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German Pages 311 [312] Year 2001
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 107
Silke Schlichtmann
Geschlechterdifferenz in der Literaturrezeption um 1800? Zu zeitgenössischen Goethe-Lektüren
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schlichtmann, Silke: Geschlechterdifferenz in der Literaturrezeption u m 1800? : zu zeitgenössischen Goethe-Lektüren / Silke Schlichtmann. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 107) Zugl.: Trier, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-484-32107-5
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: niemeyers satz, Tübingen Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren
Inhaltsverzeichnis
Siglen
VII
Zitierweise
VIII
I. Einleitung: Erkenntnisinteresse, Forschungsstand, Quellen, Methode
ι
II. Von der »weibischen Neugierde, das Ende eines Buchs zu wissen«, und anderen sogenannten Fehlern: Das Postulat einer Geschlechterdifferenz im Lesen um 1800
22
III. Goethe lesen - Goethe schreiben: Lektüren in Briefen an den Autor
34
1. Die liebende Leserin a. Bettina Brentano: Ein Paradebeispiel? b. Leserinnenliebe im Plural
36 36 51
2. Auch Leser lieben
71
a. Carl Friedrich Zelter: Nur eine Ausnahme? b. Leserliebe im Plural
71 84
3. Das Buch als Brief: Eine weibliche Lektüre?
100
4. Selbstparallelisierung mit dem Autor: Eine männliche Lektüre?
111
IV. Geschlechtscharaktere und Lektüreweisen
124
ι. Stoff und Form a. »Und wie ging's weiter?«: Neugier, männliche und weibliche
125 125 V
b. Poetologiekonzept versus Geschlecht als Einflußfaktor
133
c. >Die Wahlverwandtschaften^ Ethik versus Ästhetik? . . 139 2. Emotionalität und Rationalität
152
a. Meinungen und Urteile
152
b. Verstehen
160
c. Identifikatorische Nähe versus reflektierende Distanz?
169
d. Stillgestellt oder sinnlich rege: Der Körper im Leseakt
189
3. Rezeptivität und Produktivität
202
V. Lektüre in Funktion
221
1. Beziehungsmedium
221
a. Erkennen und Verkennen: Identifikatorische Lektürestrategien im Briefwechsel der Geschlechter
222
b. »freilich sagt Göthe nur was wir wißen!«: Wir-Konstitution jenseits der Geschlechtergrenzen 2. Lebensorientierung
. . 240 254
a. Lesen und Handeln
255
b. Lesen als Kur und Kompensation
260
c. »das ist meine heilige Schrift!«: Weiblich-jüdische Akkulturationsversuche VI. Resümee
VII. Quellen- und Literaturverzeichnis 1.Quellen a. Archivalien
267 280
287 287 287
b. Gedruckte Briefe und Sammlungen weiterer Lektürezeugnisse c. Weitere zeitgenössische Texte 2. Sekundärliteratur
VI
288 293 294
Siglen
ADB
Allgemeine Deutsche Biographie. 56 Bde. H g . durch die historische Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1875-1912.
DBE
Deutsche Biographische Enzyklopädie. H g . v. Walter K i l l y u. Rudolf Vierhaus, München/New Providence/London/Paris 19950.
FBA
Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. H g . v. Jürgen Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald, Christoph Pereis u. Hartwig Schultz, Stuttgart 1975fr.
GSA GW
Goethe- und Schiller-Archiv Weimar Rahel Varnhagen, Gesammelte Werke. 10 Bde. H g . v. Konrad Feilchenfeldt, U w e Schweikert u. Rahel E. Steiner, München 1983.
HAB
Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden. Hg. v. Karl Robert Mandelkow, München '1988.
MA
Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter, München 1985fr.
NA
Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet v. Julius Petersen. Fortgeführt v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese. H g . im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) u. des Schiller-Nationalmuseums in Marbach v. N o r b e r t Oellers u. Sigfried Seidel, Weimar 1 9 4 3 f r .
NDB
N e u e Deutsche Biographie. H g . v. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1 9 5 3 f r .
RA
Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. H g . v. K a r l - H e i n z Hahn, Weimar 1 9 8 0 f r .
WA
Goethes Werke. 1 3 3 Bde. H g . im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1 8 8 7 - 1 9 1 9 .
VII
Zitierweise
Bei Zitaten aus ungedruckten Briefen wird die originale Orthographie und Zeichensetzung beibehalten. Auch offensichtliche Schreibfehler (z.B. »HofTung« statt »Hoffnung«) werden übernommen und aufgrund der Fülle ihres Vorkommens nicht einzeln als solche markiert. Lediglich Kürzel für Deklinations- und Konjugationsendungen werden ebenso wie der Verdoppelungsstrich über »n« und »m« stillschweigend aufgelöst; weiter wird das Umlautzeichen über » y « fortgelassen. Aus drucktechnischen Gründen werden Unterstreichungen nicht als solche wiedergegeben, sondern durch Kursivsetzung markiert; doppelte Unterstreichungen erscheinen in gesperrter Kursivsetzung. Dies gilt auch für Zitate aus der >Edition Rahel Levin Varnhagen[...] Aber Ihr Frauen habt Unrecht, wenn Ihr immer Partei macht; Ihr leset gewöhnlich ein Buch, um darin Nahrung für Euer Herz zu finden, einen Helden, den Ihr lieben könntet! So soll man aber eigentlich nicht lesen, und es kommt gar nicht drauf an, daß Euch dieser oder jener Charakter gefalle, sondern daß Euch das Buch gefallen Wir Frauen sind nun einmal so, lieber Vater, sagte Frau von Goethe, indem sie über den Tisch neigend ihm die Hand drückte. >Man muß Euch schon in Eurer Liebenswürdigkeit gewähren lassen, erwiderte Goethe.Werther< mit vierzehn oder fünfzehn Jahren ist allerdings nur aus zweiter Hand überliefert. Vgl. Malla Montgomery-Silverstolpe, Das romantische Deutschland. Reisejournal einer Schwedin ( 1 8 2 5 - 1 8 2 6 ) . Mit einer Einleitung von Ellen Key, Leipzig 1 9 1 2 , S. 253. F ü r eine ausführliche Darstellung der Beziehung zwischen Bettina und Frau Rat wie auch der Zusammentreffen Bettinas mit Goethe siehe Werner Milch, Die Junge [!] Bettine. 1 7 8 5 - 1 8 1 1 . Ein biographischer Versuch. Im Manuskript Überarb., eingeh u. hg. v. Peter Küpper, Heidelberg 1968.
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diese Hierarchie in Frage stellen und zumindest die Möglichkeit einer gleichberechtigten Beziehungsebene imaginieren. So etwa, wenn Bettina, eine Art Seelenverwandtschaft konstatierend, schreibt, daß ihre Liebe sogar Goethes Ruhm vergesse und zu ihm wie zu einem »Zwillingsbruder« ( O G B K 591) spreche, oder wenn sie Goethe in Verkehrung ihres Altersunterschieds und in Anspielung auf die Jünger Petrus und Paulus auffordert: »Sey Du so alt und unklug wie ich, laß mich so jung und weise seyn wie Du. und so mögten wir füglich die Hand einander reichen, und seyn wie die Jünger die zwei verschiednen Propheten in einem Lehrer folgten« ( O G B K 643). Und schließlich spricht Bettina, die sich so oft als Kind entwirft, auch Goethe selbst als »HerzensKind« ( O G B K 696) an. Einerseits also nimmt Bettina in ihren Briefen Goethe gegenüber durchaus eine vergötternde Haltung ein, ist sie eine liebende Leserin, die den Dichter zum Gott hypostasiert und verehrt. Andererseits führt sie aber keine direkten Referenzialisierungen zwischen Goethes Figuren und ihrem Verfasser oder auch sich selbst durch, um auf diese Weise eine Liebe aus der Literatur ins Leben zu tragen. Ebensowenig verbleibt sie in einer passiven, rein konsumtiven Rezeptionshaltung, sondern sie entwickelt Phantasien, die ihre Deifizierung Goethes teilweise wieder unterlaufen. Bettinas liebendes Schreiben an den Dichter enthält dienende wie fordernde Momente zugleich. Die Ambivalenz in der Beziehung zum Autor wie auch insbesondere der produktive Aspekt der Leserin zeigen sich in mancherlei Hinsicht noch deutlicher in >Goethes Briefwechsel mit einem Kinde< - in dem Werk also, mit dem Bettina den Part der nur hingebungsvoll liebenden Leserin endgültig verläßt. Im Briefbuch nimmt Goethes Dichtung einen größeren Raum ein als in den Originalbriefen. 24 Dabei kommt >Wilhelm Meisters Lehrjahren« eine ganz besondere Stellung zu, insofern Bettina von Arnim die Goethe-Bettine-Beziehung nun im Lichte der Meister-Mignon-Konstellation gestaltet. Diese Identifikation mit der Figur der Mignon, die für
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Dazu tragen die zahlreichen, in Bettines Briefe nachträglich eingearbeiteten Paraphrasierungen Goethescher Gedichte nicht unwesentlich bei. Für einen Nachweis der Goethe-Texte, aus denen Bettina hier schöpft, vgl. den Stellenkommentar zu »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde< in der genannten Ausgabe von Schmitz/Steinsdorff.
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Bettina biographisch schon früh belegt ist, 2 ' findet interessanterweise in den Goethe-Briefwechsel erst nachträglich Eingang. 26 In den Originalbriefen spielt das Mignon-Motiv als Stilmittel, wenn man von einzelnen dahingehend deutbaren Elementen wie etwa der öfteren Erwähnung des Kletterns (z.B. O G B K 609, 629, 630) und der Positionierung als Kind absieht, noch keine Rolle. 2 7 Mit Blick auf >Goethes Briefwechsel mit einem Kinde< aber kann man sagen, daß Bettine sich mit der Mignon-Figur identifiziert, also bei der Lektüre des >Wilhelm Meister< »an der Kindgeliebten seines Helden ihr eigenes Ebenbild« 2 8 findet. Allerdings ist das nur die Hälfte der Wahrheit, denn die Bettine-Mignon des Briefbuchs ist keine bloße Wiederholung der Figur aus Goethes Roman; beide Gestalten stehen nicht im Verhältnis einer planen Gleichsetzung zueinander. Wenn man also in diesem Zusammenhang von Identifikation spricht, dann muß man ebenso von Modifikation sprechen. 29 Bettine-Mignon kann als eine Entsprechung zur
Goetheschen
Mignon verstanden werden, insofern es sich um Verhaltensweisen und Charakterzüge handelt wie Gefühlsintensität, Leidenschaft und Liebesfähigkeit, körperliche Geschicklichkeit (Klettern, Tanz) und überhaupt um ein kindliches Wesen, das von der gesellschaftlichen N o r m abweicht. Jedoch bereits die Verschlossenheit der Mignon-Figur des »Wilhelm Meister< läßt sich in Bettines mitteilungsfreudigen Briefen kaum noch
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26 27
28 29
Vgl. dazu Konstanze Bäumer, »Bettine, Psyche, Mignon«. Bettina von Arnim und Goethe, Stuttgart 1986, S. 1 1 8 - 1 2 1 , und Julia König, D a s Leben im Kunstwerk. Studien zu Goethes Mignon und ihrer Rezeption, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1 9 9 1 , S. 1 5 4 - 1 5 6 , 2 1 4 - 2 1 6 . Darauf hat bereits Bäumer, »Bettine, Psyche, Mignon«, S. 130, hingewiesen. A u c h »Wilhelm Meisters Lehrjahre< selbst werden mit Ausnahme von zwei aus dem R o m a n stammenden Liedern, die die Frau Rat sehr geliebt habe ( O G B K 704), nicht ausdrücklich erwähnt. K u r z genannt wird die Lektüre von »Wilhelms Wanderjahren« ( O G B K 656), womit sicherlich der Vorabdruck der ersten vier Kapitel des ersten Buchs von »Wilhelm Meisters Wanderjahren« im »Taschenbuch für Damen auf das Jahr I 8 I O < gemeint ist. Mignon selbst wird im Originalbriefwechsel das erste und einzige Mal 1824 genannt, also nach dem großen Bruch der Bettina-Goethe-Beziehung von 1 8 1 1 , und zwar in Bettinas Beschreibung ihres Goethe-Denkmalentwurfs ( O G B K 734). Kittler, Aufschreibesysteme, S. 135. Z u Bettinas Anspielungen auf Goethes Mignon und ihrer Verarbeitung dieser Figur im Briefbuch vgl. ausführlich Bäumer, »Bettine, Psyche, Mignon«, insbes. S. 1 0 3 - 1 5 5 , und König, Das Leben im Kunstwerk, S. 2 1 3 - 2 5 3 .
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wiederfinden. Eine viel entscheidendere Differenz zu der literarischen Vorlage aber ist dann in der Zurücknahme einer selbstaufopfernden Haltung zu sehen. So findet sich im Briefbuch eine an den > Wilhelm Meister* angelehnte Traumsequenz,3° in der Bettine genau das erreicht, »woran Mignon letztendlich zugrunde geht - die Durchbrechung des selbstwertmindernden Abhängigkeitsverhältnisses zur Umwelt und zu Goethe/Meister«:' 1 [...] es ist als solle ich vor D i r tanzen, ich bin ätherisch gekleidet, ich hab' ein Gefühl, daß mir alles gelingen werde, [...] dein Blick ruht auf mir unwillkürlich, ich ziehe mit leisen Schritten magische Kreise, dein A u g ' verläßt mich nicht mehr, D u mußt mir nach, wie ich mich wende und ich fühle einen Triumph des Gelingens; - alles, was D u kaum ahndest, das zeige ich Dir im Tanz, und D u staunst über die Weisheit, die ich D i r vortanze, f . . . ] dann atmest Du Seufzer aus, und siehst an mir hinauf und bist ganz durchdrungen; [...]. ( G B K 98)
Hier ist Bettine die Agierende, die Goethe mit ihrem Tanz - mit dieser Kunst der Gegenwart und des Augenblicks - in ihren Bann zieht. Sie bringt ihn dabei in die Position eines liebend Betrachtenden, der Kunstwerk und Künstlerin zugleich bewundert. In konkretem Bezug auf die Szene der als Engel verkleideten Mignon aus dem > Wilhelm Meister< fleht Bettine in derselben Briefpassage dann, daß ihr weißes Kleid ihr bleiben möge. Wenn man dieses Kleid mit Ulrike Landfester als »Bild für die Mignon durch Wilhelm verweigerte Liebe, in die Bettine die eigene von Goethe erfahrene Ablehnung ihrer Zuneigung hineinspiegelt«, 32 liest, so öffnet sich damit auch ein Raum für Kritik an Goethe, der historischen Person, dem Autor und der Figur des Briefbuchs zugleich. Bettine ahnt in ihren Bitten schon, »daß auch mir das weiße Kleid ausgezogen werde, und daß ich in den gewöhnlichen des alltäglichen gemeinen Lebens einhergehen werde; und daß diese Welt, in der meine Sinne lebendig sind, versinken wird« ( G B K 99). Doch anders als Mignon zeigt Bettine dann nicht Passivität, Sclbstaufgabe und
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° Vgl. die Eiertanz-Szene und die Passage über die als Engel verkleidetcte Mignon in > Wilhelm Meisters Lehrjahren«. M A 5, S. 1 1 3 f . , 5 1 6 - 5 1 8 . 31 Bäumer, »Bettine, Psyche, Mignon«, S. 142. 32 Ulrike Landfester, »Da, w o ich duldend mich unterwerfen sollte, da werde ich mich rächen«. Mignon auf dem Weg zur Revolte. Stationen einer Rezeptionsgeschichte. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 4 (1990), S. 7 1 - 9 7 , hier: S. 88. Landfester interpretiert Bettines Tanz überzeugend als Chiffre f ü r das poetische Verfahren des Briefbuchs.
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Opferbereiischaft, sondern Aktivität, Auflehnung und Selbstbestimmung: »[...] das was ich schützend decken sollte, das werde ich verraten; da w o ich duldend mich unterwerfen sollte, da werde ich mich rächen [...]« ( G B K 99). In Szenen wie dieser wird deutlich, daß Bettines Mignon-Identifikation nicht ausschließlich auf eine weiblich liebende Goethe-Verehrung reduziert werden kann,» sondern ebenso eine Transzendierung der vorgegebenen Figur bedeutet, eine Transzendierung, die Goethe und sein Werk kritisiert. Mignon ist die einzige der Goetheschen Figuren, in der Bettine sich in weiten Zügen wiederfinden und die sie somit zum Ausgangspunkt einer modifizierenden Selbststilisierung machen kann. Alle anderen Frauenfiguren - wenn man das Schwellenwesen Mignon in seiner Kindlichkeit und mit seinen androgynen Zügen denn überhaupt zu den Frauenfiguren rechnen will - lehnt Bettine ab. »Einem Autor schreiben, daß er erstens selber die Frauen liebt, die seine Romanhelden lieben, und daß zweitens die Unterzeichnete diesen Frauen gleicht« 34 - das könnte vielleicht tatsächlich das Äußerste einer Funktion Leserin bedeuten, aber es ist nicht das, was Bettine tut. Sie sagt Goethe zwar, er sei in die Ottilie der >Wahlverwandtschaften< verliebt ( G B K 297, 3 1 1 ) - und darin sieht sie auch den Grund dafür, warum er ihr selbst gegenüber »so eingezogen und so kalt« ( G B K 297) ist - , aber
33
Vgl. hierzu auch Bäumer, die auf die sich im deutschen Idealismus vollziehende »geschlechtsspezifische Zweiteilung kindlicher Wertbestimmung« hinweist, deren »imaginierte Assoziationskette in Hinsicht auf den kindlichen Mann besonders die Begriffe der Genialität, Originalität, Kühnheit und Direktheit hervorhob, [... während] sie in bezug auf die >Kindfrau< vor allem um die Sinnzuweisung der Unmündigkeit, passiven Unschuldigkeit, göttlichen Naturverbundenheit und himmlischen Keuschheit [kreiste].« Bettina von Arnim habe sich in der Gestaltung ihrer Mignon-Figur keineswegs an die klar weibliche, Genie absprechende Geschlechtszuweisung gehalten. Bäumer, »Bettine, Psyche, Mignon«, S. 129.
34
Kittler, Aufschreibesysteme, S. 136. Kittler stützt sich in der ersten Hälfte seines Nebensatzes auf eine Äußerung Bettines über Goethes Gefühle f ü r die Ottilie aus den > Wahlverwandtschaften ( G B K 3 1 1 ) , führt f ü r die zweite Satzhälfte dann aber bezeichnenderweise keinen Beleg an. Möglicherweise ist hier noch an einen Bezug zur Mignon-Identifikation Bettines gedacht, womit allerdings eine in puncto Liebe nicht unbedingt befriedigende Konstellation benannt würde: Wenn Goethe in seine Figur Ottilie verliebt ist und Bettine, die der Figur Mignon gleicht, ihre Liebe auf Goethe/Meister richtet, laufen schon in der Phantasie der Leserin zwei Begehren aneinander vorbei.
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sie schreibt nicht, daß sie selbst dieser Figur gleiche, um auf diese Weise zu unterstreichen, daß sie Goethes Liebe ebenso würdig sei. Bettine setzt sich vielmehr ausdrücklich von Goethes Frauengestalten ab. Auch die Lotte im >WertherWilhelm Meister« seien ihr »alle Frauen zuwieder« ( G B K 297). Sie sieht beziehungsweise sah ihre Hoffnung auf die Liebe des Autors gerade darin gegründet, daß sie seinen Frauenfiguren nicht gleiche, sondern anders sei: »[...] und darauf hatte ich auch gebaut, Du würdest mich gleich lieb gewinnen, wenn Du mich kennen lerntest, weil ich besser bin und liebenswürdiger wie die ganze weibliche Comitee deiner Romane, [...]« ( G B K 2 9 7 ) . I n einer Mischung aus Kritik und Resignation bemerkt sie nun bezüglich der Heldin der >Wahlverwandtschaften[...] Gott weiß welches Muster Dir hier zum Ideal diente; ach Du hast einen eignen Geschmack an Frauen [...]« ( G B K 2 9 7 ) . B e t t i n a von Arnim läßt die Bettine ihres Briefbuchs also zwar Eifersucht auf die Goethesche Ottilie äußern ( G B K 317) - über eine eventuell hinter dieser Figur stehende reale Frau wird nicht spekuliert - , aber sie läßt Bettine sich in Ottilie keinesfalls wiederfinden oder gar sich selbst als Vorbild vermuten. Einmal allerdings scheint auch Bettine - und mit ihr ihre Autorin der Versuchung zu erliegen, in einem Goethe-Text sich und nur sich selbst als die vom Autor geliebte Frau zu suchen und, wenn auch nicht 35
3Gesprächen mit G o e t h e in den letzten J a h r e n seines Lebens< G l a u b e n sehenken darf, s o w a r der D i c h t e r v o n d e r Ü b e r l e g e n h e i t seiner F r a u e n f i g u r e n g e g e n ü b e r realen F r a u e n ü b e r zeugt: » M e i n e I d e e v o n den F r a u e n ist nicht v o n den E r s c h e i n u n g e n der W i r k l i c h k e i t abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren, o d e r in mir entstanden, G o t t w e i ß w i e . Meine dargestellten F r a u e n - C h a r a k t e r e sind daher auch alle gut w e g g e k o m m e n , sie sind alle besser, als sie in der W i r k l i c h k e i t a n z u t r e f f e n sind.« M A 19, S. 270. Z u B e t t i n e s K r i t i k an der O t t i l i e - F i g u r vgl. - neben der s c h o n in den O r i g i n a l b r i e f e n vorhandenen A b l e h n u n g ihres T o d e s w u n s c h e s ( O G B K 672), die im B r i e f b u c h einhergeht mit einem V o r w u r f an G o e t h e , daß er keine F i g u r s c h u f , sie z u retten ( G B K 3 1 6 ) - auch die f o l g e n d e n B e m e r k u n g e n : » [ . . . ] und w a s hilft mich aller G e i s t u n d alles G e f ü h l in Ottiliens T a g e b u c h ? nicht kindlich ist's, daß sie den G e l i e b t e n verläßt u n d nicht v o n I h m die E n t f a l t u n g ihres G e s c h i c k s e r w a r t e t , nicht w e i b l i c h ist's, daß sie nicht bloß sein G e s c h i c k beratet; und nicht m ü t t e r l i c h , da sie a h n e n m u ß die j u n g e n K e i m e alle, deren Wurzeln mit den ihrigen v e r w e b t sind, daß sie ihrer nicht achtet und alles mit sich zu G r u n d e richtet« ( G B K 3 1 6 ) .
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wirklich zu finden, so doch die Sicherheit zu gewinnen, daß nur sie gemeint sein könne. Die Liebe zum Autor läuft hier tatsächlich über eine Lektüre, in der sich die Leserin in seine Dichtung eingeschrieben glaubt. Die Rede ist von Bettines Rätseln über das Sonett >CharadeCharade< an sie gerichtet ist: »[...] ich errate daraus meine Rechte, meine Anerkenntnis, meinen Lohn und die Bekräftigung unsers Bundes, und werde jeden Tag Deine Liebe neu erraten, [...]« ( G B K 229). Mit diesem konkreten Bezug auf sich selbst unterliegt Bettine/Bettina nach vorherrschender Forschungsmeinung einem Irrtum, verweisen Herz und lieb, die Lösungswörter der Charade, doch auf eine andere Frau, auf Minna Herzlieb. Allerdings wurde jüngst auch dafür plädiert - unter anderem mit Verweis auf Bettina Brentanos Selbstbezeichnung mit den Worten »Liebes Herz« ( O G B K 576) - , daß Goethes >Charade< sehr wohl konkret auf beide Frauen zugleich gemünzt sein könne - neben ihrem weiterreichenden Sinn, der jede Verehrerin Goethes meinen kann.40
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Vgl. dazu die allerdings weit stärker noch in diese Richtung gehende Lektüre Kittlers, die das sich selbst erratende Lesen Bettinas als Ausdruck ihres »Beziehungswahns« versteht. Kittler, Aufschreibesysteme, S. i4of. Vgl. Bettinas Brief an Clemens Brentano v o m 4. Juli 1834, in dem es heißt: »Goethe hat eine Charade auf mich gemacht anno 9 ich hab sie nie errathen, in der N a c h t da ich seinen Tod erfuhr habe ich ihre A u f l ö s u n g geträumt [...].« Bettina an Clemens Brentano. In: C o r o n a 7 (1937), S. 36-59, hier: S. 42. Bettinas Auflösung lautet »Abendlicht«. Z u r Erinnerung sei Goethes >Charade< zitiert: »Zwei Worte sind es, kurz, bequem zu sagen,/Die wir so o f t mit holder Freude nennen,/Doch keineswegs die Dinge deutlich kennen,/Wovon sie eigentlich den Stempel tragen.// Es tut gar wohl in jung und alten Tagen/Eins an dem andern kecklich zu verbrennen;/Und kann man sie vereint zusammen nennen,/So drückt man aus ein seliges Behagen.//Nun aber such ich ihnen zu gefallen/Und bitte mit sich selbst mich zu beglücken;/Ich hoffe still, doch h o f f ' ich's zu erlangen://Als Namen der Geliebten sie zu lallen,/In Einem Bild sie beide zu erblicken,/In Einem Wesen beide zu umfangen.« Μ A 9, S. 2 1 . Margaretmary Daley, Playing Charades with Goethe: The Identity of the Beloved in »Charade«. In: Seminar 33 (1997), S. 9 5 - 1 0 6 .
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H i e r ist nicht der Ort, u m nochmals nach des Rätsels L ö s u n g zu suchen, es soll nur festgehalten werden, daß Bettine an dieser Stelle tatsächlich als eine lustvolle Leserin erscheint, die durch ihre liebende, rätselnde L e k t ü r e den Goetheschen Text stabilisiert. Es ist aber ebenfalls darauf aufmerksam zu machen, daß sie im Briefbuch mit ihrer lustvollen Leseweise nicht allein ist, denn Bettina v o n Arnim entwirft auch einen Leser, der den N a m e n G o e t h e trägt und ihre eigenen Texte, die Briefe der Bettine, auf cbendiese Weise liest und es ihr auch sagt: »In diesem A u g e n b l i c k hab ich kaum die erste Hälfte Deines Briefs gelesen, und bin z u bewegt, u m fortzufahren. [...] U m eines bitte ich Dich: höre nicht auf, mir gern zu schreiben; ich w e r d e nie aufhören D i c h mit Lust z u lesen« ( G B K 183).·" Halten w i r also fest: Bettina v o n A r n i m inszeniert in >Goethes Briefwechsel mit einem Kinde< nochmals die Verehrung und Liebe, die sie schon an den realen G o e t h e adressiert hat, w o b e i nun das G o e t h e sche Werk eine deutlich wichtigere Rolle in der Liebesartikulation spielt. D i e Vergöttlichung des A u t o r s bei gleichzeitiger erotischer B e s e t z u n g dieser Instanz nimmt im Briefbuch wie schon im Originalbriefwechsel teilweise extreme Ausmaße an. Sie steht aber nicht isoliert, sondern ist als Teil eines zeitgenössischen Phänomens zu begreifen, an dem Leserinnen wie Leser partizipieren. N e b e n dieser H y p o s t a s i e r u n g des Dichters zeigen sich aber ebenfalls unverkennbar kritische M o m e n t e , die auch als eine A r t posthume Rache Bettinas an G o e t h e wegen seiner Z u r ü c k w e i s u n g ihrer Zuneigung verstanden werden können - ein Vorgehen, bei dem sie »Goethe selbst im poetischen Werk ihres »Briefw e c h s e l unterwirft«. 4 2 B e z ü g l i c h der eingangs gestellten Frage, o b Bettina aufgeht in der F u n k t i o n der rein konsumtiven Leserin, ist auch und vor allem für den Text als G a n z e n , also nicht nur f ü r die interne Lese- und Schreibsituation der Figur Bettine, zu konstatieren, daß Bettina die Position der
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D e r reale G o e t h e hat diese Leselust nicht geäußert. Z u m i n d e s t findet sich in den überlieferten Teilen des O r i g i n a l b r i e f w e c h s e l s nur die deutlich "weniger emphatische, an anderer Stelle ebenfalls ins B r i e f b u c h a u f g e n o m m e n e F o r mulierung: »Da d u doch nicht a u f h ö r e n w i r s t mir gern z u schreiben und ich nicht aufhören w e r d e dich gern z u lesen; [...]« ( O G B K 689; G B K 37if.).
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Landfester, »Da, w o ich duldend mich u n t e r w e r f e n sollte, da w e r d e ich mich rächen«, S. 88.
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bloß Rezipierenden spätestens mit der Veröffentlichung ihres ersten Briefbuchs verläßt. >Goethes Briefwechsel mit einem Kinde< ist das Ergebnis eines mehrjährigen Schaffensprozesses; intensive »Relektüre« hat hier zweifelsohne stattgefunden.·*} A u c h im Wissen um die Problematik weiblicher Autorschaft um 1800 beziehungsweise 1835 wird man somit nicht umhin können zu sehen, daß mit dem Schreiben und der Publikation dieses Briefbuchs etwas stattfindet, was sich kaum noch mit der Formel von einer »reinen K O N S U M T I O N V O N D I S K U R S E N « 4 4 fassen läßt. Wenn es auch nicht eine >männliche< Autor-Position ist, die mit diesem Werk erreicht wird, so wäre doch an anderer Stelle darüber nachzudenken, ob in »Goethes B r i e f w e c h s e l mit einem Kinde< nicht eventuell eine eigene, ganz neue F o r m von Autorschaft gestiftet wird. 4 '
b. Leserinnenliebe im Plural Bettina von Arnim stellt eine Ausnahme in ihrer Liebe und Verehrung f ü r Goethe dar, insofern sie ihre Briefe an den Dichter durch einen intensiven Schaffensprozeß in ein Werk überführt und damit an eine ganz andere Adresse als den Autor, nämlich an ein anonymes Publikum richtet. A u c h Rahel Levin Varnhagen kann in dieser Hinsicht als Ausnahme betrachtet werden, w e n n sie Teile ihrer Briefwechsel, in denen v o n
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Vgl. dagegen Kittler, Aufschreibesysteme, S. 134, der Bettina diese »Relektüre« ausdrücklich abspricht, für ihr Schreiben eine fehlende »Rückkopplung zwischen Schreiben und Lesen« konstatiert. Er bezieht sich hier auf eine Äußerung der Bettine aus Bettina von Arnims zweitem Briefbuch >Die Günderode< (1840) und nimmt damit eine Selbststilisierung für bare Münze. Kittler, Aufschreibesysteme, S. 1 3 1 . Johanna Bossinade kritisiert ebenfalls, daß Kittler auf die Möglichkeit verzichtet, den Begriff Autorschaft neu zu definieren, und Bettinas Entdeckung als »schreibende Frau< erst für die Zeit um 1900 ansetzt. Bettina sei mit ihrer Relektüre der Briefe zwar nicht zu einer >männlichen< Autorschaft aufgerückt, aber auch nicht in der >weiblichen< Lescrolle verblieben, so daß ihre Textpraxis innerhalb ihres eigenen Zeitkontextes neu zu bestimmen wäre. Bossinade, Bettina von Arnim: Identifikationen des Ich. Entwurf für eine Lesart. In: Gerhard Neumann (Hg.), Romantisches Erzählen, Würzburg 1995, S. 85-106, hier: S. 97 (Fußnote 23). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bernhard Greiner, Echo-Rede und >Lesen< Ruths. Die Begründung von Autorschaft in Bettina von Arnims Roman Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), S. 48-66. 51
Goethe und seinen Dichtungen die Rede ist, zum Druck bringt. 46 Allerdings geht sie dabei einen etwas anderen Weg: Sie wartet nicht wie Bettina von Arnim erst den Tod des Autors Goethe und des AutorGatten Achim von Arnim ab, sondern publiziert schon zu Lebzeiten des Dichters und mit Hilfe ihres Mannes Karl August Varnhagen. U n d ebenfalls anders als Bettina von Arnim hat Rahel Levin Varnhagen ihre Liebe nicht zuvor an den Autor adressiert; Levin Varnhagen, die als eine der großen Goethe-Verehrerinnen in die Geschichte eingegangen ist, hat mit dem Dichter selbst keine direkte Korrespondenz geführt. 47 Eine von der Leserin intendierte Publikation ihrer brieflichen Goethe-Verehrung, wie sie sich am Beispiel Bettina von Arnims und Rahel Levin Varnhagens aufzeigen läßt, scheint ein eher seltener Fall zu sein. Die briefliche Goethe-Liebe als solche dagegen findet sich in zahlreichen Schreiben an den Autor. Dabei läßt sich unterscheiden zwischen Briefen, in denen Goethe ausschließlich Verehrung und Bewunderung für sein dichterisches Schaffen mitgeteilt wird, und Schreiben, in denen die Leserinnen dem Autor nicht nur eine Rückmeldung auf sein Werk geben, sondern mehr sagen, eine Beziehung aufzubauen versuchen und damit weitere, über die Dichtung hinausgehende Erwartungen in Goethe setzen. Im ersten Fall handelt es sich um Briefe, die keine Antwort des A u tors erheischen, nicht ausdrücklich einen BriefwecAse/ initiieren wollen, sondern sich selbst als Antwort auf das Werk des Dichters genügen. So schreibt beispielsweise Sophie Schaumann am 24. April 1802 an Goethe: »Seit Jahren, verehrungswürdiger Herr Geheimerath, sind Ihre lieben Werke, mir immer unaussprechlich lieb, und Wilhelm Meister mit dem j t e n Band Ihrer Poesieen sind so vertraut mit mir geworden, daß sie Tags und Abends um mich sind [...].« 48 Der einzige Wermutstropfen in dieser Lese-Idylle ist, daß der Autor nicht darum weiß: »Nur eins stört
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Z u Levin Varnhagens Publikationen zu Lebzeiten vgl. Barbara Hahn, »Antworten Sie mir!«. Rahel Levin Varnhagens Briefwechsel, Basel/Frankfurt am Main 1990, S. 20-26. Allerdings kann die Publikation der Briefe als eine indirekte, über den Druck geführte Korrespondenz verstanden werden: »[...] sie schrieb ihm in Zeitschriften und Büchern, und seine Antworten erreichten sie auf demselben Weg oder in Briefen an Varnhagen.« Hahn, »Antworten Sie mir!«, S. 22 Sophie Schaumann an Goethe, 24. April 1802. G S A 28/36/225. Z u Schaumann, geb. K o c h ( 1 7 7 5 - ? ) ' jüngste Tochter des Gießener Juristen J o h a n n
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mich bey dem seelig ruhigen Genuß, den ich durch Sie, den lieben Dichter, der N ä h e des Geliebten, und des Nachgefühls habe - der unbefriedigte und stets befriedigt seyn wollende Trieb, Ihnen f ü r diesen Genuß zu danken. Warum soll ich mich länger stören lassen?«4? Gefragt, getan: Schaumann schreibt ihre Dankbarkeit - dabei weibliche Bescheidenheit wahrend - nieder und endet mit einem Wunsch: »Sie haben uns viel viel gegeben! Geben Sie uns doch verehrter Dichter, alles, was Sie haben. Es bittet Sie Ihre Dankende Sophie Schaumann geb. Koch«. 5 0 Die Leserin verlangt also keine persönliche A n t w o r t des Autors, sondern wünscht sich weitere dichterische Produkte. Ein solcher Brief erscheint als eine reine Rückmeldung erfolgter Rezeption: Sophie Schaumann zeigt Goethe, daß sie seine Werke liest und weitere lesen will, sie bestätigt seine Schöpfungskraft und fordert sie aufs neue. Und damit hat diese Leserin alles gesagt, denn »Weiber sollen und müßen ja schweigen: und ich thue es nun mit Freuden, da ich ausgesprochen habe was ich nicht verschweigen konnte!«' 1 Goethe hat auf dieses Verehrungsschreiben nicht geantwortet, und auch Sophie Schaumann scheint es genügt zu haben, ihrem Dankestrieb einmal nachgegangen zu sein - im Goethe- und Schiller-Archiv findet sich kein zweiter Brief von ihr. Doch mit der genügsamen Rolle reiner Resonanz geben sich längst nicht alle Leserinnen zufrieden. Viele wollen nicht nur Bücher lesen, sondern den Autor persönlich kennenlernen und, wenn dies schon geschehen ist, in Briefkontakt mit ihm bleiben und ihn Wiedersehen. Auch diese Leserinnen teilen ihre Verehrung f ü r das Werk und die Liebe f ü r den Autor mit, wobei keineswegs immer klar zu entscheiden ist, wie echt diese Emotionen sind und was in diesen Briefen den Schreibkonventionen der Zeit geschuldet ist. Bei Marianne von Eybenberg aber, die im Sommer 1795 in Karlsbad mit Goethe zusammgetroffen ist, klingt es zunächst recht deutlich nach einem tiefen Gefühl, wenn sie am 6. Oktober desselben Jahres ihren Dank mit folgenden Worten an den Dichter sendet:
Christoph Koch, seit 1794 verheiratet mit Johann Christian Gottlieb Schaumann, Professor der Philosophie in Gießen, vgl. R A 4, S. 576. 49 Sophie Schaumann an Goethe, 24. April 1802. G S A 28/36/225. 5° Ebenda. 51 Ebenda.
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Lieber Göthe ich bin Ihnen mehr Schuldig als Sie glauben, Sie wißen nicht wie viel Trost Sie mir gewähren, ich werde itzt gar nicht übel geplagt, nehme ich Ihren Tasso die Elegien vor, weg ist alles was mich drückt, noch gestern ging es mir so, ich kam erbittert von meiner Mutter zurück, mit Zauberkraft verscheuchten die Elegien die schwarzen Wolken; das können Sie ! und nun soll man Sie nicht lieb haben?' 2 E y b e n b e r g s Liebe zu Goethe, das zeigen diese Zeilen, ist ein L e k t ü r e effekt. A u t o r und Werk bilden dabei eine Einheit. D a s Lesen v o n Goethes Dichtung gewährt Trost, hilft Probleme zu bewältigen und erzeugt neue Lebensfreude. Goethe - das ist hier der positive Gegenpol zu der negativ besetzten Mutter. Ist die Liebe zum A u t o r mithin die Liebe zu einem symbolischen V a t e r ? " A u c h wenn man diese Frage offenläßt, so kann man doch in jedem Falle konstatieren, daß das Schreiben an G o e t h e sich an eine ideale Instanz richtet, und damit geht es bei einer ganzen R e i h e von Leserinnen über die reine R ü c k m e l d u n g erfolgter Lektüre und die Beschreibung der Rezeptionswirkung deutlich hinaus. P r o b l e m e , Lebenskrisen, aber auch freudige Ereignisse werden dem A u t o r ausführlich mitgeteilt, und nicht selten wird er sogar zu
der
Adresse bedingungslosen Schreibens erklärt. Charlotte von Kalb, die in ihrem Leben gleich mit mehreren A u t o r e n korrespondiert - unter anderem mit G o e t h e , Schiller und J e a n Paul postuliert in einem fragmentarisch überlieferten Brief an den zweiten Weimarer Klassiker: »Einem Dichter darf man alles Sagen!« 5 4 M i t diesen 52
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Marianne von Eybenberg an Goethe, 6. Oktober 1795. GSA 28/306/II. Zu Eybenberg, geb. Meyer (17/0-1812), getaufte Berliner Jüdin, vgl. Jüdische Frauen, S. 112. Die bisher nur teilweise publizierten Briefe Eybenbergs werden im folgenden durchgehend nach den Originalen im Goethe- und SchillerArchiv zitiert; gegebenenfalls wird zusätzlich der Druckort angeführt, allerdings ohne Abweichungen des Drucks von der Handschrift im einzelnen auszuweisen. Eine textkritische, kommentierte Edition des vollständigen Briefwechsels zwischen Marianne von Eybenberg und Johann Wolfgang von Goethe bereite ich derzeit in Zusammenarbeit mit Barbara Hahn vor; sie wird zusammen mit weiteren überlieferten Korrespondenzen Eybenbergs wie den Briefwechseln und Schriften ihrer Schwester Sophie von Grotthuß voraussichtlich 2002 im Göttinger Wallstein Verlag erscheinen. Vgl. dazu Barbara Hahn, Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt am Main 1991. Hahn versteht Marianne von Eybenbergs wie auch Sophie von Grotthuß' Schreiben an Goethe im Rahmen einer spezifisch jüdischen Problemkonstellation, im Zusammenhang des versuchten Abschieds vom Judentum, als ein Schreiben an einen symbolischen Vater, der »zum Gegengewicht gegen die Mutter [wird], die ihre Töchter im Judentum halten, verheiraten und dadurch wieder zu Müttern machen will.« Ebenda, S. 6zf.
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Worten beschließt sie eine kurze, aber eindringliche Schilderung ihres prekären seelischen Zustandes. Der durch das Ausrufungszeichen und seine Stellung ganz am Ende des Briefs besonders hervorgehobene Satz »Einem Dichter darf man alles Sagen!« kann in diesem Zusammenhang einerseits verstanden werden als Erklärung und Entschuldigung beziehungsweise Rechtfertigung Kalbs dafür, daß sie Schiller ihre ganz persönliche Gefühls- und Seelenlage so direkt mitteilt. Andererseits und zugleich wird mit diesen Worten aber auch eine Art allgemeingültige Erlaubnis formuliert, eine Regel wird aufgestellt, die generelle Geltung für das Schreiben an einen Autor beansprucht. Hier, das legt dieser Satz nahe, müssen keine Grenzen gewahrt werden, alles ist erlaubt. Weshalb aber darf man einem Dichter alles sagen und vor allem: Warum können und tun viele Leserinnen dies auch? Einem Autor zu schreiben ist etwas Besonderes, und es scheint in gewisser Hinsicht auch etwas ganz besonders Einfaches zu sein. Selbst wer sonst nicht leicht schreibt, hat in einem solchem Brief offenbar keine Schwierigkeiten - außer der, manchmal kein Ende mehr finden zu können. So fragt Marianne von Eybenberg am 12. Oktober 1795 Goethe: »[...] sagen Sie mir woher es kömmt, daß wann ich an Sie schreibe, [daß] mir das aufhören so schwer wird? ich, die sonst so ungern schreibt?«55 Ob Goethe auf diese Frage reagiert hat, bleibt ungewiß; ein Antwortbrief ist nicht überliefert. Anders bei Charlotte von Kalb. Auch sie versucht, in einem Brief an Goethe herauszufinden, worin die Leichtigkeit des Schreibens an ihren Autor-Adressaten begründet liegt: ich weiss nicht woher es körnt dass ich Ihnen so leicht schreiben kann - wenn ich Sie sehe, oft - nicht immer, wenn ich ein Billet von Sie bekommen habe dann sag ich mir oft, das ist der Mensch nicht an den ich geschrieben habe dann verschwindet mir alles das - besonders wenn ich allein bin - und ich ahnde - ich glaube ein Wesen und an das schreibe ich - erklären Sie mir das! 5 ^
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Charlotte von Kalb an Friedrich Schiller, um den 10. August 1802. N A 39.1, S. 306. Vgl. auch ihre Äußerung in einem Brief an Charlotte Schiller vom 8. September 1795, die zu dem D ü r f e n noch das Können hinzufügt: »Mit Schiller kann man über Alles sprechen [...].« Charlotte von Schiller und ihre Freunde. 3 Bde. Hg. v. Ludwig Urlichs. Bd. 2, Stuttgart 1862, S. 224. Marianne von Eybenberg an Goethe, 12. Oktober 179$. G S A 2 8 / 1 1 / 3 1 1 - 3 1 2 . Charlotte von Kalb an Goethe, Ende April 1796. Briefe von Charlotte v. Kalb an Goethe. H g . v. Eduard von der Hellen. In: Goethe-Jahrbuch 1 3 (1892), S. 4 1 - 7 9 , hier: S. 60.
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Hier liegt ein Antwortbrief Goethes vor, der allerdings die erbetene Erklärung nicht enthält. Immerhin merkt Goethe aber an: »Sie irren sich nicht so ganz, wenn Sie mir schreiben.«' 7 Ein nochmaliger Blick auf Charlotte von Kalbs Zeilen macht dann deutlich, daß die von Goethe gewünschte Erklärung auch gar nicht notwendig ist, denn im Prinzip liefert Kalb diese in ihren Überlegungen schon selbst. Wie sie sagt, ahne und glaube sie an ein Wesen und an das schreibe sie dann. Es ist mithin eine Imagination Goethe, an die Kalb ihre Briefe adressiert, eine Imagination, die sich, wie ihre Ausführungen zeigen, nicht primär aus persönlichen Begegnungen mit Goethe oder aus seinen Briefen, die zumeist nur Billetts sind, speist. Es scheint vielmehr das Goethesche Werk selbst zu sein, das als Lektüreeffekt den Autor Goethe wie auch die Liebe zu diesem erzeugt. So entsteht das Bild eines idealen Gegenüber, für den die sonst beschränkenden Normen und Werte der Gesellschaft aufgehoben sind: »und bey Ihnen hören auch die Rollen auf so die Welt erteilt und eine andre Zeit beginnt!«' 8 An einen solchen Ausnahme-Adressaten ist ein freies Schreiben möglich. Auch Marianne von Eybenberg sagt es und liefert damit ebenfalls selbst die Erklärung für ihre oben angeführte Frage nach der Schreibelust und -leichtigkeit im Brief an Goethe: »Ich irre mich nicht in Sie, mit Ihnen kan ich sein wie ich eigentlich bin, ofen, und herzlich; Sie verstehen ohne miszuverstehen, wann man Ihnen einige worte der wärmsten Freundschaft zuruft! Deswegen wird mir auch wohl mit Ihnen; darum kann ich auch an Göthe
schreiben - « . ' ?
Sophie von Grotthuß schließlich faßt dieses Vertrauen, das die Grundlage dafür bildet, dem Autor alles sagen zu können, ganz direkt in das Bild ihrer Zuneigung zu Goethe. So gesehen ist die große Offenheit gegenüber dem Adressaten geradezu ein Charakteristikum der liebenden Leserin: »es liegt in der Natur den Geliebten Wesen Alles zu sagen was das Herz bewegt, und so sequirt Sie meine Liebe dopelt, durch ihre Natur und Eigenschaften [...].« 6 o
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Goethe an Charlotte von Kalb, i. Mai 1796. WA I V / 1 1, S. 60. Charlotte von Kalb an Goethe, 18. Juni 1794. Goethe-Jahrbuch 13 (1892), S.46. 5!> Marianne von Eybenberg an Goethe, 26. Dezember 1795. G S A 28/306/V. 6 ° Sophie von Grotthuß an Goethe, 2 1 . Januar 1 8 1 4 . G S A 28/61/2. Knapp zwei Monate später erschrickt Grotthuß dann doch einmal ob ihres grenzenlosen Vertrauens zu Goethe: »[...] doch w o gerathe ich hin? noch nie habe ich mich so verleiten laßen Ihnen Alles zu sagen und noch dazu in solche undeutliche 58
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I m Schreiben an den A u t o r so sein zu können, w i e man eigentlich ist - eng verbunden mit dieser Möglichkeit zeigt sich der Wunsch, v o n seinem G e g e n ü b e r so erkannt zu werden, w i e man eigentlich ist, im ganzen U m f a n g des eigenen Selbst. Es ist ein Wunsch, der sich in zahlreichen Schreiben an den Autor, dabei soziale wie auch konfessionelle G r e n z e n überschreitend, wiederfindet. T r o t z der auf den ersten Blick also heterogenen Zusammensetzung der Schreiberinnen, die diesen Wunsch äußern, zeigt sich bei genauerem Hinsehen eine übergreifende Konstante: N a h e z u alle dieser Goethe-Leserinnen sind Frauen, die auf die eine oder andere Weise das Bild idealer Weiblichkeit, im Sinne der bürgerlichen Geschlechterideologie, nicht erfüllen, die Alterität, Anderssein innerhalb ihres Geschlechts ins Spiel bringen. N i c h t nur die Jüdin Marianne v o n Eybenberg, sondern beispielsweise auch die Schriftstellerinnen Caroline Pichler 6 1 und Caroline de la Motte Fouque 6 2 oder
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Reden. Aber Ihnen ist nicht undeutlich waß in Menschlichen Herzen vorgeht [...].« Sophie von Grotthuß an Goethe, 14. März 1814. GSA 28/65/546-549. Auch bei Grotthuß ist es das Bild des idealen Goethe, das ihr das freie Schreiben ermöglicht: »[...] wann ich so Ihren Gigantischen Geist, in meiner Beschränktheit erwäge, dann wundre ich mich wie ich so vertraulich mit Ihnen sprechen kann, dann kömt aber das liebliche Bild Ihrer Güte, und lispelt die Töne des Vertrauens so schmeichlend mir zu, daß ich es mir nicht versagen kann über vieles mit Ihnen zu sprechen, [...].« Sophie von Grotthuß an Goethe, 9. Mai 1 8 1 1 . GSA 28/55/118. Zu Grotthuß, geb. Sara Meyer, verw. Wulf (1763-1828), Schriftstellerin, getaufte Berliner Jüdin, vgl. Jüdische Frauen, S. 154f. Grotthuß' Briefe werden durchgängig nach den mir freundlicherweise zur Verfügung gestellten Transkriptionen von Barbara Hahn zitiert; ein schon vorhandener Druckort wird gegebenenfalls zusätzlich genannt. Caroline Pichler an Goethe, 28. November 1 8 1 1 : »[...] und [ich] entschuldige mich auch darüber nicht, daß ich in diesem Briefe so viel von mir selbst geschrieben habe. Es ist mir wichtig von Ihnen gekannt zu seyn, [...].« Goethe und Osterreich. Briefe mit Erläuterungen. Hg. v. August Sauer. Tl. 2, Weimar 1904, S. 268. Zu Pichler, geb. von Greiner (1769-1843), Schriftstellerin, vgl. Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800-1945. Hg.v. Gisela Brinker-Gabler, Karola Ludwig u. Angela Wöffen, München 1986, S. 2}8f. Caroline de la Motte Fouque an Goethe, 24. November 1813: »Ich kann kaum der unaussprechlichen Sehnsucht wiederstehn von Ihnen gekannt zu sein. Doch Sie müssen mir erst die Erlaubniß geben weiter zu reden. Geben Sie sie mir, ich bitte Sie flehentlich darum.« Goethe und die Romantik. Briefe mit Erläuterungen. Hg. v. Carl Schüddekopf u. Oskar Walzel. Tl. 2, Weimar 1899, S. 234. Zu Fouque, geb. von Briest, gesch. von Rochow (1773-1831), Schriftstellerin, vgl. Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen, S. 92f. 57
die Malerin Leopoldine Grustner von Grusdorf 6 ' wollen von Goethe erkannt sein. Artikuliert sich hier die Suche nach einem idealen und liebenden Gegenüber, das das Selbst dieser briefeschreibenden Frauen zurückspiegeln und damit eine von anderer Seite verweigerte Identität stiften soll? Wenn ja, dann gehörte der Wunsch nach Antwort des Autors unabdingbar dazu. Auch aus dieser Perspektive wäre also verständlich, daß eine fehlende oder eine andere als die ersehnte Rückmeldung zu Irritationen bezüglich der Idealimagination Autor führen muß. Die oben zitierten Ausführungen Charlotte von Kalbs zu den Diskrepanzen zwischen dem von ihr entworfenen Ideal Goethe, an das sie voller Leichtigkeit schreibt, und dem realen Goethe, mit dem sie zusammentrifft oder der ihr in Billetts gegenübertritt, bezeichnen ganz deutlich eine solche Irritation. Die Konsequenz könnte letztlich ein Bruch in der Beziehung zwischen Leserin und Autor sein. Es scheint, als versuche Goethe nun gerade, einem solchen Bruch, einem möglichen Verlust seiner liebenden Leserin vorzubeugen, indem er Charlotte von Kalb antwortet: »Sie irren sich nicht so ganz, wenn Sie mir schreiben.« 64 Mit diesen Worten bestätigt Goethe die Richtigkeit ihrer idealen Autorvorstellung. Verfolgt er damit das Ziel, die von Kalb konstatierten Differenzen wieder aufzuheben und ein einheitliches, positives Bild seiner selbst zu festigen? Dafür spricht, daß sich in diesem Antwortbrief auch eine - für Goethes übrige Korrespondenz mit Charlotte von Kalb eher untypische - emphatische Reaktion auf ihre Zeilen findet, er sich als idealer, enthusiastischer Leser ihres Schreibens zeichnet: »Lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ich ihn [Kalbs Brief] zu kurz fand und daß ich immer so fort gelesen hätte und nun immer wieder von vorn anfange.« 6 ' Für die Stabilität der Beziehung zwischen Leserin und Autor scheint es von Leserinnenseite aus, sobald die Position reiner Resonanz verlassen wird, häufig also unabdingbar zu sein, daß der Autor nicht nur als 63
Leopoldine Grustner von Grusdorf an Goethe, Februar 1827: »Ich möchte ja so ganz von Ihnen erkannt seyn. Mein ganzes H e r z möchte ich offen vor Sie hinlegen, und glaube vertrauend daß Sie mir darum Ihren Antheil nicht entziehen werden der mir nun schon so innig, so eigenthümlich angehört, daß ich mit ihm Alles verlieren müßte.« Goethe und Osterreich. Briefe mit Erläuterungen. H g . v. August Sauer. Tl. 1, Weimar 1902, S. 252. Z u Grustner von Grusdorf (ca. 1810-?), Malerin, vgl. ebenda, S. C X - C X V I I I .
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Goethe an Charlotte von Kalb, 1. Mai 1796. WA I V / 1 1 , S. 60. Ebenda.
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Autor auftritt, daß er nicht nur Werke für ein anonymes Publikum, sondern auch Briefe mit eindeutiger Adresse verfaßt. Charlotte von Kalb sagt es in einem Schreiben an den befreundeten Professor der Ästhetik und Doktor der Philosophie Johannes E. Erichson sehr deutlich, wenn sie Jean Paul wie folgt kritisiert: »Da mir J . P. nicht geantwortet, schreib ich ihm nicht wieder. Er ist Autor. Mit diesem Geschäft gl er alles für d. Menschht gethan zu haben und ferner interessirt und bedrükt ihn auch nichts.« 66 Die anfangs von Kalb in einem Brief an Jean Paul noch zustimmend durchkonjugierte Aufgabenteilung - »Sie sind - schreiben; ich bin - lese! Wir werden sein!« 6 ? - ist hier einer nachhaltigen Enttäuschung über die Fixierung der Positionen gewichen. 68 Die Enttäuschung über einen Autor-Adressaten, der nur Autor ist, muß aber nicht zwingend zum Abbruch der Korrespondenz führen, sie kann sich auch in einer Reflexion über die Einseitigkeit dieser Beziehung äußern und dabei durch Rationalisierung überwunden werden. So schreibt Esther Bernard Jean Paul einen Lehrsatz über die Liebe zum Autor, der die Nichterwiderung der Gefühle zu einer Art Naturgesetz erklärt: »Wer einen Schriftsteller liebt, liebt immer ohne Gegenliebe (ein hebräisches Sprichwort sagt: ein allgemeines Mißgeschick, ist ein Trost für eigenes) und wenn Jean Paul alle Weiber lieben wollte, die Ihn lieben - dann möchte ich nicht einmahl von ihm geliebt seyn.« 6 ? Daß die hier konstatierte Einseitigkeit generell für das Verhältnis zwischen Autor und Leserin zutrifft, ist zu bezweifeln, aber zumindest scheint von Dichterseite eher eine Liebe im Plural - im Falle Jean Pauls die sogenannte Simultanliebe - vorhanden zu sein als eine exklusiv auf eine einzige Rezipientin beschränkte Zuneigung. Für eine Leserin ist es also allemal leichter zu lieben, wenn sie den Autor lieben 66
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Charlotte von Kalb an Johannes E. Erichson, im Oktober ohne Jahresangabe. G S A 83/771. Charlotte von Kalb an Jean Paul, 26. M ä r z 1796. Briefe von Charlotte von Kalb an Jean Paul und dessen Gattin. H g . v. Paul Nerrlich, Berlin 1882, S. 3. F ü r die Reduzierung auf eine Spiegelfunktion zur Stabilisierung des GrößenIch des Autors ist Charlotte von Kalb sich allerdings auch schon zu Beginn der Beziehung zu schade gewesen. Vgl. ihren Brief an Jean Paul vom 17. Juni 1796, in dem es heißt: »[...] wie in einem Spiegelzimmer stehst D u da und w i r f s t über alle Deine Gestalt, blickst aus ihr mit Deinem Geist, Gemüth; aber wir, wir sind keine Spiegel, so glatt und kalt, nein, nein, nein!« Ebenda, S. 10. Esther Bernard an Jean Paul, 1. Juni 1800. Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 25 (1990), S. 26.
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kann, ohne Gegenliebe zu verlangen. Oder, um es mit einem SpinozaSatz zu sagen, der für den Dichter-Gott Goethe - und ein Gott ist er tatsächlich für viele Leserinnen - erklärtermaßen zu den Lieblingssätzen zählt: »Wer Gott liebt, kann nicht danach streben, daß Gott ihn wieder liebe.« 70 Halten wir also fest: Die Figur der liebenden Leserin findet sich in mehr oder weniger emphatischer Ausprägung in zahlreichen Briefen an den Autor. Dabei kann erstens die Verehrung, Zuneigung und Liebe direkt artikuliert und zweitens die fehlende Erwiderung des Gefühls durch den Autor ausdrücklich reflektiert werden. Drittens ist nun auch noch ein spielerischer Umgang mit dieser Thematik zu berücksichtigen, bei dem das Bild von liebender Leserin und Gott-Autor in seiner eindeutig hierarchischen Struktur aufgebrochen wird. Caroline Bardua leitet einen Brief an Goethe, in dem sich eine ausführliche >WahlverwandtschaftenAlexis und Dora< zuschickt: »Sie haben mir einen Großen Genus durch diese Sendung gegeben, aber ich darf sagen, daß durch der Art wie ichs Empfinde, ich seiner nicht ganz unwerth mich fühle - « 7 ? Eybenberg, die die Einzigartigkeit ihres Gefühls für G o e t h e wiederholt betont, unterstreicht diese Selbstpositionierung weiter, indem sie sich nicht nur von einer anonymen Masse, sondern auch von genau benennbaren Personen abhebt. U n d hier ist es dann nicht mehr allein das Gefühl, sondern auch der Verstand, durch den sie sich in einer Vorrangstellung gegenüber anderen Lesern wähnt. So schreibt sie über Prince de Lignes Versuch, >Alexis und Dora< zu übersetzen und zu verstehen: » [ . . . ] über manche stellen wollte er erklährung haben, w o er den Sinn nicht faßen konnte, einen ganz falschen untergeschoben hatte, es gelang mir ihm die rechte bedeutung zu geben, [,..].« 8 ° Eybenberg tritt aber nicht nur in A b g r e n z u n g von anderen Lesern auf, denen sie durch ihre Sinnauslegung eines Goethe-Textes die in ihren Augen adäquate Rezeption erst ermöglicht, 8 ' sondern sie beschreibt sich in ihrer Beförderung des Goetheschen Werks z u m Teil auch in enger A u t o r , Werk u n d L e b e n enthaltenden Zeilen: »glauben Sie mir w a n n ich's Ihnen schon nicht deutlich sagen kann es giebt w e n i g M e n s c h e n die Sie s o fühlen, so verstehen als ich, weil ich Sie ganz kenne, Ihre Worte sind mir w i e Handlungen und Ihre Individualität belebt die Buchstaben die mir ordentlich M i m i s c h w e r d e n , [...].« Sophie v o n G r o t t h u ß an G o e t h e , 14. M ä r z 1 8 1 4 . G S A 28/65/546-549. 78 79 80 81
Sophie von G r o t t h u ß an G o e t h e , 20. M ä r z 1797. G S A 2 8 / 1 6 / 1 7 6 - 1 7 7 . Marianne v o n E y b e n b e r g an G o e t h e , 5. September 1796. G S A 28/306/X. Ebenda. D r u c k : G o e t h e - J a h r b u c h 1 4 (1893), S. 3 1 . D e m w i d e r s p r i c h t nicht, daß E y b e n b e r g an anderer Stelle eine adäquate R e z e p t i o n erst mit G o e t h e s H i l f e zu erreichen sucht. Beides, die ideale Leserin aus sich selbst heraus und die Leserin, die mit H i l f e des A u t o r s eine ideale L e k t ü r e zu erreichen sucht, erscheinen als zwei Seiten der einen liebenden Leserin, die u m G o e t h e s Z u n e i g u n g wirbt.
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Gemeinschaft mit weiteren Lesern. 82 Häufig wird dabei der Grad der Übereinstimmung in der Liebe zu wie auch des Verständnisses von Autor und Werk als eine wichtige Grundlage für die Konstituierung und Stabilisierung von Beziehungen präsentiert. Wie einer von Goethe denkt, wie er für ihn fühlt, wie er seine Dichtung liest, entscheidet darüber, was die Leserin für ihn empfindet. Im Brief an den Dichter bleibt somit die Liebe zu ihm, die Liebe als Lektüreeffekt, vielfach als übergeordnetes Moment erhalten, selbst wenn von anderen Beziehungen die Rede ist. In der Artikulation der Zuneigung zu Goethe kommt bei einigen Leserinnen dann auch dem Werk selbst ganz konkret eine Mitteilungsfunktion zu, insofern in ihm die Sprache für die eigenen Gefühle gefunden wird. Lektüren werden dabei übersetzt in Beziehungsreflexionen. Marianne von Eybenberg etwa schreibt Goethe am 10. Dezember 1800 folgende Zeilen: meine Empfindung f ü r Sie ist keinem Wechßel unterworfen - >es ist nicht Schatten den der Wahn erzeugte, sie ist E w i g den sie istTorquato Tasso< leicht verändert zitiert,84 um ihre Empfindungen für den Autor in Worte zu fassen, wird das Werk selbst zum Medium für die Liebe zu seinem Verfasser. Bei Kenntnis des Quellentextes >Torquato TassoEgmont< ihn und sein Verhalten ihr gegenüber wie folgt kritisiert: »Wer sind Sie denn - Sie! Sie sind vieles aber Sie sind auch noch der Egmont und Alba in einer Person - und gegen mir meist nur der Alba! - Das Tödtet aber oft, gewiss mehr als das Schwerth.« 8 ' Der Autor als Entsprechung seiner literarischen Figuren, der Dichter und seine Dichtungen als eine feste Einheit, die Liebe zu Goethe als Effekt der Lektüre seines Werks - das Spektrum der möglichen Beziehungen, in denen die Leserinnen Autor, Werk und Protagonist sehen, läßt sich noch erweitern. Im folgenden soll eine solche Erweiterung in Verbindung mit einer Rekapitulation des bisher Gesagten anhand der Betrachtung einer einzelnen Leserin vorgenommen werden. Es wird gezeigt, wie sich verschiedene Beziehungsmuster abwechseln beziehungsweise miteinander konkurrieren können. Eine Leserin, die in ihrem Verhältnis zum Dichter eine Reihe verschiedener Verbindungen zwischen Autor, Werk und Protagonist herstellt und diese auch reflektiert, 85
Charlotte von Kalb an Goethe, 26. April 1796. Goethe-Jahrbuch 13 (1892), S. 5 6.
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ist Esther Bernard. Indem sich nun auf sie das Augenmerk richtet, wird zugleich ein zweiter Autor neben Goethe gestellt, denn Esther Bernards Dichter-Liebe geht an die Adresse Jean Pauls. Gleich im ersten Brief dieser Korrespondenz, datiert auf den 29. Juli 1797, denkt Esther Bernard anhand ihrer >HesperusHesperus< nun der Gedanke an seinen Verfasser hinzu. Zunächst bleibt dabei noch das Werk die primäre und abgegrenzte Instanz, an der die Person des Schriftstellers selbst zu messen ist, aber schon bald wird in dem Werk zugleich der Verfasser gesehen. N o c h einmal über den >HesperusDes Vetters Eckfenster< (1822) berichtet der Schriftsteller-Vetter dem Ich-Erzähler, wie er eine junge Blumenverkäuferin eines seiner Bücher lesen sieht und ihr daraufhin stolz verkündet, daß er der Autor sei. Die Reaktion des Mädchens ist nicht die gewünschte, die dem Dichter seine Größe zurückspiegeln würde, sondern vielmehr eine, die durch Unwissenheit die Existenz des Autors eher in Frage stellt: »Es fand sich, daß das Mädchen niemals daran gedacht, daß die Bücher, welche sie lese, vorher gedichtet werden müssen. D e r Begriff eines Schriftstellers, eines Dichters war ihr gänzlich fremd [...].« Der Ich-Erzähler kommentiert dieses Erlebnis als »gestrafte Autoreitelkeit«. Wo ein A u t o r nicht gewußt wird, kann ihn auch keine Liebe einer Leserin erreichen. H o f f m a n n , Des Vetters Eckfenster. In: Ders., Poetische Werke. H g . v. Klaus K a n z o g . Bd. 1 2 , Berlin 1962, S. 169-200, hier: S. 183.
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Monate später: »Da lebt und webt Ihre eigentliche Individualität doch am hervorstechensten.« 88 Jean Pauls Texte werden nun gelesen mit Blick auf die Person, die dahinter steht, und als Effekt dieser Lektüre, vergrößert sich die Liebe zum Autor: »Mein Enthusiasmus für Sie, wächst Täglich, weil ich jezt alle Ihre Schriften lese [...].« 8 > Es ist eine gängige Leseweise, wie sie sich in zahlreichen - auch an Goethe gerichteten - Briefen findet, eine Identität zwischen Werk und Autor anzunehmen, von ersterem auf letzteren zu schließen. Allerdings ist die Verknüpfung dieser beiden Instanzen labiler Natur. Sichtbar wird das in dem Moment, wo Leserin und Autor einander kennenlernen - sei es durch einen Briefwechsel oder eine persönliche Begegnung. Entspricht der Schriftsteller als Mensch hier nicht den durch seine Dichtung erweckten Hoffnungen, so kann die Einheit von Autor und Werk sehr schnell auseinanderbrechen. Die Leserin wird vermuten, daß ihre Gleichsetzung von Autor und Werk ein Fehlschluß gewesen ist und die Idealimagination Autor nichts gemeinsam mit der realen Person des Autors hat. Esther Bernard zieht diese Möglichkeit in Erwägung, als Jean Paul auf ihre Briefe nicht antwortet: »Sollte nur in Ihren Schriften, Ihr Herze Ihres seltenen Kopfes würdig s c h e i η e η ?« ? ° Ist also Bernards erste Leseweise vielleicht doch die angemessenere gewesen, ist es richtiger beim >Hesperus< nicht an seinen Verfasser zu denken? Sind Autor und Werk nicht wirklich als Einheit aufzufassen? Ist nur das Werk, nicht aber der Autor der Verehrung wert? Auf einen Brief, der solche Fragen impliziert, muß Jean Paul antworten - wie schon Goethe auf Charlotte von Kalbs Schreiben prompt reagierte wenn er nicht eine liebende Leserin verlieren will, die nicht nur in seiner Dichtung, sondern zudem in ihm selbst ein Ideal sieht. Jean Paul sendet denn auch sogleich einen Brief, in dem er Bernards Kritik zurückweist; das geschieht zwar leicht gereizt, aber nicht ohne den gleichzeitigen Versuch, wieder einen versöhnlichen Ton einzuschlagen. Was darauf folgt, ist - zumindest nach den überlieferten Briefen zu urteilen - ein knapp zweieinhalbjähriges Schweigen zwischen Autor
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Esther Bernard an Jean Paul, 28. Oktober 1797. Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft 15 (1990), S. 23. Esther Bernard an Jean Paul, 2. Dezember 1797. Ebenda, S. 25. Ebenda. Jean Paul an Esther Bernard, 8. Dezember 1797. Ebenda, S. 26.
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u n d Leserin. A l s Esther Bernard dann im S o m m e r 1800 die K o r r e spondenz wieder aufnimmt, zieht sie eine neue Verbindung zwischen Dichter und Werk; sie vergleicht Jean Paul mit dem Protagonisten seines >HesperusHesperusDie Rosenmädchen< zusendet, ist sie sich sicher, daß sie ein wahres Urteil erlangen wird: »Gewisheit über mich selbst, ist das Einzige was ich in dieser Sache wünsche. Diese zu erlangen, wird dem Weibe sehr schwer gemacht. Fast immer mischen sich entweder Galanterie oder Animositaet in das Urtheil der gewöhnlichen Menschen. N u n aber kann ich ruhig seyn. Ich werde Wahrheit finden!« Henriette Frölich an Goethe, 10. Juni 1805. G S A 28/47/99f. Z u Frölich ( 1 7 6 8 - 1 8 3 3 ) , vgl. L e x i k o n deutschsprachiger Schriftstellerinnen, S. 98f.
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° Vgl. Goethes Brief an Charlotte von K a l b v o m i . J u n i 1 8 1 7 . WA IV/28, S. 1 1 3 . Goethes Antwort muß nicht unbedingt eine Ausrede sein. Wer die Schrift der erblindenden Charlotte von Kalb schon einmal zu entziffern versucht hat, weiß, vor welche A u f g a b e sie den Dichter stellte. 101 Sophie von Grotthuß' unbeantwortete Bitte, sie Cotta zu empfehlen, findet sich in ihrem Schreiben an Goethe vom 14. August 1824. G S A 28/375/XV. 102 Es ist freilich zum einen darauf hinzuweisen, daß Goethe auch männlichen Debütanten gegenüber nicht unbedingt entgegenkommender ist, und zum anderen anzumerken, daß seine Einstellung zur weiblichen Schriftstellerei, insgesamt betrachtet, facettenreicher ist, auch L o b , ausdrückliche E r m u n terung zum Weiterschreiben und Hilfe bei der Veröffentlichung umfaßt. Allerdings, und das ist entscheidend, wird dabei die gemeinsam mit Schiller entwickelte Überzeugung v o m »Dilettantism der Weiber« nie aufgegeben.
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Tatsache, daß eine ganze Reihe gerade auch der enthusiastischsten Goethe-Leserinnen sich nicht fixieren läßt auf die Position der bloßen Verehrung, Vergötterung und Widerspiegelung des Autors. Wenngleich diese schreibenden und publizierenden Frauen nicht unbedingt Autorschaft im emphatischen Sinne anstreben beziehungsweise der herrschende Diskurs ihnen diese von vornherein verweigert, so läßt sich doch nicht übersehen, daß sie in ihrem Tun die Funktion reiner Rezeption und Konsumtion deutlich überschreiten.
2. Auch Leser lieben a. Carl Friedrich Zelter: N u r eine Ausnahme? »Lebe wohl mein Holdester, Guter, Bester, Einziger! fühltest Du den Schmerz womit ich Dich liebe Du müßtest daran verbrennen.« 1 0 3 So schreibt Carl Friedrich Zelter an Goethe. So schreibt ein Verehrender und Liebender an seinen »göttliche[n] Freund« ( G Z n o , 156, 214, 225), an sein »süßgeliebtes freundliches Herz« ( G Z 3 5 1 ) , an seinen »Allerschönste[n]« ( G Z 380), »Allersüßeste[n]« ( G Z 562) und »Geliebteste[n]« ( G Z 673). So schreibt auch ein Leser an einen Autor. Bei einer solchen Fülle von Emotionen, von immer wieder artikulierter Liebe und Hingabe, von reinem Gefühlsüberschwang drängt sich der Gedanke an andere Briefe an den Dichter auf - die Briefe einer Leserin. Bettina Brentano an Goethe: »[...] leb wohl Du guter großer herrlicher Freund, ich steh auf einem Felß in meiner Liebe, auf den ich mit Lebensgefahr gekommen bin, ans herunter klettern ist gar nicht zu Denken, da bräche ich auf allen Fall den Hals«. 1 0 4 Bei Zelter wie bei Bettina also
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Vgl. hierzu Christa Bürger, Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen, Stuttgart 1990, S. 1 9 - 3 1 . Carl Friedrich Zelter an Goethe, 9. Mai 1 8 1 6 . Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1 8 3 2 . H g . v. H a n s - G ü n t e r Ottenberg u. Edith Zehm, München/Wien 1991 (= M A 20.1: Text 1 7 9 9 - 1 8 2 7 ) , S. 426. Zitate aus dieser Ausgabe werden innerhalb dieses Kapitels direkt im Fließtext mit der Sigle G Z nachgewiesen. Die Briefe nach 1827 werden unter derselben Sigle nach dem fortlaufend paginierten zweiten Band dieser Edition zitiert: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. H g . v . Edith Zehm u. Sabine Schäfer, München/Wien 1998 (= Μ A 20.2: Text 1828-1832). Bettina Brentano an Goethe, 2 1 . Dezember 1807 (Originalbrief). Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde (1992), S. 584.
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die große Verehrung des Autors und immer wieder geschriebene Liebe für Goethe, verbunden mit Schmerz oder Gefahr. Und eine Gesamtschau beider Korrespondenzen zeigt: Zelters Liebe steht der Bettinas an Emotionalität und Expressivität in nichts nach, übertrifft sie manchmal sogar noch. Nun mag es vielleicht abwegig erscheinen, Bettina Brentanos und Carl Friedrich Zelters Briefwechsel mit Goethe so in Beziehung zueinander zu setzen, denn auf der einen Seite steht eine junge Frau, auf der anderen ein Mann in mittleren Jahren. Hier findet sich eine Korrespondenz, an der Goethe mit nur relativ wenigen Briefen beteiligt ist, dort ein wirklicher BriefWechsel, zu dem der Autor immerhin etwa ein Drittel des Textes beisteuert. Hier zeigt sich eine ambivalente und schließlich eher einseitige Beziehung, dort die Altersfreundschaft des Dichters. Zwei völlig disparate Textkorpora also. Und dennoch: Was die Verehrung und Vergötterung Goethes anbetrifft, ergeben sich von Anfang an deutliche Parallelen in beiden Briefwechseln. Ebenso weist die Liebe zum Werk bei Bettina und Zelter eine gleichermaßen enge Verknüpfung mit den Gefühlen für den Autor auf; bei Zelter wird sie freilich noch weitaus häufiger artikuliert, was nicht nur in dem deutlich größeren Umfang dieser Korrespondenz, sondern auch in der relativ gesehen häufigeren Erwähnung Goethescher Werke begründet liegt. Und schließlich überführt auch Zelter in gewisser Weise seine briefliche Liebe zu Goethe in ein Werk; ganz anders allerdings als bei Bettina geschieht das auf Initiative des Autors Goethe selbst. Die Publikation des Goethe-Zelter-Briefwechsels ist ein Unternehmen, das von den Korrespondenten seit Mitte der 1820er Jahre gemeinsam projektiert wird, und wie geplant erscheint dieses Werk, herausgegeben von Friedrich Wilhelm Riemer, dann auch erst posthum 1833/34 ~~ nach Goethes und Zelters Tod im März und Mai 1832. Der Briefwechsel mit Zelter ist neben dem mit Schiller der einzige, dem Goethe durch die Vorbereitung zur Publikation eine herausragende Stellung, einen Eigenwert und Werkcharakter innerhalb seiner zahlreichen Korrespondenzen zuerkennt. 10 '
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Trotzdem ist es eine von der Forschung lange vernachlässigte Korrespondenz, was sich nicht zuletzt darin zeigt, daß eine kommentierte Ausgabe erst seit 1998 mit Erscheinen des dritten Bandes der Edition in der Münchner Ausgabe vorliegt.
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In diesem Briefwechsel ist auf Seiten Zelters die Liebe zu G o e t h e zusammen mit der Rückadressierung seiner Lektüren freilich nur ein, wenngleich ein sehr wesentlicher Teil des Schreibens. Zelter spricht auch v o n etlichen anderen Themen, v o n der M u s i k , v o m Berliner Theaterleben, erzählt von seinen Reisen, seiner Familie, reflektiert über Leben und Tod und vieles mehr. 1 0 6 Diese verschiedenen Gesprächs- und Diskussionsstränge der K o r r e s p o n d e n z können und sollen hier als solche jedoch nicht interessieren. D e r Betrachtungsschwerpunkt w i r d vielmehr auf Zelters Beziehung zu G o e t h e gelegt, insofern sie sich als eine Beziehung zwischen A u t o r und Leser artikuliert. E b e n s o w i e bei Bettina Brentano ist also auch bei C a r l Friedrich Zelter zu fragen, ob sich seine Lektüren in reiner K o n s u m t i o n erschöpfen. Welche R o l l e spielen Goethes Texte in Zelters Liebe zum A u t o r ? Wie äußert sich diese Liebe? U n d welche Positionen nehmen A u t o r und Leser dabei in der Komplementarität von Schreiben und Lesen ein? Zelters Liebe z u m A u t o r ist - wie die Liebe der Leserinnen - ein Lektüreeffekt. Zelter sagt es selbst ganz ausdrücklich; am 17. Mai 1807 schreibt er angelegentlich seiner Relektüre v o n Goethes
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Fragment >Elpenor< und in direkter R e a k t i o n auf des A u t o r s Vermutung, daß die N e i g u n g f ü r seine Person den Leser f ü r die Rezeption so wohlwollend gestimmt habe: 1 0 7 In der Zeit habe ich den Elpenor noch einmal gelesen. Ich habe mir ihn von Anfang an zu Ihren frühern Werken gedacht. Wie sollte ich wohl meine Neigung zu Ihnen und Ihrem Wesen, mir verhehlen wollen, die eben aus Ihren Werken jener Zeit entstanden ist und sich in dem Maße erhoben und erweitert hat wie meine Einsicht zugenommen und Welt gewonnen hat. (GZ 153)
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Als Überblick über die verschiedenen Themenbereiche, die in die GoetheZelter-Korrespondenz hineinspielen, vgl. Peter Boerner, Musikalisches, märkische Rübchen und sehr ernste Betrachtungen über das Leben. Goethe korrespondiert mit Carl Friedrich Zelter. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1989, S. 127-146. >Elpenor< ist in der von Riemer eingerichteten Versfassung in der CottaAusgabe der Werke von 1806 erschienen. Deren erste Lieferung hat Goethe Zelter mit Schreiben vom 27. März 1807 übersandt. Zelters erste begeisterte Lektüre des Fragments - »Sie haben an diesem Torso ein unsterbliches Werk geboren« - findet sich dann in einem Brief vom 30. April 1807 (GZ 149). Goethe antwortet darauf am 7. Mai 1807: »Doch ist vielleicht bei dem Beifall, den Sie meinem Fragmente schenken, Ihre Neigung zu mir und meinem Wesen als mitwirkend anzusehen [...].« (GZ i j i f . ) . 73
Zelter bestätigt also nochmals seine schon längst bekannte Neigung zum Autor und sagt dabei zugleich, daß die ursprüngliche Wirkungsrichtung eine andere war als die von Goethe genannte: Nicht die Zuneigung zum Autor erzeugte die Liebe zum Werk, sondern die Zuneigung zum Werk ließ die Liebe zum Autor wachsen. Als Zelter dann Werk und Autor kennt, ergibt sich freilich eine Wechselwirkung zwischen den Emotionen für beide Instanzen, bei der ein Ursprung nicht mehr eindeutig zu benennen ist, bei der aber klar bleibt, daß mit der Dichtung immer auch deren Schöpfer geliebt wird. Eine Frage wie die folgende, zum >Götz< gestellte kann mithin für Zelter nur eine rhetorische Frage sein: »Wer liebt nicht Sie in Ihrem Götz, der Sie nicht ewig lieben würde?« (GZ 78). Beide - Autor und Werk - spielen in Zelters Leben und Schreiben eine zentrale Rolle, und so hat Karl Robert Mandelkow Zelter denn auch als Goethes »ehrlichsten und unermüdlichsten Leser« 108 charakterisiert. Obgleich mit der Formulierung im Superlativ den GoetheLektüren anderer Leser - und auch Leserinnen - vielleicht ein wenig vorschnell ein ebenso hoher Grad an Intensität und Ausdauer abgesprochen wird, wäre Mandelkows Aussage im Positiv doch vorbehaltlos zuzustimmen. Die Unermüdlichkeit von Zelters Lesen wird zum einen deutlich in seiner durchgehenden Neugier auf weitere Werke, und sie zeigt sich zum anderen in seiner oftmals praktizierten Wiederholungslektüre. So werden beispielsweise >Wilhelm Meisters LehrjahreDie Wahlverwandtschaftens 110 >Dichtung und Wahrheit^ 11 und etliche weitere
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H A B 2 (Goethes Briefe), S. 6 3 1 . > Wilhelm Meisters Lehrjahre< hat Zelter schon bei seinem Erscheinen, also vor Beginn des Briefwechsels mit Goethe erstmals gelesen (vgl. seine ausführliche Schilderung dieser Lektüre in einem Brief v o m 2 1 . M a i 1829 ( G Z 1 2 3 3 - 1 2 3 6 ) ) . In der Korrespondenz werden dann neben wiederholter Bezugnahme auf diesen R o m a n mehrmals auch ausdrücklich Relektüren angeführt, beispielsweise am 1 1 . März 1806 ( G Z 12of.) und am 20. Februar 1808 ( G Z 172). Seine Erstlektüre der >Wahlverwandtschaften< teilt Zelter Goethe mit Brief vom 17. Oktober 1809 ( G Z 2 1 9 ) mit. Von einem erneuten Lesen des Romans berichtet er schon wenige Monate später in einem Schreiben vom 24.-30. April 1 8 1 0 ( G Z 235), und nur ein Jahr später - am 8. April 1 8 1 1 ( G Z 258) erwähnt Zelter eine nochmalige Relektüre. Beispielsweise spricht Zelter am 9. April 1 8 1 2 (GZ 272) schon von mehrmaliger Lektüre des ersten Teils von >Dichtung und Wahrheitweiblich< codiert ist. Läßt sich hier also ein Verhältnis aufzeigen, das nach heterosexuellem Muster funktioniert? Taucht hier die Konstellation v o n G o t t - A u t o r und liebender Leserin in nur leicht veränderter Besetzung wieder auf? U n d besetzt damit dieser Leser letztlich eine >weibliche< Position, verhält sich nach den Regeln des polaren Geschlechtermodells vielleicht sogar >weibisch