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German Pages 291 [292] Year 1991
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 59
Helmut Pfotenhauer
Um 1800 Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991
Für die Unterstützung bei der Drucklegung danke ich dem Universitätsbund Würzburg
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Pfotenhauer, Helmut: Um 1800 : Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik / Helmut Pfotenhauer. - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 59) NE:GT ISBN 3-484-32059-1
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschlitzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck und Einband: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten
Inhalt
Einleitung
i
Sich selber schreiben. Lichtenbergs fragmentarisches Ich Pygmalion. Heinses Hermeneutik lebendiger Bilder
. .
5
. . . .
27
Dionysos. Heinse - Hölderlin - Nietzsche
57
Gemeißelte Sinnlichkeit. Herders Anthropologie des Plastischen und die Spannungen darin
79
Farbe. Goethes sizilianische Ästhetik
103
Der schöne Tod. Über einige Schatten in Goethes Italienbild
113
Evidenzverheißungen. Klassizismus und »Weimarer Klassik« im europäischen Vergleich
137
Würdige Anmut. Schillers ästhetische Verlegenheiten und philosophische Emphasen im Kontext bildender Kunst . . .
157
Genealogie der Identität. Schillers späte dramatische Fragmente
179
Anthropologische Ästhetik und Kritik der ästhetischen Urteilskraft oder Herder, Schiller, die antike Plastik und Seitenblicke auf Kant
201
Antiklassizismus und Bedenken vor dem Ich. Jean Pauls Autobiographik
221
Abbildungen
259
Quellennachweis der Abbildungen
283
Drucknachweise
285
V
Einleitung
Zwei Gegenstandsbereiche werden in diesem Buch untersucht und aufeinander bezogen. Die separaten und doch thematisch zusammengehörigen Studien widmen sich %um einen dem literarischen Umgang mit unserer Menschennatur. Der im Zeitalter der Metaphysik- und Mythen-Kritik und des kulturellen und langsam auch ökonomischen und sozialen Individualismus auf sich gestellte Einzelne erfährt Leib und Seele leicht als gottverlassen und muß dessen Fragilität und deren Flüchtigkeit in schönen Bildern zu neuer Gestalt zusammenbringen. Was Leib und Seele zusammenhalte, ist die Frage der Anthropologie, dieser halb philosophischen, halb empirischen Königswissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts. In dieser Zeit, in der Anthropologie noch nicht, wie dann im neunzehnten Jahrhundert, eine Filiale der Naturwissenschaft ist und sich noch nicht ausschließlich oder vornehmlich mit der Naturgeschichte der Gattung Mensch befaßt, sondern mehr mit seinen seit Descartes getrennten zwei Hauptsubstanzen und deren Commercium, hat sie eine große Affinität zur Literatur. Denn der Roman und insbesondere die Autobiographie - das habe ich in meinem letzten Buch zeigen wollen1 — lassen sich verstehen als Modelle für den Zusammenhalt im Dasein, für die Entwicklung von Prägnanz und Gestalt in der Kontingenz des alltäglichen Lebens und seiner natürlichen Hinfälligkeit. Und das Drama etwa oder der Aphorismus, das will ich hier betrachten, eignen sich als Versuchsfelder der Experimentalseelenlehre, wo man Leidenschaften aufeinanderprallen läßt, um den Menschen in seinen Extremlagen zu erfassen, wo man mit Identität und Selbstentäußerung spielt, um das erhabene Beisichsein wie das Sichverlieren in den Abgründen niederer Natur durchzudeklinieren, wo man Gedankensplitter zur Mikroskopie humaner Verfaßtheit nutzt.
»Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte — am Leitfaden des Leibes«, Stuttgart 1987. Ich greife dies hier in den Kapiteln über Goethes Ästhetisierung des Todes und über Jean Paul noch einmal auf.
Immer geht es dabei auch, verdeckt oder offen, um Anschaulichkeit. Denn die Suche nach den Umrissen, in der die jederzeit vom Diffundieren bedrohte Gestalt Festigkeit gewinnt, führt zu Vorbildern. Es sind die Vorbilder insbesondere der gottnahen, verherrlichten Menschennatur in der griechischen Plastik, welche Evidenzen und Beglaubigungen vermitteln in dieser prekären Aufgabe der Selbstumgrenzung bei ständig drohender Strafe der Formlosigkeit und Nicht-Identität. Deshalb geraten ^um anderen? und dies ist der zweite Hauptgegenstand vorliegender Untersuchungen, die Neubelebung der Antike und die Kunst und Literatur mit dem Anspruch eigener Klassizität zu attraktiven Paradigmen der Zeit. Kunstliteratur, Literatur über die Kunst der Alten, wirkt dabei kodifizierend. Aber sie und die schöne Literatur, die sich an ihr orientiert, ist keineswegs nur verherrlichend, sondern selbst mit der Formlosigkeit, mit dem Sterblichen am Unsterblichen, mit den Ängsten und Leiden der Sinnennatur im Erhabenen befaßt. Die klassische und klassizistische Kunstliteratur ist daher der scheinbar ganz disparaten Anthropologie, welche eben dies auf dem Herzen hat, gar nicht so fern. Und das Dionysische ist umgekehrt dem Apollinischen näher als immer verkündet; es ist ihm oft insgeheim eingeschrieben. Sinnlichkeit und Farbe gehören, wenn auch heftig bestritten, zum weißen Marmor als sein Komplement hinzu. Die Ästhetik der Zeit, sofern sie Anthropologie der Sinne ist und zugleich Philosophie der Steigerung zu schöner Humanität, hat diese Dialektik auszutragen. Das Buch beginnt mit Beiträgen zu Lichtenberg und Heinse, den Antiklassizisten aus Abscheu vor dem großen Ganzen und aus Sinnenlust, und endet mit dem späteren Jean Paul, der sich mit Weimar überwarf und die dortigen Kunstfreunde als Liebhaber leerer Formverspieltheiten verspottete. Beide, Lichtenberg und Jean Paul, übrigens gewinnen ihre Skepsis gegenüber den schönen integren Vorbildern aus der Ernüchterung im anthropologisch-autobiographischen Umgang mit dem Ich und dessen Desintegrationstendenzen. In diesen Rahmen sind Bilder oder eher Skizzen gespannt von Herder, dem Schüler Winckelmanns und Außenseiter Weimars, dem Anthropologen und, als historischer Neuerer, dem den Alten und ihrer Plastik verpflichteten Ästhetiker; von Goethe - als dem Autor der mehr verneinten denn vereinten Zwienatur von Schönheit und Tod, als Verehrer des Marmors und Entdecker der Farbe in Italien; von Schiller — in der für ihn schwierigen und doch ergiebigen Rolle als Beurteiler und Philosoph bildender Kunst, als klassizistischer Dramaturg und als ganz und gar unklassizistischer anthropologischer Experimentator des Dramas — komplementäre Konstellationen
auch hier. Ein Beitrag schließlich befaßt sich mit jenem Gegengott des klassizistischen Apoll, mit Dionysos und seinen sich wandelnden Gestalten bei Heinse, Hölderlin, Nietzsche; ein anderer widmet sich der Frage nach dem Sonderstatus des deutschen Klassizismus und der deutschen Klassik um 1800 im europäischen Vergleich.2 - Dem Werk Winckelmanns ist kein eigener Aufsatzt gewidmet. Es stellt jedoch gleichsam den roten Faden dar, welcher sich, mehr oder minder sichtbar, durch das ganze Buch zieht. »Konfigurationen« sind im Untertitel dieses Buches angesprochen. Sie ergeben sich aus dem konstitutiv Unabgeschlossenen, über sich Hinausweisenden, ihre Ergänzung oder gar ihr Gegenteil Fordernden, aus dem Spannungen, Polaritäten Erzeugenden der hier interessierenden Texte: Die Epiphanien der Erhebung über unsere bloße Natur sind transitorisch und erinnern an das, was ästhetisch überboten werden sollte; und die Sinnlichkeiten verlangen das Übersinnliche, die Empirie des Lebens seine Himmelfahrten. Dabei sind oft die Unvollkommenheiten bezeichnend, die Angestrengtheiten im Idealschönen, die Obsessionen und die Indizien für die Grenzen ästhetischer Souveränität, Indizien für das, was sich der Stilisierung sperrt - dies in einem Feld, in dem jeder Triumph in der Tat fragwürdiger sein kann als die Ausdruckshemmung, in dem das Glatte, Geschönte weniger überzeugt als diejenige Form, die die Risse und Brüche in ihr, leise zumindest, andeutet. Eine Aufmerksamkeit für das Unscheinbare, das scheinbar Abseitige ist da erfordert, die Bereitschaft, die Werke gegen den Strich ihrer autoritativen Schlüssigkeit und oft auch gegen den ihrer exoterischen Intention zu bürsten. Dann ergeben sich Konfigurationen und Komplemente von Gegensätzlichem, nur nach außen hin Disparatem; sie ergeben sich gerade auch auf Grund dieser Art der Lektüre, die eine komplexere sein will, Ungereimtheiten nicht ausschließend, sondern nutzend für das Freilegen verborgener Sinnschichten. Palimpseste, die an der Oberfläche das beinahe eliminierte Andere durchscheinen lassen, entstehen da oder könnten dann lesbar werden. Mir scheint es wichtig, das deutlich zu machen, denn Aufklärung und Klassik haben eben diese Hintergründigkeiten. Sie sprechen nicht die ungebrochene, einsinnige und affirmative Sprache des Men2
Als weitere einschlägige Schrift verweise ich auf meinen Aufsatz »Die Signatur des Schönen« oder »In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?« Zu Karl Philipp Moritz und seiner italienischen Ästhetik; er erscheint gleichzeitig in: Helmut Pfotenhauer (Hg.), Kunstliteratur als Italienerfahrung, Tübingen 1991. 3
sehen und der Schönheit, wie es gerade heute das modisch-prinzipielle Verdikt gegenüber dem Projekt Mensch und seiner »Erfindung« im achtzehnten Jahrhundert und um 1800 unterstellt. Die Beiträge dieses Buches sind zum größeren Teil für dieses Buch geschrieben. Sofern sie in anderem Zusammenhang oder in Teilen schon veröffentlicht waren (vgl. Drucknachweise), wurden sie im Hinblick auf diesen thematischen Kontext überarbeitet. Sie setzen jeweils wieder von vorne ein, wodurch sich manche Wiederholungen, Überschneidungen, und, im Falle Heinses, bis zum scheinbaren Widerspruch unterschiedliche Akzentuierungen ergeben mögen. Dies ist nicht ohne Absicht, denn so soll sich die intermittierende Lektüre und die unterbrochene und in spannungsvollen Komplementen wiedererstehende Kontinuität der Texte abbilden in der Konfiguration der neuansetzenden, verschieden perspektivierten Abschnitte, welche sich ihnen widmen.
Sich selber schreiben Lichtenbergs fragmentarisches Ich
Vorbemerkung: Lichtenberg, die Kunstliteratur und die Anthropologie des Ich Lichtenberg ist als einer der wenigen deutschsprachigen Autoren seiner Zeit der Attraktion der Schriften Winckelmanns nicht erlegen. In sein Sudelbuch von 1775/76 notiert er, ironisch auf den herrschenden Geschmack der Zeit Bezug nehmend: Es ist die Pflicht jedes rechtschaffenen modernen Mannes, die wir hoffentlich alle sind, gegen die alten Bildhauer nichts einzuwenden. Ich bin zuweilen nicht ungeneigt zu glauben, daß Winckelmann entweder Eingebungen von irgend einem guten Geist gehabt, oder daß ihm der Drache seine Bemerkungen gebracht oder der Kobolt diktiert hat. Es ist zwar wahr, wenn man feine Nerven hat und bis zur Wollust gesund und ruhig im Gewissen ist, so fängt man leicht Feuer, und ein eigner Gedanke den man unvermutet bestätigt findet breitet sich aus, berauscht und erhitzt uns, so könnte in Sh[aftes]bury, in dem Manne der in dem Nachmittag seines Lebens noch katholisch werden konnte eine Hochachtung für alten Marmor entstehen, die von Anbetung nicht unterschieden ist. Man kann sich Rom und klassisches Land nicht ohne wollüstige Beklemmung denken, und wenn man dann selbst der heiligen Stelle nahe kommt, wo die Denkmäler stehen, auf die ehmals unser Lob und unsere Schläge hinausliefen, da scheint die Erde zu zittern, keiner unsrer Kollegen hat das je gesehen. Da zittert, schaudert und ahndet der Geist und betet an, wo er urteilen sollte. In des Vatikanischen Apolls langen Beinen sieht er Göttlichkeit, und in der gut gezeichneten allgemeinen Miene, deren Stillstehen die Vermutungen hemmt, die wir bei der Bewegung machen werden, wird göttliche Ruhe. Ich habe in England, wenn ich ein Kabinett besah, die Regel gnau beobachtet, ich erinnere mich unter ändern auf einem Landhaus des ehemaligen Lord Hollands, das jetzt seinem Bruder dem berüchtigten Charles Fox gehört, einen Demokrit gesehen zu haben, der mir eigentlich besser gefiel als alle die kostbaren teuren Antiken, die da waren, allein den Henker habe ich das gesagt, ich stund minutenlang vor einem Caligula und Trajanus und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, wer wird sich von den Bedienten auslachen lassen?' Sudelheft E, 165; hier und im folgenden werden Lichtenbergs Schriften nach der Ausgabe von Wolfgang Promies zitiert (Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, München ic)6jff., hier Bd. I, S. 382). 5
Lichtenberg mißtraut dem klassizistischen Idea-Konzept, das in der vergöttlichten Menschennatur seinen Fluchtpunkt hat. Dies tritt ihm, vereinfacht, ja auch in Lavaters »Physiognomischen Fragmenten« gegenüber, und zwar als Favorisierung des disegno und der Umrißzeichnung, den Hinführungen zur Erkenntnis des Höheren im Menschen. Lichtenberg erfahrt diese ästhetische Einstellung hier als Neigung zum leichtfertig-schwärmerischen Urteil und Ressentiment. Er wendet sich bekanntlich anderen Paradigmen in der bildenden Kunst zu. Hogarth, welcher Schönheit ja nur als Linie, nicht als jene zu Stein gewordene göttliche Gestalt kannte, und der ansonsten mit Vorliebe und spitzem Stift den menschlichen Lastern moralisierendsatirisch nachging, war ihm näher. Lichtenbergs Beschreibungen der Hogarthschen Kupferstiche fallen denn auch in der Kunstliteratur der Zeit aus dem Rahmen. Sie zeichnen partikularisierend das einzelne nach und versenken sich mit Witz noch in die unscheinbarsten, häßlichsten, anzüglichsten Details. Nichts ist da vom Bemühen um den ästhetischen Gesamteindruck, der jenes einzelne aufgehoben haben will in der Schönheit der Komposition; nichts von der Emphase der zum hohen Stil gesteigerten Sprache, welche sich der Erhabenheit ihres Gegenstandes anschmiegen möchte. Kommt Lichtenberg auf das Hauptpensum der Klassizisten, den Laokoon und seine Deutung zu sprechen, so liest sich das so: Weiter links, hinter der Ära, beschneidet nun gar ein einäugiges altes Weib einer Katze ihre schönste Zierde mit einer Schere, vermutlich um Blut zu dem Unheil zu gewinnen, das der Dolch, den sie am Mantel trägt, noch diesen Abend in dieser Tragikomödie stiften soll. Die Operation scheint der Alten Vergnügen zu machen, und es kommen über ihrem Lächeln ein Paar Lach^ähnchen zum Vorschein, die nicht reizender sein können. Vermutlich sind es aber auch die Allein-Erben der Reize aller ihrer Geschwister, die schon voraus dahingefahren sind. Überhaupt ist in dieser Gruppe viel Zähnespiel·, sie werden fast in allen möglichen Bedeutungen gewiesen und gebläkt. Von der Alten um ihrem Lächeln Holdseligkeit zu geben; von der Katze um zu beißen, und von der armen Seiltänzerin, die das Schlachtopfer hält, um ihren Schmerz 2u zerknirschen. Sie wird aber Mühe haben damit zu Stand zu kommen, denn die Katze hat nicht allein ihre Hand mit den Zähnen sehr derb gepackt, sondern auch, mit den Hinterpfoten die leicht bekleidete regionem hypogastricam derselben, gleich über dem Feigenblätter-Wulst, den das Mädchen als Befriedigung um die Blöße ihrer Beinkleider trägt. Es ist unmöglich diese Dulderin zu betrachten ohne an den Laokoon zu denken. Nicht an die Gruppe im Belvedere, das wäre Beleidigung der höchsten Majestät der Kunst, sondern an den launevollen Kupferstich, worauf Laokoon mit seinen Söhnen durch Affen parodiert wird. Man weiß nicht so ganz genau was die Alte
vorstellt. Eine Hexe schwerlich, denn die schneidet keiner Katze den Schwanz ab. Sie könnte selbst in die Umstände kommen. Es ist also wohl der Geist, dessen auf dem Zettel gedacht wird. Wäre dieses, so zielte ja wohl gar der Dolch auf Selbstmord. Noch verdient die Ökonomie der Alten ein paar Zeilen. Sie schneidet bloß das Ende des Zweigs ab, und läßt den Hauptstamm, trotz der Parlaments-Akte, für künftige Trauerszenen stehen/
Die zerstückende Darstellungsweise und die Travestie des Sublimen verweisen auf Eigenheiten von Lichtenbergs Denkstil — das Mißtrauen gegen das große Ganze und die Interpolation im Allerkleinsten, das Intermittierende, Experimentierende, kaum je zur Synthese Fortschreitende des Denkens und Schreibens. Lichtenberg wird so, durchs Kleine hindurch, zum großen Antipoden der klassizistischen und klassischen Literatur seiner Zeit und mag als dieser hier deren Panorama abstecken helfen. Das Experiment, die Jagd nach dem Ungewissen und Ungewöhnlichen im Bereich der Erfahrung, die experimentelle Anthropologie der Erkundung besonders der Seele am Seismographen des Ich, soll dabei im Mittelpunkt des Interesses stehen. Dieses Ich fügt sich ebensowenig wie die Bilder in Lichtenbergs Sicht zum Ganzen. Das Fragmentarische wird als Erkenntnischance dieser skeptisch-dissoziativen Menschenkunde im Medium der Literatur erhalten. - Moritz konnte als Erfahrungsseelenkundiger und als Kunsttheoretiker einen autobiographischen Roman schreiben, eine Faktorenanalyse der Menschwerdung am Ich, welche sich entgegen den Kontingenten des Lebens zum Ganzen rundet - homolog zu seiner Auffassung vom höheren Zusammenhalten transfigurierter Menschennatur in der Kunst. Diese Auffassung machte ihn zum Ästhetiker klassischer Literatur. Lichtenberg war dies und der zusammenhängende Roman des Ich aus guten Gründen nicht vergönnt - zum Glück, nicht zuletzt für die Geschichte des aphoristischen Stils in der europäischen Literatur. Doch nun zu einzelnem. Physiognomik-Streit
Im Frühjahr 1778 bezog der Hannoversche Leibarzt und Popularphilosoph Johann Georg Zimmermann Stellung in einem berühmten Streitfall.5 Er wandte sich als Befürworter des Schweizer Anthro2
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Kommentar zu »Herumstreichende Komödiantinnen, die sich in einer Scheune ankleiden« (»Strolling Actresses dressing in a Barn«; vgl. Abbildung); zitiert nach: Schriften und Briefe, Bd. III, S. 676^ Anmerkung zu Auszügen aus Lavaters Polemik gegen Lichtenberg im
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pologen Lavater eben gegen den Göttinger Physikprofessor und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg. Zimmermann ließ durchblicken, daß man aus Lichtenbergs Zorn gegen Lavaters Physiognomik wohl auf einen >Abgang von Verhältnisschönheit< schließen könne. Was war gemeint? Moses Mendelssohn war es gewesen, der von eben jener >Verhältnisschönheit< gesprochen hatte,4 und zwar, um die Schönheit der Linien und Proportionen am Menschen zu kennzeichnen und zu unterscheiden als etwas äußerlich Gegebenes und eher Nichtssagendes von der Ausdrucksschönheit, in der sich unser Inneres allererst kundtue. Damit differenzierte und korrigierte Mendelssohn in einem entscheidenden Punkt Lavater, der seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Semiotik jener äußeren, physischen Merkmale gerichtet hatte. Wenn Zimmermann nun >Abgang von Verhältnisschönheit< mutmaßt, so greift er zwar Mendelssohns Wort auf, meint aber, unbekümmert um dessen Unterscheidungssorgfalt, allein die Häßlichkeit jener Linien und Proportionen und möchte sie als Hinweis auf einen häßlichen Charakter verstanden wissen. Zimmermann bringt damit die Tatsache ins Spiel, daß Lichtenberg, der Kritiker der Lavaterschen Physiognomik, sich von dieser ganz persönlich betroffen fühlen mußte — denn Lichtenberg war ja bucklig und von zwergenhaftem Wuchs, und auch er selbst würde seinen Gesichtsausdruck eher als grob denn als schön bezeichnet haben. Lavater hatte von äußerer Wohlgestalt auf Tugend geschlossen, von Mißgestalt auf Laster. Stimmte dieser einfache Schluß, so käme Lichtenberg mithin nicht günstig weg; man müßte aus seiner körperlichen Deformation einen deformierten Charakter ableiten. Diese Konstellation, so insinuiert Zimmermann, erweise den Kritiker als befangen und im Grunde kritikunfähig. Lichtenberg selbst sagt in einem frühen autobiographischen Entwurf über eine »mir bekannte Person«, also über sich selbst: »Ihr Körper ist so beschaffen, daß ihn auch ein schlechter Zeichner im Dunkeln besser zeichvierten Band der »Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe« (1778), in: Deutsches Museum, 4. Stück, April 1778; zitiert nach: Franz H.Mautner, »Lichtenberg. Geschichte seines Geistes«, Berlin 1968, S. 175. Moses Mendelssohn, »Über einige Entwürfe gegen die Physiognomik und vorzüglich gegen die von Herrn Lavater behauptete Harmonie zwischen Schönheit und Tugend«, in: Deutsches Museum, März 1778, S. i94ff. mit einer (anonymen) Vorrede Johann Georg Zimmermanns. Zitiert nach Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. III. i, Schriften zur Philosophie und Ästhetik, hg. v. Fritz Bamberger u. Leo Strauss, Berlin 1932, S. }iGnothi sauton< gar in die Nähe des Priestertrugs, der Verführung nämlich zu fruchtloser Kontemplation.45 Lichtenberg aber liebt die Facetten des Ich, die er beargwöhnt; sie und nicht der eine große Zugriff sind ihm als Verfehlungen, Verzweiflungen, Vorläufigkeiten das Ganze. Er wendet sich gegen die »superfeinen erkünstelten Menschenkenner«, die in jeder Haltung eines Mannes und ihrer selbst, »wie Engel in einer Monade, [das] ganzefs] Leben sich abspiegeln« sehen.44 Er opponiert den sinnsüchtigen, voreiligen Synthesen, die auch noch das Widersprüchlichste an uns integrieren. Er mißtraut den eingebildeten enthusiastischen Selbstbeobachtern, die die Beschreibung ihrer Empfindungen entzückt, weil, wie er sagt, sie dabei »etwas Prose« zu kommandieren haben. Und doch kennt er selbst zuweilen dieses Entzücken des seiner Innewerdens, das seine »sterbliche Hülle mit einer wollüstigen Gänsehaut« überzieht.4' Aber er weiß um die Gefahren der Selbsttäuschung und spürt sie erbarmungslos noch im letzten Winkel dieses von ihm und den Zeitgenossen so geliebten Diskurses auf. Dazu hilft ihm seine erkenntniskritisch genährte Angst vor dem Schreiben nach der Mode, nach dem Geschmack des Publikums, die ganz früh schon ausgeprägt ist.46 Lichtenberg weiß, daß auch er wie alle ein gesellschaftlicher Mensch ist, und daß ohne den Bezug auf andere sich das Eigene gar nicht konstituiert. Aber er möchte dies kontrollieren, und dafür ist ihm die Maxime hilfreich: « hüte dich vor dem Drucken-Lassen«,47 denn dann widerstehst du am ehesten der Versuchung, dein Ich »feiertagsmäßig schön« auszustaffieren und vor dir selbst im Hinblick auf die anderen ein Gesicht zu machen, »wie ein alte Jungfer, wenn sie sich 41
4)
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Kant's gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abt., Werke VII, hier bes. S. 81. »Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt«, in: Naturwissenschaftliche Hefte. Schriften zur Naturwissenschaft, hg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Naturforscher zu Halle (seit 1949: Leopoldina; LA), Abt. I, 8, S. 307 (305ff.). Sudelbücher I, 8.389; Heft E, 190. Ebd., S. 388; Nr. 190, 192. Vgl. etwa den Entwurf zu »Christoph Seng«, Sudelbücher I, S. 129; Heft B, 321. Sudelbücher II, S. 249; Heft J, 1352.
malen läßt«.48 In den schnell hingeworfenen publikumsabgewandten Notizen ist dieses empfindsame Posieren eher, wenn auch nicht ganz zu vermeiden. Und zudem ist in ihnen die Gefahr, dieses Selbst durch literarische Stilisierung und Erfindung des ganzen Menschen festlich aufzuputzen, gering. Lichtenbergs Mißtrauen gegen die schöne Literatur macht sich hier auf durchaus luzide Art geltend. Ein zweiter, noch deutlicherer und expliziterer epistemologischer Vorbehalt gegen das zügig erschriebene Ich kommt hinzu: Lichtenberg greift wiederholt jenen Lockeschen und auch Kantischen Verdacht der fatalen Zirkelstruktur solcher Selbstvergegenständlichung auf. Seine an Kant geschulten und über diesen hinausgehenden erkenntniskritischen Zweifel an der Möglichkeit gegenständlicher Erkenntnis angesichts der Subjektbefangenheit unserer Erkenntnismittel macht sich da geltend. Nur, Lichtenberg geraten sie nicht zum Verbot, sich selber auszuspähen, sondern zum Anlaß, dieses Ausspähen bis ins Kleinste noch zu untersuchen und darin einen Modus zu finden, sich seiner auf Umwegen doch gewahr zu werden. »Ich und mich. Ich fühle mich — sind zwei Gegenstände. Unsere falsche Philosophie ist der ganzen Sprache einverleibt; wir können sozusagen nicht raisonnieren, ohne falsch zu raisonnieren«, notiert Lichtenberg49 in Bezug auf Erkenntnis allgemein und das »Erkenne dich selbst« im besonderen. Falsch ist diese Selbstvergegenständlichung deshalb für Lichtenberg, weil jenes Ich tut, als könne es sich umstandslos aus sich heraussetzen, wo es doch als das andere immer das eigene bleibt, als das Objekt allemal das Subjekt. Wie soll es da anders als scheinhaft, trugbildhaft Kontur gewinnen, als Schein des in sich abgeschlossenen, scharf umrissenen, des eigenständigen Ganzen? Und auch eine Dialektik von Nähe und Ferne behindert uns hier, in diesem Bereich der Wahrnehmung, ganz prinzipiell: Je mehr wir uns auf den Leib und die Seele rücken, desto befremdlicher wird uns das Bild von uns, so wie ein Mikroskop, das alles im Kleinsten erfaßt, den Zusammenhang zerstört.'0 Jenes Bild, so wäre zu erläutern, bedarf der Ungenauigkeit des Abstandes, um der Fiktion der Kohärenz willen; die Präzision im Detail und in der Nuance ist das Gift, welches solche Wunsch-Konfigurationen zersetzt. »Ist es nicht sonderbar«, schreibt Lichtenberg nach der Lektüre eines anthropologischen Buches seines Freundes und Kollegen Samuel Thomas Sömmering »Über das Organ der Seele«,'1 über den geläufigen Ver48
Sudelbücher I, S. 394; Heft E, 218. Sudelbücher II, S. 197; Heft H, 146. '° Vgl. Sudelbücher I, S. 852; Heft L, 10. !1 Königsberg 1796.
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such also, das Zentrum der Menschenkunde und Selbstbeobachtung, den Einstand von Leib und Seele, welcher das Ich ausmacht, durch Organlokalisation dingfest zu machen — »ist es nicht sonderbar, daß [...] dieses [Ich] einem nicht bekannter« aussehe »als in einer [Schrift] über die Absichten des Rings des Saturns, und doch ist jenes [nämlich das Organ der Seele], wenn man ja hier von Ort reden kann, und darf, das was uns am nächsten liegt.«'1 Jedoch sind solche Bemerkungen eine Widerlegung der Legitimation jenes >Gnothi sauton