfassen, in eine frivole, skandalträchtige Anekdote gefasst. Vor diesem Hintergrund verfolge ich eine Interpretation, die Kleists Stück in doppelter Hinsicht auf das Problem von Geschlecht und politischer Genealogie fokussiert sieht. Durch die Figuration einer heroischen Protagonistin werden gleich zwei disparate genealogische und im Kern patriarchialische Modelle in Zweifel gezogen: Einerseits steht in der Interaktion zwischen Käthchen und Theobald der bürgerliche Diskurs um familiäre Abstammung und emotionale Zugehörigkeit zur Disposition, andererseits gerät in der Figurenkonstellation Käthchen – Kaiser – Strahl das Konzept der Genealogie als das maßgebliche Legitimationsprinzip feudal-dynastischer Herrschaft auf den Prüfstand. Um den erstgenannten Aspekt herauszuarbeiten, wird im Folgenden nachvollzogen, wie Theobald vor Gericht versucht, seine Tochter als eine junge Frau darzustellen, die widerwillig der Sphäre der bürgerlich-familiären Gefühlsgemeinschaft entrissen wurde. Er zeigt sich ebenso verzweifelt wie erfolglos bemüht, Käthchen als Paradebeispiel eines vom adeligen Verführer korrumpierten Mädchens auszuweisen. Kleists Protagonistin allerdings taugt nicht zum weiblichen Opfer nach dem figuralen Vorbild des bürgerlichen Trauerspiels. Es gehört zu den bisher zu wenig beachteten dramenpoetischen Finessen des Kleist’schen Textes, bereits in der Eingangsszene das Figurengefüge des bürgerlichen Trauerspiels gänzlich in sich zusammenfallen zu lassen. Der entscheidende Störfaktor in einem solchen Familiengemälde aus bürgerlichem Hause ist Käthchen, die nämlich ihrem eigenen Gefühl, ihrer Liebe zum Grafen radikal folgt, wodurch sie sich aus der väterlichen Verfügungsgewalt entfernt und zusätzlich den bürgerlichen Heiratsplänen Theobalds zuwiderhandelt. Was den zweiten, noch diffiziler ausgestalteten Aspekt betrifft, könnte
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man den Text als anachronistisch bezeichnen, fokussiert er doch das Thema der dynastischen Genealogie „in einer Zeit […], in der die Abschaffung des familialen Prinzips aus den Machtsystemen betrieben wird“967 und das Modell einer Generationenfolge die nachrevolutionären Debatten bestimmt.968 Dass die Figur eines Kaisers, der seine Nachkommen in der Dunkelheit der Nacht im Garten des Heilbronner Schlosses mit einer Bürgerlichen anstatt im kaiserlichen Ehebett zeugt, gleichwohl auch im Jahre 1810 noch ein Provokationspotential besitzt, demonstriert Collins Zensurmaßnahme für die Wiener Bühnenfassung des Käthchens: Aus dem Kaiser wird kurzerhand ein Herzog von Schwaben.969 Dass ein derart gestalteter „herrscherlicher […] Zeugungseingriff von oben die genealogische Kette zugleich erneuert und unterbricht“970, steht außer Frage; hinzuzufügen wäre, dass Kleist die Fragilität eines solchen ‚Eingriffs‘ in einer skurrilen Konfiguration politisch aufgeladener männlicher Sexualphantasien vermerkt, deren Bezugsobjekt Käthchen ist. Den Grafen nämlich stellt die Möglichkeit einer Liaison mit der Bürgerstochter vor das Problem einer „Mésalliance“971. Für den Kaiser wiederum ist Käthchen das Resultat eines früheren Seitensprungs, den er offensichtlich verdrängt hat. Im Falle des Grafen ist die Gefahr einer unstandesgemäßen erotischen Verbindung aufgrund seiner zugestandenen Neigung zu Käthchen geradewegs akut. Der Graf bekennt in seinem Monolog zu Beginn des zweiten Aktes (vgl. II,1) explizit, dass er Käthchen sexuell begehrt und dass dies im Kontrast zur Fortführung seines adeligen Stammbaums stehe (vgl. KH, Z. 733–736). Dem genealogisch prekären Begehren, aus dem heraus Käthchen ja auch erst ‚entstanden‘ ist, begegnet er zunächst mit einem, sich seiner jahrhunderteweit zurückreichenden Familientradition versichernden Narrativ: Die „Väter“ (KH, Z. 730), die „[g]raue[n] Alte[n]“ (KH, Z. 741), werden gegen den drohenden Liebesfehltritt beschworen. Zentraler aber noch ist, dass jene althergebrachte Tradition durch einen persönlichen Aufstiegstraum des Grafen unangetastet bleibt, denn Strahl ist von der träumerischen Vision getrieben, eine Kaisertochter zu heiraten; das sexuelle Begehren ist somit politisch ausgerichtet. Über einen dieser Ermächtigungsvision entsprechenden Stammbaum verfügt die begehrte Frau prima facie nicht.
967 Parnes/Vedder/Willer (2008), S. 100–101. 968 Vgl. zu den jeweils aktualisierten Argumentationsmustern von Revolutionsbefürwortern und -gegnern Parnes/Vedder/Willer (2008), S. 97–101. 969 Vgl. Barth/Seeba (1987a), S. 909–910. 970 Schneider (2011), S. 116. 971 Cullens/von Mücke (1997), S. 121.
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Der Text stellt in eindeutig ironischer Manier die ‚Lösung‘ einer solchen Krise dynastischer Männlichkeit zur Schau, in der das sexuelle Begehren mit dem politischen Machtstreben kollidiert: Er dichtet Käthchen ganz einfach eine Strahls Begehren adäquate Ahnentafel an, indem der amtierende Kaiser am Ende des Dramas schamvoll auf seine eigenen sexuellen Aktivitäten zurückblickt und dabei zu dem Schluss gelangt, das Mädchen müsse einem Seitensprung seinerseits entstammen. Damit wird sowohl der Legitimationsgrund ihrer Ermächtigung als auch derjenige der dynastischen Genealogie selbst mindestens bis ins Lächerliche gezogen. Die drohende Transgression ständischer Verpartnerungs- oder besser: Sexualgrenzen wird im Käthchen von Heilbronn durch die Erzählung von einem einstigen Seitensprung des Regenten suspendiert, was schließlich in Käthchens Adoption durch den Kaiser mündet. Ein vergangenes Austreten des Kaisers aus der dynastischen Linie ‚bereinigt‘ gewissermaßen den im Raum stehenden amourösen Fehltritt des Grafen. Meine Lektüre zeigt, dass der Text den Konstruktionscharakter jenes Manövers vermerkt, mit dem, so lässt sich sagen, hier ein Mann dem anderen ‚zur Seite springt‘ – und dessen politische Aufstiegsphantasie erfüllt. Den Grafen immerhin scheint ein derart dubioser Stammbaum wenig zu stören; mit dem Vaterschaftsbekenntnis des Kaisers avanciert Käthchen für ihn zur optimalen Ehekandiatin. Für seinen traumverbürgten Herzenswunsch, keine Geringere als eine Kaisertochter zu heiraten, ist es offenbar irrelevant, ‚wie man eine Kaisertochter wird‘; das Faszinosum ihrer hochherrschaftlichen Abkunft genügt. Spätestens mit der Adoption Käthchens durch den Kaiser aber kippt der komische und auch der ironische Zug des Stücks ins Tragische, zeigt sich doch, dass die ‚Entstehung‘ dieser Kaisertochter – und damit auch der dynastischen Ordnung generell – an verschiedene Männerträume gebunden ist, denen das Mädchen schonungslos ausgesetzt ist. Käthchens Heldinnendrama erschließt sich, darauf zielt meine Analyse, wesentlich über die Konfrontation eines weiblichen Heroismus mit einer männlich dominierten politischen Genealogie. Käthchen erwidert Strahls Begehren von Beginn an, allerdings verleiht sie dem auf ihre eigene, insbesondere die männlichen Figuren verstörende Weise Ausdruck: Sie folgt ganz einfach ihrem Näschen. Zentral ist dabei, dass Käthchen mit ihrer Liebe zu Strahl kein bewusstes und vor allem kein dynastisches Ziel anvisiert. Sie träumt ihrerseits weder von einem genealogischen upgrade noch von einer bürgerlichen Ehe mit Vaters Segen. Ihr Liebestraum besteht lediglich darin, dass ihr ein „großer, schöner Ritter“ (KH, V. 2156) begegnen und sie heiraten möge. Aus dieser Vision entspinnt sich Käthchens heroisch ausgestaltetes Figurenprofil, das sie zum weiblichen Störelement sowohl für das genealogische Modell eines bürgerlichen Patriarchats als auch für dasjenige dynastischer Machtpolitik avancieren lässt. Die fragile Macht des bürgerlichen Familienvaters bildet das zentrale Thema des Dramenauftaktes,
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wohingegen Käthchens Auseinandersetzung mit Strahl und dem Kaiser in der Endphase des Stücks verhandelt wird. Ihr ‚Instinkt‘ läuft dabei einer Verortung in der politischen Dynastie zuwider: Zwar folgt sie der Fährte des Grafen unablässig, erkennt sich jedoch zu keinem Zeitpunkt als die Kaisertochter, die sich Strahl so sehnlich als Ehefrau erträumt. Dass Käthchens Begehren also nicht mit dem politisch grundierten Begehren Strahls zusammenpasst, zeigt Kleist, indem er erstens eine Szene asymmetrischer Anagnorisis zwischen Strahl und Käthchen entwirft und zweitens im letzten Aufzug deutlich vor Augen führt, dass das Mädchen seiner Erhebung in den Prinzessinnenstand gänzlich verständnislos begegnet, ja angesichts dessen in Ohnmacht fällt. Käthchen hat der dynastischen Männerordnung und ihrer Repräsentationspolitik nichts mehr entgegenzusetzen, sobald sie in diese eingepasst wird. In dem Moment, in dem sie durch Strahl und den Kaiser zur Kaisertochter und Braut contre cœur zugerichtet wird, implodiert ihre heroische Handlungsmacht, versagt ihr Näschen. Der mit höchstem zeremoniellem Aufwand vollzogene Eintrag der Heldin ins Dynastische am Ende des Stücks führt dazu, dass Käthchens als Figur zusammenbricht. Kleists Heldinnendrama verrät dergestalt Wesentliches über den Zusammenhang von Heroismus und politischer Repräsentation bzw. diskutiert – verglichen mit den hier ausgewählten Heldendramen – in zugespitzter Weise die Frage, wie sich heroische Autorität und institutionalisierte Macht zueinander verhalten. Können Held*innen der Macht widerstehen, stützen sie existierende politische Systemlogiken, stören sie souveräne Repräsentationspraktiken oder arbeiten sie diesen zu? – All diese Fragen wirft Das Käthchen von Heilbronn deutlicher noch als diejenigen Dramen auf, die einen männlichen Protagonisten ins Zentrum stellen. Dass ausgerechnet dieses Stück während der Hochzeitsfeierlichkeiten in Wien 1810 uraufgeführt wird, mag man als Zufall auffassen. Nichts spricht dafür oder dagegen, dass die Inszenierung als absichtsvolle Bezugnahme auf jene für die europäische Politik im beginnenden 19. Jahrhundert so symbolträchtige Eheschließung zwischen Napoleon und der österreichischen Kaisertochter zu verstehen ist. Ich möchte vorschlagen, den Umstand, dass sich das Bühnendebüt von Kleists literarischer ‚Braut wider Willen‘ im Rahmen von Marie Louises Hochzeit ereignet, weder als blanken Zufall noch als hintergründige Reaktion auf die eheliche Allianz zwischen Österreich und Frankreich zu begreifen. Es handelt sich um keinen intendierten kritischen Kommentar zu einer Verbindung, welche die Hoffnungen auf einen deutschen Widerstand gegen die Napoleonische Besatzung radikal enttäuscht haben dürfte. Im Rahmen einer Lektüreperspektive allerdings, für die aus jener eigentümlichen Koinzidenz dennoch Sinn hervorgehen kann, auch ohne die beiden Ereignisse nach kausalen oder intentionalen Gesichtspunkten verknüpft zu sehen, wirft der politische Kontext der Erstaufführung ein
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besonderes Licht auf den Text: Es handelt sich um den seltenen Fall, dass ein Stück Literatur in einen politischen Augenblick hineinfällt und gerade in dieser Konstellation einen spezifischen Sinnhorizont eröffnet. Damit ist freilich weder gesagt, dass Käthchen und Marie Louise ‚Schwestern im Leid‘ wären, noch dass Napoleons Interesse an einer dynastischen Legitimation seiner Herrschaft dem Begehren des Grafen vom Strahl entspräche, eine Kaisertochter zu ehelichen. Was jedoch ungleich deutlicher zu Tage tritt, wenn Das Käthchen von Heilbronn anlässlich dieser Hochzeit auf die Bühne kommt, ist die feinsinnige politische Implikatur des Stücks. Ausgestellt wird das brutal-tragische und gleichzeitig bisweilen höchst komische textuelle Zusammentreffen von heroischer, weiblicher Handlungsmacht und dynastischem Patriarchat. Dass dieses Machtprinzip bzw. -modell im Zuge der revolutionären Umwälzungen keineswegs ausgedient hat, sondern von anhaltender europapolitischer Bedeutung ist, manifestiert sich in der Synchronizität der Käthchen-Inszenierung mit den Ereignissen in Wien. Insofern ist Kleists ‚genealogisches Lustspiel‘ ein ganz und gar nicht ‚aus der Zeit gefallenes‘ Heldinnenstück; vielmehr stellt es die Geschlechterfrage als dezidiert politische Frage und umgekehrt.
4.3 Verwandelt statt verführt: Käthchens autonome Subordination Einsatzpunkt der Handlung ist eine Gerichtsszene: Man befindet sich vor einem in einer unterirdischen Höhle abgehaltenen Femgericht, dem drei kaiserliche Räte vorstehen. Als Ankläger tritt der Heilbronner Waffenschmied Theobald Friedeborn auf, als Angeklagter der Graf vom Strahl. Bereits Theobalds einlassendes statement bringt den Vorwurf mit schwerstem rhetorischen Geschütz zur Geltung. In dem Bestreben, hier eine Untat ersten Ranges anzuprangern, wird das mutmaßliche Vergehen Strahls in einer Kombination von Klimax und Correctio zur Geltung gebracht: Hätte er, auf den ich klage, sich bei mir ausrüsten lassen – setzet in Silber, von Kopf bis zu Fuß, oder in schwarzen Stahl, Schienen, Schnallen und Ringe von Gold; und hätte nachher, wenn ich gesprochen: Herr, bezahlt mich! geantwortet: Theobald! Was willst du? Ich bin dir nichts schuldig; oder wäre er vor die Schranken meiner Obrigkeit getreten, und hätte meine Ehre, mit der Zunge der Schlangen – oder wäre er aus dem Dunkel mitternächtlicher Wälder herausgebrochen und hätte mein Leben mit Schwert und Dolch angegriffen: so wahr mir Gott helfe! ich glaube, ich hätte nicht vor euch geklagt. […] Friedrich, Graf Wetter vom Strahl, hat mir mein Kind verführt, meine Katharine. Nehmt ihn, ihr irdischen Schergen Gottes, und überliefert ihn allen geharnischten Scharen, die an den Pforten der Hölle stehen und ihre glutroten Spieße schwenken: ich klage ihn schändlicher Zauberei, aller Künste der schwarzen Nacht und der Verbrüderung mit dem Satan an! (KH, Z. 15–37)
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Durch die konjunktivische Fassung der Verfehlungen, die Theobald dem Grafen nicht anlastet, und durch den Wechsel in den Indikativ anlässlich der Artikulation des tatsächlichen Klagegrundes, verstärken sich Correctio- und Klimax-Struktur gegenseitig. Ein Angriff seines Besitzes, seiner Ehre, ja seines eigenen Lebens hätten den Waffenschmied nicht vor Gericht ziehen lassen, die Verführung der Tochter indessen allemal. Die Drastik des Vorwurfs intensiviert sich durch eine Oppositionsbildung: Der Angeklagte wird als ein der schwarzen Magie mächtiger Satansbruder attribuiert; eine Charakterisierung, die dem Naturell der mutmaßlich Verführten diametral zuwiderlaufe. Sein Käthchen nämlich sei, so Theobald, „ein Kind recht nach der Lust Gottes“ (KH, Z. 71–72), mehr noch ein geradezu überirdisches Wesen („als ob der Himmel von Schwaben sie erzeugt“ (KH, Z. 84–85)). Der so gestaltete Auftakt der Gerichtsszene – die Dämonisierung des Grafen und kontrastiv dazu die Vergöttlichung972 Käthchens sowie die überbordende rhetorische Form der Anklage – sagt in allererster Linie etwas über die Verfassung des hier auftretenden Klägers aus. Häufig wird Theobalds Auftritt in dieser Szene gar nicht diskutiert973 oder auf die Funktion einer bloßen Konfliktinauguration beschränkt.974 Der hyperbolische975 Sprachgestus dieses mehr als nur besorgten Vaters allerdings gibt ein Figurenprofil markanteren Zuschnitts zu erkennen: Hier betritt einer die Szene, den man, das wird auch im Folgenden deutlich, als „Besessene[n]“976, vielleicht sogar als Hysteriker bezeichnen kann.977 Wie stur Theobald an seiner Anklage und damit an seiner Deutung des Geschehens zwischen Käthchen und Strahl festhält, demonstriert seine Replik auf den mahnenden Hinweis eines Richters, man könne den Grafen schwerlich dafür anklagen, dass sich ein Mädchen schlicht und ergreifend in ihn verliebt habe (vgl. KH, Z. 38–48).
972 Vgl. dazu Greiner (2000), S. 182–183. 973 Vgl. Lü (2009); Allemann (2005), S. 196–215; Zimmermann (2001); Fink (2000); Kreutzer (1995); Kittler (1987), S. 191–217. Eine Ausnahme bildet die Lektüre von Cullens/von Mücke (1997), bes. S. 126–129. Anders auch Strauch (2004), S. 63–69; Nitschke (2012), S. 212–216. 974 Vgl. Weder (2008), S. 184–185; andeutungsweise auch bei Oesterle (2001), S. 317. 975 Vgl. Martini (1976), S. 431. 976 Martini (1976), S. 431. So auch Ueding (1981), S. 176. 977 Eine solche Lesart erweitert die von Kittler (1987) mit Foucault geführte Argumentation, dass im Käthchen von Heilbronn Konstellationen des Weiblichen begegnen, die das „Phantasma“ der „Hysterika“ präfigurieren, welches im 19. Jahrhundert zur vollen Entfaltung gelangt (S. 208). Dass Kleist diesen Diskurs jedoch nicht nur anhand der Frauenfiguren, Käthchen und Kunigunde, ausfaltet, sondern auch Theobald als hysterischen Vater kennzeichnet, d. h. den Hysteriker einen vermeintlichen hysterischen Verfall seiner Tochter beschreien lässt, legt einen erweiterten kritischen Impuls des Textes nahe als von Kittler beschrieben. Auch Knauer (2000) betrachtet lediglich Käthchen als Hysterikerin (vgl. S. 142–146).
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Abermals in Form einer klimaktischen Correctio zeichnet der immer mehr außer sich geratende Kläger ein drastisches, apodiktisches Bild der diabolischen Verführungskünste des Grafen:978 Er habe Strahl „nicht zur Nachtzeit, an Mooren und schilfreichen Gestaden […] mit den Irrlichtern Verkehr treiben“ (KH, Z. 49–52) gesehen, habe „ihn nicht auf den Spitzen der Gebirge, den Zauberstab in der Hand, das unsichtbare Reich der Luft abmessen“ (KH, Z. 52–54) ertappt oder ihn „in unterirdischen Höhlen […] Beschwörungsformeln aus den Staub heraufmurmeln“ (KH, Z. 54–56) gehört. Auch habe er „den Satan und die Scharen, […] mit Hörnern, Schwänzen und Klauen, […] an seiner Seite nicht“ (KH, Z. 56–60) erblickt. Es genüge, so der „wilde[ ] Kläger“ (KH, Z. 67), „eine schlichte Erzählung dessen, was sich zugetragen“ (KH, Z. 61–62) habe, um die Richter davon zu überzeugen, der Graf vom Strahl sei „der Teufel“ (KH, Z. 63–64) höchstpersönlich. Ein solchermaßen übersteigerte Diktion979 lässt die Anklage, „weit von Beweisbarkeit und Wahrscheinlichkeit entfernt“980, ins Absurd-Unglaubwürdige abdriften, wie auch die Reaktionen der Richter demonstrieren (vgl. KH, Z. 38–48, 67). Theobalds Auftritt trägt sicher Züge des Komischen, insofern er seine unspezifisch bleibende Anklage pompös-paranoid vorträgt, ohne diese mit Sachgründen zu untermauern. Wenn er Käthchens mutmaßlichen Verführer stattdessen in diffuser Aggression dämonisiert (vgl. auch KH, Z. 120–121), hat dies, wie sich alsbald herausstellt, wenig damit zu tun, wie seine Tochter tatsächlich agiert hat und auch nicht damit, was sich zwischen ihr und Strahl abspielt. Beides nämlich muss einem bürgerlichen Vater wie Theobald, „zusammengesetzt aus einer Ahnengalerie voller Galottis und Millers“981, derart den Grund seiner Autoriät entziehen, dass er nur noch hilflos von ‚Hölle‘ und ‚Teufel‘ zu sprechen vermag.982 Bei aller Komik, mit der Kleist diesen Vater die Bühne betreten lässt, liegt dessen Tragik in einer fundamentalen Kränkung des väterlichen Autoritätsprinzips.983 Und so konzentriert sich die Rhesis im Folgenden darauf zu schildern, dass das Bild, das Theobald von seiner Tochter hat, jüngst radikal erschüttert worden ist. 978 Vgl. dazu auch Uedings (1981) aufschlussreiche Überlegungen zu Theobalds Rhetorik (bes. S. 175–177). Als „ein Meister des bildhaften Sprechens“ bediene er sich „einer von jedem Einspruch unberührt bleibenden Bilderwelt“ (S. 175). Vgl. auch Nitschke (2012), S. 212–213. 979 Mit welchem Pathos Theobald das Wort führt, tritt überdies darin zu Tage, dass Kleist die Correctio-Struktur in einem weiteren Sprechpassus und damit insgesamt dreimal in der Eingangsszene für die Figur des Theobald aktualisiert (vgl. KH, Z. 118–140). 980 Martini (1976), S. 431. 981 Ueding (1981), S. 175. Vgl. für eine Liste weiterer Motive und Verfahrenselemente des bürgerlichen Trauerspiels, die im Käthchen verhandelt werden, Vogel (1996), S. 111–112. 982 Vgl. Martini (1976), S. 430–431. 983 Vgl. zur Kombination von tragischen und komischen Zügen in der Theobald-Figur, allerdings ohne die Bedeutung für den politischen Plot zu berücksichtigen Martini (1976), S. 430–432.
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Dass Käthchen für Theobald nicht nur das engelsgleiche Wesen ist (vgl. KH, Z. 74–78), das in ganz Heilbronn ob ihrer unprätentiösen Art und ihrer Frömmigkeit verehrt wird (vgl. KH, Z. 75, 79–95), sondern dass er in ihr allen voran die gefügige Tochter sieht, über die er als bürgerlicher Familienvater bestimmte Rechte hat,984 demonstriert der Schluss seiner Lobrede auf Käthchens vermeintlich nunmehr durch den Grafen korrumpiertes, vormaliges Naturell. Es handele sich um eine Tochter, die sich der väterlichen Gewalt in der Vergangenheit vollumfänglich ergeben habe. So habe sie beispielsweise, als sich nämlich ein junger Landmann des Vaters Segen erbittet, Käthchen zu heiraten und dieser – ganz empfindsamer Patriarch – nicht einfach für seine Tochter entscheidet, sondern nach ihrem Willen fragt, entgegnet: „Vater! Dein Wille sei meiner […]“ (KH, Z. 110). Die Vorfälle nun, die sich zwischen dieser einst so pflichtbewussten Tochter und dem Grafen abspielen, durchkreuzen die Heiratspläne des Vaters und jenes jungen Landmanns Gottfried Friedeborn. Theobald bitteres Resümee lautet: „So war sie, ihr Herren, bevor sie mir dieser [der Graf vom Strahl] entführte.“ (KH, Z. 113–114) Dass an dieser Stelle von ‚Entführung‘ statt von ‚Verführung‘ die Rede ist, ergibt einen guten Sinn, wird sich doch zeigen, dass Käthchen alles andere, aber keine einem adeligen Verführer Anheimgefallene ist.985 Was Kleist hier aufruft, liest sich wie die Endspielszene einer ganzen Gattung:986 Während Lessings Emilia Galotti damit schließt, dass sich der Vater wegen des Mordes an der eigenen Tochter freiwillig der weltlichen Gerichtsbarkeit übergibt, es aber nicht an dem Hinweis fehlen lässt, den Kindesverführer vor dem göttlichen Richter zu erwarten,987 wird der mutmaßliche adelige Verführer in der Eingangsszene des Käthchen-Dramas vor ein solches, vom Vater einberufenes Gericht gestellt. Kleist aber führt vor dem Femgericht mitnichten eine das Strukturschema des bürgerlichen Trauerspiels fortführende Abrechnung mit dem Grafen durch. Vielmehr überschreibt er die bei Lessing angelegte figurale Konstellation im Sinnes seines besonderen politischen plots und bringt dergestalt ein anders gelagertes Machtgefüge zur Geltung. Käthchens Er- und gleichermaßen Entmächtigungsgeschichte steht im Zentrum dieses fulminanten Dramenauftakts.
984 Vgl. dazu Strauch (2004), die argumentiert, Kleist bringe an dieser Stelle das Konzept der ‚schönen Seele‘ mit seinen geschlechterspezifischen Implikationen ins Spiel. Wer, wie Theobald, dieses am einschlägigsten bei Schiller ausformulierte wie auch kritisierte Weiblichkeitsmuster bemühe, rekurriere immer auch auf die „Möglichkeit der Überwachung und Polizierung“ (S. 64) der Frau. 985 So auch Nitschke (2012), S. 213. 986 Eine Transgression der Gattungskonstituenten des bürgerlichen Trauerspiels in Kleists Drama vermerken auch Nitschke (2012), S. 212–216; Strauch (2004), S. 61–62; Cullens/von Mücke (1997), S. 126–127. 987 Vgl. Lessing, EG, S. 371.
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Nachdem Theobald zum wiederholten Male und unter Tränen (vgl. KH, S. 327) ausgesagt hat, wodurch der Graf Käthchen nicht verführt oder entführt habe, berichtet er schließlich von der ersten Begegnung zwischen den beiden in der väterlichen Waffenschmiede. Sein Rapport setzt an, „indem er sich die Augen trocknet“ (KH, S. 327) – ein schon fast überdeutliches Indiz für die Gefährdung seiner Machtposition, drücken sich doch durch Tränenströme traditionell vor allem bürgerliche Trauerspiel-Töchter aus. Auch muss jener angeknackste Patriarch von einem Richter dazu aufgefordert werden, sich zu ‚fassen‘ (vgl. KH, Z. 145), bevor er zur Erzählung vom Auftritt des Grafen in seiner Werkstatt ansetzen kann. Strahl wird hier als heroischer Ritter in Szene gesetzt: Es mogte ohngefähr eilf Uhr Morgens sein, als er, mit einem Troß Reisiger, vor mein Haus sprengte, rasselnd, der Erzgepanzerte, vom Pferd stieg, und in meine Werkstatt trat: das Haupt tief herab neigt’ er, um mit den Reiherbüschen, die ihm vom Helm niederwankten, durch die Tür zu kommen. Meister, […], spricht er: dem Pfalzgrafen, […], zieh ich entgegen; die Lust ihn zu treffen, sprengt mir die Schienen; nimm Eisen und Draht, ohne daß ich mich zu entkleiden brauche, und heft’ sie mir wieder zusammen. (KH, Z. 146–156)
Was der Text an dieser Stelle entfaltet, ist das Bild eines übermächtigen Helden, der in seiner ausladenden, lärmenden Rüstung kaum durch die Tür passt. Mehr noch passt so viel heroische Kriegslust, wie Strahl prahlend ausführt, in keine Rüstung. Sein unbändiger Tatendrang dulde kein langes Verweilen und Friedeborn wird aufgefordert, den Defekt rasch, geradezu im Vorbeigehen zu richten. Zu diesem energetischen Helden passt ebenso die Beschreibung seines im Freien wartenden Kriegstrosses, welche mit Käthchens Auftritt in der Werkstatt kontrastiv parallel geführt wird: Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und mit den Pferden der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär’ ein Cherub vom Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes, flaches Silbergeschirr auf dem Kopf tragend, […] das Mädchen die Türe und tritt ein. Nun seht, wenn mir Gott der Herr aus Wolken erschiene, so würd ich mich ohngefähr so fassen, wie sie. Geschirr und Becher und Imbiß, da sie den Ritter erblickt, läßt sie fallen; und leichenbleich, mit Händen, wie zur Anbetung verschränkt, den Boden mit Brust und Scheiteln küssend, stürzt sie vor ihm nieder, als ob sie ein Blitz nieder geschmettert hatte! (KH, Z. 162–175)
Käthchens merkwürdiges Verhalten im Angesicht des Grafen kann der Vater zunächst noch als skurrilen, aber vorübergehenden „Anfall“ (KH, Z. 184) verbuchen. Nachdem der Waffenschmied sein Geschäft verrichtet hat und Strahl sich mit einem eigentümlich innigen Stirnkuss und Segen von Käthchen verabschiedet hat (vgl. KH, Z. 188–192), ereignet sich jedoch Käthchens berüchtigter Fenstersturz: „[G]leich einer Verlorenen, die ihrer fünf Sinne beraubt ist“ (KH, Z. 196–197), springt sie aus dem Fenster und bricht sich „beide zarten Lendchen,
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dicht über des Knierunds elfenbeinernem Bau“ (KH, Z. 198–199). Mehrere Wochen liegt das Mädchen daraufhin, so der erschütterte Vater, im Krankenbett und gibt keine Auskunft über ihre Beweggründe: „Keinen Laut bringt sie hervor; auch nicht der Wahnsinn, dieser Dietrich aller Herzen, eröffnet das ihrige; kein Mensch vermag das Geheimnis, das in ihr waltet, ihr zu entlocken.“ (KH, Z. 206–209) Die mysteriöse Schweigsamkeit der Tochter begründet für Theobald das eigentliche Skandalon des Vorfalls, da Käthchen sich dergestalt der väterlichen Gewalt zu entziehen beginnt. Sie geht jedoch noch einen Schritt weiter und verlässt das Elternhaus, um – gerade genesen und ohne weitere Erklärung – „zum Grafen vom Strahl“ (KH, Z. 212) aufzubrechen. Dass hier eine einst gefügige Tochter geradewegs aus der Rolle gefallen ist, demonstrieren die ungläubigen Repliken der Richter, die Käthchens Abschied folgendermaßen kommentieren: WENZEL Es ist nicht möglich! HANS Verschwindet? WENZEL Und läßt Alles hinter sich zurück? HANS Eigentum, Heimat und den Bräutigam, dem sie verlobt war? WENZEL Und begehrt auch deines Segens nicht einmal? THEOBALD Verschwindet, ihr Herren – Verläßt mich und Alles, woran Pflicht, Gewohnheit und Natur sie knüpften – Küßt mir die Augen, die schlummernden, und verschwindet; ich wollte sie hätte sie mir zugedrückt. (KH, Z. 214–223)
Das Problem besteht, wie die kaiserlichen Richter Theobald versichern, darin, dass ihr Eigensinn Käthchen veranlasst, ohne, ja nicht einmal explizit gegen den väterlichen ‚Segen‘ zu handeln. Ihr irritierendes Verhalten führt zu einem Austritt aus dem Einflussbereich des Vaters, wobei das Mädchen nicht zu erkennen gibt, damit einen Affront zu begehen oder gar wahnsinnig geworden zu sein, im Gegenteil: Sie geht mit einem Abschiedskuss für den schlafenden, sich daraufhin den Tod wünschenden Vater988 und umgeht im Zuge dessen jede mögliche Auseinandersetzung, um entschlossen einen eigenständigen Weg einzuschlagen.989 Schon hier deutet sich an, dass jener, auch aus Sicht der Richter „seltsame[ ] Vorfall“ (KH, Z. 224) mit einem Verführungsszenario in der Prägung des bürgerlichen Trauerspiels nicht mehr viel gemein hat. Bereits die figurale Grundanlage ist verkehrt: Bei Kleist steigt
988 Knauer (2000) deutet Käthchens Abschiedskuss als „Todeskuß“ (S. 139), der „nicht nur ihn, sondern die patriarchalisch-symbolische Ordnung insgesamt“ (S. 139) trifft. 989 Ganz in diesem Sinne argumentiert Nitschke (2012), dass Käthchen „weitgehend reflexionslos, dafür aber umso instinktsicherer ihrer vorgezeichneten Bestimmung“ folgt und im Zuge dessen „unabsichtlich die Rivalität zwischen fassungslosem Ziehvater und ahnungslosem Bräutigam“ (S. 214) initiiert. Auch Schöll (2004) sieht in Käthchens „autonome[m] Begehren“ (S. 122) eine Bedrohung für die männlichen Figuren des Stücks.
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kein adeliger Lüstling einem bürgerlichen Mädchen nach, sondern das Mädchen folgt einem Grafen, der bis dato keinerlei erotisches Interesse an ihr bekundet hat. Eine solche Inversion der im bürgerlichen Trauerspiel verhandelten Geschlechterkonstellation macht überdeutlich, dass sich Käthchen, so eigensinnig wie eben auch eigenständig, aus der Verfügungsgewalt des Vaters entfernt. Der Text beharrt, in Gestalt einer Antike-Anspielung, regelrecht darauf, dass Käthchen keine Verführte oder auch nur von Verführung Bedrohte ist. Bezeichnenderweise ist es Theobald selbst, der in seinem gekränkt-bitteren Resümee zu Käthchens Verhalten nach dem Verlassen des Elternhauses gerade kein Verführungs-, sondern ein Verwandlungsmotiv bemüht. Der Passus lautet wie folgt: Seit jenem Tag folgt sie ihm nun, gleich einer Metze, in blinder Ergebung, von Ort zu Ort; geführt am Strahl seines Angesichts, fünfdrähtig, wie einen Tau, um ihre Seele gelegt; auf nackten, jedem Kiesel ausgesetzten Füßen, das kurze Röckchen, das ihre Hüfte deckt, im Winde flatternd, nichts als den Strohhut auf, sie gegen der Sonne Stich, oder den Grimm empörter Witterung zu schützen. Wohin sein Fuß, im Lauf seiner Abenteuer, sich wendet: durch den Dampf der Klüfte, durch die Wüste, die der Mittag versengt, durch die Nacht verwachsener Wälder: wie ein Hund, der von seines Herren Schweiß gekostet, schreitet sie hinter ihm her […]. (KH, Z. 225–236)
Die Szene dieser unbedingten, keine Hindernisse scheuenden Folge erinnert an eine Passage aus Ovids Metamorphosen. Dort allerdings folgt ein Mann einer Frau. Die Vorgeschichte besteht darin, dass Apoll mit seiner Prahlerei Amor verärgert hat und daraufhin mit den Bogenkünsten des Liebesgottes bestraft wird. Amor verschickt „zwei Geschosse von entgegengesetzter Wirkung: Das eine vertreibt, das andere erregt Liebe.“990 Verliebt macht Amor Apoll, dessen wild entbrannte Liebe fortan der schönen Nymphe Daphne gilt, die wiederum aber nichts als Abneigung gegenüber Apoll empfindet und vor dessen amourösen Anstalten flieht. Letzteres bildet einen wesentlichen Handlungskern dieser Metamorphose. Die Art und Weise nun, wie Daphne in Ovids Darstellung vor Apoll flieht, deckt sich in vielerlei Hinsicht damit, wie Kleist Käthchens Folge in Szene setzt. Aus der Verfolgten und ihrer entschlossenen Flucht wird im Käthchen von Heilbronn eine bedingungslos Folgende, was Konsequenzen für das weiblich-männliche Machtgefälle hat, das damit entworfen wird. Ähnlich wie Käthchen barfuß geht, bloß einen knappen Rock und Strohhut trägt, ist auch Daphne bei Ovid schlicht und bestenfalls leicht bekleidet, was denn auch ihre erotische Anziehungskraft begründet. So heißt es über Apolls Wahrnehmung der Nymphe:
990 Ov., met., 1, 468–469.
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Er sieht, wie das schmucklose Haar bis zum Hals herabhängt. ‚Ei‘, sagt er, ‚wenn es erst noch frisiert würde!‘ […]; er lobt die Finger, die Hände, die Arme und die Oberarme, die bis über die Mitte entblößt sind; und was verborgen ist, stellt er sich noch schöner vor. Sie aber flieht schneller als der Lufthauch, ohne auf seine Worte hin stehen zu bleiben, mit denen er sie zurückruft […].991
Und ähnlich wie Theobald angesichts der über Stock und Stein führenden Verfolgungstortur seiner Tochter um ihre körperliche Unversehrheit bangt, sorgt sich der liebestolle Apoll ebenfalls darum, die im Eiltempo fliehende Nymphe könne sich verletzen. Verzweifelt ruft er ihr hinterher: ‚Liebe ist der Grund, warum ich dich verfolge. Weh mir! Stürz nicht vornüber und laß die Dornen nicht deine Schenkel ritzen, die keine Verwundung verdienen. […] Die Gegend, durch die du dahineilst, ist rauh. Lauf, bitte, langsamer und zügle deine Flucht!‘992
Darüber hinaus wird sowohl bei Kleist als auch bei Ovid darauf hingewiesen, dass Käthchen und Daphne beschwerdelos, ja ganz dem jeweiligen Ziel, sei es Folge oder Flucht, ergeben, einen hindernisreichen Weg scheinbar mühelos beschreiten. Eile Daphne auf ihrer Flucht durch eine ‚rauhe Gegend‘ und habe sie auch sonst „Freude an Schlupfwinkeln im Wald“993 sowie an Streifzügen „durch unwegsames Gelände“994, so passiere Käthchen barfuß „Klüfte“ (KH, Z. 233), heiße „Wüste[n]“ (KH, Z. 233) und „verwachsene[ ] Wälder“ (KH, Z. 234–235) – letzteres auch noch des Nachts. Bequem machen es sich diese beiden Mädchen, so darf man resümieren, ganz sicher nicht. Ovids Daphne-Metamorphose und Kleists Käthchen-Drama entwerfen sogar bis in die Details parallele weibliche Figurenprofile, die sich in ihren Bewegungen ausdrücken: Gezeichnet wird das Bild der vor Liebe fliehenden Daphne, deren Körper durch „Windstöße entblößt[ ]“995 wird und deren Kleider in der Luft „flattern“996; ganz analog dazu flattert der kurze Rock des aus Liebe folgenden Käthchens im Wind (KH, Z. 229–230). Dass Kleist Käthchens folgsame Mission über ein Bildarsenal in Szene setzt, das in vielen Punkten mit Ovids Beschreibung einer Frau übereinkommt, die vor einem Mann davonläuft, stellt eine signifikante Inversion des traditionellen Geschlechterschemas dar:997 Käthchen tritt als Verfolgerin eines Mannes auf, der
991 Ov., met., 1, 497–503. 992 Ov., met., 1, 507–511 [Hervorhebung im Original]. 993 Ov., met., 1, 475–476. 994 Ov., met., 1, 479. 995 Ov., met., 1, 527. 996 Ov., met., 1, 528. 997 Vgl. dazu Barkhoff (1995): „Handeln vs. Hingebung, Aktivität vs. Passivität, in diesen Dualismen […] reproduziert sich die klassische dualistische Rollenzuweisung an Mann und Frau, die
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sie dezidiert ablehnt, wenngleich er sich ihr letztlich gänzlich zugewandt zeigen wird. Diese Rolle obliegt bei Ovid dem handlungsstarken, männlichen Liebestollen Apoll. Allerdings verstört Kleist diese Rollenverkehrung, die Käthchen einen aktiven Part in der Zweierkonstellation zuweist, sogleich wieder, indem er Käthchens Handlungsweise an Daphnes letztlich genuin passiver Fluchtbewegung spiegelt; wobei entscheidend ist, dass diese Worte dem verzweifelten Vater in den Mund gelegt werden. Es kommt hinzu, dass der Text Käthchen von Beginn an zwar als eine durchaus penetrant Folgende, aber sicher nie als radikal und lautstark Verfolgende inszeniert. Die Ovid-Anleihe klärt somit das männlich-weibliche Machtgefüge nicht auf, sondern arbeitet im Gegenteil seiner Irritation zu. Das wird noch deutlicher anhand einer weiteren intertextuellen Bezugnahme auf die Episode um Apoll und Daphne: Beschreibt Theobald Käthchens Handlungsmodus mit dem viel zitierten Satz: „[W]ie ein Hund, der von seines Herren Schweiß gekostet, schreitet sie hinter ihm her“ (KH, Z. 235–236), so weist er Käthchen damit überdeutlich die Rolle der Unterworfenen zu. Und auch der Graf bestätigt dieses Bild, gleichwohl moderater, in seiner ersten Aussage vor dem Femgericht: „Wahr ists, ihr Herren; sie geht auf der Spur, die hinter mir zurückbleibt. Wenn ich mich umsehe, erblick’ ich zwei Dinge: meinen Schatten und sie.“ (KH, Z. 244–246) Bei Ovid indessen findet sich ebenfalls eine Beschreibung des Paares, die einen die Rolle des Hundes spielen lässt, der anderen aber keinesfalls diejenige des Herrn, sondern der Beute zuschreibt und dies noch über ein Gleichnis amplifiziert: „Doch der jugendliche Gott [Apoll] […] folgt […] mit beschleunigtem Schritt ihren [Daphnes] Spuren. Wie wenn ein Jagdhund aus Gallien auf dem offenen Feld einen Hasen erspäht hat und der eine nach seiner Beute, der andere um sein Leben rennt – […].“998 Ovids männlicher Verfolger ist explizit als animalisch-aktiver, ja geradewegs als aggressiver Part modelliert, der das weibliche ‚Beutestück‘ zu erlegen trachtet, wie auch die Folgeverse eindrücklich belegen.999 Auch diesen Vergleich transformiert die väterliche Tirade: Zwar im Laufe des 18. Jahrhunderts die Frau in Form einer weiblichen Sonderanthropologie festlegt auf all das, was Käthchen zu Käthchen macht: Reinheit und reflexionslose Unschuld, Anmut aus Naturnähe und jene selbstlose Hingabebereitschaft, die in der freiwilligen Unterordnung unter das stärkere Geschlecht ihre wahre Erfüllung findet“ (S. 249). Darin erschöpft sich die Gestaltung der Käthchen-Figur jedoch mitnichten. 998 Ov., met., 1, 531–534. 999 Ov., met., 1, 535–538. Es ist daran zu erinnern, dass Käthchen vom Grafen ebenfalls als „Jagdhund“ (KH, Z. 2114) bezeichnet wird, bevor er versucht, der Schlafenden den Grund ihrer bedingungslosen Folge zu entlocken (vgl. KH, V,2). Auch an dieser Stelle wird das Motiv des Jagdhundes verstellt, wird es doch gerade nicht zur Illustration eines etwaigen, aggressiven Strebens des Mädchens nach Strahl bemüht. Stattdessen gibt der Graf an, dass Käthchen „wie ein Jagdhund, immer träumt“ (KH, Z. 2114), eine Eigenschaft, die Strahl für sein Verhör nützlich scheint.
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wird Käthchen als Hündin attribuiert, als eine jedoch, die in einem Verhältnis der Domestikation zum Grafen steht. Abermals wird in diesem Zuge das subversiv angelegte Geschlechterverhältnis zwischen Käthchen und Strahl in Richtung einer bedrohlichen, männlichen Dominanz hin ausgelegt – wohlgemerkt von einem Patriarchen, der seine Felle davon schwimmen sieht. Der Ovid-Rekurs hat in meiner Lesart die Funktion, Käthchens ambivalentes Schicksal als eine Frauenfigur offen zu legen, die sich einerseits selbst ermächtigt und andererseits konstant von den männlichen Protagonisten zu entmächtigen versucht wird. Gleicht man die bei Ovid vorgeführte Mann-Frau-Konstellation mit dem ab, was sich zwischen Käthchen und dem Grafen abspielt, so stellt sich rasch heraus, dass Käthchen mit Daphne bestenfalls ihr Äußeres und nicht, wie der Vater vielleicht hofft, ein passives, vom Mann fortstrebendes Naturell teilt. Dass Theobald diese Analogie gleichwohl bemüht, hat die Qualität phantasmatischen Wunschdenkens: Wäre Käthchen wie Daphne eine Verfolgte, die ihren Freier ablehnt, müsste die Welt des Vaters in Ordnung sein. So sieht die Verwandlungsepisode eine bestimmte geschlechterspezifische Hierarchie vor, die Theobald aufruft, um klar zu machen, wie es aus väterlicher Sicht ‚eigentlich‘ zwischen Mann und Frau zugehen sollte: Der Mann verfolgt gemäß seinem ‚natürlichen‘ Jagdinstinkt die Frau, die ihn, das kann dem Vater nur Recht sein, verschmäht; und die in letzter Instanz niemand anderen als den Vater um Schutz vor dem Verführer anfleht. Entsprechend heißt es bei Ovid: „‚Vater, komm mir zu Hilfe‘, sprach sie [Daphne], ‚[…] Zerstöre durch eine Verwandlung diese Gestalt, durch die ich allzu sehr gefiel!‘“1000 Daphnes Vater, der Flussgott Peneus, erfüllt seiner Tochter den Wunsch und verwandelt sie kurzerhand in einen Baum. Theobald Friedborns Problem besteht nun ganz sicher nicht darin, solcher göttlichen Verwandlungskünste nicht mächtig zu sein. Vielmehr bleibt die Bitte der Tochter um Schutz vor dem Verführer, der ja auch gar keiner ist, schlichtweg aus. Im Gegenteil ist hier eine Tochter problematisch, die sich eigenmächtig, ganz ohne väterliche Intervention fortbegeben, ja die sich selbst verwandelt hat, indem sie den Mann, vor dem sie eigentlich fliehen müsste, begehrt, ihm in aller denkbaren Devotie folgt und sich damit gänzlich außerhalb der paternalen Verfügungsgewalt bewegt. Dass Kleist den um seine Machtposition bangenden Vater in aller Drastik von dämonischer Verführung und Unterwerfung seiner Tochter klagen lässt, ihn aber gleichfalls ein Verwandlungssujet bemühen lässt, das ganz und gar nicht die Situation beschreibt, in der sich seine Tochter befindet, demontiert Theobalds Urteilsvermögen und damit auch dessen Vorwurf gegenüber dem Grafen; schon bevor sich dieser hat äußern können. Erstens also dient das Ver-
1000 Ov., met., 1, 546–547.
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wandlungssujet dazu, die durch das Trauerspiel-setting aufgerufene Verführungsgeschichte bereits in ihren Anfängen zu zerstreuen. Käthchen ist nicht verführt, sondern hat sich selbst verwandelt, ohne väterlichen Beistand und Segen,1001 und nicht zum gänzlich passiven Objekt, zum Ovidianischen Lorbeerbaum, den Apoll nach der Transformation Daphnes im Haar trägt.1002 Zweitens regt die von Theobald versuchte Parallelführung zur Reflexion über die geschlechterspezifische Machtdynamik an, die der Text entwirft oder besser: konstant verwirrt, ja im Unklaren lässt. Wer hier Macht über wen ausübt, ist bereits in der von Theobald so tendenziös vorgetragenen Vorgeschichte nicht recht auszumachen. Gleichwohl handelt es sich um eine fortwährend genährte Irritation, die das textuelle Fortschreiten stimuliert und die den Kern von Käthchens paradoxer Er- und Entmächtigung bildet. Der Graf nun bestreitet die Vorfälle keineswegs, gibt aber an, weder über die Gründe von Käthchens bedingungsloser Folge im Bilde zu sein noch diese genährt zu haben (vgl. KH, Z. 249–252, 262–317). Selbst erstaunt darüber, dass sie sich ihm „ganz und gar geweiht“ (KH, Z. 306) habe, habe er schließlich sogar von seiner Reise einen Boten nach Heilbronn entsendet, mit der Nachricht, der Vater könne Käthchen in Kürze auf seinem Schloss abholen (vgl. KH, Z. 313–317). Der Vorfall, der sich bei der Ankunft des Vaters auf der Strahlburg ereignet, spricht vor dem Hintergrund der fehlgeleiteten Anklage Theobalds und vor dem Hintergrund des Verwandlungsthemas Bände. Der Vater, in der Überzeugung, einem satanischen Verführer gegenüber zu treten, besprengt Strahl bei seiner Ankunft auf dem Schloss zunächst mit Weihwasser (vgl. KH, Z. 322–324). Bei der Begegnung von Vater und Tochter im sagenumwobenen Stall zu Strahl muss Theobald ein Kind erleben, das den eigenen Vater mehr als nur scheut. Der Bericht des Grafen lautet: So wie er [Theobald] in die Tür tritt, und die Arme mit tränenvollen Augen öffnet, sie zu empfangen, stürzt mir das Mädchen leichenbleich zu Füßen, alle Heiligen anrufend, daß ich sie vor ihm schütze. Gleich einer Salzsäule steht er, bei diesem Anblick, da; und ehe ich mich noch gefaßt habe, spricht er schon, das entsetzensvolle Antlitz auf mich gerichtet: das ist der leibhaftige Satan! und schmeißt mir den Hut, den er in der Hand hält, in’s Gesicht, als wollt’ er ein Greuelbild verschwinden machen, und läuft, als setzte die ganze Hölle ihm nach, nach Heilbronn zurück. (KH, Z. 331–341)
1001 Vogel (1996) unterschätzt in ihrer Lektüre Käthchens Eigenständigkeit sowie Theobalds Furcht vor einem Machtverlust (vgl. S. 114–116). Beides wird durch das Verwandlungsmotiv ausgestellt. 1002 Vgl. Ov., met., 1, 557–565.
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Es fällt auf, dass keiner der Beteiligten Käthchen selbst nach ihren Beweggründen fragt. Dies kann als weiterer Hinweis dafür gelten, dass ihr Verhalten stets aus der Perspektive der männlichen Figuren geschildert und bewertet wird.1003 Der Vater erklärt sich die Abneigung gegen ihn als ein seduktives Teufelswerk, wobei auch an dieser Stelle – unterstützt durch die drastische, religiös aufgeladene Semantik – die Kränkung des Patriarchen erneut Ausdruck findet, ohne dass sachliche Gründe für eine etwaige Verfehlung des Grafen angeführt würden. Überdies wird der mittels des Verwandlungstopos ins Spiel gebrachte väterliche Wunsch, eine schutzbedürftige Tochter vorzufinden, hier geradewegs enttäuscht. Theobald trifft auf ein Kind, das sich von ihrem ‚neuen Herrn‘ umgekehrt Schutz vor dem Vater erfleht, was von dessen Warte aus das veritable Skandalon darstellt und somit auch Theobalds wortlos-rasanten Abtritt plausiblisiert. Die Richter können nach dem Gesagten keine Schuld des Grafen erkennen und ergreifen dessen Partei: „Kann er dafür, wenn sich das Herz eines törichten Mädchens ihm zuwendet?“ (KH, Z. 345–346) Theobalds Zorn steuert daraufhin auf seinen Gipfelpunkt zu, wobei aufschlussreich ist, dass er eine fremdgesteuerte Wesensveränderung Käthchens konstatiert, die, und das ist der wesentliche Punkt, eine rigorose Ablehnung seiner väterlichen Autorität begründe. Seine abermals tiradenartige Entgegnung lautet dementsprechend: Mußt’ ich vor dem Menschen nicht erbeben, der die Natur, in dem reinsten Herzen, das je geschaffen ward, dergestalt umgekehrt hat, daß sie vor dem Vater, zu ihr gekommen, seiner Liebe Brust ihren Lippen zu reichen, kreideweißen Antlitzes entweicht, wie vor dem Wolfe, der sie zerreißen will? (KH, Z. 352–357)
Auch hier wird der Bezug auf die Metamorphose der Daphne fortgeschrieben und verkehrt: Es ist zu Theobalds größter Empörung er selbst, der eigentlich schützende Vater, der – schlimmer noch als der Jagdhund Ovids – in wölfischer Aggression die Frau bedroht. Er fühlt sich aber nicht nur vollkommen unrechtmäßig in die Rolle des Verfolgers gedrängt, sondern registriert auch noch, dass ein anderer, der Graf vom Strahl, die Position des väterlich-protektiven ‚Verwandelnden‘ eingenommen hat. Eine solche Transformation der Machtverhältnisse lässt den Vater nur noch hilflos von „allgemeiner Sündflut“ (KH, Z. 367) klagen. Dass Theobald an dieser Stelle hysterisch und unbegründet Anklage an Anklage reiht, kulminiert schließlich darin, dass er den Richtern auf ihre Frage, ob der Graf Käthchen Gift oder Opiate verabreicht haben könnte, mit der Mutmaßung entgegnet: „Wie soll ich wissen, ob er ihr Gift eingeflößt? habt neun Monate Geduld; alsdann sollt ihr sehen, wies ihrem jungen Leibe bekommen ist.“ (KH, Z. 378–380) Die
1003 So auch Vogel (1996), S. 135.
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merklich paranoide und gewiss auch inzestuös grundierte Angstvorstellung des Vaters kapriziert sich darauf, das wird in dem angestrengten Vergleich von Gift und Sperma nicht eben subtil suggeriert, der männliche Verführer könne dem Mädchen sexuell zu nahe getreten sein.1004 Theobalds lautstarke Klage darüber, seine väterlichen Vorrechte an einen vermeintlichen Verführer verloren zu haben, kann als erfolgloser Versuch gelten, die emanzipatorischen Handlungen der Tochter zu übertönen. Zwar mag es schwer fallen, hier eine Emanzipation am Werk zu sehen, scheint doch Käthchens ganzes Wollen und Handeln auf und nach einem anderen Mann gerichtet.1005 Die hier verfolgte Lesart geht allerdings davon aus, dass Kleist das Machtgefälle zwischen Käthchen und Strahl nicht so klar im Sinne einer rein dominanten Position des Grafen entscheidet.
4.4 Käthchen vor Gericht: Die Macht des ‚Ich weiß es nicht‘ Dies kann Käthchens Auftritt vor dem Femgericht demonstrieren, der nach allem Gesagten gänzlich darauf ausgerichtet sein muss, ihr merkwürdiges Verhalten aufzuklären. Die Forschung hat sich eingehend mit dieser ‚Verhör‘-Szene1006 beschäftigt und mit Blick auf weitere Dramenszenen1007 argumentiert, der Text verarbeite dergestalt ein spezifisches medizinisches und anthropologisches Wissen. Bezug genommen wird dabei auf ein diskursives Geflecht von Mesmerismus, Magnetismus, Somnambulismus und Elektrizität.1008 Diesen diskursgeschichtlich verfahrenden Analysen muss keine weitere hinzugefügt werden. Für meine These ist
1004 Vgl. dazu die folgenden Forschungsbeiträge, die Theobalds Machtanspruch auf die Tochter auch erotisch konnotiert sehen: Nitschke (2012), S. 215–216; Strauch (2004), S. 65–66; Knauer (2000), S. 138–139; Klüger (21997), S. 174. 1005 So Nitschke (2012): „Käthchen gewinnt die emotionale Unabhängigkeit von ihrem Ziehvater nur im Fluchtpunkt auf den providentiellen Ehegatten. Aus diesem neuen Zielfokus ergibt sich dann zwangsläufig die Zurücksetzung Theobalds – nicht jedoch eine emanzipatorische Tendenz, insofern hier ja nur die männliche Bezugsperson ausgewechselt wird“ (S. 214, vgl. ähnlich auch S. 216). 1006 Maßgeblich ist hier Oesterles (2001) Forschungsbeitrag. 1007 Besondere Aufmerksamkeit wird dabei stets der sogenannten ‚Holunderbuschszene‘ (vgl. KH, V,2) geschenkt, in der das schlafende Käthchen vom Grafen befragt wird. 1008 Am einschlägigsten und umfassendsten sind die Monographien von Barkhoff (1995), S. 239–257, und Weder (2008), S. 158–205. Vgl. weiter Allemann (2005), S. 199–205; Alt (2005), S. 95–97; Schrader (2001), S. 98–109; Knauer (2000), S. 140; Fink (2000), S. 15–18; Huff (1992); Tatar (1978). Vgl. kritisch dazu und mit einem Fokus auf dem zeitgenössischen Strafrechtsdiskurs Oesterle (2001), S. 307–310, 317–326.
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dieser Zusammenhang insofern relevant, als die magnetische Beziehung, in der Käthchen zum Grafen steht, eine spezifische ‚Paar‘-Hierarchie nahelegt, die nicht nur für die Geschlechterkonstellation, sondern auch für das politische Thema des Dramas keineswegs marginal ist. Die beiden monographischen Beiträge von Weder und Barkhoff diskutieren die Frage, ob Käthchen oder Strahl die Vormachtstellung im „magnetischen Doppel“1009 einnimmt. So attestiert Barkhoff Käthchen zwar eine ihre somnambule Performanz bestimmende agency1010 und deutet etwa den sie bei ihrem Gang durchs Feuer begleitenden Cherub als „Chiffre für die aus der Fachliteratur wohlbekannte, aller Gefahr unbewußte Orientierungssicherheit autosomnambuler Nachtwandler“1011. Allerdings sieht er Käthchen letztlich als ohnmächtiges Opfer eines solchen nicht nur magnetisch-sympathetischen sondern gleichfalls sadomasochistischen Verhältnisses.1012 Weder gibt an, für eine stärkere Position Käthchens plädieren zu wollen und deutet die vermeintliche weibliche Subordination als „‚heilige‘ Hingabe“1013, d. h. als Signum einer vom Dramenbeginn an zu beobachtenden, durchaus machtvollen, „somnambule[n] Handlungs- und Orientierungssicherheit“1014. Meines Erachtens liegen die skizzierten Forschungspositionen in ihren Beschreibungen des Machtgefälles, das zwischen dem Grafen und Käthchen herrscht, letztlich recht nah beieinander. Was allerdings beide in ihren aufschlussreichen Rekonstruktionen der medizinischen, anthropologischen und psychologischen Referenzdiskurse außer Acht lassen, sind die mit der amourösen Handlungslinie verbundenen politischen Problemkonstellationen, die das Drama verhandelt. Die Frage, wie Kleists Entwurf der offensichtlich an zeitgenössischen Diskursen magnetischer Anziehung mitschreibenden Paarbeziehung mit dem genealogischdynastischen Sujet zusammenhängt, bleibt in allen bisherigen Lektüren unbeantwortet. Die von der Forschung beschriebene, parapsychologische Verbundenheit lässt sich vor diesem Hintergrund neu diskutieren. In der Regel wird Strahl in der Rolle des machtvollen Magnetiseurs gesehen, Käthchen hingegen als Magnetisierte hypostatiert.1015 Die damit nahe gelegte 1009 Barkhoff (1995), S. 250. 1010 Vgl. Barkhoff (1995), S. 247–248. 1011 Barkhoff (1995), S. 243. 1012 Vgl. Barkhoff (1995), S. 249–257. 1013 Weder (2008), S. 196. 1014 Weder (2008), S. 190. Käthchens „quasi übernatürliche Fähigkeiten“ (Weder (2008), S. 196) würden insbesondere in der ‚Feuerprobe‘ (vgl. KH, III,13–14) erwiesen. 1015 So v. a. Barkhoff (1995), der das Verhör als grausames Unterwerfungsritual, den Grafen als „versierte[n] Inquisitor“ (S. 251) deutet. Anders und differenzierter mit Bezug auf die zeitgenössischen Strafrechtsdiskussionen Oesterle (2001): Kleist modelliere in I,2 „ein raffiniertes Verhör und seine Unterminierung“ (S. 323) und führe überdies keinen „Sadismus“ (S. 324) Strahls, son-
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ungebrochene Dominanz des männlichen Protagonisten und – allgemeiner gesprochen – des männlichen Machtprinzips kann jedoch nicht von vornherein als ausgemacht gelten. Dagegen spricht bereits die subtile Unterminierung der väterlichen Anklage, die Kleist mittels des Verwandlungsmotivs in Szene setzt. Im Folgenden geht es darum zu zeigen, dass im Spiel um Käthchens Er- sowie Entmächtigung die Legitimationsgründe und Machtansprüche sämtlicher männlichen Dramenfiguren bis an den Rand des Kollaps getrieben werden. Wer in Kleists Ritterschauspiel Macht ausüben will, muss sich auf die eine oder andere Weise mit einer somnambulen Heldin auseinandersetzen. Damit ist die Kontur der Verhörszene umrissen, in der erstens die juridische Macht an Käthchen scheitert und zweitens Strahls Angewiesenheit auf Käthchen zu Tage tritt. Die fulminante Eingangsszene zeichnet das Bild einer sinnverwirrten jungen Frau, die sich zwar selbst nicht über die Gründe ihrer Fixierung auf den Grafen Rechenschaft abzulegen vermag, sich jedoch ihrer Sache mehr als sicher zu sein scheint. So sicher, dass sie das kaiserliche Femgericht kaum eines Wortes würdigen wird. Und so beginnt Käthchens Auftritt mit einem demütigen Kniefall vor ihrem ‚Herrn‘ (vgl. KH, V. 387), dem Grafen und keineswegs vor den Richtern (vgl. KH, S. 334). Von Strahl über die Rollenverteilung vor Gericht und insbesondere über seine prekäre Lage, ihrer Verführung angeklagt zu sein, ins Bild gesetzt, zeigt sich Käthchen über alle Maßen erstaunt. Zahlreich sind die daraufhin losbrechenden, brüskierten Kommentare der Richter, die das Mädchen in das gerichtliche Verfahren einzupassen versuchen. Von der noch höflich vorgetragenen Bitte, Käthchen möge sich in den Zeugenstand begeben (vgl. KH, V. 396), über den Hinweis „Hier sitzen deine Richter!“ (KH, V. 397) sowie über die „befremdet[e]“ (KH, S. 335) Frage, was jenem „sonderbaren Wesen“ (KH, V. 402) fehle, bis hin zum fassungslosen Ausruf „Bei Gott! Ist es erhört?“ (KH, V. 413), steigert sich die Irritation der kaiserlichen Gerichtsräte über Käthchens unangepasste Ignoranz im Angesicht des institutionellen settings. Käthchens wohlgemerkt einzige direkte Aussage gegenüber dem Gericht besteht denn auch darin, Strahl in der Rolle als höchsten denkbaren Richter auf Erden zu glorifizieren, womit freilich eine fundamentale Nicht-Anerkennung der Autorität der Femerichter einhergeht:1016 „Ihr würd’gen Herrn, wer ihr auch sein mögt dort,/ Steht gleich vom Richtstuhl auf und räumt ihn diesem!/ […] Wenn hier gesündigt ward, ist er der Richter,/ Und ihr sollt zitternd vor der Schranke stehn!“ (KH, V. 418–424).1017 dern einen der voyeuristischen Richter vor. Anders auch Knauer (2000), die argumentiert, dass neben Gericht und Vater auch „der als mesmeristischer Seelenheiler und Verführer auftretende Graf“ (S. 140) an Käthchen scheitere. 1016 So auch Barkhoff (1995), S. 242. 1017 Hervorhebung im Original.
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Wenn Graf Otto, einer der Richter, Käthchen sodann als „Närrin“ (KH, V. 425) tituliert, deutet sich bereits an, dass ihrem Auftritt ein Machtspiel der besonders verwirrenden Art folgen wird. Dass die causa ‚Käthchen‘ so klar nicht ist wie vom verzweifelten Vater geschildert, zeigt zunächst das zugewandte Verhalten des Mädchens gerade gegenüber Theobald. Mit wertschätzenden Worten und einem Handkuss begegnet Käthchen einem Vater (vgl. KH, S. 336), der sie, verbittert von seiner Verführungstheorie überzeugt, an den Grafen zurückweist: „Dort ist der Ort jetzt, wo du hingehörst!“ (KH, V. 429) Käthchen begibt sich sodann widerwillig in den Zeugenstand und hört immerhin die Frage an, warum sie dem Grafen seit ihrem Fenstersturz so konsequent folge (vgl. KH, V. 446–453). Ihre Replik demonstriert indessen überdeutlich, dass die juridische Inquisitionsgewalt im Falle von Käthchen einfach nicht greifen will: So wendet sie sich auf die richterliche Frage „hochrot“ (KH, S. 337) wiederum mit einer Frage an den Grafen zurück: „Das soll ich hier vor diesen Männern sagen?“ (KH, V. 454) Dieser ist bestrebt, die ihm durch Käthchens Adressierungen zugewiesene Rolle als autoritativer Intimus abzuwehren, ja als Hirngespinst einer Wahnsinnigen zu disqualifizieren. Dazu reproduziert er, um andere Allianzen bemüht, sowohl die Wortwahl des Gerichts als auch die des Vaters: „Die Närrin, die verwünschte, sinnverwirrte,/ Was fragt sie mich? Ists nicht an jener Männer/ Gebot, die Sache darzutun, genug?“1018 (KH, V. 455–457) Käthchen fällt nach dieser offensichtlichen Abweisung durch Strahl vor diesem auf die Knie und beteuert, sich keiner Schuld bewusst zu sein (vgl. KH, V. 458–463). Die Richter, mittlerweile so befremdet wie hilflos angesichts ihres Verhaltens, nehmen daraufhin Strahls Angebot an, er selbst wolle jenen „Wahn“ (KH, V. 469) für das Gericht ergründen. Einher geht damit sein eigennütziger Hinweis, die Richter könnten aus seinen Fragen und Einlassungen auf seine Schuld bzw. Unschuld schließen (vgl. KH, V. 472–473). Käthchens Kniefall vor dem Grafen, den die kaiserlichen Räte fassungslos als quasi-religiöse Unterwerfung des Mädchens deuten (vgl. KH, V. 464–466), spielt in Strahls Verteidigungsstrategie eine zentrale Rolle, wie er sich auch generell ihren frappierenden Eigensinn im Rahmen seines Verhörs zu Nutze macht. Gleichwohl dominiert er sie nicht einfach. Es ist noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass die Veranstaltung des Femgerichts eigentlich darauf zielt, den von Theobald Friedeborn vorgetragenen Vorwurf zu prüfen, ob Strahl Käthchen verführt hat. Allein, die Rolle des Angeklagten teilt sich der Graf spätestens nach
1018 Hervorhebung im Original. Vgl. Graf Ottos Bezeichnung Käthchens als „Närrin“ (KH, V. 425) sowie Theobalds Beschreibung der Tochter als eine „Verlorene[ ], die ihrer fünf Sinne beraubt ist“ (KH, Z. 196–197).
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ihrem das Gericht entsetzenden Auftritt schon mit Käthchen. Er selbst überträgt Käthchen die drohende Schuld, wenn er sie mit den Worten „Hier steh ich, ein Verklagter, so wie du.“ (KH, V. 390) vor den Richtern empfängt. Bezeichnenderweise erntet er für diese doch signifikante Ausweitung des Angeklagtenkreises keinerlei Widerspruch, weder von Theobald noch von den kaiserlichen Räten. Die Verschiebung der potentiellen Schuld bringt aber mehr als nur den Versuch zum Ausdruck, die eigene Haut retten zu wollen. Käthchen, von ihrem Vater als Verführungsopfer stilisiert und von den Richtern als Zeugin bestellt, wird in diesem Zuge eine merklich aktivere Rolle im Geschehen zugewiesen: Wer (mit-) angeklagt ist, dem darf man mindestens unterstellen, etwas Frevelhaftes getan haben zu können, was ganz und gar nicht dem von Theobald kolportierten Bild der verführten Unschuld entspicht. Die Verhör-Szene bestimmt nur auf der Oberfläche das Bestreben des Grafen vom Strahl, sich zu verteidigen. Darüber hinaus führen Strahls penetrante Fragen sowie seine an Käthchen exerzierten Machtdemonstrationen paradoxerweise das schiere Faktum ihrer eigentümlichen Selbstbestimmtheit, ja ihrer stets nebulös bleibenden Autorität vor Augen. Auch wenn also der Graf im Verhör unzweifelhaft Macht über Käthchen ausübt, so kann er dies nur aufgrund ihrer auf ihn konzentrierten Gefügigkeit, deren Grund und Wesen allerdings so radikal unverständlich sind, dass sie wiederum ihn potentiell der von ihrer Unberechenbarkeit ausgehenden Gewalt aussetzen. Käthchens Folgsamkeit desavouiert somit das von Theobald vermutete Herrschaftsschema einer vermeintlich vom Grafen ausgehenden, einseitig gerichteten Gewalt. Was also im Zuge der Interrogation in Erscheinung tritt, ist weniger das Verhältnis eines Mannes, der Macht über eine Frau ausübt, sondern die diffuse, die männlichen Machtinstanzen verstörende Autonomie einer sich freiwillig und scheinbar grundlos unterwerfenden Frau. Das vordergründig so klare Machtgefälle zwischen dem Verhörenden und der zu Verhörenden entspricht, wie schon angedeutet, ihrer räumlich-körperlichen Anordnung im dramatischen Raum, denn die Befragung beginnt, indem Käthchen vor dem Grafen „noch immer auf Knien liegt“ (KH, S. 337). In dieser devoten Position wird das Mädchen von Strahl aufgefordert, sich ihm anzuvertrauen (vgl. KH, V. 475–477). Auf seine konkrete Frage „Was fesselt dich an meine Schritte an?“ (KH, V. 482) repliziert Käthchen mit dem bildgewaltigen Eingeständnis, sich ihrer eigenen Gründe schlicht nicht bewusst zu sein: Mein hoher Herr! Da fragst du mich zuviel. Und läg’ ich so, wie ich vor dir jetzt liege, Vor meinem eigenen Bewußtsein da: Auf einem goldnen Richtstuhl laß es thronen, Und alle Schrecken des Gewissens ihm, In Flammenrüstungen, zur Seite stehn;
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So spräche jeglicher Gedanke noch, Auf das, was du gefragt: ich weiß es nicht. (KH, V. 483–490)
Es ist dieses, von Käthchen selbst präzise benannte Prinzip des ‚je ne sais quoi‘1019, das den enigmatischen Grund ihrer unverrückbaren Mission bildet. Das Drama schildert in der Folge den groß angelegten, auf die eigene Verteidigung zielenden Pseudo-Versuch des Grafen, Käthchens Verhalten auf eine wie auch immer geartete Einwirkung seinerseits zurückzuführen. Verhörend und überwiegend in Form von insistierenden, rhetorischen Fragen1020 geht er diverse Stationen des Zusammentreffens durch, um sich selbst vom Verdacht einer manipulativen Einflussnahme auf Käthchen zu reinigen. Immer wenn diese in entwaffnender Zugewandtheit Szenen von Strahls Fürsorge ihr gegenüber zu Protokoll gibt (vgl. KH, V. 509–511, 527–531, 536–537), verschärft der Graf seinen inquisitorischen Gestus und penetriert sie geradezu mit bohrenden Nachfragen oder suggestiven Wendungen (vgl. z. B. KH, V. 515, 517, 519, 521, 525, 535) – all das um eine unsittliche Annäherung zwischen beiden in den Raum zu stellen. Und so spitzt sich das Verfahren auf die frivole Frage zu, „[w]as in dem Stall damals zu Strahl geschehn“ (KH, V. 572). Ganze dreimal bringt der Graf ein mutmaßlich intimes Zusammentreffen mit Käthchen in seinen Stallungen zur Sprache (vgl. V. KH, V. 533–534, 545–547, 552), woraufhin sich die Richter in das Spiel mit dem Verdacht einschalten und ihrerseits dreimal die Aufklärung der Angelegenheit fordern (vgl. KH, V. 555, 572, 587–589). Der Graf treibt die Suggestion einer sexuellen Begegnung zwischen ihm und Käthchen schließlich zum Äußersten, indem er sie als „leichtfert’ge Dirne“ (KH, V. 543) beschimpft und damit vorgeblich zu kompromitteren sucht. Wiederum speist Kleist an dieser Stelle ein Detail ein, das eine Situation in der Kontur des bürgerlichen Trauerspiels, genauer einen Vergleich Käthchens mit Lessings Emilia nahe legt. Wenn nämlich Strahl Käthchen vordergründig damit verhöhnt, sie hoffe zu Unrecht auf göttliche Vergebung angesichts der (vermeintlichen) Unzucht, so fasst er seine Beschreibung Käthchens in diejenigen Worte, die Emilia in ihrem Geständnis gegenüber Odoardo Galotti wählt. Bei Lessing heißt es aus dem Mund einer Tochter, die sich zwar nicht hat verführen lassen, aber ihre Schwäche bekennt, sich der Versuchung fast aus freien Stück hingegeben zu 1019 Unverkennbar wird Käthchens Motivation an dieser Stelle als ein psychologisch nicht dechiffrierbares Unbewusstes ausgewiesen, wodurch ihrem Figurenprofil ein betont rätselhafter Zug eingeschrieben wird. Vgl. zu den psychologischen, philosophischen, ästhetischen und theologischen Diskursen, die das Prinzip ‚je ne sais quoi‘ ausdifferenzieren, Scholar (2005); Köhler (1976), (1966), S. 230– 286. 1020 Beispiele sind etwa „Was hab ich dir einmal, du weißt, getan?“ (KH, V. 495), „Du wunderliches Ding. – / Besinnst du dich auf nichts?“ (KH, V. 499), „– Und du gedenkst nicht, was dir da geschehn?“ (KH, V. 506).
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haben: „Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine.“1021 „[M]it dem Schein der Heftigkeit“ (KH, S. 340) präsentiert der Graf Käthchen und Emilia als ‚Schwestern im Geiste‘: Käthchens Hoffnung, „Gott werd’ es ihrem jungen Blut vergeben“ (KH, V. 544), gehe fehl, womit Strahl das Mädchen als ‚Warmblütige‘, als der Verführung Zugeneigte ausweist, was auch als Spitze gegen Theobalds Verführungstheorie zu verstehen ist. Im Folgenden wird vollends klar, dass der Graf hier doppelbödig spricht, d. h. den Verdacht der Verführung nur nährt, um ihn umso effektvoller zerschlagen zu können, ja um sowohl die Mutmaßungen des zornentbrannten Vaters als auch der Richter über den Fall ‚Käthchen‘ gänzlich ad absurdum zu führen. Käthchen bricht angesichts derartiger Vorwürfe in Tränen aus (vgl. KH, S. 341), was das Gericht dazu bewegt, den Grafen angesichts seiner höhnischen Angriffe auf Käthchens vermeintlich verlorene Unschuld der Grausamkeit zu bezichtigen (vgl. KH, V. 553, 554, 558–562). Es regt sich kollektives Mitleid mit dem derart in die Enge getriebenen Mädchen: Der zuvor abweisende Vater „nähert sich ihr gerührt“ (KH, S. 341), ja „will sie an seine Brust heben“ (KH, S. 341) und auch Graf Otto scheint – stellvertretend für das Gericht – in der Schuldfrage einzulenken: „Zuletzt ist nichts im Stall zu Strahl geschehen.“ (KH, V. 555) Was Strahl daraufhin tut und sagt, lässt sich oberflächlich als gestische Krönung der Verteidigungsstrategie deuten, die dem emphatischen Nachweis sowohl seiner als auch Käthchens Unschuld gilt:1022 DER GRAF VOM STRAHL erhebt das Käthchen vom Boden: Ihr Herrn, was ich getan, das tat ich nur, Sie mit Triumph hier vor euch zu erheben! (KH, S. 341, V. 563–564)
Dass der Graf Käthchen unschuldig weiß, betont er nicht nur an dieser Stelle (vgl. KH, V. 556–557, 566). Die Erklärung, dass seine bedrängenden Fragen und Beschimpfungen ihre und seine weiße Weste nur noch deutlicher hervortreten lassen sollten, impliziert zusammen mit seiner Geste allerdings noch mehr: Der Graf führt Käthchen beginnend mit dieser ‚Erhebung‘ insofern vor, als er demonstriert, wie Käthchen ‚funktioniert‘. Er veranschaulicht dergestalt hier und im weiteren Verlauf der Szene die Machtdynamik zwischen beiden – und gibt gleichzeitig zu verstehen, wie wenig er Käthchens eigensinnige, aber eben auch autonome Unterwerfung durchschaut. Daher steht jene ‚Erhebung‘ nicht bloß
1021 Lessing, EG, S. 369. 1022 Mit dieser Feststellung begnügt sich die Interpretation von Vogel (1996), hier S. 127.
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im Zeichen des Unschuldsnachweises,1023 sondern dient der ‚Vor-Führung‘ ihrer besonderen Autorität, die im wahrsten Sinne des Wortes an den Grafen gebunden ist. Die Richter durchschauen dies bis zum Schluss nicht und sehen sich mit einer groß angelegten Demütigung des Mädchens konfrontiert. Zu seiner Vorführung veranlasst Strahl, dass der Richter Wenzel hartnäckig auf einer finalen Aufklärung der Geschehnisse im Stall zu Strahl insistiert (KH, V. 571–572). Denn dies läuft dem sich andeutenden Einlenken von Vater und Gericht nach Käthchens Zusammenbruch zuwider und empört den Grafen maßlos. Die sich anschließende Interaktion zwischen Strahl und Käthchen wird überwiegend als einseitige, harsche Machtdemonstration des Grafen gelesen.1024 Achtet man jedoch genauer auf die Art und Weise, wie Strahl mit Käthchen umgeht und welche Worte zwischen beiden fallen, ergibt sich ein ungleich komplexeres Bild, das von Käthchens spezifischer Autorität zeugt.1025 Zwar legt das Gestenspiel Strahls uneingeschränkte Dominanz nahe, wenn er etwa nach Wenzels Aufforderung, endlich Rapport über das vermeintlich frivole Zusammentreffen in den Strahl’schen Stallungen abzugeben, den Befehl „Knie nieder!“ (KH, V. 573) an Käthchen richtet, dem sie unverzüglich Folge leistet. Der sich anschließende Wortwechsel demonstriert einen Machtkampf zwischen den Richtern und Strahl, die dessen imperativen Gestus zu unterbinden suchen: GRAF OTTO Ihr seid sehr dreist, Herr Friedrich Graf vom Strahl! DER GRAF VOM STRAHL zum Käthchen: So! Recht! Mir gibst du Antwort und sonst keinem. HANS Erlaubt! Wir werden sie – DER GRAF VOM STRAHL eben so: Du rührst dich nicht! Hier soll dich keiner richten, als nur der, Dem deine Seele frei sich unterwirft. 1023 Auch Oesterle (2001) will die Funktion dieser Textpassage nicht darauf beschränkt wissen, dass der Graf aus „Notwehr“ das Verhör an sich reiße und bis zum Äußersten treibe, „um seine und Käthchens Unschuld erweisen zu können“ (S. 325). Mehr noch mache Strahl durch sein Verhalten auf die Grausamkeit des Verfahrens selbst aufmerksam (vgl. S. 325–326). 1024 So Barkhoff (1995), S. 251–252; mit dieser Tendenz auch Cullens/von Mücke (1997), S. 129– 130, 132. Vgl. überdies Vogel (1996), S. 126–127; Hamacher (2011), S. 101; Strauch (2004), S. 85–87. 1025 Klüger (21997), die wie gesagt erstmals eine Käthchen eigene Handlungsmacht in ihrer Analyse geltend macht, vernachlässigt die für diesen Zusammenhang bedeutsame VerhörSzene. In einer Nebenbemerkung spricht sie lediglich von einem „merkwürdigen Sadismus“ (S. 161), den der Graf vor dem Femgericht an den Tag lege. Lü (2000) weist immerhin darauf hin, dass Käthchen „dem Femgericht auf eine Art und Weise Wissen vorenthält, die dem Grafen zu seinem Sieg über Theobald und auch über die Femrichter verhilft; […] und dass sie aus eigener Initiative strategisch handeln kann.“ (S. 173) Knauer (2000) konstatiert ein der Käthchen-Figur eingeschriebenes aggressives Potential, das die männlichen Machtinstanzen mindestens tangiert (vgl. S. 140–141). Vgl. ferner Oesterle (2001), S. 323–328.
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WENZEL Herr Graf, man wird hier Mittel – DER GRAF VOM STRAHL mit unterdrückter Heftigkeit: Ich sage, nein! Der Teufel soll mich holen, zwingt ihr sie! – Was wollt ihr wissen, ihr verehrten Herrn? HANS auffahrend: Beim Himmel! WENZEL Solch ein Trotz soll – ! HANS He! Die Häscher! (KH, V. 574–582)
Die Richter sind an dieser Stelle im Begriff, Strahl aufgrund seines mehr als nur aufmüpfigen Verhaltens von den Gerichtsdienern festnehmen zu lassen. Aufschlussreich ist die zitierte Passage, weil der Graf hier nach eigener Aussage keinesfalls schlichten Zwang ausübt; im Gegenteil gibt er an, Käthchen vor dem Zwang des Gerichts schützen zu wollen (vgl. KH, V. 580). Was Kleist hier präzisiert und differenziert, ist die Machtdynamik zwischen dem Grafen und Käthchen: Zwar gibt Strahl dem Gericht deutlich zu verstehen, dass ausschließlich er die Macht über das wunderliche Mädchen habe. Auf der formalen Ebene drückt sich dies in seiner deklarativen sowie imperativen Diktion und in den komplementären, elliptischen Einwürfen der Richter aus. Seine Befehlsgewalt gründet sich jedoch dezidiert nicht, so der Graf, auf ‚Zwang‘, sondern ist ganz davon abhängig, dass sich Käthchen ihm ‚frei unterwerfe‘, d. h. sich aus eigenem Willen in eine Konstellation begebe, in der sie die Rolle der folgsamen Befehlsempfängerin spielt. Darin liegt ja auch für Theobald, der nicht glauben will, dass seine Tochter dem Grafen aus freien Stück folgt, das Skandalon. Neben dem Vater sieht auch das Gericht seinen institutionellen Einfluss grundsätzlich gefährdet, da sich Käthchen Strahl so radikal verschreibt, dass sie sich in diesem Zuge jeder anderen Machtinstanz entzieht.1026 Käthchens Devotie ist keine allgemeine Unterwerfungsbereitschaft, 1026 Knauers (2000) psychoanalytisch sowie gendertheoretisch verfahrende Analyse kommt, ohne genauere Textbelege anzuführen, zu ganz ähnlichen Ergebnissen: „Käthchen, das ist die ‚umgekehrte Natur‘, die von keinem Blick gespalten, durchbohrt wird, sondern – eben umgekehrt – die spaltet und Wunden schlägt. Eine solche Umkehrung impliziert eine radikale Umdefinition der Geschlechterrollen“ (S. 140). Oesterle (2001), dessen Analyse des Machtgefüges zwischen Käthchen und Strahl als die eingehendste gelten kann (vgl. S. 323–328), argumentiert, dass der Graf Käthchen dem peinlichen Verfahren, das von den Richtern penetrant vorangetrieben würde, schützend zu entziehen versuche (vgl. S. 326). In Strahls Verhalten drücke sich eine Kritik am gegen ihn und Käthchen gerichteten Prozess aus (vgl. S. 325–326), was zu einem „Zusammenrücken der beiden Schamverletzten“ (S. 326) führe. Sicherlich geht es in der Szene auch darum, die Institution des Femgerichts und sein Verfahren als hochproblematisch auszuweisen. Allerdings ist es nicht der Graf allein, der die gerichtliche Gewalt mit seinem Tun verstört, sondern die vom Text so subtil ins Bild gesetzte Machtdynamik zwischen Strahl und Käthchen. Oesterle unterschätzt meines Erachtens, dass Käthchen im Zustand des ‚Ich weiß es nicht‘
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sondern konzentriert sich vollständig auf Friedrich Graf vom Strahl und lässt in diesem Zuge alles andere ganz einfach beiseite. Dass hier ein zwar von Käthchen nicht erkennbar intendiertes, aber in seinem Effekt subversives Verhalten vorliegt, belegen die paternale Verzweiflung und die richterliche Empörung gleichermaßen. Aber auch der Graf kapituliert in gewisser Weise vor Käthchen, wenn er nichts weiter tun kann, als diejenige Rolle ihres Herrns auszufüllen, in die sie ihn gedrängt hat. Er kann sie ‚erheben‘ und ‚in die Knie zwingen‘, kann über sie verfügen, ohne eine solche Form der Unterwerfung selbst gewollt oder anvisiert zu haben. Im strengen Sinne führt Strahl lediglich das aus, was ihm seine devote Dienerin nahe legt. Allerdings kann er vor dem Femgericht Kapital daraus schlagen, weil Käthchen die mutmaßliche Verführung durch ihren – vom ihm vorgeführten – Eigensinn bestreitet und dabei auch Strahls Angeklagtenstatus suspendiert. Klar ist, dass niemand, auch nicht der Graf versteht, warum Käthchen handelt, wie sie handelt. Strahls Umgang mit Käthchen in der Verhör-Szene indes zeigt, dass er immerhin verstanden zu haben scheint, dass sie handelt, ja dass in ihrer hochgradig undurchsichtigen Subordination ein autonomes Moment liegt. Käthchens Macht gründet sich gerade darauf, die Frage nach ihren Handlungsgründen nicht beantworten zu können, die doch für den Ausgang des vom Vater angestrengten gerichtlichen Verfahrens entscheidend ist. Es ist die Macht des ‚Ich weiß es nicht‘, durch die sie sich und Strahl der Anklage zu entziehen vermag. Anders gesagt: Wo eine Verführung statt gefunden haben soll, da muss eine Konstellation von Verführer und Verführter nachweisbar sein. Käthchen behandelt allerdings weder Strahl als Verführer noch gibt sie sich selbst als Verführte zu erkennen. Stattdessen präsentiert sie sich auf einer ebenso enigmatischen wie unverrückbaren Mission befindlich und setzt qua dieses ‚Geisteszustandes‘, den alle nur hilflos ‚verrückt‘ nennen können, die Verfügungsgewalt des Vaters, des Gerichts und letztlich auch des Grafen über sie aus. Ihre gänzlich fehlende Zurechnungsfähigkeit bei gleichzeitiger Handlungssicherheit, die sich in jener irritierenden Gefügigkeit äußert, macht sie zur problematischen, aber eben auch zur skandalös-souveränen Figur, die aus ihrer Unterwerfung Macht bezieht. Es wäre zu viel, hier eine Widerstandsgeste seitens Käthchen konstatieren zu wollen; vom ‚Entsetzen‘ der männlichen Machthaber zeugt die Gerichtsszene indessen allemal.1027 Dies belegt auch der Ausgang des Gerichtsverfahrens. Vom Grafen eingehend zu den Vorfällen „[i]m Stall zu Strahl, als es schon dunkelte“ (KH, V. 591), erheblichen Einfluss auf den Gang des Verhörs nimmt. Ihre Macht bestehe in einer „heroisch“ (S. 326) erscheinenden Demütigungstoleranz und in einer am antiken Zynismus geschulten „Widerstandsfähigkeit“ (S. 327). 1027 Vgl. Knauer (2000), S. 142.
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befragt, bestreitet Käthchen beharrlich, hier habe eine amouröse Annäherung stattgefunden. Sie gibt – immer noch auf Knien liegend – an, nach ihrer Weigerung, mit Theobald nach Heilbronn zurückzukehren, von Strahl mit Gewalt bedroht worden zu sein und daraufhin vor den Mauern des Schlosses gelagert zu haben. Auch den Verdacht, den der Graf daraufhin wie so oft in Form einer rhetorischen Frage in den Raum stellt, seinen Nachbarn aufgefordert zu haben, sie zu verfolgen (vgl. KH, V. 623), entkräftet Käthchen mit aller Vehemenz. Auf seine Replik „Nicht? Nicht? – Das werden diese Herren tadeln.“ (KH, V. 625) entgegnet sie verbündlerisch: „Du kümmerst dich um diese Herren nicht.“ (KH, V. 626) Auch dieses Detail stellt ein beredtes Beispiel dafür dar, wie Käthchen die juridische Machtinstanz geradezu en passant für irrelevant erklärt. Die Befragung schließt mit Käthchens Aussage, der Graf habe ihr durch seinen Knecht Gottschalk ausrichten lassen, sie möge zur Vernunft kommen und ihr Lager verlassen, woraufhin sie darum gebeten habe, gleich den Vögeln in den Holunderbüschen vor dem gräflichen Schloss weiterhin schlicht geduldet zu werden (vgl. KH, V. 627–633). Der Graf erhebt sie sodann erneut vom Boden (vgl. KH, S. 344) und resümiert: „Nun dann, so nehmt sie hin, ihr Herrn der Feme,/ Und macht mit ihr und mir jetzt, was ihr wollt.“ (KH, V. 634–635) Dass auch diese Aussage, ja dieses Mädchen für das Gericht eigentlich ganz und gar nicht ‚hinzunehmen‘ ist, demonstriert die folgende, von Kleist didaskalisch anberaumte Pause. Dementsprechend erfolgt die anschließende Auflösung des Verfahrens in Form des einstimmigen Freispruchs Strahls (vgl. KH, V. 643–647) mit größtem ‚Unwillen‘ (vgl. KH, S. 344) auf Seiten der Richter. Das berühmte, apodiktische Diktum, mit dem ein namenloser Richter den Prozess beendet („Der Fall ist klar. Es ist hier nichts zu richten.“ KH, V. 641), kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Richter denkbar unzufrieden zum Urteilsspruch schreiten. Der Angeklagte gilt dem resigniert resümierenden Graf Otto als „aberwitz’ge[r] Träumer, unbekannt“ (KH, V. 636) und der namenlose Richter schickt seiner scheinbar so eindeutigen Feststellung den Ausruf „Der Narr, der!“ (KH, V. 640) voraus, wobei völlig im Unklaren bleibt, ob damit der Kläger oder der Angeklagte, Theobald oder Strahl, diskreditiert werden soll. Da letzterem schlicht nichts nachzuweisen ist, woran, wie gezeigt wurde, Käthchen maßgeblichen Anteil hat, richtet sich die Empörung der Richter schließlich auf Theobald, der sich abermals in höchster Rage über das Urteil mokiert (vgl. KH, V. 651–653). Graf Otto bezichtigt ihn daraufhin altersbedingter Torheit (vgl. KH, V. 654) und bittet sodann den Grafen, der seine „Gewalt“ (KH, V. 661) über Käthchen so eindrucksvoll demonstriert habe, das Kind an den Vater zurückzugeben. Strahl willigt ein, nicht ohne aber mit seinem lakonischen „Ihr Herrn, was ich tun kann, soll geschehn. –“ (KH, V. 665) zu verstehen zu geben, dass sich ihm seine Verfügungsgewalt über das Mädchen ebenso wenig erschließt wie sie sadistisch gerichtet ist.
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In dem sich anschließenden, kurzen Gespräch suggeriert Kleists Versbau – in einer zweifachen hemistichischen Zuteilung – eine Verbundenheit zwischen dem Grafen und Käthchen, indem ihre jeweiligen, knappen Wortfetzen einen gemeinsamen Vers konstituieren.1028 Wiederum zeigt dies, dass hier mindestens eine reziproke Machtdynamik, keinesfalls aber eine einseitige Dominanz des Grafen in Szene gesetzt wird. Dementsprechend bricht Käthchen kurz nach dem innig-verbündlerischen Minidialog in Folge des von Strahl an sie gerichteten Befehls „Verfolg’ mich nicht. Geh nach Heilbronn zurück.“ (KH, V. 668) zusammen (vgl. KH, S. 346). Unter Tränen beklagt der wieder einmal außer sich geratene Vater daraufhin sein Kind, (vgl. KH, S. 346, V. 680) während der Graf nur noch aus der Situation flüchten will (vgl. KH, V. 671, 675). Und auch die Richter „betrachten“ (KH, S. 346) einigermaßen fassungslos das am Boden liegende Mädchen, wobei Graf Otto dafür sogar extra von seinem Richtstuhl herabsteigt (vgl. KH, S. 346). Dass die rasante Szene I,2 mit seinem Hinweis endet, man möge Käthchen abtransportieren, ja mit dem abweisend-reduzierten „Hinweg!“-Ruf (KH, V. 682) schließt, demonstriert einerseits die endgültige richterliche Kapitulation vor jenem „sonderbaren Wesen“ (KH, V. 402). Andererseits stellt sie noch und gerade in ihrer Ohnmacht eine Gefahr für die bestehende Ordnung dar. Käthchens letzte Worte in dieser Szene lauten – ganz ihrer ‚Ich weiß es nicht‘-Performanz entsprechend – nur noch „Ach!“ (KH, V. 680).1029
4.5 Dynastische Männerphantasien Auf Käthchens Ohnmacht am Ende der Gerichtsszene folgt im ersten Auftritt des zweiten Aktes der Zusammenbruch derjenigen Figur, die so gerne als ihr dominant-viriler Befehlsgeber verstanden wird: „DER GRAF VOM STRAHL tritt
1028 DER GRAF VOM STRAHL […] Jungfrau! KÄTHCHEN Mein hoher Herr! DER GRAF VOM STRAHL Du liebst mich? KÄTHCHEN Herzlich! (KH, V. 666) Das gleiche Verfahren ist in Vers 667 und in Vers 669 zu beobachten, in diesen beiden Fällen wird der Vers nicht vier-, sondern zweigeteilt. Vers 668 unterbricht diese Zusammengehörigkeit formal und inhaltlich, wird der Vers doch allein vom Grafen artikuliert, der das Mädchen bittet, ihn nicht weiter zu verfolgen und nach Heilbronn zurückzukehren. 1029 Zu verweisen ist an dieser Stelle auf das ungleich berühmtere, aber mindestens ebenso ohnmächtig-verwirrte „Ach!“ (A, V. 2362), mit dem Alkmene Kleists Amphitryon-Lustspiel beschließt. Vgl. dazu den Stellenkommentar von Barth/Seeba (1991b), S. 989–990 mit weiteren Literaturhinweisen.
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auf, […] geführt von zwei Häschern, die […] in die Höhle zurückkehren – Er wirft sich auf den Boden nieder und weint“ (KH, S. 348); um „Käthchen, Käthchen, Käthchen!“ (KH, Z. 716), so einer der verzweifelten Ausrufe, die seine emphatisch vorgetragene Klage um das Mädchen bestimmen.1030 Der 68 Zeilen umfassende Monolog des im wahrsten Sinne des Wortes niedergeschlagenen Grafen belegt nicht nur mit allem Nachdruck, dass Strahl Käthchen weder als lästiges Anhängsel noch als ‚sinnverwirrte Närrin‘ (vgl. KH, V. 455) betrachtet. Darüber hinaus persistiert, was bereits vor dem Femgericht zum Ausdruck gelang: Strahls Verständnis von Käthchen als einem mächtigen Wesen, wobei er nun offen bekennt, sie zu lieben und zu begehren. Der in melancholischer Diktion fabulierende Strahl ergeht sich hier in der bukolisch ausgeschmückten Phantasie, ein einfaches Schäferleben zu führen, das verspreche, ihm seine veritable „Empfindung“ (KH, Z. 700) zu vergegenwärtigen (vgl. KH, Z. 683–702). Diese ihm offenbar versperrte ‚wirkliche und wahrhaftige‘ (vgl. KH, Z. 698) Gefühlswelt kreist um Käthchen. Dass Strahl das Mädchen so entschieden erotisch-romantisch begehrt, ja sein „sonderbares Zärtlichkeitsgeständnis“1031 muss nach seinem zwischen Ablehnung und strategischer Zugewandtheit schwankenden Auftreten vor Gericht mindestens erstaunen. In einer durch ihre überbordende Beredsamkeit komisch wirkenden, empfindsamen Betrübnis klagt der vermeintlich hoffnungslos Liebende:1032 O du – – – wie nenn ich dich? Käthchen! Warum kann ich dich nicht mein nennen? Käthchen, Mädchen, Käthchen! Warum kann ich dich nicht mein nennen? Warum kann ich dich nicht aufheben, und in das duftende Himmelbett tragen, das mir die Mutter, daheim im Prunkgemach, aufgerichtet hat? Käthchen, Käthchen, Käthchen! (KH, Z. 710–716)
Die sehnsüchtige Liebesbekundung steigert sich sodann zu einem sexualisierten, „elegischen Erguß über Käthchens unbeschreiblichen Liebreiz“1033 (vgl. KH,
1030 Martini (1976) bemerkt, dass sowohl am Ende des ersten Aktes (Theobald, vgl. KH, S. 346) als auch zu Beginn des zweiten Aktes (Strahl, vgl. KH, S. 348) zwei „weinende Bühnenmänner“ (S. 432) dem Stück abermals einen komischen Anstrich verleihen. 1031 Martini (1976), S. 432. 1032 Martini (1976) spricht gar von einem komödiantisch konturierten, „eloquenten PseudoMonolog“ (S. 432). Vgl. auch Schwerte (1961), S. 8–9. Weder (2008) weist auf die Versatzstücke aus der empfindsamen Literatur hin, die der Monolog enthält (vgl. S. 171–172). So schon Schwerte (1961), S. 9. Vgl. zum aktualisierten biblischen und mythologischen Motiv- und Formarsenal Greiner (2000), S. 182–183. Neumann (1997) bemerkt nicht nur, dass der Graf einen Liebesdiskurs mit den Mitteln „der Rhetorik, der Schäferpoesie, dem Reim- und Bildrepertoire des Hoheliedes“ (S. 186) zu etablieren versucht, sondern argumentiert mehr noch, dass im Monolog „die Möglichkeit der Bildung einer Liebessprache“ (S. 187) kollabiere. 1033 Cullens/von Mücke (1997), S. 121.
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Z. 716–728). Beachtung verdient nach dieser Offenbarung der Grund, den Strahl dafür nennt, seiner Neigung zu Käthchen nicht folgen zu können: Ihr grauen, bärtigen Alten, was wollt ihr? Warum verlaßt ihr eure goldnen Rahmen, ihr Bilder meiner geharnischten Väter, die meinen Rüstsaal bevölkern, und tretet, in unruhiger Versammlung, hier um mich herum, eure ehrwürdigen Locken schüttelnd? Nein, nein, nein! Zum Weibe, wenn ich sie gleich liebe, begehr’ ich sie nicht; eurem stolzen Reigen will ich mich anschließen, das war beschloßne Sache, noch ehe ihr kamt. (KH, Z. 728–736)
Die stolze Ahnengalerie bildet die Machtinstanz, welche der unstandesgemäßen, ehelichen Verbindung des Grafen mit dem Bürgermädchen entgegensteht. Kleist entwirft hier gewissermaßen eine bewegte Ahnentafel, indem er die in Bilder gefassten, männlichen Vorfahren des Grafen aus ihren Rahmen heraustreten lässt und mit regem Gestenspiel mahnend um Friedrich versammelt, der doch immerhin mit dem Gedanken spielt, gegen die Standesgrenze zu verstoßen.1034 Strahls Argumentation bewegt sich hier noch erklärtermaßen im Rahmen eines spezifischen Herrschaftsprinzips: Gemeint ist das alteuropäische Modell einer auf familiale Allianzen gegründeten, dynastischen Reihe, die dafür sorgt, im Adelsstand ‚unter sich‘ zu bleiben.1035 Auch wenn Strahl versichert, die Autorität der Alten anzuerkennen, die kopfschüttelnd vor einer „Mésalliance“1036 warnen, stellt er im weiteren Verlauf des Monologs das Gründerpaar seines Geschlechts und insbesondere dessen Urmutter in Frage, indem er sie mit Käthchen vergleicht: Dich aber, Winfried, […] du Erster meines Namens, Göttlicher mit der Scheitel des Zeus, dich frag ich, ob die Mutter meines Geschlechts war, wie diese: von jeder frommen Tugend strahlender, makelloser an Leib und Seele, mit jedem Liebreiz geschmückter, als sie? O Winfried! Grauer Alter! Ich küsse dir die Hand, und danke dir, daß ich bin; doch hättest du sie an die stählerne Brust gedrückt, du hättest ein Geschlecht von Königen erzeugt, und Wetter vom Strahl hieße jedes Gebot auf Erden!1037 (KH, Z. 736–745)
Was hier in aller Deutlichkeit zu Tage tritt, ist der Umstand, dass Strahls Begehren, das er in „toposhaft vorfabrizierten Liebhaberkostüme[n]“1038 vorbringt, Hand in Hand geht mit einer politischen Phantasie, die sich nicht in erster Linie gegen das Regime der altväterlichen Ahnenreihe richtet, sondern abermals
1034 Vgl. zur Ahnentafel als eines neuzeitlichen, politischen Instruments der Machtbehauptung Heck (2002). 1035 So auch Cullens/von Mücke (1997), S. 121. 1036 Cullens/von Mücke (1997), S. 121. 1037 Hervorhebung im Original. 1038 Martini (1976), S. 432. Ich folge Martini (1976), S. 432–433, und Schwerte (1961), S. 8–9, hinsichtlich der These, dass dieser ‚Liebesmonolog‘ deutliche Züge des Komischen trägt.
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eine spezifische Autorität Käthchens zur Geltung bringt.1039 Dabei wird nicht in grundsätzlicher Weise die Logik der dynastischen Reihe selbst in Zweifel gezogen, schwebt dem Grafen doch nach wie vor ein „Geschlecht von Königen“ (KH, Z. 744) vor.1040 Gegen den Ersten seines Geschlechts, gegen Winfried und das vom ihm begründete, patrilineare Prinzip hat Strahl nichts vorzubringen,1041 zentral ist vielmehr die im Irrealis gehaltene Wunschvorstellung, die Stammesmutter mit Käthchen zu substituieren.1042 Der Graf imaginiert Käthchen somit als potentielle Mitbegründerin einer weltmächtigen Dynastie und der Vergleich, der sie gegen die eigentliche, mutmaßlich defizitäre Urmutter gewinnen lässt, bringt ein weiteres Mal, und an dieser Stelle in eindeutig politischer Hinsicht, Käthchens besondere Macht zum Ausdruck; eine Macht, die der Graf nur allzu gern als Konstituens seines genealogischen Ursprungs wüsste. Es bleibt: Wenngleich sie dem Strahl’schen Stammvater Winfried zur Gattin getaugt hätte, als Ehefrau für Friedrich kommt das Bürgermädchen nicht in Frage, und dies ja auch deshalb, weil sich der Graf nicht nur den ‚Alten‘ treu zeigt, sondern eine dynastische Aufstiegsphantasie hegt, keine Geringere als eine Kaisertochter zum Altar zu führen, wie sich im neunten Auftritt des zweiten Aktes herausstellt. Kleist unterbricht die im Monolog angelegte, auf ein eigentümliches Zusammenfinden des Grafen mit Käthchen zusteuernde Handlungslinie im Folgenden durch einen neuen, im engeren Sinne politischen Handlungsstrang. Damit wird allerdings
1039 Cullens/von Mücke (1997) diagnostizieren hier eine radikale Verabschiedung des dynastischen Machtmodells, weil Strahl seine Anrede explizit „nicht an all seine Vorväter, sondern nur an den ersten Vorvater“ (S. 122) richte, an denjenigen also, der die symbolische Ordnung nicht repräsentiere, sondern der sie begründe. Der Graf beschwöre mit systemkritischem Unterton eine „arachaische[ ] Vorzeit, die vor der Konvention, Tradition und Sitte liegt“ (S. 122). 1040 Strauch (2004) ignoriert den Wortlaut des Textes, wenn sie ausführt, der Graf schwärme von einem „Geschlecht von Helden“ (S. 112). Im Gegensatz dazu konstatiert Martini (1976) hier zutreffend eine Vorausdeutung auf das Ende des Stückes, das „Strahl Gelegenheit geben wird, mit der Kaisertochter ‚ein Geschlecht von Königen‘ zu zeugen“ (S. 433). 1041 Anders argumentieren Cullens/von Mücke (1997), die Strahl an dieser Stelle „von unbegrenzter Souveränität“ (S. 122) in Form eines „radikal neue[n] Modell[s] von Macht“ (S. 122) träumen sehen. Er phantasiere über ein Prinzip, das Foucault im Konzept der Bio-Macht theoretisiert (vgl. S. 122–124). Strahl entwerfe Käthchen als eine ideale Urmutter, mit der sich eine „Bluts- und Zuchtpolitik“ (S. 123) pränationalsozialistischer und rassistischer Façon betreiben lasse. Vgl. so auch Strauch (2004), S. 112–113. Dieser Deutungsvorschlag überspannt meines Erachtens den Textgehalt und ignoriert zudem Strahls Festhalten am genealogisch fundierten, dynastischen Modell. Ganz im letzteren Sinne spricht dagegen Neumann (1997) von einem Zurückretten des Grafen „in die genealogische Identität der Väterwelt“ (S. 186). Ähnlich auch Stephens (1994), der von einer „fixation on his [Strahl’s] lineage“ (S. 147) spricht, und Martini (1976), S. 432–433. 1042 Neumann (1997) bezeichnet Strahls Vorstellung daher als „paradoxe, uneinlösbare Forderung“ (S. 187).
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nur scheinbar ein gänzlich neues Sujet ins Spiel gebracht. Stattdessen setzt sich die Suche nach der Kaisertochter unterschwellig in Form einer neuen Figurenkonstellation fort.
4.6 Der Traum des Grafen vom Strahl. Und Kunigundes Stauffen Beginnend mit dem zweiten Auftritt des zweiten Aktes wird ein Szenario spätmittelalterlicher Ritterfehden in Szene gesetzt, welches im Hinblick auf einen konkreten historischen wie geographischen Bezugsrahmen schwer zu situieren fällt, sind doch die von Kleist im Stück verstreuten Ortsangaben, wie auch die Zeitmarkierungen, äußerst vage bis widersprüchlich.1043 Ein Bote überbringt dem traumversunkenen Grafen die Nachricht: „Krieg, bei meinem Eid, Krieg! Ein Aufgebot zu neuer Fehde […]“ (KH, Z. 769–770). Man erfährt sogleich, dass Strahl kontinuierlich von verschiedenen Grafschaften befehdet wird. Seine Widersacher allerdings handeln stellvertretend für eine Frau. Kunigunde von Thurneck fordert den Wiederkauf der Herrschaft in Stauffen, die das Haus Strahl angeblich einem ihrer Vorfahren rechtmäßig übertragen habe (vgl. KH, Z. 787–794). Und auch in diesem Fall führt das Fräulein, so der Bericht des Ritters Flammberg, die Fehde nicht selbst, sondern der mit ihr verlobte Rheingraf vom Stein. Es droht also die Fortsetzung eines nicht enden wollenden politischen Zwists, den Kunigunde unter den Grafschaften gleich einem „kleinen griechischen Feuerfunken“1044 (KH, Z. 780) immer wieder im Sinne ihres Anliegens zu entfachen verstehe. Strahls empörter Kommentar zur Vorgeschichte, zur aktuellen Lage und zur Urheberin der kriegerischen Exzesse lautet: Die rasende Megäre! Ist das nicht der dritte Reichsritter, den sie mir, einem Hund’ gleich, auf den Hals hetzt, um mir diese Landschaft abzujagen! Ich glaube, das ganze Reich frißt ihr aus der Hand! Kleopatra fand Einen, und als der sich den Kopf zerschellt hatte, schauten die Anderen; doch ihr dient Alles, […] und für jeden Einzelnen, den ich ihr zerzaus’t zurücksende, stehen zehn Andere wider mich auf – […]. (KH, Z. 795–803)
1043 Vgl. dazu Grathoff (1994), bes. S. 8–9 und ferner Vogel (1996), S. 121–122. Zu den gattungsgeschichtlichen Beziehungen des Käthchens zum Ritterdrama vgl. Grathoff (1994), S. 73–79. Seine These zu diesen Bezügen lautet: „Kleist hat das äußerliche Szenarium des Ritterdramas übernommen und einzelne Elemente des Ritterdramas komisch-distanziert oder auch ironisch-parodisierend behandelt. Gleichwohl ist das ‚Käthchen‘ keine Parodie der ‚Gattung‘ Ritterdrama. Ebensowenig aber ist das Schauspiel ein echtes Ritterdrama […]“. (S. 78) Vgl. dazu auch Fink (2000), S. 27–31. 1044 Vogel (1996), S. 145, und weitaus differenzierter Delbrück (1986), S. 274–276 legen dar, dass hier auf Helena als weibliche Auslöserin des Trojanischen Krieges angespielt wird.
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Diese Figurenzeichnung zielt offensichtlich darauf ab, Kunigunde als mächtige sowie abgründige Frauengestalt ins Bild zu setzen: Die Bezeichnung „rasende Megäre“ (KH, Z. 795) verweist direkt auf Penthesilea, die von den Griechen in Kleists Trauerspiel aufgrund ihrer rachsüchtigen Kriegsbrutalität ebenfalls als „rasende Megär’“ (P, V. 393), gewissermaßen als Superlativ einer Rachegöttin diskreditiert wird. Kleopatra wird an dieser Stelle namentlich erwähnt, um Kunigunde als Verführerin großer Machtmänner zu charakterisieren.1045 Doch das Fräulein von Thurneck erscheint in Strahls Tirade sogar noch mächtiger als die ägyptische Königin, deren Verführungsserie mit Julius Cäsars Nachfolger Marcus Antonius endet, während Kunigunde offenbar im Stande ist, einen Mann nach dem anderen für ihr ‚Projekt Stauffen‘ um den Finger zu wickeln.1046 Von Kleist fulminant als aus dem Hintergrund agierende Kontrahentin Strahls eingeführt, ändert sich Kunigundes Figurenprofil jedoch mit ihrem Initialauftritt im Stück rasch. Zum ersten Mal tritt sie ihrem vermeintlichen Erzfeind mit der verbündlerischen Anrede „Mein Retter!“ (KH, V. 1064) entgegen. Die Annäherung der beiden um die Territorialherrschaft in Stauffen ringenden Figuren setzt Kleist durch ein vier Auftritte dauerndes Zwischenspiel in Szene (II,4–7), dessen Kurzfassung lauten kann: Friedrich Graf vom Strahl zieht in der festen Absicht, die „junge[ ] Aufwieglerin“ (KH, Z. 835) ein für alle mal in ihre Schranken zu weisen, gegen den Rheingrafen in den Krieg. Auf dem Weg dahin trifft er auf den Burggrafen von Freiburg, der, so wird bald klar, einer von Kunigundes Verflossenen ist; auch er hat sich in der Vergangenheit für ihre politische Ränke gegen Strahl vereinnahmen lassen.1047 Vom Fräulein für den Rheingrafen verlassen, sinnt er auf Rache und entführt die Treulose kurzerhand. Einen abermals komischen Kontrast bildet der Umstand, dass Kunigunde, jener vermeintliche KleopatraSuperlativ, regungslos als ein „von Kopf zu Fuß in einem Mantel eingewickelt[es]“ (KH, Z. 883–884) Bündel von einem Gefolgsmann Freiburgs auf die Bühne getragen wird (vgl. KH, S. 353). Es kommt zum Schlagabtausch zwischen Freiburg und Strahl, weil dieser die gefesselte Kunigunde zunächst nicht erkennt und einem 1045 Vgl. Vogel (1996), S. 145. 1046 Ähnlich auch Martini (1976), der argumentiert, Kleist bediene sich des lustspielhaften Verfahrens einer „komischen Multiplikation und Hyperbolik“ (S. 433), wenn er Kunigunde in Strahls denunzierender Rede vorstelle. 1047 Es würde zu weit führen, die Figuren des Burg- und des Rheingrafen gesondert zu betrachten. Ich folge in der Bewertung der über Kunigundes Intrigenspiel organisierten Ritterhandlung Martinis (1976) Interpretationsvorschlag: Kleist evoziere eine bis ins Groteske gesteigerte „geradezu possenhafte Spiellust“ (S. 434), die eine Reihe von an der Nase herumgeführten, pseudo-ritterlichen Männerfiguren auf die Bühne bringt. Vgl. zu den einzelnen textuellen Verfahren dieser zwar komischen, aber nicht gänzlich unernsten Demontage rittlicher Maskulinität Martini (1976), S. 434–436. Vgl. auch Grathoff (1994), S. 76–78.
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fremden Fräulein zu Hilfe zu eilen meint. Auch Freiburgs Identität, mit dem Strahl ja erst vor Kurzem Frieden geschlossen hat, wird erst dann klar, als jener „geile[ ] Mädchenräuber“ (KH, V. 1083) schon mit blutüberströmtem Haupt vor Strahl am Boden liegt (vgl. KH, S. 362, V. 1110). Der beidseitige Schock Kunigundes und Strahls, sich mit dem jeweiligen Antipoden bzw. der jeweiligen Antipodin konfrontiert zu sehen, währt nicht lange. Kunigunde nämlich ergibt sich kurzerhand demjenigen, der sie in Unkenntnis ihrer Identität aus der Gefangenschaft Freiburgs gerettet hat. Die allenfalls hülsenhaft zu nennenden Anagnorisis-Figurationen jener possenhaften Ritterszenen bedürfen dabei keiner eigenen analytischen Rekonstruktion.1048 Kunigunde jedenfalls, die nunmehr gänzlich schutzlose Initiatorin der Fehde, unterwirft sich Strahl in Form einer radikalen Demutsgeste: „Euch, mein Gebieter – Euer nenn’ ich Alles,/ Was mein ist! Sprecht! Was habt ihr über mich beschlossen?/ In eurer Macht bin ich; was muß geschehn?/ Muß ich nach eurem Rittersitz euch folgen?“ (KH, V. 1160–1163) Ihre Kapitulation lässt den Grafen, so legt es der Text nahe, seinen Groll erstaunlich schnell überwinden (vgl. KH, S. 364, V. 1164–1173); er nimmt sie in seine Obhut auf Schloss Wetterstrahl.1049 An diesem Ort spielt sich im Folgenden eine Szene zwischen Kunigunde und der Haushälterin des Grafen ab, die gemäß der hier verfolgten Lesart allen voran für den Fortgang der politischen Handlung, und d. h. nicht nur für den Krieg um Stauffen, sondern ebenso für das Kaisertochtersujet entscheidend ist. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die Forschung auf die Bedeutung des in II,9 geschilderten Strahl’schen Silvesternachttraums für die Liebesbeziehung zwischen dem Grafen und Käthchen. Dabei wird allerdings die dramatische Dialogkonstellation außer Acht gelassen, die Kleist wählt, um den „Traum des Grafen vom Strahl“ (KH, Z. 1190) zu schildern, in dem ihm eine Kaisertochter als Braut prophezeit wird. Zwar wird mitunter vermerkt, dass der Silvesternachtstraum von der Haushälterin Brigitte referiert wird.1050 Unerwähnt bleibt allerdings der Umstand, dass neben ihrer Kammerzofe Rosalie ausgerechnet Kunigunde die Hauptzuhörerin dieses Berichts ist. Diesem in gehöriger Bredouille steckenden adeligen Fräulein kann es aus politischen Gründen nur nützlich sein, die geheimsten Wünsche des Grafen zu kennen, steht doch für sie immer noch die Herrschaft über Stauffen
1048 Den komisch-unterhaltsamen Effekt dieser gehäuften Überraschungen, irreführenden sowie demaskierenden Zufälle auf der Ebene der Figureninteraktion beschreibt Martini (1976), S. 434. 1049 Martini (1976) spitzt an dieser Stelle zu, Strahl lasse sich „widerstandslos und töricht in das Netz Kunigundes einspinnen“ (S. 436). 1050 Vgl. Oesterle (2001), S. 311, und Weder (2008), S. 173, die sich am ausführlichsten mit der Szene auseinandersetzen. Vgl. auch Fink (2000), S. 14.
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und mehr noch ihre weitere politische Existenz auf dem Spiel.1051 Der Dialog ereignet sich denn auch in einem Moment, in dem sich Kunigunde gerade für ein nahendes Zusammentreffen mit dem Grafen frisieren lässt, und dabei „gern“ (KH, Z. 1177) dem „Geschwätz“ (KH, Z. 1177) der Strahl’schen Haushälterin lauschen möchte. Mit diesem das Gespräch eröffnenden Detail wird sicher keine konkrete Agenda Kunigundes benannt, aber immerhin ausgestellt, dass Strahls Kontrahentin das Gespräch mit einer seiner Vertrauten sucht. Die Unterredung zwischen den drei Frauen ist für den weiteren Verlauf des Dramas von maßgeblicher Bedeutung. Dass es dabei nicht zuletzt um die hier als Titelformel gewählte Frage, ‚wie man eine Kaisertochter wird‘, geht, belegt der Gesprächsauftakt. Brigittes Begrüßungsworte nämlich fußen darauf, dass sich Kunigunde auf dem gräflichen Schloss als Urenkelin eines vormaligen deutschen Kaisers vorgestellt hat (vgl. KH, Z. 1180–1186). Die Geschichte, zu welcher die aus eigener Sicht um ein großes Rätsel ärmere Haushälterin Brigitte daraufhin anhebt, lässt sich kaum treffender betiteln als mit der Formel, die sie selbst ihren Schilderungen nebulös voranstellt: „[D]er Traum des Grafen vom Strahl ist aus!“ (KH, Z. 1190) Da die einzelnen Elemente des Traumberichts für das Verständnis des Folgenden zentral sind, sei Brigittes Erzählung kurz skizziert: Strahl habe vor zwei Jahren längere Zeit auf dem Krankenbett gelegen, ergriffen von einer „seltsamen Schwermut“ (KH, Z. 1197). Im Fieberwahn phantasierend habe er seiner Mutter drei Nächte nacheinander von einer Engelsvision erzählt, in der ihm prophezeit worden sei, von jenem Engel zu „dem Mädchen, das fähig wäre, ihn zu lieben“ (KH, Z. 1203–1204), geführt zu werden. In der Silvesternacht habe sich der Bettlägerige verstört erhoben, habe in wenigen Redefetzen angegeben, er wolle zu seiner großen Liebe und sei wie tot auf das Lager zurückgesunken. Nachdem Strahl einige Zeit in lebloser Starre dagelegen habe, sei er plötzlich erwacht und habe auf die Frage, wo er gewesen sei, freudig entgegnet: „‚bei ihr, die mich liebt! bei der Braut, die mir der Himmel bestimmt hat!‘“ (KH, Z. 1252–1254) Der sodann rapide genesene Graf habe nun in gänzlicher Euphorie von einer zweiten Engelserscheinung berichtet. Jener Engel habe ihn nachts in das Schlafgemach eines Mädchens geleitet. Hier sei „das holde Kind“ (KH, Z. 1267) leichtbekleidet, „vom Purpur der Freude über und über schimmernd, aus dem Bette gestiegen und [habe] sich auf Knien vor ihm niedergelassen, das Haupt gesenkt, und: mein hoher Herr! gelispelt.“ (KH, Z. 1272–1275) Bedeutsamer als diese gänzlich 1051 Allemann (2005) weist auf die dramaturgischen Konsequenzen dieser Konstellation hin, wenn er darlegt, dass eine Vertraute des Grafen sein intimes Begehren „ausgerechnet vor der Intrigantin und Antagonistin [exponiert], die es sogleich – von Brigitte voller Einfalt noch unterstützt – auf sich selbst bezieht und daraus ihre tückischen Folgerungen zieht“ (S. 201). Vgl. ferner Kreutzer (1995), S. 16.
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an Käthchen gemahnende Figurenzeichnung ist, dass der Engel Strahl im Traum offenbart, die vor ihm Knieende sei eine Kaisertochter, welche er unzweifelhaft an einem rötlichen Mal im Nacken identifizieren könne (vgl. KH, Z. 1275–1278). Damit endet Brigittes Bericht und nach ihrer Einschätzung auch der Traum des Grafen vom Strahl, der um die Suche nach seiner Geliebten mit hochherrschaftlichem Stammbaum kreist. Strahl hat, daran zweifeln die Haushälterin und mit ihr sämtliche Bewohner*innen der Strahlburg keinen Moment, die von ihm so heiß ersehnte Kaisertochter selbst auf sein Schloss geführt, es handele sich um keine andere als Kunigunde von Thurneck (vgl. KH, Z. 1287–1289). Kleists Text stellt in der Folge aus, dass Kunigunde diese Informationen, d. h. Friedrichs Traum und die Gerüchteküche auf dem Schloss, für ihr politisches Anliegen zu nutzen versteht. Die Leserschaft macht Kleist überdies zu Kunigundes Mitwisser*innen, sie haben einen „Informationsvorsprung“1052 vor Strahl, dem Kunigundes Kenntnis seiner Kaisertochter-Phantasie verborgen bleibt. Der dramatische Spannungsbogen speist sich fortan daraus zu entfalten, wie das Fräulein mit diesem Wissen umgeht.1053 Vor dem Grafen und seiner Mutter tritt sie in emphatischem Gestus ihre Herrschaftsansprüche auf Stauffen ab (vgl. KH, V. 1363–1365), wenngleich sie sich über deren Fragwürdigkeit sehr bewusst zeigt (vgl. KH, V. 1370–1372).1054 Als der Graf daraufhin eine juridische Klärung der causa vorschlägt (vgl. KH, V. 1380–1381), folgt von Seiten Kunigundes die vermeintlich große und tränenreich untermalte (vgl. KH, S. 371, 373) Geste, ihre politischen Interessen der Zugewandtheit zu Strahl unterzuordnen: Kunigunde zerreißt ihre Dokumente „mit Affekt“ (KH, S. 372) und erklärt inbrünstig, es dürfe fortan nichts mehr zwischen ihr und Strahl stehen, am allerwenigsten Stauffen. Sie wechselt in dem Moment, in dem ihr Vorhaben versagt hat, kriegerisch gegen Strahl vorzugehen, und sie sich in seiner Gewalt befindet, die Strategie und behauptet, ihre Liebe zu ihm entdeckt zu haben,1055 nachdem er sie aus den Fängen des Burggrafen befreit hat: „Ich will, die Scheidewand soll niedersinken,/ Die zwischen mir und meinem Retter steht!/ Ich will mein ganzes Leben ungestört,/ Durchatmen, 1052 Martini (1976), S. 436. 1053 Plausibel erscheint Martinis (1976) Beobachtung, dass sich an dieser Stelle der lustspielhafte Charakter des Stücks zuspitzt: „Die Zuschauer als Mitwisser und zugleich in Ungewißheit: dies ist die Technik, mit der das Lustspiel Intrigen einfädelt, zugleich durchschaubar und undurchschaubar macht.“ (S. 437). 1054 Zutreffend registriert Mayer (1962), dass sich Kunigunde „im Feudalrecht gut auskennt“ (S. 42). Ähnlich auch Fink (2000), S. 22. Delbrück (1986) scheint diese Textstelle zu übersehen, wenn er im Text lediglich Belege für die Rechtmäßigkeit von Kunigundes Anspruch auf Stauffen findet (vgl. S. 277). 1055 Dass Kunigunde hier keinen veritablen Sinneswandel durchmacht, sondern die Zuneigung zu Strahl nur vorgibt, um ihre politischen Interessen durchzusetzen, wird in III,15 klar.
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ihn zu preisen, ihn zu lieben.“ (KH, V. 1406–1409) Dass dieser Schachzug von Erfolg gekrönt ist, deutet sich bereits in den didaskalisch präsentierten Reaktionen der alten Gräfin an: Der Nebentext gibt an, dass sie Kunigunde umarmt (vgl. KH, S. 373) und sich von den Worten des Fräuleins „gerührt“ (KH, S. 373) zeigt. Doch nicht nur die Mutter ist nach diesem Auftritt von Kunigundes lauteren, d. h. anscheinend unpolitischen Absichten überzeugt. Direkt nach Kunigundes Abtritt verkündet der Graf: „So wahr, als ich ein Mann bin, die begehr ich/ Zur Frau!“ (KH, V. 1419–1420). Die Unmittelbarkeit seiner Willensbekundung legt nahe, dass die politische Entsagungsgeste Strahl für Kunigunde einnimmt. Es wäre aber unzureichend, dem Grafen hier eine bloß „unbesonnene Impulsivität“1056 zu unterstellen. Es gibt nämlich, wie sich herausstellt, einen weiteren Grund für Strahls plötzliche Heiratsabsicht: Zu ihm ist die Kunde durchgedrungen, seine einstige Erzfeindin sei „vom Stamm der alten sächs’schen Kaiser“ (KH, V. 1425), womit nun auch aus seiner Sicht die Prophezeiung des Silvestertraums für sie spricht. Betrachtet man Kleists dramatische Informationspolitik genauer, ist es daher nicht nur erstaunlich, wie umstandslos sich Strahl von Kunigundes Verzichtserklärung an der Nase herumführen lässt,1057 sondern wie unhinterfragt er darüber hinaus seine Zuneigung und seine Heiratsabsichten an jenen Traum knüpft. Zu keinem Zeitpunkt des Stücks wird Kunigundes Genereszens von ihm und auch nicht vom übrigen dramatischen Ensemble angezweifelt. Sie selbst fasst ihre Genealogie gegenüber Brigitte in die nicht unverdächtig anmutende, vage Erklärung: „[…] die Urenkelin eines der vorigen Kaiser bin ich, die in verflossenen Jahrhunderten, auf dem deutschen Thron saßen“ (KH, Z. 1182–1184). Ihre Herkunft fußt auf dieser doch äußerst unspezifischen Erklärung1058 und firmiert überdies einzig als zur Gewissheit geronnenes Gerücht unter den Bewohnern der Strahlburg, die offenbar den Herzenswunsch ihres Dienstherren so gern erfüllt
1056 Martini (1976), S. 437. 1057 Auf diesen Befund beschränkt sich Martini (1976), der die motivationale Bedeutung des Strahl’schen Traums außer Acht lässt (vgl. S. 437). 1058 Es kann keine Rede davon sein, dass Kunigunde, wie Vogel (1996) argumentiert, ihre Abkunft deutlich benennen und dementieren würde, die dem Grafen verheißene Kaisertochter zu sein (vgl. S. 131). Denn laut Brigittes Bericht wird Strahl im Traum „eine Kaisertochter“ (KH, Z. 1276) vorgeführt, ohne dass spezifiziert würde, ob diese ein Kind des aktuellen Kaisers sein müsse. Kunigundes genealogische Erklärung wird somit von Vogel (1996) nicht mit der – sicherlich diffusen, aber auf Effekt hin kalkulierten – Informationsstreuung im Text abgeglichen. Delbrück (1986) meldet keinerlei Zweifel an Kunigundes genealogischen Bekundungen an, was wenig erstaunlich ist, da er diese nicht mit dem Traum des Grafen zusammenschließt und den im Text betonten Aspekt des Gerüchts nicht zur Kenntnis nimmt (vgl. S. 277–278).
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sähen.1059 Brigitte nämlich gibt recht präzise Auskunft über die Entstehung dieser kollektiven Überzeugung, Kunigunde sei die vom Grafen erträumte Kaisertochter: „Die ganze Strahlburg, bei eurem [Kunigundes] Einzug, als sie erfuhr, wer ihr seid, schlug die Hände über den Kopf zusammen und rief: sie ist’s!“ (KH, Z. 1287–1289) Schwer ist zu übersehen, dass Kleist Kunigundes kaiserliche Ahnengalerie über mindestens dubiose Quellen bezeugt. Damit ist die Antwort, wie man eine Kaisertochter wird, im Falle von Kunigunde vorerst gegeben: durch im wahrsten Sinne des Wortes ‚schlichte‘ Behauptung und durch eine florierende Gerüchteküche. Dieser Status ist aber nicht von Bestand, wird sie doch am Schluss des Stückes öffentlich vom Grafen als falsche Kaisertochter gedemütigt. Hat sich Kunigunde der Zuneigung des Grafen in einer Mischung aus politischem und amourösem Theater sowie dadurch, dass sie auf der Welle der öffentlichen Meinung mitgetragen wird, versichert, so schafft sie es, ganz ohne Fehde und Blut, auch ihre politische Ambition durchzusetzen: die umstrittene Herrschaft in Stauffen. Es ist „der verliebte[ ] Graf[ ]“ (KH, Z. 1633) höchstpersönlich, der ihr Stauffen postwendend zum „Brautgeschenk“ (KH, Z. 1634) macht. Es mag Spekulation sein: Die vom Text nicht bloß am Rande thematisierte Agenda Kunigundes hat das Potential, die Zuschauer*innen der Käthchen-Uraufführung in Wien an die aktuellen Vorgänge im Habsburger Herrscherhaus zu erinnern. Kleists Stück präsentiert mit Kunigunde von Thurneck eine Figur, die sich das der österreichischen Dynastie so gern zugeschriebene politische Motto zu eigen gemacht hat: „Bella gerant alii, tu felix Austria nube!“1060 Ob „Motto“1061, „Bonmot“1062, „geistreiches Sprichwort“1063, „geflügeltes Wort“1064 oder sogar „österreichische Meistererzählung“1065 – die Historiker*innen kommen darin überein, dass der auf Ovids Briefe der Heroinen Bezug nehmende Vers wenig geeignet zur umfassenden „Typisierung der habsburgischen Politik“1066 ist, gleichwohl aber eine traditionsreiche Konstituente hochadeliger Machtpolitik benennt und überdies das öffentliche Bild der legendären österreichischen
1059 Nicht zu Unrecht spekuliert Stephens (1994), dass der Traum des Grafen als „common knowledge“ (S. 148), man darf hinzufügen: für die Burgbewohner*innen gilt. 1060 Zit. n. Kohler (1994), S. 461 [Krieg führen mögen andere. Du, glückliches Österreich, heirate!]. 1061 Kohler (1994), S. 461; Bastl (1996), S. 75; Patrouch (2013). 1062 Kohler (1994), S. 463. 1063 Kohler (1994), S. 463. 1064 Kohler (1994), S. 463. 1065 Hochedlinger (2010), S. 317. 1066 Kohler (1994), S. 463. So auch Hochedlinger (2010), S. 317.
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Dynastie wesentlich prägt.1067 Allerdings sind es im Hause Habsburg, anders als in Ovids Prätext, die Töchter, die – von Männern – ausgesandt werden, um die politischen Interessen des Landes mittels ehelicher Allianzen durchzusetzen. Bei Ovid sind es die Frauen, die ein heroisch-martialisches Defizit ihrer Männer benennen und sie an ihre amourösen ‚Kompetenzen‘ erinnern.1068 Kleists Käthchen jedenfalls gelangt in Wien in einem politischen Moment auf die Bühne, da jenes strategisch gewendete make love not war zum wiederholten Male in die Tat umgesetzt wird: Im Krieg chancenlos, beschließt die politische Führungsriege die Vermählung Marie Louises mit Napoleon, um die Niederlage gegen Frankreich in Form eines Ehebündnisses abzufedern. Kleists Stück präsentiert eine ähnlich gelagerte Konstellation – mit dem entscheidenden Unterschied, dass Kunigunde als Frauenfigur gelten kann, die ihr Schicksal, im Unterschied zu Marie Louise, selbst in Hand nimmt und die Hochzeit mit Friedrich aus strategischen Gründen eigens anstrebt. Sie unterliegt zwar im Krieg, versteht aber, die eheliche Allianz als Herrschaftsinstrument zu nutzen,1069 und übernimmt somit die prinzipiell männliche Position des Entscheidungsträgers. Dass hier eine Frau als tatkräftige und selbstbestimmte Protagonistin im machtpolitischen Spiel auftritt und keinesfalls als hypostasiertes Opfer erscheint, stellt einen signifikanten Kontrast zu den während der Theateraufführung laufenden Ehe-Operationen am Wiener Hof dar, wo eine Tochter vom königlichen Vater und seinen Gefolgsmännern mit
1067 Kohler (1994), S. 463; vgl. auch S. 473, 475, 482. Das Motto wird denn auch, wie Kohler (1994) darlegt, dem ungarischen König Mathias Corvinius zugeschrieben und ist kein vom Haus Habsburg selbst kolportierter Sinnspruch. Es handele sich um den Kommentar eines Herrschers, der aufgrund eines fehlenden Erben voller Neid auf die österreichische Heiratspolitik geblickt habe (vgl. S. 463). Hochedlinger (2010) stellt heraus, dass sich eine tendenziöse Historiographie gerne auf dieses reduzierende Bild berufe, um „Habsburgs Rolle als im wesentlichen friedliebender Stabilisierungsfaktor im Herzen Europas historisch zu fundieren“ (S. 317). 1068 Der entsprechende Passus findet sich bei Ovid im Brief Laodamias an Protesilaus. Dort klagt die in Phylace zurückgebliebene Laodamia aus der Ferne um das Schicksal ihres als griechischer Heerführer vor Aulis lagernden Gatten Protesilaus. Die in Rede stehende Textstelle dokumentiert die Zweifel der Ehefrau an der Heldenkraft Protesilaus’: „Er ist nicht so einer, zu dem es passt, mit blankem Eisen ins Treffen zu eilen und seine wilde Brust den Feinden entgegen zu werfen; er kann um vieles wackerer lieben als kämpfen; Kriege mögen andere führen; Protesilaus soll lieben!“ (Ov., epist. (her.), XIII, 81–84) Dass die besorgte Gattin Recht behalten soll, belegt der Umstand, dass Protesilaus bei der Landung vor Troja als erster von Hektor erschlagen wird. Eine ähnliche Figuration findet sich zudem im Brief Helenas an Paris: „Dein Körper ist mehr für die Liebe, nicht für den Krieg geeignet. Kriege mögen die Tapferen führen, du, Paris, gib dich immerfort der Liebe hin!“ (Ov., epist. (her.), XVII, 253–254). 1069 Kreutzer (1995) spricht hier von der „Fortsetzung einer Kriegshandlung mit anderen Mitteln“ (S. 7). Delbrück (1986) führt in diesem Sinne aus, die Ehe mit Strahl sei für Kunigunde nur „Mittel zum Zweck“ (S. 278).
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einem Herrscher verheiratet wird. Kunigunde führt stattdessen den Kampf um die Territorialherrschaft in Stauffen, nachdem alle gewaltsamen Mittel versagt haben, als Geschlechterkampf fort. Dadurch, dass ihr zum Geliebten erklärter, gräflicher Gegner ihre Absichten erst sehr spät durchschaut, wird die Möglichkeit einer männlichen Gegenstrategie als defizitär ausgewiesen. Auch im Falle ihrer weiblichen Antagonistin Käthchen kann von einem ‚Durchschauen‘ Kunigundes zu keinem Zeitpunkt die Rede sein. Kunigunde wird gleichwohl jenes auf Strahl fixierte Bürgermädchen, das gemäß dem Leitfaden des ‚Ich weiß es nicht‘ handelt, zur ernsthaften politischen Gefahr. Zusammen figurieren sie, wie ich im Folgenden weiter darlege, einen Kontrast zweier weiblicher Machtprinzipien, der sich auf die Formel Strategie vs. Näschen bringen lässt.1070 Kunigundes strategisches Geschick, das sie bis zu diesem Zeitpunkt auf den in Kleists Stück eng verwobenen Feldern von Liebe und Politik reüssieren lässt, holt sie alsbald ein. Denn der durch die Verbindung mit Strahl von ihr geprellte Rheingraf ist derart erbost, dass er rachsüchtig beschließt, gegen die ThurneckBurg zu Felde zu ziehen (vgl. III,2–3). Um den Anschlag vorzubereiten, verfasst er zwei Briefe; einen, in dem er den Dominikanerprior um Absolution ersucht, und einen an den mit ihm kontraktierten Haushofmeister der Burg zu Thurneck gerichteten Brief, der die Kriegsabsichten offen legt (vgl. KH, Z. 1662–1673). Wo es zwei Briefe gibt, da ist, zumal bei Kleist, deren Verwechslung der nächstliegende Handlungsschritt (vgl. KH, Z. 1675–1686).1071 Der politisch brisante Brief gelangt in Käthchens Hände (vgl. III,6), die mit ihrem Vater im Dominikanerkloster Quartier nimmt. Während der Klostervorsteher mit dem ihm überbrachten, fehlgeleiteten Brief nichts anzufangen weiß, legt Käthchen politisches Verständnis wie auch Handlungsbereitschaft an den Tag. Sie informiert umgehend den auf der Burg Thurneck befindlichen Grafen über den geplanten Angriff (vgl. KH, V. 1741–1750). Von Strahl zunächst als „landstreichend unverschämte“ (KH, V. 1709) „Dirne“ (KH, V. 1709) beschimpft und rüde abgewiesen (vgl. KH, 1698–1719), überzeugt sie ihn schließlich mit der Unterstützung des Knechtes Gottschalk von der drohenden Gefahr. Teil dieser Szene III,6 ist eine stichomythische Befragung des Mädchens durch den Grafen (vgl. KH, V. 1776–1785), in der Käthchen auf das Präziseste die Vorbereitungen des Angriffs schildert, die sie auf ihrem Weg nach Thurneck beobachtet hat. Sie weiß über Stärke, Aufstellung und Lage des Kriegstrosses en detail Bericht zu erstatten. Bereits als geistesgegenwärtige Kurierin des Briefes
1070 Vgl. zu Käthchen als „Instinktwesen, das sich jeder Problematisierung ihres Verhaltens intellektuell entzieht“, Nitschke (2012), S. 214. 1071 Martini (1976) sieht das den Text durchziehende „Verwechslungsspiel“ (S. 439) in dieser Szene ins „schon zu billig Possenhafte[ ] variiert“ (S. 439).
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beweist Käthchen ein ‚politisches Näschen‘, das die sklavische Folgsamkeit, auf welche man sie so gern reduziert, ohne Zweifel konterkariert.1072 Das Zwiegespräch mit Strahl zeigt mehr noch und diesmal nicht so verklausuliert wie die Gerichtsszene, aber wiederum in einer Mischung aus Zugewandtheit und Abwehr, was der Graf Käthchen zutraut:1073 Die Unterredung gleicht, so Klüger, der „Besprechung eines Offiziers mit seinem Adjutanten“1074, womit eine „männliche Gesprächsebene“1075 eröffnet wird. Den militärischen Sprechmodus verstört Kleist allerdings dadurch, dass er auch in diesem Passus auf das Verfahren zurückgreift, die dramatische Wechselrede in Form von Hemistichen zu organisieren (vgl. KH, V. 1778–1779, 1782, 1784), was bereits am Ende von I,2 eine Verbundenheit zwischen Strahl und Käthchen evozierte. Festzuhalten ist, dass Kunigundes strategisches Kalkül schon hier zu scheitern droht, rechnet sie doch offenbar nicht mit einem Racheakt ihres Ex-Verlobten. Käthchens in geradezu intuitiver Gewissheit exerzierte Agenda hingegen, ihrem „hohen Herren“ (KH, V. 1738) und dessen Braut Kunigunde gleich mit zu dienen (vgl. KH, V. 1734–1738), führt gerade im Gegenteil zu einer Aufdeckung der drohenden Kriegsgefahr. Wie elementar ihre besondere, ambivalent angelegte Autorität, die auf einer somnambulen Sinnesversehrtheit und einer instinktmäßigen Sinnesmacht gleichermaßen fußt, für den Fortgang der politischen Handlung sind, demonstriert ihre Feuerprobe.
4.7 ‚Und wenn’s des Kaisers Tochter wäre‘ – Käthchens heroische Feuerprobe Kleists Inszenierung des rheingräflichen Angriffs auf die Thurneck-Burg steuert unmittelbar auf die zentrale heroische Szene des Stücks zu. Bezeichnend ist, dass derjenige, dem sich nunmehr die beste Gelegenheit böte, seinen Heldenmut in Verteidigung der vermeintlichen Kaisertochter Kunigunde unter Beweis zu stellen, auf ganzer Linie versagt. Dies tritt bereits in dem Detail zu Tage, dass der Graf, während die Burg bereits in Flammen steht, hilflos nach seiner Kriegsausrüstung verlangt. Während Strahl noch nach Schild und Lanze ruft (vgl. KH, Z. 1829), tritt jemand umgehend „mit Schwert, Schild und Lanze“ (KH, S. 391) auf. Es ist Käthchen, die den erstarrten Helden, einem Knappen gleich, mit seinen 1072 So auch Klüger (21997), S. 169, und Lü (2000), S. 174. 1073 Das belegt schon der Gesprächsbeginn: Strahl nennt sie zum ersten Mal „Katharina“ (KH, V. 1776), anstatt auf das ansonsten ihre Anrede bestimmende Diminutiv ‚Käthchen‘ zurückzugreifen. Vgl. Klüger (21997), S. 169. 1074 Klüger (21997), S. 169. 1075 Klüger (21997), S. 169.
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Kriegsutensilien ausstattet1076 und dafür abermals Strahls blanke Ablehnung erntet. Diese in den Kurzauftritten III,8–9 geschilderte Interaktion stellt zudem eine Kontrafaktur des Strahl’schen Heldenauftrittes in der Heilbronner Waffenschmiede dar (vgl. KH, Z. 146–165). Kleist zerlegt an dieser Stelle das virile Erscheinungsbild des zu Beginn des Stücks in Theobalds Bericht mit nur leicht defekter Rüstung auftrumpfenden „Erzgepanzerte[n]“ (KH, Z. 148–149), der mit tatkräftigem Tross auf kriegerische Ruhmestaten sann. Käthchen, vom Grafen vor dem Gericht als sein „Schatten“ (KH, Z. 246) ausgewiesen, lässt Strahl in dieser Szene geradewegs als Schatten eines Helden dastehen. Der Abbau der gräflichen Heldenaura geht im Folgenden mit einer expliziten Heroisierung Käthchens einher. Friedrich, der abseits des Kriegsgeschehens noch damit beschäftigt ist, in Erfahrung zu bringen, „wo der Kampf tobt“ (KH, Z. 1860), fällt im weiteren Verlauf die aus einem brennenden Gebäude flüchtende Kunigunde in die Arme (vgl. KH, S. 392, V. 1875). Im Sinn hat die sichtlich Angeschlagene scheinbar nichts als ihren Verlobten, denn sie verlangt nach einem in ein Futteral eingelassenes Bildnis des Grafen, das er ihr kürzlich geschenkt hat und das in einem Turm der Burg zu verbrennen droht (vgl. KH, V. 1876–1878). Während Strahl keinerlei Anstalten macht, das in Flammen stehende Gebäude zu betreten (vgl. KH, V. 1879), ist es wiederum Käthchen, die unaufgefordert hervortritt (vgl. KH, S. 393) und sich, ohne zu zögern, bereit erklärt, das Bild zu beschaffen.1077 „Wo liegt’s? Wo steht’s?“ (KH, V. 1881) lauten ihre knappen, ganz auf den sich selbst auferlegten Gang ins Feuer konzentrierten Worte. Ein weiteres, in den Didaskalien festgehaltenes Detail betont Käthchens Handlungsbereitschaft im Unterschied zu Strahls Untätigkeit. Als Kunigundes Stimme aus dem brennenden Schloss vernehmlich wird, scheint der Graf im Begriff zu sein, seiner Verlobten zu Hilfe zu eilen: Es heißt, er gebe „Schild und Lanze an Käthchen“ (KH, S. 392), wohl um unbeschwert von seinen ritterlichen Requisiten zur Rettung zu schreiten. Einen weiteren Handlungsschritt vermerkt der Text nicht, nur die auffordernden Eilrufe der Tanten von Thurneck (vgl. KH, Z. 1870–1874). Kunigunde gelingt die Flucht aus dem Gebäude indessen kurz darauf aus eigener Kraft. Den Passus, der Käthchens Agieren kurz vor der Bergung des Bildes schildert, baut Kleist zunächst analog auf: An ihre Frage, wo sich der gewünschte Gegenstand befinde, schließt sich die Didaskalie „Sie gibt Schild und Lanze an Flammberg.“ (KH, S. 393) an. Kurz darauf heißt es: „Käthchen geht.“ (KH, S. 393) Das Mädchen lässt ihren Worten und Gesten – konträr zu 1076 Vgl. Klüger (21997), S. 164. 1077 Klüger (21997) bemerkt, dass „man die Tatkräftigkeit des Käthchens gern übersieht, selbst wenn sie bei der Rettung des Bildfutterals der einzig aktive Mensch auf der Bühne ist, während die anderen sich kopflos und ungeschickt benehmen“ (S. 170). Vgl. Schöll (2004), S. 119–122.
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Strahls Zögern – Taten folgen. Mehr noch überantwortet sie die Kriegsutensilien an den Ritter Flammberg, anstatt sie Strahl zurückzureichen. Der Requisitenverkehr unterstützt somit unverkennbar Käthchens Heroisierung sowie Strahls Entheroisierung. Der 13. Auftritt des dritten Aktes, der Käthchens spektakuläre Rettung des Bildes aus den Flammen zum Inhalt hat, beginnt mit einem deutlich auf den Ausgang des Stückes anspielenden Wortwechsel zwischen Strahl und Kunigunde. Die ersten Verse testifizieren einerseits erneut das offensichtlich unheldenhafte Verhalten Strahls und bringen andererseits dessen Sorge um das zu allem entschlossene Mädchen zum Ausdruck: „Ihr Leut’, hier ist ein Beutel Gold für den,/ Der in das Haus ihr folgt!“ (KH, V. 1897–1898) Er fordert sogar namentlich Leute aus seinem Gefolge auf, Käthchen beizustehen (vgl. KH, V. 1899), was Kunigundes misstrauisches Unverständnis nach sich ziehen muss: KUNIGUNDE Welch ein besondrer Eifer glüht Euch an? – Was ist dies für ein Kind? GRAF VOM STRAHL – Es ist die Jungfrau, Die heut mit so viel Eifer uns gedient. KUNIGUNDE Bei Gott, und wenn’s des Kaisers Tochter wäre! – Was fürchtet ihr? […] (KH, V. 1902–1906)
Dass sich hier allerdings eine veritable Kaisertochter heldenhaft und letztendlich erfolgreich in die Flammen begibt, weiß, wer die letzte Seite des Stücks gelesen hat. Obwohl Käthchens Mission zu scheitern droht, da die Gefahr durch die Flammen steigt, wird sie von Kunigunde beharrlich ermuntert, das Bild samt Futteral zu suchen (vgl. KH, V. 1917–1924). Der Graf, mittlerweile außer sich vor Sorge und in merklicher Wut auf seine Verlobte (vgl. KH, V. 1913–1917), forciert Käthchens Suchaktion schließlich in der widerwilligen Haltung, gegen ihren Tatendrang nichts ausrichten zu können (vgl. KH, V. 1921–1924). Er appelliert wiederholt an ihre „hündische Dienstfertigkeit“ (KH, V. 1928), wenn er sie ganze viermal mit „Such!“-Rufen auffordert (KH, V. 1924, 1926, 1927), bis er ihr – ungewohnt beherzt auftretend – endlich selbst zu Hilfe eilen will (vgl. KH, V. 1930– 1940). Allein beschränkt sich auch hierbei sein Handeln darauf, seinen Gefolgsleuten Anweisungen zu geben (vgl. KH, V. 1940–1941): Die Leiter, die ihm Zugang zum Gebäude verschaffen soll, postieren andere für ihn (vgl. KH, S. 396), wobei die Leiter zu allem Überfluss auch noch zu lang ist, so dass die Knechte ein Fensterkreuz einschlagen müssen (vgl. KH, 1943–1945). Der Graf gerät im Zuge dieser untätigen Hilflosigkeit zur „immer komödienhaftere[n] Figur“1078. Passenderweise stürzt das Haus schließlich auch in genau dem Moment zusammen, als er 1078 Klüger (21997), S, 164. So auch Weder (2008), S. 191.
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den Turm zu erklimmen beginnt (vgl. KH, S. 396) und die Szene schließt. Damit implodiert gleichzeitig Strahl potentieller Heldenauftritt, zu dem ihn keineswegs Kunigunde, sondern Käthchens „[v]erflucht[e]“ (KH, V. 1928) Folgsamkeit veranlasst hat. Ähnlich fulminant, aber ins Überirdische entrückt beginnt der folgende Auftritt (III,14) Käthchens. Die Kurzszene sei in Gänze zitiert: Käthchen tritt rasch, mit einer Papierrolle, durch ein großes Portal, das stehen geblieben ist, auf; hinter ihr ein Cherub, in der Gestalt eines Jünglings, von Licht umflossen, blondlockig, Fittige an den Schultern und einen Palmzweig in der Hand. KÄTHCHEN so wie sie aus dem Portal ist, kehrt sie sich, und stürzt vor ihm nieder: Schirmt mich, ihr Himmlischen! Was widerfährt mir? Der Cherub berührt ihr Haupt mit der Spitze des Palmenzweiges, und verschwindet. Pause. (KH, S. 397; V. 1950)
Alle auf der Bühne befindlichen Figuren wenden sich in dem Moment ab, in dem Käthchens mysteriöser, von einem Cherub begleiteter Auftritt geschieht (vgl. KH, S. 397). Kleist verschiebt somit den Heldinnen-Auftritt einerseits für die Rezipient*innen in den Bereich des Numinalen und lässt ihn für die Dramenfiguren zum blinden Fleck werden, indem Käthchens Tun dem direkten, sinnlichen Zeugnis der Figuren entzogen wird. Erreicht wird dies über ein dramenpoetisches Verfahren, das den heroischen Akt vom gattungsspezifischen Prinzip unmittelbarer und dialogisch entfalteter Anschaulichkeit fortschreibt und in die Didaskalie deponiert; auch Schiller bedient sich dessen, wie ich gezeigt habe, im Falle des Tell’schen Apfelschusses. Ein solch metadramaturgischer Austritt aus der direkten Figureninteraktion markiert, zusammen mit der figuralen Rekrutierung des geflügelten Engels, ein reflexives Moment. Der Cherub figuriert eine Art deus ex machina-Intervention, die allerdings in mehrfacher Hinsicht gebrochen ist, dient diese doch allen voran der Betonung von Käthchens Macht.1079 Denn der Text stellt aus, dass Käthchen des Engels für ihr Tun eigentlich nicht bedarf, was die Bedeutung der deus ex machina-Figuration herabsetzt. So macht die Didaska-
1079 Im Gegenteil zu dieser These behauptet Nölle (1997) – im Einklang mit Fink (2000), S. 29 – eine Rettung Käthchens durch den Cherub (vgl. S. 157). Ferner bemerkt Nölle (1997) zwar, dass der Engel „kein Phantasma einer Dramengestalt, sondern von Kleist im fiktionalen Rahmen des Dramas als real gesetzt“ (S. 158) wird; Überlegungen zur dramenpoetischen Funktion dieser Setzung unterbleiben allerdings. Vogel (1996) stellt die ambivalente Bedeutung des Palmzweigs als Sieges- und Friedenssinnbild einerseits – vgl. ergänzend Kreutzer (1995), der auf dessen Provenienz aus „griechischer wie römischer Antike“ (S. 15) hinweist – und als Tod verheißendes, christliches Märtyrersymbol andererseits heraus (vgl. S. 123). Offen bleibt, wie dieser Zusammenhang analytisch fruchtbar zu machen wäre. Zu diesem Hinweis auch Doering (2000) und überdies skeptisch hinsichtlich der christlichen Konnotationen der Szene (vgl. S. 114–115).
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lie deutlich, dass Käthchen das brennende Gebäude aus eigener Kraft verlässt, der Cherub schreitet „hinter ihr“ (KH, S. 397) her. Das überridische Wesen greift somit nicht direkt in das dramatische Geschehen ein und führt auch keine Wende herbei. Vielmehr inszeniert Kleist den Cherub als Begleiter Käthchens, was ihre Macht und Autonomie unterstreicht. Erst nachdem sie sich selbst gerettet hat, dreht sie sich zu dem Engel um, wirft sich vor ihm nieder und bittet um seinen Schutz, woraufhin sie mit dem Palmzweig von ihm gesegnet wird. Forciert wird im Zuge dessen eine analytische Perspektive auf den heroischen Auftritt:1080 Wenn Kleist seiner Protagonistin in dieser prägnanten Szene ein vom übrigen dramatischen Personal unbeobachtetes und einzig für die Leserschaft sichtbares, überirdisches Wesen zur Seite stellt, setzt dies ihre diskrete Verbundenheit mit einer übersinnlichen Macht ins Bild.1081
1080 Vgl. so ansatzweise Doering (2000), die sich zur dramenpoetischen Funktion dieses „Kunstgriff[s]“ (S. 119) äußert, aber die Konsequenzen für die Käthchen-Figur nicht erwägt: „So wird die Erscheinung des Engels zu einem sinnfälligen Instrument der Kommunikation des Autors mit seinem Publikum – im Wortsinne über die Köpfe der handelnden Figuren hinweg“ (S. 119). Ähnlich auch Kreutzer (1995), S. 15. 1081 Doering (2000) vermerkt in diesem Sinne, dass „Käthchens besonderes Geschick […] durch das Eingreifen ihres Engels sinnfällig demonstriert“ (S. 115) wird. Weder (2008) diskutiert die Frage, ob der Cherub als Stellvertreter des Magnetiseurs Strahl zu sehen ist, der Käthchen schützend zur Seite stehe (vgl. S. 191–192). Das hieße, dass Käthchens ihre Macht zu einem nicht unwesentlichen Teil von Strahl bezöge. Dagegen spricht, wie Weder selbst anmerkt, der Umstand, dass Strahl in dieser Szene – wie auch in einigen anderen (vgl. I,2, III,6, III,13) – Käthchen nicht unterstützt, sondern „unritterlich zögerlich“ (S. 191) auftritt. Worauf Weder allerdings zu Recht hinweist, ist die Tatsache, dass die Cherub-Gestalt schon zu Beginn des Textes mit Strahl konnotiert wird (vgl. S. 192): So beschreibt Theobald den heroischen Auftritt des Grafen in der Waffenschmiede mit den Worten „als wär’ ein Cherub vom Himmel niedergefahren“ (KH, Z. 164– 165). Kurz darauf betritt Käthchen die Stube und lässt vor Schreck das Geschirr fallen. Es schließt sich unmittelbar Theobalds Bericht über ihre fortan unbedingte Folgsamkeit gegenüber Strahl an. Das bedeutet allerdings nicht mehr, als dass das Erscheinen des Grafen Käthchens Unterwürfigkeit anstößt, welche sie im Weiteren unabhängig von seinem Zuspruch ausagiert. Strahl fungiert somit nur als Auslöser und Bezugsobjekt einer Mission, die das Mädchen frei wählt. Dass die Präsenz des Grafen in der Werkstatt vom Vater – im von Kleist so gern aktualisierten Modus des Konjunktivs – mit jenem vom Himmel niederfahrenden Engel verglichen wird, der Käthchen in ihrer Feuerprobe begleitet, unterstreicht meines Erachtens nur Käthchens Fokussierung auf Strahl. Der Graf ist zu jedem Zeitpunkt des Stücks derjenige, in dessen Dienst sie ihre, auch für ihn selbst undurchsichtige Macht stellt. Als Machtquelle für Käthchen kann Friedrich keineswegs gelten. Diese Argumentation trifft sich schließlich wieder mit Weders (2008) Deutung, die von einer magnetischen Verbundenheit zwischen den beiden Hauptfiguren ausgeht und Käthchen in der auch mittels der Cherub-Gestalt organisierten, dramatischen Figureninteraktion eine dominante Position zugewiesen sieht (vgl. S. 191–193).
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Diese Macht steht meines Erachtens nicht im Gegensatz zu ihrer für alle so irritierend ins Auge springenden Sinnverwirrtheit, vielmehr sind diese beiden figuralen Direktionen unauflöslich miteinander verknüpft,1082 wie sich spätestens am Ende des Dramas zeigt. Um es vorwegzunehmen: Nur wer des Sinnes und Verstandes beraubt ist, wird – in dieser Szene – zur Heldin und – schließlich – zur Kaisertochter. Der Auftritt des Cherubs bringt die Heldentat als ein sich an den Grenzen des Sichtbaren und gewiss auch des Wirklichen abspielendes Unterfangen zur Geltung, das von einer besonderen Macht Zeugnis ablegt und diese gleichzeitig reflexiv auf den Prüfstand stellt.1083 Kleists vom Engel umschirmtes Käthchen gleicht dergestalt einer ganzen Reihe von Held*innen im Drama um 1800: Die heroische Tatkraft – hier unter Beweis gestellt in der Feuerprobe – verbindet sich mit einer träumerisch-entrückten Facette der Heldin, die in Kleists Text am eindrücklichsten durch ihren himmlischen Begleiter in Szene gesetzt wird. Heldentat und Heldentraum sind nicht nur im Käthchen von Heilbronn, sondern sicher auch im Egmont sowie ganz explizit im Homburg politisch wie auch dramenpoetisch verschränkt. Dass Käthchens Agieren als ein träumerisch-entrücktes Unterfangen aufgefasst wird, bestätigt Kunigunde, die im Anschluss an die Cherub-Szene als erste ihren Blick wieder auf Käthchen richtet (vgl. KH, S. 397): „Nun, beim lebend’gen Gott, ich glaub’, ich träume! – / […] Schaut her!“ (KH, V. 1951–1952) Während der über Käthchens vermuteten Tod in den Flammen mehr als nur betroffene Graf1084 und seine Vertrauten die heil aus den Flammen Erstandene noch nicht bemerken und gerade beginnen wollen, sie aus den Trümmern des Hauses zu bergen (vgl. KH, V. 1957–1958), legt diese einen wie so oft verstörenden Auftritt hin, der ihre heroische Tat flankiert. Die Beschreibung von Käthchens offenbar unangemessenem, da unernstem Verhalten im unmittelbaren Anschluss an ihren heldenhaften Gang durchs Feuer überlässt Kleist ihrer Kontrahentin Kunigunde, welche die Bemühungen zur Rettung des Mädchens „scharf“ (KH, S. 398) kommentiert: „Die alten, bärt’gen Gecken, die! das Mädchen,/ Das sie verbrannt zu Feuersasche glauben,/ Frisch und gesund am Boden liegt sie da,/ Die Schürze kichernd vor dem Mund, und lacht!“ (KH, V. 1959–1962) Der Graf weist Käthchens Rettung sogleich als himmlisches Geschehen aus, „erhebt“ (KH, S. 398) sie in bereits erprobter Geste „vom Boden“ (KH, S. 398) und will die näheren Umstände 1082 So auch Barkhoff (1995), der Käthchens somnambulen Ausnahmezustand als Machtfaktor und die Figur des Cherubs als „Chiffre“ (S. 243) für diesen Zusammenhang liest. 1083 Martini (1976) bemerkt zu Recht, hier habe „das Lustspielhafte […] seine Spielfunktion verloren“ (S. 440), ohne jedoch eine Deutung des Auftritts vorzuschlagen. 1084 Die entsprechende Didaskalie lässt an dieser Stelle nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig, wenn sie Strahl als „vernichtet“ (KH, S. 397) ausweist.
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des Geschehenen erfahren (vgl. KH, V. 1965–1966). Käthchens Entgegnungen schließen in ihrer Kryptik nahtlos an ihr Verhalten vor der Heldentat an, ja mehr noch wiederholt sie – gesteigert durch mundartliche Simplizität – das Bekenntnis, hinsichtlich ihrer eigenen Handlungen und Widerfährnisse im Dunkeln zu tappen: „Weiß nit, mein hoher Herr.“ (KH, V. 1966) und „Weiß nit, ihr Herren, was mir widerfahren.“ (KH, V. 1969) sind die verwirrten sowie gewohnt demütigen Antworten, die Käthchen auf die Frage „Wo kommst du her?“ (KH, V. 1966) an den Grafen richtet. Kontrastiv dazu, dass sie abermals keine Rechenschaft darüber abzulegen vermag, wie ihr geschehen ist,1085 ist ihre heldenhafte Tat von Erfolg gekrönt gewesen: Käthchen hat das Bild des Grafen aus den Flammen gerettet.1086 Kunigunde, die ‚den Schatz‘ sogleich an sich reißt, hatte jedoch keineswegs das Porträt ihres Liebsten im Sinn, als sie nach dem Bild mit dem Futteral verlangte. Käthchen nämlich erntet von Kunigunde neben der Beschimpfung als „dumme Trine“ (KH, V. 1973) sogar einen Schlag mit dem Bild ins Gesicht (vgl. KH, S. 399), als das Fräulein registriert, dass lediglich das Bild und nicht das Futteral aus dem Feuer geborgen wurde (vgl. KH, V. 1973). Unübersehbar fadenscheinig kommt bereits Kunigundes Behauptung daher, das Futteral sei ihr „wert“ (KH, V. 1977) gewesen, weil sich der Graf namentlich darauf verewigt habe (vgl. KH, V. 1976). Immerhin skeptisch über die Umgangsformen seiner Braut wird Strahl, als dieser den Verlust mit den Worten „Wahrhaftig, wenn es sonst nichts war –“ (KH, V. 1978) zu relativieren versucht und er daraufhin durch Kunigundes unverhohlen erzürnte Replik „So? Meint ihr?/ Das kommt zu prüfen mir zu, und nicht euch“1087 (KH, V. 1978–1979) gemaßregelt wird. Der passiv-aggressive Ton zwischen den prospektiven Eheleuten gipfelt in des Grafen ironischer Entgegnung: „Mein Fräulein, eure Güte macht mich stumm.“ (KH, V. 1980) Wenige Auftritte (vgl. IV,1) später wird sich herausstellen, worin der eigentliche Wert jenes Futterals für Kunigunde liegt: Es enthält ein anderes, ein politisch höchst bedeutsames Stück Papier, und zwar die Schenkungsurkunde Stauffens, worum Kunigundes Absichten während des gesamten Stücks kreisen. Ganz ihrer selbst gewählten Mission entsprechend entbirgt Käthchen das Dokument, wie sie Strahls Knecht Gottschalk berichtet, am folgenden Morgen aus dem Schutt der Thurneck-Burg (vgl. KH, Z. 2044–2056). Bemerkenswert daran ist, dass Käthchen am politischen Wert des Schriftstücks keinerlei Interesse zeigt und dennoch in dessen Besitz
1085 Weder (2008) konstatiert hier eine somnambule „Amnesie“ (S. 193). 1086 Das Gelingen der Mission affirmiert, folgt man Barkhoff (1995), Käthchens traumwandlerische Autorität (vgl. S. 243). 1087 Hervorhebungen im Original.
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gelangt, indem sie ihrem Näschen folgt.1088 Von Gottschalk nach dem Inhalt des Papiers befragt, entgegnet sie ihr nunmehr legendäres „Ich weiß nicht.“ (KH, Z. 2053) Das steht in diametralem Gegensatz zur Reaktion des Knechtes, der sich empört über Kunigundes nunmehr zu Tage tretenden, wahren Absichten zeigt und Käthchen auffordert, dem Grafen das Dokument umgehend zu übergeben (vgl. KH, Z. 2060); was wohl nichts anderes meinen dürfte, als Kunigunde bei Friedrich anzuschwärzen. Es bleibt zusammenzufassen: Was sich Kunigunde durch ihr Intrigenspiel mühsam erschlichen hat und was sie wieder verliert, erlangt Käthchen, indem sie sich ganz einfach von ihrem Näschen leiten lässt und ihrer selbst auferlegten, unterwürfigen Verhaltensmaxime folgt; sie beschafft der Braut ihres ‚hohen Herrn‘ den gewünschten Gegenstand. Der Schluss des Stückes zeigt, dass ihr jene Folgsamkeit nicht nur temporär Stauffen, sondern schließlich ganz Schwaben einbringen wird.
4.8 ‚Denn wie begreif’ ich die Verkündigung, daß sie die Tochter meines Kaisers sei?‘ – Amnesie und asymmetrische Anagnorisis Der erste Schritt Käthchens in Richtung des schwäbischen Throns besteht darin, dass der Graf zu Beginn des vierten Aktes, nachdem der Angriff des Rheingrafen abgewendet worden ist,1089 noch einmal den Versuch unternimmt, genau demjenigen verstörenden Charakteristikum des Mädchens auf die Spur zu kommen, das ihr kurzfristig und unwissentlich Stauffen eingebracht hat: ihre bedingungslose Folgsamkeit (vgl. KH, Z. 2094–2097). Er tut dies, indem er das schlafende, halbnackte Käthchen (vgl. KH, S. 404) befragt, da sie, so sein Knecht, gemeinhin im Schlaf spricht (vgl. KH, Z. 2114–2115). Gerade der Schlaf stellt sich signifikanterweise als derjenige bewusstseinsferne Zustand heraus, der das Motiv für Käthchens scheinbar blinde Folge ans Licht zu bringen vermag. Denn das Mädchen ist gleichwohl kommunikationsfähig, wie in den ersten Versen des Dialogs mit Strahl deutlich wird:
1088 Klüger (21997) registriert – wie Fink (2000), S. 23 und Delbrück (1986), S. 277 – zwar Kunigundes strategische Fixierung auf die Urkunde (vgl. S. 164) und charakterisiert Käthchens Tun dezidiert als „Heldentat“ (S. 165), schließt aber Käthchens von jeder politischen Agenda ferne, heroische Mission nicht mit dem Dramenende zusammen. 1089 Anzumerken ist im Hinblick auf die Kunigunde-Handlung, dass dem Grafen durch Gottschalk das Futteral übergeben worden ist (vgl. KH, S. 404, Z. 2082) und er somit über die niederen Absichten des Fräuleins im Bilde ist.
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III Lektüren
DER GRAF VOM STRAHL Käthchen! Schläfst du? KÄTHCHEN Nein, mein verehrter Herr! Pause. GRAF VOM STRAHL Und doch hast du die Augenlider zu. KÄTHCHEN Die Augenlider? GRAF VOM STRAHL Ja; und fest, dünkt mich. KÄTHCHEN – Ach, geh! GRAF VOM STRAHL Was? Nicht? Du hätt’st die Augen auf? KÄTHCHEN Groß auf, so weit ich kann, mein bester Herr; Ich sehe dich ja, wie du zu Pferde sitzest. GRAF VOM STRAHL So! – Auf dem Fuchs – nicht? KÄTHCHEN Nicht doch! Auf dem Schimmel. Pause. (KH, V. 2118–2124, S. 405)
Hier wird eine besondere Gesprächssituation in Szene gesetzt: Käthchen, die ihres visuellen Sinns im konventionellen Gebrauch nicht mächtig ist, sich aber paradoxerweise als klar Sehende ausweist, kommuniziert mit dem Grafen, der sich von seiner hartnäckigen Verfolgerin gerade in dieser Verfassung Aufschluss über ihre Motive erhofft. So lässt er sich auf Käthchens ‚Wahrnehmungsmodus‘ ein und fabuliert gemeinsam mit ihr über das vermeintlich herrlich idyllische, florale Ambiente der Unterredung (vgl. KH, V. 2125–2135), bis er sie schließlich um eine Einschätzung bittet, wie er denn zu ihr stehe. „Verliebt ja, wie ein Käfer, bist du mir.“ (KH, V. 2139) lautet Käthchens „lächelnd“ (KH, S. 406) vorgetragene Überzeugung, die dem Grafen „wie ein Turm, so fest gegründet“ (KH, V. 2141) anmutet und die er seufzend (vgl. KH, S. 406) hinnimmt, um mehr zu erfahren. Gänzlich erstaunt bis amüsiert zeigt er sich sodann angesichts der von der Schlafenden vorgebrachten Zukunftsprognose: „Zu Ostern, über’s Jahr wirst du mich heuern.“ (KH, V. 2146) Konsterniert folgt er Käthchens Bericht darüber, dass ihr eine Magd im väterlichen Haus vor zwei Jahren beim Bleigießen in der Silvesternacht prophezeit habe, ein „großer, schöner Ritter“ (KH, V. 2156) werde kommen und sie heiraten. Um den großen, schönen Ritter auch identifizieren zu können, wenn er denn kommt, habe Käthchen Gott darum gebeten, er möge ihr diesen im Traum zeigen (vgl. KH, V. 2162–2165). Ihrer Bitte wurde offenbar stattgegeben, denn noch in besagter Nacht sei, so Käthchens Bericht, kein anderer als Friedrich Wetter, Graf vom Strahl höchstpersönlich, in Begleitung eines weiß geflügelten Engels in ihrer Heilbronner Kammer erschienen, um sie als seine „Braut“ (KH, V. 2168) zu begrüßen. Die weiteren Geschehnisse können der schier perplexe Graf, der umgehend zu erkennen gibt, dass der Traum des Mädchens mit seinem eigenen koinzidiert, und Käthchen im sich wechselseitig ergänzenden Zwiegespräch bis ins kleinste Detail zusammenbringen (vgl. KH,
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V. 2186–2201),1090 wobei die Szene auf ein entscheidendes Detail zusteuert: das eine kaiserliche Genealogie verbürgende rötliche Mal am Nacken der gräflichen Braut. Von sich aus bringt Käthchen das Mal ins Gespräch, das der Engel Strahl als Erkennungszeichen gezeigt habe (vgl. KH, V. 2199). Zentral ist an dieser Stelle, dass Käthchen dieses Körpermerkmal nicht im Schlafdialog mit Strahl und auch an keiner anderen Stelle im Drama als Signum ihrer kaiserlichen Abkunft ausweist (vgl. KH, V. 2199–2201). Die Information, dass die prophezeite Braut eine Kaisertochter sei, die anhand jenes Mals zu identifizieren sei, ist einzig Bestandteil von Strahls Traum (vgl. KH, Z. 1275–1278).1091 Käthchen wird in ihrem Traum nicht mehr als ein großer, schöner Ritter vorhergesagt, der ihr prospektiver Gatte sei. Wie vehement indessen Strahl seinen Traum von der Hochzeit mit einer Kaisertochter verwirklicht sehen will, demonstriert seine körperlich aggressive Reaktion, als Käthchen auf ihr Mal hinweist: Der Graf gerät derart außer sich, dass er ihr umgehend ihr Halstuch herunterreißt, um sie zu prüfen und seine Ahnung bestätigt zu finden. Erschüttert darüber, dass sich Käthchens Silvestertraum in – fast! – jedem Punkt mit seinem zu decken scheint, glaubt Friedrich nunmehr, ein großes Rätsel gelöst zu haben, und zeigt sich vom ‚Realitätsgehalt‘ der Träume gänzlich überzeugt: „Was mir ein Traum schien, nackte Wahrheit ist’s:/ Im Schloss zu Strahl, todkrank am Nervenfieber,/ Lag ich danieder, und hinweggeführt,/ Von einem Cherubim, besuchte sie/ Mein Geist in ihrer Klause zu Heilbronn!“ (KH, V. 2211–2215) Käthchen gelangt nicht zu einer derartigen Einsicht, sie „erwacht“ (KH, S. 410) und wiederholt ihr amnestisch-desorientiertes „Was widerfährt mir!“ (KH, V. 2210), mit dem sie bereits in der Cherub-Szene ihre Erlebnisse als unverständlich auswies (vgl. KH, V. 1950). In reichlich erprobter Devotie wirft sie sich vor Strahl auf die Knie (vgl. KH, S. 410), entschuldigt sich dafür, wieder einmal entgegen seinem Gebot vor der Strahlburg gelagert zu haben und verkündet, umgehend ihrer Wege zu gehen (vgl. KH, V. 2219–2222). Strahl allerdings ignoriert sie vollends, ist er doch grübelnd mit jenem noch unerfüllten Detail der Weissagung beschäftigt, seine zukünftige Ehefrau sei eine Kaisertochter. Kleist stellt 1090 Fink (1995) beschreibt den Ton der Szene als ein „gemeinsame[s], gleichsam symphonische[s] Sprechen“ (S. 173). 1091 Fink (1995) unterschätzt diese Nicht-Entsprechung aufgrund seiner These, hier werde das literarisch traditionsreiche Motiv des ‚Doppeltraums‘ in Szene gesetzt. Aus seiner Sicht werde dem Grafen „mit dem Hinweis auf das Muttermal ein neues Rätsel“ (S. 173) aufgegeben. Vgl. in diesem Sinne auch Reske (1969), der behauptet: „Die Traumwelt beider stimmt überein, sie beruht auf beiderseitigem, gleichzeitigem Erleben“ (S. 115). So auch Allemann (2005), S. 202–203. Allein Kreutzer (1995) vermerkt, dass lediglich im Bericht über Friedrichs Traum das Kaisertochter-Sujet auftaucht, spricht aber dann merkwürdigerweise von einem „vollständige[n] Zusammenfügen aller Einzelheiten der Weissagung des Engels“ (S. 16) unter dem Holunderbuch.
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diese Irritation des Grafen aus, sich keinen Reim darauf machen zu können, wie Käthchen seine Auserwählte sein solle und gleichzeitig doch auf keine hochherrschaftliche Ahnengalerie zurückblicken könne: „Weh mir! Mein Geist, von Wunderlicht geblendet,/ Schwankt an des Wahnsinns grausem Hang umher!/ Denn wie begreif’ ich die Verkündigung,/ Die mir noch silbern wiederklingt im Ohr,/ Daß sie die Tochter meines Kaisers sei?“ (KH, V. 2223–2227) Hier manifestiert sich die Versessenheit Friedrichs auf die kaiserliche Genealogie derjenigen, die er zum Traualtar führen will. Das Mal im Nacken seiner Zukünftigen gilt ihm somit keinesfalls als Detail, es avanciert zum Störfaktor, der die umfassende Erfüllung seines Traumes verhindert. Die Trägerin des Mals fügt sich aufgrund ihres sozialen Status nicht in den männlichen Traum. Was Kleist hier nutzt und gleichzeitig kritisch wendet, ist die kulturgeschichtlich tradierte Bedeutung des Muttermals im Rahmen einer symbolisch aufgeladenen, weiblichen Körperlichkeit, natürlich im Kontrast zur männlichen: Die gepanzerte Haut ist eine männliche Körperimago, die nicht zufällig zwei paradigmatische Helden der westlichen Kulturgeschichte charakterisiert. […] Als Komplementärkonstellation zu dieser stählernen Haut (mit einer singulären, verwundbaren Stelle) findet sich in der Literatur das Motiv des Gezeichnetseins des weiblichen Körpers durch ein Hautmal. Diese ‚normale‘, verletztliche Haut mit einem aufsitzenden, verdickten Mal bildet imagologisch das Pendant zum männlichen Körperbild der verstärkten Hülle mit einem fragilen Fleck. Die Frau besitzt hier eine glatte, weiche, permeable Oberfläche, auf der eine dunkle Verhärtung – als Einlaßort für das Böse? – zu finden ist.1092
Strahl legt, daran ist zu erinnern, in der Heilbronner Waffenschmiede einen Auftritt hin, der sich ganz im diskursiven Rahmen solchermaßen geschlechterspezifisch markierter Körperbilder bewegt: als „Erzgepanzerte[r]“ (KH, Z. 148–149), dessen Rüstung einen Defekt aufweist. Auf Käthchen trifft umgekehrt die Vorstellung einer weiblichen Durchlässigkeit recht genau zu; in ihrer bis in die Gestik reichenden Unterwürfigkeit zeigt sie sich gänzlich vom Grafen durchdrungen. Das Muttermal deutet in Kleists Textarrangement sicher auf keine böse Weiblichkeit hin. Es insistiert jedoch als signifikante Störung für die Erfüllung von Strahls männlicher Machtphantasie, seiner Traumvision entsprechend eine durch ein Muttermal gezeichnete Kaisertochter zu ehelichen. Käthchens ‚Hautverhärtung‘ ist das, woran sich Strahl stößt. Darüber hinaus hat die anhaltende Verstörung über Käthchens Herkunft erhebliche dramenpoetische Konsequenzen. Man könnte argumentieren, dass Kleist an dieser Stelle eine sich anbahnende Anagnorisis zwischen Käthchen und 1092 Benthien (1999), S. 161. Strauch (2004) weist auf diesen Diskurszusammenhang hin, ohne aber eine Textdeutung daraus zu entwickeln (vgl. S. 100).
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Strahl aufschiebt, um sie im Schlussakt fulminant zur Geltung zu bringen.1093 Allerdings wird dadurch, dass die sich ansonsten lückenlos entsprechenden Träume in diesem zentralen Punkt divergieren, die Wiedererkennungsstruktur zerstreut.1094 So wird im Text betont, es sei für den Grafen entscheidend, nicht irgendeine als seine Zukünftige wiederzuerkennen. Die bestenfalls alludierte Anagnorisis ist asymmetrisch gebaut: Zwar kann auch Käthchen sich daran erinnern, dass der Cherub Friedrich auf ihr Nackenmal aufmerksam macht, ohne jedoch um dessen weitere Bedeutung für den Grafen zu wissen. Dementsprechend erkennt sich Käthchen an keiner Stelle des Stücks als die Strahl prophezeite Kaisertochter wieder. Die Anagnorisis scheitert demnach sowohl in der Fremd- wie auch in der Selbsterkennung, d. h. in ihren beiden klassischen Ausprägungen, die sich bei Aristoteles dokumentiert finden.1095 Und so reagiert Käthchen denn auch auf ihren dynastischen Aufstieg, der im letzten Akt zudem durch das eigentümliche Seitensprung-Geständnis des Kaisers ausgelöst wird, mit hilflosem Unverständnis. Mittels eines solchen anagnoristischen Anspielungsgefüges, dem es in einem wesentlichen Punkt an reziproker Übereinstimmung mangelt, gibt Kleist den Kaisertochter-Traum des Grafen als männliche Machtphantasie zu erkennen, in die Käthchen eingepasst wird. Es stellt vice versa eine Marginalisierung von Käthchens Perspektive dar, hier von einer gelingenden Wiedererkennung auszugehen.1096 Sie mag deutlich zu verstehen geben, dass sie den Grafen als ihren traumverhießenen Bräutigam und sich selbst als seine prospektive Gattin wiedererkennt. Allein hat das Muttermal, das laut Fink „als objektives Zeichen zur Anagnorisis verhelfen kann“1097, für sie nicht den Wiedererkennungswert, den es für Strahl hat. Die Textpassage, die Strahls Traum schildert, verknüpft das Muttermal explizit mit der kaiserlichen Abkunft der Zukünftigen,1098 wohingegen
1093 So konstatiert etwa Martini (1976), dass die Unklarheit über den ganzen Inhalt des Traums „spannungsanreizend“ (S. 441) wirkt. 1094 Dass der Text keine gelingende Anagnorisis präsentiert, spricht zudem gegen die in der Forschung immer wieder vorgebrachte Auffassung, Käthchens und Strahls SilvesternachtEntrückungen würden einen ‚Doppeltraum‘ konstituieren. Vgl. so Fink (1995); Reske (1969). Vgl. kontrastiv folgende Beiträge, die unhinterfragt von einem ‚Doppeltraum‘ sprechen: Allemann (2005), S. 199, 202, 209, 213; Zimmermann (2001), S. 206; Barkhoff (1995), S. 243; Fink (1995), S. 13; Kreutzer (1995), S. 8, 15. Oesterle (2001) wendet sich ebenfalls gegen die DoppeltraumThese, wobei es ihm nicht um die mangelnde Entsprechung der Träume geht (vgl. S. 306–317). 1095 Vgl. Aristot., poet., 11, 1452a29–32. 1096 Es ist erstaunlich, wie Fink (1995) in seinem Hinweis auf die Anagnorisis-Konstellation Käthchens Perspektive außer Acht lassen kann (vgl. S. 15–17). 1097 Fink (1995), S. 15 [Hervorhebung im Original]. 1098 „[…] wie der Engel ihm darauf, daß es eine Kaisertochter sei, gesagt, und ihm ein Mal gezeigt, das dem Kindlein rötlich auf dem Nacken verzeichnet war, […]“ (KH, Z. 1275–1278).
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in Käthchens Traum-Rapport unter dem Holunderbusch davon keine Rede ist. Zusätzlich befindet sie sich nach dem Gespräch mit Strahl in einem Zustand gänzlicher Amnesie, die bis zum Schluss des Stückes andauern wird, was als markanter Kontrapunkt zur angedeuteten, nur beinahe eingelösten Anagnorisis im Falle Strahls zu verstehen ist.1099 Auch wenn man die Nichtentsprechung der Träume weniger ins Zentrum rückt, ist es augenfällig, wie wenig Käthchen als Figur einer bewussten Anagnorisis zustrebt: Nicht nur zeigt sie sich mit dem verheißenen großen, schönen Ritter sehr zufrieden, sondern es scheint sie auch gar nicht weiter umzutreiben, von diesem als prädestinierte Braut wiedererkannt zu werden. Sie gibt sich Strahl von sich aus zu keinem Zeitpunkt aktiv zu erkennen; ihre anagnoristische Energie tendiert gewissermaßen gen null,1100 wohingegen der Graf geradezu obsessiv wiedererkennen will, was auch der Umstand demonstriert, dass er nach dem Gespräch mit Käthchen Nachforschungen bezüglich ihrer Abstammung anstellt (vgl. KH, 2412–2417). Zu Strahls ungebrochener Hoffnung, dass Käthchen seiner Phantasie in vollem Umfang entsprechen möge, passt, dass er sie im Anschluss an das Zwiegespräch mit auf die Strahlburg nimmt und sich ihr ungewohnt sowie monstrativ zugewandt zeigt (vgl. KH, S. 411, V. 2241–2242). Es ist Kleist eine ganze Didaskalie wert herauszustellen, dass der Graf Käthchen auf dem Weg zum Schloss zunächst galant über Hindernisse „führt“, sie aber dann „vorangehen“ lässt und er nunmehr ihr „folgt“ (KH, S. 412).
4.9 Die Enthüllung der Mosaik-Technik. Kunigundes Machtprofil Damit ist denn auch spätestens der Punkt markiert, an dem Kunigunde als machtbewusste Gegenspielerin Käthchens nur noch verlieren kann. Die Auftritte vier bis acht des vierten Aktes sind dementsprechend der nicht eben subtilen Desavouierung der politisch-amourösen Strategie des Fräuleins gewidmet. Wer Kunigundes Berechnungskünste durchschauen will, muss sie im wahrsten Sinne des Wortes einfach nur anschauen; bereits ihr Äußeres enthüllt ihre Täuschungsabsichten.
1099 Lü (2000) verwendet genau diese Begrifflichkeit von „einseitige[r] Anagnorisis“ (S. 178), „befremdliche[r] Amnesie“ (S. 178) und Asymmetrie (vgl. S. 178), um die figurale Interaktion zwischen Strahl und Käthchen während ihres ersten Zusammentreffens in der Waffenschmiede zu charaktersieren. Wollte man zeigen, wie die Anagnorisis-Struktur im Gesamtverlauf des Textes aufgebaut und schließlich destruiert wird, müsste diese Szene als Initialpunkt betrachtet werden. Vgl. so ansatzweise Strauch (2004), S. 99. 1100 Ihre Gewissheit, dass Strahl der ihr vorherbestimmte Ritter ist, bedarf, so scheint es, keiner explizit artikulierten Bestätigung durch den anderen.
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Dazu lässt Kleist sie in einer Badegrotte auf der Strahlburg, offenbar nackt, mit Käthchen aufeinandertreffen. Des Fräuleins Kammerzofe stellt, als Käthchen „zitternd“ (KH, S. 413) aus der Grotte kommt, sogleich die bange Frage: „Hast du sie gesehn?“ (KH, V. 2283) In der Tat hat Käthchen das Fräulein gesehen und sie sinkt ihrer Dienerin Eleonore in die Arme (vgl. KH, S. 414). Von Rosalie, die um Kunigundes Geheimnis weiß, erntet Käthchen den drohenden Hinweis: „[…] Dir wär besser,/ Du rissest dir die Augen aus, als daß sie/ Der Zunge anvertrauten, was sie sahn!“ (KH, V. 2286–2288) Das eingeschüchterte Käthchen vertraut sich Eleonore ganz in diesem Sinne nicht an, ihre Zunge versagt (vgl. KH, S. 414). Und Kunigunde veranlasst die kleiderlose Begegnung mit Käthchen umgehend dazu, das Mädchen kurzerhand vergiften lassen zu wollen (vgl. IV,8). Der dritte Auftritt des fünften Aktes informiert schließlich über die Hintergründe dieses Mordkomplotts und zugleich über dessen Scheitern. In einer Unterredung mit dem Burggrafen von Freiburg erfährt der Strahl’sche Ritter Flammberg den Grund dafür, warum Kunigunde den Koch bestechen wollte, Käthchen „aus dem abscheulichen, unbegreiflichen und rätselhaften Grunde, weil das Kind sie im Bad belauschte“ (KH, Z. 2510–2512), zu vergiften. Freiburg enthüllt mit der rachsüchtigen Süffisanz des geprellten Liebhabers: So will ich es dir sagen. Sie ist eine mosaische Arbeit, aus allen drei Reichen der Natur zusammengesetzt. Ihre Zähne gehören einem Mädchen aus München, ihre Haare sind aus Frankreich verschrieben, ihrer Wangen Gesundheit kommt aus den Bergwerken in Ungarn, und den Wuchs, den ihr an ihr bewundert, hat sie einem Hemde zu verdanken, das ihr der Schmidt, aus schwedischem Eisen, verfertigt hat. – Hast du verstanden? (KH, Z. 2515–2522)
Der Passus widerspricht der nicht nur in der älteren Forschung diskutierten These, Kunigunde werde im gesamten Text als hexenartige Figur gezeichnet, die sich übernatürlicher Kräfte bediene.1101 Indem das berechnende Verhalten des Fräuleins physiognomisch gespiegelt wird, stellt der Text aus, dass es sich um eine gänzlich künstliche, aber eben auch sehr irdische und wenig märchenhafte Macht handelt.1102 Kunigunde verkörpert eine politische Agenda, die als eine strategische, und auf Verführung setzende Versatztechnik – der ‚Mosaik‘ ist hier das zentrale Bild – zu bezeichnen ist. Dies veranlasst Delbrück dazu, den Kunigunde-plot als Spitze gegen den 1806 von Napoleon initiierten Rheinbund zu lesen.1103 Die Ritterhandlung um das adelige Fräulein verweise auf die „Napoleonischen Verführungskünste“1104, 1101 Vgl. Zimmermann (2001), S. 204; Ueding (1981), S. 174; Mayer (1962), S. 41–42. 1102 Vgl. so Doering (2000), S. 117; Fink (2000), S. 22–24; Klüger (21997), S. 166. 1103 Delbrück (1986), S. 280–283. 1104 Delbrück (1986), S. 282.
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mit denen sich die deutschen Fürstentümer konfrontiert sahen. Ob Kleists Stück dergestalt den Rheinbund als gegen das Modell des Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gerichtete politische Konföderation kritisiert und deren Urheber Napoleon als politischen Verführer zu diskreditieren sucht, ist in Anbetracht der keinesfalls expliziten Rekurse im Text nicht zu entscheiden. Gleichwohl setzt die mittels der Kunigunde-Figur ins Spiel gebrachte Konstellation eine Reflexion über Machtpolitik in Gang, die sich zweifelsfrei auf die zeitgenössische politische Historie beziehen lässt, aber eben auch in abstrakterer Hinsicht die Simplizität eines solchen ‚mosaischen‘ Machtkalküls vorführt. Denn die im Stück vermittelte kritische Perspektive dürfte darin zu sehen sein, dass sich Kunigundes ganz und gar nicht zauberkundige Mosaiktechnik ohne größere Mühen enthüllen lässt, ja sich schlicht und einfach anschauen lässt, wenn man den rechten Moment erwischt.1105 Kunigunde ist in dieser Hinsicht als offensichtliche Kontrafaktur zur Käthchen-Figur gestaltet, deren Geheimnis erstens über weite Strecken des Stücks im Dunkeln bleibt und der zweitens mit dem Cherub ein überirdisches Wesen zur Seite gestellt wird. Trotz ihrer unterschiedlichen Verhaltensmodi jagen beide Frauen-Frauen den Männern in Kleists Stücks Angst ein, was in Käthchens Fall gern übersehen wird. Es macht aus diesem Grund wenig Sinn, Käthchens vermeintlich „ganz dienende Hingebung, ja selbstlose Aufopferung“1106 positiv gegenüber Kunigundes „voll berechnender Vernunft“1107 hervorzuheben.1108 Beide Figuren agieren eine je verschieden konturierte, aber als spezifisch weiblich gekennzeichnete Macht aus und sind gleichzeitig „beide Objekte von Männerphantasien […], männlichem Liebesbegehren und Angstträumen entsprechend“1109. Kunigundes strategisches Spiel, mit dem sie sich auf das Feld männlicher Machtpolitik begibt, scheitert indessen weitaus offensichtlicher als Käthchens eigensinnig-unbewusste Folgsamkeit.1110
1105 So ertappt Käthchen das Fräulein zufällig in der Badegrotte, ohne jedoch ihre Furcht überwinden zu können, das ‚Offensichtliche‘ auszusprechen. Bezeichnenderweise ist es ein Mann und noch dazu einer, der Kunigundes Macht einst erlag, welcher ihr Geheimnis öffentlich macht. Kunigundes Macht wird dergestalt als leicht durchschaubar präsentiert. Klüger (21997) resümiert: „Wäre sie [Kunigunde] eine Hexe oder Zauberin, so würde sich ihre Bedrohlichkeit ins Märchenhafte verflüchtigen. Sie paßt jedoch in kein Kinderbuch, eher in Freuds Fallstudien über männliche Sexualängste“ (S. 166). 1106 Fink (2000), S. 22. 1107 Fink (2000), S. 22. 1108 Geradezu textfern erscheint es, einen „krasse[n] Kontrast zwischen dem Engel Käthchen und der teuflischen Kunigunde“ (Fink (2000), S. 26) zu behaupten. 1109 Klüger (21997), S. 173. 1110 Sinnvoller erscheint daher Scholzes (2015) Vorschlag, Kunigundes und Käthchens Handlungsprofile durch das Kriterium des Bewusstseins zu differenzieren (vgl. S. 219).
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4.10 Kaisertochter qua Seitensprung Der fünfte Akt gibt eine finale Antwort auf die im Haupttitel dieses Kapitels aufgeworfene Frage, wie man eine Kaisertochter wird.1111 Kleist führt dafür eine weitere Machtinstanz ins Feld, den bisher im Stück ungesehehen Kaiser. Vor dessen Burg in Worms spielt der erste Auftritt des letzten Aktes und es sind alle männlichen Machthaber und Protagonisten versammelt: der Kaiser höchstpersönlich, der Erzbischof, kaiserliche Reichsräte und Ritterscharen und natürlich auch der Graf vom Strahl sowie Theobald Friedeborn (vgl. KH, S. 417). Letzterer hat in seiner väterlichen Verzweiflung den Weg zur höchsten Instanz eingeschlagen: Er hat den Kaiser davon in Kenntnis gesetzt, dass Strahl das Gerücht verbreitet, das Käthchen sei kaiserlicher Abkunft. Der Kaiser diskreditiert diese ‚genealogische Theorie‘ in einer die Szene eröffnenden Einlassung mit ebenso ablehnenden wie deutlichen Worten: „[…] meinethalb/ Magst du die Krone selbst auf’s Haupt ihr setzen;/ Von Schwaben einst, begreifst du, erbt sie nichts,/ Und meinem Hof’ auch bleibt sie fern zu Worms.“ (KH, V. 2362–2363) Im Bestreben, die unbequeme causa ‚Käthchen‘ endgültig zu beenden, ordnet er einen Zweikampf zwischen Strahl und Theobald an.1112 Der Graf widerruft daraufhin seine Behauptung zunächst, wohingegen Theobald in altem Hass seine Bezichtigungen steigert und berichtet, jener „Sohn der Hölle“ (KH, V. 2423) habe umfassende Nachforschungen über Käthchens Abstammung angestellt; mit folgendem Ergebnis: Der Kaiser sei zum Zeitpunkt von Käthchens Zeugung in Heilbronn gewesen (vgl. KH, V. 2376–2438). Der Graf bekräftigt in der Folge seine Behauptung und lässt es dabei nicht an dem Hinweis fehlen, sein Wissen der Erscheinung eines „Cherubim“ (KH, V. 2430) zu verdanken. Emphatisch bezeichnet er die Quelle seiner Überzeung als „Wissenschaft,/ Entschöpft dem Himmelsbronnen“ (KH, V. 2432–2433). In merklich aggressiver Haltung hält er Käthchens Vater, der ihn abermals vor einen Richter gebracht hat,1113 entgegen: „Hier vor des höchsten Gottes Antlitz steh’ ich,/ Und die Behauptung schmettr’ ich dir ins Ohr:/ Käthchen von Heilbronn, die dein Kind du sagst,/ Ist meines höchsten Kaisers dort; komm her,/ Mich von dem Gegenteil zu überzeugen!“ (KH, V. 2434–2438)
1111 „Dem Kaiserspiel […] ist die Enthüllung der Kaisertochter eingelegt.“ (Martini (1976), S. 443). 1112 Vgl. zum Zweikampf als Gottesurteil Barth/Seeba (1987a), S. 1045. 1113 Martini (1976) bezeichnet die Szene am kaiserlichen Hof als „variierende Reprise der Gerichtsszene“ (S. 442).
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Strahl bezwingt Theobald in einem Zweikampf, der parodistischer nicht angelegt sein könnte,1114 schenkt diesem aber das Leben und bekräftigt die eigene Theorie über Käthchen (vgl. KH, V. 2439–2461). Der Kaiser zeigt in der Folge eine unerwartete Reaktion und zieht sich sichtlich betroffen, „erblaßt“ (KH, S. 420) auf sein Schloss zurück. Es folgt ein monologisch entwickeltes Geständnis, das die Behauptung Strahls bestätigt. „Gertrud, so viel ich mich erinnere, hieß sie“ (KH, Z. 2481–2482): Mit diesen Worten beginnt sich das kaiserliche Gedächtnis an eine durchtanzte Nacht nach einem Turnier in Heilbronn vor – Kleist ist hier sehr genau – fünfzehn Jahren und neun Monaten zu aktivieren.1115 Natürlich ist Käthchen fünfzehn Jahre alt ist und ihre verstorbene Mutter trägt den Namen Gertrud. Mit dieser Frau habe sich der Kaiser „in einem, von dem Volk minder besuchten, Teil des Gartens, beim Schein verlöschender Lampen, während die Musik, fern von dem Tanzsaal her, in den Duft der Linden niedersäuselte, […]“ (KH, Z. 2482– 2486) mehr als nur ‚unterhalten‘, daran lässt der suggestive Ton wenig Zweifel. Die Leser*innen erlangen an dieser Stelle einen betont intimen Einblick in des Kaisers Liebesleben außerhalb des Ehebettes. Diese Nahperspektive, mittels derer der Souverän „als sexualisiertes Subjekt“1116 in Szene gesetzt wird, konstituiert, in textdetaillierter Konsonanz, abermals eine lustspielhafte Szenenkontur: Der Seitensprung nämlich ereignet sich unter dem „funkelnden Licht“ (KH, Z. 2476) des aufgehenden Jupiters, so dass Delbrück ganz zu Recht eine „Kontamination der Fabel mit Motiven der mythologischen Komödie Amphitryon“1117 diagnostiziert. Auf eine „mythologische[ ] Überhöhung“1118 der Figur des Kaisers zielt Kleist jedoch sicher nicht ab, wenn er Jupiter Pate stehen lässt, während sich Ihre Majestät im stillen Kämmerlein (vgl. KH, S. 421) peinlich berührt des Geschlechtsverkehrs mit einer Bürgerlichen erinnert. Der Kaiser nämlich initiiert und intendiert mit seinem Fehltritt, anders als Jupiter in der antiken Vorlage des Plautus, aber auch derjenigen Molières sowie Kleists eigenem Lustspiel, kein ihn selbst unterhaltendes Verwirrspiel zwischen seiner Affäre und deren irdischem Gemahl. Und das Kind, das er Getrud hinterlässt, ist ganz und gar kein Herkules, sondern ein sinnverwirrtes Mädchen, das ihm 15 Jahre später zum Problem werden soll. Dem Kaiser ist sein ‚schmutziges‘
1114 Vgl. dazu Kreutzer (1995), S. 17; Klüger (21997), S. 175. Vgl. ausführlicher Martini (1976), S. 442–443; Cullens/von Mücke (1997), S. 138–139. 1115 Vogel (1996) rekonstruiert die Vaterschaftsrechnung des Kaisers en detail und argumentiert überzeugend gegen die von der Forschung zuweilen vorgebrachten Zweifel daran (vgl. S. 147–148). 1116 Cullens/von Mücke (1997), S. 141. 1117 Delbrück (1986), S. 269. 1118 Delbrück (1986), S. 269.
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„Geheimnis“ (KH, Z. 2499) merklich unangenehm, er vermag nicht, in der Souveränität eines Göttervaters damit zu spielen.1119 Kleists als komischer Jupiter gezeichneter Regent hat schlichtweg Angst vor den Folgen seiner Tändelei und beschließt, Käthchen als Kind anzuerkennen, ohne dabei die genauen Umstände ihrer Zeugung offen zu legen: [S]o werd’ ich die Verkündigung wahrmachen, den Theobald, unter welchem Vorwand es sei, bewegen müssen, daß er mir dies Kind abtrete, und sie mit ihm [dem Grafen] verheiraten müssen: will ich nicht wagen, daß der Cherub zum zweitenmal zur Erde steige und das ganze Geheimnis, das ich hier den vier Wänden anvertraut, ausbringe! (KH, Z. 2495–2500)
Dass der Landesvater „ein vitales Interesse an der Eskamotierung seiner Romanze“1120 hat, ist unverkennbar. Viel wesentlicher ist aber, dass er dabei vor einer überirdischen Macht in die Knie zu gehen angibt: Es ist der Käthchen und Strahl verbindende himmlische Gefährte, dem der Souverän die Enthüllung seiner Eskapade zutraut und der ihn in seinen eigenen ‚vier Wänden‘ zittern lässt.1121 Wenn der Kaiser neben der Vaterschaftsanerkennung auch die Heirat zwischen Käthchen und Strahl anvisiert, manifestiert sich darin auch eine gehörige Furcht vor dem Grafen, den der Kaiser als einen „Vertraute[n] der Auserwählten“ (KH, Z. 2493–2494) erkennt. Über diese Zusammenhänge werden jedoch ausschließlich die Leser*innen informiert.1122 Die dramatischen Figuren werden erst in V,11 durch das Verlesen einer Deklaration darüber in Kenntnis gesetzt, dass Theobald Käthchen an den Kaiser abgetreten habe und sie nunmehr die Prinzessin von Schwaben sei (vgl. KH, V. 2617–2620).1123 Es macht allerdings nicht nur schmunzeln, wenn Kleist den 1119 Auch Cullens/von Mücke (1997) beschreiben den Kaiser als „komische und schwache Figur“ (S. 137). 1120 Vogel (1996), S. 148. 1121 So auch Nitschke (2012), S. 217 und Barkhoff (1995), S. 248. 1122 Martinis (1976) süffisanter Beschreibung der metadramatischen Anlage der Szene ist nichts hinzuzufügen: „Ist es nicht ein ironischer Lustspieleffekt, wie er [der Kaiser] sich in so blamabler Situation hinter zugeworfener Tür der Diskretion der vier Wände anvertraut und dabei vergißt, daß die vierte Wand fehlt, die ihn vor den Ohren der Zuschauer schützt.“ (S. 443). 1123 Aus Vogels (1996) Sicht rekurriert die kaiserliche Verlautbarung auf ein religiös, moralisch und emotional fundiertes Adoptionsmodell, das beide Väter vor einer öffentlichen Bloßstellung schütze (vgl. S. 148–149). In der Tat wird in der Erklärung keine biologische Vaterschaft des Kaisers behauptet (vgl. KH, V. 2615–2620), so dass Theobald dem Ruf des geprellten Gatten zu entgehen vermag und der Kaiser nicht als Ehebrecher dasteht. Die männliche Ehre beider bleibt jedoch nur auf einer ersten Ebene der dramatischen Fiktion intakt. In metadramatischer Perspektive werden beide Väter sichtbar blamiert. Zu Recht konstatiert Vogel (1996) daher eine mehr als kritische Akzentuierung des Adoptionsmotivs (vgl. S. 149). Zur Adoption auch Nitschke (2012), S. 217; Fink (2000), S. 25; Cullens/von Mücke (1997), S. 136.
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Rezipient*innen abermals einen Informationsvorsprung gewährt; vielmehr gerät das kaiserliche Bekenntnis zu Käthchen zur Farce. So muss Käthchens Prinzessinnenwürde von Beginn an leiden, stellt doch ihr genealogisches Narrativ letztlich nur eine vom hochherrschaftlichen Vater unter den Teppich gekehrte, frivole Anekdote dar. Ausgehöhlt wird auf diese Weise Käthchens dynastische Genereszenz und, allgemeiner gesprochen, das genealogische Prinzip einer altehrwürdigen Ahnenreihe, das der Graf in II,1 noch weinend beschwor.1124 Gleichfalls führt die Szene eine Demontage der „kaiserlichen Ehre“ (KH, Z. 2471) des Souveräns durch, der den Leser*innen „alles andere als ehrwürdig, […] als Lüstling und Feigling im Gedächtnis“1125 bleibt. Oder, um es mit Martinis auf die skurrile, dramenpoetische Funktion der Kaiser-Figur abhebendem Kommentar zu sagen: „Was ist dieser Kaiser anderes als ein komödiantischer deus ex machina?“1126 Fraglos ist dieser Eingriff von ‚oben‘ ins Komische gewendet; gleichwohl ändert ein solcher figuraler Zuschnitt des Souveräns nichts an den tragischen Konsequenzen, die sein Geständnis für Käthchen hat.
4.11 ‚Und Katharina heißt sie jetzt von Schwaben‘ – Und weiß von nichts Die Folgeszenen, in denen die politische Anerkennung Käthchens vonstatten geht, zeichnen das Bild einer jungen Frau, die mit ihrem neuen Status heillos überfordert ist. Wo immer ihre Ermächtigung offiziell deklariert wird, setzt Käthchens Sinn aus. Wenn sie überhaupt auf ihre eigene Inthronisierung reagiert, dann mit Gesten des Rückzugs und des Unverständnisses; ihre dynastische Erhöhung wird flankiert von einer immer weiter fortschreitenden Entmächtigung, die sich in Form von groß angelegter Passivität und maximaler geistiger Verwirrung äußert. So präsentiert der zehnte Auftritt des fünften Aktes das Mädchen, von den kaiserlichen Reichsräten, mit denen sie sich bereits in der Femgerichts-Szene konfrontiert sah, und von einem großen Gefolge umgeben, isoliert „traurig auf einem Stein“ (KH, S. 427) sitzend. Als ihr das Dekret übergeben wird, das ihre fürstliche Herkunft testifiziert, hält sie das Papier nur überfordert in den Händen. Auf Friedrich Wetter Graf vom Strahls Frage, was es damit auf sich habe, vermag sie nur die gleiche hilflose Formel zu äußern, mit der sie auch ihre mysteriöse Rettung aus den Flammen unerklärt gelassen hat: „Weiß
1124 Wenn überhaupt, handelt es sich im Falle Käthchens allenfalls um eine bizarre „aristocratic apotheosis“. (Stephens (1994), S. 153). 1125 Klüger (21997), S. 175. 1126 Martini (1976), S. 443.
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nit, mein hoher Herr. –“ (KH, V. 2614). Ihr hoher Herr selbst verliest die vor allem für ihn selbst über die Maßen bedeutsame kaiserliche Verlautbarung: ‚Der Himmel, wisset, hat mein Herz gestellt, Das Wort der Auserwählten einzulösen. Das Käthchen ist nicht mehr des Theobalds, Des Waffenschmidts, der mir sie abgetreten, Das Käthchen fürderhin ist meine Tochter, Und Katharina heißt sie jetzt von Schwaben.‘ (KH, V. 2615–2620)
Während der Graf mit gänzlicher Unterwerfung reagiert und sich vor der „Hochgebenedeiten“ (KH, V. 2622) zu Boden werfen will, muss sich die frisch gebackene Katharina von Schwaben erst einmal setzen (vgl. KH, S. 429). Sie ruft nach Hilfe, drückt ihr Unbehagen aus und sucht Schutz in den Armen des gerade kinderlos erklärten Theobalds (vgl. KH, V. 2625, 2627, S. 429). Ihr neuer Vater kaschiert seine im Monolog offenbarte Furcht vor Käthchens (und Strahls) himmlischem Begleiter kurzerhand, indem er dessen überirdische und seine eigene, weltliche Gewalt parallel führt: „Die einen Cherubim zum Freunde hat,/ Der kann mit Stolz ein Kaiser Vater sein!“ (KH, V. 2631–2632) Gleichzeitig macht er umgehend sein mit der aus der Not geborenen Vaterschaftsanerkennung einhergehendes Recht geltend, über jene Engelumschirmte als Tochter zu verfügen: „[W]er sie begehrt,/ Der muß bei mir jetzt würdig um sie frein.“ (KH, V. 2634–2635) Der Fortgang zeugt davon, wie schnell der Kaiser seine angeschlagene Herrscherwürde als patriarchiale Gewalt restituiert. Erwartbarerweise tritt ein Freier unmittelbar und fordernd vor: GRAF VOM STRAHL beugt ein Knie vor ihm: Nun, hier auf Knien bitt ich: gib sie mir! DER KAISER Herr Graf! Was fällt ihm ein? GRAF VOM STRAHL Gib, gib sie mir! Welch’ andern Zweck ersänn ich deiner Tat? DER KAISER So! Meint er das? – Der Tod nur ist umsonst, Und die Bedingung setz’ ich dir. (KH, V. 2636–2640)
Empört zeigt sich der Kaiser nicht nur, weil Friedrichs sein Begehr so drängend vorträgt.1127 Mit jenem ‚Was fällt ihm ein?‘ wird ein Graf an den Standesunterschied zwischen ihm und einer Prinzessin gemahnt. Delbrück weist an dieser Stelle zu Recht darauf hin, dass die Verbindung zwischen Strahl und Katharina von Schwaben nur dann möglich ist, wenn der Graf in den Herzogstand erhoben
1127 Barkhoffs (1995) Einschätzung, der Graf würde den Kaiser in dieser Szene „heraus[ ]fordern“ (S. 248), erscheint mir zu stark.
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wird.1128 Hier wird zweierlei deutlich: Erstens spielt der Kaiser seine neu gewonnene Macht über Käthchen sogleich gegenüber Strahl aus, den er eigentlich als ihren Vertrauten fürchten muss.1129 Der Kaiser hat etwas gegen denjenigen in der Hand, der so offensiv an Käthchens Abstammung interessiert ist, dass dadurch ein wohl gehütetes Geheimnis des Souveräns öffentlich zu werden drohte. Ein „ernst[es]“ (KH, S. 429), auf die Einschüchterung Friedrichs zielendes Wort spricht der Regent und Käthchens neuer Vater daher, wenn er die Ehe an die Bedingung knüpft, dass Strahl den alten Vater Theobald bei sich aufnehme (vgl. KH, V. 2641). Indem Theobald daraufhin der Verlobung zustimmt und den Kaiser auffordert: „So gibt sie ihm!“ (KH, V. 2644), macht der Text deutlich, dass sich die väterliche Verfügungsgewalt über Käthchen nach wie vor auf zwei Väter verteilt.1130 Zweitens deutet sich mit dem Hinweis auf die nunmehr in umgekehrter Richtung zwischen Strahl und Käthchen bestehende Standesdifferenz an, dass der Graf durch die Ehe mit der zur Katharina von Schwaben Ermächtigten einen politischen Aufstieg erfahren wird. Der Text schweigt darüber, deutet aber diesen Horizont sicherlich auch dadurch an, dass der Graf emphatisch seine Loyalität zu beiden ‚Vätern‘ dieser Kaisertochter bekundet, ja sogar angibt, sowohl für den Kaiser als auch für Theobald sein Leben hingeben zu wollen – wohlgemerkt „nach der Hochzeitsnacht“ (KH, V. 2649). Ob man Strahl deswegen ein regelrechtes „dynastische[s] Kalkül“1131 unterstellen muss, erscheint fraglich; von einem dynastischen Traum scheint er, vergegenwärtigt man sich die Holunderbusch-Szene, allemal getrieben. Der zwölfte Auftritt des fünften Aktes fokussiert, nachdem die männlichen Figuren das schweigende Käthchen unter sich ‚aufgeteilt‘ haben, ihre Perspektive. Das Mädchen artikuliert sich zwar gegenüber Strahl, der sie mit Liebesschwüren und Zukunftsplänen überhäuft; allerdings zeugen ihre Repliken abermals von gänzlichem Unverständnis gegenüber Friedrichs plötzlicher Zugewandtheit: Ein „schamrot[es]“ (KH, S. 430) „Jesus! Was sprichst du? Ich versteh’ dich nicht“ (KH, V. 2664), ein „ängstlich[es]“ (KH, S. 431) „Himmel! Was fehlt dir? Was bewegt 1128 Vgl. Delbrück (1986), S. 272. 1129 Daher trifft Nitschkes (2012) Befund, der Kaiser könne „Käthchen nicht als natürliche Tochter anerkennen – aber doch zumindest so verheiraten, dass Käthchen in der symbolischen Ordnung adäquat platziert wird“ (S. 218), auch auf Strahl zu. Der Graf, den der Kaiser mit Käthchen als unter dem Schutz einer überirdischen Macht stehendes Wesen wahrnimmt, soll offenbar durch die Heirat ‚ruhiggestellt‘ werden. 1130 Cullens/von Mücke konstatieren zu Recht: „Wie in so vielen Texten Kleists, so gilt auch hier: Pater semper incertus est“ (S. 139). Vogel (1996) spricht genauer von einer „doppelten Vaterschaft“ (S. 151), die allerdings nur der Graf und nicht Käthchen selbst registriert oder gar akzeptiert. Vgl. ferner Weineck (2014), S. 144–161. 1131 Lü (2000), S. 179.
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dich so?/ Was hast du mir getan? Ich weiß von nichts“ (KH, V. 2673–2674) oder auch ein schlichtes „Was soll ich auch von dieser Rede denken?“ (KH, V. 2689) sind die Sätze, die sie dem liebestollen und euphorischen Strahl entgegen hält. Als dieser schließlich verkündet, dass morgen seine Hochzeit stattfinden solle, auf die er Käthchen reich geschmückt und gekleidet zu kommen bittet (vgl. KH, V. 2695–2705), reagiert Käthchen mit einem eindeutigen Eskapismus. Sie bedeckt ihre Augen mit der Schürze (vgl. KH, S. 432), während sie geradezu beiläufig und ermüdet zustimmt, der Heirat beizuwohnen (vgl. KH, V. 2705). Mehr noch beginnt sie zu weinen, ohne Strahl den Grund für ihre Traurigkeit angeben zu wollen: „– Ich weiß nicht, mein verehrter Herr./ Es ist in’s Aug’ mir was gekommen.“ (KH, V. 2711–2712) Der Graf allerdings hat es, wie die beiden letzten Auftritte des Dramas zeigen, darauf abgesehen, Kunigunde effektreich als Betrügerin vorzuführen. Käthchen wird in diesem Spiel eine wichtige Rolle spielen, für die Friedrich sie im Vorfeld ausstattet: „Man wird dir Perlen und Smaragden reichen;/ Gern mögt’ ich, daß du alle Fraun im Schloß;/ Selbst noch die Kunigunde überstrahlst. –“ (KH, V. 2708–2710) lautet seine nicht sonderlich subtile Kostümierungsanweisung an Käthchen, die nach wie vor nicht versteht, wie ihr geschieht. Ganz auf die Verwirklichung seines Traumes fixiert, eine Kaisertochter zu heiraten und eine falsche vor dem Altar zu demütigen, führt Strahl ein mittlerweile grundderangiertes Mädchen ab (vgl. KH, S. 432), das er nicht ansatzweise in seine Pläne einweiht.1132 Die letzten zwei Auftritte des Stückes, welche der Hochzeitsszene auf dem Schloßplatz gewidmet sind, setzen ebendieses Narrativ von der Kaisertochter ‚wider ihr eigenes Wissen‘ fort. Zunächst wird das Fräulein von Thurneck öffentlich bloßgestellt, indem ein Herold die Vermählung des Grafen mit „Katharina, Prinzessin von Schwaben“ (KH, Z. 2718–2719) verkündet, während Kunigunde schon „im Brautschmuck“ (KH, S. 433) ihren prospektiven Gatten erwartet. Der von ihr geprellte Burggraf von Freiburg partizipiert an diesem Spiel, wenn er zweimal nach der ‚wahren‘ Braut fragt (vgl. KH, Z. 2726, 2729) und schließlich mit seinem Leidensbruder, dem Rheingrafen vom Stein, ins Schloss eilt, um Käthchen zu holen (vgl. KH, Z. 2732–2733, S. 434). Im „kaiserlichen Brautschmuck“ (KH, S. 434) wird diese schließlich von Strahls Mutter von einer Rampe1133 aus dem Schloss herausgeführt. Währenddessen erschallen die bereits zu Beginn 1132 Stephens (1988) argumentiert, der Graf treibe hier ein grausames Spiel mit Käthchen (vgl. S. 16). Vgl. so in Ansätzen auch Martini (1976), S. 445. Das trifft für diese Szene sicher zu, die sich in den Handlungsstrang der im letzten Akt Schritt für Schritt entwickelten Entmächtigung Käthchens einfügt. 1133 Im Prinz Friedrich von Homburg ist eine Rampe der Schauplatz, von dem aus die Brandenburgische Führungsriege den in seine Heldenträume versunkenen Prinzen zu Beginn des Stücks
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dieses Kapitels zitierten ‚Heil‘-Rufe. Als klar wird, dass Käthchen selbst die designierte Braut ist, kann sie ihr Schicksal nicht begreifen: Ihre konsternierte Frage „Ich? Ihr hohen Herren? Wessen?“ (KH, Z. 2742) zeugt von einem doppelten Unverständnis: Weder kann sie mit ihrem Braut-Status etwas anfangen noch ist ihr klar, wer ihr Bräutigam sein soll. Der Text stellt durch diese Fragen aus, dass Käthchen gänzlich neben sich steht: Sie befindet sich auf der Hochzeit desjenigen, den sie sich schon lange als ihren ritterlichen Bräutigam erträumt; sie trägt ein Brautkleid und wird als Braut angesprochen. Gleichwohl begegnet sie dem durch Schauplatz, Kostümierung und durch die Figurenrede bekräftigten Umstand, dass sie die Zukünftige des Grafen sein soll, mit umfassender Verständnislosigkeit. An dieser Stelle fällt die bereits in IV,2 an der Käthchen-Figur scheiternde Anagnorisis gänzlich in sich zusammenfallen. Von einem Wiedererkennen ihrerseits in dem Sinne, dass sie die Ereignisse als Erfüllung ihrer SilvesternachtVision deuten würde, kann keine Rede sein. Daran ändert sich auch nichts, wenn der Kaiser, Theobald und Strahl das Mädchen der Reihe nach als des Grafen Braut affirmieren: Alle drei fragen die auf ganzer Linie Überforderte, wohl eher pro forma als tatsächlich, ob sie denn auch wolle (vgl. KH, Z. 2743–2747); es folgt das genaue Gegenteil einer positiven Willensbekundung ihrerseits, wenn Käthchen „Gott und alle Heiligen“ (KH, Z. 2748) um deren Schutz anruft und zu Boden, in die Arme von Gräfin Helena sinkt (vgl. KH, S. 434).1134 Dieser Ausruf ist Käthchens letzter Satz im Stück. Liest man ihn dramenpoetisch, so fände sich darin das verzweifelte Verlangen der Protagonistin ausgedrückt, dass ihr durch göttlichen Eingriff ein Ausweg aufgezeigt würde.1135 Gott und alle Heiligen des Dramas greifen jedoch nicht schützend ein. Stattdessen exekutieren die männlichen Autoritäten
beobachtet (vgl. PH, S. 557). Käthchen befindet sich, als sie die Rampe herabgeführt wird, um den Höhepunkt ihrer Entmächtigung zu ‚erleben‘, in einem ähnlich entrückten Geisteszustand. 1134 Vogel (1996) weist darauf hin, dass Käthchen im Verlaufe des Stücks mehrfach in Ohnmacht fällt, was in keinem Fall positiv konnotiert sei (vgl. S. 152). Stephens (1988) kommentiert Käthchens Situation in der Schlussszene ähnlich: „Unentwegt verfügt man über sie, und ihr letztes Wort im Drama ist bezeichnenderweise ein Hilferuf, da sie in Ohnmacht sinkt.“ (S. 16) So auch Strauch (2004), S. 102, 113–114; Scholze (2015), S. 191. Anders Martini (1976), der Käthchen im „Schwindel der Beglückung“ (S. 445) zusammenbrechen sieht. Dabei wird übersehen, dass das Lustspielschema des Stücks, das Martini so minutiös und erhellend herausarbeitet, hier implodiert und sich für die weibliche Hauptfigur ins Tragische verkehrt. Der das Lustspielmodell krönende, glückliche Abschluss liegt Martini zufolge darin, dass Kunigunde als böse Intrigantin entlarvt wird, wohingegen Käthchen selig-überwältigt in Ohnmacht falle (vgl. S. 445–446). 1135 Käthchens Ruf nach göttlich-technischem Beistand kann als weiterer Hinweis darauf verstanden werden, dass der am Schluss des Dramas auftretende Kaiser keinesfalls eine deus ex machina-Funktion erfüllt.
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Käthchens Ermächtigung zur Kaisertochter und ihre Hochzeit mit Strahl in aller Stringenz, ohne dem desolaten Zustand des Mädchens auch nur im Geringsten Rechnung zu tragen. Dies konterkariert Käthchens Rückzugs- und Überforderungsgesten in aller Deutlichkeit. So bestimmt der Kaiser nach Käthchens Zusammenbruch ungerührt: „Wohlan, so nehmt sie, Herr Graf vom Strahl, und führt sie zur Kirche!“ (KH, Z. 2749–2750) Auch Strahl selbst lässt der Umstand, mit dem Käthchen von Heilbronn die kaiserliche Prinzessin von Schwaben an den Altar zu führen, geflissentlich übersehen, dass das Mädchen im Zuge dessen an die Grenzen seines Verstandes und seiner Nerven gebracht wird. Des Grafen Aufmerksamkeit gilt noch einmal derjenigen, der er noch einen Racheakt schuldig zu sein glaubt: Er zischt der abtretenden Kunigunde, die ihrerseits Rache schwört (vgl. KH, Z. 2751–2752), ein „Giftmischerin!“ (KH, Z. 2753) hinterher, bis er sich schließlich mit dem Kaiser und Käthchen unter einen Baldachin begibt, um der Verwirklichung seines Traumes, der Ehe mit einer Kaisertochter, entgegenzuschreiten (vgl. KH, S. 434). Käthchen hingegen demonstriert in ihrer Passivität und mit ihren Hilferufen sicherlich keine Zustimmung zu den Geschehnissen. Signifikant ist dabei, dass der Kaiser Strahl gegenüber Käthchen noch als denjenigen, „den [ihr] der Cherub geworben“ (KH, Z. 2743) habe, anpreisen zu müssen glaubt. Zu keinem Zeitpunkt gibt das Mädchen zu erkennen, dass die nahende Hochzeit mit Strahl eine Erfüllung ihrer im Schlaf so hoffnungsfroh geäußerten Vision bedeuten würde, einen schönen, großen Ritter zu heiraten. Im Jahr 1810 heiratet die österreichische Prinzessin Marie Louise mit Napoleon ganz sicher ebensowenig den Mann ihrer Träume wie Käthchen ihren ersehnten Ritter. Dass während der Hochzeitsfeierlichkeiten in Wien ein Stück Premiere feiert, welches derart eindringlich von den Abgründen dynastischer Heirats- und Machtpolitik Zeugnis ablegt, ist, wie eingangs erwähnt, aus meiner Sicht weder als purer Zufall noch als kritische Reaktion zu deuten. Vielmehr vermag der Bezug zum zeitgeschichtlichen Kontext der Uraufführung den analytischen Blick auf die dem Text eingegebenen politischen Reflexionsbewegungen zu konzentrieren: Vor dem Hintergrund jener europapolitisch so symbolträchtigen Hochzeit zeigt sich Kleists Drama als Textkonstellation, in der die Extrempositionen eines (allzu) dynastisch fundamentierten männlichen Machtmodells und eines unbewusst gesteuerten, scheinbar irrationalen, weiblichen Heroismus verhandelt werden. Dazu arbeitet das Stück mit einer hermeneutischen Aufschiebestruktur, die über eine Differenz zwischen Figuren- und Leser*innen-Perspektive funktioniert und die um das Kaisertochtersujet kreist. Eine ‚Erfüllung‘ ihrer jeweiligen politischen Interessen wird den einzelnen Figuren, vor allem Kunigunde und dem Grafen vom Strahl, fortwährend in Aussicht gestellt. Die Leserschaft ist aber durch die dramatische Informationspolitik begünstigt und darüber in Kenntnis
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gesetzt, dass es sich um insuffiziente Figuren handelt, die ihre jeweiligen Handlungsdispostionen und -direktionen nicht einzulösen vermögen: In der Rolle des bürgerlichen Vaters meint Theobald, eine verführte Tochter retten zu müssen; seine Rede allerdings präsentiert ein verwandeltes Kind, das sich auf einer selbst gewählten Mission befindet. Theobald wird diese nur fassungslos begleiten und seine Tochter schließlich mit einem zweiten Vater, dem Landesvater, teilen. Der Kaiser wiederum wird eingeführt, um scheinbar alles zu richten: um den Zwist zwischen Theobald und Strahl zu schlichten und um den Strahl’schen Traum zu erfüllen. Sein Auftritt hat indessen, wie gezeigt wurde, wenig Souveränes. Zwar restituiert er aus der Sicht der Figuren die herrschende Ordnung; die Leser*innen aber wissen, dass hier ein Herrscher aus Angst vor überirdischen Mächten lediglich seine eigene Haut zu retten antritt. Und Kunigunde steht im Schlussakt schon vor dem Altar, ja wähnt sich am Ziel ihrer mosaischen Betörungsstrategie, welche das Drama schon längst ohne ihr Wissen ‚enthüllt‘ hat. So wird sie schließlich vom Grafen öffentlich in großem Stil vorgeführt. Dieser begreift das Machtspiel des adeligen Fräuleins (zu) lange nicht und sieht sich daher bereits am Ende des zweiten Aktes kurz vor der Verwirklichung seines Traumes. Man könnte die Kungiunde-Handlung als bloße Retardation begreifen: Der Graf falle erst auf eine falsche Kaisertochter herein, bis er schließlich die ‚richtige‘ finde. Das mag zwar aus seiner Perspektive die dramatischen Geschehnisse recht präzise zusammenfassen, verursacht aber auf Seiten der Rezipient*innen mindestens ein hermeneutisches Unbehagen, wissen diese doch um die so gar nicht würdigen Hintergründe von Käthchens dynastischer Genereszenz. Zudem muss der Graf die verständnislosen, verzweifelten, ja sogar abwehrenden Reaktionen seiner kaiserlichen Braut gänzlich ignorieren, um sich am Ende als rundum erfüllter Bräutigam zu fühlen. Es bedeutet daher eine seltsame ‚Erfüllung‘, wenn am Ende Katharina von Schwaben vor den Traualtar geführt wird. Bemerkenswert bleibt, dass Käthchen für alle übrigen politischen Akteur*innen ein beharrlicher Störfaktor ist. Auch wenn am Ende die Dynastie über sie triumphiert, unterlegt der Text dieser, die männliche Ordnung auf verschiedenen Ebenen restituierenden Heirat einen mehr als bitteren Beigeschmack. Im Käthchen von Heilbronn mögen Schauplatz und Figuren ein mittelalterliches Szenario heraufbeschwören, das mit dem politischen ‚Wien 1810‘ wenig zu tun zu haben scheint. Kleists Schauspiel hat allerdings einiges – viel Komisches, aber auch viel Tragisches – zur genealogischen, über eine spezifische Geschlechterhierarchie funktionierenden Struktur des Dynastischen zu sagen, das den Grund für die Eheschließung zwischen Napoleon und der österreichischen Kaisertochter bildet. Käthchen kann somit als Reflexionsfigur in einem genau besehen kaum anachronistischen Heldinnenstück gelten.
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4.12 Zum Schluss: Überlegungen zur Feminisierung der Heldenrolle Auf den ersten Blick scheint Käthchen nicht das signifikanteste Beispiel einer heroischen Frauenfigur um 1800 zu sein, denkt man etwa an Schillers Johanna oder auch an Kleists Penthesilea; sie kann allerdings als die hintergründigste Figur gelten. Während ihr Heroismus aus Sicht der männlichen Figuren eine diskreditierte Form weiblicher Unterwerfung darstellt, hat die bisherige Analyse gezeigt, dass Käthchen instinktsicher und tatkräftig der selbst gewählten Mission folgt und damit zu verwirren weiß. Kleist präsentiert somit eine Figur, die mit allem Recht als erfahrungsseelenkundlich-pathologischer Fall klassifiziert werden könnte, wäre da nicht ihr Näschen, das sie unbeschadet durchs Feuer schreiten lässt und sie schließlich auf den schwäbischen Thron führt. Dass sie diesem und ihrer Ehe in der Schlussszene als eine von Männern getriebene, ohnmächtige, verwirrte Gestalt entgegenwankt, stellt die tragische Pointe dar, mit der Kleist sein Heldinnendrama beschließt.1136 Käthchen steht am Ende, so könnte man sagen, als eine Art Habsburgische Braut da, die man ‚opfern muss‘, um alle männlichen Machtinteressen zu befriedigen. Käthchens weibliche Handlungsmacht, die der Text als bedrohliche Herausforderung des bürgerlichen und des dynastischen Patriarchats in Szene setzt, wird im letzten Akt fachgerecht unter einer dreifaltigen männlichen Rigide eingehegt. Der Text mag vor Augen führen, wie massiv Käthchens Handlungen die männlichen Herrschaftsstrukturen verstören – nichtsdestotrotz bricht spätestens mit ihrer Ohnmacht, die als klare Reaktion auf die politische Ermächtigung und die bevorstehende Vermählung ausgestellt wird, am Schluss des Dramas ihr heroisches Figurenprofil gänzlich zusammen. Durch die Feminisierung der Heldenrolle spitzt sich ein Zusammenhang zu, der als zentraler Aspekt einer in Form von heroischen Figurationen in Szene gesetzten politischen Analytik im Drama um 1800 gelten kann. In noch profunderer und subtilerer Manier als etwa im Falle von Prinz Friedrich von Homburg und Robert Guiskard, den beiden männlichen Helden, welche sicher die meisten Parallelen zu Käthchens Figurenprofil aufweisen, wird in Kleists ‚historischem Ritterschauspiel‘ der prekäre Konnex von Heldentum und politischer Repräsentation respektive Systematizität zur Disposition gestellt: Diejenigen, denen die Heldenrolle zugewiesen wird und die dergestalt, so zeigen es die hier ausgewählten Texte mit Ausnahme von Schillers Fiesko, ungewollt ins Zentrum des politischen 1136 „Im ‚Käthchen von Heilbronn‘ […] bezeichnet die Hochzeit und ihre Perspektiven den Endpunkt von Käthchens Selbstautorisation. Sie steht unter dem zwielichtigen Zeichen der Ohnmacht, die als ‚Fallsucht‘ auf jene pathologische Auslegung verweist, deren geeignetste Medikation die Verheiratung samt ihrer Folgen darstellt.“ (Strauch (2004), S. 102).
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Geschehens geraten, stehen auf manchmal tragische und beklemmende, manchmal eher irritierende oder verstörend-komische Weise neben sich. Vor allem aber fügen sie sich weder in die jeweiligen Gemeinschaftsstrukturen noch stehen sie willentlich für die institutionellen Zusammenhänge ein, die in den Dramen zur Disposition gestellt werden. Und schon gar nicht lassen sie die Intention erkennen, den bestehenden Machtformen eine je eigene politische Agenda entgegensetzen zu wollen. Dafür gibt Schillers Tell, der am Schluss des Dramas lieber nach Hause geht, als sich unter die reüssierenden Revolutionäre zu mischen, ein ebenso einschlägiges Beispiel ab wie Goethes Egmont, dem die politisch angespannte Lage in Brüssel keine ‚sinnenden Runzeln‘ bereitet. Während allerdings die meisten männlichen Helden etwa lieber nach Hause gehen, sich in politischer Sorglosigkeit üben oder mit einem lapidaren „Meinetwegen“ (GB, S. 372) zum Anführer eines Aufstandes werden, ist Kleists Heldin ungleich ‚betroffener‘ von der Gewalt des dynastischen Systems, in das sie eingepasst wird. Das belegt ihr Zusammenbruch angesichts der ihr ‚drohenden‘ Rollen als gräfliche Braut und Kaisertochter am Ende des Stücks eindrücklich. Hierin liegt, das kann der erweiterte Blick auf Schillers Jungfrau von Orleans zeigen, die Besonderheit einer Feminisierung der Heldenfigur begründet.1137 Auch Johanna distanziert sich, deutlicher noch als die angeführten männlichen Heldengestalten, letztlich von dem politischen Projekt, für dessen Gelingen sie verantwortlich erklärt wird und das man feierlich bei Hofe zelebrieren will: „Wo ist Johanna? Warum fehlt sie uns/ In diesem festlich schönen Augeblick,/ Den sie uns schenkte?“ (JO, V. 2016–2018) fragt Karl VII. nach dem kollektiv auf Johannas martialischen Heroismus zurückgeführten Sieg der Franzosen über England. Analog zu Tell wird die ehemalige Schafhirtin von Volk und Hof als politische Heldin gefeiert, wie beispielsweise die Geliebte des Königs deutlich zum Ausdruck bringt: „Frankreich ist frei,/ Bis in die Krönungsstadt hast du den König/ Siegreich geführt, und hohen Ruhm erstritten,/ Dir huldigt, dich preis’t ein glücklich Volk,/ Von allen Zungen überströmend fließt/ Dein Lob, du bist die Göttin dieses Festes,/ Der König selbst mit seiner Krone strahlt/ Nicht herrlicher als du.“ (JO, V. 26602667) Die allseits gepriesene, noch den König selbst an ‚Glanz und Glorie‘ übertrumpfende, französische ‚Volksgöttin‘ will aber nicht strahlen, sondern einfach nur weg: „[...] o möchte siebenfaches Erz/ Vor euren Festen, […] mich schützen!“ (JO, V. 2646-2647) entgegnet sie der Sorel und äußert sogar den Wunsch, sich vor dem auf sie projizierten nationalen Freudentaumel zu verstecken: „O könnt’ ich mich/ Verbergen in den tiefsten Schoß der Erde!“ (JO, V. 2667–2668) Sie kann sich aber nicht verbergen, die königlichen Offiziere weisen ihr einen prominenten Platz
1137 Vgl. dazu auch Rocks (2016b), S. 379–380.
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im bevorstehenden Krönungszeremoniell schlicht zu. Mit ihrer Kriegsfahne soll Johanna im Krönungszug vor Karl her schreiten. Schillers Requisitenspiel betont, dass hier jemand ganz und gar nicht die Rolle einer Heldin der Monarchie spielen will, denn Johanna „bebt schaudernd“ (JO, S. 244) vor der Fahne – ihrem heroischen Hauptaccessoire – zurück und beginnt beim Anblick der ausgerollten Fahne entsetzt zu phantasieren (vgl. JO, V. 2729–2741). Dass man diese Heldin geradewegs nötigen muss, an Karls Triumphzug teilzunehmen, vermerkt Schiller didaskalisch: „Sie [die Offiziere] dringen ihr die Fahne auf, sie ergreift sie mit heftigem Widerwillen und geht ab, die andern folgen.“ (JO, S. 245) Die monarchische Festszene demontiert Schiller insofern, als er didaskalisch das Bild einer gänzlich gebrochenen Frau einspeist, die ihrer einst so machtvollen, martialischen agency beraubt scheint (vgl. JO, S. 246–247): Ihren Gang als dem König voranschreitende Fahnenträgerin vollzieht sie „mit gesenktem Haupt und ungewissen Schritten“ (JO, S. 246).1138 Weitaus deutlicher noch als Wilhelm Tell distanziert sich folglich Schillers Johanna von ihrer Heldinnenrolle. Sie negiert nach ihrem kriegerischen Erfolg mehr und mehr ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft – und dies sehr zum Unverständnis der männlichen Machthaber. In einer Geste politischer Selbstexklusion bezichtigt sie sich sogar eigens des Landesverrats (vgl. JO, V. 2711–2713), weil sie sich in den Feind, genauer in den englischen Feldherren Lionel verliebt hat (vgl. JO, V. 2536–2541). Im Hintergrund steht hier, dass Johanna – kontrastiv etwa zu Schillers männlichem Meisterschützen – durchaus ein politisches Selbstverständnis artikuliert, ja ihre Agenda auf einen göttlichen Auftrag gründet, der ihre Rolle als Retterin des französischen Gottesgnadentums unauflöslich an ihre Jungfräulichkeit knüpft. Aufgrund ihrer Zuneigung zu Lionel hat sie sich nach eigener Auffassung dagegen versündigt (vgl. JO, V. 2575–2581). Es handelt sich jedoch, so ist zu präzisieren, um eine dezidiert religiöse Agenda, die Johanna nicht wie z. B. Fiesko oder auch Wallenstein vollumfänglich selbst verantwortet. Vielmehr sieht sie sich als „blindes Werkzeug“ (JO, V. 2578) ihres christlichen Gottes. Ganz in diesem Sinne endet derjenige Monolog (vgl. JO, IV,1), der nur vordergründig Aufschluss über Johannas ‚ureigene‘ Beweggründe gibt, mit einem Ausruf und einem Satz, die deutlich machen, dass die Heldin ihr Tun weder zu begründen weiß noch verantworten will. Mit ihrem „Ach! Es war nicht meine Wahl!“ (JO, V. 2613) soll es nämlich letztlich Gott gewesen sein, der sie an die Spitze des französischen Heeres geführt habe. Ähnlich wie ja auch Tell im großen Stil eine politische Unbedachtheit attestiert wird, zeigt sich Schiller bemüht, Johanna nicht als zurechnungsfähige politische Überzeugungstäterin, sondern als eine sich in ihrem religiösen Patriotismus mindestens Verlierende zu porträtieren – eine
1138 Vgl. dazu pointiert Vogel (2002), S. 116–121.
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figurale Facette, die wiederum Johannas Nähe zu Kleists Käthchen hervortreten lässt, welche von ihrer Liebe zu Strahl vollends absorbiert erscheint. Schillers Text führt nun aber deutlich vor Augen, dass der Heldin eine Option offen steht, nach ihrem Kriegserfolg ‚in der Gemeinschaft zu bleiben‘: indem sie heiratet, d. h. zur vermeintlich genuin weiblichen Existenzform jenseits eines eigentlich den Männern vorbehaltenen Kriegsheldentums (vgl. JO, III,4) zurückfindet – eine Unterwerfungsgeste, der offenbar nur Heldinnen und vielleicht ansatzweise noch ein Prinz Friedrich bedürfen. Der Held gerät, das demonstriert das Beispiel Johanna, nicht so rasch und tiefgreifend in einen Konflikt mit dem politischen System wie die Heldin. Johannas Entgegnung auf die zahlreichen Heiratsangebote aus der politischen Führungsriege bringt zum Ausdruck, dass ihr Heroismus sich nicht in die geschlechterspezifisch verankerten Herrschaftsstrukturen fügt. Dies bleibt im Falle von Kleists Käthchen unausgesprochen, wobei ihr Verhalten angesichts der drohenden Verheiratung eine ähnliche Abwehrgeste erkennen lässt. Schiller dagegen lässt Johanna in dieser Sache das Wort ergreifen: Hoch ehrt micht dieser edeln Ritter Wahl, Doch nicht verließ ich meine Schäfertrift, Um weltlich eitle Hoheit zu erjagen, Noch mir den Brautkranz in das Haar zu flechten, Legt’ ich die ehrne Waffenrüstung an. Berufen bin ich zu ganz anderm Werk, Die reine Jungfrau nur kann es vollenden. Ich bin die Kriegerin des höchsten Gottes, Und keinem Manne kann ich Gattin sein. (JO, V. 2196–2204)
Johannas Bekenntnis zur Jungfräulichkeit ist demzufolge für ihren religiös konturierten Heroismus nachgerade zentral und es isoliert sie zugleich von einem monarchischen Machtapparat, in dem die weibliche Heldenkraft „die absolute Ausnahme“1139 darstellt, wohingegen die Rolle der liebenden Gattin die Regel bildet (vgl. JO, V. 2205–2213). Aber auch Johanna, die im Unterschied zu Käthchen durchaus ein heroisches Selbstbewusstsein artikuliert, wird letztlich als Opfer der Monarchie ausgewiesen. Dies zeigt die das Drama beschließende Sterbeszene Johannas in denkbar brutaler Klarheit. „[I]n den Armen beider Fürsten [König Karl und der Herzog von Burgund] liegt Johanna tödlich verwundet, ohne Zeichen des Lebens“ (JO, S. 275) nach ihrer finalen heroischen Kriegsintervention da. Folgt man der didaskalischen Darstellung ihrer postumen ‚Existenz‘ weiter, vermag sie aber der Monarchie gerade als tote Heldin wieder einen Dienst zu erweisen, und zwar einen symbolischen: „Die Fahne entfällt ihr, sie sinkt tot darauf nieder – Alle
1139 Horn (2015), S. 195.
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stehen lange in sprachloser Rührung – Auf einen leisen Wink des Königs werden alle Fahnen auf sie niedergelassen, daß sie ganz davon bedeckt wird.“ (JO, S. 277) Johannas Charisma, das könnte das Schlusstableau kaum deutlicher machen, ist im Tode wieder ungebrochen, man apostrophiert sie als ‚heiliger Engel‘ (vgl. JO, V. 3523) Frankreichs. Allerdings fällt sie im Zuge dessen gänzlich der politischen Symbolizität anheim, ja fungiert einzig noch als ikonographische Projektionsfläche nationaler Vereinigungsphantasien.1140 Ihre eigene Autorität kann sie jedoch, das ist die Kehrseite, die Schiller vermerkt, keinesfalls institutionalisieren oder auch nur in eine politische ‚Realität‘ überführen; Johannas Beispiel zeigt somit in pointierter Weise, wie die heroische Autorität im Moment ihrer Einfügung in bestehende Herrschaftsstrukturen erodiert. Das abschließende Bild der toten, in einem nationalen Fahnenmeer untergehenden Heldin verhält sich somit geradewegs kontrastiv zur bei Weber formulierten Aussicht, die zunächst rein „revolutionäre Macht“1141 des Charismas könne in einen andauernden Typus rationaler oder traditionaler Herrschaft transformiert werden. Das grundsätzlich konfliktuöse Verhältnis von heroischer Handlungsmacht und politischer Systemebene tritt dergestalt – verglichen mit den männlichen Heldenfiguren – im Falle der weiblichen Heldin in gesteigerter Weise als Problem hervor: Als vollumfänglich Handlungsunfähige, ja als Leiche persistiert Johannas Charisma, sie wird zur weiblichen Allegorie der Monarchie gemacht. Wilhelm Tell bleibt zwar, von der Revolutionsgemeinschaft umringt, am Leben – unbewaffnet und sprachlos zeigt ihn Schillers Schlussbild jedoch allemal. Vor diesem Hintergrund erscheint es umso unzureichender, schlicht zu konstatieren, dass Heldinnen die ‚große Ausnahme‘ im Drama sowie im GrößeDiskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts darstellen, ja dass weibliche Figuren „als Kommentar, Alternativen, Einsprüche in einem Nachdenken über Führerschaft zu verstehen [sind], die gleichwohl männlich konnotiert bleibt“1142. Vielmehr kann man im Hinblick auf das Held*innendrama um 1800 zu der These gelangen, dass es weder „[d]ie ‚große Frau‘, eine Essenz weiblichen Führungsstils“1143 noch den reüssierenden ‚großen Mann‘ gibt. Anstatt also etwa Schillers Johanna als Kontrastfigur zu den „auratische[n] oder listige[n] Anführerfiguren wie Fiesko, Herrmann, Wallenstein“1144 zu beschreiben, weil sie „keine eigene
1140 Vgl. Koschorke (2006b). 1141 Weber, WG, S. 497. 1142 Horn (2015), S. 195–196. Auch Gamper (2016) geht mit Blick auf das Drama des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts von einer „Begünstigung maskuliner Protagonisten“ aus und betrachtet die Frauenfiguren als „Ausnahme[ ]“ (S. 131). 1143 Horn (2015), S. 196. 1144 Horn (2015), S. 199.
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Intention“1145 habe, zeigen meine Analysen, dass sowohl Helden als auch Heldinnen nie bewusst und strategisch handeln. Den selbsternannten Strategen unter den hier ausgewählten Figuren lässt Schiller, so meine im Kapitel 2 zu Fiesko entwickelte These, dementsprechend in großem Stil scheitern. Was Horn als Differenz zwischen weiblicher und männlicher Größe benennt, ist ein gemeinsames Kennzeichen der hier fokussierten Figuren. Das Held*innendrama stellt vielmehr den Unterschied zwischen der Figur des/der ‚großen‘ Einzelnen einerseits – versteht man diese nun als machtbewusste/n Politiker/in oder moralisch konturierte Vorbildfigur – und politischen Held*innen andererseits heraus. Während große Männer, das belegen Abbts und Hirschfelds Ausführungen in aller Deutlichkeit, stets eine Agenda verfolgen, trifft dieses Kriterium für Goethes, Schillers und Kleists Held*innen gerade nicht zu. Im Falle der weiblichen Heldin aber, das zeigt Kleists Käthchen ebenso wie Schillers Johanna, radikalisiert sich das heroische Figurenprofil dadurch, dass die Diskrepanz zwischen einem träumerischen Held*innentum und einer sehr realen institutionellen Repräsentationsgewalt wesentlich drastischer zu Tage tritt.
5 Gnade für einen Begnadeten. Prinz Friedrich von Homburg 5.1 Einstieg: Vom Geländer der Rampe oder: Das Spiel im Spiel Von einer aus dem Schloss ins Freie führenden „Rampe“ (KH, S. 434) steigt Kleists Käthchen von Heilbronn im letzten Auftritt des Schlussaktes „im kaiserlichen Brautschmuck“ (KH, S. 434) herab, um ihrem Zukünftigen im Wortsinne ‚zugeführt‘ zu werden. Wenngleich sich Käthchen in der Feuerprobe heroisch bewährt hat und als gerade erst zur Kaisertochter ‚Ermächtigte‘ auf einen unverhofften politischen Aufstieg zurückblicken kann, bricht sie auf jener Rampe, die ihr den Weg ins dynastisch nobilierte Liebesglück mit ihrem Angebeteten Friedrich Wetter, Graf vom Strahl ebnen soll, desorientiert, derangiert und um göttlichen Beistand flehend zusammen (KH, Z. 2742, 2748, S. 434). Kein fulminantes heroisches Schlussbild also zeichnet Kleist von seiner feuererprobten Katharina von Schwaben; vielmehr, so die Argumentation im vorherigen Kapitel, endet Kleists Ritterschauspiel in der Ohnmacht eines heute vielleicht als ‚Stalkerin‘ zu bezeichnenden Mädchens, das zwar im Zentrum des politischen Geschehens, aber gleichzeitig auf so beklemmende Weise neben sich steht. Eine Rampe bestimmt gleichfalls die Schluss-Szenerie wie auch den Auftakt des im Folgenden
1145 Horn (2015), S. 199.
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zu diskutierenden Kleist-Stücks. Hier, im 1821 postum erstveröffentlichten Prinz Friedrich von Homburg, fungiert die Rampe als derjenige Ort, von dem aus der Protagonist – wie Käthchen in einem mentalen Ausnahmezustand1146 – im Modus der „heimlich[en]“ (PH, S. 557) Beobachtung indirekt ein- oder besser: vorgeführt wird. Um das szenische Initialtableau zu rekapitulieren: Prinz Friedrich befindet sich im nächtlich-verdunkelten Garten des von Kleist erfundenen Fehrbelliner Schlosses.1147 Er sitzt mit bloßem Haupt und offner Brust, halb wachend, halb schlafend, unter einer Eiche und windet sich einen Kranz. – Der Kurfürst, seine Gemahlin, Prinzessin Natalie, der Graf von Hohenzollern, Rittermeister Golz und Andere treten heimlich aus dem Schloß und schauen vom Geländer der Rampe auf ihn nieder. – Pagen mit Fackeln. (PH, S. 557)
Betrachtet man die Rampe nicht nur als Auffahrt zum Schloss, sondern als Theaterrampe, d. h. als vorderen Bühnenrand, so wird in dieser Szenenanordnung metatheatral die vierte Wand überschritten.1148 Aber Kleist situiert das Schloss samt Rampe ausdrücklich „[i]m Hintergrunde“ (S. 557) der Gartenszene, so dass sich der Leserschaft wie auch dem potentiellen Theaterpublikum gleich im ersten Auftritt ein hierarchisches Beobachtungsgefälle darbietet, das die konfliktuöse figurale Konstellation des gesamten Textes inauguriert. Auch wenn in diesem Zuge durchaus der Vorstellungshorizont eröffnet wird, der Prinz könne in den Zuschauerrängen sitzen und vom Kurfürsten samt Entourage von der Theaterrampe aus beobachtet werden, schlage ich vor, die in Kleists didaskalischer Notiz festgehaltene Blickregie wörtlich zu nehmen: Die potentiellen Theaterzuschauer*innen blicken auf die „Szene“ (PH, S. 557) um den Prinzen, in deren „Hintergrunde“ (PH, S. 557) sich das Schloss samt der mit einem weiteren ‚Publikum‘ besetzten Rampe erhebt.1149 Das erweckt zunächst den Eindruck einer direkten Spiegelsituation, in der sich das potentielle Publikum mit sich selbst konfrontiert sieht. Der Fortgang des Auftritts jedoch zeigt, dass Kleist insbesondere den auf der Rampe in Erscheinung tretenden Souverän nicht als bloß passiven Rezipienten des Geschehens figuriert. Vielmehr begibt sich der Kurfürst Schritt für Schritt
1146 Barkhoff (1995) stellt heraus, „daß Käthchen und Homburg in ihrer somnambulen Veranlagung zutiefst verwandte Gestalten“ (S. 260) sind. 1147 Vgl. Barth/Seeba (1987b), S. 1245. 1148 Vgl. Barth/Seeba (1987b), S. 1246; Riedl (2011), S. 363. Ähnlich auch Fortmann (2014): „Außerdem bezeichnet die Rampe aber auch die Zone, die Zuschauer und Schauspieler voneinander trennt oder, anders ausgedrückt, aufeinander bezieht“ (S. 79). 1149 Vgl. Geisenhanslüke (2013), S. 349.
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in die Rolle eines Regisseurs.1150 Seine zunächst noch distanzierte Beobachterposition wird im ersten Teil des Auftritts durch die Figurenrede, genauer dadurch forciert, dass er sich vom Grafen Hohenzollern Rapport über das eigentümliche Agieren des Prinzen im Krieg gegen die Schweden erstatten lässt und darauf lediglich mit knappen, gleichwohl immer ungläubiger ausfallenden Entgegnungen reagiert (vgl. PH, V. 18, 29–30). Bekanntermaßen hat sich Homburg vom ihm unterstehenden Regiment entfernt und wird schlafwandelnd im Fehrbelliner Schloßgarten aufgefunden. Dies ist der Moment, in dem die Dramenhandlung einsetzt. Hohenzollern überschreitet im Folgenden seine Rolle als Berichtender, indem er als Beleuchter auftritt und das ‚Theaterlicht‘ von der Rampe aus auf den Prinzen konzentriert:1151 „Er nimmt einem Pagen die Fackel aus der Hand […] und leuchtet von der Rampe auf ihn [Homburg] nieder.“ (PH, S. 558) Im Licht der Fackeln erscheint der Prinz der Kurfürstin und Prinzessin Natalie als somnambuler, behandlungsbedürftiger Kranker (vgl. PH, V. 32–33). Diese arge Besorgnis aber scheint Hohenzollern nicht zu teilen, er diagnostiziert allenfalls „eine bloße Unart seines [Homburgs] Geistes“ (PH, V. 39) und wendet dementsprechend auch den Fokus von Homburg ab, „indem er die Fackel wieder weggibt“ (PH, S. 558). Diese Erklärung genügt dem Kurfürsten indessen nicht, und so wird der Prinz auf Geheiß des Souveräns erneut und diesmal sehr viel genauer in Augenschein genommen:1152 „Fürwahr! Ein Märchen glaubt ich’s! – Folgt mir, Freunde,/ Und laßt uns näher ihn einmal betrachten.“ (PH, V. 40–41) Die Versammelten steigen sodann von der Rampe herab (vgl. PH, S. 559) und „umringen“ (PH, S. 559) den traumversunkenen Homburg.1153 Kleist hält in einem Detail fest, dass offenbar nicht allen diese
1150 So auch Riedl (2011), S. 362; Zumbusch (2011), S. 287; Kaul (2008), S. 194; Fischer-Lichte (2001a), S. 30. 1151 Die nachstehenden Bemerkungen zu Kleists Inszenierung einer metadramatisch konturierten Beobachtungssituation verstehen sich, indem sie den politischen Gehalt der Szene herausstellen möchten, als Ergänzung zu Fortmanns (2014) Hinweisen auf die panoptische Anlage des ersten Auftritts (vgl. S. 78–81). Vgl. auch Riedls (2011) Beschreibung der Licht- und Raumregie der Szene (S. 363). 1152 Vgl. anders Riedl (2011), der Hohenzollern als Co-Regisseur deutet und argumentiert, der Graf provoziere den Kurfürsten zu einem „Spiel mit dem Prinzen“ (S. 363). Dabei wird übersehen, dass Hohenzollern hier im Begriff ist, den Blick von Homburg abzuwenden. Vgl. zur Figur Hohenzollerns auch Hinderer (1997), S. 158–160. 1153 So konstatiert auch Fortmann (2014) eine „Fokussierung der Beobachtung“ (S. 80) durch den Kurfürsten und er analysiert die in den Didaskalien fixierten Bewegungsprofile der Figuren wie folgt: „Der Kreis der Beobachter schließt sich um Homburg […]. Das Geflecht der Blicke wird unentrinnbar.“ (S. 80) Geisenhanslüke (2013) spricht ebenfalls von „einem tendenziell aggressiven Akt des Voyeurismus“ (S. 349).
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Nahperspektive auf den Prinzen behagt: So befiehlt ein Hofkavalier den Pagen, mit ihren Fackeln von Homburg Abstand zu nehmen (vgl. PH, V. 42, S. 559). Diese Distanzierungsmaßnahme aber wird von Hohenzollern sogleich für überflüssig erklärt, und zwar mit dem Hinweis auf die umfassende Geistesabwesenheit des Prinzen: Der ganze Garten könne mit den Fackeln in Brand gesetzt werden, ohne dass Homburg etwas davon registrieren würde (vgl. PH, V. 42–45). Der Kurfürst allerdings treibt die Fokussierung auf jenen mutmaßlich kranken, jungen Mann (vgl. PH, V. 32) sodann bis zum Äußersten, wenn er „über ihn gebeugt“ (PH, S. 559) die Verrichtungen Homburgs observiert. Dieser flicht sich unterdessen einen Kranz aus einem äußerst symbolträchtigen Material: DER KURFÜRST über ihn gebeugt: Was für ein Laub denn flicht er? – Laub der Weide? HOHENZOLLERN Was? Laub der Weid’, o Herr! Der Lorbeer ist’s, Wie er’s gesehn hat, an der Helden Bildern, Die zu Berlin im Rüstsaal aufgehängt. (PH, V. 46–49, S. 559)
Bereits aus Hohenzollerns früherem Bericht ging hervor, dass Homburg, den der Graf dezidiert als „Held[en]“ (PH, V. 23) tituliert, im Garten des Schlosses damit beschäftigt sei, „[s]ich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich,/ Den prächt’gen Kranz des Ruhmes einzuwinden.“ (PH, V. 27–28) Hohenzollern beschreibt den Prinzen hier als „Nachtwandler“ (PH, V. 24), der sich prospektiv, am Vorabend der Schlacht, in die Rolle des siegreichen Helden imaginiere. Man sieht in der Auftaktszene des Dramas somit zunächst „statt heroischer Größe […] nur heldenhafte Gesten“1154. Dies belegt zusätzlich der Hinweis, Homburg stelle vorgreifend die Posen der ihm aus dem Berliner Rüstsaal bekannten Heldenporträts nach: Seine ausschließlich in Form fremder Figurenrede dargebotene, gegenwärtige heroische Phantasie nährt sich aus einer vergangenen, im Bild festgehaltenen Heldentradition und richtet sich auf die eigene, glorreiche Zukunft, genauer auf einen Sieg in der Schlacht des Folgetages, die ihm postum Ruhm einbringen soll. Festzuhalten bleibt: In einer phantasmatischen Vergangenheit und in einer den Tod des Helden antizipierenden Zukunft wird das Heroische in dieser Passage verortet, nicht auf der Ebene der gerade ablaufenden dramatischen Handlung.1155 Mittels dieser über eine spezifische Zeitordnung gestalteten Konstellation des Heldentraumes wird der hier zur Disposition stehende politische Heroismus vom Bereich des ‚Wirklichen‘ fortgeschrieben, was im dramatischen
1154 Harnischfeger (1989), S. 262. Vgl. auch jüngst Uhlig (2015), S. 274. Dies hängt natürlich wesentlich mit Homburgs Auftreten als Somnambuler zusammen. 1155 Vgl. Uhlig (2015), S. 274, 278.
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Darstellungsmodus etwa bedeuten könnte, eine heldenhafte Tat vor Augen zu stellen. Keinen tatkräftigen Helden aber präsentiert die Eröffnungsszene, sondern einen Somnambulen, der von vergangenen, fremden sowie von prospektiven, eigenen, todbringenden Heldentaten lediglich träumt.1156 So ist Heldenruhm diesem Eingangsbild zufolge entweder der Traum von nachgeahmtem Ruhm oder von „Nachruhm“1157. Dass Kleist bereits in dieser frühen Phase des dramatischen Handlungsverlaufs sein Thema des politischen Heldentums im Bild einer „phantasmatische[n] Realität“1158 verdichtet, lässt einen Rückschluss auf das Figurenprofil des Prinzen und auf den politischen Zuschnitt der dramatischen Figuration zu: Der Protagonist selbst erscheint gerade nicht als handlungsmächtiger Heros, sondern wird als entrückter Träumer beschrieben, über dessen angeblich auf Höheres zielenden Geisteszustand und Agitationsradius einzig andere Figuren sprechen, die darüber aber eben nur spekulieren können, und offenbar auch wollen. Statt also einen eitlen, ruhmversessenen Helden zu porträtieren, verleiht der Text vielmehr dem auf Homburg kaprizierten Heroisierungsbegehren der Brandenburgischen Offiziere Ausdruck,1159 welches im weiteren Verlauf des Stücks breit ausgeschrieben wird. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass man Homburg einen Heldenstatus noch vor jeder Handlung zuweist; ob er ihn selbst zu erlangen trachtet, lässt eine Szene, in der das Wort von allen anderen als vom Prinzen selbst geführt wird, zweifellos offen. Dass der Prinz, so zumindest der Bericht Hohenzollerns und die Beobachtung des Kurfürsten, im Begriff ist, sich den eigenen „Siegeskranz“ (PH, V. 58) zu winden, sich somit gleichsam sein heroisches Kostüm selbst herzustellen, weist
1156 Kaul (2008) verweist darauf, dass Homburg in I,1 „mit bloßem Haupt und offner Brust“ (PH, S. 557), d. h. ohne Kriegsrüstung auftritt, was sie zutreffend als „eine Verbildlichung des ‚fehlenden Helden‘“ deutet (S. 172). 1157 Horn (1992), S. 130. 1158 Horn (1992), S. 132. 1159 Dies ist als Fortführung des von Horn (1992) gegen solche Interpretationen formulierten Arguments gemeint, die dem Prinzen in I,1 eine Hybris attestieren: Man müsse die Egozentrik „im Rahmen des Ganzen […] erklären […]. Was diesen Analysen fehlt, ist ein Begriff und eine Analyse des Traums als Ersatz für die Abgeschnittenheit von der Wirklichkeit.“ (S. 130) Mir kommt es zusätzlich darauf an, die träumerische Realitätsferne und die damit aufgerufene Dichotomie von Traum und Wirklichkeit, von Spiel und Ernst in einen Zusammenhang mit dem politischen Textszenario zu stellen. Dies bedeutet aber, auch die Heldenträume der Gemeinschaft, die schon hier manifest werden, mit einzubeziehen. Dieser Hinweis lässt sich ebenfalls Weder (2008) entgegenhalten, die „das Flechten des Lorbeerkranzes als Ausdruck seines [Homburgs] innersten Antriebs“ (S. 339) versteht. Vgl. ähnlich wie Weder Uhlig (2015), der von einer „Verblendung der Figur und [vom] bloßen Einbildungscharakter der Homburg’schen Geste“ (S. 274) spricht.
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der Text als Anlass für den Herrscher aus, in den Requisitenverkehr eines solchermaßen den Kriegserfolg träumerisch antizipierenden ‚Heldentheaters‘ aktiv einzugreifen: DER KURFÜRST Bei Gott! ich muß doch sehn, wie weit er’s treibt! Der Kurfürst nimmt ihm den Kranz aus der Hand; der Prinz errötet und sieht ihn an. Der Kurfürst schlingt seine Halskette um den Kranz und gibt ihn der Prinzessin; der Prinz steht lebhaft auf. Der Kurfürst weicht mit der Prinzessin, welche den Kranz erhebt, zurück; der Prinz mit ausgestreckten Armen folgt ihr. DER PRINZ VON HOMBURG flüsternd: Natalie! Mein Mädchen! Meine Braut! (PH, V. 64–65, S. 560)
Der Kurfürst gibt nicht einfach nur zu verstehen, dass hier jemand ‚zu weit‘ gehe. Vielmehr steigt Friedrich Wilhelm hier in das Traumspiel ein1160 und verrät auch den Grund seines Unmutes: Er entwendet Homburg die corona triumphalis, die höchste Auszeichnung eines siegreichen Feldherrn also, und bindet jenes heroische Requisit an seine herrscherliche Verfügungsgewalt (zurück), indem er seine Halskette darum schlägt. Wenn Kleist das Requisitenspiel in solcher Weise mit politischer Bedeutung auflädt, hat dies Konsequenzen für die überaus suggestive Figurengestaltung: Friedrich Wilhelm wird dementsprechend als Herrscher in Szene gesetzt, der eine Anmaßung seines Reitereigenerals sanktionieren zu müssen glaubt, ohne aber mit diesem in eine direkte kommunikative Auseinandersetzung einzutreten. Dass sich der Prinz vor dem Schlachterfolg einen Siegeskranz windet, veranlasst den Herrscher dazu, die Trophäe an sich zu nehmen und jenen an die militärische Hierarchie und deren zeremoniellen Ablaufplan zu gemahnen.1161
1160 Anders als Fischer-Lichte (2001a), die den eröffnenden Auftritt sowohl als Spitze gegen „ein realistisch-psychologische[s] Einfühlungstheater der Aufklärung“ (S. 37) als auch gegen „Goethes symbolschaffende[s] Bildungstheater, das dem Zuschauer ästhetische Distanz abverlangt“ (S. 37) liest, gehe ich davon aus, dass hier nicht nur in metadramatischer Manier eine „tableau vivant“-Situation (S. 30) in Szene gesetzt wird, mittels derer der Kurfürst Homburgs „Zuschauerverhalten zu überprüfen“ (S. 30) antritt. Fischer-Lichte argumentiert, dass der Kurfürst ausschließlich die Rolle des Regisseurs einnehme, während Homburg als Rezipient ins Bild gesetzt werde, der allerdings tätig werde und dadurch die traditionell distanzierte Zuschauerhaltung überschreite (vgl. S. 30–31). Übersehen wird dabei, dass der Kurfürst selbst spielt, d. h. in der Doppelrolle als Regisseur und Mitspieler auftritt, was, wie zu zeigen sein wird, erhebliche Konsequenzen für den weiteren Fortgang der dramatischen Handlung hat. 1161 Weder (2008) geht auf der Grundlage des zeitgenössischen Magnetismus-Diskurses davon aus, dass der Kurfürst „durch sein Eingreifen das diffuse Wunschbild“ (S. 339–340) Homburgs nach militärischem Ruhm konkretisiere. Homburgs Inszenierung als Somnambuler mag mit er-
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Es hat im Hinblick auf das gesamte Stück eine proleptische Funktion, wenn Friedrich Wilhelm den Kranz der Prinzessin überreicht, stellt es doch einen dramatischen Subkonflikt dar, dass sich Homburg und Natalie lieben, Natalie jedoch aus strategischen Gründen nach Schweden verheiratet werden soll. Der Kurfürst entzieht Homburg beide Objekte des Begehrens, den Siegeskranz und die geliebte Frau:1162 Der Herrscher weicht mit Natalie, die den Kranz auch noch in die Höhe hält und damit nach Art eines Köders exponiert, vor dem in ihre Richtung strebenden Prinzen zurück. Zusätzlich wird an dieser Stelle die Spur zu einem weiteren Konfliktpotential ausgelegt, wenn Homburg den mit seinem Gefolge rasch auf die Rampe zurückeilenden Kurfürsten (vgl. PH, S. 560) als „Friedrich! Mein Fürst! Mein Vater!“ (PH, V. 67) anruft: Nicht nur soll demzufolge ein General mit seinem Oberbefehlshaber aneinander geraten, vielmehr spielt Kleist immer wieder eine familiäre Grundierung der Auseinandersetzung an, stehen doch Friedrich Wilhelm von Brandenburg und Friedrich Arthur von Homburg, so zumindest die Überzeugung des Prinzen, in einem Vater-Sohn-ähnlichen Verhältnis zueinander (vgl. PH, V. 829–830, 835–837).1163 Während der Kurfürst „rückwärts ausweichend“ (PH, S. 560) seine Diener zum Öffnen der Schlosspforte auffordert, folgt Homburg den Zurückweichenden und versucht, Natalie den Siegeskranz abzunehmen. Dabei zieht er der Prinzessin versehentlich einen Handschuh ab, ein Requisit, über dessen Provenienz er noch in den Folgeauftritten (I,2–4) grübeln wird. Der Handschuh fungiert dabei als Überbleibsel des vom Kurfürsten initiierten und inszenierten Traumspiels und beharrt als Irritationsmoment für Homburg (vgl. fahrungsseelenkundlichen Fallbeschreibungen und magnetischen Kurmethoden übereinkommen (vgl. S. 328–339). Es ist aber meines Erachtens nicht am Text zu belegen, dass der Prinz hier durch den Herrscher fremdgesteuert wird (vgl. S. 340). Im Gegenteil wird Friedrich Wilhelm, wie ich im Folgenden zeige, in seinen Handlungsoptionen immer mehr durch Homburgs Charisma determiniert. 1162 Darauf, dass hier eine offensichtliche Parallele zur Ausgestaltung des Motivs der Dichterkränzung in Goethes Tasso vorliegt, hat zuletzt Geisenhanslüke (2013) hingewiesen. Zu Recht wird aber bemerkt, dass Kleist im Gegensatz zu Goethe „den Konflikt […] von der Kunst in den Bereich des Militärs verschoben“ (S. 348–349) hat. Vgl. ausführlicher zur poetologischen Konfiguration der Dichterkrönung Kaul (2008), S. 195–196. 1163 Vgl. für eine Analyse des sich in der Eingangsszene eröffnenden, ödipalen Konflikts zwischen Homburg und dem Kurfürsten zuletzt Geisenhanslüke (2013), S. 351–352, mit weiteren Literaturangaben. In den folgenden Darlegungen wird darauf punktuell Bezug genommen, allerdings um zu zeigen, dass der Kern der im Drama geschilderten Auseinandersetzung meines Erachtens nicht in der gewiss angespielten Vater-Sohn-Konstellation besteht. Vgl. so auch Pan (2011), S. 99. Zu verweisen ist ferner auf Schneiders (2011) Bemerkungen zum Problem des Dynastischen in Prinz Friedrich von Homburg. Hier wird der Zusammenhang zwischen der Vater-Sohn-Konfrontation und dem politischen Sujet des Textes auf neuartige Weise interpretiert (vgl. S. 114–117, 119–123).
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PH, S. 561, V. 105, S. 564), der sich des Geschehens nur als eines „sonderbaren Traum[s]“ (PH, V. 140) erinnern wird (vgl. PH, V. 140–191).1164 Der so gestaltete Inszenierungscharakter1165 der kurfürstlichen Intervention verstärkt sich zum Ende des Auftritts, wenn Hohenzollern nach Art eines Bühnenassistenten agiert und dem Kurfürsten mit den Worten „Hier rasch herein, mein Fürst!/ Auf daß das ganze Bild ihm [Homburg] wieder schwinde!“ (PH, V. 72–73) die Schlosstür öffnet und damit den Weg von der Bühne bereitet. Und auch die viel zitierten Schlussworte des Kurfürsten weisen das Geschehen der Auftaktszene als ‚Spiel im Spiel‘,1166 als „theatralische Versuchsanordnung“1167 aus: In’s Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg, In’s Nichts, in’s Nichts! In dem Gefild der Schlacht, Sehn wir, wenn’s Dir gefällig ist, uns wieder! Im Traum erringt man solche Dinge nicht. Alle ab; die Tür fliegt rasselnd vor dem Prinzen zu. Pause. (PH, V. 74–77, S. 560)
Abgesehen von der gleich dreifach ‚vernichtenden‘ Verdammung Homburgs durch den Kurfürsten tritt hier die oft konstatierte Differenz zwischen der vom Herrscher getadelten Traumversunkenheit des Prinzen und der vermeintlich vorrangigen kriegerischen ‚Realwelt‘ zu Tage:1168 Mehr noch aber legt Kleist seinem Souverän den metadramatischen Hinweis auf zwei Spielebenen in den Mund, die jenes Heldenstück im ersten Auftritt eröffnet und die es fortan bestimmen werden. Denn ‚solche Dinge‘ meint schließlich nichts anderes als den heroischen Schlachterfolg, der, so der Kurfürst, einzig eine Bekränzung verdienen würde. Kriegerischer Heldenruhm sei in der Schlacht um Fehrbellin, auf der ersten Spielebene der dramatischen Handlung, und keineswegs nur in der Sphäre träumerischer Phantasie, der zweiten, imaginären Spielebene, zu erlangen. So sehr aber Friedrich Wilhelm von Brandenburg dem bloßen Traum von einer, genau
1164 Vgl. zur Funktion des Handschuhs der Prinzessin für die Homburg’sche „Amnesie“ (S. 173) bezüglich des Traumspiels Hinderer (1997). 1165 Vgl. Hinck (2008), S. 19; Kittler (1987), S. 262. 1166 So auch Geisenhanslüke (2013), S. 349; Kaul (2008), S. 172, 194–198; Schneider (2007), S. 246; Hinderer (1997), S. 157; Heine (1981), S. 293. Ich folge hier Schneiders (2007) weitem Verständnis des Spiels im Spiel: „[…] I use the play-within-the-play concept in a broad sense so as to include all phenomena in which a doubling of the stage occurs, and not just the literal staging of a play within the main play, as in Hamlet or A Midsummer Night’s Dream. Such phenomena may include fantasies or visions that are seen by the characters and that suggest a ‚second stage‘, even though that stage may not be visible to the spectator.“ (S. 238) Vgl. zum Spiel im Spiel ferner Fischer/Greiner (2007). 1167 Riedl (2011), S. 358. 1168 Vgl. Hinderer (1997), S. 162.
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genommen, nur heroischen Pose disziplinierend begegnet, so sehr begibt er sich bereits im ersten Auftritt aktiv auf ebendiese zweite Spielebene, indem er mit dem Somnambulen in Interaktion tritt.1169 Es wird sich zeigen, dass der Machthaber auf den von ihm angestoßenen Spielmodus an den zentralen Punkten seiner Auseinandersetzung mit dem ‚Helden‘ Homburg verwiesen bleibt.1170 Das in der Eingangsszene eröffnete Spiel im Spiel zeitigt damit, dies gilt es im Folgenden zu zeigen, keine bloß unterschwelligen Effekte für den weiteren Verlauf des Dramas.1171 Vielmehr werden beide Spielebenen unauflöslich miteinander verwoben, das Traumspiel tritt in das vermeintlich ‚eigentliche‘ Spiel ein. Das bedeutet auch, dass der Kurfürst mitnichten in der Rolle eines das Geschehen überschauenden Regisseurs affirmiert wird; sein Agieren entspinnt sich zwischen regieartigen Eingriffen und eigenen Spielzügen, die ihn mit den anderen dramatis personae in Handlung setzen. Der metadramatische Zuschnitt der Eröffnungssequenz in Prinz Friedrich von Homburg hat, darauf kommt es mir an, eine maßgebliche Bedeutung für die im Text verhandelte politische Problemkonstellation. Denn die prominent platzierte Spiel im Spiel-Situation, in welcher der träumende Held und der Souverän erstmals ‚aneinander‘ geraten, ist als dramenpoetisches Verfahren lesbar, das die Autoritätskollision zwischen Homburg und dem Kurfürsten als dezidiertes, auf mehreren Ebenen ausgetragenes Spiel zweier politischer Machtmodi in Szene setzt. Genauer lautet meine These, dass der Kurfürst den Streit zwischen der von
1169 Vgl. anders Barkhoffs (1995) vor dem Hintergrund des zeitgenössischen MesmerismusDiskurs entwickelte Lesart. Er hält das kurfürstliche Spiel für eine „Manipulation“ (S. 264) bzw. Konditionierung (vgl. S. 259) des somnambulen Prinzen im Sinne des politischen Systems. Das Schauspiel sei „ein Lehrstück, wie eine auf dem System von Befehl und Gehorsam aufgebaute Macht sich auch die Antriebe des Unbewußten manipulativ verfügbar macht.“ (S. 259) Ebenso wenig ist Kleebergs (2014) gegen Barkhoff vorgebrachtem Deutungsvorschlag zuzustimmen, die das Ende des Stücks, insbesondere den Umstand, dass Homburg sowohl Lorbeerkranz als auch geliebte Frau zuteil werden, als „Triumph des Unbewussten über die absolutistische Staatsmaschinerie“ (S. 341) liest. Beide Positionen verkennen aus meiner Sicht den Funktionsmechanismus der charismatischen Autorität Homburgs und die Bedeutung des Wechselspiels zwischen dem Prinzen und dem Kurfürsten. Während Barkhoff die Machtposition des Kurfürsten (vgl. S. 261) überbewertet, unterschätzt Kleeberg diese. Vgl. ähnlich wie Barkhoff Weder (2008), die den Somnambulen als „Versuchsobjekt“ (S. 369) einem magnetischen Experiment ausgesetzt sieht. 1170 Schneider (2007) analysiert die das Stück rahmende ‚Traumhandlung‘ ebenfalls als Konstellation eines Spiels im Spiel, allerdings ohne Berücksichtigung der Spielzüge des Kurfürsten. Indem er die beiden Rahmenszenen als „spectacle originating in the protagonist’s mind“ (S. 246) sowie als „spectacle of the hero’s self-generated coronation and premature aspirations to supreme triumph and power“ (S. 246) liest, wird der Einfluss vernachlässigt, die jenes Spiel im Spiel für die politische Dynamik zwischen Homburg und dem Kurfürsten hat. 1171 So Riedl (2011), S. 365.
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ihm keineswegs in alteuropäisch-absolutistischer Façon performierten, souveränen Gesetzesmacht und Homburgs charismatischer Autorität nicht für sich zu entscheiden vermag; genauso wenig, wie der Prinz am Ende des Dramas – wenngleich begnadigt und schließlich sogar bekränzt – als triumphaler Heros dastehen würde. Im Gegenteil, fällt doch der frisch Begnadigte und Bekränzte wiederum am Fuße der Rampe und daher in frappierender Analogie zum Käthchen in Ohnmacht. Die in Kleists Schauspiel so eindrucksvoll inszenierte Konfrontation zwischen Herrscher und Held läuft, vorgreifend verkürzt, auf die analytische Pointe einer spannungsgeladenen und gleichfalls stets reziprok-dynamisch ausgehandelten Angewiesenheit von Souveränitätsprinzip und charismatischem Heldentum hinaus.1172 Dass ein derartiges Machtspiel nicht in das Gattungsmodell der Tragödie gefasst wird, demonstriert bereits Kleists Klassifikation des Stücks als „Schauspiel“ (PH, S. 555).1173 Eine Reihe von ebenso jüngeren wie älteren Forschungsbeiträgen hat die Gattungsfrage dieses letzten Kleist’schen Dramas mit dem Hinweis auf eine komödienhafte Transgression der tragischen Grundform beantwortet.1174 Meine Lektüre schließt daran an, diskutiert aber jenes Changieren zwischen den beiden dramatischen Subgenres im Hinblick auf das für den Text maßgebliche, politische Problem eines charismatischen Heroismus neu.
5.2 Souveräne Gnadenspiele? Prinz Friedrich von Homburg und Shakespeares Measure for Measure In ein komödienhaftes Spiel im Spiel wird insbesondere der Rahmen des Stücks, werden aber auch andere Dramenpassagen gefasst, die darauf angelegt sind, den fortlaufend heroisch attribuierten Protagonisten seiner tragischen Würde sowie
1172 Dass der Kurfürst und der Prinz im Machtspiel aufeinander angewiesen sind, bemerken auch Hinderer (1997), S. 155, und Horn (1992), S. 138. 1173 Schneider (2007) weist auf die Provenienz des Verfahrens aus der Komödie hin und vermerkt dessen verstärkten Gebrauch im bürgerlichen Trauerspiel sowie in der ab Mitte des 18. Jahrhunderts neu aufkommenden dramatischen Untergattung des Schauspiels, „the serious drama with a non-tragic ending“ (S. 237). 1174 Vgl. zuletzt Uhlig (2015), S. 273–280; Geisenhanslüke (2013), bes. S. 364–368; Zumbusch (2011), S. 288–289; Liewerscheidt (1990, 2010); Hinck (2008); Kaul (2008), bes. S. 200–201; Fischer-Lichte (2001b), S. 163. Vgl. Endres (1996), S. 131–145, der anhand eines aufschlussreichen Vergleichs des Schauspiels mit Schillers Wallenstein argumentiert und die komischen Implikaturen in Prinz Friedrich von Homburg allen voran in Form einer kritischen Replik auf Schillers Erhabenheitsdramaturgie umgesetzt sieht. Vgl. weiter Frye (1992); Horn (1992); Jacobs (1989), S. 115–137, 217–221; Swales (1982).
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seiner politischen Größe zu benehmen. Es legt einen spezifischen intertextuellen Hintergrund nahe, dass die als Initiator dieses Spiels, als dessen Regisseur sowie als Gegenspieler des Helden konturierte Figur ein Herrscher ist. Davon ausgehend lässt sich die politische Kontur der rahmenhaften Spiel im Spiel-Struktur in Prinz Friedrich von Homburg noch genauer bestimmen. In Rede steht Shakespeares Measure for Measure (1604) – ein Stück, das in der Shakespeare-Forschung als sogenanntes problem play gilt. Dieser gattungsdifferenzierende Terminus zielt u. a. darauf, den neben Measure for Measure auch Troilus and Cressida sowie All’s Well That Ends Well betreffenden, als formcharakteristisch aufgefassten Zusammenschluss von komödien- mit tragödienspezifischen Darstellungsverfahren oder Motivelementen auf einen klassifikatorischen Begriff zu bringen.1175 Shakespeares „Justizdrama“1176, das bisweilen „als schwarze Boulevardklamotte daherkommt“1177, weist augenfällige Parallelen zu Kleists Schauspiel auf: Ein junger Mann, in lebendiger Leidenschaft, vergeht sich gegen ein Gesetz, das, starr angewendet, ihn mit dem Tod bedroht. Alles lebendig Fühlende macht sich auf, der starren Satzung das ihr verfallene Leben abzukämpfen. Dabei ist die Gefahr hier wie dort gleich weit vorgeschritten. Der Schuldige in Gefangenschaft; das Urteil unterschrieben; am nächsten Tag soll es vollstreckt werden. Alle Gnadenversuche, die unternommen wurden, waren vergebens. Die letzte Möglichkeit der Rettung scheint, durch das Flehen eines liebenden Mädchens das Herz des Richters zu rühren. In ‚Maß für Maß‘ die Schwester des Verurteilten, im ‚Prinz von Homburg‘ die Braut versuchen dies Letzte.1178
Was dieser Vergleich indessen auslässt, weist zurück auf Kleists Eröffnungsszene: Beide Stücke porträtieren einen Souverän, der keinesfalls bloße Gesetzesmacht exerziert, sondern der seine fragile herrscherliche Gewalt erprobt, indem er ein Spiel um das Gesetz initiiert und selbst vollführt. Bei Shakespeare findet sich diese Konstellation wie folgt dramatisiert: Unter dem Vorwand, ihn würden dringliche Geschäfte zum Aufbruch aus Wien nötigen (vgl. MfM, I,1, Z. 50–55), überträgt Herzog Vincentio die kommissarische Herrschaft über die Stadt (vgl. MfM, I,1, Z. 42–47), den ganzen Spielraum der Gesetzesmacht (MfM, 1,1, Z. 64–66) über die beklagtermaßen wenig gesetzestreuen Bewohner1179, dem für seine Strenge 1175 Vgl. Günther (2000a), S. 220, (2000b), S. 247. 1176 Günther (2000a), S. 220. 1177 Günther (2000a), S. 220. 1178 Vor immerhin 97 Jahren stellt Hellmann (1923) erstmals diese Übereinstimmungen beider Stücke auf der Ebene des dramatischen plots heraus (vgl. S. 290). Vgl. mit Bezug auf Hellmann Corssen (1930), S. 37–40. Vgl. für die aktuellere Forschung Kaul (2008), S. 131–170, 171–201. 1179 „And Liberty plucks Justice by the nose“ (MfM, 1,3, Z. 29) – In diese Personifikation fasst der Herzog seine Diagnose des Rechtsverfalls in der Stadt.
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bekannten Statthalter Angelo (vgl. MfM, I,3, Z. 50–51). Verbunden ist damit einerseits das Eingeständnis des Herrschers, in der Vergangenheit selbst eine bestenfalls laxe Gesetzespraxis gepflegt zu haben (vgl. MfM, I,3, Z. 19–31, 34–35), und andererseits die Hoffnung, der berüchtigte Lord Angelo könne in seinem Namen ‚zurückschlagen‘1180 und dem Recht wieder zur Durchsetzung verhelfen. Der Herzog fürchtet, sich den Ruf des unberechenbaren Tyrannen einzuhandeln, würde er urplötzlich selbst einen strikten Gesetzesrigorismus praktizieren (vgl. MfM, I,3, Z. 36–39). Doch Vincentio hat noch mehr im Sinn: Die Einsetzung Angelos zielt darauf, den dem Gerüchte nach über die Maßen rechtstreuen Lord zu testen; insbesondere geht es darum, die sinnliche Verführbarkeit des als ‚blutleer‘ geltenden Angelo auf den Prüfstand einer erweiterten Machtbefugnis zu stellen (vgl. MfM, I,3, Z. 50–54). Um diesem von ihm selbst angestoßenen Spiel der Macht ungestört und insgeheim zuschauen zu können, kehrt der Herzog in der Verkleidung eines Mönches in die Stadt zurück (vgl. MfM, I,3, Z. 43–48). Schon bald muss er erleben, wie rasch und kompromisslos sein Stellvertreter in Rechtsdingen verfährt: Angelo verurteilt den jungen Claudio zur Todesstrafe, weil dieser mit der nunmehr schwangeren Julia zwar nach der Verlobung, gleichwohl vor der Ehe geschlafen hat (vgl. MfM, I,2, Z. 141–167). Shakespeares stellvertretender Herrscher macht sich allerdings eines ähnlichen ‚Verbrechens‘ schuldig, wenn er seine Gnade an die Bedingung knüpft, dass die als Bittstellerin ihres Bruders Claudio auftretende Isabella eine Nacht mit ihm verbringt. Schon diese Skizze des Handlungsverlaufs zeigt, dass Maß für Maß als intertextuelle Folie für Prinz Friedrich von Homburg lesbar ist, wenngleich bei allen Gemeinsamkeiten vor allem diejenigen Aspekte zentral sind, in denen Kleists Stück divergiert. Der offensichtlichste Unterschied besteht zweifellos in der Art der jeweils geschilderten Vergehen: Während Claudios Verfehlung den Bereich des Sittlich-Privaten betrifft, ist Homburgs militärischer Befehlsbruch und die daraufhin einsetzende Heroisierung des Delinquenten ein öffentliches Problem, das für die politische Dynamik des Stücks hochbrisant ist. Aus genau diesem Grund ist ein Vergleich etwa von Shakespeares Bittszene, in der die Gnade vom Statthalter unter die Bedingung eines unmoralischen Angebots an die Schwester des Verurteilten gestellt wird (vgl. MfM, II,2), mit Natalies Gnadengesuch beim kurfürstlichen Onkel (vgl. PH, IV,1) wenig erhellend, wird doch letzterer eine ganz anders gelagerte, und zwar in Homburgs Richtung zielende, Kondition formulieren. Für die hier vorgeschlagene Perspektive auf Kleists Stück ist es geradewegs zentral, dass dieses die Möglichkeit der Gnade für einen politischen Gefangenen
1180 „I have on Angelo impos’d the office;/ Who may in th’ambush of my name strike home“ (MfM, 1,3, Z. 40–41).
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diskutiert, und mehr noch: für einen besonderen Untertanen. Ebenso wenig erschließt sich die berühmte ‚Todesfurchtszene‘ in Prinz Friedrich von Homburg (vgl. PH, III,5) ohne ihren Bezug zum Thema des politischen Heldentums und ist daher nur bedingt mit Shakespeares Kerkerszene (vgl. MfM, III,1) zu parallelisieren, in der eine auf den Bereich des Familiär-Privaten beschränkte, brüchige männliche Ehre problematisiert wird.1181 Meine Lektüre visiert daher keinen Detailvergleich beider Texte an. Allerdings lässt sich der spezifische Zuschnitt der Spiel im Spiel-Struktur, durch die sich Measure for Measure auszeichnet, für eine neue interpretatorische Perspektive auf Kleists Drama produktiv machen: Bei Shakespeare wie bei Kleist verschafft sich die fundamentale politische Problemstellung ihren dramaturgischen Ausdruck im von einem Herrscher angestoßenen Spiel im Spiel: Beide, Herzog Vincentio und Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, eröffnen jeweils auf ihre Weise eine Ebene des Spiels, anstatt ihre Macht schlicht auszuüben.1182 Dies darf jedoch nicht mit einer jovialen Herrscherpose verwechselt werden, textuell eingesetzt als bloßes dramaturgisches Stimulationsprinzip, um am Ende doch die fulminante souveräne Dezision obsiegen zu lassen. Vielmehr löst sich die vermeintlich überlegene Observationshaltung, die der Kurfürst im einleitenden ‚Traumspiel‘ einnimmt und in der sich Herzog Vincentio unter seiner Mönchskutte wähnt, nur allzu rasch auf. Was Tetzeli von Rosador für den Herzog feststellt, lässt sich durchaus auch über den Kurfürsten sagen: Shakespeares Fürst […] wird zum Mitspieler und Regisseur. Dies hat weitreichende Folgen für die Bewertung der Figur und wofür sie steht, besser: spielt – die Vorstellung von Herrschaft. Und es hat weitreichende Folgen für die Szene, auf der sie spielt, für Bühne und Stück. […] Als Mitspieler kann der Herzog nicht in der Rolle verharren, die er sich als ideal auf den Leib geschrieben hat, die des unsichtbaren ‚looker-on‘ […]. Der Herzog wird nicht nur in Händel und Handlung verstrickt, er wird dem dialogischen Prinzip des Dramas unterworfen, das vielen Figuren Raum und Sprache gibt, unterschiedlich viel Raum und Sprache gewiß, aber eben nicht nur einer und deren Skript.1183
Beide Herrscher betreten somit peu à peu den von ihnen selbst kreierten Spielraum, den sie zu beherrschen glauben und ihren Untertanen temporär in der Absicht gewähren, der souveränen Gesetzesmacht dadurch umso triumphaler wieder Geltung zu verschaffen. Vincentio und Friedrich Wilhelm haben indessen die Rechnung ohne ihre Mitspieler gemacht: Während ersterer allen
1181 Vgl. dazu auch Hellmann (1923), S. 292–293. 1182 In diesem Sinne bezeichnet Zumbusch (2011) Kleists Stück als „Drama einer ‚erschwerten‘ Todesstrafe“ (S. 272). So auch Foi (2013) zu den Hindernissen der Begnadigung (vgl. S. 41). 1183 Tetzeli von Rosador (2000), S. 307.
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voran mit der infamen Stimme des ‚Pöbels‘ konfrontiert wird,1184 handelt sich letzterer aufgrund des Homburg’schen Charismas, das eine ganze politische Anhängerschaft auf den Plan ruft, ein ungleich größeres Problem ein. Der den Dramen gemeinsame analytische Zug liegt, so lässt sich resümieren, im spielerisch verfremdeten Vorführen einer Fragilität des herrscherlichen Absolutheitsanspruches. Allerdings besteht ein maßgeblicher Unterschied darin, wie und d. h. insbesondere mit welcher ‚Machtfülle‘ ausgestattet beide Herrscher am Ende jenes Spiels abtreten. Shakespeares Herzog beschließt das Stück als unbestreitbar souveräner Spieler, was sich wesentlich in seiner unangetasteten Fähigkeit manifestiert, Gnade walten zu lassen. Vincentio lässt sogar in zwei Fällen Gnade vor Recht ergehen, einerseits gegenüber dem triebgesteuerten Statthalter und andererseits gegenüber dem Herrscher-Lästerer Lucio. Dass es sich dabei um veritable Gnadenakte handelt, in denen der Herzog seine Macht effektiv restituiert, demonstriert der Umstand, dass diese jeweils an eine offensichtlich punitive Bedingung geknüpft sind: Beide Missetäter werden nur unter der Prämisse begnadigt, dass sie je eine in zweifelhaftem Ruf stehende Frau heiraten müssen (vgl. MfM, V,1). Darin liegt natürlich auch ein unverkennbar komödienhafter Impetus, der insbesondere am Beispiel Lucios hervortritt, hat dieser doch die Ringe mit einer von ihm einstmals geschwängerten Prostituierten zu tauschen (vgl. MfM, V,1., Z. 505–521).1185 Während Shakespeare also seinen Herzog in der Rolle des Souveräns letztlich triumphieren lässt, wenngleich er dessen multiplizierte und zu Strafmaßnahmen gewendete Gnadenakte in ein merklich komisches Licht taucht, wird Kleists Kurfürst am Ende als Herrscher präsentiert, dessen Gnadenakt nicht im eigentlichen Sinne Ernst mit den Untertanen macht, sondern vielmehr den ‚Ernst‘ seiner prekären politischen Lage abbildet.1186 So endet Prinz Friedrich von Homburg keinesfalls mit einem machtvollen Gnadenakt des Herrschers, wie es in Measure for Measure geschieht. Anders als Shakespeare, in dessen Stück sich die Gnade innerhalb der vom Herrscher kontrollierten Grenzen eines komödienhaften Spiels im Spiel bewegt, löst Kleists Rahmen diese Struktur auf, indem er Traum (Spielebene eins) und politische ‚Realität‘ (Spielebene zwei) ununterscheidbar miteinander verschränkt. Das Schauspiel präsentiert den Verlauf des Machtspiels als eine bis hin zur Ununterscheidbarkeit getriebene Verknüpfungsdynamik von ‚Spiel‘ und ‚Ernst‘. Friedrich Wilhelm fällt, im Unterschied zu Vincentio, 1184 Vgl. Tetzeli von Rosador (2000), S. 294–296, 300–303. 1185 Angelo wird zur Ehe mit Mariana genötigt (vgl. MfM, V,1, Z. 372–377), die er vor Jahren wegen mangelnder Mitgift verlassen hat. 1186 Vgl. Kaul (2008), S. 175.
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dem Spiel anheim, das er, die rationalen Machtmittel – allen voran das Gesetzesbuch – in der sicheren Hinterhand wähnend, in letzter Instanz nicht mehr zu kontrollieren vermag. Die Funktion des Spiel im Spiel-Verfahrens erschöpft sich demzufolge bei Kleist nicht im metadramatischen Fingerzeig auf eine selbstreflexive Dramenform, die, so ließe sich argumentieren, den Schau- bzw. Spielcharakter politischer Macht entlarven würde.1187 Bemerkenswert komplizierter zeigt der Text, wie das heroische Traumspiel in einer über spezifische Figureninteraktionen modellierten Eigendynamik Schritt für Schritt in die politische ‚Realität‘, d. h. auf die zweite Spielebene übertritt und dort politische Energien freisetzt. Der Traum vom Heroismus, den der Kurfürst anfangs noch für das Hirngespinst eines größenwahnsinnigen Generals halten mag und daher einer nicht ernst zu nehmenden, politisch einflusslosen Sphäre des ‚Nichtig‘-Irrealen zuordnet, wird für die – vordergründig davon abgegrenzte – Handlungsebene der konkreten Machtausübung qua Gesetz, und insbesondere im Gnadenspiel um Leben oder Tod, schließlich zentral. Für meine in diesem Teilkapitel vorgreifend in ihrer Gesamtdirektion skizzierten Lesart ist es entscheidend, dass Homburg vom ersten Auftritt des Dramas an als potentieller Held gehandelt wird. Dies steht nur auf den ersten Blick im Widerspruch zu Homburgs Auftritt als somnambuler Träumer, mit dem sich der Souverän einen Scherz erlauben zu können meint. Die Eingangssequenz zeigt den Prinzen zunächst als einen Krieger, der sich in einem entrückten Geisteszustand befindet. Indem Homburg aber in ein Spiel mit heroisch aufgeladenen Requisiten verstrickt wird, und indem zu keinem Zeitpunkt die Fremdperspektive auf ihn aufgebrochen wird, eröffnet der Text das Heroismussujet – und zwar schon an dieser Stelle – in reflexiver Manier: Wenn Homburg hier weder aufgrund einer bestimmten Tat noch aufgrund eines ihm eigenen, hochtrabenden Bewusstseins als Held vorgestellt wird, jedoch als Figur in Erscheinung tritt, der ein Heroisierungspotential eignet, sagt dies etwas über die Funktionsweise politischer Held-Werdung aus. Ausgerechnet ein sinnverwirrter, tatenloser Träumer wird in Prinz Friedrich von Homburg von der militärischen Gemeinschaft zum Helden auserkoren. Das Figurenprofil des Somnambulen steht somit im Dienste einer Analytik, die den zutiefst irrationalen und imaginativen Grundzug politischer Heroisierungsprozesse verzeichnet.1188 Darüber hinaus setzt gerade die 1187 So der interpretatorische Befund von Tetzeli von Rosador (2000) im Hinblick auf Measure for Measure (vgl. S. 308). 1188 Vgl. dagegen Barkhoff (1995), der den Somnambulismus des Protagonisten nicht mit dessen Heldenrolle zusammendenkt, sondern sich einzig auf die Beziehung zwischen Homburg und dem Kurfürsten konzentriert und letzteren als „übermächtige Figur“ (S. 261), als „Magnetiseur“ (S. 260) versteht (vgl. insgesamt 259–265).
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Traum-Rahmung die von jenem heroischen Imaginären ausgehenden, konkreten Machteffekte ins Bild. Auch der übrige Verlauf des Textes, vor allem die immer weiter fortschreitende Solidarisierung der Offiziere mit dem Verurteilten, zeigt eindrücklich, dass der Brandenburgische Souverän ein Problem ernst zu nehmen gezwungen wird, dessen Kern sicher nicht in einem egozentrischen Ruhmesbegehren seines Reitereigenerals besteht. Die eigentliche Herausforderung für den Kurfürsten besteht somit auch nicht darin, die allseits unstrittig als illegal aufgefasste Tat des Prinzen zu ahnden, sondern die Oberhand über die zur Agitation drängende politische Vorstellungs- und Gefühlswelt zu behalten, in deren Deutungszentrum Homburgs Befehlsbruch steht. Die nachstehend entwickelte Analyse konzentiert sich dementsprechend auf das schon vor der Tat kursierende und nach der Tat Blüten treibende Heldenimage, das die militärische Führungsriege an Rebellion denken lässt, d. h. auf die Heldenträume der politischen Gemeinschaft. Das Spiel im Spiel ist dasjenige dramenpoetische Verfahren, mittels dessen die bis zur Indifferenz getriebene Verwobenheit von politischem Imaginären und dessen ‚realpolitischen‘ Folgen ausgestellt wird.1189 Der hier zum Zwecke der Probleminauguration angestellte Vergleich zur Spiel im Spiel-Konstellation in Shakespeares Measure for Measure kann einen vorgreifenden Hinweis auf die politische Pointe des Kleist’schen Gnadenspiels geben. In Prinz Friedrich von Homburg nämlich verteilt sich jene genuine Herrscherkompetenz auf zwei Protagonisten: Sowohl der Kurfürst als auch die preußische Heeresgemeinschaft fungieren als Gnadengeber. Wird Friedrich Wilhelms Gnadenerweis als Notmaßnahme dargestellt, die darauf zielt, der politischen Lage noch ansatzweise Herr werden zu können, so setzt Kleist demgegenüber die zweite, die gefühlsbestimmte Gnadengabe durch die militärische Menge als ausschlaggebenden Machtfaktor in Szene. Anders als bei Shakespeare tritt dergestalt eine dritte politische Kraft auf den Plan. Lässt sich das politische Konfliktpotential des Kleist’schen Schauspiels in ihren Differenzen zu Measure for Measure einführend aufschlüsseln, so sei an dieser Stelle zudem skizziert, wie Kleist den weiteren Verlauf seiner zwischen Ernst und Spiel changierenden Konfrontation von Souverän und Held in Szene setzt. Homburgs direkter Aktionsradius kann schon früh als begrenzt gelten, wird er doch bereits am Schluss des zweiten Aktes aufgrund des Befehlsbruchs gefangen gesetzt. Der Prinz befindet sich ab diesem Zeitpunkt in den Händen der Justiz
1189 Vgl. Kaul (2008), die allerdings nicht auf die Funktionen des Spiel im Spiel-Verfahrens für das politische Sujet abhebt, sondern darin allen voran „die Selbstreferentialität des Dichterischen zugleich potenziert und ironisiert“ (S. 196) sieht.
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und in den Händen desjenigen, der qua herrscherlichen Gnadenrechts über die Möglichkeit verfügt, das gerichtlich bestimmte Todesurteil auszusetzen. Ganz der seiner Lage geschuldeten Passivität gemäß tritt der Prinz denn auch nicht mit dem Kurfürsten selbst in Kontakt, sondern schaltet zwei Mediatorinnen, die Kurfürstin und Natalie, ein, um bei Friedrich Wilhelm um Gnade zu bitten. In der daran anschließenden Bittszene zwischen dem Kurfürsten und seiner Nichte liegt meines Erachtens ein Schlüssel zum Verständnis der Auseinandersetzung zwischen Held und Herrscher. Dem Kurfürsten, von Natalie in Kenntnis darüber gesetzt, dass Homburg verzweifelt am eigenen Leben hängt, kommt genau diese wenig mannhafte, ja unheroische Reaktion des Prinzen gerade recht. Denn die größte Gefahr für den Kurfürsten liegt darin, wie der Prinz auf das übrige dramatische Ensemble wirkt, er fürchtet mehr und mehr die mit der Eröffnungssequenz ins Spiel gebrachte ‚Heldenaura‘ Homburgs. Somit hat der Herrscher es, wie schon angedeutet, nicht mit einem ordinären Untertanen zu tun, sondern mit einem, der als Held gilt und den zu schlagen es daher anderer Machtmechanismen bedarf als eines bedingungslosen Gnadenaktes oder einer strikten Exekution des Gesetzes. Ich möchte argumentieren, dass der Kurfürst genau dieses Problem in der Bittszene registriert; es verfestigt sich in denjenigen Auftritten, welche das Gnadengesuch der Offiziere schildern. Denn Homburgs Rechtsbruch wird von der gesamten militärischen Führungsriege, letztlich vom gesamten Hof und dem Prinzen selbst, als verzeihliches Kavaliersdelikt eines ungestümen, jungen Helden aufgefasst; ein Gnadenakt des Herrschers wird dementsprechend von allen erwartet. Diese Solidarität freilich muss einen Herrscher, der als aufgeklärter Machthaber posiert, indem er sich der juridischen Entscheidungsgewalt unterordnet (vgl. PH, V. 1115–1117), beunruhigen, ja an der Effektivität seines Regimes zweifeln lassen. Dass Friedrich Wilhelms Sorge alle Berechtigung hat, zeigt sich, wenn nach und nach immer mehr Fürsprecher Homburgs vortreten und sogar eine Rebellion der Heeresleitung ins Haus steht, sollte die Begnadigung ausbleiben. Die Herausforderung für Friedrich Wilhelm besteht somit vor allem darin, dass es nicht genügt, Homburg nach seinem legendären Befehlsbruch im Kerker ‚festzusetzen‘ und durch das Todesurteil zu ‚entsetzen‘. Das gelingt ihm sogar: Der Prinz zeigt sich hier gänzlich von würdeloser, unheroischer Todesfurcht ergriffen. Von einem solchen Verfall des Charismas in Kenntnis gesetzt, sieht der Souverän die Gelegenheit, Homburg an die juridische Ordnung zurückzubinden, indem er ihm die ‚freie‘ Zustimmung zum eigenen Todesurteil abringt.1190 In der Forschung
1190 Zumbusch (2011) beschreibt diesen Zusammenhang vor dem Hintergrund von Foucaults Arbeiten zu den antiken Selbsttechniken: Sie argumentiert, dass Kleists Stück den Zusammen-
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ist dies weitestgehend übereinstimmend als erfolgreiche pädagogische Maßnahme des Kurfürsten gedeutet worden, die den Prinzen in die rückhaltlose Subordination zurückzwingt. Aus meiner Sicht aber ist das Problem für den Kurfürsten damit nicht gelöst: Er kann Homburg zwar dadurch, dass er ihm die Entscheidung über den eigenen Fall überantwortet, als einsichtigen, zur Gesetzestreue zurückgekehrten Untertanen vorführen; in diesem Zuge implodiert zweifelsfrei die Handlungsmacht des Prinzen, nicht aber sein Charisma. So zeigt der fünfte Akt, wie sich Homburgs Heldenruhm ganz ohne dessen Zutun verselbstständigt. Die drohende Rebellion der Heeresführung ist ein beredtes Beispiel dafür, dass jenes heroische Charisma die Kerkermauern mühelos zu überspringen, ja sich von seinem Träger loslöst und – für den Herrscher umso bedrohlicher – andere politisch zu affizieren vermag. Friedrich Wilhelm muss immer deutlicher werden, dass der von ihm durchaus mit Raffinement praktizierte legalistische Regierungsstil versagt bzw. dass dieser keinen auch nur ansatzweise so starken unifikatorischen Effekt hervorruft, wie er im Zuge von Homburgs Heroisierung entsteht. Was bleibt schließlich einem Herrscher, der sich nicht als absolutistischer Gottgesandter zeigt, sondern der sich selbst und seinen Staat an das Gesetz bindet, zu tun im Machtkampf mit einem, dem das Heer sein Herz geschenkt hat? Er zeigt seinerseits Herz, wenn er das Recht temporär suspendiert und Gnade walten lässt. Der für alle überraschend erfolgende Gnadenakt erweist sich, so meine Überlegung, aber nicht als ein raffinierter coup, den sich der Kurfürst bis zum Schluss aufspart, sondern als späte Einsicht in den emotionalen Charakter politischer Herrschaft: die Gnade des Souveräns als letztes verbleibendes Machtmittel in der Auseinandersetzung mit einem ‚Begnadeten‘. Im gnädigen Zerrreißen des Todesurteils (vgl. PH, S. 642) kann der Souverän Gefühle zeigen und so einen Modus der politischen Adressierung ausagieren, der sich Homburgs heroischer agency strukturell annähert. Allgemeiner gesprochen kreist Kleists Heldenstück somit um den intrikaten Zusammenhang von Affektivität und Herrschaft, wobei es wesentlich deutlicher als die hier betrachtete Frühdramatik Goethes und Schillers einen Problemhorizont der beginnenden politischen Moderne eröffnet.1191 So hat die Forschung
hang von Herrschaft und Selbstbeherrschung in Szene setzt und charakterisiert Homburgs Unterwerfung unter das Gesetz als Form „affektökonomische[r] Selbstregulierung“ (S. 285), „die der biopolitischen Verwaltung des Lebens in die Hände spiel[t]“ (S. 284). 1191 Anschlussfähig ist diese Lesart an Schneiders (2011) Analyse. Für Schneider nämlich schließt das Stück an das bei Goethe und Schiller vorgeprägte dramatische Gattungsprofil an, das die „psychologische Familiendramaturgie“ (S. 114) des bürgerlichen Trauerspiels mit „großen historischen Staatshandlungen“ (S. 114) konfrontativ verbinde. Kleists gesamte Dramatik modelliere dieses Problem als „Gegen- und Ineinander von genealogisch-dynastischen und
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herausgestellt, dass das Schauspiel, indem es den „Konflikt zwischem dem mechanischen Buchstaben des Kriegsgesetzes und der Order des Herzens“1192 in Szene setzt, die Staatsdiskurse der Politischen Romantik und nicht zuletzt das Konzept einer bei Autoren wie Adam Müller, Friedrich Schleiermacher sowie Novalis projektierten, organischen Gemeinschaft verhandelt.1193 Homburg ist allerdings mehr als nur ein ‚exemplarischer Vertreter‘, ein Herzensmensch, der das Kernprinzip eines solchen Gefühlskollektivs vorbildlich ausagieren würde. Vielmehr hebt der Text darauf ab, welche Funktion die Figur Homburg für die Gemeinschaftskonstitution hat. Die Genese des militärischen Herzensbundes wird in Kleists analytisch angelegtem Dramenarrangement in einen direkten Zusammenhang mit der kollektiven Heroisierung Homburgs gestellt. Meine im Folgenden entwickelte Argumentation trifft keine Aussage dahingehend, ob Kleist in diesem Zuge eine auf der romantischen Verkörperungslogik fußende, antimechanizistische politische Programmatik formuliert bzw. gutheißt. Ebenfalls nicht entscheiden möchten die nachstehenden Darlegungen die damit zusammenhängende und immer wieder an den Text herangetragene Frage, ob und inwiefern hier ein im Kontext der Napoleonischen Kriege bzw. der Befreiungskriege zu sehendes Tendenz- bzw. Propagandastück vorliege.1194 Dem Text familiär-intimen Verhältnissen“ (S. 116), wobei es einzig in Prinz Friedrich von Homburg „zur expliziten Darstellung eines neuen Staatsverständnisses im Sinne einer familiären Kollektivgemeinschaft“ (S. 116) komme. Nicht ausreichend berücksichtigt Schneider jedoch, dass Kleist die sich auf einer emotionalen Ebene zusammenschließende, patriotische Militärgemeinschaft im Schatten einer Heldenfigur entstehen lässt und dass der Herrscher diesen Prozess in seiner politischen Effektivität unterschätzt (vgl. S. 117, 120–122). Auch Pan (2011) führt seinen Hinweis nicht umfassend aus, dass Kleists Schauspiel „charismatic relationships“ (S. 109) fokussiere. 1192 Hinderer (1997), S. 148. Vgl. aus militärhistorischer Perspektive Kittler (1987), bes. S. 283. 1193 Vgl. Schneider (2011), S. 116–117; Deißner (2009), S. 112–118; Hamacher (2009), S. 82; Hinderer (1997), S. 145–148, 182; Kittler (1994), S. 63–65; vgl. am ausführlichsten Peter (1992), bes. S. 110–118; Kittler (1987), S. 264. 1194 Es erscheint fragwürdig, dass Schmidt (32011) noch vor jeder Textanalyse ausführt, das Stück sei entstanden „aus dem patriotischen Impuls, der sein [Kleists] Schaffen nach der existenzbedrohenden Niederlage Preußens im Jahre 1806 bestimmte, in einer Zeit, die zugleich der psychologischen und politischen Vorbereitung des Freiheitskampfes diente“ (S. 154). So auch Peter (1992), S. 119–120. Vgl. Kittler (1994) für eine Lesart als Propagandastück vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Militärtheorie und preußischen Reformpolitik. Vgl. Wilhelm (1994), S. 88–91, 104–105; Kittler (1987), S. 256–290. Vgl. für eine Überblicksdarstellung der an einer polit-historischen Verortung des Stücks arbeitenden Forschungsbeiträge: Liewerscheidt (2010), S. 179–182. Vgl. kritisch zu diesen Positionen Härle (1997): „Ins Hintertreffen gerät bei diesem Typ von Lektüre freilich die Singularität des Texts: einerseits wird der Homburg mit der Hermannsschlacht auf eine und dieselbe Ebene gestellt, andererseits wird der Gattungsunterschied zwischen literarischer Fiktion und politischer Publizistik (Kleists Streitschriften von 1808–1809) vernachlässigt.“ (S. 236).
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und allen voran dem Dramenschluss1195 ist meines Erachtens nicht zu entnehmen, ob hier einer patriotischen Erhebung gegen Napoleon das Wort geredet wird oder ob diese kritisch in Augenschein genommen wird.1196 Stattdessen kommt es mir darauf an zu zeigen, dass Kleists Offiziersgemeinschaft nicht entsteht, weil sich alle schließlich in vaterländischer Liebe vereinen würden, sondern weil alle einen lieben – ohne dass dieser eine im strengen Sinne beherzt zugunsten des Vaterlandes handeln würde. Eine konzise Analytik des Zusammenhangs zwischen Heroisierung und vaterländischer Gemeinschaftskonstitution gestaltet der Text also ganz sicher.1197 Meine Überlegungen zum Zusammenhang von Affektivität und Politik in Prinz Friedrich von Homburg fokussieren demzufolge über die romantischen Staatsdiskurse hinaus die gefühlsgrundierte, gemeinschaftsstiftende Funktion politischer Heroisierungsprozesse.
5.3 Homburgs Befehlsbruch als Heldentat? Das Problem, das Kleists Kurfürst mit seinem Prinzen hat, tritt pointiert am Beginn des fünften Aktes hervor.1198 Hier wird überdeutlich, dass sich die politische Brisanz der causa ‚Homburg‘ kaum nur aus dem Verhalten des Prinzen ergibt,1199 sondern aus der rückhaltslos artikulierten Solidarität der Offiziere, die sogar bereit sind, für den Prinzen zu den Waffen zu greifen (vgl. PH, V. 1443– 1447). Dass die drohende „Rebellion“ (PH, V. 1428) einen die Macht des Souveräns unterminierenden Akt äußerster Parteinahme darstellt, verdichtet sich in folgendem, eindringlichen Rat, den der Feldmarschall Dörfling dem angesichts der Nachricht sichtbar ‚verfinsterten‘ (vgl. PH, S. 627) Herrscher erteilt:
1195 Eine interpretatorische Ambivalenz des Schlusses konstatieren Hamacher (2009), S. 85 und Fischer-Lichte (2001b), S. 161–163. 1196 Für instruktiv halte ich Harnischfegers (1989) Beschreibung der politischen Direktion des Stücks, wenn man ‚Motivation‘ durch ‚Figuration‘ ersetzt: „Forscht man den Motiven des Helden nach, so stößt man auf jene idealistischen oder patriotischen Gesinnungen, die zur Zeit der Befreiungskriege weit verbreitet waren. Die Figuren des Dramas berufen sich auf ihr Verständnis von Pflicht und Gehorsam, aber auch auf […] die Liebe zum Vaterland. Soll man aber aus solchen Bekenntnissen folgern, daß Kleist die vaterländischen Illusionen seiner Mitbürger geteilt hat? Oder liegt die Bedeutung des Dramas nicht eher darin, daß es den Patriotismus jener Zeit reflektiert und seine Motive offenlegt?“ (S. 245). 1197 Vgl. so ansatzweise Schneider (2011), S. 116–117. 1198 Vgl. auch meine frühere Diskussion der Szene zu Beginn des Kapitels II.3.1. 1199 Der Prinz hat kurz zuvor sein eigenes Todesurteil abgesegnet und dem Kurfürsten damit in der Sache Recht gegeben (vgl. PH, IV,4).
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Herr, ich beschwöre dich, wenn’s überall Dein Wille ist, den Prinzen zu begnadigen: Tu’s, eh ein höchstverhaßter Schritt geschehn! Jedwedes Heer liebt, weißt du, seinen Helden; Laß diesen Funken nicht, der es durchglüht, Ein heillos fressend Feuer um sich greifen. (PH, V. 1457–1462)
Der Ausspruch ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zunächst weist Dörfling den Kurfürsten explizit darauf hin, dass der Prinz im Heer als Held gilt. Daraus ergibt sich für den Machthaber eine besondere Bedrohungssituation, denn der inhaftierte Delinquent kommt, wenn man so will, nicht allein; eine ganze Anhängerschaft, darunter die Hochrangigen des Heeres, ist auf seiner Seite und scheut sich offenbar nicht, ‚ihrem‘ Helden beizuspringen. Der Feldmarschall präsentiert Friedrich Wilhelm überdies eine MiniaturAnalyse charismatischer Autorität, wenn er die Verbundenheit des Heeres im Terminus der ‚Liebe‘ spezifiziert. Den Helden und seine Parteigänger verbinde ein intensives, affektives Band.1200 Und mehr noch fasst Dörfling die von Homburg für den Brandenburger ausgehende Gefahr in das Bild der potentiellen ‚Brandstiftung‘: Noch könne der sich auf Homburg kaprizierende, sympathetische Zusammenhalt wie ein bloßer ‚Funke‘ im Keim erstickt werden, wobei sich jedoch bereits das gesamte Heer ‚erhitzt‘ zeige. Die ‚Glut‘ müsse umgehend ‚gelöscht‘ werden, dazu rät der Feldmarschall seinem Herrscher, will dieser einem politischen ‚Großbrand‘ vorbeugen. Das von Dörfling bemühte, semantische Repertoire von Feuer, Ansteckung und Zerstörung setzt somit in aller Drastik eine vom Charismatiker ausgehende Affizierung ins Bild. Es handelt sich um eine politische Prognose, die antizipiert, dass sich Homburgs Rechtsbruch gewissermaßen fortsetzen könnte, indem sich das Heer für ihn, um ihn herum zur rebellischen Einheit zusammenschließt. Die Passage demonstriert nachdrücklich, dass die Schwierigkeit für Friedrich Wilhelm von Brandenburg nicht darin besteht, gemäß der ihm zur Verfügung stehenden juridischen Maßnahmen mit Homburgs Befehlsbruch umzugehen. Der Fall birgt vielmehr eine massive politische Sprengkraft, die aus dem Heldenstatus resultiert, den man dem Prinzen offenbar kollektiv zuweist. Allein verwischt Kleists Text den Grund für eine solche Heroisierung auf bemerkenswerte Weise. Zentral ist in diesem Zusammenhang, dass Dörflings an den Kurfürsten gerichtetes Mahnwort „Jedwedes Heer liebt, weißt du, seinen Helden“ (PH, V. 1460) in frappierendem Kontrast dazu steht, wie die Militärs, die Homburgs
1200 Vgl. zur affektiven Grundierung charismatischer Autorität Horn (2011a), S. 2, im Rekurs auf Weber.
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Entschluss und Aufruf zum vorzeitigen Eingriff in die Schlacht bezeugen, jene im Nachgang als Heldentat kursierende Kriegsepisode bewerten. In der entsprechenden Szene nämlich liest man weder von einem Heldentum Homburgs noch von einem affektivem Zuspruch zu seinem Plan. Im Gegenteil teilen alle Versammelten die Einschätzung, es handele sich um eine übereilte, unbedachte und eigensinnige Aktion des Prinzen. Hier kann von einem durch Homburg entzündeten Feuer keine Rede sein, auch wenn dieser darauf aus zu sein scheint, seine Reiterei ‚mitzureißen‘,1201 nachdem man aus der Ferne einen triumphalen Schlag der Infanterie gegen die Schweden beobachtet hat (vgl. PH, V. 429–467). Homburgs affektgesteuerter Handlungseifer wirkt dabei schrankenlos: DER PRINZ VON HOMBURG steigt vom Hügel herab: Auf, Kottwitz, folg’ mir! OBRIST KOTTWITZ Ruhig, ruhig, Kinder! DER PRINZ VON HOMBURG Auf, Laß Fanfare blasen! Folge mir! OBRIST KOTTWITZ Ich sage, ruhig. DER PRINZ VON HOMBURG wild: Himmel, Erd’ und Hölle! (PH, V. 468–470)
Doch niemand der Umstehenden zeigt sich davon unmittelbar affiziert, vielmehr verweist Kottwitz auf die kurfürstliche „Ordre“ (PH, V. 472) und regt – ganz buchstabentreu – sogar eine Relektüre des Schlachtbefehls an (vgl. PH, V. 473), der einen Aufbruch der Reiterei nur nach ausdrücklicher Aufforderung dazu vorsieht.1202 Es folgt Homburgs fassungslose Reaktion auf einen derartigen
1201 Vgl. zur Inszenierung von Geschwindigkeit in dieser Szene Uhlig (2015), S. 290–291. 1202 In diesem scheinbaren Detail ist ein Rückbezug auf die ‚Diktierszene‘ (I,5) zu sehen: Während die versammelte militärische Führungsriege vom Kurfürsten aufgefordert wird, seinen Schlachtplan zu notieren (vgl. PH, V. 229–230), glänzt Homburg durch geistige Abwesenheit. Den Marschbefehl hat er, Kleist verwendet erhebliche Mühen, dies deutlich zu machen, allenfalls vage vernommen. So unterbricht der Prinz immer wieder die Mitschrift (vgl. PH, S. 571, 572) und hat nur Augen für Prinzessin Natalie (vgl. PH, S. 569). Vom diktierenden Feldmarschall Dörfling und vom Grafen Hohenzollern wird er zweimal zur Aufmerksamkeit aufgefordert (vgl. PH, V. 270–272, 299–300, S. 572) und sogar nach seinem ‚Aufenthaltsort‘ gefragt („Wo ist der Prinz von Homburg?“ (PH, V. 271)), wenngleich er sich inmitten der Runde befindet. Mehr noch wird betont, dass der Rittmeister von der Golz anstelle Homburgs derjenige ist, der den Befehl für die Reiterei ordentlich notiert (vgl. PH, S. 571–572); überdies noch in Vertretung des Obristen Kottwitz (vgl. PH, V. 278–280), den Friedrich Wilhelm dem Prinzen ohnehin schon als ‚Verstärkung‘ und wohl auch zur Überwachung zur Seite gestellt hat (vgl. PH, V. 276–277), weiß er doch um Homburgs ungestüme Wesensart, die er sogar am Ende von I,5 in eine eindringliche Warnung fasst (vgl. PH, V. 348–352). Die Szene führt in zahllosen Hinweisen Homburgs Unaufmerksamkeit vor Augen, beispielsweise wenn dieser den Rittmeister sogar fragen muss, ob es um ihn gehe, als der Feldmarschall den Spezialbefehl für die Reiterei verkündet (vgl. PH, V. 303). Die mentale
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Befehlsgehorsam: „Auf Ordr’ [warten]? Ei Kottwitz! Reitest du so langsam?/ Hast Du sie noch vom Herzen nicht empfangen?“ (PH, V. 474–475)1203 Während Dörflings Skizze charismatischer Affizierung auf eine leidenschaftliche Zugewandtheit der Anhängerschaft aufmerksam macht, wird an dieser Stelle auch dem Charismatiker selbst ein leidenschaftlicher Gefühls- und Handlungsmodus attestiert. Nicht die schriftliche Anordnung, sondern ein Sinn für den rechten Moment und der ‚beherzte‘ Entschluss, danach zu handeln, werden hier als motivational ausgewiesen.1204 Allerdings scheint niemand außer dem Prinzen selbst in diesem Moment eine intrinsische ‚Herzensorder‘ zu vernehmen.1205 Einzig Kottwitz schlägt sich rasch und im Übrigen „beleidigt“ (PH, S. 582) auf Homburgs Seite, um nicht als kriegslahmer Greis dazustehen (vgl. PH, V. 478–482). Wie deutlich man Homburgs Aufforderung ablehnt, demonstriert der Vorschlag des ersten Offiziers, den offenbar für unzurechnungsfähig befundenen General zu entwaffnen (vgl. PH, V. 485). Es ist bezeichnend, dass der Prinz in diesem Moment sein Adressierungsregister wechselt: Den schlicht gehaltenen, zweimaligen Folge-Appell (vgl. PH, V. 468, V. 469), der die Herzen der Soldaten nicht erreicht hat, transformiert er in die Form eines ausdrücklichen Befehls; und dies offensichtlich in der Absicht, dem Versuch der Entmachtung entgegenzuwirken. Keinen leidenschaftlichen Ruf, ihm spontan und instinktiv in die Schlacht zu folgen, äußert er nunmehr, sondern eine harsche Drohung im Verweis auf die militärische Hackordnung: „Und jetzt ist die Parol’, ihr Herrn: ein Schurke,/ Wer seinem General zur Schlacht nicht folgt!/ – Wer von euch bleibt?“ (PH, V. 492–494)1206 Niemand, das demonstriert Abwesenheit des Prinzen wird nicht nur an dieser Stelle mit einer Aversion gegen Schrift und Diktat – gegen einen ‚papiernen‘ preußischen Herrschaftsmodus – enggeführt. Vgl. dazu den viel zitierten Ausspruch: „Diktieren in die Feder macht mich irr.“ (PH, V. 421) Vgl. zu diesem Problem Müller (2011), S. 180–188. Geisenhanslükes (2013) Vorschlag, jenes irre ‚Neben sich Stehen‘ als infamen Akt im Sinne Foucaults sowie als groteskes Manöver im Sinne Bachtins zu lesen und darin eine erfolgreiche Subversion der souveränen Gesetzesmacht zu erblicken, mag für die Diktierszene noch zutreffen (vgl. S. 354–355). Das Gnadenspiel indessen lässt sich aus dieser Perspektive nicht erschöpfend beschreiben. 1203 Spätestens mit dieser Replik ist klar, dass der Prinz den Befehl vor seiner Tat registriert, auch wenn er während der offiziellen Strategiesitzung nur Augen für die schöne Prinzessin hatte. Vgl. Kaul (2008), S. 174. Von einer „unbewussten Befehlsverweigerung“ (Kleeberg (2014), S. 341) kann also keine Rede sein. 1204 Vgl. für eine genauere Lektüre der Passage das Kapitel II.3.1. 1205 Ähnlich argumentiert Harnischfeger (1989), S. 266. 1206 Auch wenn Kleeberg (2014) damit eine allgemeinere Aussage über das Stück verbindet, kann man angesichts dieser Textstelle bezweifeln, dass der Befehlsbruch die „Rückbindung eines Aktes politischer Insubordination und Subversion an die Wirkweisen des Unbewussten“ (S. 342) veranschaulicht. Ebenso wenig scheint Kauls (2008) Bemerkung zuzutreffen, dass das
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Kleists Gestaltung der unmittelbaren Vorgeschichte des Befehlsbruchs, fasst die vorgreifende Intervention des Prinzen im Moment ihrer Planung als Heldentat auf: Vielmehr wird der Eintritt ins Schlachtgeschehen den Leser*innen als unverständliche Eigenmächtigkeit Homburgs präsentiert, zu der er seine Untergebenen letztlich nötigt.1207 Dies steht in erheblichem Widerspruch zur hochtrabenden Heroisierung des Prinzen, die im Fortgang des Stückes geschildert wird. Die Funktion einer solchen Kontrastbildung ist darin zu sehen, die ‚Sachgründe‘ des Heroisierungsprozesses schon zu diesem frühen Zeitpunkt des Dramas mit einem Fragezeichen zu versehen. Was der Prinz mit seiner Reiterei getan hat, wird in der dramatischen Nahperspektive als genau derjenige bedenkliche, illegale Alleingang in Szene gesetzt, für den ihn das Gericht bestrafen wird.1208 Nichtsdestotrotz setzt Homburgs Erhebung in den Heldenstand in der retrospektiven Betrachtung und, so meine Überlegung, gerade in Verbindung mit der rigiden Bestrafung durch den Souverän ein. Kleist jedenfalls lässt mittels einer solchen Szene den seinen Fürsprecher*innen in rückblickender Verklärung so gewiss scheinenden heroischen Grund der Tat und damit auch eine vermeintlich heldenmütige Gesinnung des Prinzen allemal zwielichtig erscheinen.1209
5.4 ‚Gefärbte‘ Botenberichte: Drei Helden in der Schlacht zu Fehrbellin Ganz im Gegensatz zu dem oben diskutierten Auftritt, der Homburgs Befehlsbruch nicht als einen Akt präsentiert, für den dieser unmittelbar Heldenruhm ernten würde, wird das nunmehr abgeschlossene Schlachtgeschehen in den Folgeszenen in die Form verschiedener, dezidiert heroisierender Berichte gefasst. Und gerade der Prinz gerät im Zuge dieser siegeseuphorischen Retrospektive zum Kriegshelden. Die Freude über den vernichtenden Schlag, der dem Brandenburgischen Heer gegen die Schweden gelungen ist, ist gleichwohl merklich getrübt, überbringt doch im fünften Auftritt des zweiten Aktes der „Unglücksbote[ ]“ (PH, V. 514) Heroische des Befehlsbruchs in einer „Größe und Waghalsigkeit“ (S. 190) der Tat bestehe, denn der Text weist Homburgs Handeln gerade nicht als heldenmutiges Manöver aus. 1207 Homburg „bekümmert es […] wenig, daß er seinen Untergebenen eine militärische Disziplin abverlangt, an die er sich selber nicht im mindesten gebunden fühlt“ (Harnischfeger (1989), S. 266). So auch Kaul (2008), S. 174. 1208 Ganz in diesem Sinne endet die Szene mit Homburgs Ausruf „Ich nehm’s auf meine Kappe. Folgt mir, Brüder!“ (PH, V. 497) Vgl. Hinck (2008), S. 20. 1209 Vgl. Harnischfeger (1989), der aber die im Kontrast zur Schilderung des Befehlsbruch stehende, nachträgliche Heroisierung des Prinzen nicht berücksichtigt (S. 266). Stattdesssen sieht er das Heroische durch eine in dieser Szene zu Tage tretende „bornierte Selbstsucht“ (S. 266) des Prinzen und damit letztlich auf figurenpsychologischer Ebene problematisiert.
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Rittmeister von Mörner die Nachricht vom, wie sich alsbald herausstellen wird, nur vermeintlichen Tod des Kurfürsten. Mörners Botenbericht umfasst gleich zwei Heldenszenen: eine vom Tod des Herrschers und eine von Homburgs wütender Kriegsintervention, die explizit als Reaktion auf den Fall Friedrich Wilhelms geschildert wird. In einem bemerkenswerten Detail markiert Kleist, dass man nach einem derart fulminanten Sieg eigentlich nichts anderes hören möchte als Heldengeschichten.1210 So weist die sich verwitwet glaubende Kurfürstin Mörner an, den Tod ihres Gatten in einer spezifischen Weise darzubieten: „Erstatte mir Bericht, wie er gesunken./ – Und wie der Blitzstrahl, der den Wandrer trifft,/ Die Welt noch einmal purpurn ihm erleuchtet,/ So laß Dein Wort sein; Nacht, wenn du gesprochen,/ Mög’ über meinem Haupt zusammenschlagen.“ (PH, V. 520–524) In ein herrscherliches Purpur möchte die Kurfürstin ihren Ehemann noch im Bericht von dessen Tod getaucht wissen, die nächtliche Schwärze der Trauer noch zugunsten einer letzten, gloriosen Kriegserzählung vom würdevollen Ende des Kurfürsten temporär aufschieben wollend. Sie bekommt, was sie verlangt, wenn Mörner Friedrich Wilhelms Attacke gegen die Schweden, die zu seinem Tod geführt haben soll, folgendermaßen rekapituliert: In diesem Augenblick, dem Staub’ entrückt, Bemerken wir den Herrn, der, bei den Fahnen Des Truchßschen Corps, dem Feind entgegenreitet; Auf einem Schimmel herrlich saß er da, Im Sonnenstrahl, die Bahn des Siegs erleuchtend. Wir Alle sammeln uns, bei diesem Anblick, Auf eines Hügels Abhang, schwer besorgt, In Mitten ihn des Feuers zu erblicken: Als plötzlich jetzt der Kurfürst, Roß und Reiter, In Staub vor unsern Augen niedersinkt; Zwei Fahnenträger fielen über ihn, Und deckten ihn mit ihren Fahnen zu. (PH, V. 537–548)
Auch hier ist die bemühte Farbsymbolik schwer zu übersehen: Die herrliche Gestalt des sonnenbeschienenen, auf seinem weißen Pferd in Siegerpose auftretenden Herrschers erhellt das Schlachtfeld. Sein Sturz in das Grau des Staubes kann seinem würdevollen Auftritt nichts nehmen, hat er sich doch aus freien Stücken ins Zentrum der Schlacht, in die Röte des Feuers, wenn man so will, begeben. Und sogar sterbend am Boden liegend noch geht er, so Mörners Darstellung, nicht als namenlose Soldatenleiche im Staub unter, sondern wird mit
1210 Vgl. Scheuer (2003), S. 32.
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Fahnen, d. h. mit den Landesfarben bedeckt: ein zufälliges Staatsbegräbnis in situ gewissermaßen, das durch das Stolpern zweier Fahnenträger ermöglicht wird.1211 Von der Kurfürstin mit dem Ruf „Weiter! Weiter!“ (PH, V. 549) angespornt, gibt Mörner die nächste Heldenepisode zum Besten, diesmal mit dem Prinzen in der Hauptrolle eines denkbar rasanten Rache-Ritts, oder besser: Rache-Flugs zugunsten des heroischen Herrschers durch das schwedische Heer: Drauf faßt, bei diesem schreckenvollen Anblick, Schmerz, unermeßlicher, des Prinzen Herz; Dem Bären gleich, von Wut gespornt und Rache, Bricht er mit uns auf die Verschanzung los: Der Graben wird, der Erdwall, der sie deckt, Im Anlauf überflogen, die Besatzung Geworfen, auf das Feld zerstreut, vernichtet, Kanonen, Fahnen, Pauken und Standarten, Der Schweden ganzes Kriegsgepäck, erbeutet: Und hätte nicht der Brückenkopf am Rhyn Im Würgen uns gehemmt, so wäre keiner, Der an dem Herd der Väter, sagen könnte: Bei Fehrbellin sah ich den Helden fallen! (PH, V. 550–562)
Von einem ganzen Arsenal verschiedener, gewalttätiger Affekte getrieben, ja sogar mit der animalischen Energie eines Bären sei Homburg über die Schweden geradewegs hergefallen, nachdem er den Kurfürsten tot geglaubt habe. Der Passus liest sich geradezu als literarische Präformation der exemplarischen Figur der Weber’schen Charisma-Theorie: Träger des Charismas können nämlich, Weber zufolge, nicht nur die „nach der üblichen Wertung ‚größten‘ Helden, Propheten, Heilande“1212, sondern nach soziologischen Maßstäben gerade auch Personen sein, die sich in mentalen Ausnahmezuständen befinden. Neben dem ekstatischen „‚Schamanen‘“1213 wird hier das potentielle „Charisma eines ‚Berserkers‘“1214 hervorgehoben. Kleists Beschreibung von Homburgs ‚bärenartigem Losbrechen‘ ins Kriegsgeschehen lässt sich durchaus mit den „manische[n]
1211 Vgl. anders Scheuer (2003), der, ebenfalls auf die Farbsemantik der Szene abhebend, argumentiert, der Kurfürst sei hier „als Lichtgestalt weniger zu sehen“ (S. 32), sondern werde „den Blicken entzogen und im Stil einer Apotheose schließlich restlos ‚entstofflicht‘“ (S. 32). Im Gegensatz dazu sehe ich hier keine transzendierende Exponierung der Figur des Kurfürsten am Werk, sondern dessen äußerst konkrete politische Hervorhebung als noch im Tode die Landesfarben präsentierender Herrscher. 1212 Weber, WG, S. 492. 1213 Weber, WG, S. 491. 1214 Weber, WG, S. 491.
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Anfälle[n]“1215 vergleichen, die laut Weber das Charakteristikum des Berserkers darstellen. Zieht man die etymologische Diskussion aus der germanischen Altertumskunde hinzu, derzufolge der erste Teil des Kompositums ‚Ber-serker‘ ein Wort für ‚Bär‘ meint, worauf die Annahme fußt, es habe sich bei den Berserkern um eine besondere Art von „Krieger[n] in Bärenfellen“1216 gehandelt, erscheint Homburg umso mehr als ein von animalischer Energie getriebener Ausnahmekämpfer. Letztlich in dieser Linie betont Weber die kriegerische Effizienz des berserkerhaften Charismatikers: „[M]an hielt sich in Byzanz im Mittelalter eine Anzahl dieser mit dem Charisma der Kriegs-Tobsucht Begabten als eine Art von Kriegswerkzeugen“1217. Kleists Botenbericht über die Homburg’sche Kriegsintervention kann vor diesem Hintergrund als narratives Kleinformat gelten, das einen charismatischen Auftritt des Prinzen in die dramatische Handlung einspeist. Die vom heroischen Berserker geführte Reiterei jedenfalls hat, so Mörner, den Feind vernichtend geschlagen, und nur ein räumliches Hindernis habe dazu geführt, dass das schwedische Heer noch über Soldaten verfüge, die ihrerseits im Nachhinein von ihren als Helden gefallenen Kameraden Augenzeugnis ablegen könnten. Der Prinz, der kurz darauf selbst auftritt (vgl. II,6), knüpft an dieses Narrativ vom gefallenen Herrscher und seinem heldenhaften Racheengel an, indem er Natalie versichert, den Krieg für den Kurfürsten zu Ende führen zu wollen (PH, V. 582–586). Fast in gleichem Atemzug macht er einen ersten gezielten Annäherungsversuch an die Prinzessin, die sich, bereits elternlos, durch den Tod ihres kurfürstlichen Onkels als „zum zweitenmale […] verwais’t“ (PH, V. 599) betrachtet.1218 Der Prinz geht angesichts der Trauerstimmung an dieser Stelle sicher nicht offensiv vor, aber bringt indirekt zum Ausdruck, die Schutzfunktion des Ziehvaters nunmehr als zukünftiger Ehemann allzu gern kompensieren zu wollen (vgl. PH, V. 600–604), und auch Natalie zeigt sich diesbezüglich keineswegs abgeneigt (vgl. PH, V. 606, S. 588). Den tot geglaubten Kurfürsten imaginiert Homburg konjunktivisch als einen das prospektive Brautpaar segnenden „Vater“ (PH, V. 611). Auf die sich hier anbahnende amouröse Verbindung ist zurückzukommen, da Natalie im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Homburg und Friedrich Wilhelm von Brandenburg die Rolle einer Vermittlerin
1215 Weber, WG, S. 491. 1216 Höfler (1976), S. 299. 1217 Weber, WG, S. 491. 1218 Hinderer (1997) bemerkt, es sei auffällig, „daß es zur spontanen Verlobungsszene in dem Augenblick kommt, in dem beide, der Prinz und Natalie, den Kurfürsten für tot halten“ (S. 164). Ich folge Hinderer (1997) in der Einschätzung, dass Kleists Text eine männlich-sexualisierte Konkurrenz Homburgs und Friedrich Wilhelms um die Prinzessin zwar immer wieder andeutet, aber nicht zum Hauptkonfliktpunkt zwischen beiden erhebt (vgl. S. 162–165).
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einnehmen wird, aber sicherlich nicht den weiblichen Grund für den genuin politischen Konflikt zwischen Charismatiker und Souverän darstellt. Im siebten und achten Auftritt des zweiten Aktes wird schließlich klar, dass es sich bei der Todesnachricht um eine Falschmeldung handelt, genauer: um eine Verwechslung. Denn ein dritter ‚Held‘ tritt auf, dessen wiederum in Form eines Botenberichts dargebotene Geschichte die jüngst in Umlauf gebrachte Legende vom heroischen Tod des Herrschers und genauso von dessen nicht minder heldenhaften Rächer zu suspendieren vermag. Der Graf von Sparren belehrt die Trauergemeinde, dass nicht Friedrich Wilhelm von Brandenburg, sondern der Stallmeister Froben den „strahlend weißen“ (PH, V. 642), ungestümen Schimmel geritten habe (vgl. PH, V. 635–636) und so zu Tode gekommen sei. Auch diese Episode gestaltet Kleist anhand eines spezifischen Farbenspiels: Der Stallmeister habe, so Sparren, des „Schimmels Glanz“ (PH, V. 657) verwünscht, weil der „Landesherr“ (PH, V. 641) dadurch im Schlachtfeld recht gut identifizierbar sei und sich die Attacken des Feindes dementsprechend in kaum zu verteidigender Härte auf den kurfürstlichen Tross kaprizierten (vgl. PH, V. 641–649). Da der Schimmel jedoch nicht einfach ins „Grau der Mäuse“ (PH, V. 660) gehüllt werden könne, habe Froben dem Kurfürsten vorgeschlagen, das Pferd noch einmal zu erziehen, und es kurzerhand mit dem eigenen, weniger auffälligen Fuchs ausgetauscht (vgl. PH, V. 661–666).1219 Frobens Todesritt nun klingt denkbar anders als der sonnenklar gefärbte Heldensturz des Herrschers: Doch Froben hat den Schimmel kaum bestiegen, So reißt, entsendet aus der Feldredoute, Ihn schon ein Mordblei, Roß und Reiter, nieder: In Staub sinkt er, ein Opfer seiner Treue, Und keinen Laut vernahm man mehr von ihm. (PH, V. 673–677)
‚Roß und Reiter‘ gehen in dieser Version keineswegs heldenhaft zugrunde, sondern werden von den feindlichen Geschützen geradewegs in den grauen Staub befördert, ganz ohne wehende Fahnen und mehr noch: geräuschlos. Die Diskrepanz zu Mörners Schilderung, die sich auf ein und dasselbe Geschehen bezieht, ist eklatant. Die Todesdarstellung variiert erheblich, glaubt man den Kurfürsten oder den Stallmeister als Reiter. Während man Friedrich Wilhelm als heroischen Feldherrn und Staatsmann zugrunde gehen sieht, gilt Froben bedeutend weniger emphatisch als derjenige, der sich für den Herrscher geopfert hat.
1219 Vgl. zu dieser abermals über ein spezifisches Farbenspiel inszenierten Substitutionslogik Scheuer (2003), S. 34–39.
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Allerdings hält man dem Stallmeister durchaus zugute, sein Leben in einer Geste staatstreuen Heldenmuts dahin gegeben zu haben (vgl. PH, V. 678–680). Kleist lässt dergestalt im zweiten Akt zwei Botenberichte über das Geschehen während der Fehrbelliner Schlacht miteinander konkurrieren. Zu Tage tritt in dieser Kontrastbildung allen voran ein erhebliches Heroisierungsbegehren des Brandenburgischen Lagers, das zuallererst im Herrscher, zweitens im Prinzen seine Bezugsobjekte findet.1220 Der Bericht des Grafen von Sparren dient dazu, die Heldengeschichten beider, die Mörner bezeichnenderweise auf Aufforderung der Kurfürstin so wortreich in den Raum stellt, in ihrer offensichtlichen ‚Gefärbtheit‘ erkennbar zu machen.1221 Darüber hinaus zeigt der Fortgang des Geschehens, dass Sparrens und nicht Mörners Version der Kriegsereignisse zutreffend ist: So wird dem unmittelbar folgenden neunten Auftritt des zweiten Aktes eine Didaskalie vorangestellt, die demonstriert, dass der Text in dieser Frage wenig an ‚Augenfälligkeit‘ zu wünschen übrig lässt: „[…] man sieht die Leiche Frobens vorübertragen und auf einen prächtigen Katafalk niedersetzen.“ (PH, S. 593) Der tot geglaubte Kurfürst hingegen betritt seinerseits quicklebendig diese Szenerie und ergreift sogleich das Wort1222 – eine Rede, die unmittelbar die Gefahr ins Spiel bringt, dass Homburg keineswegs weiter als Held gefeiert wird, sondern des Todes für schuldig erklärt wird (vgl. PH, V. 715–722).
5.5 Keine Heldenehrung für Homburg: Die Verhaftungsszene Die Leser*innen wissen nur zu gut, wen das strikte Diktum treffen wird, mit dem der Kurfürst im neunten Auftritt des zweiten Aktes die Bühne wieder betritt: „Wer
1220 Diesen Punkt lässt Scheuers (2003) Analyse, die in Mörners Botenbericht eine Vergöttlichung des Kurfürsten gestaltet sieht, außer Acht, indem er lediglich Homburgs Reaktion auf den Botenbericht diskutiert, jedoch den Botenbericht über Homburgs Rache-Ritt ausspart (vgl. S. 32). Die Berichte folgen allerdings im Text direkt aufeinander und hängen insofern zusammen, als sie den Kurfürsten und den Prinzen zunächst jeweils als heroische Krieger ins Bild setzen, um diese Figuration aber sogleich wieder zu zerstreuen. 1221 Scheuer (2003) vermerkt ebenfalls, dass es in Kleists Botenberichten nicht um eine „mimetische Abbildung“ (S. 33) oder um eine „epische[ ] Repräsentation“ (S. 33) des Kriegsgeschehens geht. Seine Lektüre konzentriert sich aber nicht auf die politischen Implikationen derart gefärbter Botenberichte, sondern betrachtet die „ständigen Umwertungen, die jeweils den Glanz des heroischen Protagonisten zu Pferde trüben“ (S. 33) in vornehmlich poetologischer Hinsicht als „Fall der Darstellung“ (S. 33). 1222 Es lässt sich kein Textbeleg für Geisenhanslükes (2013) Hinweis finden, dass „[d]ie unvermittelte Wiederauferstehung […] wie eine raffinierte Strategie des Souveräns erscheint, der den eigenen Tod simuliert, um seine Offiziere einer Prüfung ihrer Loyalität zu unterziehen“ (S. 357).
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immer auch die Reiterei geführt/ Am Tag der Schlacht, […]/ Der ist des Todes schuldig, das erklär’ ich,/ Und vor ein Kriegsgericht bestell’ ich ihn.“ (PH, V. 715–721) Der Kurfürst, davon zeugt die direkt nachgeschobene Suggestivfrage, vermutet es selbst: „Der Prinz von Homburg hat sie nicht geführt?“ (PH, V. 722) Als dieser selbst in II,10 auftritt, erfüllt sich die im Text kolportierte Erwartungshaltung, gemäß derer Homburgs Verurteilung kurz bevor und außer Frage steht. Gänzlich konträr dazu gestaltet Kleist das Auftreten des Prinzen: Mit „drei schwed’sche[n] Fahnen in der Hand“ (PH, S. 594) und begleitet von seinem Regiment ist er im Begriff, das in den Botenberichten in Aussicht gestellte Heldenlob vom Herrscher nunmehr zu empfangen. Die entsprechenden Requisiten haben er und auch seine Begleiter zur Hand: Man tritt mit „Fahnen, Pauken und Standarten“ (PH, S. 594) vor Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Die Gegenstände jedoch, die Homburg als „Siegestrophäen“ (PH, V. 741) deklariert und vor dem Kurfürsten niederlegt (vgl. PH, S. 594), werden rasch zum überführenden corpus delicti: DER KURFÜRST Mithin hast Du die Reiterei geführt? DER PRINZ VON HOMBURG sieht ihn an: Ich? Allerdings! Mußt Du von mir das hören? – Hier legt ich den Beweis zu Füßen Dir. DER KURFÜRST – Nehmt ihm den Degen ab. Er ist gefangen. (PH, V. 747–750)
Spricht der Kurfürst schon hier nur mit anderen über den Prinzen, so richtet er auch im weiteren Verlauf des Auftritts kein einziges Wort mehr direkt an seinen General. Dass die Versammelten über die Gefangennahme ausnahmslos schockiert sind, schlägt sich in Kleists anakoluthischem Versbau sowie in den zahllosen ungläubigen Nachfragen nieder (vgl. PH, V. 751–759). Auch Homburg zeigt sich durch Friedrich Wilhelms Verhalten derartig vor den Kopf gestoßen, dass ihm wieder einmal sein Realitätssinn abhanden zu gehen droht: „Träum ich? Wach’ ich? Leb’ ich? Bin ich bei Sinnen?“ (PH, V. 765) Darin besteht ein offensichtlicher Rückbezug auf die Eröffnungsszene des Stücks, der nicht nur abermals auf den mentalen Ausnahmezustand des Prinzen verweist. Hier nämlich liegt der Einsatzpunkt zum Spiel, zum Machtkampf, der sich im Folgenden zwischen Held und Herrscher entspinnen wird und in dem die Heldenträume der Gemeinschaft eine erhebliche Rolle spielen. Mit der allseits als zu hart empfundenen Verurteilung des Kurfürsten nimmt die Auseinandersetzung ihren Lauf, in die der Prinz als designierter Held, der Kurfürst als rigider Herrscher eintritt. Beide werden ihre Positionen im weiteren Fortgang den Umständen und vor allem den Spielzügen ihres Gegenübers entsprechend justieren. Dass es sich bei der Inhaftierung kaum um bitteren Ernst handeln könne, davon sind die Zeugen des Geschehens und der Prinz selbst überzeugt. Hohenzollerns „Es wird den Hals nicht kosten.“ (PH, V. 775) bringt dies ebenso zum Ausdruck wie Homburgs Bemerkung, Friedrich
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Wilhelm wolle „den Brutus [nur] spielen“ (PH, V. 777) und solle nicht erwarten, für ein solches Scharmützel auch noch Bewunderung zu ernten (vgl. PH, V. 782– 783). Homburg verweigert die Rolle des vom Vater zu Staatszwecken geopferten Sohnes und nimmt den Kurfürsten zudem in dessen mutmaßlich eigener Rollenzuweisung nicht ernst. Was er an dieser Stelle noch erwartet, ist, dass der Kurfürst ‚Herz‘ zeigen wird, genauer: „[e]in deutsches Herz, von altem Schrot und Korn“ (PH, V. 784), einen Akt von „Edelmut und Liebe“ (PH, V. 785), wie er es von Friedrich Wilhelm gewohnt sei. Dass die politische Problemkonstellation indessen eine andere ist, als Homburg sie in seinem Antike-Vergleich vorstellt, manifestiert sich im didaskalisch gefassten Ausgang der Szene. Nach seinem knappen Befehl, Homburg solle in Fehrbellin eingekerkert und dem Kriegsgericht übergeben werden, betritt der Kurfürst die im Hintergrund der Szene befindliche, „stark erleuchtet[e]“ (PH, S. 593) Berliner Schloßkirche, um den ‚eigentlichen‘ Helden der Schlacht die letzte Ehre zu erweisen: Begleitet von einem Fahnenzug kniet der Herrscher am Sarg des Stallmeisters Froben nieder und betet unter „Trauermusik“ (PH, S. 597) für den Verstorbenen. Die Fahnen werden dabei an den Kirchpfeilern aufgehängt, so dass dem tatsächlichen Schimmelreiter ein veritables Staatsbegräbnis zuteil wird; die Anspielung auf Mörners unzutreffenden Botenbericht ist hier unverkennbar. Damit entkräftet Friedrich Wilhelm in aller Deutlichkeit das um Homburg gesponnene Narrativ und inszeniert stattdessen einen anderen als verdienten Helden: Feierlich heroisiert wird nicht der eigenmächtige Prinz, sondern derjenige, der sich altruistisch für den Souverän geopfert habe – eine politische Geste, die klarer nicht sein könnte.1223
5.6 Welches Spiel spielt der Kurfürst? Spekulationen hinter Kerkermauern Homburgs Annahme, dass der Kurfürst nur ein Spiel mit ihm treibt, schreibt Kleist in der Gefängnisszene zu Beginn des dritten Aktes weiter aus. Im Gespräch mit dem Grafen von Hohenzollern zeigt er sich dementsprechend zunächst vollständig überzeugt davon, der Kurfürst werde ihn nach gelernter Lektion begnadigen:
1223 In diesem Sinne spricht auch Scheuer (2003) von einer Ehrung des Stallmeisters „mit einem Helden- und Staatsbegräbnis“ (S. 34–35), die darauf abziele, „die Kontingenz aus der Darstellung“ (S. 35) des Pferdetausches zwischen Froben und Friedrich Wilhelm zu verdrängen. In der Tat wird Frobens im Text deutlich als Zufall markierter Tod „mit dieser zeremoniellen Statuserhöhung des Opfers“ (S. 35) vom Kurfürsten nachträglich ein politischer Sinn angehängt. Im Sinn nämlich hat der Herrscher schon hier eine Entsetzung Homburgs aus dem ihm zugewiesenen Heldenstand. Vgl. auch Kaul (2008), S. 178.
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Der Kurfürst hat getan, was Pflicht erheischte, Und nun wird er dem Herzen auch gehorchen. Gefehlt hast Du, so wird er ernst mir sagen, Vielleicht ein Wort von Tod und Festung sprechen; Ich aber schenke dir die Freiheit wieder – Und um das Schwert, das ihm den Sieg errang, Schlingt sich vielleicht ein Schmuck der Gnade noch; Wenn der nicht, gut; denn den verdien’ ich nicht! (PH, V. 820–827)
Deutlich spricht aus diesen Worten die Bereitschaft, sich auf das mutmaßlich von Friedrich Wilhelm intendierte Spiel einzulassen zwischen einem, der eine Verfehlung begangen hat und einem, der diese in jovial-väterlicher Pose maßregelt. Homburg probt an dieser Stelle bereits den antizipierten Redewechsel mit dem Kurfürsten. Ebenso entschieden aber insistiert der Prinz auf den eigenen Verdiensten im Krieg und verkennt dabei, dass es dem Souverän gar nicht darum geht, diese herabzuwürdigen.1224 Sein offizielles Problem mit Homburg hat der Kurfürst an früherer Stelle direkt benannt: Ihm missfällt ein aus seiner Sicht aufgrund von Eigenmächtigkeit (vgl. PH, V. 718) nur durch „Zufall“ (PH, V. 732) errungener Sieg, den er nicht auch noch mit Ruhm und Ehre goutieren kann, will er sich in Zukunft auf die Gesetzestreue seines Heeres verlassen können. Sein inoffzielles Problem habe ich bereits angedeutet: Der Brandenburger hat es nicht mit einem gewöhnlichen Untergebenen zu tun, sondern mit einem, der in konstant anwachsender Intensität im Ruf steht, ein Held zu sein. Homburg liegt also denkbar falsch in seiner Einschätzung der herrscherlichen Agenda, wenn er meint, der Fall sei mit einem pseudo-pädagogischen Gespräch erledigt. Dass der Heldentraum nach wie vor im Spiel ist, belegt die am Rande artikulierte Hoffnung, gegebenfalls doch noch eine späte Ehrbezeugung von Friedrich Wilhelm zu erhalten: Vorgetragen wird diese nahezu schelmisch, frei nach dem Motto: Verdient habe er ein solches Schmuckstück nicht, schön wäre es aber durchaus. Die gesamte Szene III,1 kann als Reihung derjenigen Fehleinschätzungen betrachtet werden, denen Homburg in der Beurteilung seiner Lage und insbesondere in seiner Einschätzung des Kurfürsten anheim fällt.1225 Friedrich Wilhelm und auch er selbst werden dabei von Homburg als Inhaber verschiedener Rollen imaginiert. So stellt sich der Prinz den Kurfürsten als einen ziehväterlichen Lehrer vor, der seinen Zögling doch nicht einfach so verdammen könne: Er sei Friedrich Wilhelm „[w]ert wie ein Sohn“ (PH, V. 830) und sieht sich selbst als „Pflanze,/ Die er [der Kurfürst] selbst zog“ (PH, V. 836–837). Überdies bringt der Prinz gegenüber
1224 So berichtet Hohenzollern, dass Homburg auf der Siegesfeier „auf des Herrn ausdrücklichen Befehl“ (PH, V. 810) offiziell als Sieger der Schlacht deklariert wird. 1225 So ansatzweise auch Geisenhanslüke (2013), S. 358.
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Hohenzollern den festen Glauben an einen fulminanten Herrscher-Auftritt zum Ausdruck, der den auf Tod lautenden Spruch des Kriegsgerichts aussetzen werde: Wie könnt’ er doch vor diesen Tisch mich laden, Von Richtern, herzlos, die den Eulen gleich, Stets von der Kugel mir das Grablied singen: Dächt’ er, mit einem heitern Herrscherspruch, Nicht als ein Gott, in ihren Kreis zu treten? Nein, Freund, er sammelt diese Nacht von Wolken Nur um mein Haupt, um wie die Sonne mir, Durch ihren Dunstkreis, strahlend aufzugehn! (PH, V. 852–859)
Bemüht wird an dieser Stelle die „Ikonographie des Absolutismus“1226, die Friedrich Wilhelm als Sonnenkönig von Gottes Gnaden, den Prinzen selbst als Begünstigten eines herrscherlichen Gnadenaktes erscheinen lässt. Bemerkenswert ist, dass es die Instanz des „Gefühl[s]“ (PH, V. 868) ist, auf die Homburg seine Überzeugung gründet, dass sich ein solches Gnadenspiel ereignen wird; begnadigt zu werden, erscheint ihm affektiv und keineswegs rational gewiss, was etwas darüber aussagt, von welchen Triebkräften der Prinz den Ablauf der Auseinandersetzung bestimmt sieht. Dass er in seiner Auffassung, hier könne sich kein ‚herzloses‘ juridisches Verfahren abspielen, Recht behalten wird, belegt seine tatsächliche Begnadigung am Ende des Dramas. Er ahnt jedoch an dieser Stelle noch nichts davon, dass der mit einem Helden konfrontierte Kurfürst mitnichten in absolutistischer Manier seine „souveräne Macht […] über Leben und Tod seines Untertanen“1227 ganz einfach und letztlich zugunsten des Verurteilten ausspielen wird. Der Prinz liegt in seiner Prognose, wie Friedrich Wilhelm als Herrscher agieren wird, schlicht falsch.1228 Homburgs Fehleinschätzung der politischen Konfliktsituation geht sogar so weit anzunehmen, dass sich der Brandenburger lieber selbst töten würde (vgl. PH, V. 872–876), als den ihn liebenden (vgl. PH, V. 873) Ziehsohn der Kugel preiszugeben. In einem solchen Szenario würde sich freilich die Logik absolutistischer Machtausübung geradewegs verkehren: Dass es das Leben des Untertanen sein soll, das an allererster Stelle steht, kann in der Konfrontation mit einem, der „will, daß dem Gesetz Gehorsam sei“ (PH, V. 734), nur als Trugschluss gelten. 1226 Zumbusch (2011), S. 277. 1227 Zumbusch (2011), S. 277. 1228 Just (1993) weist in ihrer rechtsgeschichtlichen Studie zu Prinz Friedrich von Homburg darauf hin, dass Homburgs Gewissheit, begnadigt zu werden, an das Verständnis des Herrschers als absolutistischer Souverän geknüpft ist. Der Prinz erwarte „einen unverdienten, unbegründeten Gnadenakt, der lediglich auf Gutdünken des Fürsten beruht“ (S. 98) und verkennt somit, dass Friedrich Wilhelm keinesfalls in erster Linie als gottbegnadeter Sonnenkönig agiert.
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Eine angstvolle Irritation stellt sich bei Homburg erst nach Hohenzollerns Bericht ein, der Kurfürst habe sich das Todesurteil bereits zur Unterschrift vorlegen lassen. Sein furchterfüllter Ausruf „Das Urteil? – Nein! Die Schrift – ?“ (PH, V. 888) kann als eines von zahlreichen Beispielen gelten, in denen sich die Aversion gegen einen Gesetzesrigorismus mit einer Ablehnung schriftlicher Fixierung verbindet. Dem Prinzen dämmert gerade nach Hohenzollerns Hinweis auf die drohende Unterschrift, dass es der Kurfürst ernst meinen und sich damit nach Homburgs Auffassung grausamer noch als „die gesamte/ [a]ltrömische Tyrannenreihe“ (PH, V. 904–905) zeigen könnte. Gemeinsam mit dem Grafen spekuliert er sodann darüber, ob jenseits jenes „Fehls, der Brille kaum bemerkbar“ (PH, V. 899), nicht etwas weiteres vorgefallen sein müsse, womit er den Kurfürsten verärgert habe. Man kommt rasch zu dem Schluss, dass es Homburgs eigenmächtig vorangetriebene Verbindung zu Natalie ist, an der sich Friedrich Wilhelm stößt, weil dieser die Prinzessin mit dem schwedischen König verheiraten und damit den Frieden erreichen will (vgl. PH, V. 916–923).1229 Doch auch diese Vermutung, die Homburg als glasklare Erklärung für die Strenge des Kurfürsten gilt (vgl. PH, V. 925–926), trifft, wie sich im Folgenden herausstellt, nicht ansatzweise den Kern dessen, worum es im Konflikt zwischen Homburg und Brandenburg geht. Denn dass sich Friedrich Wilhelm als Ziehvater Natalies übergangen fühlt, bildet sicher nicht den Grund für das harte Vorgehen gegen den Prinzen.1230 Homburg fasst daraufhin den Entschluss, bei der Kurfürstin vorzusprechen, die für ihn ein Wort bei Friedrich Wilhelm einlegen soll. Sein Weg aus dem Kerker verläuft, auf dieses Detail sei verwiesen, ungehindert, denn der als ‚Wache‘ abgestellte Offizier hat die Order, Homburg gehen zu lassen, wohin es ihm beliebt (vgl. PH, V. 943–945), was auf den ‚Spielraum‘ hindeutet, den der Kurfürst seinem Gefangenen in dieser Phase einräumt.
5.7 ‚Und frage nichts mehr, ob es rühmlich sei!‘ – Homburgs Entheroisierung Der fünfte Auftritt des dritten Aktes schildert nun in aller Eindrücklichkeit Homburgs selbst performierte Entheroisierung. Sein erklärter Verzicht auf jedweden Heldenstatus geht dabei keineswegs mit dem Eingeständnis einer Verfehlung in der Schlacht einher, sondern fußt erstens auf der Gewissheit, den Kurfürsten durch die übereilte Verlobung mit Natalie verstimmt zu haben. Zweitens hat ihn 1229 Harnischfeger (1989) hält dies für eine „auf Gerüchte und Mutmaßungen“ gegründete „Konstruktion“ (S. 269). 1230 Das zeigt sich spätestens in derjenigen Szene (IV,1), in der Natalie für Homburg beim Kurfürsten um Gnade bittet.
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schlicht die Angst gepackt, wie Kleist seinen Protagonisten wortreich in jener ‚Todesfurchtszene‘ klagen lässt, die in der Rezeptionsgeschichte immer wieder aus politischen respektive aus dramenpoetischen Gründen gescholten wurde:1231 Friedrich Arthur von Homburg hat auf dem Weg zur Kurfürstin gesehen, wie man das Grab für ihn ausgehoben hat (vgl. PH, V. 981–992). Dieses Ereignis beflügelt seine Phantasie in eine denkbar panische Richtung, sieht er sich doch bereits unter den Blicken von Zuschauer*innen eines „öde[n] Schauspiel[s]“ (PH, V. 988) „[m]it mörderischen Kugeln“ (PH, V. 986) durchbohrt und hat den eigenen Grabstein bereits vor Augen (vgl. PH, V. 992). Als ihm die Kurfürstin daraufhin zu „Mut“ (PH, V. 994) und „Fassung“ (PH, V. 995) rät, artikuliert Homburg sein verzweifeltes Bekenntnis zum Leben, das er mit einer Absage an eine potentiell heroische Existenzform verbindet: „Seit ich mein Grab sah, will ich nichts, als leben,/ Und frage nichts mehr, ob es rühmlich sei!“ (PH, V. 1003–1004) Homburgs unumwunden exponierte Todesfurcht ist dramenpoetologisch zweifelsfrei als Suspension des Schiller’schen Erhabenen lesbar:1232 Kleists Protagonist zeigt sich an dieser Stelle unfähig, eine gefasste Distanz zum eigenen Leiden zu entwickeln und versäumt im Zuge dessen die Möglichkeit zur Selbsterhebung, auf die er sogar von der Kurfürstin mit ihrem mahnenden „Steh’ auf, mein Sohn, steh auf!/ […] Du bist zu sehr erschüttert. Fasse dich!“ (PH, V. 1005–1006) hingewiesen wird. Homburg allerdings steht nicht auf, um dem Tod Schillers Vorschrift gemäß aufrecht entgegenzugehen, sondern ergeht sich stattdessen in dem sehnsüchtigen Vorsatz, fortan, ein ländliches, ein ganz und gar natürliches Leben führen zu wollen (vgl. PH, V. 1030–1036). Zumbusch sieht in derartigen AckerbauPhantasien und generell in der „das Stück durchziehenden Bilderfolge des Kreatürlichen“1233 die „im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelte[ ] Vorstellung vom Lebendigen“1234 ins politische Spiel gebracht. In dieser Deutung ordnet der Text Homburgs Lebenswillen keineswegs als ‚bloßes Leben‘ in die Logik einer Souveränität ein,1235 deren oft zitierter Grundsatz des ‚Leben machen, Sterben lassen‘ am Prinzen exerziert werde. Vielmehr demonstriere Kleists Stück, wie sich der Staat um 1800 in den von Foucault als Biomacht theoretisierten Prozessen auf neue Herrschaftstechniken verlege, die statt einer im Zweifel gewaltsamen Verfügung über das Leben der Untertanen dessen Verwaltung, Optimierung,
1231 Vgl. dazu die Darstellung der entsprechenden Stellungnahmen von Fontane, Hebbel, Bismarck und Kaiser Wilhelm II. bei Schmidt (32011), S. 158–159 sowie Hinderer (1997), S. 153–154. 1232 Darauf hat Zumbusch (2011) in ihrem Vergleich zur gelingenden erhabenen Fassung in Schillers Don Carlos hingewiesen (vgl. S. 276–279). Vgl. auch Uhlig (2015), bes. S. 311–324. 1233 Zumbusch (2011), S. 278. 1234 Zumbusch (2011), S. 280–281. 1235 So argumentiert Finkelde (2009), S. 577–585.
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Normierung, Disziplinierung zu Staatszwecken vorsehen – was, wie Zumbusch weiter ausführt, eine ‚tätige Beteiligung‘, eine Selbstdisziplinierung der Untergebenen mit einschließt.1236 Für meine Lektüre ist diese These insofern wichtig, als sich in Homburgs Bekenntnis zum natürlichen Leben zugleich der Verzicht auf ein öffentliches Heldendasein manifestiert, das, darauf weisen die Kurfürstin und Natalie fortgesetzt hin, dem Prinzen durchaus noch offen stünde, würde er den ihm bestimmten Tod standhaft erdulden.1237 Dass Homburg jedoch dem Streben nach dem Lorbeerkranz zu diesem Zeitpunkt gänzlich abgeschworen hat, wird deutlich, wenn er sich von seiner Liebe zu Natalie lossagt (vgl. PH, V. 1023–1029). Diese Geste ist, über den strategischen Impuls hinaus, in diesem Zuge der kurfürstlichen Heiratspolitik gerecht zu werden, mit Homburgs selbst vollzogener Entheroisierung in direkter Verbindung zu sehen: Denn schon in der Eingangssequenz und dann wiederum in der Schlussszene wird Natalie als Medium des Lorbeerkranzes vorgestellt (vgl. PH, S. 560, 644). Wenn man also das Symbol des Heldenruhms aus der Hand der Prinzessin erhält, so verzichtet Homburg an dieser Stelle nicht nur auf die geliebte Frau.1238 Neben der Kurfürstin ist es allen voran Natalie, die den Prinzen geradewegs anleitet, eine heroische Haltung (wieder) einzunehmen. Kleists Gestenspiel liest sich dabei in der Tat wie ein Affront gegen den geschlechterspezifischen Zuschnitt von Schillers Dramaturgie des Erhabenen: Die Prinzessin reicht jenem ‚geknickten Helden‘ (vgl. PH, V. 1155) zur würdevollen Aufrichtung die Hand und rät ihm und zur Umsetzung des verharmlosenden Idioms, dem Tod gelassen ins Auge zu blicken:1239 NATALIE mutig und erhebend, indem sie aufsteht und ihre Hand in die seinige legt: Geh, junger Held, in Deines Kerkers Haft, Und, auf dem Rückweg, schau noch einmal ruhig Das Grab Dir an, das Dir geöffnet ward! Es ist nichts finsterer und um nichts breiter, Als es Dir tausendmal die Schlacht gezeigt! (PH, S. 609, V. 1053–1057)
Dass sie den Prinzen als todesresistenten Helden adressiert, trifft sich recht genau mit einem weiteren Passus, in dem sie Homburg den Heldentod als Handlungsoption anempfiehlt: Wenn der Kurfürst das Urteil nicht ändern wolle, solle
1236 Vgl. Zumbusch (2011), S. 282–283. 1237 So auch Härle (1997): „Der Held legt ab, was ihn zum Helden macht, die Verachtung des Todes.“ (S. 253). 1238 Vgl. ähnlich Zumbusch (2011), S. 280. 1239 So Zumbusch ((2011), S. 279) mit Blick auf eine andere Textstelle (vgl. PH, V. 1169–1173).
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sich der Prinz „tapfer […] unterwerfen“ (PH, V. 1072). In der Akzeptanz des Todes, so ist es dem sentenzhaften Nachtrag zu entnehmen, liege der einzige Weg, noch ‚siegreich‘, mithin heroisch aus der mehr als prekären Lage hervorzutreten: „Und der im Leben tausendmal gesiegt,/ Er wird auch noch im Tod zu siegen wissen!“ (PH, V. 1073–1074)
5.8 Recht vor Gnade. Die Bedingung des Kurfürsten Prinzessin Natalie von Oranien tritt in der ersten Szene des vierten Aktes in gänzlich devoter Pose vor ihren Onkel. Noch nach Friedrich Wilhelms Versuch, sie zu „erheben“ (PH, S. 611), verharrt sie „kniend“ (PH, S. 611), um ihr Gnadengesuch vorzutragen. Dabei macht sie aus ihrer Liebe zu Homburg keinen Hehl (vgl. PH, V. 1084) und erntet für ihr Eingeständnis auch keinerlei ziehväterliches Mahnwort, was als deutliches Indiz dafür gelten kann, dass Homburgs amouröse Neigungen zu Natalie für das Handeln des Kurfürsten kaum maßgeblich sind, wenngleich Kleist dieses Motiv an einigen Stellen ins Spiel bringt.1240 Meiner Lesart zufolge ist eine etwaige Eifersucht gegenüber Homburg für Friedrich Wilhelm nicht entscheidungsleitend, wird dieser doch nicht mehr darauf zurückkommen, sondern dem Prinzen Natalie am Ende des Stücks zur Frau geben. Und so dreht sich das Gespräch sogleich um die vom Kurfürsten unmissverständlich als ‚Verbrechen‘ (vgl. PH, V. 1093–1094) bezeichnete Hinwegsetzung über den Marschbefehl – eine Tat, die Natalie etwa in ihrem Ausruf „O dieser Fehltritt, blond mit blauen Augen“ (PH, V. 1095) als Akt jugendlichen Leichtsinns (vgl. PH, V. 1105) zu verharmlosen bemüht ist. Sie belegt sogar den Onkel selbst mit einer Teilschuld an den Geschehnissen, wenn sie den „Eifer“ (PH, V. 1102) des Prinzen damit erklärt, es sei diesem nicht um den eigenen, sondern um Friedrich Wilhelms Kriegsruhm zu tun gewesen (vgl. PH, V. 1102–1104). In einer Diktion, die sich abermals als Fingerzeig auf die Perversionen eines Schiller’schen Erhabenen lesen lässt, weist Natalie auf die Grausamkeit hin, Homburgs Sieg anzuerkennen und ihn dennoch dem Tod zu übergeben: „Erst, weil er siegt’, ihn kränzen, dann enthaupten,/ Das fordert die Geschichte nicht von Dir;/ Das wäre so erhaben, lieber Ohm,/ Daß man es fast unmenschlich nennen könnte:/ Und Gott schuf noch nichts milderes, als Dich.“ (PH, V. 1107– 1111) Dass Natalie an dieser Stelle übertreibt, steht außer Frage: Bekränzt hat der Kurfürst den Prinzen zu diesem Zeitpunkt nicht, bestenfalls seinen Anteil am Sieg gewürdigt. Natalies Hinweis auf die Möglichkeit einer Handlung im Sinne
1240 Vgl. zu den Details Hinderer (1997), S. 162–165.
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der herrscherlichen clementia, die einen Gnadenakt ermöglichen würde, bildet nun für den Kurfürsten den Anlass, sein Selbstverständnis als Souverän darzulegen. Dies steht in erheblichem Widerspruch zu Homburgs in III,1 artikulierter Fremdeinschätzung, denn der Brandenburger inszeniert sich an dieser Stelle als aufgeklärter, die Instanz des Gerichts rückhaltslos anerkennender Machthaber und distanziert sich von der Rolle eines despotischen Willkürherrschers.1241 Sein streng verstandenes legalistisches Herrschaftsethos, das eine Suspension jedweder Gefühle im souveränen Entscheidungsprozess vorsehe, schließe es gerade aus, Gnade zu erweisen: Mein süßes Kind! Sieh! Wär’ ich ein Tyrann, Dein Wort, das fühl ich lebhaft, hätte mir Das Herz schon in der ehrnen Brust geschmelzt. Dich aber frag’ ich selbst: darf ich den Spruch, Den das Gericht gefällt, wohl unterdrücken? – Was würde doch davon die Folge sein? (PH, V. 1112–1117)
Ein solcher Herzensakt habe zudem erhebliche Konsequenzen nicht für ihn selbst – auch hier nimmt sich der Kurfürst betont zurück –, sondern für das „höh’re[ ]“ (PH, V. 1119) Gut des „Vaterland[es]“ (PH, V. 1121). Natalies daraufhin losbrechendes Plädoyer für einen Gnadenakt weist diesen als gefühlsbestimmte und ganz der wohlmeinenden, herrscherlichen Willkür obliegende Handlungsoption aus. Überdies versucht sie, Friedrich Wilhelms Sorge zu zerstreuen, Herz und Gesetz könnten nicht als politische Ordnungsprinzipien nebeneinander bestehen: O Herr! Was sorgst Du doch? Dies Vaterland! Das wird, um dieser Regung Deiner Gnade, Nicht gleich, zerschellt in Trümmern, untergehn. Vielmehr, was Du, im Lager auferzogen, Unordnung nennst, die Tat, den Spruch der Richter, In diesem Fall, willkürlich zu zerreißen, Erscheint mir als die schönste Ordnung erst: Das Kriegsgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen,
1241 So auch Just (1993), S. 103–104, die zudem die für diesen Passus relevanten, rechtshistorischen Positionen einer aufklärerischen Kritik am Begnadigungsrecht skizziert (vgl. S. 73–76). Vgl. Harnischfeger (1989), S. 247–248. Foi (2013) stellt ganz in diesem Sinne heraus, dass das Begnadigungsrecht in der Strafrechtstheorie der Aufklärung als „Überbleibsel einer despotischen Willkür“ (S. 43) gilt und „in seiner modernen Form in der Epoche des Absolutismus […] zu den Suspendierungsbefugnissen des Herrschers als legibus solutus“ (S. 43) zu zählen ist. Auf die Bedeutung der zeitgenössischen Positionen zum ‚aufgeklärten Absolutismus‘ im Rahmen des preußischen Staatsmodell für das Stück verweist Peter (1992), S. 96–100.
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Jedoch die lieblichen Gefühle auch. Das Vaterland […] Das braucht nicht dieser Bindung, kalt und öd’, Aus eines Freundes Blut, um Oheims Herbst, Den friedlich prächtigen, zu überleben. (PH, V. 1122–1141)
Bemerkenswert ist, dass das Gesetz als unzulängliches, weil ‚kaltes‘ ‚Bindungsmittel‘ der Gemeinschaft ins Bild gesetzt wird, der Gnadenakt hingegen als Herrschaftsprinzip, das jene vaterländische ‚Öde‘ florieren lassen könne.1242 Der Kurfürst ist nach diesem Bericht zur Lage des Vaterlandes vordringlich daran interessiert zu erfahren, ob dies denn auch die Meinung Homburgs sei (vgl. PH, V. 1142–1144), woraufhin Natalie dem Onkel in aller Betroffenheit von Homburgs Todesfurcht berichtet. Bemerkenswert ist, dass Natalie den strikten Richtspruch, d. h. die juridische ratio als Grund nicht nur für des Prinzen Angst, sondern auch für dessen Entheroisierung benennt. Und noch darüber hinaus stellt sie heraus, dass sich im Zuge dessen Homburgs vaterländische Bindung verflüchtigen müsse: Der [der Prinz von Homburg] denkt jetzt nichts, als nur dies Eine: Rettung! […] Der könnte, unter Blitz und Donnerschlag, Das ganze Reich der Mark versinken sehn, Daß er nicht fragen würde: was geschieht? – Ach, welch’ ein Heldenherz hast Du geknickt! (PH, V. 1148–1155)
Der Herrscher hat, auch diese Schuldzuweisung lässt die Prinzessin unter Tränen mit einfließen (vgl. PH, S. 613), durch jenen gnadenlos praktizierten Gesetzesrigorismus einen Brandenburgischen Helden gebrochen. Hier horcht Friedrich Wilhelm „im äußersten Erstaunen“ (PH, S. 613) auf: „Nein, meine teuerste Natalie,/ Unmöglich in der Tat?! – Er fleht um Gnade?“ (PH, V. 1156–1157)1243 Die Prinzessin wird noch drastischer und schließt einen Bericht von Homburgs peinlichem und explizit unheldenhaftem Auftritt vor der Kurfürstin an. Die Attribuierung seines Verhaltens lässt an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig: „Verstört und schüchtern, heimlich, ganz unwürdig,/ Ein unerfreulich, jammernswürd’ger Anblick.“ (PH, V. 1165–1166) Abermals „Schillers Geschlechtertypologie des
1242 Vgl. die ausgelassenen Verse, die eine nahezu als Autopoiesis vorgestellte, zukünftige Entwicklung jenes Vaterlandes in Aussicht stellen. Von dessen ‚herrlichem Bau‘ ist da ebenso die Rede wie von dessen ‚üppiger‘, ‚feenhafter‘ ‚wonnevoller‘ ‚Verschönerung‘ (vgl. PH, V. 1131–1138). Schneider (2011) sieht Natalie an dieser Stelle „das Bild eines Märchenvaterlands“ (S. 119) beschwören. 1243 Vgl. die wiederholte, nahezu wortgleiche Nachfrage in V. 1159.
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Erhabenen“1244 invertierend wird das Bild des zum kriechenden Tier herabgesunkenen Prinzen kolportiert, gegen den ‚selbst eine Frau‘ besser Haltung anzunehmen wisse: Zu solchem Elend, glaubt’ ich, sänke keiner, Den die Geschicht als ihren Helden preis’t. Schau her, ein Weib bin ich, und schaudere Dem Wurm zurück, der meiner Ferse naht: Doch so zermalmt, so fassungslos, so ganz Unheldenmütig träfe mich der Tod, In eines scheußlichen Leun Gestalt nicht an! (PH, V. 1167–1173)
Im direkten Anschluss an diesen Passus, der Homburg so plastisch als gefallenen Helden porträtiert, artikuliert der Kurfürst seine Zustimmung zum Gnadengesuch (vgl. PH, V. 1176–1178), was deutlich für die These spricht, dass die zentrale politische Konfliktlinie des Stücks zwischen den Polen eines charismatischem Heroismus einerseits und der souveränen Gesetzesmacht andererseits verläuft. Der Herrscher zeigt sich in genau dem Moment zur Gnade bereit, als er vom zerstörten Heldenmut des Verurteilten in Kenntnis gesetzt wird.1245 Allerdings, und aus dieser Perspektive ergibt die Bedingung, an welche der Kurfürst die Begnadigung knüpft, einen guten Sinn, scheint ihm die skizzierte Entheroisierung nicht zu genügen. Gnade vor Recht ergehen lassen will Friedrich Wilhelm erst dann, „[w]enn er [Homburg] den Spruch für ungerecht kann halten“ (PH, V. 1185). Das heißt natürlich, wie auch der Prinz entsetzt erkennen wird, nichts anderes, als dass der Kurfürst dem Prinzen die juridische Dezision über den eigenen Fall überträgt. Diese Bürde einer Auseinandersetzung mit dem Herrscher auf Gesetzesebene kann Homburg, so ist im Folgenden zu zeigen, nicht tragen. Was Friedrich Wilhelms mit seiner nur auf die Prinzessin den Anschein der Großmut erweckenden Geste letztlich fordert, ist als entscheidender Spielzug des Herrschers gegen den Helden, als „List der Macht“1246, zu verstehen. Maßgeblich ist, dass der Kurfürst die Auseinandersetzung mit dem Prinzen auf der Ebene des Gesetzes fortführt; die Gnade ist hier kein souveräner Willkürakt mehr, sondern wird zur Rechtsfrage – ein Terrain, das ganz und gar nicht Homburgs Autoritätsmodus entspricht. Indem der Kurfürst ihn nach der schieren Rechtmäßigkeit des Urteils 1244 Zumbusch (2011), S. 279. 1245 So fragt auch Foi (2013), ob man „bei der Gnadenfrage nicht an einen viel heikleren Punkt im Handeln des Kurfürsten und in seiner Beziehung zum Prinzen“ (S. 46) gerät. Dazu passt überdies Hinderers (1997) Feststellung, dass Homburgs Flehen um Gnade beim Kurfürsten keinerlei Verachtung hervorruft (vgl. S. 168); Friedrich Wilhelm spielt das würdelose Verhalten des Prinzen geradewegs in die Hände. 1246 Härle (1997), S. 264.
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fragt, lässt er gerade die Instanz des Gefühls außen vor, die Homburgs Charisma begründet, und die dieser selbst sowie dessen Fürsprecher*innen immer wieder als Kern der Gnade ins Feld führen.1247 Friedrich Wilhelm drängt den Prinzen in die Rolle eines Richters über sich selbst, der seine emotionalen Impulse gänzlich ausschalten soll. Die scheinbare Ermächtigung Homburgs entpuppt sich somit rasch als groß angelegte Entmachtung.1248 Denn Homburg affirmiert in seiner Reaktion auf das kurfürstliche Schreiben die Verfahrenslogik der gesetzlichen Entscheidung, ohne auch nur im Geringsten das Bestreben zu zeigen, das Register zu wechseln.1249 Verspielt wird damit die Möglichkeit, den Konflikt durch ein Infragestellen des Gesetzes fortzuführen. Geradezu zynisch mutet vor diesem Hintergrund Friedrich Wilhelms Bemerkung an, er schätze Homburgs „Gefühl“ (PH, V. 1184) am meisten, ist es doch ebendiese Instanz des Emotionalen, die auf der Ebene des Rechts, auf der er den bereits ‚geknickten‘ Helden herausfordert, keinerlei Geltung hat. In nicht minder zynisch-suggestivem Ton sind die Schlussverse dieses Auftritts gehalten: Dass Natalie durchaus naiv die Begnadigung ihres Prinzen nunmehr als ausgemachte Sache betrachtet, kommentiert der Kurfürst im subtilen Verweis auf jene Bedingung, die angelegt ist, Homburgs Heldenkraft gänzlich zu destruieren: NATALIE […] Ich glaube Rettung – und ich danke Dir! […] DER KURFÜRST Gewiß mein Töchterchen, gewiß! So sicher, Als sie in Vetter Homburgs Wünschen liegt. (PH, V. 1205–1207)
1247 In diesem Sinne bezeichnet Deißner (2009) Natalie und Kottwitz als „Apologeten des Gefühls“ (S. 134). 1248 Insofern trifft Fois (2013) Hinweis zu, dass in Kleists Stück „die endgültige Entscheidung nicht dem Recht, sondern der Macht zukommt“ (S. 42). Schmidt (32011) vertritt eine meinen Ausführungen diametral zuwiderlaufende These, wenn er darlegt, Kleist entwerfe ein Szenario der „Vermittlung“ (S. 174) zwischen „Regierung und Regierten“ (S. 174). Aus dieser Perspektive überträgt der Kurfürst dem Prinzen die Entscheidung über den eigenen Fall, um ihn ernsthaft am politischen Entscheidungsprozess partizipieren zu lassen und ihn in einem zweiten Schritt in Richtung einer aufrichtigen Identifikation mit dem politischen System zu lenken. Die Dynamik zwischen Homburg und dem Brandenburger betrachtet Schmidt als „dichterisches Modell für das Funktionieren eines idealen Gemeinwesens“ (S. 174). 1249 „[D]azu müßte der Prinz mit dem Kurfürsten um ein besseres Recht ‚streiten‘, er müßte ‚Revolutionär‘ werden.“ (Horn (1992), S. 128) Vgl. ferner Hinderer (1997), S. 155.
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Die Frage, die sich nach dem Gesagten stellt, ist, ob sich Homburg eine solche Rettung, einen zur Rechtsfrage verkehrten Gnadenakt,1250 ernsthaft wünschen kann, der gerade nicht darauf fußt, dass der Herrscher Herz zeigt.
5.9 Ein Held soll schreiben und die Gemeinschaft schreibt. Homburgs Subordination, Natalies Befehlsfälschung und die Bittschrift Der weitere Verlauf des vierten Aktes ist von zwei gegenläufigen Bewegungen bestimmt, die erstens im Gespräch zwischen Natalie und dem Rittmeister Reuß (IV,2) und zweitens in Homburgs Dialog mit der Prinzessin über das kurfürstliche Begnadigungsangebot (IV,4) zur Geltung kommen. Die dramatische Handlung spannt sich hier in zugespitzter Weise zwischen der Heroisierungsdynamik und der juridischen Machtpraxis auf. Die Pointe dieser Kontrastbildung besteht darin, dass Kleist einerseits die praktischen politischen Wirkungen der charismatischen Affizierung betont, wenn sich die Anhänger*innen des Prinzen Schritt für Schritt ihrerseits, bemerkenswerterweise schreibend, gegen das Gesetz zu wenden beginnen.1251 Andererseits präsentiert die Gefängnisszene einen Helden, der sich im Gegenteil dem Gesetz (wieder) fügt. Was hier vorgeführt wird, ist die Verselbstständigung des Charismas, das nämlich einen Vergemeinschaftungsprozess im Zeichen ihres in die Untätigkeit genötigten Trägers in Gang setzt. Die damit entworfene politische Figurenkonstellation könnte deutlicher nicht machen, dass der Charismatiker und die von ihm leidenschaftlich ‚entzündete‘ Gefolgschaft für den Herrscher zwei gänzlich verschiedene Probleme bereiten. Anders gesagt: Die Aushöhlung des individuellen Heldenmutes, die der Kurfürst betreibt, schafft noch lange nicht dessen Wirkungen aus der Welt. In der Welt ist, darüber werden die Leser*innen im zweiten Auftritt des vierten Aktes informiert, eine vom Obristen Kottwitz im Namen des Regiments der Prinzessin von Oranien aufgesetzte Bittschrift zugunsten des Prinzen, die bereits dreißig Offiziere unterschrieben haben (vgl. PH, V. 1211–1223). Auch
1250 Es ist bezeichnend, wenn Kant die Gnade in der Metaphysik der Sitten als Machtbefugnis des Souveräns charakterisiert, die gerade keine genuine Angelegenheit des Rechts darstelle, sondern die letztlich ein ‚Unrecht‘ begründe: „Das Begnadigungsrecht (ius aggratiandi) für den Verbrecher, entweder der Milderung oder gänzlichen Erlassung der Strafe, ist wohl unter allen Rechten des Souveräns das schlüpfrigste, um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen, und dadurch doch im hohen Grade unrecht zu tun.“ (MdS, II. Teil, I. Abschn., § 49, E, II, A 206/B 236). 1251 Geisenhanslüke (2013) bemerkt in diesem Sinne, dass „der Rechtsfall durch eine Folge von Briefen und Unterschriften geregelt [wird], in deren Verlauf sich die Macht des Kurfürsten immer weiter destabilisiert.“ (S. 362) Ähnlich auch Hinderer (1997), S. 177–178 und Härle (1997), S. 262.
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Natalie soll nun, als Chefin des Regiments, unterzeichnen. Spontan überzeugt, dass ein solcher Schritt dem, wie sie ja weiß, bereits begnadigten Homburg nur nützen könne, setzt die Prinzessin zur Unterschrift an. Dann allerdings zögert sie und zeigt sich irritiert darüber, dass nur ihr eigenes, nicht aber die übrigen Regimenter des kurfürstlichen Heeres als Bittsteller auftreten. Was damit in Zweifel gezogen wird, ist die Breitenwirkung des Charismas. Reuß jedoch versichert der Prinzessin die ungebrochene, gefühlsbestimmte Solidarität des „ganzes Heer[es] der Märker“ (PH, V. 1258). Der Verfasser der Bittschrift nun ist sich darüber im Klaren, dass seine Intervention das Potential hat, an die Grenzen des Legalen zu rühren: Als sich Natalie erkundigt, warum Kottwitz das Papier nicht offensiver zirkulieren lasse, bemerkt Reuß, der Obrist wolle „nichts […] tun, das man/ Mit einem üblen Namen taufen könnte“ (PH, V. 1262–1263). Zu Tage tritt die von Kottwitz gehegte Sorge, in den Ruf des Initiators einer groß angelegten Rebellion zu geraten. Wenngleich die Supplik an sich nicht als rechtswidriger Akt gelten kann, macht im Folgenden Natalie, weniger vorsichtig als Kottwitz, deutliche Anstalten, sich über die Befehlsordnung hinweg zu setzen, um dem Gnadengesuch des Heeres weiteren Nachdruck zu verschaffen. Sie verfasst einen offensichtlich gefälschten Marschbefehl für Kottwitz, der diesen nach Berlin beordert (vgl. PH, S. 618). Dass der Kurfürst ihr den Auftrag dazu gegeben habe (vgl. PH, V. 1265–1268), stellt sich zu Beginn des fünften Aktes als bare Lüge heraus: Den Umstand, dass der Obrist mit Natalies Regiment vor seinen Toren aufmarschiert, wird Friedrich Wilhelm hier als „Rätsel“ (PH, V. 1398) bezeichnen. Dass die Prinzessin damit einer effektiven Inszenierung des Gnadengesuches, die durch die physische Präsenz des Regiments vor dem Herrscher erreicht werden soll, zuarbeitet, belegt Reuß begeisterter Zuspruch: „Beim Himmel, trefflich Fräulein!/ Ein Ereignis,/ Das günst’ger sich dem Blatt nicht fügen könnte!“ (PH, V. 1270–1271) Was dieser Auftritt IV,2 vor Augen führt, ist die Bereitschaft der sich in Homburgs Heldenschatten erhebenden Gemeinschaft, zur Durchsetzung ihrer Ziele die Rechtsordnung zu missachten. Natalie jedenfalls wird für ihre Befehlsfälschung, eine Tat, die der Rechtswidrigkeit des Homburg’schen Befehlsbruchs in nichts nachsteht,1252 keinesfalls zur Rechenschaft gezogen; der Kurfürst wird stillschweigend darüber hinweg gehen (vgl. PH, V. 1486–1500). Friedrich Wilhelm registriert, zwar Homburgs selbst, nicht aber der causa ‚Homburg‘ qua Satzung Herr werden zu können.
1252 „Natalie’s actions consist not just of the kind of failure to follow orders that was Homburg’s crime but of a level of insubordination approaching high treason.“ (Pan (2011), S. 105) Vgl. auch Allemann (2005), S. 255–256.
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Der Prinz selbst ist, das hat die Analyse der Bittszene gezeigt, zu dem Zeitpunkt, als ihm von Natalie der kurfürstliche Brief überbracht wird, seiner heroischen Tatkraft längst beraubt. Friedrich Wilhelm trifft Homburg jedoch dadurch, dass er diesen in die Rolle des Richters in eigener Sache zwingt, ein weiteres Mal. Sichtlich „betroffen“ (PH, S. 622) macht Homburg die optimistisch an einen guten Ausgang des Geschehens glaubende Natalie in IV, 4 auf die prekäre Pointe der Begnadigungsbedingung aufmerksam: „Mich selber ruft er zur Entscheidung auf!“ (PH, V. 1342) Es handelt sich um eine Entscheidung, die nicht nach Art eines dem Prinzen geläufigen, affektiven ‚Aus-dem-Bauch-heraus‘ einfach gefällt werden kann, sondern die als wohlformulierte Argumentation zu Papier gebracht werden muss. Homburg bereitet schon die blanke Form der juridischen Entscheidungsfindung erhebliches Unbehagen, wie die in dieser Szene so intensiv geschilderte, zunächst scheiternde „Schreibübung“1253 demonstriert (vgl. PH, S. 621, V. 1325–1336): Er weiß nicht, „wie […] [er] schreiben soll“ (PH, V. 1361). Die Schrift fungiert, wie schon dargelegt, nicht nur an dieser Stelle als Chiffre für das Gesetz. Indem der Kurfürst die Entscheidung über den Gnadenerweis dem Prinzen zwar übertragen hat, aber gleichzeitig an das Recht bindet, kreiert er eine ausweglose Lage für Homburg, weiß dieser doch sehr genau, dass das Gesetz keine Entscheidung zu den eigenen Gunsten zulässt. Du [Natalie] hast des Briefes Inhalt nicht erwogen! Daß er mir Unrecht tat, wie’s mir bedingt wird, Das kann ich ihm nicht schreiben; zwingst Du mich, Antwort, in dieser Stimmung, ihm zu geben, Bei Gott, so setz’ ich hin: Du tust mir Recht! Er läßt sich wieder mit verschränkten Armen an den Tisch nieder und sieht in den Brief. (PH, V. 1354–1358, S. 622)
Der Prinz muss, will er die von Friedrich Wilhelm gesetzte Bedingung nicht ignorieren, dem eigenen Todesurteil zustimmen. Der Effekt eines solchen Kniffs liegt unübersehbar darin, Homburg in die Rolle des sich selbst dem Gesetz verschreibenden Untertanen zu drängen.1254 Der Souverän tritt in diesem Zuge gerade nicht als übermächtiger Herr über Leben und Tod auf, sondern als Regierungskünstler, der seine Untergebenen
1253 Zumbusch (2011), S. 285. So auch Geisenhanslüke (2013), S. 360. 1254 Vgl. Zumbuschs (2011) mit Foucaults Spätwerk geführte Argumentation, die hier eine Kopplung von biopolitischer Staatskunst mit spezifischen Selbsttechniken ins Bild gesetzt sieht (S. 283–288). Ähnlich Härle (1997), S. 266–267.
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zur selbstständigen Einübung gehorsamer Gesetzestreue anhält.1255 Wie erfolgreich diese Erziehungsmaßnahme ist, belegt der Umstand, dass Homburg die Bedingung an sich nicht im Geringsten problematisiert, hinterfragt oder gar dagegen opponiert, sondern sich am Ende des Auftritts erfolgreich „schreibend“ (PH, S. 623) dem Todesurteil unterwirft. Der Prinz ist, seiner Handlungsfähigkeit beraubt, an dieser Stelle nicht in der Lage, dem kurfürstlichen Edukationsprogramm ein jenseits des Rechts situiertes Machtmittel – etwa sein ‚wildes Herz‘ (vgl. PH, V. 475, S. 582), das ihn zum Befehlsbruch getrieben hat, – entgegenzusetzen. Dass diese Möglichkeit bestünde, liegt ja bereits im Prinzip der Gnade selbst, worauf die Prinzessin als Homburgs wichtigste Fürsprecherin aufmerksam macht, indem sie die Gnade als das Recht übersteigenden Herzensakt des Souveräns ausweist. Dem Kurfürsten freilich ist zur Aufrechterhaltung seines streng legalistischen Herrschaftsstils empfindlich daran gelegen, die Gnade als antiaufklärerischen Willkürakt zu verdammen. Auf der Handlungsebene bringt er die Pseudo-Möglichkeit einer Gnade ins Spiel, die eigentlich keine ist: Er verkehrt den Sinn der Gnade, wenn er diese unter die Bedingung einer Ordnung stellt, innerhalb derer die Gnade als Figur der Ausnahme firmiert.1256 Die hier in Rede stehende Szene enthält diesbezüglich einen aufschlussreichen Kommentar des Prinzen, der ganz zu Recht konstatiert: „Schuld ruht, bedeutende, mir auf der Brust,/ Wie ich es wohl erkenne; kann er mir/ Vergeben nur, wenn ich mit ihm drum streite,/ So mag ich nichts von seiner Gnade wissen.“ (PH, V. 1382–1385) In diesen Worten liegt weder Homburgs „stolze Zurückweisung“1257 der Begnadigung noch der Trotz eines neu erstandenen „Heldenmuts“1258 noch das „bußfertige[ ] Zukreuzekriechen um einer Moral willen“1259, sondern die Beobachtung, dass ihm die Möglichkeit einer Gnade verstellt bleibt, die zur streitbaren Rechtsfrage entstellt ist.1260 Mit dem Terminus der ‚Vergebung‘ weist Homburg zudem, wie schon zuvor Natalie, auf die hierarchische Struktur, vor allem aber auf das affektive Fundament eines veritablen Gnadenaktes hin: Der Verurteilte könne die Gnade nur vom verzeihenden Herrscher „wie ein
1255 Schon Kittler (1987) betrachtet dies als pädagogische Maßnahme des Kurfürsten, die auf eine Affirmation der Gesetzesmacht hinauslaufen soll (vgl. S. 265) 1256 Vgl. Foi (2013), S. 46. 1257 Liewerscheidt (2010), S. 188. 1258 Kaul (2008), S. 188. 1259 Kaul (2008), S. 188. 1260 Vgl. Härle (1997), S. 265–266; Horn (1992), S. 128. Vgl. anders Geisenhanslüke (2013), der in der Ablehnung des herrscherlichen Gnadenaktes eine „vollständige Subversion des Rechts erreicht“ (S. 360) sieht. Vgl. ebenfalls anders Kauls (2008) Rede von einer freien, souveränen und heroischen Entscheidung Homburgs gegen die Begnadigung (S. 191–192).
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unverdientes Geschenk“1261 empfangen und nicht mit diesem in einen Rechtsstreit darüber eintreten. Genau besehen bringt Homburg das vermeintlich „generöse Verhalten des Fürsten in eine Zwangslage“1262, denn dieses Gnadenspiel eröffnet gerade keinen Entscheidungsfreiraum für den Verurteilten. Dass der Kurfürst der einzige ist, der über Handlungsmacht verfügt, während er selbst sich in ein juridisches ‚Verfahren‘ fügen muss, erkennt Homburg ebenfalls genau: „Er handle, wie er darf;/ Mir ziemt’s hier zu verfahren, wie ich soll!“ (PH, V. 1374–1375) Gleichwohl initiiert der Kurfürst den Streit um die Gnade, um das Gesetz nicht einfach nur durchzusetzen, sondern um den Verurteilten mehr noch zu dessen ‚freiwilligem‘ Parteigänger, zum „Partner der Staatsgewalt“1263 zu machen. Allerdings zeigt der Schluss des Dramas, dass Friedrich Wilhelm in letzter Instanz seinen Gnadenakt von dieser Bedingung löst, ja in einer Situation handfester machtpolitischer Bedrängnis Herz zeigt und damit schließlich in der Tat nicht ‚Recht vor Gnade‘, sondern ‚Gnade vor Recht‘ ergehen lässt. Natalie verkennt die Perfidie des kurfürstlichen Gnadenspiels, wenn sie annimmt, der Prinz sei am Schluss dieses vierten Auftritts des vierten Aktes zu seiner ‚ursprünglichen‘, heldenhaften Fassung zurückgekehrt, handelt es sich doch um eine heroische Wiederaufrichtung, die im Zeichen des Gesetzes eingehegt ist.1264
1261 Harnischfeger (1989), S. 251. 1262 Harnischfeger (1989), S. 272. Härle (1997) beschreibt die Situation, in die Homburg gebracht wird als „double bind“ (S. 264). Der Prinz „erkennt, daß der Freispruch niemals unbedingt sein und sein Sieg für immer ein Gesetzesbruch gewesen sein wird. Eben darin besteht der double bind: seine Struktur täuscht eine Alternative vor, die in Wirklichkeit nicht existiert, so daß die Position des Ansprechenden – dessen, der die Alternative formuliert – bestätigt wird, gleichviel für welche der alternativen Lösungen der Angesprochene sich auch immer entscheiden mag.“ (S. 265). 1263 Härle (1997), S. 264. 1264 Geisenhanslüke (2013) argumentiert im Rekurs auf Foucault und Bachtin für eine deutlich machtvollere Position des Prinzen: „Wenn Foucault die politische Groteske als Annullierung der Macht durch das Ritual bestimmt, das die Macht erst ausmacht, dann vollzieht der Prinz den grotesken Akt der Infamie, der im Zentrum des Dramas steht, indem er selbst und nicht länger der Kurfürst über Leben und Tod entscheidet. Das Ziel seiner Strategie besteht in der Wiedergewinnung der Würde, die er sich selbst abgesprochen hat und die andere ihm abgesprochen haben.“ (S. 361) Eine solche Lesart muss außer Acht lassen, dass der Kurfürst den Rahmen rigoros begrenzt, innerhalb dessen der Prinz entscheiden kann. Die daraus hervorgehende Würde hat kaum mehr etwas von der spontan-affektiven Handlungsenergie eines Helden, als der sich Homburg etwa beim Befehlsbruch zeigt. Mit dem gleichen Einwand ist Hinderers (1997) Deutungsvorschlag zurückzuweisen, der dem Prinzen angesichts dieser Textstelle eine Handlungsautonomie attestiert, ja eine „innere Wandlung“ (S. 178) der Figur beobachtet. Vgl. ähnlich wie Hinderer Schmidt (1993).
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Allerdings zeigt die entsprechende Passage, dass Homburgs charismatische ‚Ausstrahlung‘ davon unberührt bleibt und weiterhin effektiv fortwirkt: Folgt Homburg mit der Zustimmung zum Todesurteil endlich wieder seinem „Herzen“ (PH, V. 1389), so nimmt Natalie dies zum Anlass, fortan auch dem ihrigen zu folgen (vgl. PH, V. 1389–1390). Das bedeutet nichts anderes, als sich gegen das Gesetz zu vergehen: Die zuvor ihrem kurfürstlichen Onkel so naiv-vertraulich zugewandte Prinzessin schickt den Grafen Reuß unter der Vorgabe „der Herr befiehlt’s“ (PH, V. 1393) mit dem gefälschten Marschbefehl zu Kottwitz. Wenn man die im Text gestaltete Machtdynamik zwischen dem Kurfürsten und Homburg umfassend rekonstruieren will, ist es daher gerade in dieser Phase des Dramas entscheidend, zwischen Homburgs sichtlich begrenztem Handlungsradius einerseits und der machtpolitischen Agitation derer, die zu seinen Gunsten handeln, zu differenzieren: Das ‚heroische Feuer‘ des Prinzen mag verloschen sein; andere sind jedoch längst davon angesteckt. Dass ‚der Herr‘ nichts befohlen hat, belegt der Auftakt des fünften Aktes überdeutlich. Der Kurfürst ist schier fassungslos darüber, wer da unerwarteterweise vor seinen Schloßtoren aufmarschiert: „Kottwitz? Mit den Dragonern der Prinzessin?/ Hier in der Stadt?/ […] Nun? – Wollt ihr mir, ihr Herrn, dies Rätsel lösen?/ – Wer rief ihn her?“ (PH, V. 1395–1399) Das Detail, dass ihn diese Nachricht „halb entkleidet“ (PH, S. 625) ereilt, verstärkt die im Folgenden weiter ausgeschriebene politische Bedrängnis Friedrich Wilhelms, der dieser semi-professionelle Herrscherauftritt genau entspricht.1265 Dementsprechend bleiben auch des Herrschers Fragen unbeantwortet. Und mehr noch: Friedrich Wilhelm muss erfahren, dass sich nicht nur der Obrist vom ihm bestimmten Standort entfernt hat, sondern dass man sich „versammelt“ (PH, V. 1405) hat: „[D]ie gesamte Generalität,/ die [s]einem Hause dient“ (PH, V. 1404–1405), trifft sich im Berliner Rathaus, ohne dass der Kurfürst über Sinn und Zweck des Unternehmens unterrichtet wäre (vgl. PH, V. 1406). Als sogar die bei ihm weilenden Grafen Truchß und Hohenzollern sowie der Rittmeister von der Golz um Erlaubnis bitten, jener Versammlung beizuwohnen, lässt Friedrich Wilhelm die Offiziere „nach einer kurzen Pause“ (PH, S. 626) ziehen, um aber sogleich zu einem irritierten Monolog anzusetzen, in dem er über seine Optionen räsoniert, mit Kottwitz’, wie Leser und Leserin wissen, nur vermeintlichem Befehlsbruch umzugehen: Seltsam! – Wenn ich der Dei von Tunis wäre, Schlüg’ ich, bei so zweideut’gem Vorfall, Lärm; Die seidne Schnur, legt’ ich auf meinen Tisch,
1265 Vgl. hierzu auch meine Bemerkungen zur Ankleideteichoskopie in Robert Guiskard in Kapitel IV. Vgl. Pan (2011), S. 103.
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Und vor das Tor, verrammt mit Palisaden, Führt ich Kanonen und Haubitzen auf. Doch weil’s Hans Kottwitz aus der Priegnitz ist, Der sich mir naht, willkürlich, eigenmächtig, So will ich mich auf märksche Weise fassen: Von den drei Locken, die man, silberglänzig, Auf seinem Schädel sieht, fass’ ich die Eine, Und führ’ ihn still, mit seinen zwölf Schwadronen, Nach Arnstein, in sein Hauptquartier, zurück. Wozu die Stadt aus ihrem Schlafe wecken? (PH, V. 1412–1424)
Das hier anvisierte Vorhaben, des Obristen ‚Eigenmächtigkeit‘ unter den Teppich zu kehren, um keinen Aufruhr in der Stadt zu erzeugen,1266 steht in diametralem Gegensatz zur rigiden Diszplinierung des Homburg’schen, ebenfalls als „eigenmächtig“ (PH, V. 718) titulierten Befehlsbruchs. Ferner gibt der Kurfürst an, gegenüber Kottwitz ebenso wenig als Tyrann1267 auftreten zu wollen, wie zuvor gegenüber Homburg (vgl. PH, V. 1112). Gleichwohl demonstriert sein Vorsatz, dass er einen erheblichen Unterschied zwischen den beiden Befehlsbrüchigen macht: Während Homburg gerade ein ‚märkisch-deutsches‘, d. h. mildes Verhalten am Kurfürsten vermisst (vgl. PH, V. 784–785), projektiert dieser, die causa ‚Kottwitz‘ auf ebensolche „märksche Weise fassen“ (PH, V. 1419) zu wollen, sollen doch den Obristen keinesfalls so harte Sanktionen treffen wie Homburg. Der Plan, den altehrwürdigen Kottwitz in aller Stille an den Überresten seines Schopfes zum ihm befohlenen Standort zurückzuführen, kann bestenfalls als dezente Form der Maßregelung gelten.1268 Aus all dem spricht die Intention, diesen Fall denkbar klein halten zu wollen,1269 wobei der Kurfürst zu erkennen gibt, die Lage nicht zu unterschätzen: Dass er gleich im Anschluss einen seiner Diener ins Rathaus schickt, um die Versammlung heimlich auszukundschaften, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass ihm die Ereignisse Kopfzerbrechen bereiten.1270
1266 Wenn Schmidt (32011) diese Erwägungen des Kurfürsten als einen „Monolog, der ganz von stoischer Fassung zeugt“ (S. 164), liest, muss er von dem Umstand absehen, dass der Brandenburger an dieser Stelle in erster Linie das durchaus nervöse Bestreben zeigt, die eigene, sichtlich brüchige herrscherliche Autorität aufrechtzuerhalten. 1267 Der ‚Dei von Tunis‘ fungiert als Personifizierung einer in gesteigertem Maße despotischen Fürstenherrschaft. (Vgl. Barth/Seeba (1987b), S. 1293, 1277–1278). 1268 Vgl. Kaul (2008), S. 184. 1269 Auch Pan (2011) bemerkt, dass sich die politischen Handlungsmaximen, insbesondere der Gesetzesrigorismus, des Kurfürsten hier zu verändern beginnen (vgl. S. 103–104). 1270 Von einer „stoische[n] Gelassenheit“ (Schmidt (32011), S. 164) auf Seiten des Kurfürsten kann spätestens hier keine Rede mehr sein.
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Im Folgenden (V,3) tritt zu Tage, dass Friedrich Wilhelms Sorge um jenen „zweideut’ge[n] Vorfall“ (PH, V. 1413) alle Berechtigung hat; der Feldmarschall Dörfling eröffnet die Szene mit dem Ausruf „Rebellion, mein Kurfürst!“ (PH, V. 1428). Halbnackt (vgl. PH, S. 627) wird der Kurfürst davon in Kenntnis gesetzt, dass sich nunmehr „hundert Offiziere“ (PH, V. 1434) im Rathaus versammelt haben, das Bittschreiben für Homburg kursieren lassen und damit im Begriff seien, in Friedrich Wilhelms „Rechte einzugreifen“ (PH, V. 1437). Dessen zunächst lapidar entgegnetes „Nun gut! – So ist mein Herz in ihrer Mitte“ (PH, V. 1442) verkennt, in welch radikaler Weise die Herzen der Offiziere nicht um ihn, sondern um Homburg versammelt sind. Dementsprechend verfinstert (vgl. PH, S. 627) sich die Miene des Kurfürsten, als er erfährt, dass man ihm nicht nur die Bittschrift übergeben wolle, sondern weit mehr den Plan hege, den Prinzen bei ausbleibendem Gnadenakt „mit Gewalt [zu] befreien“ (PH, V. 1447). Es folgt die bereits eingangs besprochene Einlassung des Feldmarschalls, die den Herrscher an die Ansteckungseffekte des Homburg’schen Charismas gemahnt. Dörflings Rat, den Prinzen stante pede zu begnadigen und damit „eine Großtat“ (PH, V. 1467) zu begehen, lehnt Friedrich Wilhelm im Verweis auf die Gnadenbedingung allerdings (noch) ab. Dies veranlasst wiederum den Feldmarschall zum sorgenvoll apart gesprochenen „Verwünscht! – Er ist jedwedem Pfeil gepanzert“ (PH, V. 1473), was recht genau zum Ausdruck bringt, dass sich der Kurfürst zunehmend isoliert, ja den Bezug zu seinem Heer immer mehr verliert. Der fünfte Auftritt des fünften Aktes schildert den Aufmarsch der drängenden Offiziere vor dem Herrscher. Die Situation spitzt sich zu, hat doch, wie Kottwitz betont, inzwischen „das gesamte[ ] Heer[ ]“ (PH, V. 1484) die Bittschrift unterzeichnet. Gleich zu Beginn wird klar, dass Kottwitz zwar keinen Befehl gebrochen, die Prinzessin jedoch einen gefälscht hat (vgl. PH, V. 1486–1497). Anstatt auch nur die geringsten Anstalten zu machen, Natalies offenkundiges Vergehen zu ahnden, vertuscht der Kurfürst dieses sogar noch:1271 KOTTWITZ Bei Gott, mein Fürst und Herr, ich will nicht hoffen, Daß Dir die Ordre fremd? DER KURFÜRST Nicht, nicht! Versteh mich – (PH, V. 1494–1495)
1271 So auch Hinderer (1997), S. 163. „Für Natalie gönnt er [der Kurfürst] dem Satzungsprinzip offenbar auch einen Tag Urlaub.“ (Kaul (2008), S. 185).
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Nur kurz innehaltend (vgl. PH, S. 630) ist er sodann bemüht, seine durch die vermeintlich so arglose Nichte angeknackste Befehlsgewalt zu restituieren,1272 indem er den von Natalie behaupteten Befehl bekräftigt und begründet: So teilt er dem Obristen mit, dieser sei mit seinen Schwadronen herbeordert worden, um Homburg bei der morgigen Hinrichtung das letzte Geleit zu geben (vgl. PH, V. 1497–1500). Voller Schrecken (vgl. PH, S. 630) muss Kottwitz registrieren, dass der Kurfürst nach wie vor daran festhält, das Urteil zu vollstrecken. Dem Obristen bleibt, abermals auf den Inhalt der Bittschrift zu pochen (vgl. PH, V. 1510).
5.10 Staatskunst der Empfindungen. Der ‚Fürstenspiegel‘ des Obristen Es schließt sich ein Streitgespräch über die in der Bittschrift zur Verteidigung des Prinzen angeführten Argumente an, wobei im Zuge dessen auch um die ‚richtige‘ Deutung des Kriegsgeschehens gerungen wird (vgl. PH, V. 1524–1560). Ohne hier ins Detail gehen zu wollen, besteht das Hauptargument des Kurfürsten darin, dass ihn der verfrühte Aufbruch der Reiterei den zum besagten Zeitpunkt möglichen Gesamtsieg über das schwedische Heer gekostet habe (vgl. PH, V. 1541– 1546). Kottwitz Erwiderung unterstellt dagegen dem durch Homburg errungenen Teilsieg einen motivationalen Effekt zugunsten der Moral des Heeres: „Die Kunst jetzt lernten wir, ihn [den Feind] zu besiegen,/ Und sind voll Lust, sie fürder noch zu üben“ (PH, V. 1555–1556). Darin ist der erste Schritt einer rhetorischen Strategie zu sehen, die sich im Folgenden darauf richtet, mit dem Herrscher in eine Diskussion darüber einzutreten, was das Heer – und weiter auch den Staat – zusammenhält, anstatt die Beweisaufnahme des Homburg’schen Falles wieder zu eröffnen. Kottwitz nämlich setzt zu einer ausführlichen Rede an, mit der er den Kurfürsten nach Art eines modernen Fürstenspiegels en miniature zu belehren antritt. Im Zentrum dieser Rede steht die Frage, wie das „Vaterland“ (PH, V. 1573) zu regieren sei, oder auch: die „Staatskunst“ (PH, V. 1584). Der Obrist macht zuallererst deutlich, dass Homburgs Eigenmächtigkeit nicht als die innerstaatliche Ordnung bedrohende Tat bewertet werden dürfe, der man mit juridischen Geschützen beikommen müsse. Auf dem Spiel stehe schließlich das ‚Vaterland‘, nicht eine die unangefochtene Autonomie des Souveräns verbürgende militärische Hierarchie (vgl. PH, V. 1572). Dieses Vaterland sei im Angesicht des Kriegszustandes akut gefährdet, womit sich zweifelsfrei die politische Problemlage verschiebt: Der äußere Feind wird hier als die eigentliche Herausforderung für die Brandenburger – und für den Brandenburger – identifiziert. Aus dieser
1272 Vgl. zur zentralen Rolle Natalies im Rahmen der Rebellion Pan (2011), S. 105–106.
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Perspektive habe Homburg, das implizieren Kottwitz’ Darlegungen, genau richtig gehandelt: „Die Regel, die ihn [den Feind] schlägt, das ist die höchste!“ (PH, V. 1578) Das unterstellt natürlich, dass es Homburg um das Vaterland zu tun gewesen sei, als er mit der Reiterei vorgeprescht ist – eine Darstellung, gegen die man unter Berufung auf Kleists Schilderung der Szene Einspruch erheben darf. Es bildet nichtsdestotrotz den Dreh- und Angelpunkt in der Argumentation des Obristen, das Vaterland als diejenige Instanz auszuweisen, der sich das Heer leidenschaftlich verschreibt. Von der gesetzlich fixierten Befehlsordnung gehe keine derart ‚glühend‘-lebendige Bindungskraft aus: Willst Du das Heer, das glühend an Dir hängt, Zu einem Werkzeug machen, gleich dem Schwerte, Das tot in Deinem goldnen Gürtel ruht? Der ärmste Geist, der, in den Sternen fremd, Zuerst solch’ eine Lehre gab! Die schlechte Kurzsicht’ge Staatskunst, die, um eines Falles, Da die Empfindung sich verderblich zeigt, Zehn andere vergißt, im Lauf der Dinge Da die Empfindung einzig retten kann! (PH, V. 1579–1587)
Homburg gerät hier zwischen den Zeilen zum beispielhaften Vorreiter eines solchen Patriotismus, den es im Sinne einer ‚weitsichtigen‘ Staatskunst wertzuschätzen gelte. Eine mit den Emotionen der Untergebenen rechnende sowie auf diese abzielende Staatskunst empfiehlt Kottwitz an dieser Stelle, wohingegen ein legalistischer Regierungsmodus das Heer zu einem leblosen Instrument degradieren würde. Der Obrist votiert hier auch insofern für eine über das „mechanische[ ] Befehlsverhältnis“1273 hinausgehende Vorstellung der Relation zwischen Herrscher und Untertanen, als er den Kurfürsten durch einen Einblick in die eigene motivationale Disposition belehrt, die stellvertretend für diejenige der gesamten Heeresgemeinschaft ins Feld geführt wird: Man sei als Soldat gern bereit, die Vaterlandsliebe an einen „großen Namen[ ]“ (PH, V. 1594), Brandenburg also, wenn man so will, an ‚den Brandenburger‘ zu knüpfen.1274 Vor dem
1273 Schneider (2011), S. 124. 1274 Schneider (2011) spricht im Hinblick auf diesen Passus von einer Substitution des absolutistischen Souveränitätsprinzips durch die auf einer „Gefühlsdynamik“ (S. 121) fußende, vaterländische Gemeinschaft. Meiner Lesart zufolge legt Kottwitz hier aber nahe, dass nicht nur Homburg, sondern auch dem Herrscher prinzipiell die Möglichkeit offen stehe, dem „anvisierte[n] militärische[n] Nationalkörper“ (S. 121) vorzustehen. Voraussetzung dafür wäre die Performanz eines politischen Führungsprinzips, das die vaterländischen Gefühle anzusprechen in der Lage ist. Kaul (2008) sieht hier „die rechtsfreie Idee einer vaterländischen Gemeinschaft von Kämp-
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Hintergrund, dass sich das Heer in der Tat, wie Friedrich Wilhelm selbst bemerkt, dem ‚edlen Namen‘ (vgl. PH, V. 1517) des Prinzen von Homburg verschrieben hat, ergeht damit unter der Hand der Rat an den Kurfürsten, vom politischen Fall des Prinzen lernen zu können, der es offenbar – wenngleich auch nicht bewusst bzw. auf der Grundlage eines Kalküls – versteht, jene vaterländischen Gefühle zu adressieren und zu kanalisieren.1275 Recht genau analysiert Kottwitz, der immerhin in Stellvertretung der militärischen Gemeinschaft spricht, hier den Funktionsmechanismus eines charismatischen Autoritätsmodus und trägt dem Herrscher damit eine Verhaltensoption an, die diesem weit mehr als nur das „Herz“ (vgl. PH, V. 1595) des Obristen einbringen könne. Der Kulminationspunkt dieser Rede liegt darin, dass Kottwitz freimütig angibt, die Tat des Prinzen jederzeit „munter“ (PH, V. 1602) wiederholen zu wollen,1276 auch wenn ihn der Kurfürst daraufhin gleichfalls mit dem „Gesetzbuch in der Hand“ (PH, V. 1603) bestrafen würde – ein weiteres Beispiel für die Effektivität des charismatischen Affizierungsprozesses. Geisenhanslükes Bemerkung, an dieser Stelle bestätige sich, „dass sich das Recht des Prinzen endgültig gegen das des Kurfürsten durchgesetzt“1277 habe, wäre nach dem Gesagten umzuformulieren in die Schlussfolgerung, ‚dass sich das Charisma des Prinzen endgültig gegen das Recht des Kurfürsten durchgesetzt‘ hat. Zur Replik auf die „arglist’ge[ ] Rednerkunst“ (PH, V. 1611) des Obristen will der Kurfürst nicht selbst ansetzen, sondern ruft zur großen Irritation der Versammelten (vgl. PH, S. 633–634) gerade den Prinzen als Fürsprecher herbei (vgl. PH, V. 1612– 1615). Dieser solle, das stellt der Kurfürst gegen Kottwitz’ Belehrungen, den Obristen selbst „lehren, […]/ [w]as Kriegszucht und Gehorsam sei“ (PH, V. 1616–1617).
fern, die auf ihre Empfindung vertrauen und so den Feind schlagen“ (S. 183), ins Bild gesetzt und stellt Kleists Text auf dieser Grundlage in einen Zusammenhang mit Adam Müllers staatstheoretischen Schriften. Außer Acht gelassen wird dabei der Aspekt der charismatischen Affizierung. 1275 Ganz in diesem Sinne konstatiert Schneider (2011), dass der Kurfürst „im Stück lernen [wird], […] Empfindungen auch auf die Ordnung des Heereskollektivs auszudehnen, das den durchgehend präsent gehaltenen Hintergrund der Handlung bildet.“ (S. 120) Barkhoffs (1995) Lektüre der Passage geht im Gegenteil davon aus, dass der Kurfürst eine solche Machttechnik nicht erst lernt, sondern in dezidiert überlegener Position von Beginn des Schauspiels an praktiziert (vgl. S. 261–262). 1276 Spätestens hier zeigt sich, dass Homburgs eigenmächtiger und unbedachter Befehlsbruch zur nachahmungswürdigen Heldentat verklärt wird, zumal der Obrist, wie Harnischfeger (1989) bemerkt, „es als Augenzeuge besser wissen müßte“ (S. 275). 1277 Geisenhanslüke (2013), S. 363.
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5.11 Kein Spiel mehr: Ein Heldentraum ist in der Welt Dem Auftritt des Prinzen geht die Diskussion über ein zweites Bittschreiben voraus, in dem der Graf Hohenzollern für eine Teilschuld des Kurfürsten an Homburgs Befehlsbruch argumentiert. Mehr noch als Kottwitz’ Einlassungen fasst Friedrich Wilhelm dieses als baren Affront auf (vgl. PH, V. 1625). Den Kern der Beschuldigung bildet bezeichnenderweise die Auffassung, der Kurfürst habe die Wirkungen des „Scherz[es]“ (PH, V. 1653) unterschätzt, den er sich vor der Schlacht im Fehrbelliner Schlossgarten mit dem Prinzen erlaubt habe. In die Kritik gerät damit das vom Herrscher initiierte ‚Traumspiel‘, das dieser, so hat die Analyse der Eröffnungssequenz gezeigt, zu kontrollieren glaubt. Hohenzollern aber gibt zu verstehen, dass die als spielerische Vorführung des Generals gedachten Handlungen des Kurfürsten spezifische ‚Realitätseffekte‘ gezeitigt haben, d. h. aus dramenanalytischer Perspektive in fataler Weise auf die zweite Spielebene übergesprungen sind. Hohenzollern rekurriert auf sein Gespräch mit Homburg im unmittelbaren Anschluss an Friedrich Wilhelms Inszenierung (vgl. I,4). Der Prinz habe sich hier seines vermeintlich bloßen Traumes so genau erinnern können, dass er diesem einen gewissen ‚Realitätsgehalt‘ nicht habe absprechen können: Den ganzen Vorfall, gleich, als wär’s ein Traum, Trägt er [Homburg], bis auf den kleinsten Zug, mir vor; So lebhaft, meint’ er, hab er nie geträumt –: Und fester Glaube baut sich in ihm auf, Der Himmel hab’ ein Zeichen ihm gegeben: Es werde Alles, was sein Geist gesehn, Jungfrau und Lorbeerkranz und Ehrenschmuck, Gott, an dem Tag der nächsten Schlacht, ihm schenken. (PH, V. 1660–1667)
Als gottgesandte, heroische Zukunftsvision, d. h. als prospektiv realisierbares Geschehen, fasst Homburg nach Hohenzollerns Bericht die Traumsequenz auf. Der Handschuh der Prinzessin „verkörpert“ (PH, V. 1669) die Ununterscheidbarkeit zwischen Traum und Realität: Das Objekt „[z]erstört zugleich und kräftigt seinen Glauben“ (PH, V. 1670), die Ehe mit der Prinzessin und seinen Heroismus tatsächlich verwirklichen zu können. Dass der Prinz, nach Hohenzollerns Argumentation vom Kurfürsten selbst in diesen Schwellenzustand gebracht, daraufhin nicht mehr an der politischen ‚Realität‘ zu partizipieren vermocht habe, stellt der Graf heraus, indem er Homburgs Verhalten während der Verkündung des Schlachtplans kommentiert. Nur scheinbar am Leben (vgl. PH, V. 1694), habe der Prinz den Anweisungen des Feldmarschalls nicht folgen können, was letzterer im Verweis auf dessen Zerstreutheit und Abwesenheit (vgl. PH, V. 1703–1704)
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nur bekräftigen kann. Der Kurfürst registriert rasch und ungehalten (vgl. PH, V. 1706–1712), dass Hohenzollern damit suggeriert, dass das Traumspiel spezifische Konsequenzen für Homburgs Handlungen auf der vermeintlich ‚primären‘ Spielebene, der Ebene des Kriegsgeschehens, gehabt habe. Überspitzt formuliert habe Friedrich Wilhelm mit seinem Theater um den Entzug von Jungfrau, Lorbeerkranz und Ehrenschmuck höchstpersönlich dazu beigetragen, jenen Heldentraum noch zu befeuern, ja er habe den Träumer unterschwellig zur tätigen Umsetzung seines Traumes angehalten. Gegen den Versuch, derartige, vom Kurfürsten rigoros abgewehrte Schuldzuweisungen überprüfen zu wollen, sperrt sich Kleists Text in großem Stil. Was allerdings in Hohenzollerns Vorwurf steckt, ist der Hinweis darauf, dass das rahmende Traumspiel nicht mit einem Spiel im Spiel Shakespeare’schen Zuschnitts zu verwechseln ist, in dem der Herrscher die Spielbedingungen vorgibt und das Spiel am Ende zu seinen Bedingungen beendet. Kleists Kurfürst hat zu diesem Zeitpunkt seine Rolle als Regisseur längst, man muss sagen, verspielt, und dies nicht zuletzt, weil er die an den begnadeten Helden sich knüpfenden und sich fortschreitend verselbstständigenden Träume der Gemeinschaft noch immer nicht ernst nimmt. Homburgs Erscheinen vor den Versammelten demonstriert nun in meiner Lesart zweierlei: Er zeigt sich auf der einen Seite in der Tat als geläuterter Parteigänger des kurfürstlichen Legalismus. Die Art und Weise jedoch, wie er diese Rolle ausfüllt, kommt dem Machthaber auf der anderen Seite ganz sicher nicht zu Gute, denn Homburg hat seinen Heldenstatus durch die Subordination keinesfalls eingebüßt, wie der Verlauf der Szene eindrücklich belegt. Der Kurfürst mag dem Charismatiker seine affektiven Triebkräfte aberzogen haben, ohne aber die dadurch freigesetzten, längst im politischen Spiel wirkenden Kräfte im Griff zu haben. Friedrich Arthur von Homburg tritt gelassen vor den Kurfürsten und die Offiziere. Man berichtet, er habe sich auf dem Weg dorthin sogar sein Grab zeigen lassen (vgl. PH, V. 1729–1730); ein Anblick, der ihn offenbar nicht mehr in Todesfurcht versetzen kann. Und noch darüber hinaus gibt er an, den Tod nicht nur „erdulden“ (PH, V. 1745), sondern „das heilige Gesetz des Kriegs/ […]/ [d]urch einen freien Tod verherrlichen“ (PH, V. 1750–1752) zu wollen. Indem er Friedrich Wilhelms Argumentation, ein aus individuellem „Übermut“ (PH, V. 1757) errungener Sieg sei unbedeutend, mit Kottwitz’ Plädoyer für eine Priorisierung des väterländischen Interesses zusammenbringt (vgl. PH, V. 1758–1762), erklärt er sich selbst zum nunmehr gesetzestreuen Helden. Jedoch vollzieht sich in der Formulierung, er wolle dem Gesetz durch einen ‚freien Tod‘ zu Glanz und Glorie verhelfen, eine Umkodierung der jüngst vergangenen Geschehnisse im Zeichen eines juridisch begrenzten Heroismus. Denn ‚frei‘ ist der gerichtlich bestimmte und vom Herrscher gewollte Tod ganz sicher nicht, auch wenn Homburg diesem
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nach der von höchster Stelle durchgeführten politischen Erziehungsmaßnahme zugestimmt hat.1278 Hier vollzieht sich somit keinesfalls eine „heroische[ ] Selbststilisierung des Prinzen“1279; bestenfalls übererfüllt der Prinz eine ihm vom Herrscher zugewiesene und auf ihn zugeschnittene Heldenrolle.1280 So, könnte man meinen, wünscht sich der Herrscher seinen Helden: als Toten, der ihm ‚realpolitisch‘ nicht mehr gefährlich werden kann und der sich das Gesetz noch auf dem Weg ins Jenseits auf die Fahnen schreibt. Allerdings zeichnet sich direkt nach Homburgs Erklärung ab, dass die Gefahr für den Kurfürsten damit nicht gebannt ist. Denn Homburgs Anhänger*innen scharen sich sogleich „gerührt“ (PH, S. 639) um ihn und heißen ihn einen „Gott der Welt“ (PH, V. 1764). Man muss sich daher an dieser Stelle nicht in figurenpsychologische Spekulationen über den Prinzen versteigen, um die politische Dynamik zu erklären, die hier einsetzt. Ob nun Friedrich Arthur in selbstgefälliger Pose auftritt oder auch „narzißtische[n] Gefallen“1281 am drohenden, freien Heldentod findet, ist meines Erachtens nicht zu entscheiden. Zu beobachten ist allerdings eine figurale Dynamik, die – in der sich abzeichnenden Apotheose des Prinzen – demonstriert, dass sich der charismatische Wirkmechanismus unter veränderten Bedingungen aufs Neue in Gang zu setzen beginnt. Homburg gerät hier abermals ins Zentrum der Gemeinschaft; und dass die Brandenburger ihren Helden gewiss nicht tot sehen wollen, könnte deutlicher nicht sein (vgl. PH, V. 1747). Demgegenüber glaubt Friedrich Wilhelm an dieser Stelle noch, den Helden unter seine Rigide gebracht zu haben und kontrollieren zu können: Ihn anerkennend als 1278 So auch Zumbusch (2011): „Zwar zieht Homburgs nachträglich bestätigtes Todesurteil, das an der Stelle des vorgreifenden Selbstopfers zu stehen kommt, alle Register der erhabenen Selbstbeherrschung […]. Allerdings scheint Schillers Drama des autonomen […] Subjekts unter der Hand in die Formierung eines absolut gehorsamen Untergebenen transformiert worden zu sein“. (S. 286) Eine andere Lesart vertritt Schmidt (32011), der hier den „Entwicklungsgang des Prinzen von Homburg“ (S. 164), ja seine „stoische Bewährungsprobe“ (S. 164) vollendet sieht: Homburg verhalte sich ganz im Sinne von „Senecas Formel mortem condiscere“ (S. 164). Auch Hinderer (1997) argumentiert, in dieser Szene sei ein Bekenntnis Homburgs zu den „Werte[n] sowohl des christlichen Stoizismus als auch des rhetorisch-ästhetischen Konzepts des Pathetischen und Erhabenen“ (S. 179) zu beobachten. Schmidt und Hinderer deuten somit das Verhalten des Prinzen als gelingenden, auf ein bestimmtes persönliches Ziel zusteuernden, charakterlichen Progress, ohne die figurale Dynamik eines Machtspiels zwischen Herrscher und Held zu berücksichtigen. 1279 Geisenhanslüke (2013), S. 363. Ähnlich auch Liewerscheidt (2010), S. 189. 1280 Ähnlich auch Kaul (2008), die in Homburgs Vorsatz einer Verherrlichung des Gesetzes einen „Überschuß“ (S. 188) bemerkt, dann aber erstaunlicherweise ausführt, Homburg besetze an dieser Stelle die ihm vom Kurfürsten angeblich durch die Entscheidungsübertragung eingeräumte „Nische für einen heroischen Akt“ (S. 192). 1281 Harnischfeger (1989), S. 277.
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„junge[n] Held[en]“ (PH, V. 1776) adressierend, gewährt er ihm die gewünschte letzte „Gnade“ (PH, V. 1775), Natalie nicht nach Schweden zu verheiraten. In der anhaltenden Überzeugung, dass ihm Homburg tot am meisten nützt, verkündet der Kurfürst sogar noch, während er Homburg zweimal die Stirn küsst (vgl. PH, S. 640), die proleptische Vision, des Prinzen „Geist“ könne dem Brandenburgischen Heer „tot, vor den Fahnen schreitend“ (PH, V. 1792) motivationale Dienste leisten.1282 Homburg seinerseits scheint sich in diese Rolle zu fügen und kündigt an, die Engel um ihren Segen für die brandenburgischen ‚Heldenhäupter‘ anzuflehen (vgl. PH, V. 1795–1799). Bereit, nunmehr abzutreten, stellen sich dem Prinzen jedoch mehrere Offiziere „in den Weg“ (PH, S. 640). Die didaskalisch festgehaltene Verhinderung des Abtritts, der Homburg nur gelingt, nachdem er sich vom Grafen Truchß losreißt (vgl. PH, S. 640–641), zeugt davon, dass die Gemeinschaft den Helden im Gegensatz zum Kurfürsten in ihrer lebendigen Mitte sehen will, und fügt sich nahtlos in ein dramatisches Arrangement, das die von Homburg ausgehende, charismatische Affizierung als persistierend zu erkennen gibt.
5.12 Am Schluss: Gnade vor Recht Schon während Homburgs verzögertem Abtritt appelliert der Graf Hohenzollern an das „Herz“ (PH, V. 1805) des Kurfürsten, das dieser im anschließenden neunten Auftritt des fünften Aktes endlich zeigen wird. Dies tut er, meiner Lesart zufolge, aber nur, weil er erkennt, dass sich die Heeresgemeinschaft sichtlich von ihm abgewandt hat. Kleist fasst diese Ablehnung, die dem Herrscher entgegenschlägt, in die schlichte Didaskalie „kalt“ (PH, S. 641). Derart unterkühlt nämlich bittet Kottwitz, das Schicksal Homburgs besiegelt glaubend, abtreten zu dürfen (vgl. PH, V. 1811–1812). Ganz anders tritt man Friedrich Wilhelm indessen entgegen, als dieser Anstalten macht, den Prinzen doch noch in letzter Minute zu begnadigen. Letzteres geschieht, indem er die Offiziere in die Entscheidung über den Gnadenerweis miteinbezieht, was als Zeichen für das Eingeständnis zu
1282 So auch Liewerscheidt (2010), S. 190. Schneiders (2011) Lektüre des Dramenschlusses ist angesichts dieser Textstelle fragwürdig. Er deutet das Entgegenkommen des Kurfürsten gegenüber Homburg als Bekenntnis „zu der ihm vom Prinzen (als Sohn) unterstellten väterlichen Liebe“ (S. 123) und versteht den Prinzen als denjenigen, der sich „dem ihm vom Vater (als Fürsten und Befehlshaber) unterstellten Rechtsgefühl“ (S. 123) verschreibe. Somit sei „[a]us dem vertikalen Abhängigkeitsverhältnis […] eine horizontale Beziehung geworden“ (S. 123). Meines Erachtens aber ist Friedrich Wilhelms Verhalten gegenüber Homburg in der Schlussphase des Dramas keinesfalls durch (neu) entfachte väterliche Gefühle zu erklären, sondern ist gänzlich darauf ausgerichtet, sich Homburgs charismatische Aura zunutze zu machen.
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werten ist, ohne die Zustimmung der im Schatten des Charismatikers vereinten Gemeinschaft sei kein Krieg zu machen: Ja urteilt selbst, ihr Herrn! Der Prinz von Homburg Hat im verfloßenen Jahr, durch Trotz und Leichtsinn, Um zwei der schönsten Siege mich gebracht; Den dritten auch hat er mir schwer gekränkt. Die Schule dieser Tage durchgegangen, Wollt ihr’s zum vierten Male mit ihm wagen? (PH, V. 1818–1823)
Kaum steht diese Frage im Raum, überschlagen sich die Worte: Kottwitz und Truchß treten „durcheinander“ (PH, S. 642) sprechend vor: „Wie, mein vergöttert – angebeteter? –“ (PH, V. 1824) Dem Herrscher eröffnet sich hier die Möglichkeit, durch einen bedingungslosen, ‚beherzten‘ Gnadenakt in einen ähnlich gottgleichen Status erhoben zu werden, den das Heer Homburg schon längst zuerkannt hat (vgl. PH, V. 1764). Dies zeigt schon die veränderte Adressierung Friedrich Wilhelms als ‚Vergötterten‘ und ‚Angebeten‘ angesichts des in greifbare Nähe rückenden Gnadenaktes. Kurz zuvor, am Beginn dieses neunten Auftritts des fünften Aktes, als die Überzeugung vorherrscht, jedwedes Gnadengesuch sei gescheitert, hat Kottwitz den Kurfürsten noch unterkühlt-formell als „Mein Fürst und Herr“ (PH, V. 1811) angesprochen und sich zudem physisch von Friedrich Wilhelm entfernen wollen. Man will sich erwartbarerweise, so Kottwitz’ emphatische Replik auf des Kurfürsten Frage, ganz sicher, ja unter Anrufung des „lebend’gen Gott[es]“ (PH, V. 1825) ein viertes Mal mit dem Prinzen, mit jenem „Gott der Welt“ (PH, V. 1764), in die Schlacht wagen (vgl. PH, V. 1825–1828). Der Herrscher entscheidet sich direkt im Anschluss an dieses Bekenntnis des Heeres zu seinem Helden schließlich doch noch dafür, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, indem er das Todesurteil, den zu Papier gebrachten Gesetzesspruch ganz einfach „zerreißt“ (PH, S. 642) – eine Handlungsoption, die ihm, auf dieser Botschaft insistiert Kleists Text, immerhin temporär und erstmals im gesamten Stück die Herzen der Gemeinschaft sichert. Der souveräne Gnadengeber handelt durch den Gnadenakt auf derselben Ebene, welche für die charismatische Autoritätsform charakteristisch ist, ohne aber schlussendlich selbst als Charismatiker präsentiert zu werden. Dazu bedürfte es einer von der Gemeinschaft anhaltend gespendeten Gnade, die dem Kurfürsten versagt bleibt.1283
1283 Liewerscheidts (2010) These, der Kurfürst habe Homburg „[i]m Rennen um den höchsten Ruhm“ (S. 190) am Schluss des Dramas übertrumpft, „indem er den Jubel und die Bewunderung der Offiziere durch den lange vermissten Begnadigungsakt auf sich zieht“ (S. 190), muss von der Kurzweiligkeit des Zuspruchs absehen, der dem Herrscher zuteil wird.
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Kleist exponiert an dieser Stelle die Ohnmacht eines Souveräns, der durch die Aufklärung gegangen ist und dementsprechend nicht mehr als absolutistischer Sonnenkönig dei gratia ins Bild gesetzt wird. Träte er als ein solcher auf, was seine Kompetenz zum souveränen Gnadenakt einschlösse, wäre seine Herrschaft charismatisch grundiert, weil göttlich legitimiert. Diese Einsicht in einen „genuine[n] charismatische[n] Sinn des ‚Gottesgnadentums‘“1284, der implodiert, sobald „sich der charismatische Begnadete von seinem Gott […] verlassen“1285 zeigt, formuliert das Schauspiel weit vor Max Webers soziologischer Erörterung charismatischer Herrschaft. Ja, Kleist zeigt in noch über Weber hinausgehender, analytischer Direktion nicht in erster Linie, was geschieht, wenn einem Herrscher die göttliche charis abhanden kommt, ist es doch Friedrich Wilhelm von Brandenburg selbst, der auf den Zusatztitel ‚von Gottes Gnaden‘ erklärtermaßen verzichtet, wenngleich andere ihn in ein solches Himmelslicht rücken wollen. Vielmehr wird hier ein Herrscher porträtiert, der bei ausbleibendem Gnadenerweis ganz ohne den Rückhalt und die Treue seiner Untergebenen – bei Weber heißt es „Anerkennung durch die Beherrschten“1286 – seiner Untergebenen dasteht, weil er den Legitimationsgrund seiner Herrschaft im Juridischen verortet. Durch seine Bindung an das Gesetz wird er gerade nicht „als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder […] außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften begabt oder als gottgesendet oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘“1287 charismatischen Zuschnitts bewertet. Was Kleists dramatische Analytik an dieser Stelle vermerkt, ist das politische Scheitern eines rationalen Herrschaftstypus, den Weber als „legale Herrschaft“1288 bezeichnet, hinsichtlich seiner kollektiven Bindungskraft, wohingegen der unifikatorische Effekt charismatischer Affizierung herausgestellt wird.1289 Dass Kleist in Prinz Friedrich von Homburg ein anderes Gnadentum als das Gottesgnadentum thematisiert, tritt bereits in dem Detail hervor, dass derjenige Auftritt, der den tatsächlichen Gnadenakt des Herrschers schildert (vgl. PH, V,9), mit dem vom Feldmarschall – von einem ausgewiesenen Kenner des charismatischen Herrschaftstypus also – artikulierten Ausruf „O Gott der Welt!“ (PH, V. 1810) beginnt. Dem Kurfürsten wird im Verlauf der Szene die Möglichkeit einer
1284 Weber, WG, S. 492. 1285 Weber, WG, S. 492. 1286 Weber, WG, S. 492 [Hervorhebung im Original]. 1287 Weber, WG, S. 490 [Hervorhebung im Original]. 1288 Weber, WG, S. 453. 1289 Vgl. anders Kauls (2008) These, dass der Gnadenakt „die Gemeinschaft ohne Einbußen an Autorität und Menschlichkeit“ (S. 185) restituiere, ja „eine Vereinigung der Brandenburger“ (S. 185) bewirke und der herrscherlichen Machtfülle keinen Abbruch tue.
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weltlichen ‚Vergötterung‘ und ‚Anbetung‘ lediglich in Aussicht gestellt, die sich einzig durch den Gnadenakt erreichen lässt. Der Brandenburger kann daher, so lässt sich zuspitzen, als Figur gelesen werden, mittels derer der Text vorführt, dass die Gabe einer gratia bzw. charis in der politischen Moderne unter veränderten Vorzeichen verläuft: Der Herrscher empfängt die Gnade nicht mehr von Gott und kann diese ebenso wenig nach eigenem Gutdünken seinen Untertanen erweisen. Geradewegs umgekehrt verläuft der im Stück geschilderte politische Gnadenakt, der von der Menge ausgeht und sich auf den besonderen Einzelnen richtet, der gerade kein Herrscher ist. Der Text zeigt den ‚gnadenlosen‘ Kurfürsten vor diesem Hintergrund im Machtkampf mit einem zur souveränen Herrschaft eindeutig untauglichen Charismatiker. Letzteres manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass Homburg in bekanntem Kleist’schen Doppelsinne einerseits – in seiner Relation zum Souverän – als durch die Gnade Unterworfener, als ‚Begnadigter‘ auftritt und andererseits – in seiner Beziehung zur Heeresgemeinschaft – als ‚Begnadeter‘, als Empfänger der Gnade des Kollektivs inszeniert wird. Der herrscherliche Gnadenakt wird als strategisch eingesetztes ‚Bindungsmittel‘ modelliert, das dem Herrscher in einer politischen Situation einzig bleibt, die allzu deutlich vor Augen führt, dass sich die Gemeinschaft nicht vor dem Gesetz unifiziert, sondern sich emotional im Schatten des Helden zusammenschließt und gegen den Feind verschließt. Das im Kleist’schen Gnadenspiel entworfene figurale Machtgefüge spannt sich somit nicht zwischen zwei, sondern zwischen drei Positionen auf: Die Auseinandersetzung zwischen dem legalistischen Herrscher und dem Helden treibt eine weitere politische Konfliktlinie hervor, die demonstriert, dass der Kurfürst nicht der einzige Gnadengeber ist. Indem das Schauspiel schildert, dass die Affizierung auch dann noch fortwirkt, wenn der Träger des Charismas zur Handlungsunfähigkeit verdammt ist, reflektiert es die Genese einer dritten politischen Kraft, der in die Form des Militärs gefassten, und somit kriegerisch-aggressiven Gefühlsgemeinschaft.1290
5.13 Gar nicht komisch: Ein Traum von Brandenburg Der Schluss des Dramas demonstriert, wie sich diese im Schatten des Helden erstandene politische Gemeinschaft feierlich gegen den Feind aufstellt; und wie ihr Held, dem Käthchen von Heilbronn die Hand reichend, in einer Gegenbewegung 1290 Die darin liegende Gefahr für den Herrscher konstatiert Härle (1997): „Daß die Souveränität hierbei ihrerseits zum Objekt der alles überbordenden Kriegsmaschine zu werden droht, ist eine letzte Inversion, die sich im Unisono des Schlußverses, Vorschein der militärischen Volksgemeinschaft, abzeichnet.“ (S. 271).
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niedersinkt. In einer Szenenanordnung, die den Requisitenverkehr und die figurale Konstellation der Eingangsszene wiederholt (vgl. PH, S. 642–644), geht Homburg „mit verbundenen Augen“ (PH, S. 642) vermeintlich dem Tod gefasst entgegen. Vor dem Hintergrund der dramatischen Informationspolitik ist jedoch klar, dass sich hier ‚nur‘ eine Scheinhinrichtung abspielt. Der Auftritt des Kurfürsten „mit dem Lorbeerkranz, um welchen die goldne Kette geschlungen ist“ (PH, S. 643), und mitsamt seinem Gefolge auf der Schlossrampe (vgl. V,11) bildet den Auftakt für eine dramatische Schlusssequenz, in deren Verlauf der Prinz dasjenige erhält, was ihm zu Beginn des Stücks gerade entzogen wurde: Aus der Hand der Prinzessin werden ihm Ruhmeskranz sowie Herrscherkette überreicht, wobei der Kurfürst an dieser Stelle auch Natalie ‚aus der Hand‘ (vgl. PH, S. 644) gibt, die nämlich die Hand des Prinzen an ihr „Herz“ (PH, S. 644) drückt – ein Gestenspiel der Handreichungen, das neben der Erfüllung des Heldentraums auch Homburgs Liebestraum der Verwirklichung nahe zeigt. Zudem muss ihm, wenngleich es niemand direkt ausspricht, klar werden, dass er begnadigt ist. Ein solches zwischen Er- und Entmächtigung changierendes Widerfahrnis treibt den Prinzen, wie bereits das Käthchen, unmittelbar in die Ohnmacht (vgl. PH, S. 644). Der in der Anfangsszene ins Spiel gebrachte Heldentraum erfüllt sich somit an keiner Stelle im Text aus Homburgs Figurenperspektive; es wird keine teleologisch gerichtete Charakterentwicklung des Protagonisten entfaltet.1291 Der Prinz hält stattdessen der im Requisitenverkehr hypostasierten Erhebung in den Heldenstatus gerade nicht stand. Die sich auch in der intertextuellen Parallele mit dem Käthchen von Heilbronn Ausdruck verschaffende Pointe Kleists ist darin zu sehen, eine ‚individuelle‘ Unfähigkeit des Helden bzw. der Heldin vor Augen zu führen, an der politischen Heroisierung aktiv, bewusst, intentional und, wenn man so will, freudig teilzunehmen. In beiden Stücken stehen am Ende keine in der heroischen Ermächtigung glücklich aufgehenden Figuren auf der Bühne, sondern neben sich stehende, ohnmächtige Gestalten.1292 Was indes Der Prinz von Homburg in anderer Nuancierung als Das Käthchen von Heilbronn aufschlüsselt, ist als politische Dynamik zu beschreiben, die sich vom individuellen Heldentraum hin zu den Heldenträumen einer politischen Gemeinschaft verschiebt. Kleists Schauspiel analysiert in diesem Zuge die abgründige Produktivität des Heroischen für das politische Imaginäre der Moderne.
1291 Noch stärker und in subjektphilosophischer Diktion konstatiert Härle (1997) einen „Abgesang des Ich“ (S. 250): „Das Schlußbild […] zeigt eine Dissoziation, über die der Prinz kein Wissen mehr haben wird und aus der er nicht mehr zurückkehrt.“ (S. 250). 1292 Vgl. ähnlich, wenn auch in rein dramenpoetischer Argumentation Harnischfeger (1989), S. 279–280.
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Ein „Fall ins Komische“1293, den etwa Geisenhanslüke am Ende des Stücks beobachtet, mag als Beschreibung für den heroischen Protagonisten zutreffen,1294 kann aber nicht als eine erschöpfende Analyse für die am Schluss aufgefächerte Figureninteraktion oder besser: in Aussicht gestellte kollektive Aktion gelten. Es ist aufschlussreich, dass Natalie den ohnmächtigen Fall des Helden mit dem Ausruf „Himmel! Die Freude tötet ihn!“ (PH, V. 1852) kommentiert, der Schlussvers des gesamten Stückes allerdings ein zum Töten bereites Brandenburg porträtiert („ALLE In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“ (PH, V. 1858)). Dass die Ohnmacht des Helden, die als Kulminationspunkt von Homburgs breit geschilderter Entheroisierung gelten kann, Züge des Komischen trägt, steht außer Frage. Hier entsteht ein Figurenprofil, das den erhabenen Tragödienhelden in der Tat mit ‚Freude‘, d. h. mit den Mitteln des Komischen ‚tötet‘ bzw. dem Gelächter preisgibt.1295 Ganz und gar nicht komisch nimmt sich jedoch die Dynamik aus, die sich in den das Stück beschließenden Versen ankündigt. Auf den Plan tritt hier eine vaterländische ‚Macht der vielen‘, die sich zweifelsfrei im Schatten des Helden aufrichtet, erschallt doch nicht umsonst der feierliche Ruf: „Heil, Heil dem Prinz von Homburg!“ (PH, V. 1854) und weiter „Heil! Heil! Heil!/ Dem Sieger in der Schlacht bei Fehrbellin!“ (PH, V. 1854–1855)1296 Der Prinz kommentiert dies mit seinem berüchtigten „Nein, sagt! Ist es ein Traum?“ (PH, V. 1856) und erhält von Kottwitz die nicht minder legendäre Entgegnung: „Ein Traum, was sonst?“ (PH, V. 1856) Kleist markiert das Heroische damit nachdrücklich als Bestandteil des politischen Imaginären, macht jedoch auch klar, dass die Heldenträume „[i]ns Feld!/ […] [z]ur Schlacht!/ […] [z]um Sieg“ (PH, V. 1857) drängen, d. h. direkt auf das Terrain einer brutalen ‚Realpolitik‘ führen.1297 Notiert wird hier der Sprung von einem scheinbar bloß harmlos-träumerischen, scherzenswürdigen Heroismus zum blutigen Ernst
1293 Geisenhanslüke (2013), S. 367. 1294 Zumbusch (2011) spricht im Hinblick auf Homburg von einem „Absturz des Erhabenen ins Komische“ (S. 289), sieht aber darin anders als Geisenhanslüke (2013) kein „Lob der Komödie“ (Geisenhanslüke, S. 364), sondern „ein Drama ungewisser Gattung“ (Zumbusch, S. 289) entstehen, das bestenfalls als „Farce“ (S. 289) zu bezeichnen sei. 1295 Darin sieht Schneider (2011) den Sinn von Kleists gattungsspezifizierendem Untertitel „Schauspiel“: „Das tragische Opfer wird nicht vollzogen […]; der Held festigt die Gemeinschaft nicht durch sein Blut, sondern sein Bild.“ (S. 126). 1296 Boyken (2012) merkt zu Recht, wenn auch etwas zu allgemein an, dass Kleist stets „brüchige Heldenfiguren“ (S. 289) präsentiere, vernachlässigt aber gänzlich die politischen Figurenkonstellationen und Szenarien, innerhalb derer jene „Heldendemontage“ (S. 301) zu verorten ist. 1297 Abgeschwächter formuliert Schneider (2011): „Kleist stellt eine strahlende Heldenikone in den Mittelpunkt der Bühne, die einen Kollektivkörper gegen einen unsichtbaren Feind zusammen schweißt.“ (S. 117).
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einer vaterländischen Vernichtspolitik,1298 was sich nicht zuletzt darin Ausdruck verschafft, dass der ohnmächtige Prinz von Kanonenschüssen erweckt wird (vgl. PH, S. 644). Komisch kann ein solcher im Schlussvers zur politischen Vision verdichteter, vaterländischer Gnadenakt der Menge schlechterdings nicht genannt werden, macht er doch in seiner aggressiven Direktion alles andere als lachen.1299 Die Heldenträume der Gemeinschaft, dies darf man als analytischen Impetus des Kleist’schen Heldenstücks werten, werden in letzter Instanz als die zentralen, zur Gewalt tendierenden politischen Triebkräfte identifiziert. Ob und wie sich diese auch auf einen Herrscher kaprizieren können, diskutiert Kleist im Fragment gebliebenen Robert Guiskard, das ganz in diesem Sinne mit einem ‚unruhig bewegten‘ Auftritt des Volks beginnt.
1298 Kittler (1987) sieht an dieser Stelle sogar einen „totalen Krieg“ (S. 266) in Aussicht gestellt und parallelisiert das Dramenende mit „der Brutalität der ‚Hermannsschlacht‘“ (S. 266). 1299 Vgl. anders Geisenhanslüke (2013), der am vehementesten die These von einem komödienhaften Dramenschluss vertritt (S. 364–368).
IV Schlussbemerkungen: Der Heldenauftritt des Herrschers. Robert Guiskard im Zelt Kleists 1808 im Phöbus erschienenes Trauerspiel-Fragment Robert Guiskard, Herzog der Normänner endet nach nur 524 Versen mit dem verzweifelten Ruf eines Volksvertreters nach dem „Vaterland“ (RG, V. 524).1300 Ein Vaterland, das für die Normänner wenn nicht schon verloren ist, so doch in akuter Gefahr schwebt. Denn ihr Heer belagert nicht nur in einem strapaziösen Kriegsunternehmen Konstantinopel, sondern muss zusätzlich den Kampf mit einem wenigstens ebenso mächtigen Feind wie Byzanz aufnehmen. Die Pest geht um im Lager, jenes todbringende „Scheusal“ (RG, V. 28), dessen Zerstörungskraft die wütende Klage des Volks gleich zu Beginn des Textes unmissverständlich zur Sprache bringt (vgl. RG, V. 1–36).1301 Diese existentielle Bedrohung kollidiert mit dem politischen Auftrag, den Putschkaiser Alexius Kommenes zu entmachten, da er, immerhin in Kleists Version, den vormaligen Souverän Michael VII., den verstorbenen Gatten der Tochter des Titelhelden, auf dem Gewissen hat. Zu dem Zeitpunkt, als die Handlung des Stücks einsetzt, ist das Heer durch die Seuche so sehr in Bedrängnis geraten, dass es seinen Regenten zur Rede stellen und letztlich zur Aufgabe der Kriegsmission bewegen will. – Doch wie soll man einen zur Rede stellen, der sich in seinem erhöht gelegenen Zelt gänzlich nach außen abgeschirmt hat und der, das teilen seine Vertrauten mit, inmitten der Kriegswirren ausgiebig schläft? Damit ist die politische Ausgangssituation des Fragments skizziert, in dessen Zentrum ein Herrscher steht, ja und gleichzeitig nicht steht. Denn Robert Guiskard ist ein Mächtiger, von dem lange unsicher ist, ob er überhaupt auftreten wird und der gleichwohl während der gesamten Handlung präsent ist: Der Herzog tritt zwar erst im letzten Auftritt vor das übrige dramatische Ensemble (vgl. RG, S. 251), befindet sich aber von Beginn des Textes an auf der Bühne, und zwar in einem Zelt, in dessen unmittelbarer Nähe sich die Ereignisse abspielen. Kein Geringerer als der titelgebende Herrscher harrt also seines Auftritts. Dementsprechend ist auch das Zelt nicht irgendein Kriegszelt, sondern das Zentrum
1300 Vgl. auch meine früheren Überlegungen Rocks (2016a). 1301 Reuß (2000) beschreibt das kommunikative setting, mit dem das Fragment einsetzt, als paradoxe Struktur: „Das Volk“ (RG, S. 237), d. h. eine aus verschiedenen Einzelnen bestehende Gemeinschaft ergreift das Wort und formiert sich zu einer Stimme. Neben dieser schon strukturell angelegten Problematik einer ‚Volksstimme‘ weise der Text auch inhaltlich auf die prekäre Artikulationskraft des Volk hin (vgl. S. 4–5). Hahns (2011a) Beitrag konzentriert sich ausgehend von diesem Befund auf die vom Volk und insbesondere von dessen Sprecher betriebenen Interventionen im politischen Kommunikationsgeschehen des Fragments. https://doi.org/10.1515/9783110660722-005
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politischer Entscheidungen oder, mit Kleists Worten: der „Bezirk […],/ Wo sich der kühne Schlachtgedank’ ersinnt“ (RG, V. 70–71). Das Textarrangement lässt indessen keinen Zweifel daran, dass zumindest die direkte dramatische Darstellung vor dem Zelt Halt machen muss. Der Dialog mit dem Herrscher, mithin die traditionelle Kommunikationsform des Dramas, bleibt dem drängenden Volk bis kurz vor Schluss des Fragments verwehrt. Allerdings wird eine Handlungsform entworfen, die immer wieder den Blick ins Zelt gewährt, ohne aber die Szenerie direkt in dessen Inneres zu verlegen. Die eigentümliche Zelt-Existenz Guiskards stellt, so möchte ich argumentieren, nicht nur den interpretatorischen Angelpunkt des Fragments dar. Kleists Text kann überdies in den Dienst einer Schlussbetrachtung dieser Arbeit gestellt werden, weil Robert Guiskard als ein Herrscher figuriert wird, dessen charismatische Ausstrahlung nur solange ihre Produktivität entfaltet bzw. das politische Spiel bestimmt, wie er in jenem Kriegszelt verbleibt. Damit steigert sich der in der Einführung dieser Studie anhand der Frage nach dem Ort des Helden herausgestellte Abwesenheitstopos in größtmöglicher Weise: Während etwa Egmont, Tell, Käthchen oder Prinz Friedrich zwar auftreten, aber in den politischen Gründungsoder Repräsentationsszenen, sei es mental oder physisch, abwesend sind, sich also nicht in die Mitte der Gemeinschaft drängen und gleichwohl als Held*innen rezipiert oder stilisiert werden, implodiert Guiskards heroisches Charisma mit seinem Auftritt als Herrscher. Kleists Fragment gewährt dem Herrscher einen Heldenauftritt ausschließlich ‚im Zelt‘ und kann somit als Kulminationspunkt einer dramatischen Analytik des Politischen betrachtet werden, welche die Bedingungen eines charismatischen ‚in Erscheinung Tretens‘ nochmals präzise vor Augen führt. Kleist ‚zerlegt‘ mit anderen Worten im Guiskard-Fragment den charismatischen Auftritt geradewegs in seine Bestandteile, ja schafft – verglichen mit den übrigen Texten – ein Szenario maximal gesteigerter figuraler (De-)Präsenz. Damit wird die Genese des Helden als Resultat eines kollektiven Imaginationsprozesses ausgewiesen. Dass Robert Guiskard im Unterschied zu den anderen hier diskutierten Held*innen ein souveräner Herrscher ist und möglicherweise aufgrund dessen nicht in einer Linie mit ihnen gesehen werden kann, macht ihn nur auf den ersten Blick untauglich für eine Schlussbetrachtung. Gerade weil Guiskard ein als Held geltender Herrscher ist, lässt sich hier beispielhaft etwas über die institutionelle Reichweite heroischer Autorität erfahren. So liest sich Robert Guiskard wie ein Lehrstück über die Konfrontation von Charisma bzw. Heroismus und systemischer Repräsentationalität. Sein Figurenprofil ähnelt in dieser Hinsicht demjenigen der in dieser Arbeit diskutierten Heldin in frappierender Weise: Auch bei Käthchen ist der Moment, in dem sie zur Kaisertochter wird, d. h. in dem sie als Braut und Tochter in das dynastische System eingepasst wird, der Punkt, an dem
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ihre heroische agency abbricht und sie zusammenbricht. Robert Guiskard ‚steht‘ seinen – von Kleist bis aufs Äußerste verzögerten – repräsentativen Herrscherauftritt, so wird zu zeigen sein, ebenfalls nicht durch. Solange er im Zelt sitzt und andere über ihn sprechen, bleibt die Suggestion seiner Handlungsmacht im Spiel. Sobald er aber zur herrscherlichen Repräsentation ‚antritt‘, zeigt sich jene bloß antizipierte Heldenkraft als gefährdet. Für ein Gesamtresümee eignet sich der Text also vor allem, weil Kleist gewissermaßen ausprobiert, ob der Held zum politischen Repräsentanten und Funktionsträger taugt. Wenn etwa schon Schiller seinen Tell mitnichten als schlussendlich überzeugten Revolutionär porträtiert, so zeigt Kleists Fragment ungleich drastischer, dass ein Held nicht herrschen kann, d. h. nicht die institutionelle Höchststellung in einer politischen Hierarchie einzunehmen vermag; das Zentrum im politischen Imaginären einer Gemeinschaft, für die jenes Zelt symbolisch steht, besetzt er indessen sehr wohl, wovon der Dramenentwurf in sinnfälliger Weise Zeugnis ablegt. Geradewegs kontrastiv zu Weber wird dergestalt die Unmöglichkeit einer Transformation des Charismas in die Systemformen traditionaler oder rationaler Herrschaft literarisch zur Darstellung gebracht. Der Text bringt diese Spannung durch eine ihrerseits kurz vor dem Zusammenbruch stehende dramatische Form zur Geltung, was aber nicht nur auf den Fragment-Charakter zurückzuführen ist. Kleist findet mit der Darstellung des Zeltes als einer lediglich bedingt zugänglichen Sphäre innerhalb des Bühnenraums eine szenische Anordnung, die es ermöglicht, eine noch nicht aufgetretene Figur sichtbar zu machen. Wenn die Darstellung dergestalt zwischen Auftritt und Abgang oszilliert, wird ein dramatischer Sequenzierungsmodus gewählt, der das traditionelle Schema distinkter Auf- und Abtritte zur Disposition stellt. Es wird zwar ein Zugang zum Zelt gewährt, allerdings ausschließlich in Form von Teichoskopie und Botenbericht. Doch auch diese beiden narrativen Modi dramatischer Bühnenrede geraten hinsichtlich ihres Darstellungspotentials auf den Prüfstand. Skizziert ist damit eine zwischen figuraler Präsenz und Depräsenz schwankende Dramenform, die einen fulminanten Heldenauftritt des Herrschers von Beginn an unsicher erscheinen, aber gleichzeitig indirekt geschehen lässt. Im Zuge dessen wird die kollektive Vorstellungskraft als diejenige Sphäre markiert, in der ein heroisches ‚In Erscheinung Treten‘ des Herrschers unter den Bedingungen der politischen Moderne noch möglich ist. Genauer führt das Fragment vor, wie eine spezifische visuelle Dynamik die Suggestion charismatischer Macht etabliert, aber auch in Zweifel zieht.1302 Aber nicht nur die subtil gestalteten Blick-
1302 Vgl. zur visuellen Logik politischer Repräsentationsregime grundsätzlich Vogel (2012), S. 542–546; Frank u. a. (2002), S. 9; Lüdemann (2002); Balke (2001), S. 666–667.
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verhältnisse, sondern auch ein Spiel mit akustischen Effekten kennzeichnet jene analytische Figuration, die sich aus dem szenographischen Arrangement ‚der Herrscher im Zelt‘ heraus entspinnt. Das Zelt fungiert somit einerseits als Reflexionsraum für die Funktionsweise charismatischer Macht und ist zugleich der Austragungsort eines ‚Dramas‘ der dramatischen Darstellung.1303 Auch weil Robert Guiskard in exemplarischer Weise eine gattungsspezifische Formproblematik mit einer auf die Figur des Charismatikers konzentrierten, politischen Analytik verknüpft, wie es für sämtliche in dieser Studie diskutierte Held*innendramen charakteristisch ist, eignet sich das Fragment für eine abschließende Lektüre. Um Kleists mit einem ‚Drama des Dramas‘ verbundenem ‚Drama des Charismas‘ auf die Spur zu kommen, bedarf es der Beantwortung zweier zunächst denkbar einfach anmutender Fragen. Erstens: Wie gelangt man in das Zelt des Herrschers? Und zweitens: Was geschieht im Zelt des Herrschers?
1 ‚Schaut! Horcht!‘ – Der schlafende, der kränkelnde Herrscher? Zunächst aber noch grundsätzlicher: Wo befindet sich das Zelt das Herrschers? Eine Antwort gibt die Didaskalie zu Beginn des Textes: Szene: Zypressen vor einem Hügel, auf welchem das Zelt Guiskard’s steht, im Lager der Normänner vor Constantinopel. Es brennen auf dem Vorplatz einige Feuer, welche von Zeit zu Zeit mit Weihrauch, und andern starkduftenden Kräutern, genährt werden. Im Hintergrunde die Flotte. (RG, S. 236)
Hier wird nicht nur die räumliche Lage des Zeltes beschrieben, sondern mehr noch eine eindrucksvolle Kriegsszenerie vor Augen gestellt, die den Schauplatz als ein die Sinne betörendes Spektakel der Macht inauguriert. Dabei könnte die visuelle Ordnung des dramatischen Raumes auf den ersten Blick nicht klarer sein: Das Heer lagert abschüssig, den begehrenden Blick nach oben gerichtet zur allseits sichtbaren, aber freilich nicht einsehbaren Machtzentrale.1304 Von allen
1303 Die dramenpoetologische Bedeutungsebene ergibt sich nicht zuletzt aus der von Kleist selbst insistierend ins Spiel gebrachten und in der Forschung verschiedentlich diskutierten These, ein vollständiges Guiskard-Trauerspiel sei letztlich unausführbar gewesen. Vgl. dazu meine Bemerkungen in FN 1331. Vgl. Hahn (2011a), S. 49–50, 65, Hahn (2011b), S. 21; Blamberger (2011), S. 186–189, 195–201; Greiner (2000), S. 143–145, Greiner (2001). 1304 Es liegt auf den ersten Blick nahe, eine solche dramatische Raumordnung als Chiffre eines panoptischen Machtmodells zu lesen. Ich werde jedoch im Folgenden argumentieren, dass
1 ‚Schaut! Horcht!‘ – Der schlafende, der kränkelnde Herrscher?
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erwartet wird der sich im Inneren des Zeltes befindende Souverän. Die alsbald ertönenden Ankündigungsrufe zweier Krieger „Schaut! Horcht!“ (RG, V. 55) und „Das Guiskardszelt eröffnet sich –“ (RG, V. 55) stellen dessen Auftritt dann auch in Aussicht und sind im Übrigen deutliche Hinweis darauf, dass sich das Zelt in Sicht- und Hörweite aller befindet. Doch aus dem Zelt tritt vorerst nicht Guiskard selbst, sondern seine Tochter Helena,1305 die sich dem Volksauflauf als Erste stellt. Sogleich aber formuliert sie eine Restriktion, die den Zutritt zum Bereich rund um das Herrscherzelt betrifft: „Habt ihr das ernste Kriegsgesetz vergessen,/ Das Stille in der Nacht gebeut, und ist/ die Kriegersitt’ euch fremd, daß euch ein Weib/ Muß lehren, wie man dem Bezirk sich naht,/ Wo sich der kühne Schlachtgedank’ ersinnt?“ (RG, V. 67–71) Zu laut habe sich die Gesandtschaft dem Herrschaftsbezirk genähert, was sowohl einen formalen Verstoß gegen Kriegssitte und -gesetz darstelle, als auch – ganz trivial – den von seinen Pflichten ermatteten Regenten „[e]mporschreckt aus des Schlummers Arm“ (RG, V. 76), also in seinem wohlverdienten Schlaf störe, so die besorgte Tochter. Die Macht des schlafenden Herrschers reicht so weit, dass sich das Volk darauf einlässt, in aller Stille und betend auf sein Erwachen zu warten (vgl. RG, V. 100–102). Allerdings verzichtet der der Gesandtschaft vorstehende Greis Armin auch nicht auf folgenden, genau besehen wenig dezenten Hinweis: „Wir glaubten Guiskard nicht im Schlummer mehr./ Die Sonne steht, blick auf, dir hoch im Scheitel,/ Und seit der Normann denkt, erstand sein Haupt/ Um Stunden, weißt du, früher stets, als sie.“ (RG, V. 90–93) Der schlafende Herrscher im Kontrast zur offenbar berühmten normannischen Tugend Kleists Fragment, indem es den Herrscher ins Zelt versetzt, eine topographische Struktur findet, die das panoptische Machtmodell geradezu invertiert und dergestalt zum Erliegen bringt, weil dieser Mächtige nichts sieht und betontermaßen auch nichts hört. Das Drama weist das Zelt gewiss nicht als Ort einer effektiv beobachtenden, von einer unsichtbaren Position aus disziplinierenden, souveränen Macht aus, wie es im Panoptikum strukturell angelegt ist. Vielmehr steht ein charismatisches Machtkonzept zur Disposition, das allerdings mit dem Panoptikum die Eigenschaft teilt, dass die politische Repräsentation nicht mehr über die Inszenierung einer fulminanten Sichtbarkeit und damit auch nicht mehr als spektakulärer Herrscherauftritt funktioniert. Vgl. zur Inszenierung panoptischer Machtstrukturen Vogel (2012) am Beispiel von Schillers Don Carlos (1787), bes. S. 542–546. 1305 Dass Helena das Machtzentrum als erste für einen Auftritt vor dem Volk verlässt, stellt ihre exponierte Rolle im dargestellten politischen Gefüge heraus. Guiskards Tochter ist in Kleists Fragment keine Geringere als die griechische Kaiserin und damit der ausschlaggebende Grund für den normannischen Kriegszug gegen Byzanz: Sie wurde nach der Ermordung ihres Mannes Michael VII. von den Putschisten vertrieben und Robert Guiskard tritt an, den Rechtsanspruch seiner Tochter auf die Kaiserkrone durchzusetzen. (Vgl. Greiner (2001), S. 138–139). Die Bedeutung der Figur Helenas ist nicht zu unterschätzen, zumal sie diejenige ist, die ihren Vater am Schluss des Fragments davor bewahrt, in Gegenwart der Volksvertreter zusammenzubrechen.
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IV Schlussbemerkungen: Der Heldenauftritt des Herrschers
des Frühaufstehens – unterstützt durch diese Polemik seines Redeführers1306 zeigt sich das Volk auch nach Helenas neu vorgebrachter Sorge um den ungestörten Schlaf des Vaters beharrlich und wartet mit dem devot artikulierten Versprechen, sich leise zu verhalten (vgl. RG, V. 100), in der Nähe des Zeltes. Vernehmlich wird nun allerdings, wenn auch diskret, Guiskard selbst. Es mag als Detail gelten, wenn Helena seinen Auftritt in Gestalt eines akustischen Eindrucks ankündigt: „[…] Und irr’ ich nicht,/ Hör’ ich im Zelt auch seine Tritte schon.“ (RG, V. 122–123) Fokussiert man die Auftrittsfolge, so ist dies der Auftakt für eine der vielen Ankündigungen, dass der Herrscher alsbald die Szene betreten wird, was jedoch in diesem Fall und über weite Strecken des Textes folgenlos bleiben wird.1307 Der dramatische Spannungsbogen nährt sich somit aus der bloßen Antizipation charismatischer Größe, ohne dass deren Träger selbst in Erscheinung träte. Helenas und auch Armins zahlreiche Hinweise auf den Hörsinn (vgl. RG, V. 52–53, 55, 58–59, 68, 75, 88, 100, 119, 123) spezifizieren, dass eine solche Auftrittssuggestion nicht nur
1306 Eine eingehende Betrachtung der Rhetorik Armins findet sich bei Hahn (2011a). Zentral für seine Analyse ist der Begriff der Akklamation, der in der politischen Theorie eine durch unmittelbaren Zuruf erfolgende Willensäußerung der Menge bezeichnet. Der Text spiele die Akklamation in ihrem artikulatorischen Potential durch (vgl. bes. S. 56–59), wobei auch die Funktionen und Effekte der Vermittlungsinstanz Armin reflektiert würden (vgl. S. 50–51, 55). Nachdem das Volk sein politisches Begehren im ersten Auftritt als Klage bzw. im affektiven Modus des Jammerns (vgl. RG, V. 23, 44, 51) vorgebracht hat, wird die Frage nach der ‚rechten‘ Form von Volkssouveränität meines Erachtens nur vorläufig und vordergründig zugunsten eines Modells von Vertretung entschieden. Es wäre weiter zu überlegen, ob der „Ausschuß“ (RG, V. 42) jener „zwölf bewehrten Männer“ (RG, V. 43) tatsächlich eine handlungsfähige Körperschaft beschreibt, welche die Interessen des Volks effektiv vertritt. Im Sinne dieser Fragestellung müsste die Figur des Greises genauer analysiert werden, v. a. sein merklich autoritärer Redestil. Hahn (2011b) weist Armin im Gegensatz dazu als Figur eines nicht-klassischen, weil im Sinne des Volkes agierenden Intriganten aus (vgl. S. 32). Zuzustimmen ist der Überlegung, dass Armin ein wesentlicher Akteur in dem vom Text entfalteten „Staatsstreich-Theater[ ]“ (S. 37) ist, wobei den gegen das Volk gerichteten, aggressiven Implikationen seiner Rhetorik (vgl. etwa RG, S. 243) mehr Gewicht beizumessen ist. Zu fragen wäre vor diesem Hintergrund, ob das Fragment nicht ebenso von innerrevolutionärer Gewalt sowie von der Gewalt der Institution ‚Volksvertretung‘ handelt. Vogel (2015) bezweifelt ebenfalls, dass Kleist hier einen funktionierenden Volks-Ausschuss sowie eine reüssierende Kollektivartikulation gestaltet und konstatiert stattdessen ein Schwanken „zwischen plebiszitärer und repräsentativer Organisation“ (S. 302). Kleists Eröffnungsszene führe einen „misslingenden Versuch von demokratischer Selbstorganisation vor Augen“ (S. 302). 1307 Auch Vogel (2015) macht darauf aufmerksam, dass hier eine dramatische Erwartungsstruktur in Szene gesetzt wird, „die auf eine Epiphanie ausgerichtet ist“ und dergestalt den Auftritt eines „‚großen Mannes‘“ (S. 301) in Aussicht stellt. Im Ausgang von diesem Befund arbeitet Vogel die auch in meiner Lektüre fokussierten „Störungen in der Präsenzpolitik des Feldherrn“ (S. 311) heraus.
1 ‚Schaut! Horcht!‘ – Der schlafende, der kränkelnde Herrscher?
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durch die visuelle Anordnung zustande kommt: Das Zelt zieht alle Augen auf sich und versammelt alle Ohren um sich. Durch Helenas energisches Bestreben, die akustische Kulisse rund um das Zelt zu reglementieren, stellt der Text aus, dass die Behauptung der charismatischen Macht nicht nur eine Angelegenheit der Sichtbarkeit, sondern ebenso der Hörbarkeit ist.1308 Aber auch in umgekehrter Richtung ziehen die Volksvertreter Helenas Hörsinn, den sie als Gewährsinstanz für einen baldigen Auftritt des Herrschers bemüht, umgehend in Zweifel (vgl. RG, V. 124–125). Die Gesandtschaft wartet weiterhin vergeblich auf Guiskard und deutet Helenas Auftritt denn auch bar jeder Naivität als Verzögerungstaktik bzw. als Rede um den „heißen Brei“ (RG, V. 129) herum. Im unmittelbaren Anschluss an diese Szene allerdings tritt jemand auf, und zwar ein am Zelteingang postierter Wachmann, der im Gegensatz zu Helena Brisantes von den Vorgängen im Zelt zu erzählen weiß. So Brisantes, dass er die Geschehnisse vor dem Volk zu verbergen sucht, indem er die Köpfe der normannischen Gesandtschaft beiseite führt und „geheimnisvoll“ (RG, S. 242) von den Vorfällen der vergangenen Nacht zu berichten anhebt. Abermals ist hier zu fragen: Was geschieht im Umkreis des Zeltes? bzw., da erneut auch die Akustik entscheidend ist: Was hört man aus dem Zelt? Da ich die Wache heut, um Mitternacht, Am Eingang hier des Guiskard’szeltes halte, Fängt’s plötzlich jammervoll zu stöhnen drin, Zu ächzen an, als haucht’ ein kranker Löwe Die Seele von sich. Drauf sogleich beginnt Ein ängstlich heftig Treiben, selber wecket Die Herzogin sich einen Knecht, der schnell Die Kerzenstöcke zündet, dann hinaus Stürzt aus dem Zelt. Nun auf sein Rufen schießt Die ganze Sippschaft wildverstört herbei. (RG, V. 142–151)
1308 Auch in der Szene, in der Armin als „Stimme“ (RG, V. 48) des Volks fungiert, konstituiert sich dessen Autorität vordringlich über Versuche, die Geräuschkulisse unter seine Kontrolle zu bringen. Während das Volk einfordert, Guiskard müsse möglichst lautstark und eindringlich von der kollektiven Not erfahren („Doch wenn er/ Nicht hört, der Unerbittliche, so setze,/ Den Jammer dieses ganzen Volks, setz’ ihn,/ Gleich einem erznen Sprachrohr an, und donn’re,/ Was seine Pflicht ist, in die Ohren ihm –!“ (RG, V. 49–53)), ist der Greis um eine akustisch gedämpfte Form der Kommunikation mit dem Herrscher bemüht (vgl. RG, V. 60–61). Armin beschließt die Szene ganz in diesem Sinne mit der Anweisung zur Geräuschlosigkeit: „Still denn!/ Daß keiner einen Laut mir wagt!“ (RG, V. 58–59).
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IV Schlussbemerkungen: Der Heldenauftritt des Herrschers
Mithin un- oder auch leichtbekleidet schießt der Herrscherclan aufgrund einer beunruhigenden, aus dem Zelt dringenden Geräuschkulisse herbei (vgl. RG, S. 152–155). Dies wird im Kontrast zum merklich dubiosen Auftrittsmodus einer weiteren, für diese Episode zentralen Figur herausgestellt, die nach Angabe des Wächters, begleitet von einem Knecht, zum Zelt eilt: Der Knecht [kommt], mit einem eingemummten Dinge, das Auf meine Frag’, sich einen Ritter nennt. Nun zieht mir Weiberröcke an, so gleich’ Ich einer Jungfrau ebenso, und mehr; Denn Alles, Mantel, Stiefeln, Pickelhaube, Hieng an dem Kerl, wie an dem Nagelstift. (RG, V. 156–161)
Der Wachmann vermutet ob dieser offenbar trügerischen Kostümierung einen Anschlag und verschafft sich Klarheit über die Identität jenes ‚eingemummten Dinges‘. Kleist betont abermals die visuelle Schranke, die um das Herrscherzelt herum gezogen wird, wenn er den Wachmann seinen Blick insofern neu justieren und verbessern lässt, als dieser den/die Unbekannte/n nunmehr gezielt im „Mondenlicht“ (RG, V. 164) betrachtet. Zum Schock aller erkennt er Jeronimus, den Leibarzt des Herzogs, was unmittelbar den Verdacht aufkommen lässt, dass sich auch Guiskard mit der im Kriegslager grassierenden Pest angesteckt hat (vgl. RG, V. 167–168). Armin erkennt sogleich das gefährliche Potential dieses Gerüchts1309 und wird sogar handgreiflich in seinem energischen Versuch, die Eingeweihten zum Schweigen zu bringen (vgl. RG, S. 243, V. 168). Zeit, sich in Spekulationen zu ergehen, bleibt ohnehin nicht, denn kurz darauf öffnet sich das Zelt ausgewiesenermaßen unter den Augen aller erneut (vgl. RG, V. 170, S. 243). Heraus tritt abermals nicht Guiskard, sondern die beiden Normännerprinzen Robert und Abälard, der Sohn und der Neffe des Herzogs.
1309 Vgl. dazu den umfangreichen, systemtheoretisch argumentierenden Beitrag von Hahn (2004), der in Kleists Fragment insgesamt ein Modell intriganter politischer Kommunikation am Werk sieht und allen voran das Gerücht als Medium wohl platzierter Störungen im kommunikativ strukturierten Machtgefüge analysiert. Vgl. ferner Reuß (2000), der den Text ausgehend von der Pest-Thematik als groß angelegte Reflexion über die Infektionen und die Krankheit liest, welche die dramatische Sprache bzw. Repräsentation bei Kleist befallen. Reuß allerdings thematisiert die offensichtlichen politischen Implikationen einer solch fundamentalen und im Übrigen gattungsspezifischen Darstellungskrise nur am Rande.
2 Vor dem Zelt: Die politische Bühne der Prinzen
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2 Vor dem Zelt: Die politische Bühne der Prinzen Der nun folgende sechste Auftritt läuft auf einen rhetorischen Schlagabtausch zwischen den beiden Aspiranten auf den Thron hinaus, der sich vor dem Herrscherzelt abspielt. Dass dies der Ort ist, an dem sich die Macht, nicht nur die charismatische des immer noch nicht aufgetretenen, aber in der Figurenrede präsenten Herrschers, sondern auch die seiner prospektiven Nachfolger konstituiert, wird insofern markiert, als der zentrale Standort des Zeltes noch einmal plastisch vor Augen geführt wird. Die dem Auftritt vorausgeschickten Didaskalien (vgl. RG, S. 243) und Ankündigungsformeln (vgl. RG, V. 170) lassen keinen Zweifel an der qua Raumstruktur etablierten, exponierten Sichtbarkeit des Zeltes, an der gesteigerten Präsenz des hinter den dünnen Wänden verborgenen Machtbereichs. Die Lage des Zeltes richtet den Blick des dramatischen Ensembles in die alles überragende Vertikale aus. Dass sich der im Nebentext fixierte Vorspann zum Auftritt der beiden Thronanwärter durch eine Blickregie auszeichnet, die abermals das Zelt fokussiert, ergibt auch mit Blick auf die 1797 in den Horen veröffentlichte Funck’sche Guiskard-Biographie einen eindrücklichen Sinn. Diese ist vielleicht nicht als die Hauptquelle, aber mindestens als ein einschlägiger Intertext des Fragments zu betrachten.1310 So ist bei Funck Genaueres über die symbolische Bedeutung des Herrscherzeltes nachzulesen: Als Guiskard im Krieg um Durazzo eine entscheidende Schlacht gegen den byzantinischen Kaiser Alexius gewinnt, zählen zu den erbeuteten Kriegstrophäen „eine Menge eroberter Fahnen, und das kaiserliche Zelt“1311. Ob nun Guiskard jene „kostbare[ ] Beute des griechischen Lagers“1312 zu seinem permanenten Kriegswohnsitz macht, verrät Funcks Text zwar nicht. Außer Zweifel steht jedoch, dass das Herrscherzelt auch im Guiskard-Fragment als begehrte Beute firmiert, wenn es genau an der Stelle erneut in den Mittelpunkt der dramatischen Aufmerksamkeit gerückt wird, da sein zukünftiger ‚Bewohner‘ zur Disposition steht. Dass es also auch bei Kleist ein Herrscherzelt zu erbeuten gilt, wird hier noch deutlicher als in den vorherigen Auftritten, die den aktuellen Machthaber als Schlafenden und mutmaßlich Todkranken inszenieren. Der Funck’sche Intertext transportiert die Bedeutung des Zeltes als eines überschreibbaren repräsentativen Requisits und gleichzeitig als eines fluktuierenden Machtraums: Die Kriegsbeute, die vom glorreichen Sieg über einen großen Herrscher zeugt, kann abgebaut und potentiell an anderer Stelle und von einem/r neuen Besitzer/in replatziert, wieder errichtet und über verschiedene Symbolregister
1310 Vgl. Barth/Seeba (1991a), S. 676–679. 1311 Funck (2000) [zuerst 1797], S. 88. Diesen Hinweis verdanke ich Juliane Vogel. 1312 Funck (2000) [zuerst 1797], S. 88.
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IV Schlussbemerkungen: Der Heldenauftritt des Herrschers
besetzt werden. Es wird damit auf eine Mobilität und auch Übertragbarkeit der Macht – freilich unter den Bedingungen des Krieges – angespielt, die in ihrer Repräsentationspolitik auf kein in seiner Bedeutung fixiertes Zentrum angewiesen ist. Das erbeutete Herrscherzelt ist nicht nur räumlich verschiebbar, sondern weist die souveräne Position selbst als verstellbares Raubgut aus, die nicht nur auf dem einen Weg dynastischer Erbfolge angeeignet werden kann. Nicht zuletzt ist das derart mit intertextueller Bedeutung aufgeladene Zelt als Indiz dafür zu lesen, dass das zur Disposition stehende Feld der Macht in unterschiedlicher Weise angeordnet werden kann.1313 Das Zelt bildet dementsprechend das unbestrittene Strukturzentrum des dramatischen Raums. Die topographische Ordnung der zur Diskussion stehenden Szene erscheint vor diesem Hintergrund so subtil wie folgerichtig, kreist doch der sich vor dem Zelt abspielende Widerstreit der beiden Prinzen um die Möglichkeitsbedingungen von politischer Ermächtigung und Nachfolge. Aus dem symbolträchtigen Zelt treten die beiden Prinzen, kurz nachdem der Wachmann durch seinen Bericht das Gerücht einer Pesterkrankung Guiskards unter das Volk gebracht hat. Der Auftritt des Herzogs wird in dieser Situation noch dringlicher, wäre doch seine bloße physische Präsenz ein anschauliches Exempel anhaltender 1313 Bezüglich des intertextuellen Verweisungspotentials des Herrscherzeltes ist zudem auf Friedrich Hebbels Judith-Tragödie (1841) aufmerksam zu machen, wobei ich diesen Hinweis Barbara Thums verdanke. Auch bei Hebbel spielt das Herrscherzelt als Verhandlungsort der politischen Machtdynamiken eine maßgebliche Rolle. Besondere Beachtung verdienen der vierte und fünfte Akt, deren Schauplatz im Unterschied zu Robert Guiskard der Innenraum des Zeltes ist. Bereits der Auftakt des vierten Aktes zeigt, in Überbietung der Kleist’schen Konstellation, keinen kranken Herrscher, sondern einen, der mutmaßlich kurz vor dem Suizid steht. Im Beisein des schlafenden Holofernes sprechen seine Hauptleute im Zelt über dessen selbstmörderische Absichten und Alpträume. Doch Hebbel zeichnet wie Kleist keineswegs einen ausschließlich schwachen Herrscher, da Holofernes das Gespräch mit anhört und sein Gefolge daraufhin kurzerhand in ein Gespräch über Sinn und Wesen des Todes verstrickt (vgl. Hebbel, J, S. 45–46). In einem fulminanten Akt individueller Gewalt wird Holofernes von Judith, die er zuvor in einem nur hinter dünnen Vorhängen verborgenen Schlafgemach (vgl. J, S. 54, 63–64) seines Zeltes vergewaltigt hat, auf genau diesem Lager im Zelt schlafend enthauptet. Hebbel lässt somit sein politisches Drama anders als Kleist dezidiert im Zelt spielen. Dort ereignet sich denn auch der bei Kleist ausbleibende Angriff auf den Herrscher. Der Text stellt mit Judiths Tyrannenmord ein mit den Volksinteressen verbundenes, aber nicht vollends darin aufgehendes weibliches Heldentum ins Zentrum. Der Umstand jedoch, dass Judith die Enthauptung des Holofernes als eine in hohem Maße abgründige, eigensinnige „Heldentat“ (J, S. 67) problematisiert, zu der sie mitnichten die Not ihres Volkes motiviert habe (vgl. J, S. 67–68), spricht dafür, dass das Herrscherzelt auch hier einen Schauplatz darstellt, der in gesteigertem Maße eine literarische Reflexion konkurrierender Machtkonzepte ermöglicht. Bei Hebbel wird ein Modell heroischer weiblicher Handlungsmacht kritisch durchgespielt, und dies in der Konfrontation mit einem Konzept männlichen Kriegsheldentums (vgl. auch J, S. 74–75).
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Macht. Doch der allseits erwartete Herrscher tritt und tritt nicht auf, was dann auch gleich zu Beginn der Szene, welche die beiden um den Thron konkurrierenden Prinzen in den Mittelpunkt stellt, abermals zum Thema wird.1314 Dass der Souverän – nicht aber der Charismatiker – in einer handfesten Auftrittskrise steckt, tritt in der Rede seines Sohnes Robert zu Tage. Dieser postiert sich am Rand des Hügels (vgl. RG, S. 243) und kommentiert den Volksauflauf vor dem Herrscherzelt voller Verärgerung. Es handele sich um eine „Schar […],/ Die mit gezückten Waffen hellen Aufruhrs,/ […] durch’s Lager schweift,/ Und mit lautdonnernden Verwünschungen,/ Die aus dem Schlaf der Gruft ihn schrecken könnten,/ Aus seinem Zelt hervor den Feldherrn fordert.“ (RG, V. 181–186) Das politische Anliegen des Volkes artikuliert sich, so Roberts Vorwurf, als lautstarke Aufforderung zum Auftritt, wobei der Greis umgehend auf der Angemessenheit der Forderung insistiert und sich zudem dagegen verwahrt, diese sei in anstößig-lärmendem Ton vorgetragen worden (vgl. RG, V. 188–191). Roberts Versuch, die Macht seines Vaters dadurch zu stabilisieren, dass er auf die zeremoniellen Bedingungen des herrscherlichen Auftritts vor dem Volk aufmerksam macht, setzt wesentlich auf die Einhaltung klarer akustischer Regeln, womit er die bereits skizzierte Strategie seiner Schwester Helena fortsetzt. Dass es bei Roberts Beharren auf der Befolgung dieses Hör-Regimes nicht um Nuancen, sondern letztlich ausschließlich um die widerspruchslose Anerkennung der Autorität des Herrschers geht, wird deutlich, wenn er in seinen Befehl, dass sich die Volksvertreter umgehend zurückziehen sollen, auch die akustische Anordnung einspeist, dies solle „lautlos“ (RG, V. 220) geschehen. Wie schon in den Auftritten zwei und drei ist hier zu beobachten, dass Guiskards Getreue den Zugangsweg zur souveränen Sphäre dadurch einzuschränken versuchen, dass angemahnt wird, die Gesandtschaft habe sich dem Zelt in einer Weise genähert, die das politische Auftrittszeremoniell in seinen akustischen Statuten verletze. Allerdings zerstreut auch diese disziplinatorisch gerichtete Restriktionsgeste das Begehren des Volkes nach seinem charismatischen, ja fast schon gottgleichen Herrscher eben gerade nicht. Vielmehr reformuliert der Greis dieses sogleich in sakraler Diktion:1315 „Mit Demut haben wir, wie’s längst, o Herr!/ Im Heer des Normanns Brauch und Sitte war,/ Gefleht, daß Guiskard uns erscheinen möge“ (RG, V. 202–204). Die Suggestion des herrscherlichen Charismas steht, das belegen diese Worte eindrücklich, in noch gesteigerterer Weise im Raum: ‚Demütig-flehend‘, d. h. in religiöser Erwartungshaltung, hofft das Kollektiv auf ein ‚Erscheinen‘ seines Herrschers.
1314 Dass die beiden Prinzen ihren Streit vor dem Zelt austragen, untergräbt, so auch Vogel (2015), Guiskards prospektiven Auftritt in seiner Machtwirkung (vgl. S. 317, FN 42). 1315 Vgl. Vogel (2015), S. 301–302.
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Der Umstand, dass dessen Vertraute mit so großem Nachdruck auf die Schwierigkeit hinweisen, Robert Guiskard leibhaftig zu Gesicht und Gehör zu bekommen, führt somit dazu, dass der Wunsch nach der Präsenz des heroischen Herrschers ungleich dringlicher wird. Das Beharrungsvermögen der Normänner wird im Folgenden auf eine weitere Probe gestellt, denn die immer deutlicher werdende Auftrittskrise Guiskards kulminiert in Verhandlungen über dessen Position, ja in einem handfesten Streit um den Thron. Dieser kreist ganz wesentlich um die Frage nach der politischen Bindekraft charismatischer Autorität. Zu diesem Zweck lässt Kleist die beiden Prinzen als Vertreter zweier konträrer Herrschaftsprinzipien auftreten, die sie bemühen, um ihren Anspruch auf die politische Nachfolge als legitim auszuweisen.1316 Robert, Guiskards Sohn und damit qua dynastischer Ordnung der rechtmäßige Thronfolger, setzt auf die Einhaltung untertänigen Gehorsams, wenn er dem Volk in einschüchternder Manier den Rückzug befiehlt (vgl. RG, V. 218–220). Abälard, Guiskards Neffe, hingegen zeigt sich als virtuoser Rhetoriker und gibt Robert eine veritable Lehrstunde in Sachen politischer Seelenführung. Mit dieser charismatischen Strategie, so will es die Funck’sche Lebensbeschreibung des historischen Guiskard, ist im Übrigen auch der Herzog selbst unter klarem Verstoß gegen das normannische Erbfolgerecht an die Spitze des Staats gelangt. Nach dem Tod des vormaligen Herrschers, Guiskards Bruder, hätte eigentlich dessen Sohn Abälard an die Macht kommen müssen (vgl. auch RG, V. 278–283).1317 In einer für Kleist typischen chiastischen Konstellation pocht nun der von Guiskard um seine politische Führungsposition gebrachte Neffe Abälard nicht auf einen erbrechtlich verbürgten Machtanspruch, sondern verfolgt seinerseits eine charismatische Agenda. Dies kann als Versuch gewertet werden, Guiskard mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Hatte der Wachmann Guiskard als einen kranken Löwen bezeichnet (vgl. RG, V. 145) und damit die Ikonographie vom Herrscher als Löwen demontiert, 1316 Grundlegend ist hier der Beitrag von Denneler (1981), die das Problem von politischer Ermächtigung und Nachfolge anhand der als gegensätzlich verstandenen Modelle von ‚Legitimation‘ und ‚Charisma‘ im Text verhandelt sieht. Allerdings wird dabei die eingeschränkte Frageperspektive verfolgt, welchem Herrschaftsprinzip Kleist im Fragment mit Blick auf die zeitgenössischen politischen Verhältnisse das Wort rede (vgl. S. 87). In Schmidts (32011) Interpretation spielen die realpolitischen Konstellationen im Preußen des frühen 19. Jahrhunderts eine ähnlich große Rolle (vgl. S. 132–136), wobei den Text in meiner Lesart eine weitaus abstraktere politische Reflexionsebene auszeichnet. Das Thema politischer Ermächtigung wird komplexer diskutiert, als es Dennelers titelgebende Dichotomie suggeriert. Ansätze dazu finden sich bei Greiner (2001), der darauf aufmerksam macht, dass Geltung und Legitimität der genannten Herrschaftsprinzipien für sämtliche Figuren des Fragments problematisiert werden (vgl. S. 138–139). 1317 Vgl. Funck (2000) [zuerst 1797], S. 50–51.
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so ist Abälard bestrebt, die ursprüngliche Bedeutung wiederaufzubauen und das Bild im Rahmen der eigenen Strategie einzusetzen. Seine Rede inszeniert dementsprechend den im Volk so beliebten Herzog als volksnahen Souverän, der um die ‚wahren Triebkräfte‘ seiner Untertanen wisse und diese schätze. Zusätzlich bringt Abälard wenig unterschwellig und in Form einer polemischen Anfeindung gegen seinen Konkurrenten Robert den eigenen Herrschaftsanspruch ins Spiel: Wär’ mein, das kecke Volk, das dir mißfällt, Ich möcht’ es anders wahrlich nicht, als keck; Denn seine Freiheit ist des Normanns Weib, Und heilig wäre mir das Ehepaar, Das mir den Ruhm im Bette zeugt der Schlacht. Das weiß der Guiskard wohl, und mag es gern Wenn ihm der Krieger in den Mähnen spielt; Allein der glatte Nacken seines Sohnes Der schüttelt gleich sich, wenn ihm eins nur naht. (RG, V. 234–242)
Abälards charismatisches Credo verdichtet sich in der an den ‚unbehaarten‘ und daher, so die Logik des sexualisierten Bildes, zum virilen Herrscher untauglichen Robert gerichteten Sentenz: „Durch Liebe, hör’ es, mußt du sie [die Normannskrone] erwerben,/ Das Recht gibt sie dir nicht, die Liebe kann’s!“ (RG, V. 245–246) Doch der Angriff gegen den Cousin geht noch weiter, wenn Abälard auf eine Differenz zwischen Vater und Sohn aufmerksam macht, die sich auf ihren jeweiligen Umgang mit dem Volk bezieht: Allein von Guiskard ruht kein Funk’ auf dir, Und diesen Namen mindstens erbst du nicht; Denn in der Stunde, da es eben gilt, Schlägst du sie schnöd’ ins Angesicht, die jetzt Dich auf des Ruhmes Gipfel heben könnten. Doch ganz verlassen ist, wie du wohl wähnst, Das Normannsheer, ganz ohne Freund, noch nicht. Und bist du’s nicht, wohlan, ich bin es gern. Zu hören, was der Flehende begehrt, Ist leicht, Erhörung nicht, das Hören ist’s: Und wenn dein Feldherrnwort die Schar vertreibt, Meins will, daß sie noch bleib’! (RG, V. 247–258)
Der Sohn sei eben nicht wie der charismatische Vater um die ‚Freundschaft‘ des Volks bemüht, die sich bezeichnenderweise dadurch konstituiere, dass der Herrscher sein Volk ‚höre‘, im Sinne von ‚anhöre‘. Indem Abälard die Gesandtschaft als Gruppe von ‚Flehenden‘ bezeichnet, die sich ‚Gehör‘ verschaffen will, greift er genau das Vokabular auf, das der Greis in der Beschreibung der kollektiven Erwartungshaltung verwendet hat (vgl. RG, V. 204). Was der machtversessene
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Neffe jedoch nicht registriert, ist, dass Guiskards Charisma in einer komplexen Dynamik von Annäherung und Distanz entsteht und nicht nur auf einer, wie er meint, freundschaftlichen Volksnähe fußt. So hatte ja Roberts Verweis auf die Distanz zwischen Herrscher und Volk gerade dazu geführt, dass Guiskard umso ‚flehentlicher‘ erwartet wird. Wenn man es genau nimmt, ist eigentlich der scheinbar nur zum rigiden Machtwort fähige Robert weitaus beschlagener in der Frage, wie man zwar nicht das eigene, wohl aber das väterliche Charisma behauptet. Der ‚Funke‘ Guiskards glüht vielleicht nicht in ihm; wie er aber jenes Heldenfeuer entfachen kann, darum scheint Robert allemal zu wissen. Das Ringen um die Krone findet wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt statt, da der amtierende Herrscher keineswegs abgedankt hat. Gleichwohl wird in aller Öffentlichkeit und in Hörweite Guiskards über die politische Zukunft verhandelt. Mehr noch befragen beide Anwärter auf den Thron sogar das Volk und appellieren an dessen politische Entscheidungsgewalt, wenn Robert, gefolgt von einer nahezu wortgleichen Bekräftigung Abälards (vgl. RG, V. 285), herausstellt: „Ihr Guiskard’ssöhne, die mein Wort vertreibt,/ Und seines schmeichlerisch hier fesseln soll,/ Euch selber ruf’ ich mir zu Richtern auf!/ Entscheiden sollt’ ihr zwischen mir und ihm“ (RG, V. 266–269). Nebenbei bemerkt verraten diese Verse in pointierter Verkürzung abermals das ‚Geheimnis‘ charismatischer Auratik: Nur in der Balance von ‚Vertreiben‘ und ‚Fesseln‘, von Distanznahme und Annäherung entsteht Charisma. Was die Frage nach einer politischen agency des Volkes betrifft, ist festzuhalten, dass es in diesem sechsten Auftritt vor allem darum geht zu zeigen, wie das Volk von den beiden Prinzen im Sinne ihrer jeweiligen Agenda zu instrumentalisieren versucht wird. Der von Armin geführte Ausschuss wird von den Mächtigen kaum als eigenständiger politischer Akteur aufgefasst; es wird über das Volk und dessen mutmaßliche Begehrlichkeiten gesprochen, ohne dass die Stimme aller ernsthaft zu Gehör kommen würde.1318 Allerdings ‚entscheidet‘ sich das Volk am Ende des Auftritts für einen der beiden Cousins. Zunächst scheint es, als würde man sich tatsächlich auf Abälards Seite schlagen, was bedeuten würde, dass sein charismatischer Auftritt gelungen 1318 Hahns (2011a) Interpretation, dass der Text das Volk durch verschiedene Formen akklamatorischer Rede als „radikaldemokratischen Akteur auf die Bühne“ (S. 65) bringe, ist daher aus meiner Sicht insofern zu relativieren, als die artikulatorischen Interventionen des Volks und seines rhetorischen „Mediums“ (S. 61) Armin in ihrer internen Dynamik als problematisch ausgewiesen werden, insbesondere aber auch in ihrem nur begrenzten Einfluss auf die Prinzen und auf Guiskard vorgeführt werden. Schmidts (32011) Einschätzung, dass der Text kein revolutionäres bzw. im basalen Sinne demokratisches, sondern ein moderates, „aufgeklärt-reformerisches“ (S. 133) Konzept der Volkspartizipation verhandele, muss von der abgründigen, apokalyptischen politischen Rhetorik Armins und des Volkes gänzlich absehen, die wiederum Hahn (2011b) herausarbeitet (vgl. S. 30–31, 38–39).
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wäre. In einem längeren Redepassus begründet der Greis dann aber die Wahl des Ausschusses, die letztlich zu Roberts Gunsten ausfällt. Zentral dabei ist, dass es der nach wie vor in seinem Zelt verharrende Guiskard ist, gegen den Abälard verliert, und nicht Robert selbst. Der Greis jedenfalls fühlt sich durch Abälards Auftritt in seine Jugend zurückversetzt, genauer: in die Geburtsstunde von Guiskards Herrschaft: Dein Anblick, sieh, verjüngt mich wunderbar; Denn in Gestalt und Red’ und Art dir gleich, Wie du, ein Freund des Volks, jetzt vor uns stehst, Stand Guiskard einst, als Otto hingegangen, Des Volkes Abgott, herrlich vor uns da! (RG, V. 292–296)
Armin berichtet hier von einem fulminanten charismatischen Auftritt Guiskards in der Vergangenheit, der sich im Moment eines Machtvakuums ereignet hat: Der amtierende Herrscher ist gestorben, Guiskard tritt in ‚freundschaftlicher‘ Haltung vor das Volk und gewinnt umgehend die Herzen, ja wird „[d]es Volkes Abgott“ (RG, V. 296). Nichts spricht nach diesen Worten dagegen, dass es Abälard nicht gelingen könnte, auf ebendiesem Wege an die Macht zu gelangen. Allerdings erteilt ihm der Greis im Folgenden einen Rat für die Zukunft, der sich gleichzeitig als Warnung liest. Erstens empfiehlt er dem politisch Aufstrebenden, sich auf seinem Weg stets der „Gunst des Oheims“ (RG, V. 300) zu versichern; Guiskard sei die „Sonne“ (RG, V. 300), von der sich Robert bzw. „[s]eines Glückes Pflanze“ (RG, V. 299) „bestrahlen“ (RG, V. 301) lassen solle. Im Rahmen dieser botanischen Metaphorik bewegt sich auch das Mahnwort, das Armin an Abälard richtet: „Doch eines Düngers, mißlichen Geschlechts,/ Bedarf es nicht, […]/ Der Acker, wenn es sein kann, bleibe rein.“ (RG, V. 304–306) Dass Guiskards Neffe in der Tat versucht, sein politisches ‚Wachstum‘ mit unnatürlichen Mitteln zu beschleunigen, manifestiert sich am Ende des sechsten Auftrittes. In diesem Moment ist das Heer bereits im Begriff, auf Roberts Geheiß hin die Szenerie zu verlassen (vgl. RG, V. 314–315), und Abälard platzt, „zum Volk gewandt“ (RG, S. 248), mit der petzend-denunzierenden Offenbarung „Der Guiskard fühlt sich krank.“ (RG, V. 325) heraus. Dies ist als Reaktion darauf zu verstehen, dass der Greis zuvor verkündet hat, man werde sich Roberts Befehl fügen, den Vorplatz des Zeltes zu verlassen und sich damit, dem Lob auf Abälards charismatische Führungsqualitäten zum Trotz, gegen den Neffen des Herzogs entscheiden. Die Parteinahme für Robert allerdings erfolgt in aller Unterkühltheit (vgl. RG, S. 247) und erklärtermaßen nur aufgrund der ungebrochenen Loyalität zum Vater, die gewissermaßen auf den Sohn abfärbt: „Wenn du [Robert] befiehlst zu gehn, wir trotzen nicht./ Du bist der Guiskard’ssohn, das ist genug!“ (RG, V. 312–313) Man lässt sich auf ein späteres Zusammentreffen mit Guiskard
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vertrösten (vgl. RG, V. 314–315) und erteilt dem noch in den Kinderschuhen steckenden, ja dem noch defizitären Charismatiker Abälard eine Absage, was abermals von der anhaltenden Stabilität des Guiskard’schen Charismas zeugt, das ganz ohne direkten Auftritt, aus dem Zelt heraus seine Wirkung behauptet. Dieser ‚abwesende Held‘ ist nicht einfach dadurch herauszufordern, dass man in seine Fußstapfen tritt. Man muss, so könnte man den analytischen Faden beschreiben, der in dieser Szene ausgelegt wird, sich von ihm ‚besonnen‘ lassen, nicht gegen ihn polemisieren und einfach warten, bis er aus dem Zelt heraustritt – da er dann, wie sich zeigen wird, von selbst (fast) umfällt.
3 Dubiose Botenszenen oder: Blicke ins Zelt Im Raum steht nunmehr der durch Abälard nochmals befeuerte Verdacht von einer Pestinfektion Guiskards. Robert reagiert auf die brisante Verlautbarung durch unmittelbaren Rückzug ins Zelt und überlässt damit dem Cousin immerhin die direkte politische Bühne (vgl. RG, S. 248). Das Volk sieht sich vor ein apokalyptisches Szenario gestellt, man bittet die „Himmelsscharen“ (RG, V. 331) um ihren Beistand und glaubt sich „[v]erloren ohne Guiskard rettungslos“ (RG, V. 333). Allen Gerüchten zum Trotz aber ist es weiterhin von der politischen Führungskraft des Herzogs überzeugt und will von Abälard mehr über dessen mutmaßliche Erkrankung erfahren. Dieser verlässt für seinen Bericht die ‚Machtzentrale‘, wenn es in der entsprechenden Didaskalie heißt: „ABÄLARD von dem Hügel herabsteigend“ (RG, S. 248). Was folgt, ist ein Bericht von den Vorgängen im Zelt. Dass der Greis Abälard als „Bote[n] des Verderbens“ (RG, V. 336) bezeichnet, kann als ein deutliches Signal dafür gewertet werden, dass der Text hier an die Tradition von Botenszene und Teichoskopie anknüpft. Denn beide Formen der Rhesis haben, folgt man der antiken Tragödienkonzeption, undarstellbare, bisweilen ungeheuerliche und in jedem Falle hinter- oder außerszenische Ereignisse zum Inhalt, die aus technischen, meistens aber aus inhaltlichen Gründen nicht auf der Bühne stattfinden können.1319 Was ereignet sich also im Zelt oder besser: im Lazarett? Folgt man Abälard, so steht es für den gesamten Herrscherclan außer Zweifel, dass sich Guiskard mit der Pest infiziert hat; nur vom Herzog selbst werde dies noch geleugnet 1319 Vgl. dazu die antike Grundlegung in Horaz’ Ars Poetica (Hor., ars, 179–188). Vgl. ausgehend von einer Neuformation teichoskopischer Verfahren im Drama um 1800, dann aber im Sinne einer Dynamisierung der Gattungsgrenzen auch exemplarisch zum Erzählwerk Hoffmanns Gunia/Kremer (2001). Vgl. mit Blick auf Penthesilea Brandstetter (1997). Vgl. für einen Überblick über die Belegstellen in der antiken Literatur Zimmermann (1996).
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(vgl. RG, V. 338–343). Um das Gerücht zu bekräftigen, lässt es der Bote nicht an einem äußerst ‚beredten‘ Beleg für Guiskards körperliche Schwäche mangeln. So rezitiert er einen Dialog, den er mit dem Herrscher im Zelt geführt haben will: „– Noch eben, da er auf dem Teppich lag,/ Trat ich zu ihm und sprach: Wie geht’s dir, Guiskard?/ Drauf er: ‚Ei nun,‘ erwidert’ er, ‚erträglich! –/ Obschon ich die Giganten rufen möchte,/ Um diese kleine Hand hier zu bewegen.‘“ (RG, V. 347– 351) Dieser Rapport von den jüngst vergangenen Geschehnissen im Zelt scheint zu bestätigen, was alle fürchten. Ganz im Sinne des überlieferten Strukturschemas der Botenrede werden die geschilderten Ereignisse sogleich als ungeheuerlich rezipiert, wenn der Greis mit größtem Schrecken ausruft: „Es ist entsetzlich!“ (RG, V. 359) Legt man die Darstellungsprinzipien antiker Dicht- und vor allem Tragödienkunst zugrunde, mit denen hier, das wird im Folgenden offensichtlich, in großem Stil gespielt wird, ist damit eine direkte dramatische Darstellung ausgeschlossen. Klar ist, dass es Abälard, nach seiner ‚Schlappe‘ vor dem Volk, mit seinem Blick ins Innere des Zeltes offensichtlich darauf anlegt, das herrscherliche Charisma zu attackieren, das im Blick des Volks auf das Zelt persistiert. Der Bericht wird, wohlgemerkt von ein und derselben Figur, fortgesetzt, wechselt aber in das Tempus des Präsens, ja bezieht sich im Reportagestil auf gegenwärtige Vorgänge, womit ein eng verwandtes dramatisches Formelement, eine Mauerschau nämlich, in Szene gesetzt wird. Stellt man an diesen teichoskopischen Blick ins Zelt abermals die Frage, was sich im Zelt ereignet, so begegnet nun kein kranker, vor Schwäche am Boden liegender Guiskard mehr, der kaum die eigene Hand zu bewegen vermag. Im Gegenteil zeichnet Abälard das Bild eines agitationswilligen Herrschers, der eifrig Kriegspläne gegen Byzanz schmiedet (vgl. RG, V. 359–378). In merklichem Kontrast zu dem kursierenden Gerücht, er habe die Pest, erscheint Guiskard in dieser Textpassage voller Vitalität, er handelt „[a]ls ob er heut das Leben erst beträte.“ (RG, V. 365) Mehr noch weitet sich die von Abälard kolportierte Suggestion einer wiedergeborenen Macht des Regenten zu einer politischen Zukunftsvision aus, die Guiskard als tatkräftigen Kriegsherrn inszeniert und somit eine weitere Zeitebene im Bericht installiert: „Kurz, wenn die Nacht ihn lebend trifft, ihr Männer,/ Das Rasende, ihr sollt es sehn, vollstreckt sich,/ Und einen Hauptsturm ordnet er noch an.“ (RG, V. 373–375) Der Text verflicht an dieser Stelle Botenbericht und Teichoskopie miteinander, wenn die für den Botenbericht charakteristische Zeitform der Vergangenheit mit der Simultaneität des Präsens, das den Reportagemodus der Mauerschau indiziert,1320 im Bericht einer Figur nebeneinander treten. Die berichteten Ereignisse werden sogar noch auf die Zukunft hin geöffnet.
1320 Vgl. Kretz (2012), S. 114.
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IV Schlussbemerkungen: Der Heldenauftritt des Herrschers
Was hat es, so steht zu fragen, mit der so offensichtlichen Widersprüchlichkeit des Berichtes auf sich? Zunächst ist in formaler Hinsicht eine Dynamisierung von Botenbericht und Teichoskopie zu verzeichnen: Obgleich die Berichtsformen inhaltlich divergieren, wenn im Botenbericht die tödliche Krankheit des Herrschers in aller Plastizität geschildert wird und kurz darauf in teichoskopischer Form ein spektakuläres Eingreifen Guiskards ins Kriegsgeschehen prophezeit wird, überlagern sich beide Narrationsformate in der Rede einer Figur. Der Bote gerät dergestalt zur unsicheren Informationsquelle.1321 Dies manifestiert sich auch darin, dass das traditionelle Raumschema der Teichoskopie verstellt wird, denn die Mauerschau erfolgt nicht von einem erhöhten Aussichtspunkt aus.1322 Vielmehr stellt der Text aus, dass Abälard, jener „Bote des Verderbens“ (RG, V. 336), vom Hügel herabsteigt und dem Volk auf – dem Darstellungsformat eigentlich unangemessener – Augenhöhe von den Vorgängen im Inneren des Zeltes berichtet (vgl. RG, S. 248). Der ins Zelt Schauende blickt von unten nach oben, was eine genaue Umkehrung des überlieferten teichoskopischen settings darstellt. Kleist zieht so den Mauerschauenden auf die Ebene der anderen Figuren hinunter und streut dergestalt Zweifel an der Souveränität seiner teichoskopischen Wahrnehmungs- und Sprecherposition, für deren klassische Struktur charakteristisch ist, dass der oder die Mauerschauende mehr sieht als alle anderen. Abälards Blick ist im Moment des Berichts genau so limitiert wie der aller anderen; man erblickt die Außenwände des erhöht gelegenen Zeltes. Neben den skizzierten formal-strukturellen Entstellungen liegt eine weitere Distanzierungsgeste von den traditierten Darstellungsschemata darin, dass zumindest in der Teichoskopie Abälards gerade kein ungeheuerlicher Inhalt berichtet wird, der die angespannte Ungewissheit jener Szene auflösen könnte. Nur der als Botenbericht formatierte Passus setzt einen sichtlich geschwächten, vielleicht sogar kranken Guiskard in Szene, was die im Heer kursierenden, ‚entsetzlichen‘ Gerüchte bestätigt. Es ist aber nicht einsichtig, warum der zweite Teil des Berichts Undarstellbares zum Inhalt haben sollte und dementsprechend in eine teichoskopische Form zu fassen ist. Die Teichoskopie, d. h. eines der zentralen Verfahren, um Katastrophisches oder in äußerstem Maße Gewalttätiges
1321 Das Fragment handelt aus dieser Perspektive auch von der Deutungsmacht der Mittler bzw. von der artikulatorischen Gewalt einer mitunter intriganten politischen Kommunikation (vgl. Hahn 2004, 2011a, 2011b). Vgl. dazu auch die medientheoretische Beschreibung der Figur des Boten und des Formats der Botschaft bei Hahn (2012), die deren produktive Funktionen im Kommunikationsprozess herausstellt. 1322 Die für die Mauerschau archetypische Konstellation, die mit der Raumordnung eines Sprechens vom Turm herab operiert, findet sich, darauf verweisen auch Gunia/Kremer (2001), in Homers Ilias (vgl. S. 70–71), vgl. Hom., Il., 3, 121–244.
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indirekt auf die Bühne zu bringen, wird von Kleist für einen Inhalt herangezogen, der durchaus etwa in Gestalt einer Wechselrede zwischen Guiskard und seinen Vertrauten darstellbar wäre, geht es doch um die Kriegspläne des Feldherrn. Derartige Themen weiß etwa das antike Herrscherdrama publikumswirksam in Stichomythie-Duellen zu exponieren. Kleist treibt das Verwirrspiel noch weiter, indem er sogar ein die Teichoskopie anzeigendes Schlüsselwort einspeist. So heißt es über die sich im Inneren der Figur abspielenden, ja über die noch nicht abschließend ausgetragenen Kämpfe in der herrscherlichen Seele: „Man sieht ihn still, die Karte in der Hand,/ Entschlüss’ im Busen wälzen, ungeheure,/ Als ob er heut das Leben erst beträte.“1323 (RG, V. 363–365) In dieser die Darstellungsstatuten irritierenden Melange aus Botenbericht und Teichoskopie sowie in der Umformatierung der Mauerschau gerät nicht einfach nur die Figur des Boten und damit Abälard als manipulativer Redner unter Verdacht. Vergegenwärtigt man sich die politische Figurenkonstellation, so ist zu sagen, dass Abälards vermeintlich rein widersprüchliche Rede ziemlich genau diejenige ‚Doppelstrategie‘ zu erkennen gibt, die der Greis in seinem Rat sowie in seiner Warnung aufgeschlüsselt hat: Während der Botenbericht eine Spitze gegen den vermeintlich kranken und daher amtsuntüchtigen Guiskard bedeutet, kann die Teichoskopie als Versuch gelesen werden, die ‚Gunst‘ des Onkels nicht gänzlich zu verspielen und vielleicht sogar davon zu profitieren. Dass man vor dem normannischen Volk nur gewinnnen kann, wenn man Guiskard Tribut zollt, belegen die Reaktionen auf die Mauerschau. Nach der teichoskopisch von Abälard in Aussicht gestellten Kriegsattacke Guiskards gegen Byzanz nämlich bekunden die Versammelten mit abermaligem Nachdruck die anhaltende Hoffnung auf eine Intervention ihres ‚Helden‘: DER GREIS O möcht’ er doch [einen Hauptsturm anordnen]! DER ERSTE KRIEGER O könnten wir ihm folgen! DER ZWEITE KRIEGER O führt’ er lang’ uns noch, der teure Held, In Kampf und Sieg und Tod! ABÄLARD Das sag’ ich auch! Doch eh’ wird Guiskard’s Stiefel rücken vor Byzanz, […] Als dieser Sohn, wenn Guiskard fehlt, die Krone Alexius, dem Rebellen dort, entreißen! (RG, V. 378–386)
Abälards fast schon anbiedernd klingendes „Das sag’ ich auch“ (RG, V. 380) zeugt davon, dass Guiskards Neffe offenbar verstanden hat, dass sein politisch rechter
1323 Hervorhebung C. R.
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IV Schlussbemerkungen: Der Heldenauftritt des Herrschers
Zeitpunkt noch nicht gekommen ist. Er weiß seine Ambitionen auf die Krone zu kanalisieren, indem er sich der persistierenden Verbundenheit des Volks zum heroisierten Herrscher unterordnet. Gleichzeitig aber betont er, dass „Guiskard fehlt“ (RG, V. 385) und dass dessen Sohn Robert den Platz des Helden ganz sicher nicht einzunehmen vermag. Der Text präsentiert sich bis zu diesem Punkt, so ist zusammenzufassen, als dichtes Gefüge von Formen der Rhesis, die den Charismatiker fortwährend indirekt auftreten lassen; wobei sich die Erwartung seines ‚vollständigen‘ Auftritts dadurch immer weiter steigert, dass gleichzeitig seine Schwäche im Raum steht. Indem Guiskards Getreue den Zugang zum Machtzentrum ‚Zelt‘ verwehren, leisten sie der charismatischen Suggestion einen erheblichen Dienst. Durch die Figur Abälards wird das Spiel rund um das Zelt komplexer: Seine berichtende Rede über die Vorgänge im Zelt stellt zwar ebenso – aus strategischen Gründen – den nahenden Heldenauftritt des Herrschers in Aussicht, spielt aber weit mehr auch auf dessen potentiellen politschen Abgang an. Dass der Bericht des Neffen aber ganz sicher nicht wiedergibt, was tatsächlich im Zelt und mit Guiskard vor sich geht, dies lässt Kleist seine Leser*innen durch ein subtiles Spiel mit den narrativen Formaten von Teichoskopie und Botenbericht wissen. Die also auch von Abälard konstant genährte Auftrittssuggestion ist allerdings nicht nur für den dramatischen Spannungsbogen elementar. Aus der dramaturgischen Pointe ‚Alle warten auf Guiskard‘ lässt sich gleichzeitig die analytische Sentenz dieses Helden-Fragments ableiten: Indem Kleist nicht müde wird, die unerschütterliche Hoffnung der Normänner auf ein ‚Erscheinen‘ ihres Helden auszustellen, diesen Auftritt aber bis aufs Äußerste verzögert, tritt zu Tage, dass dem Herzog ein Auftrittsraum von vorneherein sicher war und und bleibt: Aus den Köpfen und Herzen des Volks ist Guiskard zumindest so lange nicht zu vertreiben, wie er im Zelt verharrt. Gerade die De-Präsenz erhält das Guiskard’sche Charisma. Wäre es nicht möglich, umgekehrt den immer wieder alludierten, indirekten Abtritt des Mächtigen in seiner dramenökonomischen und weiter auch politischen Produktivität herauszustellen? Guiskards schrittweiser Abtritt lässt, so könnte man argumentieren, einen Verhandlungsraum entstehen, der eine neue Macht- und Auftrittskonstellation nach sich zieht, die den Prinzen und den Volksvertretern die Bühne bereitet. Kleists politische Dramaturgie des Aufund Abtretens negiert jedoch meines Erachtens dieses Schema von Abgang und Neuanfang und damit eine etwaige produktive Wirkung des Abtritts. Im Gegenteil macht das textuelle Vexierspiel zwischen Präsenz und Absenz auf die jeder Repräsentationspolitik inhärente Fragilität aufmerksam. Dafür spricht nicht nur der ironische Beigeschmack, mit dem das Fragment die Szenen politischer sowie dramenstruktureller Neuanfänge versieht, indem es die ‚politische Altlast‘ bzw. die noch nicht aufgetretene Figur mutmaßlich schlaftrunken oder todkrank in
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einem Zelt auf der Bühne wandeln lässt, während in aller Öffentlichkeit schon und ganz ohne Beteiligung oder gar Widerspruch des Herrschers über die Zeit nach seinem Abtritt verhandelt wird. Über Guiskards ambivalente Existenz als ‚Herrscher im Zelt‘ hinaus werden eine ganze Reihe von Szenarien beginnender Macht gestaltet, die allesamt im Sande verlaufen. Damit ist abermals die Frage nach der politischen Botschaft des Fragments, ja nach dessen revolutionärem Gehalt berührt. Aus meiner Perspektive gestaltet der Text weder gelingende basisdemokratische Situationen1324 und in diesem Sinne erfolgreiche politische Akteure, noch lässt er einen der beiden Prinzen reüssieren. Vielmehr werden alle Parteien mitsamt ihrer jeweiligen politischen Agenda problematisiert. Dies wird formal u. a. dadurch zur Geltung gebracht, dass eine Reihe verbürgter dramenspezifischer Redemodi vielleicht nicht kollabieren, wohl aber massiv ins Wanken geraten. Betrachtet man den Text trotz seines Fragment-Charakters als in seiner politischen Analytik geschlossen,1325 geht letztlich keine Strategie auf: nicht Armins revolutionäre Rhetorik, nicht das affektive und körperliche Drängen des Volkes, nicht Roberts autoritäres Machtwort, das eine Fortsetzung dynastischer Kontinuität in Aussicht stellt, nicht der gegen Guiskard gerichtete und sich gleichzeitig parasitär zu dessen Charisma verhaltende Manipulationsversuch Abälards. Und schließlich, darauf sei abschließend das Augenmerk gerichtet, kulminiert das Fragment darin, dass der direkte Auftritt des Herrschers scheitert.
4 Halblaut und halb gefallen: Der Auftritt des Herrschers Es erscheint nach dem Gesagten nur konsequent, dass diesem Auftritt zwei Kurzszenen (achter und neunter Auftritt) vorangestellt werden, die ganz der mittlerweile vierten Ankündigung sowie der Vorbereitung des herzoglichen Erscheinens gewidmet sind. Robert tritt aus dem Zelt und lässt verlauten: „Normänner, hört’s. Es hat der Guiskard sein/ Geschäft beendigt, gleich erscheint er jetzt!“ (RG, V. 387–388) Diese schon in ihrer Temporalität eines ‚gleich jetzt‘ verwirrend uneindeutige Annoncierung wird sogleich durch einen Hinweis Abälards in Zweifel gezogen, welcher wiederum auf einem vermeintlichen Wissen um die Vorgänge im Zelt fußt. Der Neffe hält einen Auftritt Guiskards für „[u]nmöglich“ (RG, V. 389), habe dieser doch, als Abälard das Zelt verlassen habe, noch „hingestreckt/ […] und nicht eines Gliedes […]/ mächtig“ (RG, V. 394–396) am Boden gelegen. Es schließt sich die vielleicht aufschluss-
1324 So auch Vogel (2015), S. 302. Die konträre Position vertritt Hahn (2011a), S. 65. 1325 Vgl. Hahn (2011a), S. 50.
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IV Schlussbemerkungen: Der Heldenauftritt des Herrschers
reichste Szene des gesamten Fragments an. Sie ist abermals als Teichoskopie gestaltet, dieses Mal sogar fast in ihrer traditionellen Form – aber eben nur fast: ‚Über die Mauer‘ schaut ein Knabe, „halb auf den Hügel gestiegen“ (RG, S. 251). Eine halbe Teichoskopie also, der ein halber, d. h. mindestens unvollständiger und ambivalenter politischer Auftritt des Herzogs im Blick des Knaben korrespondiert. Der ‚Halbwüchsige‘ berichtet aufgeregt von den Vorgängen im Zelt: Frei in des Zeltes Mitte seh’ ich ihn! Der hohen Brust legt er den Panzer um! Dem breiten Schulternpaar das Gnadenkettlein! Dem weitgewölbten Haupt drückt er, mit Kraft, Den mächtig-wankend-hohen Helmbusch auf! Jetzt seht, o seht doch her! – Da ist er selbst! (RG, V. 401–406)
Hier wird einerseits ein vor körperlicher Kraft und kriegerischer Energie strotzender Feldherr präsentiert, der andererseits, vermittelt durch den Knaben, den entblößenden Blicken seines versammelten Heeres ausgesetzt ist.1326 Dass man kollektiv durch die Öffnung des Zeltes den Ankleidevorgang beobachtet, der dem eigentlichen Auftritt klassischerweise hinterszenisch vorausgehen sollte, verstärkt diesen Eindruck noch. Die Ausstattung des Herrschers mit „mächtigwankend-hohe[m] Helmbusch“ (RG, V. 405) formiert sich zum anschaulichen Sinnbild, das die doppeldeutige politische Situation dieses Herrschers ebenso wie die das Fragment bestimmende Formkrise auf den Begriff bringt.1327 Unter den frenetischen Jubelrufen des Volkes, in Begleitung seiner gesamten Entourage und wider alle Erwartungen betritt Robert Guiskard im zehnten und letzten Auftritt tatsächlich und endlich die Szene (vgl. RG, V. 407–410, S. 251). Dabei handelt es sich zunächst um einen spektakulären Auftritt, „der zumindest 1326 Diese Szene steht in direktem Kontrast zu den von Helena und Robert betriebenen Versuchen, den Raum des Zeltes als exklusiv und uneinsehbar auszuweisen, indem sie den visuellen und akustischen Zugang beschränken. 1327 Greiner (2000) deutet dies im Gegenteil als kraftvollen und strahlenden, wenn auch nur temporär wirksamen Auftritt, als ein „Sich-Aufrichten/Sich-Erheben“ (S. 137) Guiskards, der im Kontrast zu den in den vorangegangenen Berichten kolportierten Gerüchten über seine Erkrankung stehe. Dadurch aber, dass der Text die skizzierte Form einer mehrfach gebrochenen ‚Ankleideteichoskopie‘ wählt, wird bereits an dieser Stelle und nicht erst in der nachfolgenden Szene, die Guiskards Schwächeanfall schildert, deutlich auf die Unfähigkeit des Titelhelden hingewiesen, sich in erhabenem Gestus gegen die drohende Naturgewalt, die Pest, aufzurichten (vgl. S. 138). Vogel (2015) führt diesbezüglich überzeugend aus, „dass der lang erwartete Auftritt, als er nun endlich erfolgt, die Überwältigungseffekte schuldig bleibt, die den Inszenierungsformen epiphanischer Präsenz zugeschrieben werden. Wie sich zeigt, erscheint der Feldherr nicht plötzlich und mit der bezwingenden Macht des ‚Alles auf einmal‘ vor den Augen des Volkes, er muss sich erst umständlich zur Figur des ‚großen Mannes‘ aufrüsten“ (S. 311).
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auf den ersten Blick einen festlich amplifizierten Heros in Szene setzt“1328. Dies wird noch durch die Machtdemonstration gesteigert, dass Guiskard als allererstes das Wort an den latent aufrührerischen Neffen richtet und diesem seinen Platz zuweist: Unmissverständlich und übrigens erneut in Form einer akustischen Anordnung befiehlt er ihm: „Tritt hinter mich./ Hier bleibst du stehn, und lautlos. […]/ – Ich sprech nachher ein eignes Wort mit dir.“ (RG, V. 411–413) Abälard folgt diesem Imperativ umgehend, er „steigt auf den Hügel, und stellt sich hinter Guiskard, während dieser ihn unverwandt mit den Augen verfolgt“ (RG, S. 251). Sicherlich wird hier ein politischer Jungspund in aller Öffentlichkeit gemaßregelt. Doch jenes ‚Tritt hinter mich‘ und der Umstand, dass Abälard der Aufforderung umstandslos Folge leistet und sich hinter dem Herzog platziert, spielt vor dem Hintergrund der vorangegangenen Szenen überdies auf einen bevorstehenden Machtwechsel an: Guiskard bringt hier seinen Neffen als prospektiven Nachfolger selbst in Position, bereitet ihm also auch die Bühne für dessen zukünftigen politischen Auftritt. In der nun folgenden Unterredung zwischen dem Greis und Guiskard bringt der Anführer des Ausschusses die innige Verbundenheit des Volkes zu seinem heroischen Herrscher noch einmal deutlich zum Ausdruck: Es sei stets eine „Lust“, den „Angebetete[n]“ „zu erblicken“ (RG, V. 431–432), die noch durch die Befürchtung gesteigert worden sei, man „würde[ ] nie [s]ein Antlitz wiedersehn“ (RG, V. 433). Der Herzog erweist sich seines Rufes als Charismatiker würdig, wenn er das sein Volk verängstigende Gerücht, er sei mit der Pest infiziert, mit einigem rhetorischen Geschick abzuwiegeln versteht. Zur Beglaubigung seiner anhaltenden politischen Stärke zeichnet er das Bild des eigenen, vermeintlich unversehrten, vor Kraft strotzenden Körpers: Ob ich wie einer ausseh, der die Pest hat? Der ich in Lebensfüll’ hier vor euch stehe? Der seiner Glieder jegliches beherrscht? Dess’ reine Stimme aus der freien Brust, Gleich dem Geläut der Glocken, euch umhallt? Das läßt der Angesteckte bleiben, das! Ihr wollt mich, traun! mich Blühenden, doch nicht Hinschleppen zu den Faulenden auf’s Feld? Im Lager hier kriegt ihr mich nicht in’s Grab: In Stambul halt’ ich still, und eher nicht! (RG, V. 438–448)
Ganz im Gegensatz zu Abälards Bericht, demzufolge sich der Herrscher noch kurz zuvor „nicht eines Gliedes […]/ mächtig“ (RG, V. 395–396) gezeigt habe, inszeniert
1328 Vogel (2015), S. 312.
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IV Schlussbemerkungen: Der Heldenauftritt des Herrschers
sich Guiskard „lachend“ (RG, S. 252) als ‚Herrscher‘ über seinen Körper und gleichzeitig als zur kriegerischen Agitation über die Maßen Bereiter. Die der Machtdemonstration zuträgliche Antithetik zwischen gesunden und kranken Körpern wird fortgeschrieben, wenn der Greis den Herzog bittet, die Sorge um die Pestkranken, welche Guiskard offenbar regelmäßig besucht, anderen zu überlassen (vgl. RG, V. 466–467). Der Regent nimmt dies sogleich zum Anlass, den Mythos seiner Pest-Immunität ins Spiel zu bringen, wenn er folgenden, betont kryptischen Hinweis auf seine besonderen Fähigkeiten streut: „Kein Leichtsinn ist’s, wenn ich Berührung nicht/ Der Kranken scheue, und kein Ohngefähr,/ Wenn’s ungestraft geschieht. Es hat damit/ Sein eigenes Bewenden – […].“ (RG, V. 477–480)1329 Was es damit auf sich hat, verrät er natürlich nicht – eine Geheimniskrämerei, die Kleist via Verssprung noch zu betonen weiß. Besondere Kräfte beweist Robert Guiskard in der Folge ganz und gar nicht, denn er erleidet mitten im Gespräch einen Schwächeanfall. Stehen bleibt der Herrscher nur, weil Helena im letzten Moment eine große Heerpauke hinter ihren Vater schiebt (vgl. RG, S. 254),1330 eine Stütze, die seinen endgültigen Sturz
1329 Im Ausgang von dieser Szene entfaltet Vogel (2015) ihre Analyse, die im Guiskard-Fragment ebenfalls eine kritische Auseinandersetzung mit dem Prinzip charismatischer Herrschaft am Werk sieht. Ihre Lektüre konzentriert sich darauf zu zeigen, dass Kleist den Führerkult um Napoleon persifliere. Es werde eine Episode aus Napoleons Ägypten-Feldzug mobilisiert, die während der Belagerung der Festung von Jaffa im Jahre 1799 stattgefunden haben soll. Nach dem Bericht eines Feldarztes sei Napoleon selbst im von der Pest heimgesuchten französischen Kriegslager aufgetaucht und habe mit den Kranken gesprochen. Schließlich habe er das Lager ohne jedes Zeichen der Ansteckung wieder verlassen. Der Besuch im Pestlager von Jaffa beschreibt, so Vogel, eine europaweit kursierende und phantasmatisch in hohem Maße aufgeladene Anekdote um die Figur Napoleons, die Kleist aufgreife (vgl. S. 4–5). Vogel kontrastiert das Fragment mit dem Gemälde Bonaparte visitant les pestiférés de Jaffa des Historienmalers Antoine-Jean Gros, das die französische Regierung 1803/1804 in Auftrag gab. Dem propagandistischen „Bildauftritt des ‚großen Mannes‘“ (S. 310), den Vogel eingehend analysiert (vgl. S. 306–310), setze Kleist „einen gescheiterten Theaterauftritt entgegen, der die Immunitäts- und Heilungsversprechen, die das Gemälde von Antoine-Jean Gros formulierte, unerfüllt lässt“ (S. 310). 1330 Vgl. zu dieser Szene Greiner (2000), der das Requisit der Heerpauke als zentralen poetologischen Reflexionsmarker des Fragments deutet (S. 140–141). Der Text eröffne durch die „dysfunktionale Verwendung der Pauke […] als Körperstütze“ (S. 141) und nicht als Musikinstrument eine Diskussion über die Materialität des Kunstwerks und lasse im Zuge dessen die erhabene Wirkung der Tragödie kollabieren (vgl. S. 141–142). Anders konzentriert sich Vogel (2015) auf die politische Bedeutung des Requisits, wenn sie betont, dass Guiskard hier auf ein im Krieg verwendetes Instrument niedersinkt, das „dem zeitgenössischen Bewusstsein als ein wirbelndes oder auch pulsierendes Instrument der kriegerischen Agitation gegenwärtig ist“ (S. 313). Vogel resümiert: „Das Instrument, dessen Zweck es eigentlich sein sollte, die Bewegungen einer militärischen Formation durch Paukenschläge zu stimulieren, zu synchronisieren und zu beschleunigen, wird zu einem Krankensitz degradiert.“ (S. 313).
5 Fazit
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verhindert und es ihm immerhin noch erlaubt, Armins überaus plastischen Schilderungen vom Wüten der Pest im Kriegslager zu folgen (vgl. RG, V. 493–515). Als schließlich auch noch Guiskards Gattin in Ohnmacht fällt und ins Zelt abtransportiert wird (vgl. RG, S. 255), bleibt dem um sein eigenes Überleben fürchtenden Volk (vgl. RG, V. 502) nur die verzeifelte Aufforderung, Guiskard möge es „in’s Vaterland“ (RG, V. 524) zurückführen. Damit schließt das Fragment.1331 Ob Robert Guiskard tatsächlich als der ersehnte „Retter in der Not“ (RG, V. 520) auftreten wird, lässt das Fragment offen. Die Chancen stehen, der gesamten Logik des Textes zufolge, fifty-fifty, denn die letzten Worte, die er spricht, nachdem er durch die Heerpauke vor einem Zusammenbruch bewahrt wird, sind, so die entsprechende Didaskalie, immerhin oder eben nur noch „halblaut“ (RG, S. 254) zu vernehmen.
5 Fazit Ist Kleists 1808 veröffentlichtes Guiskard-Fragment, da es im Gegensatz zu den übrigen für diese Arbeit ausgewählten Dramen einen Herrscher ins Zentrum stellt, als ein Endspiel der Souveränität zu verstehen, das letztlich mit dem Problem des 1331 Vgl. dazu Greiner (2000, 2001), der insbesondere im Ausgang von der Schlussszene schwerpunktmäßig über die poetologischen Implikationen nachdenkt, die sich aus dem FragmentStatus ergeben. Er argumentiert, dass mit dem Protagonisten auch die Gattung der Tragödie, genauer Schillers Tragödienkonzeption des Erhabenen zusammenbreche (vgl. Greiner (2001), bes. S. 140–147) und dergestalt eine „radikale[ ] negative[ ] Ästhetik“ (S. 147) formuliert würde. Kleist antizipiere mit dem Fragment sowie mit seinem in den Briefen überlieferten und, man muss hinzufügen: inszenierten Scheitern an einer vollständigen Tragödie das zentrale ästhetische Paradox der klassischen Moderne, dem zufolge das Werk nur in einem Misslingen gelingen könne (vgl. S. 146). Diese kunsttheoretische Einsicht erkläre schließlich auch die Textform: „Wenn nur das Scheitern an der erhabenen Tragödie das Gelingen des Projekts ‚erhabene Tragödie‘ garantieren kann, kann Vollendung des ‚Werks‘ nur die Ruine resp. das Fragment sein, was denn auch das erste Wort im Titel des überlieferten Textes ist“ (S. 147). An Greiners Überlegungen zu einer solchen textinternen Gattungskritik lassen sich eine Reihe von weiterführenden Fragen anschließen: Erstens wäre für eine Diskussion des Fragment-Status sicherlich die vom Autor selbst betriebene Problematisierung der Textgenese sowie der Schreibbedingungen genauer in ihrer inszenatorischen Form zu untersuchen und weniger beim Wort zu nehmen. Vgl. die Briefe an Ulrike von Kleist vom 1. Mai 1802, 9. Dezember 1802, 3. Juli 1803, 5. Oktober 1803 und vom 26. Oktober 1803 sowie Brief von Wieland an Kleist vom Juli 1803. Zweitens wäre es wichtig, die poetologische Debatte um das Fragment vor allem in der Romantik hinzuzuziehen. Vgl. dazu Finger/ Follett (2011); Strathman (2006); F. Schmitt (2005); Braun (2002); Fetscher (2001). Und schließlich lädt Greiners Argumentation meines Erachtens zu der Frage ein, ob nicht Schillers eigene Dramen in ähnlicher Weise an einem ‚Abbau‘ des theoretisch formulierten Erhabenheitsmodells mitschreiben. Dies können die in dieser Arbeit formulierten Schiller-Lektüren bestätigen.
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IV Schlussbemerkungen: Der Heldenauftritt des Herrschers
Heroischen nur am Rande zu tun hat und daher nur bedingt als Heldendrama gelten kann? Dafür spricht am allermeisten, dass gerade die Szene, in welcher der Souverän das Zelt verlässt und die Macht in einem glanzvollen Auftritt zu verkörpern antritt, im wahrsten Sinne des Wortes nahezu kippt: Guiskard bricht fast zusammen. Dafür spricht ebenso, dass es sich bei der ersehnten Herrscherfigur um einen mutmaßlich infizierten und dem entblößenden Blick seiner Untertanen immerhin vermittelt zugänglichen Körper handelt, womit die Sterblichkeit, der body natural des Souveräns offen zur Schau gestellt wird. Man könnte vor diesem Hintergrund argumentieren, dass das Fragment in erster Linie den Übergang vom natürlichen zum politischen Herrscher-Körper ausstellt1332 und somit das absolutistische Repräsentationsregime demaskiert. Wenngleich Kleist zweifelsfrei den Blick auf den – angegriffenen – Herrscherkörper freigibt, so setzt er diesem kein Gegenbild eines ‚gesunden Volkskörpers‘ entgegen. Bereits zu Textbeginn werden die Leser*innen mit der zerstörerischen politischen Vision konfrontiert, der normannische ‚Volkskörper‘ könne durch die grassierende Seuche so stark befallen werden, dass er schließlich zur „Leiche“ (RG, V. 12) werde (vgl. RG, V. 10–36).1333 Dieses Gefahrenszenario zerstreut Kleist bis zum Schluss des Fragments nicht; auch in den Schlussversen liest man vom drohenden „Grab“ (RG, V. 506, V. 510), ja von Vergiftung und Siechtum im Lager (vgl. RG, V. 493–515). Es kann somit keine Rede davon sein, dass es Kleist darum geht, einen Machtwechsel, eine Ablösung der spätabsolutistischen Souveränität durch einen ‚erwachenden‘ Volkssouverän zu thematisieren. Das Volk im Robert Guiskard hofft vielmehr bis zuletzt noch auf eine ‚Rettung‘ (vgl. RG, V. 520) durch niemand anderen als seinen Herrscher: „Führ uns zurück, zurück, in’s
1332 Das ein solches Auseinandertreten von body natural und body politic vorzugsweise in der Literatur zu beobachten ist, hat Balke (2001) im Anschluss an Kantorowicz demonstriert (vgl. bes. S. 660–661). 1333 Vor allem durch das Motiv der Pest wird das politische Dilemma in guter Tradition im Rahmen eines Körperdiskurses verhandelt (vgl. Koschorke u. a. (2007), Matala de Mazza (1999)). Hahn (2011a) schlägt eine einleuchtende Deutung des Motivs der Pest vor, indem er weder auf das in der griechischen Ödipus-Tragödie angelegte Bedeutungsparadigma der Pest als „unbeglichene[ ] moralisch-sittliche[...] Schuld“ (S. 54) rekurriert noch das an den Textquellen orientierte Argument führt, der Ausbruch einer solchen Seuche sei in der dargebotenen Szenerie des Kriegslagers wahrscheinlich. Vielmehr interpretiert er die Pest in direktem Bezug zur politischen Konstellation des Textes: Die Seuche fungiere als umkämpfter Begriff in der interessegeleiteten Kommunikation, firmiere als vielseitig einsetzbares Gerücht und diene insbesondere der rhetorischen Strategie von Volk und Volksvertretern dazu, ihre Rechte gegenüber dem Herrscher geltend zu machen (vgl. S. 60–65). Vgl. für eine auf die politische Zeitgeschichte, genauer auf die frühen napoleonischen Kriege konzentrierte Interpretation des Pestmotivs zuletzt Vogel (2015), S. 304–310.
5 Fazit
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Vaterland!“ (RG, V. 524) lautet die eindringliche Bitte des Volksvertreters Armin, mit der das Fragment endet. Man kann und will nicht aus eigenem Antrieb gehen, was bedeuten würde, sich gegen den Regenten zu stellen oder sogar eine Rebellion anzuzetteln. Eine solche Auflehnung gegen den Regenten zeigt Kleist nicht, sondern ein Volk, das nach Führung verlangt: Der Herrscher verharrt im Zelt und man wartet auf ihn – zwar verzweifelt, aber geduldig. Und so verdichtet sich die politische Not im erwartungsvollen Blick der vielen potentiell Angesteckten von unten nach oben auf einen, der sich nicht zeigt, auf den sich jedoch die religiös konnotierte Hoffnung auf Heilung konzentriert. Im Blick – und im Gehör – des Volkes konstituiert sich, das ist Kleists Thema, die formal noch souverän gefasste, aber in ihrem Wirkungsprofil genuin charismatische Macht Robert Guiskards. Dass diese vice versa ebenso durch bestimmte Blickverhältnisse und akustische Dynamiken ins Wanken geraten kann, gerade auch das schildert der Text, indem die Versuche des machtbegierigen Prinzen Abälard dargestellt werden, die visuelle und akustische Regie rund um das Herrscherzelt im Sinne eigener Ambitionen zu beeinflussen. Vor diesem Hintergrund ist zudem die Anlage der Szenerie als top-down-Machtgefüge eher verwirrend denn aufschlussreich für das politische Sujet des Fragments: Das sich in erhöhter Lage befindliche Zelt nämlich kann, das hat die Analyse gezeigt, keinesfalls als simple topographische Chiffre souveräner Gesetzesmacht gelten. Die charismatische Macht, für die der Ort des Zeltes symbolisch steht, entfaltet sich, indem die Suggestion aufrechterhalten wird, dass ein Besonderer jenen Ort besetzt, und verstärkt sich dadurch, dass sich dieser Jemand nicht zeigt. Der Herrscher gilt, mit anderen Worten, gerade dann als Held, wenn er nicht auftritt. Für meine der Lektüre vorangestellte These, dass Kleists Fragment die Unmöglichkeit verzeichnet, die heroische Macht zu institutionalisieren, ist somit ganz besonders die Szene wichtig, in welcher der Souverän das Zelt verlässt und die Macht zu verkörpern antritt: Sie kippt im wahrsten Sinne des Wortes. Indem das Fragment also einen halbnackten, seiner symbolischen Funktion nicht gerecht werdenden Herrscher vorführt, wird die Frage aufgeworfen, wie seine Machtdemonstration noch gelingen kann, wenn die Möglichkeit eines „Prunkauftritt[s]“1334 nicht mehr funktioniert.1335 Die Antwort lautet, dass der eigentliche
1334 Vogel (2015), S. 312. 1335 Auch die in Robert Guiskard ausgestellte, gattungsspezifische Formkrise funktioniert gemäß einer solchen Logik des ‚Halb‘: Das Zelt steht im Zentrum einer Dramaturgie, die zwischen Konstruktion und Destruktion hin und her oszilliert. Wie die Herrscherfigur fällt die Darstellung zwar nicht ausdrücklich in sich zusammen, bezieht jedoch ihre Macht aus dem Ansetzen zu, keinesfalls aber aus der Durchführung einer stabilen dramatischen Form. Das Zelt fungiert im Strukturgefüge der dramatischen Szenerie als indirekter Auftrittsraum. Die Analyse hat gezeigt,
524
IV Schlussbemerkungen: Der Heldenauftritt des Herrschers
Heldenauftritt dieses charismatischen Herrschers im Zelt stattfindet. Denn Kleist hebt hervor, dass Guiskards Charisma den gesamten Text über, ganz ohne klassischen Auftritt, intakt bleibt. Es fällt zwar nicht komplett in sich zusammen, gerät aber immerhin ins Wanken, wenn aus dem ‚abwesenden‘ Helden im Zelt ein Herrscher wird, der sich vor aller Augen präsentiert, ja eine souveräne Machtform repräsentiert, die sicher nicht ausschlaggebend dafür ist, dass Kleists Normänner unermüdlich zu jenem Zelt emporblicken.1336 Der Herrscher kann nur Held sein, indem er sich nicht als Herrscher zeigt. Dass der Held nicht herrschen kann, darüber handelt Kleist ebenso in Prinz Friedrich von Homburg. „Mich selber ruft er zur Entscheidung auf!“ (PH, V. 1342) – Dieser panische Ausruf des Prinzen birgt das Skandalon, dass ein Held souverän entscheiden soll. Es bringt präzise den Konflikt zwischen Charisma und politischer Systematizität auf den Begriff – eine Diskrepanz, die Weber zwar ebenso verzeichnet, die ihm aber als überwindbar gilt, da Charisma in Vernunft oder Tradition überführt werden und sich auf diesem Wege in alltägliche Herrschaftsmodi transformieren könne. Goethe, Schiller und Kleist dagegen insistieren auf jenem konfliktuösen Verhältnis, indem ihre politischen Dramen die Unmöglichkeit exponieren, vom Helden/von der Heldin zum/r politischen Funktionsträger*in zu werden; weder dem machtbewussten (Fiesko) noch den machtvergessenen Charismatiker*innen gelingt dieser Schritt. Als ein zugespitztes Beispiel für diesen Zusammenhang kann das Käthchen von Heilbronn gelten. Die Feminisierung der Heldenrolle führt noch eindrücklicher als etwa Prinz Friedrich von Homburg vor Augen, wie die heroische agency mit den institutionalisierten Repräsentationsstrukturen nicht nur konfligiert, sondern wie diese die Handlungsmacht der Heldin zum Erliegen bringen. Auch Schiller demonstriert dies in Wilhelm Tell, wenn die frohlockende Volksgemeinschaft den Helden am Schluss des Schauspiels von zu Hause abholen muss (vgl. WT, S. 505). Dieser Held steht zwar nicht ohnmächtig wie Käthchen und Prinz Friedrich, aber wortlos in der Mitte des eidgenössischen Revolutionszeremoniells. dass der Text durch diesen ‚Raum im Raum‘ mit dem traditionellen Sukzessionsschema klarer, topographisch und zeitlich differenzierbarer Auftritte und Abgänge bricht – ohne das Schema gänzlich ‚zu Fall‘ zu bringen. Vielmehr wird die dramensequenzielle Unentscheidbarkeitszone topographisch produktiv, indem sie einen dramatischen Handlungsraum entstehen lässt, der für die politische Thematik des Stücks maßgeblich ist. 1336 Aus meiner Sicht differenziert Hahn (2011a) nicht ausreichend zwischen souveräner und charismatischer Herrschaft, wenn er argumentiert, dass sich Guiskards „Doppelnatur aus Leib und Charisma“ in dem Moment, in dem er sich körperlich schwach zeigt, auf den „natürlichen Leib“ (S. 63) reduziere, was zu einem Abbau des Charismas führe. Davon kann mit Blick auf den Fragment-Schluss keine Rede sein, bleibt doch die Hoffnung auf Guiskards politische Führerschaft bestehen. Als Souverän, nicht als Charismatiker scheitert Guiskard.
5 Fazit
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Ganz und gar nicht auf den Mund gefallen, sondern stattdessen als selbstgewisser player verfolgt Fiesko in diametralem Gegensatz zu den anderen hier diskutierten Held*innen einen heroischen Ermächtigungsplan. Es ist bezeichnend, dass gerade dieser Held, der zum genuesischen Herzog werden will und es auch kurzzeitig wird – ein Held also, der repräsentieren zu können glaubt, – vom Dichter ‚abgestraft‘ wird, indem letzterer die Heldenmission scheitern lässt. Goethes Helden sterben zwar, wie Fiesko, beide am Schluss der Dramen. Gleichwohl sind sie auch diejenigen Figuren, die ihrer ‚unbeteiligten‘ Haltung zu den politischen Ereignissen auf die vielleicht amüsanteste Weise Ausdruck verleihen. Ähnlich wie Egmont nicht die geringste Lust hat, über die angespannte Lage im besetzten Brüssel ‚Falten‘ zu bekommen (vgl. E, S. 500) oder gar daran ‚Schuld‘ sein will (vgl. E, S. 492–493), kann Götz als derjenige Held gelten, der am wenigsten gebrochen und unglücklich darüber ist, dass man ihn ‚in die Mitte nehmen‘ bzw. zum Symbol der politischen Bewegung machen möchte. Sein auf die Frage, ob er noch länger als Hauptmann des Bauernaufstandes agieren will, geäußertes „Meinetwegen“ (GB, S. 372) ist zweifelsfrei eine Antwortversion auf die Frage, ob Held*innen herrschen wollen und können, die in ihrer Beiläufigkeit und Gleichgültigkeit schmunzeln lässt.
V Siglenverzeichnis Häufig zitierte Werkausgaben Goethe, FA = Frankfurter Klassiker Ausgabe
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Kleist, FA = Frankfurter Klassiker Ausgabe
von Kleist, Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. von Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba. Frankfurt a. M. 1987–1997. RG Robert Guiskard, Herzog der Normänner. In: FA, Bd. 1. Dramen 1802–1807. Hg. von Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba. Frankfurt a. M. 1991. S. 235–255. A Amphitryon. Ein Lustspiel nach Molière. In: FA, Bd. 1. Dramen 1802–1807. Hg. von Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba. Frankfurt a. M. 1991. S. 377–461. P Penthesilea. Ein Trauerspiel. In: FA, Bd. 2. Dramen 1808–1811. Hg. von Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba. Frankfurt a. M. 1987. S. 143–256. KH Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe. Ein großes historisches Ritterschauspiel. In: FA, Bd. 2. Dramen 1808–1811. Hg. von Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba. Frankfurt a. M. 1987. S. 321–434. PH Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel. In: FA, Bd. 2. Dramen 1808–1811. Hg. von Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba. Frankfurt a. M. 1987. S. 555–644. RÖ Über die Rettung von Österreich (Paralleldruck der ersten und der endgültigen Fassung). In: FA, Bd. 3. Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften. Hg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt a. M. 1990 S. 496–503. Briefe Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811. In: FA, Bd. 4. Hg. von Klaus Müller-Salget u. Stefan Ormanns. Frankfurt a. M. 1997.
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