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German Pages 424 Year 1997
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Band
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Peter Philipp Riedl
Öffentliche Rede in der Zeitenwende Deutsche Literatur und Geschichte um 1800
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997
Entstehung der Arbeit gefördert von der Studienstiftung des deutschen Volkes. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der V G Wort.
Meinen Eltern
D 355 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Riedl, Peter
Philipp:
Öffentliche Rede in der Zeitenwende : Deutsche Literatur und Geschichte um 1800 / Peter Philipp Riedl. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 142) NE: G T ISBN 3-484-18142-7
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
ι . Einleitung
ι
ι . ι Einführung in die Thematik 1.2 Sprache -
Beredsamkeit -
ι Politik. Die Determinanten einer
methodisch-theoretischen Vorüberlegung
5
2. Die Problematik politischer Willensbildung und -artikulation im Zeitalter des Absolutismus
17
3. Rhetorikkritik und Faszination der Beredsamkeit in einer politischen Zeitenwende
31
3.1 Rhetorikkritik in der Dichtung am Beispiel der Gerichtsrede
36
3.1.1 Die Wirklichkeit des Genus iudiciale in Deutschland um 1800
37
3.1.2 Christoph Martin Wieland\ Geschichte der Abderiten . . . . 3.1.3 Goethe: Reineke Fuchs 3.2 Die Faszination der Beredsamkeit 3.2.1 Der verklärende Blick nach Westen 3.2.2 Die Suche nach einem deutschen Demosthenes 3.2.3 Der Glaube an die Wirkungsmacht »lebendiger Rede« 3.2.3.1 Die innovative Kraft des mündlichen Sprechens .
42 59 87 88 112 118 123
3.2.3.2 Die unterschiedlichen Varianten des Gesprächsmodells 4. Die Realität rhetorischer Strategien um 1800
131 155
4.1 Die Propaganda der deutschen Jakobiner
159
4.2 Die Propaganda im Umfeld der Befreiungskriege
171
4.3 Die politische Rede als schriftliches Medium
188
5. Die deutschen Foren öffentlicher Rede um 1800
209
5.1 Das Katheder als Rednerbühne: die öffentlichen Vorlesungen
214
5.1.1 Der sozialhistorische Ort der öffentlichen Vorlesungen . .
215
5.1.2 Bestrebungen zur Reform des Kathedervortrags
229
5.1.3 Fichtes Idee einer Erziehungsdiktatur
241
V
5-I-4 Ein Streit um Konzeptionen: die Fichte-SchillerKontroverse 5.2 Die Kanzel als Rednerbühne: politische Predigten
284 294
5.3 Die Funktion öffentlicher politischer Rede in der Dramentheorie und -praxis um 1800
317
Ausblick: Georg Büchner: Dantoris Tod
355
6. Schlußwort
370
7. Abkürzungsverzeichnis
376
8. Literatur
377
VI
8.1 Lexika und Hilfsmittel
377
8.2 Texte und Quellen
377
8.3 Forschung
389
ι.
Einleitung
i . i Einführung in die Thematik D i e verschiedenen F o r m e n ö f f e n t l i c h e r R e d e k o n n t e n sich in D e u t s c h l a n d u m 1 8 0 0 l e d i g l i c h a u f d e m Feld der Literatur v o l l u n d g a n z entfalten. N u r
in
der dichterischen F i k t i o n ließen sich e t w a vor einer v e r s a m m e l t e n V o l k s m e n g e politische E n t s c h e i d u n g s r e d e n oder vor G e r i c h t Plädoyers, die den A u s g a n g des Prozesses m a ß g e b l i c h b e e i n f l u ß t e n , halten. In der g e s c h i c h t l i c h e n W i r k l i c h k e i t w u r d e die rhetorische Praxis d a g e g e n d u r c h eine der A r t i k u l a t i o n ö f f e n t l i c h e r M e i n u n g abträgliche politische V e r f a s s u n g entscheidend e i n g e s c h r ä n k t .
Die
R e d e fand daher l e d i g l i c h a u f d e m K a t h e d e r , der K a n z e l , d e m T h e a t e r oder als privater V o r t r a g i m Freundeskreis bzw. in einer n i c h t - oder h a l b ö f f e n t l i c h e n G e s e l l s c h a f t eine H e i m s t a t t . D a n e b e n p r ä g t e n die seit der A n t i k e
tradierten
G r u n d s ä t z e der R h e t o r i k für J a h r h u n d e r t e w e s e n t l i c h die literarische T e x t p r o d u k t i o n . D u r c h d i e A u f w e r t u n g der E l o c u t i o v e r w a n d e l t e sich die R h e t o r i k zur p o e t i s c h e n Stilistik. Für das χ8. J a h r h u n d e r t m a c h t daher W a l t e r M a g a ß die R h e t o r i k »im ästhetischen E x i l « aus. 1 O b g l e i c h die R h e t o r i k als das »neben der
Philosophie
wichtigste,
differenzierteste
und
wirkungsmächtigste
Bil-
d u n g s s y s t e m der europäischen K u l t u r g e s c h i c h t e « 2 gerade i m 18. J a h r h u n d e r t an G e l t u n g verlor, erwiesen sich ihre P r i n z i p i e n als ausgesprochen z ä h l e b i g . Z u R e c h t kritisiert daher H e l m u t Schanze die starre A b g r e n z u n g eines rhetorischen Z e i t a l t e r s vor 1 7 5 0 v o n e i n e m ästhetischen Z e i t a l t e r nach 1 7 5 0 m i t d e m H i n w e i s a u f »eine A r t rhetorischer G e g e n g e s c h i c h t e i m ästhetischen Z e i t a l ter«. 3 D a r ü b e r hinaus w u r d e die lateinische O r a t o r i e n i c h t ersatzlos aus d e n Lehrplänen
der
Bildungsanstalten
gestrichen,
sondern
im
19. Jahrhundert
d u r c h eine nationalsprachliche R e d e b i l d u n g zunächst ergänzt u n d d a n n ersetzt. 4
1
2
5
4
Magaß (1967). S. 31. Zur Elocutio vgl. den entsprechenden Artikel von Joachim Knape im zweiten Band des Historischen Worterbuchs der Rhetorik (1994). Sp. 1022 — 1083. Gert Ueding im Vorwort des ersten Bandes des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik (1992). S. V. Helmut Schanze: Probleme einer »Geschichte der Rhetorik«. In: Haubrichs (1981). S. 1 3 - 2 3 . Zitat S. 21. Lohmann (1993). I
Dieser Transformationsprozeß betraf freilich »nur« die Disziplin »Rhetorik« bzw. »Redekunst«, wie die rhetorische Theorie im Unterschied zur rhetorischen Praxis der »Beredsamkeit« insbesondere im 1 8 . Jahrhundert bezeichnet wurde. 5 Daneben setzte man sich auch mit dem konkreten Phänomen der öffentlichen Rede auseinander. Der literarisch-fiktionale und
theoretisch-nichtfiktionale
Diskurs über die öffentliche Rede um 1 8 0 0 , also in einem, literaturgeschichtlich gesehen, dominant ästhetischen Zeitalter, ist ebenso das Thema der vorliegenden Untersuchung wie die vielfältigen Versuche, die öffentliche Rede auch in Verbindung mit politischer Rhetorik in der gesellschaftlichen Wirklichkeit des ausgehenden 1 8 . und frühen 19. Jahrhunderts zu verankern. Diese Versuche waren wesentlich an die historische Formierung von Öffentlichkeit gebunden. Jürgen Habermas hat für das 1 8 . Jahrhundert einen wirkungsmächtigen Strukturwandel von der repräsentativen Öffentlichkeit höfischer Provenienz zur bürgerlichen Öffentlichkeit mit ihrem charakteristischen Moment des kritischen Räsonnements ausgemacht. 6 Andreas Gestrich fixiert dagegen die Ansätze zu einer bürgerlichen Öffentlichkeit bereits im beginnenden 1 8 . Jahrhundert und damit zu einem deutlich früheren Zeitpunkt als Habermas. 7 Gestrich wendet sich unter anderem gegen einen seiner Meinung nach auf die ideale Situation des Gesprächs verengten Kommunikationsbegriff von Habermas und verweist im Gegenzug auf verschiedene, auch nonverbale Kommunikationsprozesse, die sich nicht unter die Rubrik der repräsentativen Öffentlichkeit stellen ließen. Die Entwicklung einer politischen Öffentlichkeit, 8 die auch den Spielraum einer wirkungsorientierten Beredsamkeit absteckte, wurde, im ganzen gesehen, bestimmt durch das gegebene Maß an politischer Freiheit, durch das Auftreten eines räsonierenden Bürgertums, die Vielfalt und Vielschichtigkeit vorhandener Kommunikationsformen sowie durch die Zensurpolitik der Höfe. Bei einer sich zunehmend differenzierenden Kommunikationsstruktur im 1 8 . Jahrhundert ergaben sich auch für den Einsatz rhetorischer Strategien im politischen Diskurs neue Möglichkeiten, obgleich der öffentlichen Rede in Deutschland ihre klassischen Felder, Parlament und Gerichtshof, fehlten. In England konnte sich dagegen seit 1 6 8 8 die politische Öffentlichkeit als Staatsorgan durch die Parlamentarisierung der Staatsgewalt etablieren. Indem der parlamentarische Abgeordnete zum Prototyp des Repräsentanten avancierte, wandelte sich die Repräsentation
selbst
zu einer Sphäre
der
Kommunikation.
Eine
entsprechende
Institutionalisierung kritisch räsonierender Öffentlichkeit erfolgte in Frank5 6
7
8
2
Z u dieser begrifflichen Differenzierung vgl. Ueding/Steinbrink (1994). S. 1 2 2 . Habermas (1962/87). V g l . darüber hinaus etwa auch Lucian Hölscher ( 1 9 7 9 ) ; ders. ( 1 9 7 8 ) ; Manheim ( 1 9 3 3 / 7 9 ) . Gestrich ( 1 9 9 4 ) . Den von Habermas entwickelten Öffentlichkeits- und Publizitätsbegriff erweitert Falko Schneider ( 1 9 9 2 ) um symbolische Handlungen, Signale etc. Z u den Anfängen einer politischen Öffentlichkeit im Deutschland des 1 8 . Jahrhunderts vgl. etwa auch den entsprechenden Abschnitt bei Sheehan (1994). S. 1 7 4 — 1 8 9 .
reich seit 1789. Diese Ereignisse sowie ihr Niederschlag in der Redekultur der beiden Länder riefen auch in Deutschland Reaktionen in Form kontroverser Diskussionen hervor. Das soll im Rahmen dieser Studie unter anderem in den Blick gerückt werden. Dabei ist nicht zuletzt die auf die Herausbildung einer bürgerlich-politischen Öffentlichkeit abzielende Beredsamkeit von der sich auf die Entwicklung des geselligen Privatlebens beziehenden Wohlredenheit abzugrenzen. Nach dem Sturz Napoleons wurde schließlich die Macht der öffentlichen Meinung zum Teil derart hypostasiert, daß man ihr sogar ein »weltrichterliches Amt« zusprach, wie beispielsweise im achten Stück der Zeitschrift Der europäische Aufseher. Eine Zeitung für Jedermann vom 2 6 . 1 . 1 8 1 5 : 9 » B o n a p a r t e war durch die öffentliche Meinung geächtet; er mußte untergehen [.. ,]« 1 0 Das Jahr 1 8 1 5 soll den Rahmen der Untersuchung, die die geschichtlichen Entwicklungslinien der Thematik insbesondere seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachzuzeichnen versucht, zeitlich begrenzen. Die Französische Revolution bildete in diesem Diskurs zweifellos einen entscheidenden Kulminationspunkt. Nach 1 8 1 5 veränderten sich die Öffentlichkeitsstruktur und damit auch die Bedingungen für öffentliche Reden und politische Rhetorik so maßgeblich, daß von einer Zäsur, die eine entsprechende Fixierung des Untersuchungszeitraums rechtfertigt, gesprochen werden kann. Allein die sich nach den Karlsbader Beschlüssen vom 2 0 . 9 . 1 8 1 9 verschärfende Zensur sorgte für einen markanten Einschnitt. 11 Darüber hinaus etablierte sich im Frühkonstitutionalismus, trotz monarchischer Kontinuität, die Öffentlichkeit in der Arbeit der Landtage als Forum des Meinungsstreits. Während etwa Preußen die in der Reformära aufgeworfenen Fragen nach Partizipation und Repräsentation im Vormärz zunehmend unterdrückte und bis 1848 einen bürokratischen Absolutismus aufrechterhielt, 12 schuf der süddeutsche Konstitutionalismus die ersten geschriebenen Verfassungen mit Grundrechten und Gewaltenteilung, mit Zweikammersystem und Ministerverantwortlichkeit, mit bürgerlichem Wahlrecht und freiem Abgeordnetenmandat in Deutschland. 13 Politik und Öffentlichkeit verschmolzen so zunehmend zu synonymen Begriffen, obgleich der monarchische Primat eine bürgerlich-kommunikative Repräsentation im deutschen Vormärzparlament verhinderte. Dennoch begann nach 1 8 1 5 »der konstitutionelle Marsch durch die politisch-soziale Wirklichkeit«. 14 Den Beginn parlamentarisch-politischer Praxis in Württemberg ab 1 8 1 9 hat Hartwig Brandt eingehend gewür-
9
8. St. Sp. 58. Ebd., Sp. 5 7 f . 11 Vgl. dazu etwa Huber (1957/67). S. 732—739; Ziegler (1983). 12 Obenaus (1984) stellt dazu fest: »Preußen wurde im Zuge dieser konservativen Politik zur Vormacht des Antiparlamentarismus in Deutschland.« (S. 15) " Huber (1967). S. 3 1 4 - 3 8 6 . 14 So Hartwig Brandt (1994). S. 262. ,0
3
d i g t . 1 5 Den Debattenstil charakterisiert er dabei als dialogisch und oratorisch unprätentiös. D i e Abgeordneten mußten von ihren Sitzen, nicht von einer R e d nertribüne aus frei sprechen und verzichteten auf großen rhetorischen Gestus. Erst in der Paulskirche verlagerten sich die Debatten auf eine Rednertribüne, die hier an die alte Stelle des Altars gesetzt wurde. D e m rhetorischen Gestaltungswillen der einzelnen Redner kam die neue, erhabenere Bühne z u g u t e . ' 6 Jedoch bereits die Landtage im Frühkonstitutionalismus hatten das Monopol politischer Meinungsfreiheit inne. Hier wurden freie Reden gehalten, deren Protokolle als gleichsam einzig unzensierte Zeitungen publiziert werden konnt e n . 1 7 Diese Form parlamentarischer Öffentlichkeit war »ein Stachel im Fleisch der Z e n s u r « . 1 8 Die Politisierung der Gesellschaft erfolgte über die Parlamente, den »Reservatefn] kritischer Ö f f e n t l i c h k e i t « . 1 9 Diesen signifikanten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit in der parlamentarischen Praxis des Frühkonstitutionalismus haben gleichwohl weder Habermas noch Lucian Hölscher eingehender erörtert. Diese wenigen Stichpunkte mögen genügen, um den Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit nach 1 8 1 5 zu skizzieren. Die historische Zäsur des Jahres 1 8 1 5 dürfte somit auch für unsere Fragestellung offenkundig geworden sein. Die vorliegende Studie stellt sich die zentrale A u f g a b e , den Gesamtdiskurs über das Phänomen der öffentlichen politischen Rede in Deutschland seit dem späteren 1 8 . Jahrhundert bis 1 8 1 5 , mit dem Kulminationspunkt der Französischen Revolution, zwar nicht in all seinen Facetten, aber doch in seinen wesentlichen Z ü g e n aufzufächern und zu diskutieren. Dabei sollen, ausgehend von der Problematik politischer Willensbildung und -artikulation im Absolutismus (Kapitel 2), unter anderem miteinander konkurrierende rhetorische Konzeptionen in einer Umbruchsepoche und Zeitenwende analysiert werden. In einem ersten Hauptteil thematisiert die Studie den zeitgenössischen Diskurs über die ethisch-politische Fragwürdigkeit rhetorischer Strategien (Kapitel 3 . 1 ) sowie über deren faszinierende Möglichkeiten (Kapitel 3.2). Auch konkrete Umsetzungsversuche rhetorisch-persuasiver Strategien in Form politischer Propaganda werden zu erörtern sein (Kapitel 4). Schließlich sind noch die maßgeblichen deutschen Foren öffentlicher Rede, das Katheder (Kapitel 5 . 1 ) , die Kanzel ( K a pitel 5.2) und das Theater (Kapitel 5.3), in den Blick der Untersuchung zu rücken. So weit möglich, soll durch vergleichende Spiegelung unterschiedlicher Positionen, mit einem freilich klar zu definierenden tertium comparationis,
' 5 Hartwig Brandt (1987). Zu Rederecht und Stil der Debatten vgl. insbes. S. 206— 210. Zur experimentellen Verfassungsdiskussion im Vormärz vgl. ders. (1968). ,6 Ueding/Steinbrink (1994) kommen etwa zu dem Schluß: »die große deutsche Staatsrede wurde erst von den großen Rednern der Paulskirche geschaffen.« (S. 143) ' 7 Hartwig Brandt (1987). S. 226. 18 Ebd., S. 224. "·> Ebd., S. 2 1 5 . 4
die Bandbreite des Diskurses über öffentliche Rede und politische Rhetorik in Deutschland um 1 8 0 0 zwar nicht endgültig abgesteckt — das käme einer Mißachtung historischer Komplexität gleich —, aber doch ausgelotet werden. Die vorliegende Studie ist zwar literaturwissenschaftlich angelegt und ausgerichtet, kann aber die Notwendigkeit interdisziplinärer Offenheit nicht verleugnen. Das bringt der Forschungsgegenstand der Rhetorik zwangsläufig mit sich. 2 0 In formaler Hinsicht bleibt noch anzumerken, daß die angeführten Zitate wortgetreu aus den Quellen übernommen worden sind. Lediglich die Schreibung der Umlaute, z . B . superskribierte »e« und »o«, wurde normalisiert; auch reduplizierte Bindestriche wurden der heutigen Schriftkonvention angepaßt. Fettdruck ist in Kursive wiedergegeben. Für ein Unternehmen dieser Art benötigt jeder Autor Förderung und Z u spruch von vielen Seiten. Besonderer Dank gebührt an erster Stelle meinem Lehrer, Herrn Prof. Dr. Hans Joachim Kreutzer, für seinen fachlichen und persönlichen Einsatz, mit dem er dieses Projekt ebenso beständig wie unermüdlich begleitet hat. Das lapidare Wort »Betreuung« greift in diesem Fall entschieden zu kurz. Aus dem Kreis der Freunde sei Herr Dr. Peter Wolf hervorgehoben. Seiner kritischen Lektüre des Manuskripts verdankt der Verfasser manch wertvolle Anregung.
1 . 2 Sprache — Beredsamkeit -
Politik.
Die Determinanten einer methodisch-theoretischen Vorüberlegung Die Entwicklung von rhetorischen Strategien stand von Anbeginn an, und das heißt aus dem Blickwinkel der abendländischen Kulturgeschichtsschreibung: seit der griechischen Antike, 2 1 in engem Zusammenhang mit politischen und î0
Von der genuinen Interdisziplinarität der Rhetorikforschung zeugt etwa der aus einer Ringvorlesung an der Universität Göttingen hervorgegangene Sammelband von Classen/Müllenbrock ( 1 9 9 2 ) . Hier findet sich auch ein Beitrag über die Verbindung von Naturwissenschaften und Rhetorik. Das symbiotische Verhältnis der Rhetorik mit anderen Disziplinen zeigt am Beispiel der Universitätsgeschichte Tübingens Knape: Interdisziplinarität ( 1 9 9 4 ) auf.
!I
Uber den Ursprung der Rhetorik existieren zwei historische Versionen, die hinsichtlich des Zeitpunkts gleichwohl übereinstimmen: 467 v. Chr. soll sich in Syrakus nach dem Sturz der Tyrannis die Rhetorik als Theorie der Volksrede (so Timaios von Tauromenion) bzw. — aufgrund zahlreicher Eigentumsprozesse, in denen über die Rückerstattung von Enteignungen verhandelt wurde - als Theorie der Gerichtsrede (so Aristoteles) etabliert haben. Ulrich Schindel stuft die forensische Beredsamkeit als zwar typologisch, nicht unbedingt aber zeitlich primär ein. (Ulrich Schindel: Ursprung und Grundlegung der Rhetorik in der Antike. In: Classen/Müllenbrock ( 1 9 9 2 ) . S. 9 - 2 7 . Hier S. 18). Z u r historisch-chronologischen Problematik vgl. etwa
5
juristischen Entscheidungsfindungsprozessen. Die Möglichkeit, durch öffentliche Rede unmittelbar Wirkung auf einen mehr oder weniger großen Hörerkreis auszuüben, gehört - mit entsprechend neuen technischen Möglichkeiten bis heute — zu den Kernbereichen von Politik. Das Streben nach Meinungsführerschaft durch öffentliche Rede übte seit jeher starke Faszinationskraft vor allem auf politisch aktive Personen aus, traf aber gleichwohl auch auf Kritiker, die, wie etwa bereits Piaton, vor der Manipulationsgefahr unmittelbarer Redetätigkeit eindringlich warnten. 22 In seinem Essay Rhetorik und Propaganda unterscheidet beispielsweise Hans Mayer mit Blick auf die propagandistische Instrumentalisierung von öffentlicher Rede im Nationalsozialismus idealtypisch die »Rede als Argument« von einer »Rede mit dem Ziel der Gefühlsentladung«. 23 Voraussetzung von argumentativer Rede ist nach Mayer »ein öffentliches Leben, das noch mit Individuen als politischen Willensträgern zu rechnen vermag«. Die moderne Propaganda hingegen strebe »nach Auslöschung der Argumente und nach Herstellung emotionaler Zustände«. 24 Wesentliche Etappen argumentativer und rationaler Rhetorik sieht Mayer, freilich unter Ausblendung jeweils zeitgenössischer rhetorikkritischer Stimmen, in der griechischen Polis, der römischen Republik, den italienischen Stadtstaaten der Renaissance, den schweizerischen Kantonen, dem Nationalkonvent der Französischen Revolution und dem englischen Parlament der Neuzeit. Deutschland bleibt in Mayers positiver Auflistung nicht von ungefähr ausgespart. Bis ins 19. Jahrhundert fehlten hier die Hauptwirkungsstätten öffentlicher Entscheidungsrede: ein Parlament und Gerichtshöfe, in denen mündlich und öffentlich verhandelt wurde. Trotz dieses entscheidenden Mankos setzte man sich ebenso kontinuierlich wie intensiv mit Beredsamkeit und ihrer Theorie, der Rhetorik, auseinander. Nicht zuletzt der Bedeutungsgewinn von öffentlichen Reden in der Französischen Revolution belebte die Diskussion in
22
23 24
6
Gonslav K. Mainberg: Die Rhetorik in der Philosophie. In: Schanze/Kopperschmidt (1989). S. 3 1 9 - 3 3 9 . Hier S. 324 oder auch Alfons Weische: Art. »Rhetorik, Redekunst« im 8. Bd. des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (1992). Sp. 1 0 1 4 1025. Hier Sp. 1 0 1 5 . Vgl. etwa Piaton: Gorgias 459 b - d . Jürgen Sprute deutet Piatons Rhetorikverdikt als »Protest gegen die ganze Lebensweise und Kultur im demokratischen Athen«. (Jürgen Sprute: Philosophie und Rhetorik bei Piaton und Aristoteles. In: Classen/ Müllenbrock (1992). S. 2 9 - 4 5 . HierS. 36). Im Gorgias-Dialog erörtert Piaton Fragen der richtigen Lebensweise und - damit einhergehend - der moralischen Grundlage der Politik. In der Politeia entwirft er die Utopie eines konfliktfreien Idealstaates, in dem die politische Rede funktionslos ist. Die Rhetorik, die hier nicht auf einem diskursiven, sondern monologischen Vernunftbegriff basiert, dient lediglich der Legitimierung und ideologischen Absicherung vernünftiger politischer Herrschaft. (Vgl. Josef Kopperschmidt: Rhetorik als Legitimationsstütze politischer Herrschaft: z.B. Piaton. In: Kopperschmidt (1995). S. 46—73). Hans Mayer (1965). S. 1 2 1 . Ebd., S. 1 2 2 .
Deutschland nachhaltig und lieferte Befürwortern wie Gegnern von politischer Beredsamkeit Argumente. Die Urteile führender Gelehrter sind häufig von Mißtrauen gegenüber den manipulativen Gefahren von Reden geprägt. So räumt Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) unter den redenden Künsten der Dichtkunst den obersten Rang ein — vor der Beredsamkeit. Unter ästhetischem Blickwinkel erscheint die Beredsamkeit aufgrund ihrer Zweckgebundenheit gegenüber der von Freiheit geprägten und Freiheit erzeugenden Dichtkunst defizitär. Kant unterscheidet die Beredsamkeit als »die Kunst zu überreden« von der Wohlredenheit, die sich lediglich mit Eloquenz- und Stilfragen beschäftige. 2 ' Beredsamkeit wird in Kants Verständnis zur Uberwältigungs- und Uberlistungsstrategie, die danach trachtet, dem Angesprochenen seine Entscheidungsfreiheit zu rauben. Daher könne sie »weder für die Gerichtsschranken noch für die Kanzeln angeraten werden«. Die Überlegenheit der Dichtkunst ist für Kant vor allem eine ethisch-moralische: »In der Dichtkunst geht alles ehrlich und aufrichtig zu.« 26 Ihre genuine Absichtslosigkeit bewahrt echte Kunst davor, Menschen zu manipulieren. Moralisch fragwürdig ist demgegenüber nicht nur eine propagandistische, sondern zunächst einmal jede Rede aufgrund der genrespezifischen Gesetzmäßigkeit des Überredenwollens. Kant zweifelt prinzipiell am rational-argumentativen Moment von Rhetorik überhaupt, selbst bei längst im abendländischen Bildungskanon verankerten sogenannten Musterreden, haben doch auch sie die Zuhörer letztlich zu willenlosen Maschinen degradiert: Ich muß gestehen, daß ein schönes Gedicht mir immer ein reines Vergnügen gemacht hat, anstatt daß die Lesung der besten Reden eines römischen Volks- oder jetzigen Parlaments- oder Kanzelredners jederzeit mit dem unangenehmen Gefühl der Mißbilligung einer hinterlistigen Kunst vermengt war, welche die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteile zu bewegen versteht, das im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muß. Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik) gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint oder auch wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner A c h t u n g würdig. Auch erhob sie sich nur, sowohl in Athen als in Rom, zur höchsten Stufe zu einer Zeit, da der Staat seinem Verderben zueilte und wahre patriotische Denkungsart erloschen war. 27
Nachdem Kant die Rhetorik als aufklärungsfeindliche Disziplin verurteilt hat, scheint er seiner Argumentation zuletzt noch eine Wendung geben zu wollen: Wer, bei klarer Einsicht in Sachen, die Sprache nach deren Reichtum und Reinigkeit in seiner Gewalt hat und, bei einer fruchtbaren, zur Darstellung seiner Ideen tüchtigen Einbildungskraft, lebhaften Herzensanteil am wahren Guten nimmt, ist der vir
25 26 27
Kant (1924/63). S. 1 8 3 , wie auch das folgende Zitat. Ebd., S. 184. Ebd., S. i84f.
7
bonus dicendi peritas, der Redner ohne Kunst, aber voll Nachdruck, wie ihn C i c e r o haben will, ohne doch diesem Ideal selbst immer treu geblieben zu sein. 2 8
Eine ethisch fundierte Rhetorik, wie sie Kant hier beschreibt und die sich am dem älteren Cato zugeschriebenen »vir bonus«-Ideal orientiert, 29 kann sich freilich nicht im Rahmen traditioneller Beredsamkeit verwirklichen, sondern nur als absichtslose Wohlredenheit. Kant verlagert das Rhetorische ausnahmslos in den Bereich der Ästhetik und reduziert damit die Beredsamkeit auf die Elocutio. Diese positiven und negativen Pole rednerischer Strategie prägten den Diskurs über Rhetorik nicht nur inhaltlich, sondern auch terminologisch: Das lateinische Wort »persuadere« kann sowohl mit »überreden« als auch mit »überzeugen« wiedergegeben werden. Während Uberzeugung eine Verständigung auf argumentativer Basis anstrebt, geht es dem Überredenwollen um das Provozieren unmittelbarer Handlungsbereitschaft, oder, zugespitzt formuliert: Uberzeugen ist die Aufgabe des Philosophen, Überreden die des Redners. Im Griechischen existiert kein derartiger begrifflicher Unterschied. Für Cicero ist der gebildete Redner zugleich Philosoph, ja diesem sogar überlegen, verfüge doch der ideale Redner auch über philosophisches Wissen, während umgekehrt die Beredsamkeit in der philosophischen Erkenntnis nicht notwendig enthalten sein müsse.30 Ahnlich wie Kant grenzt auch Hegel die Strategien eines Redners von denjenigen eines Dichters ab. In seiner Ästhetik macht er den entscheidenden Unterschied in der jeweiligen Intention aus: Während der Zweck eines Kunstwerks letztlich in sich selbst ruht, verfolgt die Beredsamkeit äußere Zwecke, ja eine regelrechte Kette von Zweckmäßigkeiten. Zunächst sollen die Zuhörer bewegt und überzeugt werden. Das wiederum stellt nur ein Mittel zum eigentlichen Zweck, der durch die Rede ausgelösten Tat, dar. Der Wert einer Rede wird demnach nicht wie bei einem Kunstwerk nach dem Grad der Schönheit und inneren Vollkommenheit bemessen, sondern nach dem externen Kriterium
28
29
30
8
Ebd., S. 1 8 5 . Z u Kants Rhetorikverständnis vgl. auch Bezzola ( 1 9 9 3 ) · S. 6 - 6 3 oder Oesterreich: Verhältnis ( 1 9 9 2 ) . Quintilian: Institutio oratoria 1 2 , 1 , 1 : »Sit ergo nobis orator, quem constituimus et qui a M . Catone finitur, >vir bonus dicendi perituss verum, id quod et ille posuit prius et ipsa natura potius ac maius est, utique vir bonus: id non eo tantum, quod, si vis illa dicendi malitiam instruxerit, nihil sit publicis privatisque rebus perniciosius eloquentia, nosque ipsi, qui pro virili parte conferre aliquid ad facultatem dicendi conati sumus, pessime mereamur de rebus humanis, si latroni comparamus haec arma, non militi.« Cicero: De oratore 3 , 1 4 3 : »sin quaerimus quid unum excellât ex omnibus, docto oratori palma danda est; quem si patiuntur eundem esse philosophum, sublata controversia est; sin eos diiungent, hoc erunt inferiores, quod in oratore perfecto inest iliorum omnis scientia, in philosophorum autem cognitione non continuo inest eloquentia; quae quamvis contemnatur ab eis, necesse est tamen aliquem cumulum illorum artibus adferre videatur.«
des Erfolgs. Das hat weitreichende Folgen für das Verfertigen entsprechender Texte. Während der Künstler in den uneingeschränkten G e n u ß darstellerischer Freiheit k o m m t , ist der Redner an äußere Verhältnisse und Bedingungen, wie etwa Bildungsgrad und Charakter der Zuhörer, Ort und Z e i t , gebunden, um die erstrebte »lebendige, praktische W i r k u n g « auch erzielen zu können. 3 1 Wegen ihres Autonomiedefizits zählt H e g e l die R e d e nicht mehr zu den schönen Künsten. Im Gegensatz zu K a n t verwirft er die Rhetorik aber nicht, er entwikkelt vielmehr in der Tradition von Aristoteles eine philosophische Theorie der Rhetorik. Für ihn ist eine Rede Zweckprosa, die ohne die Möglichkeiten künstlerischer Freiheit, wie sie der Poesie zur V e r f ü g u n g stehen, auskommen muß. Diesen Tatbestand nimmt Hegel jedoch nicht zum Anlaß, die Beredsamkeit wie K a n t nach moralisch-ethischen Kategorien zu bewerten. Hegel durchbricht so den Kanon neuzeitlicher Rhetorikverachtung und vertritt eine technischwertneutrale Vorstellung von Rede und Beredsamkeit. Für ihn bilden, wie er an einer anderen Stelle der Ästhetik
betont, Poesie und Prosa lediglich »zwei
unterschiedene Sphären des Bewußtseins«. 3 2 W i e an diesen Ausführungen schon zu sehen ist, steht die Rhetorik in enger Interaktion mit Poetik, Philosophie, Sprach- und Argumentationstheorie. Die G r u n d l a g e der Disziplin »Rhetorik« ist ihre genuine Interdisziplinarität. R h e torische K o m m u n i k a t i o n stellt Präsenz her und bildet eine Voraussetzung von gesellschaftlichem Handeln, oder m i t den Worten von Hans Blumenberg: »Evidenzmangel und Handlungszwang sind die Voraussetzungen der rhetorischen Situation.« 3 3 A l s Theorie des handlungsauslösenden Sprechens müssen sich daher bei der Betrachtung von rhetorischen Phänomenen sprach- und handlungstheoretische Überlegungen gegenseitig ergänzen. Reden kann man demnach, sprachwissenschaftlich gesehen, als handlungsorientierte Sprechakte
begrei-
f e n . 3 4 Dabei ist zwischen illokutionären und perlokutionären Akten zu unterscheiden. Während bei jenen der Sprecher als Informant fungiert, löst er bei diesen G e f ü h l e , Gedanken oder Handlungen aus und tritt gleichsam als Täter
•" Hegel (1986). S. 266. 52 Ebd., S. 244. Vgl. auch Bezzola (1993). S. 1 2 0 - 1 6 0 . Weitere Stellungnahmen grundsätzlicher Art zum Thema Beredsamkeit sind auch in Hegels noch nicht edierten Handschriften nicht mehr zu erwarten, wie mir das Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum auf Anfrage freundlicherweise mitteilte. 33 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik ( 1 9 8 1 ; zuerst 1970). In: Kopperschmidt: Rhetorik. 2. Bd. (1991). S. 285 — 3 1 2 . Hier S. 297. In enger Anlehnung an Blumenberg entwickelt Gumbrecht (1978) sein Kommunikationsmodell, anhand dessen er Parlamentsreden in der Zeit der Französischen Revolution analysiert. 34 Einen Überblick über die Theorie von Sprechakten und Sprachhandlungen bietet z.B. Bußmann (1990). S. 324; 570; 7 2 6 - 7 2 9 ; Bünting (1984). S. 238ff. oder Hindelang (1983)·
9
in Erscheinung. 3 5 Die Illokution kann als verständigungsorientierte, die Perlokution als erfolgsorientierte Handlung angesehen werden. Zumeist zielen illokutionäre Akte mehr oder weniger direkt auf einen perlokutionären Effekt ab. 3 6 Kant und Hegel betonen vor allem die perlokutionäre Dimension der Rhetorik, ein Tatbestand, der, wie noch zu zeigen sein wird, signifikant für den Umgang der Philosophie mit der Rhetorik ist. Darüber hinaus bildet die rhetorische Kommunikation ein weites Feld, in dem die öffentliche Rede nur eine von vielen Formen darstellt. Daher muß das Schema Illokution/Perlokution noch weiter ausdifferenziert werden. Ein geeignetes Modell dafür hat Hellmut Geißner entworfen. 3 7 Die rhetorische Kommunikation ist zunächst einmal hinsichtlich der Formen des Gesprächs und der Formen der Rede zu unterscheiden. Dominant personenorientierte Reden sind zum einen eher unverbindliche Anlaßreden, zum anderen eher verbindliche Ansprachen. Die dominant sachorientierten Reden — und um die geht es hauptsächlich in der vorliegenden Studie — lassen sich aufgliedern in den Vortrag (bzw. Referat), in die Meinungsrede und in die Agitationsrede. Das Ziel eines Vortrags ist es, durch Informationen zu belehren und die Zuhörer zum Mitdenken zu veranlassen. Die Meinungsrede will überzeugen und die Zuhörer zum Handeln ermuntern; die Agitationsrede versucht, diese Absicht durch Überreden zu verwirklichen. Die Grenze zwischen Meinungs- und Agitationsrede ist dabei fließend. Kritische Reflexion über die Rhetorik ist so alt wie diese selbst. Besonders die Philosophie mit ihrem Anspruch, mittels Wissen (episteme) die Wahrheit ergründen zu können, diskreditierte die Rhetorik als Instrument zur bloßen Meinungsbildung. Mit Descartes setzte sich denn auch die Präferenz der rationalistischen Systematik in der Philosophie durch. Darauf reagierten etwa die italienischen Humanisten mit dem Versuch, den Dualismus von Philosophie und Rhetorik zu überwinden, indem sie die Sprache der Phantasie und Metaphorik erkenntnistheoretisch legitimierten. 3 8 Die genuin philosophische, zum
35
Hindelang ( 1 9 8 3 ) führt dazu aus: »Das wohl wichtigste Merkmal eines perlokutionären Aktes besteht darin, daß die Entscheidung über die Frage, ob er überhaupt zustande gekommen ist, davon abhängt, ob beim Hörer eine bestimmte Wirkung eingetreten ist. « (S. 1 1 )
36
Trotz der nicht zu leugnenden Beziehung zwischen illokutionären und perlokutionären Sprechakten warnt etwa Searle ( 1 9 6 9 / 7 1 ) davor, das Illokutionäre auf das Perlokutionäre zu reduzieren. (S. 1 1 3 ) Die Untersuchung illokutionärer Akte genieße vielmehr im Rahmen der langue unter sprachphilosophischem Gesichtspunkt einen genuinen Eigenwert. Austin ( 1 9 6 2 / 7 2 ) ergänzt das Schema Illokution/Perlokution durch die Lokution, die konkrete Äußerung eines bestimmten Satzes. (S. i i 7 f f . ) Bei einem lokutionären A k t , so Austin, habe die Äußerung eine Bedeutung, bei einem illokutionären A k t spiele sie eine gewisse Rolle und bei einem perlokutionären A k t erziele sie eine gewisse Wirkung. (S. 1 3 4 )
37
Geißner ( 1 9 7 5 ) . S. 1 3 2 . V g l . dazu die Studien von Grassi 1 9 7 0 und 1 9 7 9 .
38
10
Teil auch politisch motivierte Kontroverse um Möglichkeiten und Gefahren öffentlicher Rede hat im 20. Jahrhundert eine vielbeachtete Fortsetzung erlebt, und zwar in der Auseinandersetzung zwischen Jürgen Habermas und HansGeorg Gadamer. 39 Gadamer wollte einen Ausgleich zwischen Philosophie und Rhetorik herstellen, indem er die Rhetorik, die Lehre vom Redenkönnen, 40 in sein System der Hermeneutik, der Lehre vom Verstehenkönnen, einband. Den Hinweis auf die Herkunft der neuzeitlichen Hermeneutik aus der antiken Rhetoriktheorie verdankte er in erster Linie einer Rezension Klaus Dockhorns von Wahrheit und Methode.*1 Rhetorik und Hermeneutik seien daher, so folgert Gadamer aus dieser Einsicht, aufgrund der ihnen gemeinsamen Ubiquität und Universalität einander ebenbürtig. Innerhalb des Bereichs lebensweltlicher Praxis besitze das Rhetorische uneingeschränkte Ubiquität. Freilich muß auch Gadamer eingestehen: »Mit der Verteidigung der Rhetorik hat man es in der modernen wissenschaftlichen Kultur schwer.« 42 Erst Heideggers Sprachdenken leitete eine gewisse Renaissance der Rhetorik im 20. Jahrhundert ein. Für Gadamer ist Politik ohne Rhetorik nicht denkbar: Politik bedarf der Willensbildung, und diese vollzieht sich im Aufbau gemeinsamer Uberzeugungen, die herzustellen eine genuine Aufgabe der Rhetorik ist. Somit kommt der Rhetorik eine fundamentale Funktion innerhalb des sozialen Lebens zu. Habermas dagegen betont, die Rhetorik sei ihrem Wesen nach nicht verständigungs-, sondern erfolgsorientiert. Ein rhetorisch herbeigeführter Konsens sei durch die Ambivalenz von Uberzeugung und Überredung geprägt, wobei »das Moment Gewalt« eine entscheidende Rolle spiele. 43 Der Rhetorik hafte ein Zwangscharakter an, den man zugunsten einer über ein zwangfreies rationales Gespräch herbeigeführten intersubjektiven Verständigung überwinden müsse. Ein ideales Gespräch werde durch einen offenen und chancengleichen Prozeß wechselseitigen Fragens und Antwortens bestimmt. Ein auf rhetorischem Weg erzielter Konsens ist nach Habermas in der Regel pseudokommunikativ erzwungen und widerspricht seiner Utopie eines herrschaftsfreien Diskurses sowie seinem kommunikativen Vernunftideal. In diesem Diskurs werden sprachliche Äußerungen selbst thematisiert und ideologiekritisch betrachtet. An diesem Punkt setzt wiederum die Gegenkritik Gadamers ein. Es sei sehr problematisch, der Sprache ideologiekritisch beizukommen, denn: Sprache ist nicht das endlich gefundene anonyme Subjekt aller gesellschaftlich-geschichtlichen Prozesse und Handlungen, das sich und das Ganze seiner Tätigkeiten, Objektivationen unserem betrachtenden Blick darböte, sondern sie ist das Spiel, in 39
40 41 42 4i
Z u einzelnen Stellungnahmen von Habermas und Gadamer vgl. den Sammelband von Karl-Otto Apel u.a. ( 1 9 7 1 ) . Quint. 2 , 1 5 , 3 8 : »rhetorken esse bene dkendi sdentiamo. Dockhorn (1966). Gadamer bei Apel ( 1 9 7 1 ) . S. 3 1 4 . Habermas bei Apel ( 1 9 7 1 ) . S. 1 2 3 .
II
dem wir alle mitspielen. Keiner vor allen anderen. Jeder ist >dran< und immerfort am Zuge. 4 4 Eine S p r a c h k r i t i k i m M e d i u m der Sprache ist i m Sinne v o n G a d a m e r eine c o n t r a d i c t i o in adiecto. D i e s e S p r a c h k r i t i k m ü ß t e ja w i e d e r sprachkritisch untersucht w e r d e n — u n d so fort bis ins U n e n d l i c h e . U n d jenseits der Sprache ist k e i n D i s k u r s m ö g l i c h . Bereits P i a t o n hat seine R h e t o r i k k r i t i k m i t ausgesprochen rhetorischem G e s c h i c k d a r g e l e g t — w i e schon C i c e r o in De oratore ( 1 , 4 7 ) b e m e r k t e — u n d d a m i t , in letzter K o n s e q u e n z , seine e i g e n e Intention k o n t e r k a riert. A l l g e m e i n gesprochen: D e r I d e o l o g i e k r i t i k e r ist selbst i m m e r z u g l e i c h
-
c u m g r a n o salis — auch I d e o l o g e . Für G a d a m e r ist das H a b e r m a s s c h e Ideal des zwangfreien
rationalen
Gesprächs
»von
erschreckender
Irrealität«,
denn:
» W e n n R h e t o r i k ein Z w a n g s m o m e n t e n t h ä l t , so steht jedenfalls fest, d a ß soziale Praxis -
u n d w a h r l i c h auch die revolutionäre -
o h n e dieses Z w a n g s m o -
ment gar nicht denkbar ist.«45 G e g e n d i e T e n d e n z der neuzeitlichen P h i l o s o p h i e , alles M e i n u n g s h a f t e aus ihren D e n k s y s t e m e n zu v e r b a n n e n , hat sich a u c h ein A u t o r e n k o l l e k t i v aus der T ü b i n g e r G a d a m e r - S c h u l e i m Sinne seines Lehrers g e w a n d t : M e i n u n g e n , so d i e G e n e r a l t h e s e , »sind das M e d i u m , in d e m H a n d e l n sich organisiert«, u n d d a m i t »die w a h r e G r u n d l a g e der M a c h t « . 4 6 In kritischer A u s e i n a n d e r s e t z u n g
mit
d e m Postulat v o n H a b e r m a s , d i e M a c h t der M e i n u n g sei d u r c h den idealen D i s k u r s zu ersetzen, verweisen die A u t o r e n a u f die p r a k t i s c h e R o l l e der M e i n u n g e n f ü r die G e m e i n s a m k e i t des H a n d e l n s , d i e H e r r s c h a f t s s t r u k t u r e n g e n e rell z u g r u n d e liege. P o l i t i s c h e G e m e i n s c h a f t k ö n n e sich daher nur i m M e i nungsaustausch konstituieren u n d erhalten. Eine derartige A u f w e r t u n g
der
d o x a i m p l i z i e r t ein Verständnis der R h e t o r i k »als M e d i u m praktischer V e r n ü n f t i g k e i t « . 4 7 F e h l t d a g e g e n ein ö f f e n t l i c h e r M e i n u n g s a u s t a u s c h , ist das g l e i c h b e -
44
Gadamer bei Apel (1971). S. 72. Ideologiekritisch betrachtet die Sprache in Reden dagegen auch Max Horkheimer in dem Aufsatz: [Die Funktion der Rede in der Neuzeit] von 1936. Die Sprache ist für ihn wie für Marx ein Spiegel der obwaltenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Schelsky (1975/79) vertritt die Auffassung, daß Klassenherrschaft durch Sprache hergestellt werde. Adorno ( 1966) plädiert im Unterschied zu Habermas fur eine kritische Rettung der Rhetorik durch die Dialektik. (S. 62)
45
Gadamer bei Apel (1971). S. 314. Daß das Gespräch in der rhetorischen Tradition ein wesentliches Mittel zur Wahrheitsfindung darstellt, hebt Braungart (1992) hervor. Die Theorie grenzte jedoch den Streitcharakter des Gesprächs zunehmend aus und reduzierte es letztlich zu einem reinen Verständigungsmittel: »Bei Habermas schließlich ist im Konzept des herrschaftsfreien Diskurses der intersubjektiven Wahrheitssuche jedes agonale Element genommen.« (S. 3) In der Praxis spielte dagegen der Streit eine bedeutendere Rolle, wie Braungart am Beispiel der Polemik, die in der Frühen Neuzeit »weit über jede rhetorische Grenze« (S. 20) geführt habe, darlegt. Zur Problematik des Zwangscharakters von Rhetorik und Beredsamkeit vgl. etwa Fey (1990).
46
Ptassek u.a. (1992). S. 249; 253. Ebd., S. 45. Z u der rhetorischen Form öffentlichen Vernunftgebrauchs vgl. auch Oesterreich (1994). S. 1 - 4 6 .
47
12
deutend m i t einem Verlust an Handlungskompetenz. Folgt man der RhetorikDefinition von Peter L. Oesterreich und versteht das Rhetorische als »persuasive Rede in der lebensweltlichen Öffentlichkeit«, 4 8 kann freilich Gadamers ubiquitärer rhetoriktheoretischer Universalismus nur eingeschränkt G e l t u n g erlangen. Im Kontext dieser Untersuchung soll jedenfalls die Analyse rhetorischer Strategien i m Sinne Oesterreichs auf den Bereich der Öffentlichkeit beschränkt bleiben, unter Ausgrenzung verbaler Privatpersuasion. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit im 1 8 . Jahrhundert war eine wesentliche Voraussetzung für den Aufstieg der Meinung bzw. der von Rousseau ins Feld geführten volonté générale in der politischen Welt. Z u m Machtfaktor wird die Meinung dann in der Französischen Revolution. Die dortigen Vorgänge nahm man auch in Deutschland aufmerksam zur Kenntnis und wußte so um die Interdependenz von Rhetorik, Macht und Meinung. Daher erreichte auch hier die Diskussion dieser Themen eine neue Qualität. N e b e n den soeben diskutierten philosophisch-politischen Implikationen öffentlicher Rede müssen im Kontext einer Analyse zur Rhetorik auch die sprachtheoretischen Zusammenhänge von Sprache (langue) und individuellem Sprechakt (parole) berücksichtigt werden. Den Stellenwert dieser Frage akzentuiert beispielsweise Heinrich Lausberg im Vorwort seines Rhetorik-Handbuchs: Die Rhetorik will die langue aufzeigen, die das konventionelle Ausdrucksmittel der parole ist. Eine langue ohne parole ist tot, eine parole ohne langue ist unmenschlich: Sprache, Kunst, soziales und individuelles Leben zeigen eine dialektische Interdependenz zwischen langue und parole,49 Der Sprechakt oder die Sprachverwendung (parole) bildet das entscheidende Bindeglied zwischen der Sprachtheorie und der Neubewertung von Rhetorik und Beredsamkeit in Deutschland um 1 8 0 0 , betont diese doch die Bedeutung konkreter Sprechhandlungen in der Muttersprache. Von dieser abstrakt-theoretischen Ebene aus ist darüber hinaus noch ein Blick auf die Begriffe, welche die jeweiligen Sprechakte inhaltlich prägen, zu werfen. Politische Reden wie politische Publizistik überhaupt leben nicht zuletzt davon, politische Schlüsselbegriffe, die m i t ganz bestimmten zeitspezifischen Konnotationen versehen sind, zielbewußt zu verwenden. Ein K a m p f um politische Macht ist auch ein K a m p f um die Besetzung bestimmter politischer Begriffe. In dieser Auseinandersetzung ist eine wirkungsorientierte Rhetorik in besonderem Maße gefordert. Daher muß in dieser Untersuchung die begriffsgeschichtliche Methodik berücksichtigt
werden.
Reinhart
Koselleck,
der die politische Begriffsge-
schichte in der deutschen Geschichtswissenschaft der Gegenwart entscheidend geprägt hat, weist darauf hin, daß seit der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts ein beschleunigter Bedeutungswandel im Bereich der politisch-sozialen Termi48 49
Oesterreich (1990). S. 46. Lausberg (1973). S. 8.
13
nologie eingesetzt habe. Der semantische Kampf verschärfte sich während der Französischen Revolution: »Begriffe dienen nicht mehr nur, Vorgegebenheiten so oder so zu erfassen, sie greifen aus in die Zukunft.« 5 0 Die Konzeption einer Begriffsgeschichte, wie sie den Geschichtlichen Grundbegriffen zugrunde liegt, ist freilich nicht unproblematisch, bevorzugt sie doch einseitig kanonisierte Theoretiker. Das will Rolf Reichardt bei seinem Plan einer sozialhistorischen Semantik für das Frankreich der Jahre 1680—1820 vermeiden. Durch eine entsprechend breitere Auswahl der Quellen erhofft er sich einen größeren Grad an Repräsentativität der politisch-sozialen Sprache. Wie Koselleck betont auch Reichardt — und das ist in diesem Kontext bedeutsam — den Charakter von bestimmten Wörtern als Machtinstrumente. Wörter beeinflussen nachhaltig kollektives Handeln, besonders in einer Zeit wie dem 18. Jahrhundert, in dem eine pluralistische und politisierte Kommunikationsgemeinschaft erstmals entstand. 51 Gerade im Zeitalter der Französischen Revolution entbrannte ein intensiv geführter Krieg um Sprache und Worte. Werden in diesem Sinne Wörter in einer Rede oder — allgemein gesprochen - einem redeähnlichen sprachlichen Gebilde als psychopolitische Mittel eingesetzt, gerät Sprache zum Appell. 52 Begriffe wie »Publizität« und »öffentliche Meinung« beispielsweise prägten rednerische wie publizistische Debatten der Französischen Revolution. Die Begriffe »Volk« und »Nation«, um ein anderes Beispiel zu nennen, erlangten um 1800 große Relevanz, die (verfassungs)politischen Vorstellungen, die man mit diesen Wörtern in Verbindung brachte, unterschieden sich freilich beträchtlich. 53 Besonders in Umbruchszeiten können sich Normalworte in affektiv aufgeladene, mitunter vieldeutig auslegbare Schlagworte verwandeln und gesellschaftliche Auseinandersetzungen aufzeigen. 54 Bei derartigen semantischen Modellen politisch-sozialer Begriffsnetze, wie sie besonders Reichardt entwickelt hat, ist freilich der jeweilige Diskurskontext zu berücksichtigen. In unterschiedlichen Situationen können Wörter unter Umständen unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Daraufhat etwa Günther Lottes hingewiesen. 55 Die gegenseitige Bedingtheit von politischer Sprache und sozialem Handeln, ausgehend von Wittgensteins »Sprachspiel«-Konzeption,5Sprachj/>ie/< soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.« (Wittgenstein ( 1 9 6 3 ) . S. 300). 57
J a m e s Farr: Understanding conceptual change politically. In: Ball u.a. ( 1 9 8 9 ) . S. 2 4 49. Hier S. 24f.; 3 2 .
58
Sharpe/Zwicker ( 1 9 8 7 ) . S. 7. H u n t (1984/89). S. 39. H u n t (1990). S. 1 0 6 . V g l . auch W h i t e ( 1 9 7 3 / 9 1 ) .
59 60
15
textologisches Verfahren, das im Sinne von Derridas »Dekonstruktions«-Modell Gattungsunterschiede in einem umfassenden, alles einbegreifenden Textzusammenhang aufgehen läßt, bietet dazu vielfältige Anregungen, kann sich doch auch diese Studie bei der Diskussion einschlägiger Quellen keine Gattungsschranken auferlegen. Dafür ist der Komplex des Rhetorischen zu weit. Der Diskurs über Rhetorik und die Entwicklung rhetorischer Strategien kann
-
den Kategorien der Systemtheorie von Niklas Luhmann entsprechend — als ein Kommunikationssystem vom Typ selbstorganisierender sozialer Systeme verstanden werden. 6 ' Die verschiedenen Quellen(gattungen), oder abstrakt: Diskursebenen, die das System des Rhetorischen um 1 8 0 0 konstituieren, können dementsprechend textwissenschaftlich als Subsysteme, die im ständigen Austausch miteinander stehen, definiert werden. Jeweils gattungsimmanente Gesetzlichkeiten müssen freilich bei der Interpretation entsprechender Texte berücksichtigt werden. Entscheidender inhaltlicher Ausgangspunkt bei der Interpretation der Quellen soll das jeweilige Verständnis der Redner-Hörer-Korrelation sein. Daraus ergibt sich die Frage nach den unterschiedlichen rhetorischen Strategien, nach Wirkungsintentionen und — in letzter Konsequenz — nach den einzelnen Vorstellungen von Politik und vom öffentlichen Diskurs über Politik. Das Rhetorische in seiner Eigenschaft als kommunikatives Handeln bildet wiederum ein Subsystem im System der Sprache. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist auf die bereits angedeuteten Sprachtheorien in diesem Zusammenhang besonderes Augenmerk zu legen. 0 2 Es wird freilich zu fragen sein, ob die mitunter etwas hypertroph anmutende Einschätzung der Rolle der Sprache in der Geschichte, besonders bei Hunt, in dem hier zugrundeliegenden Kontext aufrechterhalten werden kann.
61
62
16
Die sich an Luhmanns Modell orientierende These, in Deutschland habe sich am Ende des 1 8 . Jahrhunderts das Literatursystem als Sozialsystem etabliert, vertritt Siegfried J . Schmidt ( 1 9 8 9 ) . V g l . zu dieser Thematik besonders Luhmann ( 1 9 8 4 ) sowie Kneer/Nassehi ( 1 9 9 3 ) . Z u r kritischen Auseinandersetzung mit Luhmanns Systemtheorie vgl. etwa Habermas/ Luhmann ( 1 9 7 1 ) oder auch H a u g ( 1 9 8 7 ) . Die politische Rede ist nach Luhmann der Reproduktion des Kommunikationssystems Politik verpflichtet. V g l . Theodor M. Bardmann: Rhetorik als Irritation der Politik: z. B . Niklas Luhmann. In: Kopperschmidt ( 1 9 9 5 ) . S. 2 3 9 - 2 6 7 .
2. Die Problematik politischer Willensbildung und -artikulation im Zeitalter des Absolutismus
Politische Redner wollen ihre Zuhörer — idealtypisch gesehen - rational wie emotional beeinflussen und überzeugen. Möglichkeiten und Grenzen, mittels rhetorischer Strategien ein bestimmtes politisches Bewußtsein zu erzeugen, sind dabei immer durch die jeweilige Verfaßtheit eines Gemeinwesens festgelegt. Die politische Entscheidungsrede, in der antiken Rhetoriktheorie das Genus deliberativum, nimmt von einer prinzipiell offenen politischen Streitfrage ihren Ausgang. Diese gilt es zu erörtern, um eine Entscheidung treffen zu können, die das künftige Handeln auf diesem Gebiet bestimmen wird. Die gesellschaftliche Voraussetzung für diesen Redetypus ist ein politisches System, das eine Verständigung auf argumentativer Basis zuläßt. Werden dagegen politische Entscheidungen ohne vorherige Diskussion durch die Amtsgewalt der Obrigkeit verordnet, fehlt der Entscheidungsrede der notwendige, vor allem institutionelle Rahmen. Zudem stuft eine derart beschaffene Obrigkeit die politische Rede als potentielle Gefahr ein, kann sich doch eine allzu deutlich vernehmbare Kritik an der Regierungspolitik zu einer Krise für das ganze System verdichten. 1 Aus diesem Grund wird die öffentliche politische Rede aus dem Gemeinwesen verbannt, bzw. sie ist in diesem gar nicht vorgesehen. Damit wird die rhetorische Praxis, die auf lebendigem Meinungsaustausch beruht, entscheidend eingeschränkt. Von den Staatsreden des 1 7 . und 1 8 . Jahrhunderts wurde etwa in erster Linie gelehrte Unterwürfigkeit erwartet. In der griechischen Antike konnte sich die Beredsamkeit erst mit Entstehung der Demokratie durchsetzen, wobei Rationalität und Mündlichkeitscharakter der griechischen Kultur diesen Prozeß beförderten. Im Deutschland der Frühen Neuzeit fehlt aus verfässungspolitischen Gründen eine öffentliche politische wie gerichtliche Rede. Johann Georg Sulzer bringt in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste diesen Sachverhalt auf den Punkt: »Deutschland scheinet (es sey ohne Beleidigung gesagt) in seiner gegenwärtigen Verfassung, ein für die Beredsamkeit ziemlich unfruchtbarer Boden zu seyn.« 2 Die Verfassung, von der Sulzer spricht, sieht die Institutionen, die die notwendige Grundlage für jede Art von Entscheidungsreden darstellen, nicht vor. Daher resümiert der
1
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Für das 1 8 . Jahrhundert hat Koselleck ( 1 9 5 9 / 7 3 ) diesen Zusammenhang von K r i t i k und Krise anhand der politischen Theorie untersucht. Art. »Beredsamkeit« in: Sulzer ( 1 7 9 2 / 1 9 7 0 ) . S. 3 7 3 .
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Schriftsteller und Literarhistoriker Franz Horn 1823: »Die Deutschen fanden kein Parliament und keine öffentlichen Gerichtshöfe, in denen sie hätten glänzen können; aber die Kanzel haben gar manche mit hoher Ehre erfüllt.« 3 Die Beschränkung der Möglichkeiten rhetorischer Praxis ist freilich kein genuin deutsches Phänomen; sie kommt bereits in der Antike vor.4 Die antike Theorie, insbesondere Aristoteles und Cicero, betrachtete die Rhetorik als Beitrag zur gemeinschaftlichen Handlungsorientierung gerade in politischen Fragen. Der Platon-Schüler Aristoteles bewertete dabei die Rhetorik als formale, moralisch neutrale Disziplin und konzentrierte sich ganz auf ihren technischen Charakter. Im Unterschied zu Piaton und dessen Ideal einer Philosophenherrschaft glaubte er zudem an das Vernunftpotential deliberativer Rede. Das Ende der republikanischen Verfassungen in Athen und Rom raubte dann jedoch der öffentlichen Rede ihre Wirkungsmöglichkeiten. Die Rhetorik verwandelte sich von einem hochgradig politischen Handlungsinstrument in ein Schulfach. Quintilians umfangreiches Lehrbuch Institutio oratoria spiegelt diese Tendenz der Entpolitisierung der Rhetorik bereits wider: Das geschriebene nimmt gegenüber dem gesprochenen Wort den Vorrang ein; die Literatur, nicht mehr die politische Praxis, soll von der Rhetorik profitieren.5 So überlebte die Rhetorik ihren Praxisverlust durch ihre Literarisierung in neuer Funktion als Bildungsgut. Das Mittelalter kanonisierte die Rhetorik als zweite der sieben freien Künste. Eine neue Wertschätzung erfuhr die antike Rhetorik im Humanismus. Die humanistische Bildung postulierte die Einheit von sapientia und eloquentia und erklärte so die Eloquenz zu ihrem höchsten Ziel. Die Vorstellungswelt der Rhetorik drang nun allmählich in alle Literaturgattungen ein. So trug etwa Vico mit der in seinem Werk Principi di scienza nuova (1725) vorgetragenen Lehre der Tropen und Figuren entscheidend zu dieser modernen Auffassung der Rhetorik bei. Zwei wesentliche Träger der rhetorischen Tradition in der Neuzeit waren das Gymnasium und die Universität. Als humanistisch-lateinisches Schulfach sollte die Rhetorik nicht zuletzt der Persönlichkeitsbildung der nobilitas literaria dienen und damit auch Einfluß auf die Gesellschaft nehmen.6 Mitunter wurde die Rhetorik gar in den Rang eines universellen Erkenntnisinstruments und damit einer methodologischen Grundwissenschaft erhoben.7 Neben der um »poiesis« bemühten Gelehrtenrhetorik wurde freilich auch eine am Hof, in der Kanzlei, in der Politik und im gemeinen Leben vollzogene Redekunst, die sich am »praxis«-Ideal orientierte, ausgeübt. Veit Ludwig von Sek-
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18
Horn 2. Bd. ( 1 8 2 3 ) . S. 2 2 6 . Z u r allgemeinen Orientierung: Manfred Fuhrmann ( 1 9 9 0 ) . V g l . dazu etwa Adam ( 1 9 7 1 ) . Z u m Beitrag der Rhetorik für das exklusive Selbstverständnis der Gelehrten in der Frühen Neuzeit vgl. etwa Trunz (1966). V g l . dazu etwa Schindling ( 1 9 7 7 ) . Hier insbes. S. iÓ9Íf. Z u r Bedeutung des Schulfachs »Rhetorik« im 1 7 . Jahrhundert vgl. in erster Linie Barner ( 1 9 7 0 ) .
kendorff gibt etwa in seinen Teutschen Reden von 1 6 8 6 der rednerischen Praxis gegenüber der Schuldisziplin der Rhetorik den Vorzug. 8 Im Exklusivbereich des Hofes blieb diese rednerische Praxis hauptsächlich auf Fest- und Prunkreden, also auf epideiktische Reden, das Genus demonstrativum, beschränkt. Gleichwohl spielte das rhetorische Zeremoniell im höfisch-politischen Bereich eine wichtige Rolle. »Das ist gewiß / wer ein gelehrter Politicus heissen wil / der muß bey guter Zeit auff sein Mundwerck bedacht seyn«, betont Christian Weise in seinem Politischen Redner.9 Dabei handelte es sich freilich keineswegs ausschließlich um devote Hofberedsamkeit. Schließlich konnte selbst die primär auf dem Prinzip des Gottesgnadentums beruhende absolutistische Herrschaftsordnung des 1 8 . Jahrhunderts auf eine auch rhetorisch fundierte Selbstdarstellung mit dem Ansatz einer öffentlichen Legitimierung der getroffenen politischen Entscheidungen nicht ganz verzichten. So verwundert es wohl auch nicht, daß im 19. Jahrhundert alle Verfassungsstaaten von innovatorischem Rang zuvor absolutistisch regiert wurden. 1 0 Ihre ursprüngliche Eigenschaft als ein Mittel der politischen Entscheidungsfindung,
relativ unabhängig vom akademischen Regelwerk, hat die Rhetorik
auch im Deutschland der Frühen Neuzeit zumindest in einer bestimmten Phase und in einem bestimmten Umfang nicht ganz verloren. Georg Braungart hat gezeigt, daß vor dem Dreißigjährigen Krieg die Rede in der politischen Praxis noch verankert gewesen ist, und zwar während der Phase ständischer Mitregierung in den Reichsterritorien. In den Landtagsreden, so Braungart, sei »ein konkretes, durch strategischen Einsatz von Argumenten zu erreichendes Redeziel« verfolgt worden. 1 1 Unter den Bedingungen einer relativ offenen Machtkonstellation konnte die politische Rede gedeihen. Die Landstände betrachteten sich als Mitträger der Staatsgewalt und konnten sich gegen die patriarchalische Herrschaftsauffassung frühneuzeitlicher Landesherren noch behaupten. So erwiesen sich die Ständeversammlungen als öffentliche Entscheidungsforen. Nach 1 6 4 8 , grob gesprochen, ging von den Landständen kaum mehr politische Initiative aus. Im weiteren Verlauf des 1 7 . Jahrhunderts verloren die Landtage, in einem von Territorium zu Territorium unterschiedlichen Ausmaß, diesen
8
Georg Braungart spricht mit Blick auf das »poiesis«- und »praxis«-Modell von einer »Zweigleisigkeit in der Geschichte der Beredsamkeit im Deutschland des 1 7 . J a h r hunderts«. (Georg Braungart: Praxis und poiesis: Z w e i konkurrierende Textmodelle im 1 7 . Jahrhundert. In: Ueding ( 1 9 9 1 ) . S. 8 7 - 9 8 . Hier S. 9 1 ) . Bei »poiesis« und »praxis« handelt es sich um aristotelische Begriffe.
9
Weise ( 1 6 8 2 / 1 9 7 4 ) . Zitat: unpaginierte Vorrede. Z u Weises Rhetorikverständnis vgl. auch Knape: Kasualrede (1994). Brandt ( 1 9 9 4 ) betont, daß der deutsche Konstitutionalismus des 1 9 . Jahrhunderts »im Innenraum des aufgeklärten Fürstenstaats entstanden« sei. (S. 2 6 1 )
10
" Braungart ( 1 9 8 8 ) . S. 36.
19
Stellenwert eines politischen Entscheidungsgremiums. 1 2 Mit den Reden, die hauptsächlich aus stereotypen Wendungen bestanden, wurden nun vorwiegend zeremoniell-kommunikative Akte unter Verzicht auf inhaltliche Argumente vollzogen. Die obrigkeitliche Durchdringung insbesondere der absolutistisch regierten Einzelstaaten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation
schränkte
schließlich das agonale Moment politischer Entscheidungsfindung weitgehend ein. Die Diskussion über das Für und Wider von politischer Beredsamkeit war daher stark von der jeweiligen generellen Bewertung der absolutistischen Staatsform geprägt. Verfechter des absolutistischen Systems konnten einer Beredsamkeit, die einer freiheitlicheren Verfassung bedurft hätte, kaum positive Seiten abgewinnen. In diesem Sinne hat etwa Johann Elias Schlegel die politische Beredsamkeit verurteilt. Es ist allerdings bemerkenswert, daß Schlegel Kritik an der Rede in Form einer Rede, die er 1 7 4 1 anläßlich seiner Aufnahme in die 1 7 3 5 von Gottsched gegründete und geleitete »Vormittägige Rednergesellschaft« in Leipzig hielt, geübt hat. 1 3 Bereits der Titel seiner Rede ist Programm: »Rede, daß die vortheilhaftesten Umstände der Beredsamkeit, allemal mit einem verwirrten Zustande des gemeinen Wesens verknüpfet sind.«' 4 Gleich zu Beginn weist er auch auf die Paradoxie hin, daß er, der Kritiker einer freien Beredsamkeit, einer Gesellschaft beitrete, »welche das Aufnehmen der Beredsamkeit in unserm Vaterlande itzo so eifrig wünschet«. 1 5 Jedoch, so Schlegel, wer dies wirklich wolle, der müsse »auch ein Rom und ein Athen in seinen verderbtesten Zeiten dazu wünschen«.' 6 Denn nur ein innerlich krankes Gemeinwesen verlange nach öffentlicher Rede. Der so vielfach zu vernehmende R u f nach einem neuen Demosthenes und Cicero lasse ihn an einen Arzt denken, der »seinen Kranken alle Uebel und Seuchen auf einmal wünschet, nur damit er sie heilen könne«. 1 7 Schlegel stellt hier eine in der langen Geschichte der kontroversen Auseinandersetzung über Rhetorik und Beredsamkeit nur allzu
" Z u r Diskussion über Vor- und Frühformen des Parlamentarismus und deren Problematik vgl. z . B . Oestreich ( 1 9 7 9 ) oder den Sammelband von Bosl ( 1 9 7 7 ) . V g l . dazu Witkowski ( 1 9 0 9 ) . S. 3 7 2 - 3 8 2 . Ein facettenreiches Bild der aufgeklärten Messe-, Universitäts- und Buchhandelsstadt Leipzig im 1 8 . Jahrhundert zeichnet der Sammelband von Martens (1990). Z u m literarischen Leben in Leipzig vgl. auch Kreutzer ( 1 9 9 1 ) . Eine überarbeitete Fassung dieser Studie ist jüngst erschienen: Kreutzer ( 1 9 9 4 ) . S. 9—40. Kreutzer berücksichtigt besonders auch die Bedeutung von Gebrauchsliteratur abseits der epocheprägenden Werke. 14
Diese Antrittsrede wurde erst postum, 1 7 5 4 , veröffentlicht — Schlegel starb 1 7 4 9 —, im von Gottsched herausgegebenen ersten Band der Schriften der Gesellschaft der freyen Künste. S. 2 7 2 - 2 8 5 . In der von Johann Heinrich Schlegel besorgten fünfbändigen Werkausgabe, Kopenhagen/Leipzig 1 7 6 1 — 1 7 7 0 , ist sie nicht aufgenommen.
15
J . E. Schlegel ( 1 7 4 1 / 5 4 ) . S. 2 7 2 . Ebd., S. 2 7 3 . Ebd., S. 2 7 4 .
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20
bekannte Gleichung auf: Eine machtvolle Beredsamkeit lasse auf ein hohes M a ß an innerer Zerrüttung in einem Gemeinwesen schließen. Diese Meinung vertrat beispielsweise auch Tacitus in seinem Dialogus
de oratoribus
(40,4), um dann
weiter auszuführen, daß selbst die gemilderte Beredsamkeit seiner eigenen Z e i t von einem noch nicht geheilten und nach Wunsch geordneten Staat z e u g e . ' 8 Schlegel moniert schließlich, daß sich die Beredsamkeit mehr an die Leidenschaften der M e n g e als an den Verstand kluger Leute richte, ein Vorwurf, der, wie gesehen, dann auch von K a n t erhoben worden ist. In einem System, in dem der Fürst sich um die »Wohlfahrt des V o l k e s « 1 9 sorge, habe die Zwietracht säende Beredsamkeit keinen Platz. Fehlt dagegen die ordnende Hand eines absoluten Monarchen und regieren an seiner Statt die gerade gewandtesten und gerissensten Redner, dann herrsche, so Schlegel, in Wahrheit das Chaos: Aber wo die Schlüsse des ganzen Staates von einer Menge abgefasset werden, die niemals die Bewegungen ihres Herzens zu bezäumen, oder zu unterdrücken gelernet hat; welche liebet und hasset, nachdem ihr eine Sache auf dieser oder jener Seite gezeiget wird, und ihren Willen allezeit ihrer Vernunft zuvor kommen läßt; wenn dieser wüste und verwegene Haufen itzo sein ganzes Glück durch einen einzigen Entschluß auf das Spiel setzet, und entweder Ehre und Ruhm, oder das schimpflichste Verderben in wenig Tagen vor Augen sieht; wenn die Zwietracht noch über dieses die Menge getrennet hat, und ihre Leidenschaften so rege sind, daß sie nicht anders, als durch neue Leidenschaften gehemmet werden können; wenn die Richter ungerecht und gewaltthätig sind, und durch Schmäucheleyen für die gute Sache eingenommen, und durch Bitten und Thränen zu ihrer Pflicht gebracht, und durch verhaßte Vorstellungen wider die Laster erst erzürnet werden müssen; wenn alle Gemüther der Wahrheit nicht weiter Beyfall geben, als in so weit sie ihnen süß und angenehm ist; wenn sie erst in Furcht gebracht werden müssen, ehe sie sich aus einer Unwissenheit, die ihnen schädlich ist, reißen lassen wollen: Da dünkt mich, sehe ich die Verwirrung und die Beredsamkeit zugleich auf dem Throne; kurz, ich sehe in den vortheilhaftesten Zeiten für die Beredsamkeit, die verwirrtesten für das gemeine Wesen. 2 0 In dieser Periode 2 1 zeigt sich -
rhetorisch mustergültig -
Schlegels formaler
Gestaltungswille: In mehrgliedrigen, anaphorischen Reihungen baut er einen gedanklichen wie argumentativen Spannungsbogen auf, der schließlich in der
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19
20 21
Tacitus 4 1 , 1 : »Sic quoque quod superest antiquis oratoribus forum non emendatae nec usque ad votum compositae civitatis argumentum est.« J . E. Schlegel ( 1 7 4 1 / 5 4 ) . S. 2 7 7 . Das Wort der allgemeinen »Wohlfahrt« postulierte im Absolutismus das sich am gemeinen Nutzen entwickelte irdische Glück für alle Untertanen. Schlegel ( 1 7 4 1 / 5 4 ) · S. 2 7 7 f . »Unter einer Periode versteht man die Sinneinheit, in welcher die Glieder des Gedankens durch eine formale Gliederung anschaulich gemacht werden: durch die Wiederholung von sprachlichen Strukturen und durch die Wiederholung von klanglichen Elementen, von Lauten, Wörtern oder Wortgruppen«, führt Fuhrmann (1990). S. 20 aus. Vgl. auch Lausberg ( 1 9 7 3 ) . § § 9 2 3 - 9 4 7 (S. 4 5 8 - 4 6 9 ) und seine prägnante Kurzdefinition: »Die Periode [ . . . ] ist die vollkommenste Vereinigung mehrerer Gedanken in einem Satz.« (§ 9 2 3 , S. 4 5 8 )
21
bereits i m T i t e l der R e d e
formulierten
G r u n d t h e s e seinen H ö h e - u n d E n d p u n k t
erfährt. S c h l e g e l s c h l i e ß t freilich diese R e d e w i d e r die R e d e n i c h t , o h n e zuvor noch die seiner M e i n u n g nach positive R h e t o r i k v o n der ausführlich g e s c h i l d e r ten verderblichen zu trennen. Er plädiert für eine leidenschaftslose, dafür u m so rationalistischere R e d e k u n s t , d i e , stilsicher und g e l e h r t , nichts m i t »Geschrey
der Leidenschaften« bei p o l i t i s c h e n
Entscheidungsreden
dem
gemein
habe. 2 2 Dieses Ideal hat S c h l e g e l selbst in seiner A n t r i t t s r e d e , m i t der sich der Z w e i u n d z w a n z i g j ä h r i g e w o h l vor allem bei s e i n e m Lehrer G o t t s c h e d zu b e w ä h ren hatte, u m z u s e t z e n versucht. Er hat diese L o b - u n d Tadelrede als M u s t e r b e i spiel des G e n u s d e m o n s t r a t i v u m k o n z i p i e r t . D i e A b l e h n u n g einer die P o l i t i k b e s t i m m e n d e n B e r e d s a m k e i t m i t A r g u m e n t e n , w i e sie seit der A n t i k e (Piaton, Tacitus) überliefert sind, m ü n d e t in d i e A p o l o g e t i k einer d e u t s c h e n O r a t o r i e , die das a u g e n b l i c k l i c h herrschende S y s t e m s o w i e dessen Repräsentanten sprachu n d f o r m v o l l e n d e t preist. D a s hier von S c h l e g e l e i n d r i n g l i c h a n g e s t i m m t e B e k e n n t n i s für das sich a m moralischen T u g e n d i d e a l orientierende S y s t e m des a u f g e k l ä r t e n A b s o l u t i s m u s w i r d der D i c h t e r f ü n f Jahre später, in der entstandenen u n d v e r ö f f e n t l i c h t e n A l e x a n d r i n e r t r a g ö d i e Canut,
1746
einem dramati-
schen Fürstenspiegel für d e n dänischen K ö n i g Friedrich V., literarisch erneuern u n d b e s t ä t i g e n . 2 3 S c h l e g e l l e g i t i m i e r t i m Canut die absolute Souveränität des K ö n i g s als c o n d i t i o sine q u a non, u m den — nach A n s i c h t H o b b e s -
in der
m e n s c h l i c h e n N a t u r selbst a n g e l e g t e n B ü r g e r k r i e g , das b e l l u m o m n i u m contra o m n e s , zu v e r h i n d e r n . 2 4 B e d r o h t w i r d diese O r d n u n g d u r c h die -
historisch
überholte — anarchisch-kriegerische L e b e n s f o r m des U l f o . S c h l e g e l hat diese
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22
Schlegel (1741/54). S. 282. Trotz der offenkundigen Analogie der gedanklichen Quintessenz von Rede und Drama wird jene in der Schlegel-Forschung kaum beachtet. Georg-Michael Schulz (1980). S. 8 6 — 1 1 6 oder Borchmeyer: Staatsräson (1983) erwähnen sie beispielsweise nicht, obgleich sie in ihren grundlegenden Interpretationen des Canut nicht nur die zeitgenössische Naturrechtsdiskussion im allgemeinen, sondern auch Schlegels eigene staatstheoretische Überlegungen zu diesen Fragen im besonderen berücksichtigen. Wolff (1889/92) ist Schlegels Antrittsrede von 1741 zumindest eine kurze Notiz wert: »interessant ist, wie schon hier die anfänglichen Phrasen des lateinischen Aufsatzstils fortreißender Wärme weichen: dieser Jüngling, Dramatiker überall, giebt eine feurig bewegte Darstellung der Rednerkunst und ihrer Wirkungen.« (S. 62) Diese Problematik thematisiert Schlegel auch in seinem undatierten Dramenfragment Gothrika: »Die Notwendigkeit eines absolut herrschenden Regenten, der freilich seine Willkür im Sinne des aufgeklärten Absolutismus einschränken soll, wird wie im >Canuttua res agitur< die gesamtgesellschaftliche Relevanz des Falles über den minimalen Streitwert hinaus. Physignathus verstärkt daraufhin die moralische Herabsetzung des Gegners und spricht dem Eseltreiber die Berechtigung ab, sich weiterhin als Mitbürger Abderas zu fühlen. Was dem Leser als Nobilitierung erscheint, bedeutet in der konkreten Situation, auf einem von Abderiten bevölkerten Marktplatz, ein Höchstmaß an Erniedrigung. Korrespondierend und kontrastierend zu dieser Schmährede malt Physignathus nun die Ehrbarkeit seines Klienten in den leuchtendsten Farben aus und appelliert an die Zuhörer, sich einfühlend in die Lage des Zahnarztes zu versetzen. Die Strategie, die der Sykophant hier verfolgt, ist betont emotionaler Natur. Er räumt dem Movere einen höheren Stellenwert ein als dem Docere, vergißt dabei aber nicht, dem in der antiken Rhetorik aufgestellten Postulat der Stilmischung Rechnung zu tragen. D e m entsprechend schildert er auch den Fall. Mit einer Relation, einer objektiven Sachverhaltsdarstellung, haben seine wertenden und suggestiven Ausführungen in der N a r r a d o wenig gemein. Die Erzählung des Falles, das hat etwa auch Cicero deutlich gemacht, 5 7 bildet das Zentrum der Gerichtsrede. Hier gilt es besonders die richtige Mischung aus sachlicher Uberzeugung und affektiver Überredung zu finden, um entscheidende Sympathiepunkte bei den Richtern zu sammeln. In einem stark metaphorischen, von Hyperbeln und Ellipsen geprägten Vortrag beschreibt Physignathus spannungsreich den Hergang der Ereignisse auf polarisierende Weise. Drastisch stilisiert er den menschenfreundlichen Zahnarzt, dessen Beruf er wohlwollend periphrasiert, zu einem unschuldigen Opfer der Willkür eines gewissenlosen Eseltreibers. Das verwendete Präsens sorgt zusätzlich für lebendige Unmittelbarkeit; die direkte Anrede der Zuhörer gegen Ende suggeriert zudem allgemeines Einverständnis mit dem Gesagten:
56 57
V g l . dazu etwa Quint. 4 , 1 , 3 3 . Cicero: De oratore 2 , 3 3 0 : »omnis orationis reliquae fons est narratio.«
49
Er reiset in seinen Geschäften, in Geschäften seiner edeln Kunst, die es bloß mit Vermindrung der Leiden seiner Nebenmenschen zu tun hat, von Abdera nach Gerania. Der Tag ist einer der schwülsten Sommettage. Die strengste Sonnenhitze scheint den ganzen Horizont in den hohlen Bauch eines glühenden Backofens verwandelt zu haben. Kein Wölkchen, das ihre sengende Strahlen dämpfe! Kein wehendes Lüftchen, den verlechzten Wandrer anzufrischen. Die Sonne flammt über seinem Scheitel [und], saugt das Blut aus seinen Adern, das Mark aus seinen Knochen. Lechzend, die dürre Zung' am Gaumen, mit trüben, von Hitze und Glanz erblindenden Augen, sieht er sich nach einem Schattenplatz, nach irgend einem einzelnen mitleidigen Baum um, unter dessen Schirm er sich erholen, er einen Mund voll frischerer Luft einatmen, einen Augenblick vor den glühenden Pfeilen des unerbittlichen Apollo sicher sein könnte. Umsonst! Ihr kennet alle die Gegend von Abdera nach Gerania. Zwei Stunden lang, zur Schande des ganzen Thraciens sei es gesagt! kein Baum, keine Staude, die das Auge des Wandrers in dieser abscheulichen Fläche von magern Brach- und Kornfeldern erfrischen, oder ihm gegen die mittägliche Sonne Zuflucht geben könnte! (W, 37 if·) M i t entsprechend hyperbolischen W e n d u n g e n führt Physignathus seine Angriffe g e g e n das seiner (Berufs)Meinung nach engherzige Verhalten des Eseltreibers Anthrax weiter aus. I m ganzen gesehen, bevorzugt er ein deduktives A r g u mentationsverfahren: A l l g e m e i n anerkannte Werte bilden die Matrix für den konkreten Fall. Bei einem induktiven Verfahren d a g e g e n werden a l l g e m e i n e Werte aus d e m besonderen Fall abgeleitet. Der konzeptionelle Kern der Redestrategie des Physignathus besteht darin, den an sich belanglosen zivilrechtlichen Fall zu einer Staatsaffäre hochzuspielen. Der harmlos g e s c h ä f t s t ü c h t i g e Eseltreiber Anthrax erscheint in der Z e i c h n u n g des gegnerischen Anwalts als catilinarischer Verschwörer, d e m nichts heilig sei und der daher den inneren Z u s a m m e n h a l t des Gemeinwesens gefährde. Diese maßlose Ü b e r t r e i b u n g desavouiert freilich in den A u g e n des Lesers weniger den Anwalt, d e m es nur u m seinen persönlichen Vorteil zu tun ist, als vielmehr vor allem das anwesende Volk, das ein derart unangemessenes Vorgehen nicht nur widerspruchslos h i n n i m m t , sondern diesem sogar Beifall spendet. U n d so m u ß Physignathus auch keinerlei Bedenken tragen, alle Möglichkeiten affektiver Beeinflussung auszuschöpfen. Seinen Invektiven auf Anthrax verleiht er etwa durch eine persönliche, anklagende Anrede eine neue D i m e n s i o n . In eine rhetorische Frage gekleidet, wirft er ihm und auch seinem Anwalt vor, die fehlende Legitimation ihres Ansinnens m i t unehrenhaften Mitteln kaschieren zu wollen, beschreibt d a m i t aber auch — unfreiwillig - seine eigenen Methoden: Und glaubst du, oder glaubt der scharfsinnige und beredte Sachwalter, in dessen Hände du die schlimmste Sache, die jemals vor ein Götter- oder Menschengericht gekommen, gestellt hast, glaubt er, mit aller Zauberei seiner Beredsamkeit, oder mit allem Spinngewebe sophistischer Trugschlüsse unsern Verstand dergestalt zu überwältigen und zu umspinnen, daß wir uns überreden lassen sollten, einen Schatten für etwas Wirkliches, geschweige für etwas, an welches jemand ein directes und ausschließendes Recht haben könne, zu halten? (W, 373) 5°
Diese rhetorikimmanente Kritik im Sinne einer rhetorica contra rhetoricam fällt letztlich in gleichem Maß auf den zurück, der sie ausgesprochen hat, verfolgt Physignathus doch eine identische rhetorische Strategie. Mit seinen maßlosen Übertreibungen zum Beispiel (»die schlimmste Sache, die jemals vor ein Götter- oder Menschengericht gekommen«) setzt er Mittel ein, die er bei der Gegenseite aus vorgeblich moralischen und ethischen Gründen diskreditiert. Anschließend versucht Physignathus in seiner Beweisführung die Zuhörer davon zu überzeugen, daß der Schatten, den ein Esel spendet, nichts Eigenständiges darstelle. Die zum Teil haarsträubenden Syllogismen, mit denen er sein Plädoyer untermauert, bestätigen nachdrücklich den Vorwurf »sophistischer Trugschlüsse« (W, 373), den er freilich, in einer für einen Abderiten typisch selbstgerechten Weise, ausschließlich gegenüber der gegnerischen Partei des Eseltreibers erhoben hat. Mit einer Beschwörung des »allgemeinen Menschensinn[s]« (W, 375), in Form von interrogationes, beschließt Physignathus die Narrano und Argumentado seiner Rede. Eine emotionale Ermahnung des Gerichts steht dann am Beginn der Perorado: Lasset, Edle und Großmögende Vierhundertmänner, lasset nicht von Abdera gesagt werden, daß ein solcher Mutwille, ein solcher Frevel, vor einem Gericht, vor welchem (wie vor jenem berühmten zu Athen) Götter selbst nicht erröten würden, ihre Streitigkeiten entscheiden zu lassen, Schutz gefunden habe! (W, 3 7 5 )
Nicht nur materielle Entschädigung klagt Physignathus für seinen Mandanten ein, sondern auch »Genugtuung« (W, 3 7 5 ) für ihn und darüber hinaus für das Gericht sowie für die gesamte Stadtrepublik. Damit erinnert er gegen Ende seiner Rede die Zuhörer und vor allem die Richter an die bereits eingangs betonte staatspolitische Dimension des Falles. Dieses Postulat verstärkt er affektiv mit sechs ellipsenartigen Aufrufen, die das Verlangen nach »Genugtuung« jeweils anaphorisch aufgreifen. Dieser pathetische Ausklang verdeutlicht noch einmal und nachdrücklich die genuine Hybris des gesamten Unternehmens. Ein Fall, der nicht der Rede wert ist, wird verhandelt, als ob das gesamte Gemeinwesen bedroht sei. Dieser Gedanke erinnert, in parodierender Weise, an die neuzeitliche, beispielsweise von Vico 1 7 0 8 formulierte rechtsphilosophische Uberzeugung, daß das staatliche Recht über dem privaten Recht stehen müsse — »cum máximo reipublicae bono«.' 8 Die Ausführungen des Physignathus entbehren freilich nicht einer gewissen Konsequenz. Läßt man die genuine Unerheblichkeit des Streitwertes sowie den Aberwitz des Gegenstandes an sich außer Betracht, argumentiert Physignathus, manch haarsträubendem Syllogismus zum Trotz, in sich schlüssig. Die Tugenden einer Sachverhaltsdarstellung, nämlich Kürze (narrado brevis), Klarheit (narrado aperta) und Glaubwürdig-
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Vico ( 1 7 0 8 / 1 9 4 7 / 8 4 ) . S. 1 3 0 .
SI
keit (narratici probabilis), hat er in seiner Rede - grosso modo -
überzeugend
umgesetzt. Der Fall scheint damit vorzeitig abgeschlossen werden zu können, zumal auch das umstehende Volk dem Redner seine Zustimmung nicht verweigert. In der Rhetorik wurde seit jeher die erzielte Wirkung als alleiniger Zweck einer Rede betrachtet. Diese Auffassung teilte auch Wieland. In jungen Jahren, 1 7 5 7 , hat er sich in seiner Theorie und Geschichte der Red-Kunst und
Dicht-Kunst,
einer Schülernachschrift nach Wielands Diktat, bereits zu dieser Thematik geäußert: Eine Rede ist vollkommen, wenn sie in allen ihren Theilen so beschaffen ist, daß der Endzweck, der in der Überredung und Rührung der Zuhörer besteht, dadurch im höchsten Grad, der möglich ist, erreicht werden kann. 5 9
In Abdera kann man jedoch nicht von der Zustimmung des Volkes auf die Vollkommenheit einer Rede schließen, liegt es doch in der Eigenart dieser Menschen, immer dem zuzujubeln, der als letzter gesprochen hat. Darüber hinaus entspräche es nicht den herrschenden Gepflogenheiten in Abdera, daß ein unsinniger Fall mit einem einigermaßen sinnvollen Richterspruch zu Ende gebracht werden könnte. Die Verhandlung wird dann auch noch weitergeführt. Zunächst ergreift der Anwalt des Eseltreibers, Polyphonus, mit seiner »Baßstimme« (W, 3 7 7 ) das Wort. Z u Beginn verbindet er das übliche Lob der Richter mit einer Verurteilung der rhetorischen Strategie des Physignathus, der sich selbst zuvor über die Argumentationsweise der Gegenseite beklagt hat: Wahrheit und Licht haben das vor allen andern Dingen in der Welt voraus, daß sie keiner fremden Hülfe bedürfen, um gesehen zu werden. Ich überlasse meinem Gegenpart willig alle Vorteile, die er von seinen Rednerkünsten zu ziehen vermeint hat. D e m , der Unrecht hat, kommt es zu, durch Figuren und Wendungen, und Fechterstreiche, und das ganze Gaukelspiel der Schulrhetorik Kindern und Narren einen Dunst vor die Augen zu machen. Gescheute Leute lassen sich nicht dadurch blenden.
(W, 377) Diese Kritik richtet sich in erster Linie gegen den Stil der vorherigen Anwaltsrede. Die geradezu exzessive Verwendung rhetorisch-affektiver Mittel, so lautet der Vorwurf des Polyphonus, ist dem zu verhandelnden Gegenstand in keiner Weise angemessen; im Sinne des rechten res-verba-Verhältnisses fehle ihr gleichsam die inhaltliche Adäquanz. Er selbst spricht denn auch deutlich nüchterner als sein Vorredner und verzichtet weitgehend auf rhetorische Ausschmükkungen. Vor allem argumentiert er aber auf einer anderen Ebene als Struthions Advokat. Er erörtert weniger die Rechtsfrage, sondern versucht vielmehr den tieferen Sinn der Auseinandersetzung, so wie er ihn sieht, zu ergründen. Während Physignathus die Narratio ausgesprochen emotional gestaltet hat, beschränkt sich Polyphonus auf eine eher sachliche Rekapitulation des Sachver59
52
Wieland ( 1 9 1 6 / 1 9 8 6 ) . S. 3 0 7 .
halts. Bereits die Verwendung des Präteritums, im Unterschied zum Präsens, das sein Vorredner gewählt hat, signalisiert den Willen des Polyphonus, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Seine Rede ist auch im ganzen deutlich kürzer als die des Physignathus. Trotz aller rednerischen Schmucklosigkeit verzichtet Polyphonus nicht darauf, seine Narratio grundsätzlich wertend, tendenziös auszurichten. Das ist auch durchaus legitim, handelt es sich doch bei seinem Vortrag um keine Species facti, sondern um ein Plädoyer. Dieses fällt freilich ebenso eigenwillig wie ungewöhnlich aus. Polyphonus bestreitet nämlich die juristische Aussichtslosigkeit der Geldforderung gar nicht, er räumt vielmehr zur Überraschung aller ein, daß es sich bei dem Ansinnen seines Mandanten Anthrax um »eine alberne und eselhafte Wendung« (W, 3 7 8 ) gehandelt habe. Dieses problematische Verhalten des Eseltreibers versucht er mit dessen einfacher Herkunft zu erklären. Von der persönlichen Disposition des Anthrax hat bereits Physignathus gesprochen, jedoch keineswegs in der Absicht, damit dessen rüpelhaftes Betragen zu entschuldigen - im Gegenteil. Anthrax, so der Anwalt des Zahnarztes, sei »ein Mensch aus den dicksten Hefen des Pöbels, ein Mensch, von dessen Geburt, Erziehung und Lebensart nichts bessere zu erwarten war«. (W, 3 7 1 ) Mit dieser Bemerkung versucht Physignathus den Eseltreiber zusätzlich zu belasten. Polyphonus dagegen will mit dem Hinweis, Anthrax sei, »weil er unter lauter Eseln aufgekommen ist«, »selbst nicht viel besser als ein Esel« (W, 378), um Verständnis für das eigenartige Betragen seines Mandanten werben. Aus ein und demselben Argument werden so die unterschiedlichsten Schlußfolgerungen gezogen. Polyphonus will nun die Richter davon überzeugen, daß Anthrax nicht aus niederen Motiven gehandelt habe. Aufgrund seines doch recht beschränkten Gesichtskreises habe er sich lediglich, so das entscheidende Argument des Sykophanten, einen »Spaß« (W, 3 7 8 ) erlauben wollen. Damit geht der Vorwurf der Halsstarrigkeit einher, den Polyphonus polemisch in Form einer interrogano gegenüber Struthion erhebt: »Aber in welche Classe von Tieren sollen wir den setzen, der aus einem solchen Spaß Ernst machte?« (W, 378) Diese Scheinfrage markiert die Wende des Prozesses. Ohne auf die Ausführungen der Gegenseite einzugehen, verlagert Polyphonus den Fall auf eine ganz andere Ebene. Den Anwalt des Eseltreibers beschäftigt einzig und allein die Frage nach dem Verhalten eines Menschen im Spannungsfeld seiner jeweiligen Bedingungen und Möglichkeiten und nicht ein konkreter juristischer Sachverhalt. Der von seinen Voraussetzungen her grundsätzlich einsichtsvollere Zahnarzt hätte, so die These des Polyphonus, die damalige Situation souveräner bewältigen müssen. Psychologisch geschickt legt er dem Zahnarzt eine mögliche mustergültige Antwort auf die Geldforderung des Anthrax in den Mund. Ein ideal reagierender, charakterstarker Struthion wäre auf eine gütliche Einigung bedacht gewesen und hätte dem Eseltreiber für den erlittenen Zeitverlust »eine halbe Drachme« (W, 379) Entschädigung bezahlt. Angesichts dieses fik-
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tiven, innerlich ausgeglichenen, menschenfreundlichen und fürsorglichen Struthion verliert der wahre Struthion, der unter allen Umständen vor Gericht einen für ihn unbedeutenden Geldbetrag erstreiten will, mit einem Schlag entscheidend an moralischer Reputation, ganz unabhängig von der rechtlichen Legitimation seines Ersuchens. Der abderitischen Eigenart gemäß tritt das Richterkollegium der Vierhundert nahezu geschlossen in das Lager des letzten Redners über und zeigt sich urplötzlich darüber verwundert, »daß eine so simple Sache zu solchen Weitläuftigkeiten getrieben worden sei« (W, 3 8 1 ) . N u n meldet sich aber erneut Physignathus zu Wort. Mit polemisch gestellten rhetorischen Fragen mahnt er die Rückkehr zur eigentlichen Rechtsfrage an und kritisiert die Strategie seines Widersachers als Ablenkungsmanöver. Darauf hat Polyphonus nichts Neues zu entgegnen, wie er selbst einräumt: »Nichts - als Alles von Wort zu Wort, was ich schon gesagt habe.« (W, 383) Eine variatio erfolgt allein auf metaphorischer Ebene, die der Kernaussage Nachdruck verleihen soll: »Man sollte denken, ein böser Wind habe uns alle angeblasen, und es sei nicht so ganz richtig mit uns gewesen, als wohl zu wünschen wäre.« (W, 3 8 3 ) Schließlich bestreitet er sogar noch die Voraussetzungen des Verfahrens selbst, indem er es als »Komödie« (W, 383), die keine ausführlichere Rede verdiene, abqualifiziert. Diesen Gedanken werden die Abderiten später konkret aufnehmen und wirklich eine Komödie über diesen Fall in Szene setzen. Spiel und Wirklichkeit sind in dieser Welt nicht voneinander geschieden, die Abderiten benötigen für ihre Possen freilich gar keine eigene Bühne. Abdera selbst ist das Theater, auf dem ständig und unfreiwillig Komödien über menschliche Unzulänglichkeiten gegeben werden. Entsprechend possenhaft-grotesk gestaltet sich dann auch das Ende des Prozesses. Als der Esel, gleichsam das Corpus delicti, auf den Marktplatz geführt wird, reißt ihn die durch die Gerichtsreden vollends verwirrte und daher aufgebrachte Volksmenge »in tausend Stücke« — »Bei einigen ging die Wut so weit, daß sie ihren Anteil auf der Stelle roh und blutig auffraßen [ · . . ] « (W, 385). Nachdem sich die Abderiten auf diese Weise selbst wieder zur Ruhe gebracht haben, wird der Fall sogleich ad acta gelegt. Die Kosten des Verfahrens trägt die Stadtrepublik, beiden Parteien wird »ewiges Stillschweigen auferlegt« (W, 386) und dem Esel ein Denkmal errichtet. Wieland selbst hat, wie bereits angedeutet, Abdera nicht gänzlich im geschichtsfreien Raum ansiedeln wollen, auch wenn die geschilderten menschlichen Schwächen durchaus überzeitlicher Natur sind. Für den »Proceß um des Esels Schatten« dürften jedenfalls Wielands Erfahrungen mit der freien Reichsstadt Biberach Pate gestanden haben. 60 Der groteske Witz in diesem vierten Buch resultiert aber doch primär aus Wielands schneidender Auseinandersetzung mit rhetorischen Überwältigungsstrategien, denen ein unaufgeklärtes 60
54
Diese These vertritt Martini ( 1 9 6 3 / 8 1 ) . S. 1 5 9 .
Volk hilflos ausgeliefert ist. Dieser Stoff inspirierte in der Nachfolge Wielands dann auch andere Autoren. Die konkrete Verlagerung der Geschichte in die deutsche Provinz hat beispielsweise 1 8 1 0 August von Kotzebue in seiner Posse Des Esels Schatten oder der Prozeß in Krähwinkel vorgenommen. Den offenkundigen Bekanntheitsgrad seiner Quelle belegt eine Anmerkung Kotzebues auf dem Titelblatt: »Ich brauche wohl Niemanden zu sagen, daß der Stoff zu dieser Posse aus Wielands Abderiten entlehnt ist.« 6 ' Wie bei Wieland tragen auch die deutschen Anwälte bei Kotzebue sprechende Namen: Lungenheld und Hinterfuß. Der Prozeß, der, wie in Abdera, die Gemüter der Einwohner in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß erhitzt, findet freilich im Unterschied zu Wielands antiker Stadtrepublik nicht in der Öffentlichkeit »unter freyem Himmel« 6 2 statt, sondern — wie gewöhnlich — im Rathaus vor einem exklusiv beschränkten Publikum. Die Stadtoberen wollen mit dieser Maßnahme einen möglichen Aufruhr, wie er in Abdera ja auch ausgelöst wird, verhindern. Die Verhandlung selbst reichert Kotzebue noch mit allerlei Intrigen, Bestechungsversuchen und Liebeshändeln an. Der Anwalt des Eseltreibers, Hinterfuß, beispielsweise will die Tochter des Zahnarztes heiraten; und so versichert er ihr nachdrücklich, daß er diesen Prozeß gegen ihren Vater nur deshalb führe, um auf sich aufmerksam zu machen: Mein Gott, wäre Ihr Vater zuerst zu m i r gekommen, ich würde ja lieber s e i n e n Prozeß, als den des verdammten Eseltreibers geführt haben. Uns Advocaten gilt es gleichviel, ob wir pro oder contra sprechen, wenn wir nur sprechen dürfen. 6 '
Den deutschen Advokaten fehlt wie den abderitischen Sykophanten jegliche innere Überzeugung, sie handeln unter ausschließlich eigennützigen Gesichtspunkten, sind maßlos geschwätzig und übernehmen gewissenlos jeden Fall, wenn sie sich nur dabei einen persönlichen Vorteil versprechen können. Unter derartigen Umständen kann ein Prozeß nur als Posse über die Bühne gehen. Auch für Krähwinkel gilt die Erkenntnis, die bereits hinsichtlich Abdera getroffen worden ist: »die Narren triumphiren ja täglich über die gescheidten Leute [ . . . ] « 6 4 61
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Kotzebue ( 1 8 1 0 ) . S. 1 7 1 . Z u Kotzebues Theaterauffassung und seiner Bevorzugung des Unterhaltungsideals gegenüber dem Bildungsideal vgl. Doris Maurer ( 1 9 7 9 ) . Bes. S. 3 5 - 4 8 . Kotzebue ( 1 8 1 0 ) . S. 1 7 5 . Ebd., S. 1 7 7 . Die Worte »pro« und »contra« sind in lateinischer Antiqua gedruckt, der übrige Text in deutscher Fraktur. Ebd., S. i 8 o f . A u f ein Rezeptionsphänomen besonderer Art stößt man im sechzehnten J a h r g a n g der »Juristenzeitung« ( 1 9 6 1 ) . Unter dem vielsagenden Titel Des Esels Schatten. Ein Beitrag zur Studienreform schildert der Gerichtsassessor Egon Schneider seine Erlebnisse mit fünf Rechtsreferendaren, denen er Wielands Fall zur Entscheidung vorgelegt hat. Doch anstelle des von ihm erwarteten »homerische[n] Gelächter[s] « (S. 2 1 2 ) setzten sich die jungen Juristen ernsthaft mit der Sachlage auseinander und blätterten eifrig nach entsprechenden Paragraphen des B G B . Schneiders Unverständ-
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D i e G e r i c h t s r e d e n in A b d e r a , u m a u f W i e l a n d z u r ü c k z u k o m m e n ,
weisen
eine rhetorisch-stilistische H ö h e auf, die d e m u n b e d e u t e n d e n S t r e i t w e r t n i c h t angemessen i s t . 6 5 Ja, der g e s a m t e P r o z e ß steht in f u n d a m e n t a l e m W i d e r s p r u c h zu d e m in der R h e t o r i k so zentralen a p t u m - P o s t u l a t . D a s I n t e g r a t i o n s p r i n z i p » a p t u m « verkörpert einen W e r t b e r e i c h z w i s c h e n E t h i k u n d Ä s t h e t i k . Es stellt ein praktisches P r i n z i p l e b e n s w e l t g e r e c h t e n H a n d e l n s ü b e r h a u p t dar, w o r a u f C i c e r o in seinem Orator hinweist: »semperque in o m n i parte orationis u t v i t a e , q u i d deceat, est c o n s i d e r a n d u m [ . . . ] « 6 6 A n g e m e s s e n , so bereits A r i s t o t e l e s , sei eine sprachliche F o r m u l i e r u n g dann, » w e n n sie A f f e k t u n d C h a r a k t e r a u s d r ü c k t u n d in der rechten R e l a t i o n z u d e m z u g r u n d e l i e g e n d e n Sachverhalt s t e h t « . 6 7 E n t s p r e c h e n d fordert auch C i c e r o , ein R e d n e r müsse »ad rerum d i g n i t a t e m apte et quasi decore« sprechen. 6 8 G e n a u diese E i g e n s c h a f t g e h t d e n abderitischen G e r i c h t s r e d e n ab. A u s der U n a n g e m e s s e n h e i t v o n R e d e g e g e n s t a n d u n d R e d e weise, v o n res u n d verba, resultiert n i c h t z u l e t z t die K o m i k des Prozesses. D i e s e Persiflage a u f G e r i c h t s r e d e n ist freilich k e i n hinreichender G r u n d ,
Wieland
eine g e n u i n e R h e t o r i k f e i n d l i c h k e i t zu unterstellen. Z u n ä c h s t m o n i e r t er in sein e m A b d e r i t e n r o m a n nur einen inadäquaten G e b r a u c h v o n R h e t o r i k . W i e alle G e b i l d e t e n seiner Z e i t hatte W i e l a n d R h e t o r i k u n t e r r i c h t genossen. Z u m i n d e s t
nis, »daß Juristen mit abgeschlossener Hochschulausbildung derartige Fälle nicht als Witzübungen, sondern als geziemenden Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung betrachteten« (S. 213), löste im selben Jahrgang der Zeitschrift wiederum eine kontroverse Diskussion aus, in der Schneider von einigen Fachkollegen zum Teil scharf angegriffen und Wielands abstruse Konstruktion erneut erörtert wurde. (S. 484—486) Unter anderem wird hier etwa ausgeführt: »Da eines Esels Schatten sicherlich nicht ausdrücklich in einer Rechtsordnung erwähnt wird, bedarf es gerade der begrifflichen Klärung, ob er doch zu finden ist: ob er rechtsfrei oder Gegenstand von Rechten ist.« (S. 484) Selbst entfernt vergleichbare Fälle, die sich wirklich ereignet haben, werden herangezogen, um so die prinzipielle Relevanz einer auch noch so absurd anmutenden gerichtlichen Auseinandersetzung zu illustrieren. Wieland scheint also - und das spricht ohne Zweifel für die literarische Qualität seines Romans — mit seinem kuriosen Fall den bundesrepublikanischen Rechtsalltag antizipiert zu haben. 65 66
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Tschapke (1990) spricht daher von einer »Rhetorikpersiflage«. (S. 154) Cicero: Orator 2 1 , 7 1 . Zur Angemessenheit vgl. den entsprechenden Artikel von Bernhard Asmuth im 1. Bd. des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik (1992). Sp. 579—604; Ueding/Steinbrink (1994). S. 2 1 6 - 2 2 1 oder Göttert (1991). S. 6 5 - 6 7 . Arist. 1408a (7,1). Cicero: De oratore 1,144. Über eine unpassende Redeweise, wie sie ja auch in Abdera vorherrscht, äußert sich Cicero folgendermaßen: »quam enim indecorum est, de stillicidiis cum apud unum iudicem dicas, amplissimis verbis et locis uti communibus, de maiestate populi Romani summisse et subtiliter!« (Orator 21,72) Ein idealer Redner, so Cicero weiter, könne das Gewöhnliche einfach, das Erhabene großartig und das in der Mitte Liegende in rechter Mischung ausdrücken (»et humilia subtiliter et magna graviter et mediocria temperate«; 29,100). Diese Gedanken faßt Quintilian in der These zusammen: »Iam enim tempus est dicendi, quae sit apta pronuntiatio: quae certe ea est, quae his, de quibus dicimus, adcommodatur.« (11,3,61)
in jungen Jahren äußerte er sich zudem in einem uneingeschränkt positiven, ja geradezu schwärmerischen Ton über die Möglichkeiten der Beredsamkeit. In einem Brief an Daniel Stapfer vom 1 4 . 2 . 1 7 5 6 preist der 22jährige Wieland hymnisch die »Kunst des Redners [...], die ich wegen ihrer Gewalt über die Hertzen und wegen des Gebrauchs den die Lehrer der Wahrheit von ihr machen können, für die schönste und beste aller Künste halte«. 69 Den Nutzen der Beredsamkeit begründet der junge Wieland mit dem Hinweis, daß die Rede aus dem alltäglichen Leben der Menschen gar nicht wegzudenken sei. 7 ° Mit der Tradition der Rhetorik brach Wieland auch in späteren Jahren nicht. Die Wirkungsmacht der Beredsamkeit demonstriert etwa auch Agathon, der das antike Ideal des vollkommenen Redners, des orator perfectus, personifiziert. 71 In Wielands dichterischem Konzept spielten rhetorische Lehrsätze, wie etwa das Postulat der Verständlichkeit, immer eine wesentliche Rolle. Das diskreditierte ihn freilich in den Augen zahlreicher Romantiker als Dichter. 72 Im vierten Buch der Geschichte der Abderiten erteilt Wieland der Rhetorik und Beredsamkeit also keine generelle Absage. Als Anhänger des rhetorischen Ethos-Ideals wußte er sehr wohl zwischen positiver und negativer Beredsamkeit zu differenzieren. Im Unterschied aber zu seinen oben angeführten frühen Äußerungen zur Rhetorik scheint er im Laufe der Jahre den Glauben an den genuinen Sieg der Wahrheit, der rhetorische Manipulationsversuche a priori sinnlos, ja kontraproduktiv machen würde, verloren zu haben. Im 18. Jahrhundert wurde die optimistische Überzeugung, eine Rhetorik des bloßen Scheins und der bewußten Täuschung entlarve sich letztlich selbst, zur Legitimation der Beredsamkeit häufig ins Feld geführt. Hugh Blair beispielsweise verband seine Kritik an einer rein phrasenhaften Beredsamkeit mit der Zuversicht, daß im aufgeklärten Diskurs die Wahrheit obsiegen werde: Man bediente sich der Reize des Vortrags, um den Mangel der Gedanken zu verkleiden oder zu ersetzen, und war mehr bedacht, das vorübergehende Lob der unwissenden Menge, als den dauernden Beyfall aufgeklärter Richter zu gewinnen. Aber Täuschung dieser Art kann sich nie lange behaupten. Kenntniß und Wissenschaft muß den Stoff liefern, welcher gleichsam den Körper und das Wesen eines jeden schäzbaren Geisteswerkes ausmacht. Die Rhetorik dient nur, dem Ganzen eine gewisse Glätte zu geben; und wer weiß nicht, daß nur dauerhafte und feste Körper einer schönen Politur fähig sind.7'
Ahnlich geringe Erfolgsaussichten räumte der Freiherr von Knigge dem »Zauber einer trügerischen Rednerkunst« ein: »Es hiesse auch sehr geringschätzig 69
Wielands Briefwechsel ( 1 9 6 3 ) . S. 2 5 2 . Wieland ( 1 7 5 7 / 1 9 1 6 / 8 6 ) . S. 3 0 5 . 7 ' Meuthen ( 1 9 9 4 ) interpretiert Agathons Selbstgespräche als subjektive Wendung der 70
Rhetorik. (S. 3 5 - 7 8 ) So Tschapke ( 1 9 9 0 ) . S. 1 1 0 . " Blair i . T h e i l ( 1 7 8 5 ) . S. 8. 72
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von seinen Zeitgenossen denken, wenn man annehmen wollte, sie seyen geneigter, der Thorheit, wie der Weisheit das Ohr zu leyhn [.. .]« 7 4 Wieland dagegen beurteilte seine (abderitischen) Zeitgenossen weit weniger wohlwollend als Blair oder Knigge. Die Abderiten leihen in der Tat lieber der Torheit als der Weisheit ihr Ohr. Daher zeigen sie sich auch anfällig für die Gefahren manipulativer Beredsamkeit. Die abderitischen Sykophanten sind ebenso gewissenlose wie durchtriebene Schwätzer, die einem unaufgeklärten Volk selbst unsinnigste Meinungen nahebringen können. Ein aufgeklärtes, kritisch räsonierendes Volk dagegen würde die rhetorischen Strategien der Sykophanten als Überredungsversuche durchschauen und verurteilen. In Wielands Roman entpuppt sich die Rhetorik als Mittel und Medium der Antiaufklärung. 7 5 Dabei geht es dem Dichter keineswegs primär um die Problematik einer Gerichtsrede. Eine öffentliche und mündliche Gerichtsverhandlung war ja im Deutschland seiner Zeit ohnehin nicht in Sicht. Mittels Verfremdung thematisiert Wieland vielmehr in satirischer Weise sein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber dem Demos. Gerade bürgerliche Oberschichten bezweifelten oft generell die Vernunftfähigkeit unterer sozialer Schichten. Der Pöbel werde vielmehr, so die vorherrschende Meinung, durch eine nur allzu große Neigung zum affektbestimmten Handeln geleitet und sei zudem durch den äußeren Schein leicht verführbar. 7 6 Dieses Mißtrauen, das im Rahmen dieser Untersuchung noch öfters anzusprechen sein wird, sollte sich in Folge der Erfahrungen mit der Französischen Revolution noch verstärken. Es prägte wohl nicht nur eine Generation deutscher Gelehrter und Politiker. Wieland selbst hat in seinen Schriften zur Französischen Revolution Volkserhebungen, wie in Frankreich geschehen, als urwüchsige, zerstörerische Anarchie gebrandmarkt. 7 7 Einen gesellschaftlichen Reformprozeß konnte und wollte er sich nur als herrscherlichen Erziehungsvorgang vorstellen. Dagegen attestierte etwa Blair auch dem »gemeine[n] Volk« eine grundsätzliche Kompetenz zur kritischen Beurteilung von Reden. 7 8 Daher, so Blair an einer anderen Stelle seiner Rhetorikvorlesungen, müsse jeder seine »Beweisgründe« sorgfältig auswählen, denn:
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K n i g g e ( 1 7 9 3 ) . S. 70. Das ambivalente Spannungsverhältnis zwischen Aufklärung und einem Gerichtsprozeß ist auch das Thema von Kleists Drama Der zerbrochne Krug. In diesem an sich tragischen »Lustspiel« scheitert der Prozeß als Aufklärung ebenso wie die Aufklärung als Prozeß. Diese radikal-skeptische Weltsicht entsprang einer fundamentalen Krisenerfahrung der Moderne. Ähnlich wie Wielands Sykophanten erweist sich zudem auch der Repräsentant des althergebrachten Ständestaats, der Dorfrichter Adam, als korrupt. Vgl. dazu etwa Gestrich (1994). S. 114t. Vgl. dazu Weyergraf ( 1 9 7 2 ) . Blair 2. Theil (1786). S. 309.
Man glaube ja nicht, daß sich die Menschen durch leere Redekünste täuschen lassen. Das leztere ist bey weitem nicht so oft der Fall, als manche Volksredner sich einzubilden scheinen. Gesunder Verstand, und selbst Scharfsicht, findet sich unter allen Ständen; und der Redner kann bisweilen wegen seines schönen Vortrags gerühmt werden, und die Zuhörer dennoch von der Wahrheit alles dessen, was er behauptet hat, ohne Uiberzeugung bleiben. 7 9
Prinzipielle Einsichtskraft meinte der skeptische Wieland einem Volk in toto nicht zusprechen zu können. Wären die Abderiten mit regem Verstand und kritischer Vernunft begabt, würden die geschwätzigen Sykophanten zwangsläufig ihre dominante Stellung in der Gesellschaft verlieren oder sie müßten ihr Vorgehen ändern und mit mehr Wahrhaftigkeit argumentieren, also, kurz gesagt, überzeugen statt überreden. Ein derart (frühaufklärerisch) optimistisches Menschenbild läßt sich freilich mit Wielands Weltverständnis, wie es sich in der Geschichte der Abderiten auf satirische Weise offenbart, nicht mehr vereinbaren. Ähnlich wie er läßt auch Goethe in seinem Versepos Reineke Fuchs einfältige Menschen einem geschickten Redner zum Opfer fallen.
3 . 1 . 3 Goethe: Reineke Fuchs In De officiis entfaltet Cicero Grundgedanken einer praktischen Ethik, indem er eine Kongruenz von Nützlichem und Sittlichem, von utile und honestum postuliert. 80 Alles Sittliche, so die optimistische Überzeugung, erweise sich letztlich immer als das allein Nützliche. Dieses Prinzip soll auch die Rhetorik prägen, wie das Ideal eines vir bonus dicendi peritus bezeugt. Der orator perfectus ist nach Cicero und Quintilian zugleich ein vir sapiens und ein vir bonus. Die rhetorische Wirklichkeit desavouierte jedoch nur allzuoft diesen hehren Anspruch. Das Bemühen, sich oder einem Mandanten einen Vorteil zu verschaffen, mißachtet nicht selten jede Vorstellung von Sittlichkeit. Darauf haben die Kritiker einer wirkungsorientierten Beredsamkeit seit der Antike aufmerksam gemacht. Auch Christian Garve, erfolgreicher Übersetzer und eigenständigkritischer Kommentator von De officiis, mochte sich mit dieser postulierten Kongruenz nicht zufriedengeben. Er beschrieb vielmehr das Verhältnis von honestum, dem gesinnungsorientiert Tugendhaften, und utile, dem wirkungsorientiert Nützlichen, als dominant konfliktbeladen, drücke doch das überlegene Prinzip des Tugendhaften »die Beziehung auf geistige Vollkommenheit
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Blair 3. Theil ( 1 7 8 8 ) . S. 94. Bereits Cicero hat optimistisch die Meinung vertreten: »quod enim probat multitudo, hoc idem doctis probandum est.« (Brutus 5 0 , 1 8 8 )
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» [ . . . ] quamquam et a veteribus Academicis et a Peripateticis vestris, qui quondam idem erant, qui Academici, quae honesta sunt, anteponuntur iis, quae videntur utilia, tarnen splendidius haec ab eis disserentur, quibus quicquid honestum est, idem utile videtur nec utile quicquam, quod non honestum, quam ab iis, quibus et honestum aliquid non utile aut utile non honestum.« (Cicero: De officiis 3 , 2 0 )
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a u s « , w o h i n g e g e n das N ü t z l i c h e » d i e B e z i e h u n g auf äußerlichen W o h l s t a n d « bezeichne. 8 1 D i e s e natürliche K o n f l i k t s i t u a t i o n führt nach G a r v e zwangsläufig zu zahlreichen Verwerfungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. D e r a r t i g e Spannungsverhältnisse thematisieren auch Wieland und G o e t h e in ihren hier zu untersuchenden dichterischen Werken. D i e Sykophanten bei Wieland verkörpern ebensowenig das moralisch-ethische Ideal eines ehrenhaften Redners wie Goethes Reineke Fuchs. In beiden Fällen triumphiert der E i g e n n u t z über den G e m e i n n u t z . Ciceros Vorstellung, alles Sittliche sei gleichzeitig auch nützlich, wird geradezu ins G e g e n t e i l verkehrt. G o e t h e hat zeit seines Lebens die Beredsamkeit mit A r g w o h n und Skepsis betrachtet, ohne sie jedoch i m ganzen abzulehnen, z u m i n d e s t nicht in seinem A l t e r s w e r k . 8 2 In den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Divans hat er, worauf bereits einleitend hingewiesen worden ist, die R e d e k u n s t i m Sinne K a n t s als Verstellungskunst g e b r a n d m a r k t . Seiner Italienischen Reise hat er d a g e g e n durchaus a n g e n e h m e Eindrücke über den Besuch einer öffentlichen Gerichtsverhandlung i m D o g e n p a l a s t zu Venedig anvertraut. D i e dortige forensische Beredsamkeit erscheint ihm zwar als inszeniert, er fühlt sich aber gleichzeitig g u t unterhalten. D i e in Venedig gehaltenen Gerichtsreden waren auch manchen Autoren der hier untersuchten Rhetorikgeschichten eine E r w ä h n u n g wert. Sie verbanden allerdings in der R e g e l entsprechende Hinweise m i t der im Deutschland jener Zeit durchaus üblichen Advokatenkritik. Dementsprechend hat sich beispielsweise Bouterwek geäußert: In Venedig besonders, wo bis auf die neuesten Zeiten die Advocaten ihren Clienten auch in Civilsachen mündlich beistanden, hätte sich noch leichter die natürlichere Beredsamkeit ausbilden können, wenn Advocaten die rechten Männer gewesen wären, deren es zur oratorischen Veredelung des Ausdrucks der Wahrheit bedurfte. 83 81
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Garve ( 1 7 8 8 / 1 9 8 6 ) . S. 2 3 . Garves Übersetzung von Ciceros De officiis ( 1 7 8 3 / 8 7 / 1 9 8 7 ) erzielte »den größten Erfolg, den bis dahin eine Übersetzung antiker Prosawerke in Deutschland erringen konnte«, wie Wölfel in seiner Vorrede (S. XVIIf.) feststellt. Bis 1819 brachte sie es auf insgesamt sechs Auflagen. Schleiermacher belegte Garves populären Stil, wie er z. B. die Kommentarbände zu Cicero prägt, mit dem verächtlichen Verdikt: »Anmerkungs-Philosophie«. Zitiert nach Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe 1,3 ( 1 9 8 8 ) . S. 7 1 . Helmut Schanze unterscheidet drei Entwicklungsstadien von Goethes Rhetorikrezeption: Nach der kritischen Lektüre Quintilians und einer Phase genereller Rhetorikverachtung, die sich beispielsweise im ersten Teil des Faust artikuliere, habe Goethe dann um 1815 die Rhetorik unter ästhetisch-weltliterarischen Prämissen neu bewertet. (H. Schanze: Goethes Rhetorik. In: Ueding ( 1 9 9 1 ) . S. 1 3 9 — 1 4 7 ) Bouterwek 2. Bd. ( 1 8 0 2 ) . S. 3 2 5 . Noch deutlichere Vorbehalte als Bouterwek führt Eichhorn gegenüber Gerichtsreden am Beispiel Venedigs an: »aber an den Sitzen der Gerechtigkeit, wo nur kalte Erwägung der Gründe statt haben, und der Verstand nicht durch Empfindungssprache und erregte Leidenschaft bestochen werden soll, konnte nie der Ort rednerischer Begeisterung seyn; und daß sie es nie werden möchten, dafür ward auch durch die Einführung schwerfälliger Formalitäten gesorgt, die jede schöne Darstellung verschmähen.« (Bd. 4/1 ( 1 8 0 7 ) . S. I 2 2 f . )
Unter dem Datum des 3 . 1 0 . 1 7 8 6 beschreibt Goethe zunächst einen enttäuschenden Opernbesuch vom Vorabend, um daraufhin seine Aufmerksamkeit auf »eine andere Komödie, die mich mehr gefreut hat«, zu lenken, eine öffentliche Gerichtsverhandlung im Dogenpalast, der er beigewohnt hat.® 4 Goethe schildert die Situation detailgetreu, ja liebevoll. Obgleich er nicht die eigentliche Verhandlung, sondern lediglich das einleitende Verlesen der diversen Schriftsätze verfolgt, würdigt er das bereits hier vorherrschende Maß an Lebendigkeit, das er im deutschen Prozeßwesen vermißt. Ein Advokat, der wie »ein übertriebener Buffo« agiere, lockere etwa den trockenen Bericht des Vorlesers durch Scherze auf, die Goethe gleichwohl für verabredet hält — wie eben am Theater üblich: Ich nenne dies eine Komödie, weil alles wahrscheinlich schon fertig ist, wenn diese öffentliche Darstellung geschieht; die Richter wissen, was sie sprechen sollen, und die Partei weiß, was sie zu erwarten hat. Indessen gefällt mir diese Art unendlich besser als unsere Stuben- und Kanzleihockereien.
Zeigt sich Goethe von seinem Gerichtsbesuch in Venedig 1 7 8 6 noch amüsiert, sieht er die forensische Beredsamkeit in seinem Versepos Reineke Fuchs von 1 7 9 4 in einem weitaus kritischeren Licht. Diesen Wandel haben die Erfahrungen mit der Französischen Revolution maßgeblich beeinflußt. Sein Epos, für das er selbst eine rhetorische Gattung gewählt hat: die Fabel, 8 ' ist in den Jahren 1793/94 entstanden, als die Phase der Terreur in Frankreich bereits eingesetzt hatte. Es handelt sich dabei um keine genuine Erfindung Goethes, sondern um eine Bearbeitung eines seit dem Mittelalter bekannten Stoffes, den etwa Herder 1 7 9 3 als »Ulysses aller Ulysse« 8 6 gefeiert hat. 1 7 5 2 hat Gottsched die niederdeutsche Prosaglosse Reinke de vos aus dem Jahr 1 4 9 8 herausgegeben und übersetzt und damit dieses Werk wieder ins Bewußtsein der Zeitgenossen gerufen. Goethe säkularisierte diese Vorlagen und veränderte sie damit entscheidend. Dem Erzähler fehlt jegliche moralisierende Intention, die den Reinke de vos noch prägt. Der religiös-didaktische Anspruch des mittelalterlichen Textes ist ironischer Distanz gewichen. Ähnlich wie Wielands Geschichte der Abderiten stellt Goethe in seiner Hexameterdichtung allgemeinmenschliche Schwächen bloß, ohne ein spezifisches Zeitkolorit zu verleugnen. Reineke Fuchs kann ebenso als politische Zeitsatire auf das Ancien régime wie auf die Revolution gelesen
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Goethe. Hamburger Ausgabe. Bd. X I ( 1 9 8 1 ) . S. 7 5 , wie auch die folgenden Zitate. Quintilian würdigt die Wirkungsmöglichkeiten von Fabeln besonders bei weniger gebildeten Menschen: »illae quoque fabellae, quae, etiam si orginem non ab Aesopo acceperunt (nam videtur earum primus auctor Hesiodus), nomine tarnen Aesopi maxime celebrantur ducere ánimos soient praecipue rusticorum et imperitorum qui et simplicius quae ficta sunt audiunt, et capti voluptate facile iis, quibus delectantur, consentiunt [ . . . ] « ( 5 , 1 1 , 1 9 ) Herder: Sämtliche Werke B d . X V I ( 1 8 8 7 / 1 9 6 7 ) . S. 2 1 8 .
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werden. In diesem Sinne äußerte sich Goethe etwa am 2 8 . 6 . 1 7 9 4 >n einem Brief an Charlotte von Kalb: Hier, liebe Freundin, k o m m t Reineke Fuchs, der Schelm, und verspricht sich eine gute Aufnahme. Da dieses Geschlecht auch zu unsern Zeiten bei Höfen, besonders aber in Republiken sehr angesehen und unentbehrlich ist, so möchte nichts billiger sein, als seine Ahnherrn recht kennen zu lernen. 8 7
Indem Goethe glaubt, die Handlung der Fabel vorrangig in Republiken ansiedeln zu können — auch hier besteht eine auffallende Parallele zu Wielands Abdera —, deutet er implizit die Bedeutung, die er der Beredsamkeit in seinem Versepos beimißt, an, konnte sich doch, wie bereits mehrfach dargelegt, eine freie Redetätigkeit nur in einem an Grundsätze der Öffentlichkeit gebundenen Gemeinwesen entfalten. Bei der Konzipierung des Fuchses und seiner rhetorischen Fähigkeiten dürften Goethe insbesondere die Volkstribunen des revolutionären Frankreichs, deren Wirken er für ausgesprochen schädlich erachtete, vor Augen gestanden haben. Die Rede seines Reineke ist daher auch deutlich differenzierter, gewandter und hinterlistiger als die des mittelalterlichen Fuchses. 88 Reineke wird in dem Epos als Schelm und Frevler geschildert, der sich bei Hof dem Vorwurf des Mordes und Diebstahls ausgesetzt sieht. Allen Aufforderungen zum Trotz weigert er sich aber, persönlich zu den erhobenen Anschuldigungen Stellung zu nehmen. So müssen sich zunächst seine Gefolgsleute, allen voran sein Neffe, der Dachs Grimbart, seiner Sache annehmen. Gegenüber den Hofleuten deutet Grimbart bereits zu Beginn die spezifische und letztlich handlungsentscheidende Begabung Reinekes an, indem er betont, dieser könne sich selbst wesentlich überzeugender verteidigen als er. (I, i 3 9 f . ) Als er schließlich Reineke aufsucht und ihn zu einer aktiven und offensiven Verteidigungsstrategie ermuntert, wiederholt er seinem Verwandten gegenüber dieses Argument: Ihr entfliehet dem K ö n i g e nicht; drum ist es am besten, K o m m t nach Hofe mit mir! Es wird an listiger Wendung Euch nicht fehlen, Ihr habt sie bereit und werdet Euch retten; Denn Ihr habt ja wohl oft, auch an gerichtlichen Tagen, Abenteuer bestanden, weit größer als dieses, und immer K a m t Ihr glücklich davon und Eure Gegner in Schande. (III, 2 1 1 - 2 1 6 )
Zuvor hatte bereits der König Nobel den Bären Braun und dann den Kater Hinze als Boten zu Reineke geschickt. Deren Missionen waren jedoch geschei87
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Goethe. Hamburger Ausgabe. B d . II ( 1 9 8 1 ) . S. 7 1 4 . Nach dieser Ausgabe des Reineke Fuchi wird im fortlaufenden Text zitiert; die römischen Zahlen bezeichnen den jeweiligen Gesang, die arabischen den Vers. Einführend zu Reineke Fuchs vgl. u.a. Schwab ( 1 9 7 1 ) ; Lazarowicz ( 1 9 6 3 ) . Hier insbes. S. 2 5 7 - 3 0 3 ; Hans-Wolf J ä g e r ( 1 9 8 5 ) ; Menke ( 1 9 7 5 / 7 6 ) .
tert, haben sich doch die beiden Höflinge aufgrund ihrer Gefräßigkeit von Reineke in Fallen locken lassen und gehörigen körperlichen Schaden davongetragen. Die Hofleute, die alle Warnungen des Königs vor der Boshaftigkeit und Bösartigkeit Reinekes in den Wind geschlagen haben, erliegen letztlich ihrer genuinen Schwäche, die Reineke treffsicher analysiert und skrupellos zu seinem Vorteil ausnützt. Goethe beschreibt diese Tiere als reine Instinktwesen ohne jedes rationale Vermögen. Sie werden einzig und allein von ihren unmittelbaren Trieben beherrscht und gesteuert und sind daher dem
fintenreichen
Spiel des Fuchses in keiner Weise gewachsen. Im Unterschied zu echten Tieren wittern diese Menschen in Tiergestalt nicht die drohende Gefahr, ihre instinktive Gefräßigkeit treibt sie vielmehr in die Katastrophe. Selbst der anfangs noch reflektierende und daher skeptische König wird am Ende der intellektuellen und rhetorischen Gewandtheit des Fuchses zum Opfer fallen. Und daher bleibt Reineke in dieser Geschichte das einzige Vernunftwesen, das die Mißverhältnisse des Hofes schonungslos aufdeckt. Seine Verstandeskraft kennt keine Grenzen, allerdings auch keine ethischen. Aus dieser Komplexität seiner Persönlichkeit, die von intellektuellem Scharfsinn und charakterlicher Amoralität geprägt ist, bezieht die Handlung ihre Spannung und auch ihren Reiz. Reineke verkörpert freilich nicht das Böse per se, trifft er doch auch auf Gegenspieler, die aufgrund ihrer Wesensart sein zynisches Treiben regelrecht provozieren. Das relativiert seine Bösartigkeit. Hier offenbart sich nicht zuletzt Goethes Verständnis der Französischen Revolution. Gewitzte Ideologen und Demagogen haben angesichts eines maroden, von innerer Schwäche und Leere gekennzeichneten Ancien régimes leichtes Spiel. Schuld an einer aus den Fugen geratenen Welt tragen primär die alten Eliten, die sich als unfähig erweisen, die traditionelle Ordnung aufrechtzuerhalten. Die im vierten Gesang einsetzende Verhandlung über Reinekes Verbrechen findet in der Öffentlichkeit statt. Die repräsentative Öffentlichkeit entspricht dem Strukturprinzip dieser höfischen Gesellschaft. Öffentlich will Nobel am Ende des sechsten Gesangs die Reputation von zwei Opfern Reinekes, Braun und Isegrim, wiederhergestellt sehen. Vom Öffentlichkeitscharakter der prozessualen Auseinandersetzung profitiert freilich in erster Linie der brillante Redner Reineke. Die Massenwirkung seiner Reden zieht Reineke mit in sein strategisches Kalkül. Vor der versammelten Hofgesellschaft findet im folgenden eine controversia de facto statt: Der mutmaßliche Täter legt kein Geständnis ab, die Wahrheitsfindung ist an den Gang der Untersuchung gebunden. Das eröffnet dem rhetorischen Geschick Reinekes ein weites Betätigungsfeld. In sprachlicher Hinsicht sind den gehaltenen Reden aufgrund des Versmaßes allerdings gewisse Grenzen gesetzt. Wirkungsvolle rhetorische Mittel lassen sich bei einer natürlichen Sprechweise, wie etwa in Wielands Geschichte der Abderiten, unproblematischer einsetzen als in einer Hexameter-Dichtung. Das ändert freilich nichts an der außerordentlich effektiven und mitunter suggestiven Argumenta-
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tionsweise Reinekes, die ihn als einen ebenso geschickten wie infamen Redner par excellence ausweisen. Seine erste öffentliche Verteidigungsrede bei Hof beginnt er, wie in der antiken Rhetorik empfohlen, mit einer captado benevolentiae, an die er ein nachdrückliches Treuebekenntnis gegenüber dem König anschließt. Die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen weist er sogleich als »Lügen / Meiner Feinde« (IV, i~](.) entschieden zurück und leitet damit gleichsam die controversia de facto ein. Den neuerlichen, in scharfem Tonfall ausgesprochenen Vorhaltungen des Königs begegnet Reineke offensiv und bezichtigt im Gegenzug seine Ankläger, die geschundenen Boten Braun und Hinze, des Diebstahls. Allein ihrer Gier hätten sie ihren jetzigen Zustand zu verdanken: »Hab' ich Strafe verdient, weil jene töricht gehandelt?« (IV, 45) spitzt Reineke seine Rechtfertigungsrede in einer rhetorischen Frage zu. Sein Gegenvorwurf ist keineswegs unbegründet, auch wenn Reineke gleichzeitig seine eigene aktive Rolle als Fallensteller unerwähnt läßt. Dieses Vorgehen entspricht ganz seinem Grundkonzept, die Wirklichkeit teils ausschnitthaft, teils rudimentär darzustellen, jedenfalls immer so, daß seine Handlungen in einem für ihn günstigen Licht erscheinen. Eine derartige Taktik zu verfolgen, ist auch die genuine Aufgabe der Beredsamkeit, wie etwa Quintilian betont hat: »quäle quidque videatur, eloquentiae est opus: hic régnât, hic imperat, hic sola vincit.« 8 9 Reinekes einseitige Schilderung der umstrittenen Sachverhalte läßt die Schuld immer auf seine eigentlichen Opfer fallen. Mit psychologischer Raffinesse hat er ja in den entsprechenden Situationen dafür gesorgt, daß sich seine rein von ihren unmittelbaren Trieben gesteuerten Gegenspieler wirklich nicht makellos verhalten haben. Auf diese Weise entlarvt er nicht zuletzt die falsche Selbstgerechtigkeit einer nicht gerade ehrenwerten Hofgesellschaft. Reineke führt aber seine Strategie noch einen entscheidenden Schritt weiter. Im Stile von Shakespeares Richard III., der nach seinem Mord an Heinrich VI. kühl berechnend sein Leben in die Hände der ebenso trauernden wie haßerfüllten Prinzessin Anna legt, gibt Reineke seine soeben gewonnene überlegene Position wieder auf und unterstellt sich demütig dem Urteilsspruch des K ö nigs: Doch Ihr möget mit mir nach Eurem Willen verfahren Und, so klar auch die Sache sich zeigt, beliebig verfügen: Mag es zum Nutzen, mag es zum Schaden auch immer gereichen. Soll ich gesotten, gebraten, geblendet oder gehangen Werden oder geköpft, so mag es eben geschehen! Alle sind wir in Eurer Gewalt, Ihr habt uns in Händen. Mächtig seid Ihr und stark, was widerstünde der Schwache? Wollt Ihr mich töten, das würde fürwahr ein geringer G e w i n n sein. Doch es komme, was will; ich stehe redlich zu Rechte. (IV, 4 7 - 5 5 )
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Quint. 7 , 4 , 2 4 .
Reineke bekräftigt mit diesen Worten zum einen die absolute Stellung des Monarchen in der Gesellschaft und schmeichelt ihm damit, zum anderen suggeriert sein vorgeblicher Unterwerfungsgestus eine innere Stärke und einen Seelenfrieden, der die Zuhörer auf ein reines Gewissen schließen lassen soll. Er will so den Eindruck erwecken, daß er prinzipiell bereit sei, sein Schicksal in fremde Hände zu legen, wohl wissend, daß er trotz alledem nichts von seiner Initiativkraft einbüßt -
im Gegenteil. Gerade weil er die Adressaten seiner
Rede mit ständig neuen Wendungen überrascht und verwirrt, bleibt er immer Herr der Lage: Denn ergriff er das Wort, so flöß die zierliche Rede Seiner Entschuldigung her, als war' es lautere Wahrheit. Alles wußt' er beiseite zu lehnen und alles zu stellen. Hörte man ihn, man wunderte sich und glaubt' ihn entschuldigt, J a , er hatte noch übriges Recht und vieles zu klagen. (IV, 7 9 - 8 3 )
Reineke selbst ist Autor und Regisseur einer klug angelegten Inszenierung, in der die Mitglieder der Hofgesellschaft wie Marionetten an seinen Fäden hängen und von ihm vorgeführt werden. Zunächst scheint jedoch seine rhetorische Meisterschaft nicht auszureichen, um ihn vor dem Galgen zu retten, zu zahlreich und belastend sind die Klagen der anwesenden Tiere. Der Rat des Königs und dieser selbst verurteilen ihn schließlich auch zum Tode, Reineke selbst glaubt in diesem Augenblick nicht mehr an Rettung. Eine Verteidigung ist zudem, darüber war sich die Rhetorik seit der Antike im klaren, prinzipiell schwieriger zu führen als eine Anklage. Daher, so Quintilian, müsse ein Verteidiger über ein größeres rednerisches Geschick verfügen als ein Ankläger. 9 0 A n rhetorischer Begabung fehlt es Reineke wahrlich nicht. Auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte überlegt er daher fieberhaft, wie er vielleicht doch noch einmal die Initiative an sich reißen und seine einzigartige Stärke, die Beredsamkeit, ausspielen könnte: Laßt uns alles bedenken, und helfe, was helfen kann! denn hier G i l t es den Hals, die N o t ist dringend, wie soll ich entkommen? [ . . . ] Vieles hab' ich verschuldet und hoffte dennoch, mein U n g l ü c k Wieder zu wenden. Gelänge mir's nur, zum Worte zu kommen, Wahrlich sie hingen mich nicht; ich lasse die H o f f n u n g nicht fahren. (IV, 1 7 5 - 1 8 3 )
Die existentielle Bedrängnis nötigt Reineke dazu, unmittelbare, lebensrettende Gedanken zu fassen. Dieser Vorgang kann sich aber nur, dessen ist er sich bewußt, auf rednerischem Weg vollziehen. In seinem um 1 8 0 5 verfaßten Essay
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Quint. 5 , 1 3 , 3 : »ideoque accusationibus etiam mediocres in dicendo suffecerunt, bonus defensor nemo nisi qui eloquentissimus fuit, nam ut, quod sentio, semel finiam, tanto est accusare quam defendere, quanto facere quam sanare vulnera facilius.«
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Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, auf den noch ausführlich zurückzukommen sein wird, erzählt Kleist unter anderem eine Tierfabel, mit der er die lebensrettende Dimension unmittelbar situationsbedingter Beredsamkeit ähnlich kreativitätspsychologisch erklärt wie Goethe. Auch bei Kleist erzwingt der Fuchs in einer Krisensituation den entscheidenden Einfall, indem er laut denkt. Weder der Fuchs bei Goethe noch der bei Kleist bzw. La Fontaine, auf den sich Kleist bezieht, wissen zu Beginn ihrer Rede, mit welchem Argument sie den jeweiligen Herrscher, in beiden Fällen den Löwen, der über die richterliche Entscheidungskompetenz verfügt, letztlich zu überzeugen vermögen. Die Beredsamkeit selbst erzeugt die Gedanken und führt eine Lösung herbei. In Goethes Fabel tritt darüber hinaus ein entscheidendes Moment hinzu: Reineke hält seine Rede unmittelbar vor seiner beschlossenen Hinrichtung. Die letzten Worte eines Delinquenten erregten jahrhundertelang das besondere Interesse des Publikums öffentlicher Exekutionen, glaubte man doch, daß ein Mensch im Angesicht des Todes Gewichtigeres zu sagen habe als je zuvor in seinem Leben. Endgültigkeit, so die allgemeine Überzeugung, erhebt den Anspruch auf Aufmerksamkeit. Goethe selbst hat in den Maximen und Reflexionen über ein Opfer der Französischen Revolution, dessen letzte Worte »Ah Liberté, comme on t'a jouée!« gewesen sein sollen, bemerkt: Madame Roland, auf dem Blutgerüste, verlangte Schreibzeug, um die ganz besondern Gedanken aufzuschreiben, die ihr auf dem letzten Wege vorgeschwebt. Schade, daß man ihr's versagte; denn am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen. 91
Reinekes rettender Einfall besteht nun darin, kurz vor seinem Tod eine öffentliche Beichte ablegen zu wollen. Diesen Wunsch, den er explizit an das Volk richtet, kann ihm der König nicht verwehren. Einerseits scheint das implizite Schuldeingeständnis, das mit der Bitte, beichten zu dürfen, verbunden ist, die Reuebereitschaft des Übeltäters zu signalisieren, andererseits blieb in der westlichen Kulturgeschichte über Jahrhunderte die Vorstellung tief verankert, daß in der Todesstunde die Wahrheit gesprochen werde. 92 Reinekes Rechnung geht denn auch auf. Sein Mitleidsappell findet bei einem unaufgeklärten Volk, das seiner Infamie in keiner Weise gewachsen ist, offene Ohren. Mit dem Rederecht gewinnt er seine stärkste Waffe zurück, seine törichten Zuhörer sind ihm nun schütz- und hilflos ausgeliefert. Aufgrund ihrer Leichtgläubigkeit können sie sich seiner Suggestionskraft nicht entziehen. Das nützt der schlaue Fuchs auch schamlos zu seinen Gunsten aus.
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Goethe. Hamburger Ausgabe. B d . X I I ( 1 9 8 1 ) . Nr. 3 7 0 , S. 4 1 5 . Z u r Kunst der letzten Worte, die in der englischen Überlieferung als Last Words, Last Speech oder Dying Speech bekannt sind, vgl. Guthke (1990). So G u t h k e (1990). S. 1 6 6 .
In seiner als Beichtbekenntnis getarnten Rechtfertigungsrede läßt er signifikante Stationen seines Lebenswegs Revue passieren, ohne dabei die problematische Seite seines Charakters zu verleugnen. Auf diese Weise gelingt es ihm von Anfang an, die Glaubwürdigkeit seiner Narratio zu erhöhen. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen stilisiert er sich dann aber mehr und mehr zu einem Opfer widriger Umstände und schiebt geschickt die Verantwortung für seine Verbrechen auf seinen Hauptankläger Isegrim ab. Ohne es expressis verbis aussprechen zu müssen, macht er dem Auditorium psychologisch glaubhaft, Isegrim habe mit seinen ständigen Vorwürfen gegen ihn nur von seinen eigenen Schandtaten abzulenken versucht. In Reinekes Reden erreichen diejenigen Gedanken das größte Wirkungspotential, die der Fuchs gleichsam zwischen den Zeilen andeutet. Gerade dieses Geflecht aus Wahrheit, Lügen, Andeutungen und Unterstellungen, das Reineke so virtuos zu binden vermag, kann die Hofgesellschaft nicht durchschauen. Das trifft insbesondere auf das Kernstück von Reinekes Ausführungen zu. Ganz beiläufig, so als ob es sich um eine Nebensache handeln würde, erwähnt er einen sagenhaften Schatz und lenkt so die Aufmerksamkeit der Zuhörer vom eigentlichen Gegenstand des Prozesses, der ja wahrlich nicht günstig für ihn steht, ab. Wie zufällig und scheinbar ohne Hintergedanken leitet er zu dieser frei erfundenen Episode über, nachdem er zuvor geklagt hat, Isegrim habe ihm früher ständig seinen Teil der gemeinsamen Beute böswillig vorenthalten: Aber G o t t sei gedankt, ich litt deswegen nicht Hunger; Heimlich nährt' ich mich wohl von meinem herrlichen Schatze, Von dem Silber und Golde, das ich an sicherer Stätte Heimlich verwahre; des hab' ich genug. Es schafft mir wahrhaftig Ihn kein Wagen hinweg, und wenn er siebenmal führe. (IV, 2 3 6 - 2 4 0 )
Reineke verfehlt seine intendierte Wirkung nicht. Der Hinweis auf Gold und Silber hat sogleich das Interesse des Königs geweckt. Die Habgier setzt nicht nur bei den Hofleuten, sondern auch beim Monarchen selbst jegliche Verstandestätigkeit außer Kraft; dessen ist sich Reineke nur allzu bewußt. Geschickt spielt er dann noch die Gesetze der dying speeches aus und unterstreicht den Wahrheitsgehalt seiner Schilderungen mit dem Hinweis auf sein bevorstehendes Ende: »Dieses Geheimnis verhehl' ich Euch nicht, was könnt' es mir helfen! / Denn ich nehme nichts mit von diesen köstlichen Dingen.« (IV, 244E) Das Argument des sakralen Charakters letzter Worte bestärkt Reineke dann noch einmal emphatisch gegenüber dem König, um so dessen letzte Zweifel auszuräumen: Freilich bin ich ein sündiger Mensch; doch red' ich die Wahrheit. K ö n n t ' es mir nutzen, wenn ich Euch löge? Da würd' ich mich selber E w i g verdammen. Ihr wißt ja nun wohl, so ist es beschlossen, Sterben muß ich, ich sehe den Tod und werde nicht lügen: Denn es kann mir nicht Böses noch Gutes zur Hülfe gedeihen. (IV, 2 9 0 - 2 9 4 )
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Besonders perfide ist in diesem Zusammenhang die Wendung »Ihr wißt ja nun wohl«, mit der Reineke alle Anwesenden zu Zeugen des angeblichen Wahrheitsgehalts seiner Reden erhebt. Diese vorgetäuschte
Geistesbrüderschaft
nimmt ihm den Status des Ausgestoßenen und holt ihn gleichsam zurück in die Gemeinschaft. Immer wieder setzt er derartige Sprachformeln psychologisch gezielt ein und manipuliert so unterschwellig seine Zuhörer. Wie ein Schauspieler unterstützt er diese rhetorische Strategie mit einer ausgefeilten Mimik und Gestik: »Bebend sagte Reineke das und schien zu verzagen.« (IV, 295) Vor diesen pathetischen Beteuerungen hat Reineke bereits eine haarsträubende Verschwörungsgeschichte, die in direkter Verbindung mit dem Schatz steht, angedeutet. Durch sein uneigennütziges Eingreifen habe er, Reineke, als treuer Untertan ein Mordkomplott gegen seinen König vereitelt. Diese wenigen Hinweise im Verbund mit den oben diskutierten Beteuerungen reichen aus, um Reineke zunächst vor dem Henker zu retten. Der Wirkungsgrad seiner dying speech übertrifft das in diesem Genre gewöhnliche Maß derart, daß es ihm auf rhetorische Weise gelingt, seinen Kopf buchstäblich aus der Schlinge zu ziehen. Darüber hinaus strebt er einen endgültigen Freispruch und gleichzeitig die Vernichtung seiner Gegner an. U m das alles zu erreichen, darüber ist er sich im klaren, bedarf es der »Lügen [ . . . ] über die Maßen« (IV, 276). Diesem Ansinnen wird Reineke dann bei der detaillierten Ausführung seiner Erfindung voll und ganz gerecht. Selbst seinen Vater und seinen Neffen Grimbart beschuldigt er der Komplizenschaft mit den angeblichen Verschwörern, die ansonsten -
selbstredend — dem Lager seiner persönlichen Feinde und Ankläger
angehören. Mit dem Schatz seines Vaters hätte der Aufstand finanziert werden sollen. U m den König zu retten, habe er, Reineke, den Schatz gestohlen, sein Vater habe sich daraufhin erhängt. Aus Loyalität zum König habe er also seinen eigenen Vater geopfert, beteuert der Fuchs. Das Königspaar zeigt sich freilich weniger an der Verschwörung, als vielmehr an näheren Einzelheiten zu den Reichtümern, die Reineke angeblich aufbewahrt, interessiert. Reinekes Plan geht auf. Der noch zögernde König wird von seiner Frau und der Aussicht auf den Schatz umgestimmt und begnadigt den Angeklagten. Im Gegenzug läßt er die Hauptankläger Reinekes, Isegrim und Braun, festnehmen. Cicero hat in De oratore dem Redner empfohlen, unter entsprechenden Umständen den Haß gegen andere zu schüren, um ihn von sich oder seinem Klienten abzulenken. 93 Entsprechend verfährt beispielsweise der Fuchs in der Fabel von Kleist bzw. La Fontaine, indem er die anwesenden Tiere gegen den unschuldigen Esel aufhetzt. Einen ähnlichen Erfolg kann Reineke verbuchen: Seine Todfeinde fallen in königliche Ungnade. Z u diesem Zweck hat er seine Gegner massiv verleumdet. Diese Strategie wird er auch später wieder, etwa im neunten Gesang, verfolgen. Aristoteles hat
93
Cicero: D e oratore 2,208: »atque eisdem his ex locis et in alios odium struere discemus et a nobis ac nostris demovere [ . . . ] «
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den verschiedenen Arten der Verleumdung in seiner Rhetorik ein ganzes Kapitel gewidmet. Die zusammenfassenden Kriterien, mit denen er den Verleumder beschreibt, charakterisieren geradezu mustergültig Goethes Fabelhelden: Redner, die dergleichen tun, sind solche, die die rhetorischen Fertigkeiten am besten beherrschen und beim Unrecht-Tun die geringsten Skrupel haben; denn es liegt in ihrer Intention, durch Vorbringen g u t e r Qualitäten zu schaden, indem sie sie m i t d e m Bösen vermischen. 9 4
Wenn Reineke redet, lügt er zumeist. Taten, die er nicht leugnen kann, versucht er zu verteidigen, während er Vergehen, die nicht zu verteidigen sind, leugnet bzw. auf seine Feinde abwälzt. Von derartigen Handlungsweisen, die mit rhetorischen Regeln nicht mehr zu fassen sind, spricht etwa auch Quintilian: Das Abstreiten bzw. Abwälzen von Vorwürfen zählt er ganz selbstverständlich zu den Alltäglichkeiten vor Gericht. 95 Dieser ebenso komplexen wie subtilen Überredungstechnik sind weder die Königin noch der König, trotz seiner anfänglichen und auch immer wiederkehrenden Skepsis, gewachsen. Auf seine Art wird Reineke zu einer Künstlerfigur, die überlegen und virtuos, aber eben auch amoralisch mit ihrer Umwelt spielt, ja sie regelrecht beherrscht. Thomas Mann wird dann mit der Figur des Felix Krull eine durchaus ähnliche — wenngleich keineswegs so bösartige — Variante zu Goethes Fuchs erfinden. 96 Während etwa Cicero eine Beredsamkeit ohne Moral als Raserei disqualifiziert, 97 gewinnt Reineke beim Leser zunehmend an Sympathie, entlarvt er 94
Arist. 1 4 1 6 b ( 1 5 , 1 0 ) .
95
Q u i n t . 5 , 1 3 , 7 : »ergo quae ñeque negari ñeque transferri possunt, utique defendenda sunt, q u a l i a c u m q u e sunt, aut causa cedendum. [ . . . ] quae ñeque defendi ñeque transferri possunt, utique neganda, nec solum si finitio potest esse pro nobis, sed etiam si nuda infitiatio superest.« In E n g l a n d w u r d e seit B e g i n n des 1 7 . J a h r h u n d e r t s die R h e t o r i k auch als »mother of lies« bezeichnet. V g l . den A r t i k e l » R h e t o r i k , R e d e k u n s t « von A l f o n s Weische i m 8. B d . des Historischen
Wörterbuchs der
Philosophie
( 1 9 9 2 ) . Sp. 1 0 1 7 . 96
Für K a r l Kerényi verkörpert Felix K r u l l »den bürgerliche[n] S c h e l m « . Reineke Fuchs bezeichnet er als »das überragende, klassische Beispiel der G a t t u n g « . V g l . K a r l K e r é n y i : Mythologische
Epilegomena.
In:
Radin/Kerényi/Jung
(1954).
S. 1 5 5 — 1 8 1 .
Hier
S. 1 7 3 . In diesem B a n d interpretieren die Autoren aus ihrer jeweils spezifischen Sichtweise den S c h e l m e n - Z y k l u s eines nordamerikanischen, siouxsprachigen Indianerstammes, der W i n n e b a g o . In dieser Tradition erscheint der Schelm als eine p r i m ä r archaische F i g u r , die zwischen G ö t t e r n und Menschen steht und von H u n g e r , Sexualität und W a n derlust getrieben w i r d . In manchen der 4 9 Episoden erinnert das Vorgehen dieses indianischen Erzschelms an die fintenreichen H a n d l u n g e n von Goethes Reineke. 97
Cicero: D e oratore 3 , 5 5 : »Est enim eloquentia una q u a e d a m de s u m m i s virtutibus; q u a m q u a m sunt omnes virtutes aequales et pares, sed tarnen est specie alia magis alia formosa et inlustris, sicut haec vis, quae scientiam c o m p l e x a rerum sensa mentis et Consilia sic verbis explicat, ut eos, qui audiant, q u o c u m q u e incubuerit, possit i m p e l lere; quae q u o maior est vis, hoc est m a g i s probitate iungenda s u m m a q u e prudentia; q u a r u m v i r t u t u m expertibus si dicendi copiam tradiderimus, non eos q u i d e m oratores effecerimus, sed furentibus quaedam arma dederimus.«
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doch als »ein sensibler Verwandlungskünstler von hohen Graden« 9 8 gerade mit seinen infamsten Lügengeschichten die Heuchelei einer Gesellschaft, deren Wertesystem zur leeren Hofetikette erstarrt ist. Allen ethischen Lippenbekenntnissen zum Trotz regieren auch in dieser Welt Habgier und Egoismus: »Nun, so spiel' ich halt auch mein Spiel und denke daneben / Öfters bei mir: es muß ja wohl recht sein; tun's doch so viele!« rechtfertigt Reineke sein Handeln. (VIII, I37Í.) Der Fuchs deckt in der Gestalt eines ironischen Schelmen die gesellschaftlichen Widersprüche einer heruntergekommenen Staatsordnung schonungslos auf. Bereits Herder hat auf diese Ambivalenz der Fuchsfigur nachdrücklich hingewiesen: »In der Ausführung, je länger der Fuchs schwätzt, und betrügt, je gelehrter und künstlicher er lüget; desto angenehmer wird er.« 9 9 Nach seinem ersten Freispruch steigert Reineke seine Untaten, so daß er später auch seine rhetorischen Anstrengungen verstärken muß, um sich zu retten. Reineke scheint sein mörderisches Spiel mit der Gesellschaft als persönliche Herausforderung zu betrachten und wirkt wie getrieben von dem Wunsch, die Grenzen seiner Beredsamkeit auszureizen. Als er schließlich im Tarngewand eines angeblich frommen Rompilgers den Hasen Lampe tötet, dessen Kopf anstelle von Briefen verpackt und dem nichts ahnenden Widder Bellyn für den König mitgibt, ist das Höchstmaß an Dreistigkeit erreicht. Reineke selbst beginnt nun zu zweifeln, ob er diesem von ihm neu gesetzten Anspruch bei Hof rhetorisch gewachsen sein würde, zumal der König spätestens nach der vergeblichen Schatzsuche seinen Zorn auf den Fuchs, der darüber hinaus weitere Verbrechen begeht, kaum werde bändigen können: Nein! ich wünsche mir solche Gefahr nicht wieder zu sehen. Kurz, es mag mir begegnen, was will, ich lasse mich niemals Wieder nach Hofe bereden, um in des Königs Gewalt mich Wieder zu geben; es brauchte wahrhaftig die größte Gewandtheit, Meinen Daumen mit N o t aus seinem Munde zu bringen. (VI, 2 4 4 - 2 4 8 )
Als der König von Bellyn Reinekes blutige Post erhält, reagiert er erwartungsgemäß empört und erklärt ihn und seine Familie für vogelfrei. Wohl wissend um Reinekes außerordentliche Begabung plädiert Lupardus, ein naher Verwandter des Königs, zunächst dafür, mit dem Fuchs ohne jede weitere Anhörung kurzen Prozeß zu machen: »da hängt man ihn eilig; / Kommt er zum Worte, so schwätzt er sich los und wird nicht gehangen« (VI, 3 9 3 0 , revidiert dann aber seine Meinung wieder. Indem Reineke das Recht auf Ver98
Schwab ( 1 9 7 1 ) . S. 4 7 . J ä g e r ( 1 9 8 5 ) bezeichnet Reineke als einen »Meister der Maske« (S. 1 2 4 ) .
99
Herder (1963), Gerade Rechts-
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( 1 7 9 3 / 1 8 8 7 / 1 9 6 7 ) . S. bei Goethe sei »der in seiner Bösartigkeit und Ordnungssystem
2 1 9 . Irrig ist dagegen die Auffassung von Lazarowicz Fuchs böse [ . . . ] aus purer Lust am Bösen« (S. 279). hält Reineke einer Gesellschaft ohne funktionierendes einen kritischen Spiegel vor Augen.
teidigung zugestanden wird, nicht zuletzt auch dank seiner Fürsprecher bei Hof, steht der Ausgang des Prozesses bereits fest, bevor er begonnen hat. Im neunten Gesang bahnt sich schließlich die Entscheidung an. Bei Hof scharen sich zahlreiche Tiere, Reinekes Kühnheit bewundernd, um den Fuchs, der das Rederecht erbittet. Es wird ihm letztlich gewährt, auch wenn ihm der König wild entschlossen versichert: »für diesmal erretten / Deine losen Worte dich nicht, sie helfen nicht länger, / Lügen und Trug zu verkleiden, nun bist du ans Ende gekommen.« (IX, 3 6 - 3 8 ) Wie schon bei seinem ersten Auftritt vor dem Hofgericht muß sich Reinekes Strategie erst beim Reden verfertigen, er verfügt über kein vorher zurechtgelegtes oder gar ausgeklügeltes Konzept (»Wo will ich Mittel ersinnen?«; I X , 45). Zunächst muß er daher, wie üblich, Zeit gewinnen, um sich, im doppelten Sinne des Wortes, freisprechen zu können. Seine Bitte, sich verteidigen zu dürfen, baut er bereits unterschwellig zu einer Verteidigungsrede aus, indem er, in bewährter Manier, seine jüngsten Opfer mit Gegenvorwürfen belastet. Gleichwohl fehlt ihm dieses Mal die letzte Gewißheit, daß seine Beredsamkeit allein ausreichen werde, um ihn vor dem Galgen zu bewahren. Daher schlägt er dem König, gleichsam als eine ergänzende Maßnahme zu seiner Rede, ein Gottesurteil in Form eines Zweikampfes vor und suggeriert so den Zuhörern seine Unschuld. Wer würde sich schon der allerhöchsten richterlichen Instanz stellen wollen, wenn er nicht reinen Gewissens wäre, müßte er doch als frommer Christ mit seinem sicheren Tod rechnen. Reinekes ständige, zumeist implizite Betonung seines Seelenfriedens, ganz gleich welches Urteil über ihn verhängt werde, reicht weit über eine reine Abwehr von Anschuldigungen hinaus; sie verlagert zusätzlich die Auseinandersetzung von der Ebene äußerer Faktizität, die ja eigentlich an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig läßt, in das nur schwer zu durchschauende Innere eines entfesselten, prometheischen Individuums, das seine Mit- und Gegenspieler an Geisteskraft und Klugheit deutlich überragt. Reineke diktiert den Gang der Argumentation, ja er zwingt ihn den Zuhörern und Richtern regelrecht auf. Dieses Gewaltpotential der forensischen Beredsamkeit bemächtigt sich vor allem der richterlichen Gefühle, die sich wiederum geradezu zwangsläufig zu Gewißheiten verfestigen. Daher stuft Quintilian auch derartige Gefühlsappelle, die aus reinem Aktenstudium nicht zu gewinnen seien, als die eigentliche Aufgabe des Redners ein. 1 0 0 Reineke verfolgt, im ganzen gesehen, eine rhetorisch-psychologische Strategie, die vor allem darauf beruht, nach Belieben die jeweilige Thematik, die gerade den
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Quint. 6,2,5: »ubi vero animis ludicum vis adferenda est et ab ipsa veri contemplatione abducenda mens, ibi proprium oratoris opus est. hoc non docet litigator, hoc causarum libellis non continetur. probationes enim efficiant sane, ut causam nostram meliorem esse iudices putent, adfectus praestant, ut etiam velint; sed id, quod volunt, credunt quoque.«
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größten Erfolg verspricht, vorzugeben. Die Zuhörer verharren in Passivität und sind daher der aktiven Beredsamkeit des Fuchses hilflos ausgeliefert. Das neben der Betonung des eigenen reinen Gewissens entscheidende Moment seines rhetorischen Konzeptes ist das Ablenkungsmanöver. Mit der Erwähnung eines sagenhaften Schatzes hat Reineke ja bereits in seiner ersten Rede durchschlagenden Erfolg bei dem habgierigen Königspaar erzielt. Er nimmt nun, im zehnten Gesang, diesen Gedanken wieder auf und spinnt diese Geschichte mit noch größerer psychologischer Raffinesse gleichsam fort. Er selbst habe, so der Ausgangspunkt seiner Erzählung, den Schatz Bellyn anvertraut. Dieser hätte ihn dem König bringen sollen. Der Widder habe jedoch die Kleinodien unterschlagen und deshalb auch seinen Begleiter Lampe ermordet. Diese erlogene Episode muß in einer Welt an Glaubwürdigkeit gewinnen, in der sich Habgier zu einer anthropologischen Konstante verfestigt. Prinzipiell kann sich jeder der Anwesenden mit Bellyns angeblicher Tat identifizieren, jeder hätte sich entsprechend verhalten können, ob König oder Knecht. Diese grundsätzliche Disposition der Hofgesellschaft macht sich Reineke immer wieder erfolgreich zunutze. Er beschreibt nun im folgenden ausführlich die einzelnen Schmuckstücke und zwar in einer derart geschickt-suggestiven, ja psychologisch brillanten Weise, daß er seine Zuhörer auf drei Ebenen unterschwellig für sich einzunehmen weiß. Z u m einen läßt er mit der detaillierten Schilderung der Wertgegenstände die Hofgesellschaft glauben, daß er wirklich jedes einzelne Stück in Händen gehalten habe. Des weiteren stachelt er die Raffsucht des Königs, der zugleich Richter ist, von neuem an. Und schließlich erfüllen und das ist das eigentlich Geniale an Reinekes Strategie — die von ihm erfundenen Schnitzereien bzw. Gravierungen, die die einzelnen Kunstwerke angeblich verzieren, eine ganz spezifische Funktion in seiner Verteidigungsrede: Einige der Geschichten oder Legenden sollen unterschwellig Verständnis für ihn und sein Handeln erzeugen. Schon Herder hat daher diese Episode der Fabel besonders herausgestellt und gewürdigt: »die Geschichte vom Schatz und von den Kleinodien, die Ihren beiden Majestäten bestimmt waren, ist vielleicht das Ergötzlichste, das in dieser Gattung je geschrieben werden konnte.« 1 0 1 Ein vergleichbares Verfahren wird Kleist in seinem tragischen Lustspiel Der zerbrochne Krug anwenden. Indem Marthe das Außere der zerstörten causa belli beschreibt, nämlich eine Abbildung des Abfalls der Niederlanden, weist sie unterschwellig auf einen zentralen Aspekt des Dramas hin: den Verlust des Zustands paradiesischer Unschuld. Als erstes beschreibt Reineke einen goldenen Ring, der »würdig« sei, »im Schatze / Meines Fürsten zu glänzen« (X, iof.), kann er doch das Leben des 101
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Herder ( 1 7 9 3 / 1 8 8 7 / 1 9 6 7 ) . S. 2 1 9 . Lazarowicz ( 1 9 6 3 ) weist d a r a u f h i n , daß der Erzähler den Kunstgriff der Deskription eines künstlerischen Meisterwerks vermutlich von Vergil entlehnt habe. (S. 2 8 5 )
jeweiligen Besitzers »vor allem Übel [ . . . ] schützen« ( X , 49). Darauf verwiesen, so Reineke, drei eingravierte »hebräische Worte von ganz besonderer Deutung« ( X , 14). Die Macht bzw. Zauberkraft eines Kleinodes, speziell eines Rings, ist ein geläufiges Märchenmotiv, das als Mythos im Ring der Nibelungen seine wohl bekannteste Ausformung erhielt. Gleich zu Beginn konfrontiert Reineke den König mit der — nun aber verlorengegangenen — Aussicht auf unbegrenzte Macht und unbegrenzten Reichtum. Mit diesem Ring, so suggeriert ihm der Fuchs, wäre seine Stellung unantastbar. Als nächstes bedient er das Verlangen der Königin und erwähnt » K a m m und Spiegel« ( X , 5 1 ) , die er Bellyn vom Schatz seines Vaters für sie mitgegeben habe. Diese Stücke — »es fand sich auf Erden kein schöneres Kunstwerk« ( X , 53) — habe er seiner Frau beinahe gewaltsam abtrotzen müssen. Reineke stilisiert sich so zu einem mustergültigen Untertanen, der in jedem Fall seine unverbrüchliche Treue zum Herrscherhaus eigennützigem Denken und Handeln voranstelle. Mit diesem Bekenntnis verbindet er eine überaus schmeichelhafte Lobrede auf die Königin, die aufgrund ihrer edlen Abkunft, ihrer Tugend und Güte des Spiegels und Kammes würdig gewesen wäre. Der kostbare K a m m , den der Fuchs wie alle angeführten Schätze stante pede erfindet, besteht aus wertvollen »Pantherknochen« ( X , 66) und ist mit »köstlichsten Bilder[n] am Rücken« ( X , 79) verziert. Im mittleren Feld ist die mythologische Vorgeschichte des Raubs der Helena und damit des troischen Krieges abgebildet: das Urteil des Paris, ein in der bildenden Kunst und Literatur der Antike sehr beliebtes T h e m a . 1 0 2 Der Sohn des Priamos soll den Streit der Göttinnen J u n o (Hera), Pallas Athene und Venus (Aphrodite) um den goldenen Apfel, der der Schönsten zugedacht ist, entscheiden. Diese sind bestrebt, Paris mit Bestechungsversuchen für sich einzunehmen. J u n o verspricht ihm — so wie Reineke seinem König — Macht und Reichtum, Pallas Athene militärischen Ruhm und Venus die schönste Frau: Helena. Und so erhält schließlich Venus den Apfel. Wird der Mythos vermenschlicht, so entspricht in gewisser Weise die auch in Götterkreisen vorherrschende Eitelkeit der am Hofe Nobels anzutreffenden Grundbefindlichkeit. Jeder ist nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht, Reineke bildet bei diesem Treiben, höchstens abgesehen von der Wahl seiner drastischeren Mittel, keine Ausnahme. Bei der Schilderung dieser mythologischen Episode erwähnt er freilich nicht, daß Hermes, der göttliche Schelm, diese Schönheitskonkurrenz ausgerichtet hat. 1 0 3 Hermes, ein Sohn des Zeus, ist der Gott der Reisenden, Kaufleute und Diebe. Der homerische Hymnos schildert ihn als Meisterdieb, der, noch ein Wickelkind, seinem Bruder Apollon eine
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Im 1 8 . Jahrhundert findet sich eine heitere, sinnlich-erotische Version dieser mythologischen Geschichte in Wielands Camischen Erzählungen ( 1 7 6 5 ) . Z u Hermes vgl. Grant/Hazel ( 1 9 7 3 / 1 9 9 3 ) . S. 2 0 3 — 206; Hunger (1988). S. 2 2 2 — 2 2 7 . Z u r mythologischen und psychologischen Interpretation dieses spezifischen Göttertypus vgl. Jung/Kerényi (1940).
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Rinderherde stiehlt. Vor dem Richterstuhl des Zeus gelingt dem Redekünstler schließlich eine erfolgreiche Verteidigung. Den Wettbewerb um den von Paris zu überreichenden Apfel dirigiert er vom Hintergrund aus. Wie er, lenkt auch Reineke seine Geschicke mit Erfolg. Reineke selbst ist Hermes, der göttliche Erzschelm, der Meisterdieb und Meisterredner in einem, dem selbst das Göttergericht des Zeus nichts anhaben könnte, um so weniger das törichte Gericht einer degenerierten Hofgesellschaft. Reineke sieht sich selbst in der Rolle des unumschränkt herrschenden Manipulators. Auf die Eitelkeit der Zuhörer, vor allem der Königin, zielt Reineke in noch größerem Umfang ab, als er die besondere Eigenschaft des Spiegels erwähnt, beseitigt doch ein Blick in diesen alle Unzulänglichkeiten des Aussehens. Diese sagenhafte Zuschreibung korrespondiert mit Reinekes eigentlichem Anliegen bei der nun eingehenderen Beschreibung des Holzrahmens. Der Blick in den Spiegel entfernt körperliche Entstellungen, der Blick auf den Spiegel soll Reinekes Schandtaten, gleichsam seine moralisch-ethischen Entstellungen, vergessen machen. Damit stärkt der Fuchs in einer für die unaufgeklärten Zuhörer scheinbar absichtslosen Weise - über die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen verliert er in diesem Zusammenhang kein Wort - entscheidend seine Verteidigungsposition. Zunächst hebt er, wie immer bei der Beschreibung eines der Schmuckstücke, den außerordentlichen materiellen Wert gerade des Rahmens hervor. Dieser ist mit Schnitzereien, die insgesamt vier Geschichten erzählen, verziert. Jede dieser Episoden erfüllt im Kontext von Reinekes Verteidigungsstrategie eine ganz spezifische Funktion, sie sind dementsprechend hintersinnig angelegt. Darüber hinaus unterstreicht bereits das Genre der Geschichten die didaktische Intention ihres Erfinders. Reineke erzählt nämlich gleichsam vier Fabeln in der Fabel. Zunächst bekommt das Publikum die Geschichte »von dem neidischen Pferde« ( X , 1 3 3 ) , das mit einem Hirsch um die Wette laufen will, zu hören. Als das Pferd zurückfällt, wendet es sich an einen Hirten, der den Widersacher mit Aussicht auf Gewinn erlegen soll. Damit hat es bei diesem aber ein Jagdfieber ausgelöst, das sich auch dann nicht abkühlt, als das Pferd — vergeblich -
um eine Ruhepause bittet. Die Moral dieser
Geschichte faßt Reineke mit den Worten zusammen: »Seht, so lohnet sich der mit vielem Bösen, der, andern / Schaden zu bringen, sich selbst mit Pein und Übel beladet.« ( X , 1 5 0 Í ) Reineke hat selbstredend klare Vorstellungen, wie die entsprechenden Rollen der Fabel in seinem Umfeld zu verteilen sind. Er selbst empfindet sich als eine Art Jäger, der von einer selbstsüchtigen Mitwelt, die mit allerlei Schlichen einzig und allein den eigenen Vorteil sucht, wie der Hirte von dem Pferd gerufen worden ist. Sein Verhalten unterscheidet sich nicht wesentlich von dem seiner Ankläger, er nimmt lediglich aufgrund seines überlegeneren Vermögens die exponiertere und damit angreifbarere Stellung ein. Die Gesellschaft, die selbstgerecht über ihn zu richten gedenkt, müßte daher zunächst über ihren eigenen inneren Zustand Rechenschaft ablegen und
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nicht ihr gleichsam personifiziertes schlechtes Gewissen auszulöschen versuchen. In der nächsten Geschichte wird ein Hund von seinem reichen Herrn gegenüber einem Esel, der hart arbeitet, begünstigt. Ahnlich wie schon das Pferd zuvor reagiert der Esel mit Neid auf die seiner Meinung nach ungerechte Behandlung. Als er schließlich versucht, die Gunst des Reichen zu erzwingen, schadet er sich damit selbst und bezieht Prügel: »Mancher findet sich noch von seinem Geschlechte, der andern / Ihre Wohlfahrt mißgönnt und sich nicht besser befindet.« ( X , 1 7 8 O Wie der Esel dem Hund, so lautet implizit Reinekes Botschaft, mißgönnt auch die Hofgesellschaft dem Fuchs seine Wohlfahrt, und das, obwohl seine Triebe zwar nicht edler, aber eben auch nicht unedler sind als die seiner Kritiker. Reineke redet so seinen Zuhörern ein, daß die gegen ihn erhobenen Vorwürfe in letzter Konsequenz auf ihren Neid zurückzuführen seien. Die verbrecherischen Methoden, die er zur Förderung seiner ganz persönlichen Wohlfahrt anwendet, bleiben dabei freilich erwartungsgemäß unerwähnt. Noch konkreter wird Reineke in der folgenden Episode, die seinem unmittelbaren Lebensbereich entstammt und vom angeblichen Treueschwur zwischen seinem Vater und dem Kater Hinze handelt. Auch diese Geschichte will er auf dem Spiegelrahmen gesehen haben; das soll sie, wie die anderen Beschreibungen auch, in den Rang einer objektiven Wahrheit erheben. Angesichts einer drohenden Gefahr habe der egoistische Hinze, so Reinekes Schilderung, den Schwur gebrochen und seinen Vater im Stich gelassen: »Schändlich, Ihr habt es gehört, verriet ihn der nächste Verwandte, / Dem er sich doch am meisten vertraut.« ( X , 2 i o f . ) Reineke stellt mit dieser verleumderischen Anekdote die persönliche Integrität eines seiner ärgsten Widersachers in Abrede, um damit vor allem dessen Beschwerden a priori zu desavouieren. Darüber hinaus macht er mit der Wendung »Ihr habt es gehört«, die er in ähnlichen Variationen schon zuvor manches Mal verwendet hat, die Zuhörer zwangsweise zu Verbündeten seiner zynischen Rhetorik. Den Gepflogenheiten der Gattung entsprechend, verallgemeinert Reineke schließlich die Gesinnung und Verhaltensweise des Katers: »Solcher Bursche gibt es noch viel, wie Hinze sich damals / Gegen den Vater bewies: wie sollt' ich ihn lieben und ehren? / Halb zwar hab' ich's vergeben, doch bleibt noch etwas zurücke.« ( X , 2 1 5 - 2 1 7 ) Mit dieser Mischung aus vorgetäuschter innerer Verletztheit und souveräner Großmut appelliert er pathetisch an die Emotionen der Zuhörer. Tierisch-menschlicher Eigennutz ist auch das Thema der letzten Spiegelgeschichte. Ein Wolf, dem ein Knochen im Hals steckengeblieben ist, bittet einen Kranich um Hilfe und verspricht großzügigen Lohn. Der Vogel befreit ihn von seinen Qualen, allerdings nicht ohne ihm dabei Schmerzen zu bereiten. Als der Kranich schließlich um seine Bezahlung nachsucht, verhöhnt ihn der Wolf: Der Kranich solle ihm dankbar sein, daß er, der Wolf, ihm während der Operation nicht den Kopf abgebissen habe. »Also pflegen die Schälke mit ihren Knechten zu handeln«
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(Χ, 244)» lautet die Quintessenz der kurzen Fabel, die das reale Verhältnis, das zwischen Reineke und der Hofgesellschaft herrscht, prägnant auf den Punkt bringt. Reineke ist der Schalk, seine Feinde sind die Knechte. Darüber hinaus nimmt diese Lehrformel das Ende des Prozesses gleichsam vorweg. Auch Reinekes eigennützige Gesinnung wird sich letztlich für ihn auszahlen, allen gegenteiligen Beteuerungen der Rhetoriklehrbücher sowohl der Antike als auch des 1 8 . Jahrhunderts zum Trotz. Abschließend weiß Reineke noch von einem lange zurückliegenden Vorkommnis zu berichten, das die prinzipielle Gutartigkeit seiner Sippe im Unterschied zur prinzipiellen Bösartigkeit der Wolfsnatur — Isegrim ist ja sein Hauptankläger — belegen soll. Nobels Vater, so Reineke, sei einst so schwer erkrankt, daß die Ärzte ihn bereits aufgegeben hätten. Dank Reinekes Vater sei er am Leben geblieben, habe ihm dieser doch die rettende Medizin, eine höchstens sieben Jahre alte Wolfsleber, verschrieben. Die eigentliche Absicht, die Reineke mit dieser Geschichte verfolgt, besteht darin, eine grundsätzliche Charaktertypologie von Wolf und Fuchs zu entwickeln. Der damals in Frage kommende Wolf sei
-
typisch für seine Art und im Unterschied
zum
Fuchs — nicht bereit gewesen, sein Leben für den König hinzugeben. Man habe ihn schon mit Gewalt dazu zwingen müssen. Seine eigene Opferbereitschaft hat Reineke dagegen in seinen Verteidigungsreden mehrfach hervorgehoben. Isegrim, den Reineke im folgenden anhand von erlogenen Beispielen erneut als raffgierigen Egoisten denunziert, habe sich stets als typischer Wolf erwiesen: »Denn ein schlechter Same, was kann er Gutes erzeugen?« ( X , 3 3 2 ) Ein Wolf bleibe eben immer ein Wolf — ein von Natur aus selbstsüchtiges Wesen: Seinesgleichen gibt es genug! Sie schlingen der Güter Reichliche Früchte zusamt den Untersassen hinunter. Alles Wohl zerstören sie leicht, und keine Verschonung Ist zu erwarten, und wehe dem Lande, das selbige nähret! (X, 3 9 9 - 4 0 2 )
Auch ein Fuchs bleibe immer ein Fuchs - und damit ein von Natur aus selbstloses Wesen, so wie er, Reineke, der sich stets als treuer Untertan seines Königs erwiesen habe: Seht! Herr K ö n i g , so hab' ich Euch oft in Ehren gehalten. Alles, was ich besitze, und was ich nur immer gewinne, Alles w i d m ' ich Euch gern und Eurer Königin; sei es Wenig oder auch viel, Ihr nehmt das meiste von allem. (X, 4 0 3 - 4 0 6 )
Diese dichotome Zuordnung prinzipieller Wesensmerkmale und deren Verankerung in einem schlichten Gut-Böse-Schema verleiht der Argumentation Reinekes eine neue Qualität: A m Ende seiner ausführlichsten und psychologisch
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komplexesten Verteidigungsrede agitiert ein Volkstribun auf demagogische Weise. Reinekes differenziert und suggestiv angelegte rhetorische Strategie verfehlt denn auch nicht ihre erhoffte Wirkung: So staffierte Reineke klug Erzählung und Worte. Jedermann glaubt' ihm; er hatte die Schätze so zierlich beschrieben, Sich so ernstlich betragen; er schien die Wahrheit zu reden. J a , man sucht' ihn zu trösten. U n d so betrog er den K ö n i g , Dem die Schätze gefielen; er hätte sie gerne besessen [ . . . ] (X, 4 4 1 - 4 4 5 )
Das Votum der Allgemeinheit hat der König bereits zuvor vorweggenommen: »Was mich selber betrifft, vergeb' ich Reineken alles [.. .]« (X, 4 3 1 ) Nur der schwer beschuldigte Isegrim kann sich — verständlicherweise - mit der überraschenden Wendung des Prozesses nicht zufriedengeben. Und so spitzt sich im elften Gesang die Auseinandersetzung vor Gericht noch einmal dramatisch zu. In der unmittelbaren Konfrontation der beiden Hauptkontrahenten erwidert Reineke Isegrims Anklagen wegen »Überwältigung, Mord und Verrat« (XI, 52) mit dem freilich nicht zu widerlegenden Einwand, die Beschädigten müßten den Grund für ihr Leid in ihrer geradezu triebhaften Gier suchen. Diesen Hinweis untermauert er mit der Sentenz: »Allzugroße Begierde wird immer schädlich. Gewöhnt sich / Ungenügsam das Herz, so muß es vieles vermissen. / Wer den Geist der Gierigkeit hat, er lebt nur in Sorgen, / Niemand sättiget ihn.« (XI, 66—69) Das Geflecht aus Lügen und Wahrheit empfinden die Zuhörer und allen voran der König in seiner richterlichen Funktion als immer undurchschaubarer und so muß letztlich doch das Gottesgericht in Form eines Zweikampfes, ausgetragen zwischen Reineke und Isegrim, entscheiden. Mit List, aber ganz sicher ohne göttlichen Beistand kann der Fuchs seinen Todfeind bezwingen. Nahezu vollständig läuft nun die Menge zum Sieger über: »In der Welt geht's immer so zu.« (XII, 2 1 9 ) Schließlich ernennt auch noch der König Reineke zum »Kanzler des Reiches« (XII, 294), meint er diesen doch »am Hofe / Nicht entbehren« (XII, 289^) zu können. In diesem Zertifikat offenbart sich die makabere Ironie einer aus den Fugen geratenen Welt. In seiner Perfidie erinnert Reineke - es wurde bereits angedeutet — an Shakespeares Richard III: Absolut unverfroren und diabolisch durchtrieben verfügen beide über ein beeindruckendes taktisches Geschick, über psychologische Raffinesse und über eine machtvolle Beredsamkeit zur Durchsetzung ihrer Ziele. Derart taktisches, ja weltkluges Verhalten erinnert beispielsweise auch an die von Baltasar Gracián in seinem 1647 verfaßten und 1 7 3 3 ins Deutsche übersetzten Oráculo manual vertretene pessimistische Auffassung, die Intrige gehöre zur Praxis der politischen Welt. Dem äußeren Anschein nach müsse sich, so Gracián in seinem 219. Aphorismus, jeder davor hüten, als Mann der Verstellung zu gelten, »obgleich sich's ohne solche heutzutage nicht leben 77
läßt«. 104 Bereits Niccolò Machiavelli hat in den Kapiteln 1 5 bis 18 seiner 1 5 1 3 verfaßten und 1 5 3 2 , fünf Jahre nach seinem Tod, gedruckten Schrift 11 Principe psychologisch wirksame Herrschaftstechniken vorgestellt, die ihrer Form nach an das Vorgehen Reinekes erinnern. Diese Empfehlungen, die den »Machiavellismus«-Vorwurf begründeten, wollte der Staatstheoretiker lediglich zeitlich eng begrenzt während eines kurzfristigen Notstands des Gemeinwesens angewendet wissen. Das Ergebnis von Machiavellis negativer Anthropologie besteht in der Erkenntnis, daß der Mensch nur unter Zwang und Not bereit sei, moralisch zu handeln. Daher, so führt Machiavelli im fünfzehnten Kapitel aus, müsse ein Fürst, wenn er sich behaupten wolle, die Fähigkeit erlernen, nach dem Gebot der Notwendigkeit auch nicht gut sein zu können. 105 Der Fürst müsse sowohl geliebt als auch gefürchtet werden, seien doch die Menschen im allgemeinen wankelmütig, unaufrichtig, heuchlerisch, furchtsam und habgierig. 106 Diese Eigenschaften charakterisieren auch die Hofgesellschaft in Goethes Versepos. Reineke dagegen überschreitet die von Machiavelli postulierten moralischen Grenzen. Das den Fürsten auferlegte Raubverbot beispielsweise mißachtet er ständig. Das Zugeständnis Machiavellis, der Fürst brauche, um Großes zu vollbringen, auf sein gegebenes Wort nicht allzu viel Wert legen und dürfe die Menschen mit List hintergehen, beansprucht auch Reineke für seine Redestrategie bei Hof. 1 0 7 Dementsprechend empfiehlt Machiavelli eine geeignete Mischung aus List und Gewalt. Der wahre Fürst habe schlau wie ein Fuchs (!) und kühn wie ein Löwe zu sein. Die nachfolgende Beschreibung der Fuchsnatur entspricht ganz dem Wesen von Goethes Reineke: wer es am besten verstanden hat, von der Fuchsnatur Gebrauch zu machen, hat es am besten getroffen. Aber man muß eine solche Fuchsnatur zu verschleiern wissen und ein großer Lügner und Heuchler sein: die Menschen sind so einfáltig und gehorchen so sehr den Bedürfnissen des Augenblicks, daß derjenige, welcher betrügt, stets jemanden finden wird, der sich betrügen läßt. 1 0 8
In diesem Sinne hat etwa auch Gracián der Fuchsnatur prinzipiell größere Wirkungsmöglichkeiten attestiert als der Löwennatur: W o es mit Gewalt nicht geht, — mit Geschicklichkeit. Auf einem Wege oder dem andern: entweder auf der Heerstraße der Tapferkeit, oder auf dem Nebenwege der Schlauheit. Mehr Dinge hat Geschick durchgesetzt als Gewalt, und öfter haben die Klugen die Tapferen besiegt, als umgekehrt. 1 0 9
Machiavelli führt weiter aus, daß der füchsische Fürst gleichzeitig immer den Anschein von Milde, Aufrichtigkeit, Menschlichkeit und Frömmigkeit 104 105 ,o6 107 ,o8 109
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Gracián ( 1 6 4 7 / 1 9 6 7 ) . S. 9 3 . Machiavelli ( 1 5 1 3 / 3 2 / 1 9 8 6 ) . X V . S. 1 1 8 . Ebd. X V I I . S. 1 2 6 - 1 3 4 . Ebd. X V I I I . S. 1 3 4 . Ebd., S. 1 3 7 . Gracián ( 1 6 4 7 / 1 9 6 7 ) . S. 9 3 .
(»pietà«, »fede«, »integrità«, »religione«) erwecken m ü s s e . 1 1 0 Menschen urteilen nach seiner Meinung des äußeren Eindrucks entsprechend und lassen sich daher leicht täuschen: Alle sehen, was du scheinst, aber nur wenige erfassen, was du bist; und diese wenigen wagen nicht, der Meinung der vielen zu widersprechen, welche auf ihrer Seite die Majestät des Staates haben, der sie schützt [ . . . ] 1 1 1
Diesen Eindruck vermittelt auch Goethe im Reineke Fuchs. Die Opfer und Gegner Reinekes werden letztlich von der manipulierten Mehrheit aus der Mitte der Gesellschaft gedrängt. Im Sinne Machiavellis zählt für Reineke ausschließlich der E n d e r f o l g . 1 1 2 Die Mittel des Siegers gelten dabei immer als ehrenvoll, »denn der Pöbel läßt sich immer von dem Schein und dem Erfolg mitreißen; und auf der Welt gibt es nur P ö b e l « . 1 1 3 Reineke wird schließlich zum Kanzler des Reichs ernannt. Die politische Effizienz bricht den moralischen Imperativ. In der Kunst der Verstellung leistet die Rhetorik manche Hilfsdienste. Im Zeichen eines Natürlichkeitspostulats wurde diese Verstellungskunst, die Oratio figurata, im 1 8 . Jahrhundert, beispielsweise von Rousseau, zunehmend kritisiert. 1 1 4 Trotz seiner grundlegenden Skepsis erliegt im Reineke Fuchs zuletzt auch der König der füchsischen Redekunst. Reineke erringt einen grandiosen und geradezu mustergültigen Überredungssieg. Dieser Triumph ist jedoch nicht allein der einzigartigen Begabung des Protagonisten zuzuschreiben, sondern in erster Linie der Schwäche seiner Zuhörer. Z u m Verständnis einer redlichen Uberzeugungsarbeit fehlt der Hofgesellschaft König Nobels die intellektuelle Befähigung. Einem geschickten Demagogen wie Reineke haben sie nichts entgegenzusetzen. Diese aus dem Versepos gewonnene Einsicht unterstreicht auch die von Goethe mehrfach artikulierte genuine Fragwürdigkeit der rhetorischen Kunst. Im Gespräch mit Eckermann vom 2 8 . 3 . 1 8 2 7 hat er sich beispielsweise mit folgenden Worten über die Antigone des Sophokles geäußert: Alle [sophokleischen Charaktere] besitzen eine solche Redegabe und wissen die Motive ihrer Handlungsweise so überzeugend darzulegen, daß der Zuhörer fast immer auf der Seite desjenigen ist, der zuletzt gesprochen h a t . " 5
Dem positiven ästhetischen Urteil steht ein negatives ethisches Urteil gegenüber. Dem Fuchs im Versepos fehlt freilich ein adäquater Widersacher, der ihm intellektuell gewachsen wäre und ihn rhetorisch herausfordern könnte. Daher " , 0 Machiavelli ( 1 5 1 3 / 3 2 / 1 9 8 6 ) . X V I I I . S. 1 3 8 . Ebd., S. 1 3 9 . 1,2 Ebd., S. 1 4 0 . Ebd., S. 1 4 1 . 114 Z u Rousseaus ebenso scharfer wie beredter Rhetorik- und Verstellungskritik vgl. etwa Geitner ( 1 9 9 2 ) . S. 2 0 9 - 2 3 8 ; Meuthen (1994). S. 1 1 5 - 1 6 6 . 1,5 Zitiert und analysiert bei Schottlaender ( 1 9 8 1 ) . Zitat: S. 2 5 3 .
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hat er mit seiner törichten Umwelt leichtes Spiel. Goethes Bemerkung über den zwangsläufigen Sieg des letzten Redners beschreibt dagegen nahezu idealtypisch den rhetorisch-gerichtlichen Alltag Abderas, auch wenn die satirisch überzeichneten wielandschen Sykophanten nicht mit den tragischen sophokleischen Helden zu vergleichen sind, sondern vielmehr wie deren Karikaturen erscheinen. Im Grundprinzip stimmen jedenfalls Goethe und Wieland überein: Ein Publikum, dem die Fähigkeit abgeht, aufgeklärt-kritisch zu räsonieren, ist den Manipulationsversuchen eines geschickten Redners hilflos ausgeliefert. Beide Dichter, Wieland wie Goethe, verarbeiteten in ihren Werken, trotz aller Überzeitlichkeit der dargestellten allgemeinmenschlichen Schwächen, die unmittelbaren politischen Erfahrungen, die sie in und mit ihrer Zeit gemacht hatten. Goethe hatte bei der Konzipierung seiner Fuchsgestalt, 1793, die Wirklichkeit rhetorischer Propaganda und Agitation im revolutionären Frankreich konkret vor Augen. Wieland hat dagegen seine Geschichte der Abderiten viele Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution verfaßt. Gleichwohl scheint er bei der Zeichnung der abderitischen Anwälte seine spätere Einschätzung der revolutionären Propaganda in Frankreich regelrecht antizipiert zu haben. 1792 wirft er der Mehrheit der Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung zunehmenden Fanatismus vor und kritisiert diese als »Antipoden ihrer Vorgänger« 1 ' 6 im negativen Sinn, um dann fortzufahren: und man kann, wenn man auch nichts schlimmeres von ihnen gelesen hat, als was die Journale ihrer eignen Parthey von ihren Reden und Thaten erzählen, sich des Gedankens nicht erwehren, daß die französische Nazion ihr Heil keinen übel organisirtern Köpfen, keinen verächtlichem Sofisten und Sykofanten, keinen unwissendem, ungezognem, schlechter denkenden, brutalem, und in jeder Rücksicht zu dem erhabnen Beruf der Gesetzgebung untauglichem Menschen hätte anvertrauen können, als gerade diejenigen sind, von welchen sich der kleinere und gesundere Theil — (der aber, zum Unglück Frankreichs, fast immer die T r i b ü n e n gegen sich hat, und durch Murmeln, Schreyen, Lärmen und Brutalitäten von der herrschenden Parthey übertäubt wird,) bisher hat tyrannisiren lassen m ü s s e n . 1 1 7
Der historisch arg vorbelastete Begriff »Sykophant«, den Wieland, lange vor dem Zeitalter der Französischen Revolution, auf den Advokatenstand Abderas übertragen hat, dient nun, im Jahr 1792, zur näheren Charakterisierung jakobinischer Umtriebe. Der Zusammenhang zwischen Wielands Rhetorikkritik im Abderitenroman und seinem Unbehagen an moderner Agitation wird ex posteriori evident. Ein Jahr später, 1793, findet sich für die Bezeichnung »Sykophant« ein weiterer Beleg, der sich einerseits konkret auf Wieland bezieht, andererseits aber eine politisch andersartige Richtung verfolgt. Am 1 8 . 1 . 1 7 9 3 ist in der neunten Nummer der deutschen, in Mainz erscheinenden Jakobinerzeitschrift Der fränkische Republikaner ein » G e s p r ä c h zwischen einem P h i l o " 6 Wielands Gesammelte Schriften 1 , 1 5 ( 1 9 3 0 ) . S. 444. Zitat in Sperrdruck. " 7 Ebd., S. 444Í.
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s o p h e n , einem P a t r i o t e n , einem S i k o p h a n t e n aus der Gegend von Abdera und einer Philosophin« publiziert. 118 Der Ortsname »Abdera« ist mit einem Sternchen versehen, die entsprechende Fußnote verweist explizit auf Wielands Roman. Der Sykophant schaltet sich erst spät in das Gespräch ein. Ahnlich wie bei Wieland ist auch dieser Vertreter einer moralisch mehr als fragwürdigen Zunft einzig auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Während der Philosoph und der Patriot um die gesellschaftlich relevante Frage streiten, ob auch das einfache Volk an der Aufklärung partizipieren solle - der allein auf den gelehrten Diskurs fixierte und dem Volk grundsätzlich mißtrauende Philosoph verneint das im Gegensatz zum Patrioten - , entpuppt sich der Sykophant als Hedonist reinsten Wassers. Allein in »Liebe, Wein, Gesang, Spiel und Scherz« 119 sieht er die Erfüllung seiner Existenz, der alle höheren Werte und Ideale fremd sind. Seine Lebensmaxime kann er daher auf den schlichten Nenner: »ich bin mir selbst genug« 1 2 0 bringen. Eine derartige Einstellung läßt sich spätestens seit 1 7 8 1 , dem Erscheinungsjahr der umgearbeiteten Buchausgabe von Wielands Roman, einem bestimmten Menschentypus konkret zuordnen. So meint denn auch der Patriot spöttisch zum Sykophanten, nachdem er ihn verächtlich gemustert hat: »Sie sind wohl aus der Gegend von Abdera?« Der anonyme Autor dieses jakobinischen Propagandatextes hat sich zwar an Wielands prinzipieller Charakterisierung des abderitischen Sykophanten orientiert, die politischen Implikationen des Romans jedoch in ihr Gegenteil verkehrt. Während im fränkischen Republikaner das Volk als heimlicher Held gefeiert wird und auf diesem Weg auch politisch umworben werden soll, kommt Wielands Position derjenigen des am Gespräch teilnehmenden aufgeklärten Philosophen nahe, spricht er doch dem Volk in seiner Geschichte der Abderiten jegliche politische Kompetenz ab. In diesem Sinne identifiziert er 1792 die französischen Jakobiner mit den Sykophanten seines Romans: Er sieht in der revolutionären politischen Wirklichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts ähnliche Mechanismen rhetorischer Massenmanipulation am Werk, wie er sie in der fiktiven Welt seines Romans beschrieben hat. Der republikanisch gesinnte Autor des Gesprächs instrumentalisiert hingegen den von Wieland geschaffenen Figurentypus auf eine Weise, die Wieland ja gerade in seinem Roman verurteilt hat: Jede Form von Agitation lehnte Wieland ab und stellte ihr sein Ideal einer auf Maßhaltung bedachten Vernunft entgegen. Der eigennützige Sykophant dient in dem Gespräch als Negativfolie für den gemeinnützigen, um das Wohl aller kämpfenden Jakobiner, den wiederum Wieland 1792 selbst als fanatisierten und demagogischen Sykophanten denunziert hat. Ein und dasselbe Verdikt wird so auf die nur denkbar unterschiedlichste Weise als Kampfbegriff einge-
1.8
Nr. 9 ( 1 8 . 1 . 1 7 9 3 ) . S. 6 5 - 7 1 . Zitat: S. 65. Ebd., S. 70. ,2 ° Ebd., S. 68, wie auch das folgende Zitat. 1.9
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setzt und wechselweise von den einzelnen politischen Lagern gegen das jeweils andere ausgespielt. Von der ebenso unmittelbaren wie gefährlichen Wirkung
revolutionärer
Agitation auf die Meinung des Volkes handelt auch der Abschnitt Über die öffentliche Meinung in Wielands Gesprächen unter vier Augen von 1 7 9 8 . Mit der schon in der Geschichte der Abderiten artikulierten Skepsis stellt der Autor auch hier bitter fest, daß das Volk so veränderlich und wetterlaunisch, so wenig mit sich selbst in seinen Meinungen übereinstimmend, und so geneigt und gewohnt sey, blindlings hinter einem Anführer herzutraben, daß im Grunde bey seinen Meinungen nicht mehr, und nur allzu oft weniger Gutes heraus komme, als wenn es gar keine h ä t t e . 1 2 1
Die öffentliche Meinung konstituiert sich nach Wieland nicht aufgrund eines allgemeinen Räsonnements, sondern sie wird durch entsprechende Persönlichkeiten in exponierten Stellungen, wie etwa die Sykophanten in Abdera, hergestellt, gelenkt und - gegebenenfalls — manipuliert: Was man für die öffentliche Meinung ausgiebt, ist immer die Meinung und der Wunsch einer kleinen Anzahl von Köpfen, denen daran gelegen ist, das Volk zum Werkzeug ihrer Absichten zu machen, und die daher ihr möglichstes thun, das Feuer das sie anblasen, allgemein zu machen. Auch ist es ihnen wohl zuweilen gelungen, ganze Nazionen zu fanatisieren; aber, wenn hundert tausend Arme sich auf einmahl heben, so geschieht es nicht, weil es von eben derselben M e i n u n g , sondern weil sie von eben demselben S t o ß in Bewegung gesetzt werden. 1 2 2
Die Abderiten, das Volk, das es ja laut Wieland zu allen Zeiten und in allen Ländern gegeben habe und, da es nie untergehen werde, noch immer gebe, erfahren im französischen Volk gleichsam ihre Wiederbelebung. Der Revolutionär nützt wie der abderitische Sykophant seine unmittelbaren Zugriffsmöglichkeiten auf das unaufgeklärte und ihm daher hilf- und wehrlos ausgelieferte Volk ebenso effektiv wie skrupellos aus: so wirkt der erste beste hosenlose Toükopf, der auf einen Tisch steigt und mit donnernder Stentorstimme einem sich um ihn her drängenden Haufen Unsinn predigt, in zehn Minuten mehr, als die scharfsinnigsten und beredtesten Aufklärer, Weltverbesserer und Utopien-Drechsler in der ganzen Welt in hundert J a h r e n . 1 2 '
Die weltpolitische Dimension der abderitischen Spezifika, die Wieland zwischen 1 7 7 3 und 1 7 8 1 beschrieben hatte, offenbarte sich für ihn in der wirkungsmächtigen
Propagandamaschinerie der Französischen Revolution, die
dazu in der Lage war, ein unaufgeklärtes Volk zu fanatisieren. 1 2 4
121
Wieland: Sämmtliche Werke X . B d . 3 1 ( 1 7 9 9 / 1 9 8 4 ) . S. 306. Ebd., S. 307f. ,2 ' Ebd., S. 309. 124 Die Propaganda der deutschen Jakobiner wird in Kapitel 4 . 1 noch eigens zu untersuchen sein. 122
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Ähnlich wie Wieland hat etwa auch Christian Garve den manipulativen Z u g r i f f der Revolutionäre in Frankreich auf die öffentliche Meinung bewertet und kritisiert. Besonders in bewegten Zeiten sah er Mechanismen am Werk, m i t deren H i l f e sich Demagogen der öffentlichen Meinung bemächtigen wollten. A m Beispiel der Jakobinerklubs in Frankreich versucht er im zweiten Band seines Werks Ueber Gesellschaft und Einsamkeit aufzuzeigen, daß aus derartigen politisch-informellen Vereinigungen »bloße Volksversammlungen mit D e m agogen an ihrer Spitze entstehn; -
und daß diese ihre Absichten nur durch
d i e K ü n s t e erreichen, welche eine falsche Beredtsamkeit anwendet, um die G e m ü t h e r des großen Haufens zu bewegen [ . . . ] « 1 2 5 Eine solche Beeinflussung und Lenkung der Menge widerspricht Garves Ideal einer öffentlichen Meinung, die sich im freien, wechselseitigen Diskurs konstituieren und entfalten solle. D a m i t geht, wie bei Wieland, ein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber dem Demos, der sich nur allzu leicht manipulieren und aufreizen lasse, einher. Enttäuscht muß G a r v e einräumen, daß sich seine ursprüngliche H o f f n u n g , die Französische Revolution könnte Ideen und Werten der aufgeklärten Philosophie zum allgemeinen Durchbruch verhelfen, nicht erfüllt habe: Ich sehe jetzt deutlich ein, daß da, wo eine große Menge von Menschen mitwirken muß, nie auf die Wirkung sicher gerechnet werden kann, und diese immer unvollkommner und schlechter ausfällt, als man sich vorgestellt hatte. Ich sehe ein, daß, wenn die Unterthanen gegen die Regierung Gewalt brauchen, zu allen Gewaltthätigkeiten der Bürger gegen einander das Thor geöffnet ist. 1 2 6 Eine revolutionäre Situation bringt nach Garve zwangsläufig Meinungsführer hervor, die mit psychologischem Geschick den Ton des Volkes treffen und es auf diese Weise effektiv zu lenken wissen. Meinungen verwandeln sich in Leidenschaften mit einer entsprechend revolutionären Sprengkraft. Das revolutionäre Potential demagogischer Beredsamkeit führt Garve zufolge unvermeidbar ins Chaos. Die Ereignisse in Frankreich bestätigen ihn ebenso in dieser Auffassung wie ein Blick in die Geschichte. Das Ergebnis derartiger Überlegungen hat er in einer Uebersetzung und Erläuterung
der Rede
Kleons, eines Atheniensiscben Demagogen, im 3 jsten Kapitel des 3ten Buchs des Thucydides niedergelegt. 1 2 7 Auch Demosthenes, der ja häufig, wie noch zu zeigen sind wird, zu einer A r t Ahnherrn eines ebenso wirkungsvollen wie sittlichen
125 126
127
Garve (1800/1985). S. 73. Garve: Gesammelte Werke. 1. Abt. Bd. IV. 2. Th.: Ueber die Veränderungen unsrer Zeit in Pädagogik, Theologie, und Politik (1800/1985). S. 254. Im ersten Band von Ueber Gesellschaft und Einsamkeit (1797/1985) spricht Garve den Argwohn höherer Stände gegenüber Versammlungen von Menschen niederer Abkunft an: »wo sie [ungebildete Menschen, d. Verf.] in Haufen versammelt sind, und also Aufsehn machen, zeigen sie gemeiniglich Unverstand und Unwissenheit mit Zügellosigkeit verbunden.« (S. 200) Garve: Gesammelte Werke. 1. Abt. Bd. IV (1796/1985). S. 4 4 5 - 5 1 5 .
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Redeideals verklärt wurde, schließt er in seine K r i t i k an der politischen Beredsamkeit des antiken Griechenlands mit ein und stellt ihn dem »Volksschmeichl e r « 1 2 8 Kleon, der während des Peloponnesischen Krieges zum Gegenspieler von Perikles und Nikias avancierte und jeden Friedensversuch torpedierte, an die S e i t e . 1 2 9 A n Verschlagenheit und Skrupellosigkeit übertrifft Kleon in G a r ves Zeichnung auch die abderitischen Sykophanten Wielandscher Provenienz. G a r v e interpretiert die jakobinische Propaganda in Frankreich als Wiedergeburt athenischer Demagogie.
Gleich zu B e g i n n seiner erläuterten
Ubersetzung
merkt er an: »Dieser Aufsatz ist im J a h r 1 7 9 4 , unter der Herrschaft der Robertspierrischen Partey und des Schreckensystems, v e r f e r t i g t . « ' 3 0 Später verdeutlicht er diese Anspielung noch und charakterisiert die vorliegenden Worte Kleons als »eine Rede, in welcher er die Athenienser und die Fehler der Demokratie, deren A u s w u r f er selbst war, so schildert, daß man glaubt, einen Patrioten auf dem Rednerstuhle des Pariser Convents, die Fehler seiner Nation und die falschen Schritte ihrer Repräsentanten rügen zu h ö r e n « . 1 3 1 Nach eingehender W ü r d i g u n g von Kleons Rhetorik stellt Garve schließlich sich und seinen Lesern die rhetorische Frage: »Finden wir nicht diesem Bilde der Kleonschen Beredsamkeit die Reden der französischen Demagogen in vielen Puncten ähnlich?«"32 Die Parallelisierung des gegenwärtigen Frankreichs und des antiken G r i e chenlands ist im Deutschland dieser Z e i t ungewöhnlich, wurde doch vorwiegend die >welsche V e r w a n d t s c h a f t Frankreichs zum antiken R o m hervorgehoben. Garves prinzipielle A b n e i g u n g gegenüber politischen Entscheidungsreden mag ihn zu diesem Vergleich bewogen haben. Darüber hinaus ließen ihn auch die jeweiligen politischen Strukturen eine entsprechende Bezugnahme für begründet erscheinen: »Die Geschichte der Griechen ist die Geschichte unaufhörlicher R e v o l u t i o n e n « , 1 ' 3 deren Ursprung in der demokratischen Staatsform liege. Als Befürworter eines Aufgeklärten Absolutismus zeigte sich G a r v e davon überzeugt, daß jede Demokratie den K e i m der Revolution in sich berge. Die »Vergleichung der Französischen Anarchie mit der, in welche sehr oft die Demokratie Athens ausartete«, 1 3 4 hält er daher für sinnvoll, ja angebracht, zumal er noch zusätzlich »eine gewisse Aehnlichkeit in den Geistes-Anlagen und der C u l t u r « , 1 3 5 insbesondere hinsichtlich ihrer Poesie und Beredsamkeit,
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Ebd., S. 466, in Sperrdruck. Demosthenes wie Kleon, so Garve, wollten vor allem »ihrem Volke [...] gefallen« (ebd., S. 467). Ebd., S. 447. 131 Ebd., S. 458. ,i2 Ebd., S. 468. '•» Ebd., S. 450. ,M Ebd., S. 455. '•» Ebd., S. 456. 129
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zu erkennen glaubt. Mit dieser Meinung bezieht Garve freilich eine deutliche Gegenposition zur zeitgenössischen Griechenrezeption in Deutschland, die sich mit ihrer programmatischen Hinwendung zur griechischen Antike nicht zuletzt von der französischen Kulturdominanz mit ihrer Präferenz der römischen Antike abzugrenzen versuchte. Demokratie und Demagogie sind für Garve nicht voneinander zu trennen. Er schildert Kleon, einem Deputierten der französischen Nationalversammlung vergleichbar, als Volksverführer, der die politische Entartung seines Gemeinwesens rhetorisch geschickt verschleierte und einzig durch die Kraft seiner Beredsamkeit wirkte. Hinsichtlich der Macht und Wirkung öffentlicher Rede stellte Garve das antike Athen und das moderne Frankreich auf eine Stufe, nicht ohne freilich auf einen verfassungspolitisch signifikanten Unterschied hinzuweisen. Während in Athen die Ekklesia, die Versammlung des Volkes als unmittelbarer politischer Souverän, selbst die Regierung geführt habe, erledigten in Frankreich die gewählten Repräsentanten des Volkes die Amtsgeschäfte. 1 3 6 Die Art der Beredsamkeit Kleons — und damit implizit auch der französischen Jakobiner - versieht Garve mit eindeutig negativ besetzten Epitheta wie schmeichlerisch, angriffslustig, anklagend, haßerzeugend, polarisierend. Die revolutionäre Demagogie sei im ganzen durch »das Ungestüme, Gewaltsame und Ausschweifende« 1 3 7 geprägt und widerspreche daher dem Ideal der Maßhaltung, dem sich auch Wieland verpflichtet fühlte: In der Heftigkeit und Uebertreibung liegt an und für sich eine gewisse Gewalt, durch welche die schwächern Menschen fortgerissen und überwältiget werden. U n d wenn die Neigungen eines Volks einmahl eine gewisse Richtung genommen haben: so erhält derjenige am sichersten Eingang bey ihm, der von derselben Leidenschaft, in dem ausschweifendsten Grade, eingenommen scheint. 1 3 8
In der Sorge über die möglichen Wirkungen einer entfesselten Beredsamkeit bei einem unaufgeklärten Demos stimmen die hier diskutierten Positionen Garves, Wielands, Goethes und — selbstverständlich — auch Kants überein. Garve flüchtet sich angesichts vergangener und gegenwärtiger Zeitläufte zuletzt in die resignative Frage: Aber woher k o m m t es, daß der Geist der alten und der neuen Demagogen, auf gleiche Weise blutdürstig scheint; und daß, einem regierenden Volke s c h m e i c h e l n , so oft nichts anders ist, als gegen dessen Feinde, und alle, die ihm verdächtig scheinen, w ü t h e n ?*·'9
Gleichwohl schätzte Garve die Möglichkeit, auch untere Volksschichten aufzuklären, deutlich optimistischer ein als Wieland. Ihre Ablehnung rhetorisch" 6 Ebd., Ebd., " 8 Ebd., ' · " Ebd.,
S. S. S. S.
460. 465. 466. 5i2f.
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propagandistischer Mittel, die die Massen weiter entmündigen anstatt sie aufzuklären, verbindet dagegen die beiden Autoren. Die manipulativen Gefahren einer entfesselten öffentlichen Beredsamkeit haben freilich auch, wie vor allem im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird, die Befürworter einer muttersprachlichen politischen Entscheidungsrede reflektiert und zu bändigen gesucht. Das Postulat, Beredsamkeit und Tugend als untrennbare Einheit anzuerkennen, reicht bis in die antike Vorstellungswelt zurück. Hugh Blair macht dann im 1 8 . Jahrhundert sogar die Genialität eines Redners - optimistisch - von dessen moralisch-ethischer Größe abhängig: N u r lebhaftes Gefühl für Ehre, Tugend, Großmuth und öffentliches Beste, kann das Feuer des Genies erregen, und in dem Geiste jene hohen Gedanken erwecken, welche die Bewunderung aller Zeitalter auf sich ziehen. 1 4 0
Z u einer vergleichbaren Überzeugung konnten sich Wieland und Goethe nicht durchringen. Ihre Einschätzung der Rhetorik und Beredsamkeit wird dominiert von einem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber einem unaufgeklärten Demos, der sich dem Geschick von Volksverführern nicht erwehren kann. Obgleich beide Dichter als Beispiel für ihre rhetorikkritische Auffassung die Gerichtsrede wählten, sind ihre dichterischen Stellungnahmen prinzipiell politischer Natur. Die Herausforderung der Französischen Revolution entfachte die Diskussion über das Für und Wider der öffentlichen politischen Rede in Deutschland mit neuer Schärfe und Brisanz. Die hier vorgestellten Antworten Wielands und Goethes fallen negativ aus, wobei Wieland in seinem Roman noch nicht einmal auf unmittelbare revolutionäre Erfahrungen zurückgreifen konnte. Wieland wie Goethe sprechen der Gesamtheit des Volkes, in der sie kulturpessimistisch eine zerstörerische Triebkraft am Werk sehen, die Befähigung zur politischen Partizipation ab. Hinsichtlich der Möglichkeiten und Gefahren öffentlicher Rede argumentieren sie primär rezeptionsorientiert. Ahnlich wie Kant und auch viele andere wollen sie den Adressatenkreis eines aufgeklärten Diskurses daher auf die bereits Aufgeklärten selbst beschränkt wissen. Allein diese Exklusivität garantiere, so die Überzeugung, einen Schutz vor Mißbrauch. Mit dieser Auffassung läßt sich die Existenz einer öffentlichen politischen Entscheidungsrede nicht vereinbaren, ist diese doch an eine mehr oder weniger freiheitliche Verfas-
140
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Blair ι . Theil ( 1 7 8 5 ) . S. 2 1 . Im englischen Original lautet dieser zentrale Gedanke: »They are the ardent sentiments of honour, virtue, magnanimity, and public spirit, that only can kindle that fire of genius, and call up into the mind those high ideas, which attract the admiration of ages [ . . . ] « (Blair ( 1 7 8 5 ) . 1. B d . S. 17). M i t größerer Nüchternheit hat Quintilian die Möglichkeit erwogen, daß sich auch lasterhafte Menschen erfolgreich der Beredsamkeit bemächtigen könnten; in diesem Fall werde, so Quintilian, die Beredsamkeit im ganzen desavouiert: »hoc certe procul eximatur animo, rem pulcherrimam eloquentiam cum vitiis mentis posse misceri. facultas dicendi, si in malos incidit, et ipsa iudicanda est malum: peiores enim illos facit, quibus contingit.« ( 1 2 , 1 , 3 2 )
sung und an ein Partizipationsangebot der traditionellen Herrschaftseliten zugunsten wenigstens eines Teils der bisherigen Untertanen gebunden. Die verfassungspolitische Wirklichkeit in Deutschland um 1 8 0 0 schränkte freilich die Entfaltungsmöglichkeiten einer öffentlichen politischen Beredsamkeit entscheidend ein. Gerade auch diese Mangelsituation hat neben den soeben erörterten kritischen Stimmen zur öffentlichen R e d e eine Faszination über ihr offenkundiges Wirkungspotential
aufkommen
lassen. D i e
revolutionäre Rhetorik
in
Frankreich war also eine Bezugsgröße in positiver wie negativer Hinsicht, wobei sich freilich nicht wenige Befürworter einer wirkungsorientierten Beredsamkeit von den spezifisch revolutionären Redestrategien, wie sie in Frankreich angewendet wurden, entschieden abzugrenzen versuchten.
3.2 Die Faszination der Beredsamkeit Das Lager derjenigen, die vor den manipulativen Gefahren persuasiver Beredsamkeit warnten, war keineswegs so homogen, wie häufig in der Forschung der Anschein erweckt wird. Grundsätzlich muß hier zwischen den dezidierten Gegnern jeder wirkungsorientierten öffentlichen Rede und ihren Befürwortern, die sich lediglich gegen — aus ihrer Sicht — rhetorisch-revolutionäre Exzesse wandten, unterschieden werden. Abgesehen davon zählten ja Rhetorik und B e redsamkeit weiterhin zum kanonisierten B i l d u n g s g u t und waren damit eine feste Bezugsgröße im geistig-kulturellen Leben. Die Theorie der schönen W i s senschaften umfaßte Poesie und Beredsamkeit. O b man es nun guthieß oder kritisierte: Die Beredsamkeit gehörte zu den schönen Künsten und wurde dementsprechend in der einschlägigen Literarhistoriographie behandelt. Übereinstimmend stellte diese fest, daß die Kanzel der genuine Ort der deutschen Rede sei und die Kirchenspaltung die weitere Entwicklung der Kanzelberedsamkeit nachhaltig geprägt habe. Obgleich einige Kanzelredner, beginnend mit Luther, sowie politische Lobredner, insbesondere J o h a n n J a c o b Engel, positiv erwähnt werden, verhehlen Literarhistoriker wie Bouterwek, Horn oder Eichhorn die prinzipielle Unterlegenheit der deutschen praktizierten Redekultur gerade gegenüber Westeuropa nicht. Im Gegenteil: D i e Überzeugung, die deutsche B e redsamkeit friste lediglich ein marginales und verkümmertes Dasein, korrespondiert — entsprechend der jeweiligen politischen Gesinnung - mit einem teilweise geradezu verklärenden Blick nach Frankreich und vor allem England. Paradigmatisch für diese Auffassung urteilt etwa Eichhorn: »In Deutschland stand bisher und steht noch jetzt Staats- und Gerichtsverfassung einer Beredtsamkeit entgegen, wie sie die Alten geübt hatten, und gegenwärtig noch Britannien b e s i t z t . « 1 4 ' " " Eichhorn Bd. 4/2 (1808). S. 1 0 5 1 .
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3-2.1 Der verklärende Blick nach Westen Zum Hunde, der die ganze Nacht An seiner Kette zugebracht, Und wann der Tag zu grauen fieng, A u f s Gay mit seinem Mezger gieng. Sprach einst ein Wolf: Herr Bruder, wie so mager, So schäbicht, und so hager! Du armer Hund! Da sieh mich an, wie froh und wie gesund Ich bin! — Ich rieche nach der Luft. Mein Wolfsbalg athmet frischen Duft, Ich fresse dir mit gleicher Lust, Herr Bruder, Bald frisches Fleisch, bald Luder, Denn leck' ich klaren Quell, und bin Den ganzen Tag von frohem Sinn; — Du aber — ach! versetzte Melak, ach! Herr Bruder, nur gemach; Drum bist du Wolf; ich Hund - du frey; Ich aber in der Sklaverey. Und die Moral? — o die ist jedermann bekannt In Deutschland und in Engelland.
Die große Schar deutscher anglophiler Gelehrter verwendete vor allem in der politischen Publizistik des 18. und 19. Jahrhunderts »Freiheit« und »England« als gleichsam synonyme Begriffe. Häufig diente diese Gleichsetzung zur Kontrastierung der eigenen, als unbefriedigend empfundenen (verfassungs-)politischen Wirklichkeit im deutschen Reich. Diesen beinahe schon topischen Gegensatz von englischer Freiheit und deutscher Knechtschaft thematisierte auch Christian Friedrich Daniel Schubart in seiner Fabel Der Wolf und der Hund aus dem Jahr 1 7 7 4 . 1 4 2 Wie sehr diese Auffassung im allgemeinen Denken geradezu schon sprichwörtlich verankert war, mag ein Blick auf Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail von 1782 zusätzlich belegen. Im ersten Auftritt des zweiten Aktes entgegnet Blonde trotzig auf Osmins Einwand, er habe sie von Bassa Selim als Sklavin geschenkt bekommen: »Bassa hin, Bassa her! Mädchen sind keine Ware zum Verschenken! Ich bin eine Engländerin, zur Freiheit geboren, und trotz' jedem, der mich zu etwas zwingen will!« 1 4 3 Derartige Stellungnahmen zum politischen System Englands sagen freilich mehr über die jeweilige Einschätzung der politischen Verhältnisse im eigenen Land aus als über die englische Realität: Angesichts einer als mangelhaft bewerteten politischen Wirklichkeit in Deutschland wird die Situation Englands ste-
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Schubart (1774/1975). S. 8. Der Gedankenstrich nach »aber« im sechsten Vers von unten fehlt im abgedruckten Text, wird aber in einer unpaginierten Korrigenda-Liste zwischen »Vorbericht« und »Erstem Stück« gefordert. Zitiert aus Mozart (1990). S. 555.
reotyp v e r k l ä r t . 1 4 4 Der programmatischen H i n w e n d u n g zu England konnte dabei eine identitätsstiftende Funktion zukommen: Die deutsche Variante der Anglophilie stilisierte die englische Nation zum Ideal einer germanischen
-
und damit zu einem besseren Deutschland. Ü b e r die gemeinsamen Vorfahren, die A n g e l n und die Sachsen, wurde auf eine genuine Stammesverwandtschaft geschlossen. Seit den angelsächsischen Eroberungen, so Bouterwek im siebten Band seiner Geschichte der Poesie und Beredsamkeit,145
habe die englische Nation
einen germanischen Charakter angenommen. D i e altenglische sei dann aber von der französischen Sprache unterdrückt worden. Die Entwicklung des N e u e n g l i schen interpretiert Bouterwek als Reaktion auf diese sprachlich-kulturelle H e gemonie des Französischen: »Mit dem alten Stamme der Sprache rettete die Nation ihren germanischen C h a r a k t e r . « 1 4 0 Dieser Glaube an den Ursprung der englischen Freiheit in den germanischen Wäldern führte nicht zuletzt zu der Überzeugung, bei entsprechendem Willen könne man auch die gegenwärtige Unfreiheit in Deutschland überwinden, sei doch das Prinzip Freiheit dem germanisch-deutschen Wesen gleichsam naturgegeben. D i e Vorbildfunktion Englands gründete sich aber nicht auf einzelne, voneinander unabhängige Phänomene wie die Staatsverfassung oder die Vorstellung von den freiheitlichen Ursprüngen dieser Nation, sondern bildete einen G e samtkomplex, der kaum einen gesellschaftlichen Bereich aussparte: 1 4 7 O b die Verdrängung des französischen Barockgartens durch den englischen
Land-
schaftsgarten, die Ablösung der klassizistischen, französischen Dramentheorie durch das neue Vorbild Shakespeares, das englische Modell einer durch die Monarchie eingeschränkten Repräsentatiwerfassung, die zunehmende empirische Ausrichtung der Philosophie oder die Rationalisierung der Landwirtschaft und die spätere Industrialisierung -
die Anglophilie, die aus der französisch
geprägten Aufklärungskultur der ersten H ä l f t e des 1 8 . Jahrhunderts hervorg i n g , hatte viele Gesichter. Sie half deutschen Gelehrten, die französische kulturelle Hegemonie in Frage zu stellen und ein eigenes Nationalbewußtsein zu artikulieren. D i e offenkundige Fähigkeit zur Selbstorganisation eines freien Volkes kulminierte schließlich im Parlament als Kernelement der Staatsverfassung. Die deutsche Rezeption der parlamentarischen Redetätigkeit in England soll nun näher betrachtet werden. Die Publikationen englischer Parlamentsdebatten haben in Deutschland ein nachhaltiges Echo hervorgerufen, wie etwa der hannoveranische Kanzleisekretär Ernst Brandes 1 7 9 2 betont. 1 4 ® A b e r nicht
144
145 146 147 148
Zur Verklärung Englands im 18. Jahrhundert vgl. Michael Maurer (1987). Einschlägig für den Gesamtkomplex sind auch Wolfgang J . Mommsen ( 1 9 8 1 ) sowie Wellenreuther (1992). Bouterwek 7. Bd. (1809). S. 4ff. Ebd., S. 9. Maurer (1987). S. 15. Brandes (1792). S. 45. 89
nur die deutsche, auch die englische Öffentlichkeit wollte die Reden lesen, führt Bouterwek aus: »Nicht um der rhetorischen Schönheit, aber desto mehr um der Sache willen.« 1 4 9 Erstmals wurden die Parlamentsakten in England von 1 7 2 0 bis 1 7 3 8 gedruckt; dann wieder — nach einem Verbot -
offiziell ab
1 7 4 2 . Diese Publikationslizenz habe sich, so Bouterwek weiter, positiv auf den rhetorischen Stil der Reden ausgewirkt. Auch Eichhorn weist darauf hin, daß die Veröffentlichung der Parlamentsreden zu vermehrten Anstrengungen der Redner geführt habe: Die beyden Parlamentshäuser sind daher nach dem ersten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts der Schauplatz geworden, auf welchem sich die englische Beredtsamkeit in ihrer ganzen Herrlichkeit z e i g t . 1 5 0
Erregender, leidenschaftlicher und aggressiver werde im Unterhaus debattiert, während sich die Reden im Oberhaus durch Anstand und Lebensart auszeichnen. Sicherlich auch mit Blick auf die Zensurpraxis im eigenen Land stellt Dietrich Hermann Hegewisch, Ordinarius für Geschichte in Kiel, in seiner vielbeachteten Geschichte der englischen Parlamentsberedsamkeit aus dem Jahr 1 8 0 4 nachdrücklich heraus, daß die Veröffentlichungen von Reden und Debatten in Periodika Staat und Nation in England keinerlei Schaden zugefügt hätten. 1 5 1 Die Grundlagen der englischen Parlamentsberedsamkeit, darin stimmen die genannten Literarhistoriker überein, reichen in das Zeitalter Elisabeths I. ( 1 5 5 8 - 1 6 0 3 ) und Jakobs I. ( 1 6 0 3 - 1 6 2 5 ) zurück. 1 5 2 Trotz aller Rückschläge in Form von Zwangsmaßnahmen und Knebelungsversuchen ließ sich die Redetätigkeit nicht mehr aus dem öffentlichen Leben verbannen, denn, so Hegewisch: »Das Gefühl für Freiheit hatte die Engländer nie verlassen [ . . . ] . « 1 5 3 In der zweiten Hälfte des 1 7 . Jahrhunderts hatte schließlich die Parlamentsberedsamkeit »allmählig ihren bestimmten Charakter bekommen; ihre Physiognomie hatte sich völlig entwickelt.« 1 5 4 Eine neue Dimension öffentlichen Wirkens in politischer und damit auch rhetorischer Hinsicht eröffnete dann die Glorreiche Revolution mit ihrer Verfassungskonstruktion des King-in-Parliament. »Die glückliche Revolution, vielleicht die glücklichste, die je ein Volk erlebte, wurde 1 6 8 8 zu Stande gebracht«, schreibt Hegewisch, wohlgemerkt fünfzehn Jahre nach Ausbruch der Französischen Revolution. 1 5 5 Das dreige-
149 150
Bouterwek 8. Bd. ( 1 8 1 0 ) . S. 2 7 5 . Eichhorn Bd. 4/2 (1808). S. 7 2 0 .
151
Hegewisch (1804). S. 1 6 6 — 1 7 0 . A u f Hegewisch bezogen sich zahlreiche Literarhistoriker in entsprechenden Abschnitten ihrer Werke, explizit beispielsweise Eichhorn B d . 4/2 (1808). S. 7 1 5 . Einführend zur deutschen Zensurgeschichte vgl. Franz Schneider (1966).
1,2
Bouterwek 7. Bd. (1809). S. 4 5 9 — 4 6 1 ; Hegewisch (1804). S. 2 1 . Hegewisch (1804). S. 2 5 . Ebd., S. 2 1 9 . Ebd., S. 1 5 6 .
154
90
teilte Parlament und die Kirche bildeten von nun an die beiden integralen Bestandteile des Staates. Und so brach auch für die englische Beredsamkeit ein »Goldenes Zeitalter« an. 1 ' 6 Die politische Redekunst wurde nachhaltig von der anglikanischen wie freikirchlichen Kanzelberedsamkeit mitgeprägt. Aber auch die Dichtung lieferte für dieses vielgliedrige System der Rhetorik ihren Beitrag, der sich vor allem an zwei Namen festmachen läßt: William Shakespeare und John Milton. In Miltons Paradise Lost (1667), einer »Parlamentsdebatte von übermenschlichem Ausmaß«, 1 5 7 konnten angehende und bereits praktizierende Redner die Psychologie der Massenbeeinflussung studieren, wie z.B. die rednerischen Verführungskünste Satans, denen Eva erliegt. Die Meisterschaft Miltons rühmt etwa Bouterwek in höchsten Tönen: Milton ergreift das G e m ü t h mit K r a f t , und reißt es hin, ihm auch auf Irrwegen zu folgen. Die Schrecken der Hölle und die Freuden des Paradieses theilen sich uns aus seinen Beschreibungen unwiderstehlich mit [ . . . ] In der poetischen Beredsamkeit ist Milton einer der größten Meister. Die Reden, die er den höllischen Geistern in den Mund legt, sind noch nicht übertroffen. 1 5 8
Auch Shakespeares politische Reden wurden von britischen Staatsmännern aufmerksam gelesen, offenbaren sie doch tiefe Einblicke in das Wesen der Rede schlechthin. 159 Die Parteireden in Shakespeares politischen Dramen weisen durch ihre Zielorientierung einen Aktionscharakter auf, der Handlungen unmittelbar auszulösen imstande ist. Wort und Tat verschmelzen so zu einer Einheit. Daß die Poesie als Quelle des Geschmacks Grundlage jeder qualitätsvollen Beredsamkeit sei, ist auch ein Kerngedanke von Adam Müllers Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland (1812): »jedes poetische Zeitalter ruft ein rhetorisches hervor.« l6 ° Müller sieht den entscheidenden Vorteil der englischen Beredsamkeit gegenüber anderen Nationen, vor allem Deutschland, bereits in ihrer Verankerung im Bildungsgang grundgelegt. Nicht mit schriftlichen Stilübungen (wie im lateinischen Schulfach »Rhetorik«), sondern durch »vielfältige Versuche in Versen«, 16 ' also gleichsam durch dichterische Vergegenwärtigung vorbildlicher Muster, findet der angehende Redner zu seiner unverwechselbaren Sprache. Eine derartige Sprache, in der sich Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Poesie und Beredsamkeit mustergültig ergänzen, bildet das
156
158 1,9
Gauger ( 1 9 5 2 ) . S. 3 5 . Für Gauger endet diese Epoche mit der Reformbill von 1 8 3 2 . Ebd., S. 1 7 . Bouterwek 7. Bd. ( 1 8 0 9 ) . S. 4 2 3 . V g l . dazu etwa Wolfgang G . Müller ( 1 9 7 9 ) und allgemein zu dieser Thematik Heinrich F. Plett: Theatrum Rhetoricum. Schauspiel - Dichtung - Politik. In: Plett ( 1 9 9 3 ) . S. 3 2 8 - 3 6 8 .
160
A d a m Müller: K r i t . Ausg. hg. v. Schroeder/Siebert. i . B d . ( 1 9 6 7 ) . Zitat: 5. Rede. S.358. ,6 ' Ebd. 6. Rede. S. 3 7 4 .
91
Fundament für die Selbstvergewisserung einer Nation und damit für ihre Identitätsfindung. Müller zufolge sind es die bedeutenden »Heerführer der britischen Beredsamkeit«: William Pitt der Ältere und der Jüngere, Charles Fox sowie vor allem Edmund Burke, »durch deren Mund England nunmehr gesagt hat, was es sei«, und die das britische Parlament zum »einzige[n] Schauplatz echter Beredsamkeit, der diesem unserm stummen Jahrhundert verblieben ist«, gemacht haben. 1 0 2 Burke hatte zudem in seinem 1 7 9 0 verfaßten und bereits 1 7 9 3 von Friedrich Gentz ins Deutsche übersetzten Reflections on the Revolution in France nicht zuletzt auf beredte Weise die aufgrund ihrer Breiten- wie Tiefenwirkung gleichsam gesamteuropäische konservative Antwort auf die Französische Revolution gegeben. Rednerische Selbstverständigung und nationale Identität gehören für Müller untrennbar zusammen und konstituieren gemeinsam die innere wie äußere Stärke Englands. Müller läßt bei seinen Beschreibungen und Analysen keinen Zweifel daran, daß er mit dieser verklärenden Zeichnung Englands das negative Kontrastbild Deutschland ständig mit vor Augen hat. Er nennt zwei Hauptursachen für die von ihm postulierte Überlegenheit der englischen Beredsamkeit in Europa: Neben der dichterischen Kraft und Anmut der Beredsamkeit stellt er noch den trotz aller Meinungsunterschiede und Parteistandpunkte prinzipiellen Patriotismus aller englischen Staatsmänner heraus. Jeder Redner, unabhängig von der gerade kontrovers zu diskutierenden Angelegenheit, sehe sich, so Müller, in einem höheren Gesamtzusammenhang. Daraus resultiere ein geradezu instinktartiger Respekt vor dem politischen Gegner und eine »an Anbetung grenzende Verehrung vor dem ganz unaussprechlichen Wesen, welches britische Verfassung heißt«. 1 0 3 Welchen Stellenwert Müller seiner Panegyrik der britischen Verhältnisse beimißt, zeigt allein schon die Tatsache, daß er die Quintessenz all dieser Überlegungen bereits im ersten Satz seines Vorlesungszyklus gleichsam vorwegnimmt: Die Betrachtungen über die Beredsamkeit, welche wir miteinander anzustellen im Begriff sind, müssen, so scheint es, auf die Verherrlichung einer benachbarten Nation fuhren, welche durch die Gewalt und den Reiz der Rede eine A r t von Weltherrschaft vorbereitet hat, — und auf eine gewisse Demütigung unsers deutschen Volkes, welches die Kunst, mit der lebendigen Rede zu zwingen und zu verführen oder sonst den Augenblick zu ergreifen, eigentlich nie besessen und welches das Wort nie bei der Hand gehabt, sondern meistenteils in der Feder erkalten lassen. — 1 6 4
Die der Rede im englischen Parlament zugesprochene Macht veranschaulicht Müller in seiner sechsten Rede am Beispiel des Rededuells zwischen Burke und
162
Ebd. Auch Bouterwek betont, erst im 1 8 . Jahrhundert sei »der prächtig blühende und fruchtreiche Stamm der englischen Beredsamkeit erwachsen«. (7. B d . ( 1 8 0 9 ) . S. 440)
163
Müller 1 . B d . ( 1 8 1 2 / 1 9 6 7 ) . 4. Rede. S. 3 4 2 . Ebd. I. Rede. S. 2 9 7 .
164
92
Fox - »zwei der größten Redner unsrer Zeit« - 1 6 5 in der Nacht vom 1 1 . zum 1 2 . 2 . 1 7 9 1 über die künftige Verfassung Kanadas: Die Beredsamkeit hat nie größere Wunder getan als in dieser Nacht; alles aber war unerwartet, wie von einer höheren Macht zubereitet. Die beiden Redner, und mit ihnen alle Zeugen, vergaßen sich selbst: die Ordnung des Parlaments, seit einem Jahrhunderte ununterbrochen, stand stille; wo man keinen Namen nennen darf, damit sich die Persönlichkeit nicht aus den großen Verhandlungen ungebührlich heraushebe, da galt es zehn Stunden hindurch nur die Persönlichkeit zweier Mitglieder.' 6 6
Zwischen Burke und dem jüngeren Fox, so Müller, habe politisch wie menschlich eine fast zwanzigjährige Freundschaft bestanden; geschlossen worden sei sie im Parlament von Großbritannien, »dem einzigen Orte in Europa, wo es der Mühe wert sein kann, Verbindungen auf Leben und Tod einzugehen, teils weil er nie entweiht worden, teils weil es ein ernsthafter Ort ist und die meisten andern gegen ihn nur Lustörter«.' 6 7 Der Streit, der diese Freundschaft beendete, entzündete sich an der Frage, ob man Kanada eine Verfassung im altbritischen oder im neufranzösischen Sinn der Freiheit geben sollte. Fox, der Befürworter der Französischen Revolution, plädierte für letzteres. Burke wiederum nahm die Debatte zum Anlaß, wie bereits ein J a h r zuvor in seiner politischen Streitschrift Reflections on the Revolution in France, die sich, Theorie und Praxis in einem, gleichsam auch an das Parlament als imaginativer Bühne wandte, über die epochale Dimension der Französischen Revolution und ihre verheerenden Folgen für ganz Europa, auch für persönliche, zwischenmenschliche Beziehungen zu sprechen. Mit tränenerfülltem Blick auf seinen bisherigen Freund und jetzigen Kontrahenten Fox führt er um Mitternacht (!), nachdem er zuvor noch aus Shakespeares Macbeth zitiert hatte, aus: Das G i f t der Revolution ist mit gemeinen Opfern nicht zufrieden; sein Stachel sucht das Hohe auf Erden, das Stolze, das Schöne, das recht Erprüfte, die heiligsten Verbindungen des Lebens und wird nichts verschonen. Ich selbst, am Rande des Grabes, müde nach dreißigjähriger rechtschaffener Arbeit fur England und für die Freiheit, hatte mich umgesehen nach einem Erben, dem ich das Vermächtnis meiner Sorgen, meiner Hoffnungen, meiner geheimen Gedanken über dieses Jahrhundert und über dieses mein Vaterland getrost übertragen und dem ich sagen könnte: Vollende, du Glücklicher, was ich gewollt! - Ich habe ihn gefunden; achtzehn Jahre hat er mein Testament und mich, wie das Bild seines Vaters, am Herzen getragen; — die Revolution ist ausgebrochen, und ich habe ihn nicht mehr; ich bin allein, mein Blut ist ausgestorben in diesem Hause, ich sterbe unbeerbt.' 6 8
Fox dagegen versucht die politische und die persönlich-private Ebene auseinanderzuhalten - vergeblich. Für Burke sind die Liebe zu einem Menschen und
165 166 167 168
Ebd. 6. Rede. S. 367. Ebd., S. 368. Ebd., S. 367. Ebd., S. 3 6 9 f .
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die Liebe zum Vaterland nicht zu trennen. Müller stilisiert Burke hier zu einer politischen Heiligenfigur, in der er seine eigenen Ideale eines Homo politicus verwirklicht zu finden glaubt: die Ablehnung der Französischen Revolution, ein hohes Maß an Beredsamkeit, der leidenschaftliche, ja bedingungslose Einsatz für das Vaterland. Burke denkt und handelt ganzheitlich in jedem Sinne. Rationalität und Emotionalität sind keine voneinander getrennten oder gar miteinander konkurrierenden Sphären seines Wesens, sie gehen vielmehr dialektisch ineinander auf und führen ihn zu einer neuen, höheren Bewußtseinsstufe. Burkes Denken artikuliert sich ebenso im Fühlen und Empfinden wie umgekehrt. Die aus diesem Bewußtsein gewonnenen Uberzeugungen erweisen sich gleichsam als sakrosankt. Wer sie dagegen nicht teilt, greift zwangsläufig auch deren Fürsprecher an. Ganz ähnlich wie für Robespierre, jedenfalls in seiner literarischen Charakterisierung durch Büchner 1 8 3 5 , sind der Mensch und die von ihm vertetene Sache ein und dasselbe und unauflösbar miteinander verbunden. Daher beantwortet Burke das Ansinnen von Fox, die langjährige Freundschaft zu retten, mit dem definitiven Satz: »Diese Freundschaft ist zu Ende!« 1 ® 9 Auf diese eisige Abfuhr, die laut Müller das gesamte, fünfhundertköpfige Parlament und damit »ganz England« in ihren Bann gezogen habe, folgt eine feurige Verherrlichung der spezifisch britischen Vorstellung von Freiheit. 1 7 0 Nach insgesamt vier Stunden, um zwei Uhr fünfzehn am Morgen, beendet Burke seine Rede und damit auch die Debatte. Der Macht seiner Beredsamkeit hat Fox nur die eigene Sprachlosigkeit entgegenzusetzen. Müller sieht in der Debatte um die Kanada-Bill 1 7 9 1 , vor allem in der langen Rede Burkes, Patriotismus, Beredsamkeit und Poesie auf ideale Weise zusammenwirken. In dieser Nacht zeigt sich für ihn exemplarisch, daß das britische Parlament mehr ist als ein staatliches Repräsentativorgan; es wird in seiner Vorstellung vielmehr zur idealen Nation in nuce. Das politische und rhetorische Wirken vorbildlicher Männer, viri boni im antiken Verständnis, trägt entscheidend zur Gründung einer idealen Gesellschaft bei. In der Sitzung vom 1 1 . / 1 2 . 2 . 1 7 9 1 hat sich das Parlament als Keimzelle einer mustergültigen Nation erwiesen, nicht so sehr wegen der dabei verhandelten konkreten Frage, sondern aufgrund der Art und Weise, wie — hauptsächlich von Burke - diskutiert worden ist: mit einem von Müller bis zur Heiligkeit stilisierten Ernst, mit patriotisch eingefärbtem Pathos und sprachlicher Eindringlichkeit. Daher habe sich, so Müller, die gesamte englische Nation von dieser Auseinandersetzung zwischen Burke und Fox fesseln lassen. In der vierstündigen Rede Burkes hat sich eine Nation gleichsam gefunden, ja, regelrecht neu konstituiert, und damit sei, so Müller, »das Schicksal von England, und von mehr als Eng-
169 170
94
Ebd., S. 3 7 0 . Kluxen ( 1 9 8 5 ) meint zu Burke: »Er stellte dem Idol einer abstrakten Freiheit den Stammbaum der englischen Freiheiten entgegen.« (S. 4 9 7 )
land«171
entschieden worden. U m dieser schicksalschweren Situation auch
sprachlich gerecht zu werden, versucht Müller das entsprechende Szenario möglichst genau zu rekonstruieren, indem er es dramatisch vergegenwärtigt. Wie in einem Drama des großen Vorbilds Shakespeare, an den Müller hier auch konkret gedacht haben könnte, vollzieht sich Politik in der öffentlichen Rede. Die Unmittelbarkeit des Wortlauts soll den Leser zum Mithörer machen, zumindest im Rahmen der beschränkten Möglichkeiten einer adäquaten Wiedergabe: N u r die äußeren Umstände lassen sich wiederherstellen und festhalten; das eigentliche Wunder der Beredsamkeit ist nur für die beneidenswürdigen Gegenwärtigen. Und wären uns alle Worte jener Nacht zurückgeblieben: wer kann die Töne wiedergeben?" 7 2
Die postulierte, in Wahrheit so nicht gegebene Meisterschaft von Burkes Redetätigkeit und seiner schriftstellerischen Arbeit begründet Müller nicht zuletzt mit
dessen
tiefem
Verständnis
für Shakespeare
und
»die
Dichter
des
Altertums«. 1 7 3 Darüber hinaus gewinnt er für Müller dank seiner unbedingten Verfassungstreue absolute Entscheidungs- und Handlungskompetenz, spreche er doch dadurch zwangsläufig immer »im Namen des Höheren und für ein höheres G u t « . ' 7 4 Müller umgibt so Burkes Beredsamkeit mit der Aura des Göttlichen. In der neunten seiner Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur ( 1 8 0 6 ) hat er bereits Burkes Staatsauffassung gleichsam germanisch gedeutet und in dem britischen Staatsmann einen »deutschgesinnten G e i s t « 1 7 5 ausgemacht: »Seine Werke sind bei uns übersetzt, verstanden, in ihrem ganzen Umfange der deutschen Wissenschaft einverleibt [.. .]« I7Doch was berechtigt Sie6
> Müller ι . B d . ( 1 8 1 2 / 1 9 6 7 ) . 8. Rede. S. 399. Damit der Gesprächscharakter auch beim Gottesdienst gewahrt bleibe, fordert etwa Theremin in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Abhandlung Die Beredsamkeit eine Tugend ( 1 8 3 6 / 1 8 8 8 ) dazu auf, die Predigt nicht von der (erhöhten und daher entfernten) Kanzel, sondern vom Altar aus zu halten. (S. 47f.) Im Sinne der Kanzelberedsamkeit plädiert er für die Abschaffung der Kanzel!
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Unkosten der Beredsamkeit schon allzu sehr gehuldigt wird«. 3 6 5 Nicht nur für die Poesie, auch für die Beredsamkeit erhebt Müller den Geschmack zum entscheidenden Urteilskriterium. 3 6 6 Ideale Verhältnisse sieht er dann gegeben, wenn Poesie und Beredsamkeit vollendet zusammenwirken, wie bereits in der griechischen Antike. 3 0 7 Das heißt freilich nicht, daß sich Poesie und Beredsamkeit vermischen sollten: »Vielmehr, man muß sie sondern, ihre Eigentümlichkeiten streng unterscheiden [.. .]« 3 0 8 Die Frage nach dem spezifischen Verhältnis von Poesie und Beredsamkeit bewegte das frühe 19. Jahrhundert in nicht unerheblichem Maße. Gerade die romantische Ästhetik, die in ihrer Jenaer Frühphase die Suche nach einer — keineswegs unrhetorischen — Universalpoesie programmatisch verkündet hatte, begann angesichts der politisch-gesellschaftlichen Krise an der Legitimation einer absoluten Poetisierung zu zweifeln. Diese (Selbst) Zweifel sprechen auch aus den Äußerungen Müllers über das Verhältnis der Poesie zur Beredsamkeit. Dabei meldete sich hier keineswegs ein Außenseiter zu Wort. Selbst einer der Protagonisten der Jenaer Frühromantik, August Wilhelm Schlegel, kritisierte in einem Brief an Fouqué vom 1 2 . 3 . 1 8 0 6 die Hermetisierung der Poesie im Sinne eines l'art pour l'art-Ideals. Die »Dichter der letzten Epoche« hätten, so Schlegel, »die Phantasie, und zwar die bloß spielende, müßige, träumerische Phantasie, allzusehr zum herrschenden Bestandtheil ihrer Dichtungen gemacht.«' 6 9 Das sei auch zunächst durchaus berechtigt gewesen, wegen der »Nüchternheit und Erstorbenheit dieser Seelenkraft« in der Aufklärung. Schlegel fordert nun angesichts der vor allem dank Napoleon krisengeschüttelten Zeitläufte mehr von der Poesie: Sie müsse, »um lebendig zu wirken, immer in einem gewissen Gegensatze mit ihrem Zeitalter stehen«: 3 7 0 Unsere Zeit krankt gerade an allem, was dem entgegengesetzt ist, an Schlaffheit, U n bestimmtheit, Gleichgültigkeit, Zerstücklung des Lebens in kleinliche Zerstreuungen und an Unfähigkeit zu großen Bedürfnissen, an einem allgemeinen mit-dem-StromSchwimmen, in welche Sümpfe des Elends und der Schande er auch hinunter treiben mag. W i r bedürften also einer durchaus nicht träumerischen, sondern wachen, unmittelbaren, energischen und besonders einer patriotischen Poesie. Dieß ist eine gewaltsame, hartprüfende, entweder aus langem unsäglichem Unglück eine neue Gestalt der Dinge hervorzurufen oder auch die ganze europäische Bildung unter einem einförmigen J o c h zu vernichten bestimmte Zeit. Vielleicht sollte, so lange unsere nationale Selbständigkeit, ja die Fortdauer des deutschen Namens so dringend bedroht wird, die Poesie bei uns ganz der Beredsamkeit weichen [ . . . ]
365 306 367 368 369
370
Müller ι . Bd. ( 1 8 1 2 / 1 9 6 7 ) . 4. Rede. S. 3 4 4 . Ebd. 5. Rede. S. 3 6 3 . Ebd., S. 3 5 5 . Ebd. 1 0 . Rede. S. 4 2 3 . August Wilhelm von Schlegel: Sämmtliche Werke. Bd. VIII/2 ( 1 8 4 6 / 1 9 7 1 ) . S. 1 4 4 , wie auch das folgende Zitat. Ebd., S. 1 4 5 , wie auch das folgende Zitat.
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Schlegel schreibt der Beredsamkeit eine dezidiert politisch agitatorische Aufgabe zu. Sie soll weniger, wie die Poesie, die Phantasie beflügeln, als vielmehr die Tatkraft. Diese Funktionszuweisung wurde als allgemein verbindlich angesehen, auch von Adam Müller. Gleichwohl strebte dieser, wie schon dargelegt, explizit eine Versöhnung von Poesie und Beredsamkeit an. Dabei ging es ihm vor allem um den Schutz der Beredsamkeit vor Mißbrauch: In dem U m g a n g mit der Poesie, habe ich gesagt, schleift die Beredsamkeit ihr allzu rauhes, männliches Wesen ab, sie dämpft und mäßigt ihre Leidenschaftlichkeit, sie erfüllt sich von jenem Geiste des Anstands, von jenem Sinn für sittliche und gesellschaftliche Beschränkung, der mit dem Worte Geschmack bezeichnet w i r d . 3 7 1
Mit dieser geschlechterspezifischen Metaphorik erweitert Müller sein Repertoire zur Beschreibung des Verhältnisses von Poesie und Beredsamkeit. Bereits in der vierten Rede hat er die Poesie mit einer Frau, die Beredsamkeit mit einem Mann und deren ideales Zusammenwirken mit einer Ehe verglichen. 3 7 2 Es komme nun auf das jeweilige Individuum und dessen Veranlagung an, ob es mehr »zum äußeren, praktischen öffentlichen Leben«, also zur männlichen Beredsamkeit neige oder »dem innerlichen Wirken« der weiblichen Poesie den Vorzug gebe. 3 7 3 Freilich darf man bei Müller diese Geschlechtermetaphorik nicht überbewerten, hat er sie doch geradezu exzessiv bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten angewendet. Das ist auch seinen Zeitgenossen nicht unverborgen geblieben, wie aus einem Brief Theodor Körners vom 2 4 . 5 . 1 8 1 2 an seine Familie hervorgeht: »Seine alte Sucht, überall die beiden Geschlechter zu finden, läßt ihn auch in der Prosa und Poesie das Verhältniß von Mann zu Weib entdecken.« 3 7 4 Gleichwohl ist dieser Vergleich keine genuin Müllersche Erfindung, sondern bereits in der antiken Rhetorik grundgelegt und damit allgemeines Bildungsgut. Quintilian etwa forderte die Redner dazu auf, einen männlich-kräftigen Wortschmuck zu verwenden. 3 7 5 Trotz dieses Traditionsbezugs haftet der Metaphorik Müllers das Manko der Beliebigkeit an, läßt sich doch auch das Bild der Ehe zwischen Poesie und Beredsamkeit kaum auf rednerische Aktivitäten in einem konkreten gesellschaftlichen Umfeld übertragen; es weist daher nicht über die metaphorische Ebene hinaus. Nicht zuletzt dieses artifizielle Spielen mit Bildern der Bilder wegen hatte Carl Schmitt im Sinn,
Müller 1. Bd. ( 1 8 1 2 / 1 9 6 7 ) . 5. Rede. S. 3 5 1 . " 2 Ebd. 4. Rede. S. 3 4 5 - 3 4 8 . ·"•' Ebd., S. 348. 574 Theodor Körner: Briefwechsel mit den Seinen. H g . v. Augusta Weldler-Steinberg. Leipzig 1 9 1 0 . S. 1 9 1 . Hier zitiert nach Baxa 1 . B d . (1966). S. 7 2 6 (auch abgedruckt im Anhang des zweiten Bandes der kritischen Ausgabe von Schroeder/Siebert, S. 460). 175 Quint. 8,3,6: »Sed hic ornatus [ . . . ] virilis et fortis et sanctus sit nec effeminatam levitatem et fuco ementitum colorem amet: sanguine et viribus niteat.«
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als er der politischen Romantik - nicht zu Unrecht - subjektiven Occasionalismus bescheinigte. 37 * 5 Der von Müller so in den Mittelpunkt gerückte Versöhnungsgedanke bestimmt auch seine Gesprächstheorie. Indem er die öffentliche Rede in einem Gespräch aufgehen läßt, will er ihr das Manipulationspotential nehmen. Dieses Ansinnen gleicht dem Versuch der Quadratur des Kreises. Müller verlangt nach einer tatauslösenden und zugleich poetisch abgesicherten Beredsamkeit, er wünscht sie sich entfesselt und gebändigt in einem. Dieses Zusammenführen von an sich Unvereinbarem, das in einen umfassenden Ausgleich mündet, prägt Müllers Denken in nicht unbeträchtlichem Maß, wie vor allem seine Abhandlung Die Lehre vom Gegensatz aus dem Jahr 1 8 0 4 beweist. In diesem fragmentarisch gebliebenen Text, in dem Benedikt Koehler einen »Schlüssel [ . . . ] zur intellektuellen Entwicklung Adam Müllers« erblickt, 3 7 7 stellt Müller Verbindungen zwischen Natur und Kunst, Staat und Wissenschaft, Politik und Poesie her. Burkes Bewertung der Französischen Revolution aufnehmend zeigt er sich überzeugt, daß politische Instabilität und geistige Gebrochenheit einander bedingen. Angesichts der vorherrschenden zentrifugalen Kräfte fordert Müller dazu auf, eine Gegenbewegung zu konstituieren, die die vorhandenen Gegensätze in einem dialektischen Verfahren miteinander versöhnen und nach einer umfassenden Synthese streben soll. Die Gegenwart, so Müller, werde von einem gemeinschaftssprengenden Egoismus geprägt. U m
diesen zu
überwinden,
müsse zunächst die traditionelle Subjekt-Objekt-Relation neu überdacht werden, wie Müller an einigen Beispielen zu demonstrieren versucht. In diesem Kontext beleuchtet er auch die Beziehung zwischen Redner und Hörer, die er dann acht Jahre später in den Zwölf Reden über die Beredsamkeit ausführlich thematisieren wird. In der hehre vom Gegensatz nimmt er einige Kerngedanken seiner späteren Vorlesung bereits vorweg: Der Hörer ist der wahre Antiredner\ wen von beiden wir den Tätigen, wen den Leidenden oder Gegentätigen nennen wollen, wer Objekt, wer Subjekt heißen soll, ist durchaus willkürlich, und nur das Eine notwendig, daß, wenn der Eine Objekt heißt, der Andre Subjekt heißen müsse. 3 7 8
Müller bricht mit diesen Gedanken die traditionelle Vorstellung vom aktiven Subjekt und passiven Objekt gleichsam dialektisch auf. Redner und Hörer stehen seiner Meinung nach »in dem Verhältnis durchgängiger Wechselwirkung«:379
176
377 378 379
Schmitt ( 1 9 1 9 / 1 9 6 8 ) . S. 2 2 5 - 2 2 8 . Schmitt folgert daraus: »Romantische Aktivität aber ist eine contradictio in adjecto« (S. 225). Koehler (1980). S. 58. Müller 2. Bd. ( 1 8 0 4 / 1 9 6 7 ) . S. 2 1 5 . Ebd., S. 2 1 6 , wie auch das folgende Zitat.
149
Wenn wir den Hörer Subjekt, den Redner Objekt nennen, so folgt daraus notwendig, daß der Hörer zugleich Objekt des Redners, der Redner zugleich Subjekt des Hörers sein müsse. Das bedeutet für M ü l l e r jedoch nicht, daß zwischen Subjekt und O b j e k t eine a b s o l u t e I d e n t i t ä t b e s t e h e , es g e h t i h m v i e l m e h r d a r u m , d e n v o r h a n d e n e n » G e gensatz von redendem S u b j e k t und hörendem O b j e k t e « 3 8 0 auf einer höheren E b e n e d i a l e k t i s c h a u f z u h e b e n . D a s e r f o l g t bei d i e s e m B e i s p i e l i m G e s p r ä c h , i n d e m ein ständiger S u b j e k t - O b j e k t - W e c h s e l stattfindet. G a n z i m Sinne seiner oben beschriebenen E h e - M e t a p h o r i k sieht denn auch M ü l l e r i m G e s p r ä c h eine » V e r m ä h l u n g des R e d n e r s u n d H ö r e r s « f ü r g e g e b e n . 3 8 1 In diesem dialektischen P r o z e ß s p i e l t d i e v e r m i t t e l n d e K r i t i k e i n e e n t s c h e i d e n d e R o l l e . S i e f ü h r t zu einer A s t h e t i s i e r u n g von P o l i t i k und S t a a t s k u n s t . 3 8 2 E i n e ideale Staatsverfass u n g entsteht d e m n a c h durch eine lebendige und permanente kritische Verm i t t l u n g der Gegensätze. N e b e n d e m G e d a n k e n der V e r s ö h n u n g v o n G e g e n s ä t z e n interessiert in diesem Z u s a m m e n h a n g vor allem Müllers Versuch, die romantische Gesprächsvors t e l l u n g in e i n e n e u g e f a ß t e T h e o r i e d e r B e r e d s a m k e i t zu i n t e g r i e r e n .
Diese
zunehmende Wertschätzung der Gesprächskultur konnte freilich auf eine jahrh u n d e r t e l a n g e T r a d i t i o n z u r ü c k g r e i f e n , d i e in d e r A n t i k e i h r e n A u s g a n g n a h m . A n t i k e D i a l o g e d i e n t e n s e i t H u m a n i s m u s u n d R e n a i s s a n c e als V o r b i l d f ü r d i e V e r m i t t l u n g v o n g e l e h r t e m W i s s e n in l e b e n d i g e r G e s p r ä c h s f o r m . 3 8 3 380 381
Müllers
Ebd., S. 2 1 7 . Ebd., S. 2 1 8 . Mit ähnlichen Worten wird diese Subjekt-Objekt-Relation im Gespräch über hundert Jahre später Vossler ( 1 9 2 5 ) definieren: »Die Vereinigung des aktiven im passiven und des passiven im aktiven Moment ist das, was die Sprache mit dem Gespräch gemein hat.« (S. 20)
382
»Müllers Antwort auf die Revolution der Franzosen war die Verwandlung Deutschlands in ein Kunstwerk«, betont Koehler ( 1 9 8 0 ) . S. 1 0 8 . Die in Müllers System verankerte gesellschaftspolitische Funktion der vermittelnden K r i t i k sowie der Literatur überhaupt hat Luserke ( 1 9 9 0 ) untersucht. A u f den rhetorischen Ursprung der romantischen Literaturkritik in der Beurteilungskunst, iudicium, weisen Ueding/Steinbrink (1994). S. 1 4 1 hin. Allgemein zur romantischen Kunstkritik vgl. Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920/74). Benjamin hebt in diesem Zusammenhang hervor: »für die Romantiker ist K r i t i k viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung« (S. 69).
383
Kriterien für ein ideales Gespräch in sokratischer Tradition entwickelt beispielsweise Cicero: D e officiis 1 , 1 3 4 - 1 3 6 . In der Dichtung genoß das Gespräch nicht zuletzt als zyklische Rahmenerzählung hohes Ansehen. In der Tradition der Märchensammlung Tausendundeine Nacht erlangte dieses Genre weltliterarische Bedeutung. Im Decamerone stellt Boccaccio die Idee einer freien Geselligkeit in der literarischen Fiktion des Novellenromans dar. Goethe versteht in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten die Gesprächskultur als Ausdruck eines humanistischen Ideals, das er im Zeitalter der Französischen Revolution für gefährdet hielt; so entwarf er einen utopischen Idealstaat als Gegenbild zur gegenwärtigen Krise (vgl. dazu Gert Ueding: Gesprächsgesellschaft in Utopia. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (zuerst 1987). In: Ueding ( 1 9 9 2 ) . S. 1 2 5 — 1 3 7 ) . Rahmengespräche erfreuten sich besonders in der romantischen
150
Intention bestand nun darin, mit H i l f e eines an sich traditionellen Gesprächsmodells die öffentliche Rede gleichsam zu humanisieren. Durch die Einbeziehung eines relativierenden D u in die Redesituation meinte er das der Beredsamkeit anhaftende Gewaltpotential entscheidend eindämmen zu können. Auch Kleist bezieht, wie geschildert, ein D u in sein denkpsychologisches Konzept der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden ein, freilich nicht zu einem relativierenden Z w e c k , im Gegenteil: Während Müller, an seine Lehre vom Gegensatz anknüpfend, die Subjekt-Objekt-Beziehung des Gesprächs im Zeichen der Versöhnung und des Ausgleichs gestaltet, wird sie von Kleist — zwar nicht immer ihrer Intention, aber ihrem Verlauf sowie ihrem Ergebnis nach — im Zeichen des K a m p f e s verstanden. Müller vertritt mit seiner Vorstellung vom dialektischen Streit der Argumente einen
idealistisch-utopischen
Standpunkt, der auch im 20. Jahrhundert seine Protagonisten gefunden hat. Der Theorie Müllers kann jedenfalls eine gewisse geistige Verwandtschaft mit modernen Überlegungen zur Diskursethik, wie sie etwa von J ü r g e n Habermas oder Josef Kopperschmidt entwickelt worden sind, nicht ganz abgesprochen werden. Für die Diskursethik ist eine Rede nur dann legitim, wenn sich ihr Wahrheitsgehalt auf kommunikativem, und das heißt dialogischem Weg bewährt. 3 ® 4 Nichts anderes hatte auch A d a m Müller im Sinn. Bei Kleist hingegen schwächt die Gesprächssituation das Gewaltpotential der Rede nicht ab, sondern sie stellt es vielmehr erst her. Angesichts derartig unterschiedlicher Funktionalisierungen des Gesprächsmodells stellt sich die Frage, wie man die jeweiligen Konzepte typologisch zu fassen vermag. Walter K u h l m a n n beispielsweise unterteilt das Gespräch, der Rede entsprechend, in drei G r u p p e n : 3 ® 5 in ein Kampfgespräch, das, wie etwa eine parlamentarische Debatte, bestimmte Handlungen hervorrufen will; in ein Lehrgespräch, das bestimmte Sachverhalte zu vermitteln bzw. ermitteln bestrebt ist; und schließlich in ein Unterhaltungsgespräch, das im gesellschaftlichen Rahmen stattfindet. Diese letztgenannte Gesprächsform k o m m t den Vorstellungen Müllers am nächsten, hat sich dieser doch in erster Linie an dem in den Pariser Salons des 1 7 . und 1 8 . Jahrhunderts gepflegten Konversationston orientiert. Kleists Modell findet jedoch in dieser Typologie keine Entsprechung. Auch wenn alle seine Gespräche agonaler N a t u r sind, handelt es sich um keine Kampfgespräche im Sinne Kuhlmanns. Während diese ganz in der Tradition der »klassischen« Rhetorik Überzeugungs- bzw. Überredungsarbeit
leisten,
k o m m t es bei Kleist zu keinem Austausch von Argumenten; die Gesprächssituation setzt bei ihm vielmehr psychologische Prozesse frei, mit denen er die
384 585
Literatur großer Beliebtheit, wie etwa Arnims Der Wintergarten, Tiecks Phantasus oder Hoffmanns Die Serapions-Brüder zeigen. Vgl. dazu etwa Kopperschmidt (1990). Kuhlmann (1966).
151
jeweiligen Redeinitiationen zu erklären versucht. Mit sprachsoziologischen Kategorien ist Kleists Gedankenwelt also wohl nicht zu fassen. Zu einem anderen, positiven Ergebnis gelangt man freilich, wenn man eine Gesprächstypologie unter literarischen Gesichtspunkten erstellt, wie das Gerhard Bauer getan h a t . ' 8 6 Bauer unterscheidet vier in der Dichtung vorherrschende Gesprächsformen: Im, erstens, gebundenen Gespräch tauschen prinzipiell gleichberechtigte Gegner, die über etwa gleiche Ausdrucksmöglichkeiten verfügen, reflektiert und diszipliniert ihre Ansichten aus. Der Glaube an die Kraft der Sprache bildet das tragende Fundament dieses Streitgesprächs. Das, zweitens, ungebundene, offene, impulsive Gespräch durchbricht dagegen die herrschende Konvention sprachlichen Umgangs. Die gegenseitige Verständigung ist weit stärker als im gebundenen Gespräch durch Willkür, private Eigenheiten, Mißverständnis, Verstimmung, abruptes Abbrechen u.a. gefährdet. Sachlichkeit prägt dagegen, drittens, das experimentierende oder dialektische Gespräch. Der philosophische, wissenschaftliche oder weltanschauliche Dialog soll zu einer Erkenntnis, zumindest aber zu einer besseren Einsicht in die Problematik der gesuchten Erkenntnis führen. Wie im gebundenen Gespräch herrscht auch hier ein besonnenes, wohlüberlegtes Miteinander-Sprechen vor. Ein absichtsloses Unterhalten nur um des Gesprächs willen ist, viertens, die Konversation. Wie bereits dargelegt, hat Müller sein Gesprächsmodell im Umfeld der Konversation, und zwar in ihrer traditionell höfischen Form, angesiedelt. In Hinsicht auf Kleist wird man nun auch bei der von Bauer aufgestellten literarischen Typologie fündig. Kleists in dem Essay Uber die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden getroffenen Äußerungen über das Gespräch entsprechen der ungebundenen, offenen Form bei Bauer. Diese kennzeichnet vor allem die Dialogführung der literarischen Moderne, auf die der Dichter Kleist in mancherlei Weise bereits verweist. Auch Kleists Sprachauffassung erfüllt das maßgebliche Kriterium des ungebundenen Gesprächs. Während dem gebundenen Gespräch ein Sprachoptimismus zugrunde liegt, wird das ungebundene Gespräch viel stärker von Sprachskepsis, wie sie auch bei Kleist anzutreffen ist, bestimmt. Wegen dieses problematischen Verhältnisses zu Sprache und Rede gewinnen im ungebundenen Gespräch außersprachliche Zeichen (Gebärdensprache, Mienenspiel, Gesten) an Bedeutung. Entscheidend kann sich für den Gesprächsverlauf das machtvolle Eintreten eines bestimmten, einmaligen und nicht wieder einzuholenden Moments auswirken: Der Moment reißt die Figuren mit. Sie sagen mehr, als sie wollen und verantworten können, zeigen plötzlich Affekte, Laster, Fähigkeiten und Einsichten, die man in ihnen nicht vermutet hätte, die auch weniger ihrem Charakter als dem Druck der Situation oder dem Schwung einer gegenseitigen Übertrumpfung zuzuschreiben sind.
,86
Gerhard Bauer (1969).
152
Die zufällige Konstellation einer Auseinandersetzung bietet nicht nur Gelegenheit, eine Meinung auszudrücken, sondern erzeugt u.U. erst diese M e i n u n g . ' 8 7
Diese Beschreibung des Moments im ungebundenen Gespräch, der stärker ist als der »Wille zur Selbstkontrolle«, 3 ® 8 liest sich wie die Analyse von Mirabeaus Konfrontation mit dem Zeremonienmeister in Kleists Essay. Auch hier erzeugt der bestimmte Augenblick die Worte des Redners und ist der menschlichen Selbstkontrolle überlegen. Kleist hat, so bleibt zu resümieren, als einer der ersten Dichter das moderne ungebundene, offene Gespräch in die deutsche Literatur eingeführt. 389 Diese hier vorgestellten theoretischen Neuansätze von Rhetorik und Beredsamkeit reagierten nicht zuletzt auf eine durch die Französische Revolution heraufbeschworene politische und gesellschaftliche Krise. Die spezifischen deutschen Verhältnisse verhinderten freilich eine massenwirksame Redepraxis. Darüber spottete etwa Heine 1840 in seiner Denkschrift Ludwig Börne: Ich will dir gern, lieber Leser, bey dieser Gelegenheit ein Geständniß machen, das du eben nicht erwartest. D u meinst vielleicht, der höchste Ehrgeitz meines Lebens hätte immer darin bestanden, ein großer Dichter zu werden, etwa gar auf dem Capitol gekrönt zu werden, wie weiland Messer Francesco Petrarca . . . N e i n , es waren vielmehr die großen Volksredner, die ich immer beneidete, und ich hätte für mein Leben gern auf öffentlichem Markte, vor einer bunten Versammlung, das große Wort erhoben, welches die Leidenschaften aufwühlt oder besänftigt und immer eine augenblickliche Wirkung hervorbringt. J a , unter vier Augen will ich es dir gern eingestehen, daß ich in jener unerfahrenen Jugendzeit, wo uns die komödiantenhaften Gelüste anwandeln, mich oft in eine solche Rolle hineindachte. Ich wollte durchaus ein großer Redner werden, und wie Demosthenes deklamirte ich zuweilen am einsamen Meeresstrand, wenn Wind und Wellen brausten und heulten; so übt man seine Lungen und gewöhnt sich dran, mitten im größten Lerm einer Volksversammlung zu sprechen. N i c h t selten sprach ich auch auf freyem Felde vor einer großen Anzahl Ochsen und K ü h e , und es gelang mir das versammelte Rindviehvolk zu überbrüllen. Schwerer schon ist es vor Schaafen eine Rede zu halten. Bey allem was du ihnen sagst, diesen Schaafsköpfen, wenn du sie ermahnst sich zu befreyen, nicht wie ihre Vorfahren geduldig zur 387 388 389
Ebd., S. 22of. Ebd., S. 2 2 1 . A b w e g i g ist dagegen die These Strubs (1988): »Es geht [ . . . ] im Kleistschen Modell nicht um Dialog, denn das hieße wohl immer wechselseitige Belehrung, sondern um den Prozeß der eigenen Gedankenproduktion, die wesentlich mit dem Strom der Rede zusammenhängt, deshalb zugleich kommunikativ ist [ . . . ] « (S. 280). Wenn unter Dialog wirklich immer nur »wechselseitige Belehrung« zu verstehen wäre, dann müßte man die verschiedenen Gesprächsformen auf einen Typus reduzieren: das dialektische G e spräch sokratischer Provenienz. Das hieße freilich die Vielfalt literarischer Gesprächsformen, die auch Bauer nur idealtypisch bündeln konnte, eklatant zu mißachten. Kleists literarische Gestaltung ungebundener Gespräche ist vielmehr ein weiteres Indiz dafür, daß der Essay eher als ein früher dichterischer Versuch des Erzählers Kleist anzusehen ist, worauf bereits Kreutzer (1968). S. 2 0 5 oder K o w a l i k (1989). S. 4 4 0 hingewiesen haben, und weniger als »Programmschrift«, wie Blöcker ( i 9 6 0 ) . S. 247 betont.
!53
Schlachtbank zu wandern . . . sie antworten dir, nach jedem Satze mit einem so unerschütterlich gelassenen Mäh! Mäh! daß man die Contenanze verlieren kann. Kurz, ich that alles, um, wenn bey uns einmal eine Revoluzion aufgeführt werden möchte, als deutscher Volksredner auftreten zu können. Aber ach! schon gleich bey der ersten Probe merkte ich, daß ich in einem solchen Stücke meine Lieblingsrolle nimmermehr tragiren kann. Und lebten sie noch, weder Demosthenes, noch Cicero, noch Mirabeau könnten in einer deutschen Revoluzion als Sprecher auftreten: denn bey einer deutschen Revoluzion wird geraucht. 1 9 0 D e n n o c h sollen i m
folgenden
Versuche rhetorischer A k t i v i t ä t e n u m 1 8 0 0 , auch
revolutionärer A r t , näher beleuchtet werden.
Heine Bd. 1 1 ( 1 9 7 8 ) . S. ηο{.
154
4- Die Realität rhetorischer Strategien um 1800
Auch in der literaturgeschichtlich von der Ästhetik geprägten Epoche um 1 8 0 0 existierte eine politische Beredsamkeit, die das Pathos in das Z e n t r u m ihrer Überzeugungs- bzw. Überredungsarbeit stellte. U m 1 7 8 0 setzte im Bannkreis konfessioneller Auseinandersetzungen zudem die Geschichte des modernen Propagandabegriffs ein. I m Z u g e der Französischen Revolution nahm dieser dann eine politische Bedeutung an: M i t H i l f e propagandistischer Mittel versuchten die
jeweiligen
Gruppierungen
ihr
»ideologisches
Expansionsprogramm« 1
durchzusetzen. In der propagandistisch ausgerichteten Rhetorik ist das Pathos von größerer Bedeutung als Ethos und Logos. Diese Schlüsselbegriffe wurden seit der Antike als das Fundament der Rhetorik angesehen. Cicero konzentriert etwa die Aufgaben der Redekunst auf drei Bereiche: Ein Redner müsse erstens die Wahrheit seiner Thesen beweisen, zweitens die Sympathie des Publikums gewinnen und drittens die G e f ü h l e der Zuhörer beeinflussen können. 2
Um
diese Ziele erfolgreich zu meistern, bedarf es der Prinzipien Logos, Ethos und Pathos. Während der Logos auf rationale, sachliche Belehrung verweist, zielt das Ethos auf den Charakter und die Gesinnung des Redners bzw. — beim Genus iudiciale — auch des Klienten. »Charakter [ . . . ] besitzen nämlich die Reden, in denen die Gesinnung des Redners offenkundig w i r d « , betont etwa Aristoteles in seiner Rhetorik.3
Ein guter Charakter erhöht, so der Kerngedanke
des Ethos-Prinzips, die G l a u b w ü r d i g k e i t des Redners, der, um erfolgreich bestehen zu können, das Ideal eines vir bonus verkörpern muß. Dabei ist freilich eher an dessen wahrnehmbares Erscheinungsbild denn an seine wahren inneren Qualitäten gedacht. Das Ethos spielte, wie beschrieben, auch im frühen 1 8 . Jahrhundert eine entscheidende Rolle, um die Wirkungsorientierung der Beredsamkeit zu legitimieren. Das Pathos, die Meinungsbildung unter dem Einfluß von A f f e k t e n , ist für Cicero freilich das einzige, worauf es für den Redner ankomme (»quod 1
Art. »Propaganda« von Wolfgang Schieder und Christof Dipper im 5. Bd. der Geschichtlichen Grundbegriffe (1984). S. 77. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war »Propaganda« im Unterschied zu »Agitation« ein negativ besetzter Ausdruck. 2 Cicero: De oratore 2 , 1 1 5 : »Ita omnis ratio dicendi tribus ad persuadendum rebus est nixa: ut probemus vera esse, quae defendimus; ut conciliemus eos nobis, qui audiunt; ut ánimos eorum, ad quemcumque causa postulabit motum, vocemus.« ' Arist. 1395b (21,16).
155
unum in oratore dominatur«). 4 Aristoteles hat bereits den Menschen als Affektwesen charakterisiert ( 1 3 7 8 a ) und daraus die Konsequenz gezogen, daß er seine deskriptiv und nicht normativ angelegte Rhetorik als psychagogische Analyse konzipiert hat. Gleichwohl bezieht er Ethos und Pathos streng aufeinander. Er definiert Pathos als gerechten Unwillen und akzentuiert somit, ähnlich wie in seiner Poetik, eine genuin moralische Dimension der Leidenschaften. A n der Frage der Affekterregung entzündete sich seit alters her der kontroverse Disput über Rhetorik und Beredsamkeit. Die zunächst von Aristoteles postulierte Bindung des Pathos an Ethos und Logos erwies sich als brüchig, und so wurde (und wird) das rhetorische Spiel mit Gefühlen und Leidenschaften häufig mit einem Appell an die niederen Instinkte des Menschen gleichgesetzt. Die jeweilige Gewichtung von Logos, Ethos und Pathos bildet daher ein Kernproblem für jede Theorie und Praxis der Beredsamkeit — bis heute. So verficht beispielsweise Hermann Wiegmann angesichts kommunikativer Manipulationsgefahren das Konzept einer ästhetischen Vernunft in der Rhetorik und betont damit den Stellenwert von docere (pragma) und delectare. 5 Klaus Dockhorn wies dagegen bereits 1 9 4 9 auf die Weiterexistenz affektiver Wirkungsintentionen auch in einer angeblich rhetorikfeindlichen Zeit hin und akzentuierte die pathetische Dimension der Rede im Sinne einer Leidenschaftsästhetik. 6 Die Akteure der hier zu untersuchenden rhetorischen Aktivitäten um 1 8 0 0 fühlten sich einer Leidenschaftsästhetik verpflichtet, mit deren Hilfe sie Meinungen hauptsächlich über Affekte zu bilden versuchten. Die entsprechenden Protagonisten gehörten zwei voneinander unabhängigen politischen Gruppierungen an, deren jeweilige Ziele unterschiedlicher nicht sein konnten: den deutschen Jakobinern einerseits und exponierten Propagandisten der Befreiungskriege andererseits. Aber auch innerhalb der beiden Lager divergierten die einzelnen politischen Konzepte und Strategien mitunter beträchtlich. Die Befürworter der Befreiungskriege traten ohnehin als politisch heterogen zusammengesetzte >Anti-Koalition8. Aus den Briefen Deutscher Männer in Paris, einem Periodikum der norddeutschen Jakobiner, heißt es zu dieser Strategie, daß Menschen dann für die Sache der Revolution zu gewinnen seien, woferne man ihnen nur die Vortheile die für sie daraus entspringen, in einer ihnen verständlichen Sprache anschaulich zu machen weis; Beredsamkeit ist einer der Hauptschlüssel zum menschlichen Herzen und ist es um so mehr, sobald sie die Sache der gesunden Vernunft vertheidigt. 2 1
Wie in den einleitenden fünf Vergleichskriterien genannt, hielten die Jakobiner eine stark affektive Beredsamkeit aufgrund ihrer Uberzeugung, im Dienst der Gerechtigkeit (»die Sache der gesunden Vernunft«) zu stehen, für legitim, ja notwendig, um auch Menschen ohne Bildung, die ansonsten an keinem gelehrten Diskurs teilnehmen konnten, aufzuklären. Der leidenschaftliche, pathetische Teil einer Rede, so Hugh Blair, »ist ohne Zweifel derjenige, in welchem die Beredsamkeit am vorzüglichsten herrscht, und mehr als irgend wo ihre Stärke zeigen kann«. 22 Ganz im Sinne der oben angeführten Äußerung in der Jakobinerzeitschrift führt Blair dann weiter aus: Niemand wird, in Dingen, wo es auf das Thun ankommt, unterlassen die Leidenschaften desjenigen, den er im Ernst zu etwas überreden will, in Bewegung zu setzen; und das aus dem sehr einfachen Grunde, weil die Leidenschaften die großen Triebfedern der menschlichen Handlungen s i n d . 2 '
Das bewußte Bekenntnis zur rhetorischen Überwältigungsstrategie entsprang in erster Linie dem jakobinischen Revolutionsverständnis. In kurzer Zeit hatte, so die Überzeugung der Protagonisten, eine fundamentale Umwälzung in Staat und Gesellschaft vonstatten zu gehen. 1795 definierte etwa Wedekind, mittlerweile ordentlicher Arzt am stehenden Militärhospital Straßburg, in seiner 21 22 23
5. St. S. 20. Blair 3. Theil ( 1 7 8 8 ) . S. 1 0 2 . Ebd., S. i o 2 f . Im englischen Original ( 1 7 8 5 ) lautet diese zentrale Stelle im Werk Blairs: »In all that relates to practice, there is no man who seriously means to persuade another, but addresses himself to his passions more or less; for this plain reason, that passions are the great springs of human action.« (2. Bd. S. 4 1 1 ) Auf die Bedeutung Blairs für die jakobinische Rhetorik weist Peter Schmidt hin: Die Rhetorik der Cisrhenanen. Vorüberlegungen zu einer Untersuchung der Agitationsformen rheinischer Jakobiner während der zweiten französischen Rheinlandbesetzung. In: Büsch/Grab ( 1 9 8 0 ) . S. 3 2 6 - 3 3 9 . Hier S. 3 3 0 .
163
Schrift Bemerkungen und Fragen über das Jakobinerwesen die Revolution dementsprechend als einen gezielt gesteuerten, dynamisch verlaufenden Vorgang, der keinen gesellschaftlich relevanten Bereich ausspart: Es gehört dazu, daß ein Volk, oder ein grosser Theil deßelben, gegen den Willen einer andern Parthie, die bisher bestandenen Geseze und öffentlichen Einrichtungen, oder auch noch die vorherigen Verhältniße in Vorrechten und Gewalten, wilkührlich, schnell und auf eine solche A r t abändere, daß dabei die Gewalt der alten Obrigkeit als nicht vorhanden angesehen wird. — Der Wagen mus ganz aus seiner Gleise gehoben werden. — 24
Ob bei Blair oder den Jakobinern, in der Konzeption einer Leidenschaftsästhetik, zumal unter den spezifischen Bedingungen einer revolutionären Situation, nahm das gesprochene Wort einen besonderen Rang ein, konnte doch ein Redner unmittelbarer und direkter auf das Verhalten der Zuhörer reagieren und dieses auch steuern als ein Schreiber auf einen Leser. Die geringe Alphabetisierungsrate wertete mündliche oder — wie beim Errichten von Freiheitsbäumen — symbolische Kommunikationsformen zusätzlich auf. Man wollte »Volksaufklärung« betreiben und betrachtete sich dementsprechend als »Volksredner«, wie es in der Zeitschrift Der patriotische Volksredner des prominenten norddeutschen Jakobiners Heinrich Würzer programmatisch geschrieben steht. 2 ' Uber eine pathetische Beredsamkeit, schriftlich wie mündlich, war, so jedenfalls die allgemeine Überzeugung, eine revolutionäre Situation herzustellen. Gottfried August Bürger hat sich in einer Rede mit dem Titel Ermunterung zur Freiheit, gehalten am 1 . 2 . 1 7 9 0 in der Freimaurerloge Zum goldenen Zirkel in Göttingen, vorbehaltlos und enthusiastisch zu dieser Beeinflussungsstrategie bekannt: Aber was will ich denn wohl? Will ich etwa die Herzen meiner Brüder mit den Blitzen der Beredsamkeit entzünden, daß sie ihre Arme mit Lanzen und Schwertern bewaffnen, hinauszustürzen in den allgemeinen Aufruhr, der unsere Hallen draußen rings umtobet? J a , ja, das möcht' ich! 2 ®
Mit seiner Beredsamkeit wolle er »das Feuer, das gewiß schon in eines jeglichen Busen brennet, zur höchsten Flamme anfachen«, so Bürger weiter. 27 Auch Georg Forster strebte danach, die »Macht der Wahrheit« zu verkünden, wie er in einer Rede im Mainzer Jakobinerklub am 1 5 . 1 1 . 1 7 9 2 kundtat. Vor Gesinnungsgenossen habe das freilich wenig Sinn: 24
Wedekind ( 1 7 9 5 ) . S. 1 5 .
25
Wür[t]zer ( 1 7 9 6 / 1 9 7 2 ) . 1. St. S. 3; 4. Z u m Volk zählt Würzer »alle Bewohner und Mitglieder einer Staatsgesellschaft, denen weder die Kenntnisse des gelehrten Standes, noch die Vorzüge der vornehmern und begünstigten Stände zu Theil wurden«. (S. 2)
26
Bürger ( 1 9 8 7 ) . S. 8 1 0 . Ebd., S. 8 1 3 . Die Bedeutung der Rhetorik für Bürgers Ästhetik hat Haas ( 1 9 8 3 ) untersucht. Gerade in seiner Volkspoesie habe er eine pathoserregende Wirkung beim Publikum intendiert. Die Vorbildfunktion von Bürgers Lyrik fur die Jakobinerlieder stellt G r a b ( 1 9 9 4 ) heraus.
27
164
Ihr bedürft meiner Aufforderung nicht, Ihr seid schon durch den Eintritt selbst in unsern Bund zu Söhnen der Freiheit, zu rastlos wirkenden Freunden und Wohlthätern des Menschengeschlechts, zu Mitkämpfern der freien Franken gestempelt. Aber Euch, Zuhörer und Mitbürger, die Ihr noch nicht im heiligen Bund der Brudertreue zu den Fahnen der Freiheit schwurt, Euch muß ich hier noch einige Worte ins Herz reden. 2 8
Forster weist hier auf ein Grundproblem der bürgerlichen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts hin. Der Diskurs der Aufklärung fand letztlich nur unter Aufklärern selbst statt. Auf diesem Weg war aber, und das hatten die Jakobiner begriffen, der Ubergang vom Wort zur revolutionären Tat kaum zu bewerkstelligen. Andauernde Selbstbestätigung der eigenen Ideale im Jakobinerklub bleibt wirkungslos, wenn der entscheidende Schritt nach draußen nicht vollzogen wird. Dieser Schritt erwies sich freilich, in Form der Landagitation, als außerordentlich schwierig. Gerade die Bauern hatten unter den oft willkürlichen Requisitionen der französischen Truppen sehr zu leiden. Darüber hinaus hatte Custine die alten Auflagen und Steuern nicht aufgehoben, sondern ließ sie weiterhin für die französische Staatskasse eintreiben. Das alles stellte die Landagitation der deutschen Jakobiner vor schier unüberwindliche Schwierigkeiten. Auf die mangelnden Erfolge reagierten die Klubisten mit einer Intensivierung der Propaganda und rückten das Pathos noch stärker ins Zentrum ihrer Rhetorik. Im sechsten Heft von Wedekinds Zeitschrift Der Patriot ist eine Anleitung An junge Volksredner veröffentlicht, in der zu mehr rhetorischer Leidenschaft angemahnt wird: Lerne, junger Mann, der D u auf das Volk würken willst, lerne vorher auf einzelne Menschen würken! [ . . . ] Durch Vernunft allein richtest D u so wenig bei dem Publik u m , als bei Individuen, gegen Vorurteil etwas an, wenn D u nicht irgend einen andern im Menschen liegenden A f f e k t zum nahen Bewußtsein bringen kannst. Mit diesem treibst D u dem Menschen sein Vorurteil aus und Deine Gründe sagst D u dazu, weil man doch gern will, daß es heiße, man habe nach Vernunft gehandet [sie!]. 2 5
Angesichts einer nicht zufriedenstellenden Landagitation kehren die Jakobiner hier die an sich »natürliche« Reihenfolge in der Rhetorik um. Es soll nun nicht mehr die vernünftige Argumentation affektiv verstärkt werden, sondern die originäre emotionale Mobilisierung wird zum eigentlichen Redeziel erklärt; diese könne man dann noch argumentativ abstützen. Der in der von Optimismus geprägten Frühphase euphorisch beschworene Glaube an den zwangsläufigen Sieg der Wahrheit scheint zu diesem Zeitpunkt gänzlich verlorengegangen zu sein. Die ursprünglich vorgesehene Aufklärung wird zur Agitation, indem nicht zuletzt die Beredsamkeit ganz auf ihr funktionalistisches Moment reduziert wird.
28 29
Der Patriot. Η. i . Bl. Β . i . St. S. 30. Ebd. H. 6. Bl. C. 3. St. S. 3 i f .
165
Die deutschen Jakobiner der Mainzer R e p u b l i k , fast ausnahmslos gebildete Bürger, sahen sich mit dem für ihre Pläne entscheidenden Problem konfrontiert, wie sie mit der überwiegend nicht gebildeten Bevölkerung am effektivsten ins Gespräch kommen könnten. Das Ideal eines gelungenen Gesprächs, so wie sie es sich vorstellten, gestalteten sie häufig in
literarisch-rhetorischer
Form, auch auf der Bühne, dem Mainzer National-Bürgertheater. In der W i r k lichkeit hingegen lagen, wie gezeigt, die D i n g e anders. Das literarische G e spräch verfolgte eindeutig agitatorische Z w e c k e , von einer offenen Gesprächssituation konnte keine Rede sein, stand doch das Ergebnis der Unterhaltung, die Akklamation zur Mainzer R e p u b l i k , von A n f a n g an fest. N a c h A d a m Müllers Konversationsmodell, das das Gefahrenpotential der Beredsamkeit entschärfen sollte, und Kleists Vorstellung einer agonal herbeigeführten Gedanken- und Redeinitiation ist in diesem Zusammenhang bereits das dritte Gesprächskonzept zu diskutieren. Für die Jakobiner eignete sich die Gesprächsform, den reformatorischen Dialogen in Flugschriften des 1 6 . Jahrhunderts vergleichbar, ideal zur plastischen Gestaltung der dichotomischen Struktur ihrer Sprache und Begrifflichkeit. Im Dialog konnte man den politischen G e g n e r auftreten lassen, aber nur, um seinen Standpunkt abzuwerten, erwies sich doch die Argumentation der Republikaner in jedem Fall als stichhaltiger. Ein Gespräch unter A n hängern der Republik aus dem fünften H e f t des Patrioten mit dem Titel
Frag-
ment von einer neuen Ausgabe des Almanachs des Vaters Gerhard mag diese rhetorische Strategie verdeutlichen. 3 0 Der frühere A m t s v o g t , also ein Repräsentant des Ancien régime, so der Ausgangspunkt der Gesprächssituation, will schwören, die französische Verfassung schützen zu helfen, stößt mit diesem Ansinnen aber auf allgemeines Mißtrauen bei den Demokraten. Den entscheidenden Vertrauensvorschuß gewährt die Mittelpunktsfigur, Gerhard, der als »Vater« bezeichnet wird und alle nur denkbar positiven Eigenschaften in sich vereint: G ü t e , intellektuelle Brillanz, Charakter, Standhaftigkeit. Vater Gerhard ist in bester aufklärerischer Tradition davon überzeugt, daß die Macht der Wahrheit letztlich unwiderstehlich sei: »Aber seht, Freunde, das eben ist der schönste Triumph der Konstitution der Franken, daß sie blos durch die Macht der Ueberzeugung ihre Widersacher b e z w i n g t . « 3 1 Zwischen Anspruch und Wirklichkeit dieser Argumentation offenbart sich freilich ein tiefer Widerspruch. Einerseits suggeriert die jakobinische Propaganda ständig, daß sich das proklamierte Gedan-
30
Ebd. H. 5. Bl. B. 2. St. S. 3 0 - 3 2 . Dieser Almanach des Vaters Gerhard wurde nach französischem Vorbild von Friedrich Christoph Cotta speziell für die Mainzer Republik verfaßt (Klaus R. Scherpe: »...daß die Herrschaft dem ganzen Volke gehört!« Literarische Formen jakobinischer Agitation im Umkreis der Mainzer Revolution. In: Mattenklott/Scherpe (1975). S. 140 — 204. Hier S. 165). Zu Cotta und seinen revolutionären Aktivitäten in Straßburg und Mainz vgl. Neugebauer-Wölk (1989). Insbes. S. 1 3 7 - 2 6 4 . Der Patriot. H. 5. Bl. B. 2. St. S. 3 1 .
166
kengut zwangsläufig, einzig und allein aufgrund seines immanenten Wahrheitsgehalts, durchsetzen werde, andererseits verraten die zur Durchsetzung dieser Ziele angewendeten rhetorischen Strategien starke Zweifel der Revolutionäre am Erfolg ihrer Überzeugungsarbeit. Der Einsatz agitatorischer Mittel ist der schlagende Beweis, daß die von Vater Gerhard beschworene »Macht der Ueberzeugung« keineswegs ausgereicht hat. Nicht nur der Inhalt, auch die hier diskutierten Methoden jakobinischer Propaganda standen im Kreuzfeuer konservativer Kritik. Das soll am Beispiel einer antirevolutionären Posse näher erläutert werden: Die Patrioten in Deutschland oder: Der Teufel ist los. Eine komi-tragische Farce aufgeführt auf dem Mainzer Nationaltheater. Mainz. Im zweiten Jahr der Republik. Als Personal tritt, keineswegs verschleiert, die Führungsgruppe der Mainzer Jakobiner auf, daneben auch General Custine. Das Hauptanliegen dieser anonym erschienenen Posse bestand darin, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität revolutionärer Gesinnung in Mainz zu entlarven. Dabei werden revolutionäre Schlüsselbegriffe wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gar nicht einmal generell in Frage gestellt, sondern vielmehr an ihrem eigenen Anspruch gemessen. Der Autor kritisiert eine revolutionäre Praxis, die seiner Meinung nach den an sich hehren Sinngehalt dieser Begriffe schlicht pervertiert. Der postulierten Freiheit wird sarkastisch die Wirklichkeit französischer Zwangsherrschaft entgegengehalten, der Gleichheit die allgemeine Notlage, die wahrlich alle gleich, aber eben gleich arm, mache, und schließlich der Brüderlichkeit die Verfolgung von Regimegegnern. Das Hauptproblem der jakobinischen Agitation, so die Quintessenz des Stücks, sei die fehlende Wahrhaftigkeit. » W i r plagen uns ja, wie die Ochsen, um den Leuten Aufklärung beizubringen«, stöhnt etwa Metternich. 32 Die Landagitation ist freilich zum Scheitern verurteilt, handelt es sich dabei doch nur um leeres Gerede, das mit den wirklichen Verhältnissen in keiner Weise übereinstimmt, ihnen vielmehr fundamental widerspricht. Daher muß General Custine resigniert konstatieren: »Es ist schade, daß ihr Leute nicht im Nationalkonvent sitzt; das Maul steht euch keinen Augenblick stille, und schimpfen könnt ihr, wie die Rohrspatzen.« 33 Schließlich wird auch noch, gleichsam als krönender Abschluß, der positiv gezeichnete Georg Forster aus dem Kreis der Klubisten ausgeschlossen. Sein Vergehen besteht darin, die »Klagen des Volks« 3 4 vorbringen zu wollen. Dafür hat der Mainzer Jakobinerklub, dem ein Harlekin präsidiert, kein Verständnis. Die Mitglieder, die alle eine Narrenkappe tragen, treibt nach dem Auszug Forsters einzig und allein die Sorge um, daß dieser nun dem Volk einen »Floh in die Ohren« setzen
,2
[Anonym:] Die Patrioten. S. 35. » Ebd., S. 36. « Ebd., S. 48.
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könnte. 35 Mit dieser Wendung umschreiben die Jakobiner freilich ihre eigene rhetorische Strategie. Ihre Propaganda wird mit Unehrlichkeit gleichgesetzt. Resümierend heißt es in der Farce zur Rhetorik der Mainzer Jakobiner: »Erst disputiren die Herren, dann fangen sie an auf gut jakobinisch zu schimpfen, und zuletzt kriegen sie sich bei den Haaren.« 36 Dieses antirevolutionäre Drama verzerrt den Alltag der Mainzer Republik zur Posse. Die Jakobiner, so die kritische Antwort ihrer Gegner auf die Mainzer Ereignisse, agieren als Narren in einem mißratenen Theaterstück. Dessen entscheidender Nachteil liegt darin, daß es Wirklichkeit geworden und damit aus der Unverbindlichkeit der Bühnenwelt herausgetreten ist. Die antirevolutionäre Propaganda, wie sie sich hier darbietet, bediente sich freilich genau der Mittel, die man dem politischen Gegner vorhielt. Diese Posse ist mindestens ebenso agitatorisch wie die im Mainzer National-Bürgertheater aufgeführten Stücke. Die gegenrevolutionäre Propaganda, die in Frankfurt, nach der Eroberung durch Preußen und Hessen, ihr Zentrum hatte, arbeitete zudem mit teilweise identischen literarischen Formen wie die von ihnen bekämpften Jakobiner. So übernahm die konservative Propaganda etwa deren agitatorisch funktionalisiertes Gesprächsmodell bis ins Detail — nur eben unter umgekehrten ideologischen Vorzeichen. In diesen antirevolutionären Texten führen die Jakobiner eine unreflektierte, rein ideologisch ausgerichtete Phraseologie im Mund und können sich der wohlbegründeten Argumente ihrer Gegenspieler nicht erwehren. In den Gesprächen über den Mainzer Freiheitsclub aus dem Jahr 1793 beispielsweise wird Wedekind mit einfachen Mitteln regelrecht vorgeführt und zu einem unreflektiert schwadronierenden Toren degradiert. Allein die Namen seiner Gesprächspartner, Professor Biedermann bzw. Schlossermeister Ehrmann, zeugen von einer moralischen Überlegenheit des antijakobinischen Lagers. Im Verlauf dieser Gespräche werden unter anderem auch die rhetorischen Methoden jakobinischer Propaganda diskreditiert. Die gute Sache, so argumentiert Wedekind, legitimiere die Wahl der Mittel: »meine Ueberzeugung kann ich doch auch Andern mittheilen; und dadurch auch mein Gefühl.« Darauf erwidert Biedermann kurz und prägnant: »Mittheilen; aber nicht aufdringen.« 37 Neben Aufdringlichkeit wird der jakobinischen Rhetorik auch sophistische Spitzfindigkeit vorgeworfen. Der einfache, tugendsame Schlossermeister Ehrmann soll einen Regimegegner denunzieren. Eine entsprechende Aufforderung Wedekinds lehnt er jedoch entschieden ab: »Was die Gelehrte doch nicht alles heraus drechseln!« 3 ® Der Mann aus dem Volk, der zwar nicht über die Beredsamkeit eines Klubisten, dafür aber im Gegensatz zu diesem über eine aufrich-
» Ebd., S. 52. Ebd., S. 55. 37 [Anonym:] Gespräche (1793). Erstes Gespräch. S. 44. ,8 Ebd. Zweites Gespräch. S. 9. 36
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tige Gesinnung verfügt, hält der offiziellen Propaganda vor, selbst schlimmste menschliche Verfehlungen, wie etwa Denunziation, ideologisch hoffähig zu machen. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität jakobinischer Worte wird an keiner Stelle offensichtlicher. Z u Beginn des dritten Gesprächs, das wieder Wedekind und Ehrmann führen, wird das Thema der rhetorischen Uberwältigungsversuche durch die Jakobiner erneut aufgenommen: W. N u n , Meister Ehrmann, bin ich nicht ein Mann von Wort? E. U n d kommen doch in der Absicht, um mich zu überreden, das meinige zu brechen! [gegenüber dem Kurfürsten, d.Verf.] W. N i c h t doch; überzeugen will ich Ihn, daß Er es als ein ehrlicher Mann nicht halten k a n n . ' 9
Natürlich hat Wedekind nicht die Überzeugung, sondern die Überredung Ehrmanns im Sinn. Dieser kann jedoch seine intellektuelle Unterlegenheit mit Redlichkeit mehr als nur kompensieren. So durchschaut er den Einsatz rhetorischer Figuren durch die Jakobiner als bewußten A k t der Wirklichkeitsverfälschung und entlarvt damit die jakobinische Beredsamkeit im ganzen — trotz aller gegenteiligen Beteuerungen Wedekinds — als reine Überredungskunst: E. Daß uns der Kurfürst so viel Steuern und Lasten, als Er will, auflegen, uns und unsere Kinder wann und wozu Er will, wegnehmen, und uns, wenn wir uns dagegen sträuben, hängen, köpfen, rädern, sieden oder braten lassen könne, ist wohl auch so eine von euern Rednerfiguren? W. Allerdings. W i r Gelehrte nennen sie Hyperbel oder Uebertreibung. E. U n d wir Ungelehrte - L ü g e ; besonders wenn, wie hier, auch keine Sylbe davon wahr ist. 4 0
Gerade aber diese Kritik an der jakobinischen Rhetorik trifft mindestens in gleichem Maß auf die antirevolutionäre Propaganda selbst zu. In der Wahl ihrer jeweiligen Mittel sind jedenfalls kaum Unterschiede auszumachen. Der Konservativismus um 1 8 0 0 verfing sich insgesamt in dem Dilemma, argumentative Mittel, ob nun, wie hier, agitatorischer oder, in Anlehnung an die Aufklärung, analytisch-rationaler Natur, des erklärten Gegners anwenden zu müssen. 4 1 Die Heftigkeit der Reaktion auf die demokratische Bewegung von 1 7 9 2 / 93 war das Ergebnis einer an Hysterie grenzenden Revolutionsfurcht. Bis weit in den Vormärz prägte die Angst vor einer jakobinischen Verschwörung konservatives Denken, das nicht zuletzt eine manipulative Rhetorik dämonisierte. 42 Vor einer ungerechtfertigten Dramatisierung der Verhältnisse durch die Konservativen warnte dagegen etwa August von Kotzebue: »Man wollte durchaus
39
Ebd. Drittes Gespräch. S. 3. 4° Ebd., S. 3of. 41 Greiffenhagen ( 1 9 7 1 ) führt dazu aus: »Alle Konservativen argumentieren auf dem Boden der Aufklärung gegen sie.« (S. 3 5 3 ) V g l . auch Epstein ( 1 9 6 6 / 7 3 ) . 42 Hans-Wolf J ä g e r ( 1 9 8 1 ) .
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Geister sehen, und deshalb sah man sie.« 43 Nicht antirevolutionäre Demagogie oder eine Verschärfung der Zensur seien jetzt gefragt, sondern »ächte Toleranz«. 44 Kotzebue hielt die Gefahr rhetorischer Manipulation für sehr gering. Zu einer effektiven Revolutionsprophylaxe könne vielmehr der Staat selbst durch eine gute und gerechte Politik entscheidend beitragen. 45 Die konservative Seite antwortete freilich nicht mit der von Kotzebue angemahnten Besonnenheit auf die revolutionäre Herausforderung. Sie sah sich vielmehr durch die jakobinische Agitation in die Defensive gedrängt und reagierte entsprechend heftig darauf, ohne jedoch jemals argumentativ die Initiative zu ergreifen. Diese reine Verteidigungshaltung offenbart sich idealtypisch bei der Rezeption des Aufrufs an die deutsche Nation (1794), dem - nach Hedwig Voegt — »Kernstück der gesamten jakobinischen Literatur«. 46 Diese stark verbreitete, flammende Aufforderung zur revolutionären Tat war erstaunlicherweise auch in der Zeitschrift Eudämonia, dem antirevolutionären Zentralorgan Kursachsens, zu lesen. Hier wurde sie freilich mit kritisch-polemisch kommentierenden Anmerkungen versehen. Man habe sich, so die einleitende Begründung dieses ungewöhnlichen Verfahrens, für eine »Bekanntmachung dieser abscheulichen Schrift« entschieden, um »solche Geburten der Finsternis ans Licht zu ziehen und sie in ihrer Blöße und Schlechtheit darzustellen«.47 Der Abdruck des Aufrufs selbst nimmt jedoch nur einen bescheidenen Raum innerhalb dieser Publikation in Anspruch. Der Hauptteil besteht aus massiven Angriffen gegen Form und Inhalt des Pamphlets, wobei besonders revolutionäre Parolen und Schlagworte wie Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte oder Volksglück ins Kreuzfeuer der konservativen Kritik geraten. Diese Methode ist, wie gerade gezeigt, typisch für die antirevolutionäre Propaganda. Infolge der Französischen Revolution entbrannte nicht zuletzt ein erbittert und ideologisch geführter Kampf um die Besetzung politischer Schlüsselbegriffe. 48 Auch die Rhetorik des Aufrufs wird dämonisiert, freilich unter Anwendung genau dieser dämonisierten Mittel. So wird beispielsweise die Stelle: »Zittert, ihr Tyrannen der Erde! Zittert, ihr Despoten der Völker! Das Volk erwacht!! Das Volk hört die Stimme der Vernunft!!! - - Die Sonne der Wahrheit erleuchtet die Augen aller Nationen, — - die Göttin der Freyheit verheißt allen Nationen Glük« hämisch mit den Worten kommentiert: »Welch ein Bombast! Ganz im Geiste und Geschmakke eines französischen Redners, der auf einem Stule oder der
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47 48
Kfotzebue] ( 1 7 9 4 ) . S. 2 7 . Ebd., S. 40. Ebd., S. 9 1 . Voegt ( 1 9 5 5 ) . S. 1 0 7 . Dieser A u f r u f , so Voegt weiter, »gleicht der gesprochenen Rede eines Volkstribunen. Es ist eine geschriebene Rede.« (S. 1 1 0 ) Eudämonia ( 1 7 9 5 / 1 9 7 2 ) . S. 4—6. V g l . dazu die entsprechenden Ausführungen zur Begriffsgeschichte im methodischtheoretischen Kapitel 1 . 2 .
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Tribüne steht und wie ein Beseßner aus vollem Halse schreiet.« 49 Und dementsprechend wird der Gesamtstil des Aufrufs als »Sprache eines der Kette entsprungenen Tollhäuslers« denunziert. 50 Dem Pathos der revolutionären Agitation begegnete die antirevolutionäre Propaganda mit Drastik. Kritik am Jakobinismus und seinen rhetorischen Strategien wurde freilich nicht allein vom ideologischen Gegner geübt. Ausgerechnet der hier öfters erwähnte prominente Klubist Wedekind, den, wie geschildert, die antirevolutionäre Propaganda besonders häufig und besonders heftig angegriffen hatte, distanzierte sich rückblickend, 1 7 9 5 , in seiner bereits zitierten Schrift Bemerkungen und Fragen über das Jakobinerwesen von der früheren Politik des organisierten Jakobinertums in Frankreich. Wedekind verwirft keineswegs die Ideale des J a kobinismus; er desavouiert vielmehr den Avantgardeanspruch des seiner Meinung nach zur totalitären Partei erstarrten Jakobinertums als »Demagogischen Zustand« 5 1 und fordert dementsprechend die Auflösung der Jakobinerklubs. Diese seien zum Staat im Staate degeneriert und hätten ihre Macht in den Ausschüssen konzentriert. Dort wiederum dominierten Männer »von starken Lungen und geläufiger Z u n g e « . 5 2 Überhaupt sei es ja, so stellt Wedekind ernüchtert fest, ein allgemeinmenschliches Phänomen, daß diejenigen, »die sich Lügen, Sophismen und alle niederträchtige Schmeicheleien erlauben, um die Gesellschaft und die Tribünen für ihren Vortrag einzunehmen«, in der Regel ehrgeiziger zu Werke gingen als »Männer von zartem Ehrgefühl«. Der Einsatz pathosorientierter rhetorischer Strategien blieb um 1 8 0 0 , so ist vorläufig zu resümieren, keineswegs einer bestimmten politischen Gruppierung allein vorbehalten. Sie war darüber hinaus aus den unterschiedlichsten Gründen höchst umstritten.
4.2 Die Propaganda im Umfeld der Befreiungskriege Etwa zwei Jahrzehnte nach der Auseinandersetzung um die demokratische Bewegung von 1 7 9 2 / 9 3 bekannten sich die Propagandisten der Befreiungskriege zur rhetorischen Leidenschaftsästhetik. Die strategische Problematik war in beiden Fällen ähnlich und ist daher durchaus vergleichbar. Die Bedeutung rhetorischer Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele nimmt im allgemeinen in dem Maß zu, in dem die Wahrscheinlichkeit, daß sich diese Ziele allein kraft ihres
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Eudämonia ( 1 7 9 5 / 1 9 7 2 ) . S. 3 5 f . Ebd., S. 3 7 . Wedekind ( 1 7 9 5 ) . S. 1 0 . Zitat in Sperrdruck. Ebd., S. 1 2 , wie auch das folgende Zitat. V g l . zu dem Wandel der politischen Vorstellungen des Jakobiners und späteren Postrevolutionärs Wedekind die entsprechende Studie des Verf. ( 1 9 9 6 ) .
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Ideen- und Wahrheitsgehalts verwirklichen ließen, abnimmt. Daher sei die B e redsamkeit letzten Endes die »kunst den leuten was weiß zu machen«, faßt 1 7 2 4 der Frühaufklärer J o h a n n Andreas Fabricius diesen Sachverhalt denkbar knapp zusammen. 5 3 Ein Redner, der seine eigenen Uberzeugungen bei anderen hervorzurufen versucht, kann nur als suggestiv arbeitender Psychologe erfolgreich sein. Er m u ß vor allem die Sympathie der Zuhörer für sich gewinnen. U m einen möglichen Mißbrauch dieser A r t direkter Beeinflussung auszuschließen, wurde die Rhetorik häufig in der Sittenlehre verankert. Dieser Schutzmechanismus wirkt bereits im Vorfeld einer Rede, bezieht er sich doch auf das Ethos, also den Charakter des Redners. Verkörpert ein Redner die Ideale eines vir bonus, dann ist ihm auch der suggestive Einsatz von Pathos gestattet. M i t der Verpflichtung auf das Ethos konnte sich A d a m Müller zu Beginn des 1 9 . Jahrhunderts nicht mehr uneingeschränkt zufriedengeben. Wohl in erster Linie seine Erfahrungen m i t einer polarisierenden Revolutionsrhetorik in einer durch Zerrissenheit geprägten Zeitenwende haben bewirkt, daß er das besänftigende Ethos zwar für unabdingbar, aber nicht für ausreichend erachtete, die Beredsamkeit vor Entartungen zu bewahren. Er verlangte darüber hinaus nach einer neuen, poetisch und christlich inspirierten Redeweise, die die Zuhörer zu gleichberechtigten Gesprächspartnern aufwerten sollte. Z w a r bekannte sich auch Müller zu einer Leidenschaftsästhetik, weil diese allein die gewünschte R e d e w i r k u n g versprach, betonte aber dabei mehr das ästhetische als das leidenschaftliche Moment. A u f dieses Konzept berief sich nachhaltig auch Franz Theremin, der seit 1 8 1 4 als H o f - und Domprediger in Berlin wirkte, und entwickelte es in seiner Abhandlung Die Beredsamkeit eine Tugend ( 1 8 1 4 / 3 6 ) weiter. 5 4 Theremin hat mit dieser Schrift einen durchaus eigenständigen Entwurf vorgelegt, der weder einer homiletischen noch einer bestimmten theologischen Schultradition zugerechnet werden kann. 5 5 Die Beredsamkeit betrachtet er als ein Handeln, das streng an die Grundsätze der Sittlichkeit g e k n ü p f t s e i . ' 6 Seiner Ansicht nach müssen die Gesetze der Rhetorik aus der Ethik, die das menschliche Zusammenleben normiert, abgeleitet werden. Die Rhetorik definiert er so als ein Teilgebiet der Moral. D a m i t legitimiert er sie einzig und allein als Tugend oder, wie er in der Vorrede zur ersten A u f l a g e hervorhebt, »als eine rein sittliche T h ä t i g k e i t « . 5 7 Theremin war sich der Konsequenzen dieses Ansatzes wohl bewußt. In der Gefolgschaft A d a m Müllers überlagert er die bekannten Grundsätze der Rhetorik mit einer erneuerten, gesinnungsethischen Theorie der Beredsamkeit: 55 54
55 56 57
Fabricius (1724/1974). S. 3. Auf die Bedeutung der Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland für Theremin weist Koehler (1980). S. 178 hin. So jedenfalls Grünberg (1973). S. 61. Theremin (1836/88). S. 2 1 . Ebd., S. 23.
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Das N e u e in meiner Ansicht besteht nur darin, daß ich eine bekannte Wahrheit zum höchsten Prinzip erhoben, und versucht habe, daraus allein, mit Ausschließung aller anderen Grundsätze, die Regeln der Beredsamkeit abzuleiten. 5 8
Dieses neue Fundament der Beredsamkeit bildet, wie für Müller, das Christentum. Den Revolutionären in Frankreich habe es dagegen an der sittlich-religiösen Grundlage ihres Handelns, auch ihres rhetorischen, gefehlt. Daher sei auch deren Beredsamkeit in Demagogie ausgeartet. Nicht wahre sittliche Ideen hätten sie durchzusetzen versucht, sondern nur »ihre eigennützigen Absichten«, 5 9 die gleichwohl als Maßnahmen zum Wohle des Staates ausgegeben worden seien. Diese negativen Erfahrungen aus der Revolutionszeit bestimmten die Einstellung zahlreicher Gelehrter zur Leidenschaftsästhetik in der Rhetorik. U m trotz aller Vorbehalte das Pathos aus der Rede nicht ganz zu verbannen, warf Theremin einen differenzierenden Blick auf Schlüsselbegriffe der Rhetorik und grenzte vornehmlich den moralischen Affekt, »die höchste Thätigkeit der Vernunft«, 6 0 von der unsittlichen Leidenschaft, die »eine Unthätigkeit der Vernunft« 6 ' voraussetze, ab: Und so unterscheide man denn auch in der Beredsamkeit das affektvolle Sprechen eines Mannes, der von einer Idee erfüllt ist, die er andern in einem gleichen Grade der Klarheit und W ä r m e mitteilen will, von dem stets verdammungswürdigen Bestreben, Leidenschaften in ihnen zu erwecken. 6 2
Diesen Grundsatz postuliert Theremin jedoch nicht nur für die Beredsamkeit, er fordert ihn vielmehr für alle tugendhaften Handlungen ein: »Überhaupt sollte das Handeln der Menschen nie leidenschaftlich, aber immer affektvoll sein.« 6 ' Indem er wahre Beredsamkeit zu einem ethischen Trieb erklärte und vor allem verklärte, wollte er in erster Linie die Bande zwischen Beredsamkeit und Christentum so eng wie nur irgend möglich knüpfen. Dementsprechend erhob er Christus selbst zum unumschränkten Vorbild affektvollen Redens/' 4 Aus diesen (christlichen) Prämissen zog Theremin für die Rhetorik einschneidende Konsequenzen. Seine Forderung, die Beredsamkeit müsse sich unter allen Umständen als Tugend erweisen, ließ ihn auch die einzelnen Gattungsgrenzen überwinden. Unter ethisch-moralischem Vorzeichen, so There-
58 55 60 61 62
63 64
Ebd., S. 24. Ebd., S. 79. Ebd., S. 1 1 8 . Ebd., S. 1 1 7 . Ebd., S. 1 2 0 . Resümierend hebt Theremin an anderer Stelle (S. I 3 6 f . ) hervor: »Die rhetorische Darstellung aber hat die Erregung des Affektes zu ihrem eigentümlichen Ziel und Endzweck, und ich behaupte, daß dies der einzige Gesichtspunkt sei, von dem man ausgehen könne, wenn man ihre Regeln und Gesetze zusammenhängend und systematisch ableiten will.« Ebd., S. 1 1 9 . Ebd., S. 1 2 1 .
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min, verschmelzen etwa kirchliche und politische Beredsamkeit zu einer wesenhaften Identität. Auf diesem Weg sei das in Deutschland fehlende Genus deliberativum »in der kirchlichen Beredsamkeit mit einem höheren Glänze wieder auferstanden«. 65 Wie sein Vorbild Adam Müller beschwört Theremin das Ideal eines christlich geprägten politischen Redners, der sich tugendhaft in die verwirrten Zeitläufte einmischt, wobei »sein Uberzeugen überredend, und sein Überreden überzeugend sein solle«. 6 6 Mit diesen theoretischen Vorbedingungen rechtfertigt Theremin nicht zuletzt die geistige Mobilmachung am Vorabend der Befreiungskriege. Er stilisiert die patriotische Beredsamkeit dieser Jahre — im krassen Gegensatz zur Revolutionsrhetorik in Frankreich — zu einer sittlichen Handlung: Doch jetzt, wo sich die Deutschen in Masse zu einer tugendlichen, sieggekrönten Thätigkeit erhoben, wo sich ihre wissenschaftlichen und kunstliebenden Bestrebungen in dem Brennpunkt ihres Heldenmutes vereinigt haben, wird es niemand befremden, wenn ich auch in der Beredsamkeit nur ein sittliches Handeln sehe, welches alle dazu mitwirkenden Kräfte beherrscht. 6 " 7
Die eigentliche Retterin des Vaterlandes, so Theremin, sei die Religiosität, die sich der Beredsamkeit bedient habe. Mit dieser ideologischen Legitimation der Befreiungskriege durch deren religiöse Überhöhung schreibt Theremin Müllers Vorlesungszyklus über die Beredsamkeit, den er als einen Wegbereiter des antinapoleonischen Kampfes versteht, gleichsam fort, übernimmt damit aber auch dessen apodiktisch-dogmatischen Charakter. Theremins Ansatz kann nur als ideologisch bezeichnet werden, beurteilt er doch identische rhetorische Strategien vollkommen unterschiedlich. Das Pathos der Revolution lehnt er aus ethisch-moralischen Gründen ab, das vergleichbare Pathos der Befreiungskriege heißt er aus denselben Gründen gut. Theremin bewertet, all seinen Beteuerungen zum Trotz, nicht rhetorische Mittel im allgemeinen, sondern konkrete politische Inhalte. Die Propaganda der Befreiungskriege arbeitete mit hochgradig pathetischen Mitteln, um das erklärte Ziel, die geistige Mobilmachung aller Deutschen im K a m p f gegen Napoleon, zu erreichen. Die spätere borussophile bzw. deutschnationale Historiographie hat denn auch die Befreiungskriege zum Gründungsmythos der deutschen Nation verklärt. Im Jahr 1 8 1 3 erfüllten sich ja alle Hoffnungen der ideologischen Strategen. Die vaterländische Beredsamkeit schien einen optimalen Erfolg erzielt zu haben, denn im Unterschied zu den Anstrengungen der deutschen Jakobiner folgte den zahllosen Aufrufen wirklich die umwälzende Tat. Daraus läßt sich aber dennoch keineswegs auf eine strenge Ursache-Wirkung-Korrelation rückschließen, die Gründe für den Kriegsaus-
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Ebd., S. 7 1 . Ebd., S. 1 2 5 . Ebd., S. 25.
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bruch waren vielfältiger Natur. K a u m einer der damaligen Protagonisten hat ähnlich nachhaltig den Mythos des nationalen Freiheitskampfes befördert wie Ernst Moritz A r n d t . 6 8 Sein Werk umfaßt eine schier unübersehbare Fülle von Flugschriften, Büchern, Aufsätzen, Zeitungsartikeln, Liedern und Gedichten. W i e bei den deutschen Jakobinern dienten auch hier alle literarischen G a t t u n gen einem einzigen Z w e c k : der Politisierung der Leser bzw. Hörer mit affektiven M i t t e l n . 0 9 A r n d t verstand sich als nationaler Erwecker, der das Christentum ebenso verherrlichte wie die germanische Vorzeit, und beschwor eine segensreiche Z u k u n f t für Volk und Vaterland. 7 0 Sein patriotischer Enthusiasmus fügte sich in die pietistische Tradition eines säkularisierten und politisierten religiösen Erlebens. Der einzelne soll dabei vollkommen im Ganzen aufgehen. 7 1 Arndts polarisierende, bilderreiche Sprache setzte eher auf emotionale Begeisterung als auf argumentative Überzeugung. Wohl nicht zuletzt aus diesem G r u n d diskreditierte ihn Fürst Metternich mit dem Vorwurf, er agitiere wie ein deutscher Jakobiner. 7 2 Obgleich die Titulierung »deutscher Jakobiner« bis weit in den Vormärz recht wahllos auf mißliebige Oppositionelle generell angewendet wurde, bestanden zwischen den Propagandisten der Befreiungskriege im allgemeinen und A r n d t im besonderen auf der einen Seite und den deutschen Jakobinern auf der anderen Seite hinsichtlich der eingesetzten rhetorischen Strategien Gemeinsamkeiten. Auch Arndt wollte Massen für seine politischen Ideale mobilisieren, seine nachhaltigste Resonanz rief er freilich hauptsächlich im sozial mittleren und unteren Bereich der Gebildetenschicht hervor. A u f g r u n d seines Glaubens an die bewußtseinsbildende K r a f t politischer Erziehung setzte er sich
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1814,
Zu den verschiedenen Aktivitäten Arndts vgl. etwa Karl Heinz Schäfer (1974). Die Bedeutung der Befreiungskriegslyrik für die politische Bewußtseinsbildung hat Ernst Weber ( 1 9 9 1 ) untersucht. Weber interpretiert diese Gedichte unter den Gesichtspunkten der Zweckorientierung, Situationsgebundenheit, des rhetorisch-appellativen Charakters und der sprachlichen Redundanz, durch die das Volk in seiner Gesamtheit, und nicht nur Gebildete, angesprochen werden sollten. Schäfer (1974) gliedert die geistig-ideologische Entwicklung Arndts in vier Phasen: Nach seinem politischen Erwachen in den Jahren 1802 bis 1806 formte Arndt in der Zeit seines schwedischen Exils und des vergeblichen bürgerlichen Neubeginns in seiner pommerschen Heimat (1806 bis 1 8 1 2 ) einen betont kämpferisch-agitatorischen Propagandastil aus, wie etwa der zweite Band von Geist der Zeit belegt. Den Höhepunkt seines publizistischen Schaffens und seiner öffentlichen Wirkung erreichte er zwischen 1 8 1 2 und 1 8 1 5 / 1 6 . Danach beruhigte sich seine politische Argumentation wieder. (S. 196—199) Voss (1989) weist auf den Wandel im Meinungsbild Arndts über Frankreich hin und datiert die entscheidende Zäsur auf den Jahreswechsel 1806/ 07. (S. 228) Kaiser (1961) konstatiert bei Arndt »eine tiefgreifende Amalgamierung zwischen Christentum und Patriotismus« im Geiste eines religiösen Emotionalismus pietistischer Spielart. (S. 44) Schäfer (1974). S. 216.
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also nach dem Sieg über Napoleon, für die Gründung einer deutschen Gesellschaft ein. Diese sollte dafür Sorge tragen, daß auf der Grundlage des militärischen Augenblickerfolgs eine langfristige vaterländische Gesinnung bei allen Deutschen gefördert und gepflegt werde. Arndt fühlte sich um so mehr zu dieser Mahnung berufen, als er die gesellschaftlichen Perspektiven Deutschlands durch eine rückwärtsgewandte, engstirnige Politik gefährdet sah. Auch nach der Befreiung von der französischen Fremdherrschaft, so Arndt in seinem Entwurf einer teutschen Gesellschaft, habe man in Deutschland aus den Fehlern der Vergangenheit nicht gelernt und »Zwietracht und Vaterlandsvergessenheit« (noch) nicht überwunden. 73 Nach wie vor präge die »Nachäfferei fremden Tandes« weite Bereiche deutscher Wirklichkeit. 74 Das fehlende Gemeinschaftsgefühl aufzubauen, sei nun die vordringliche Aufgabe der zu gründenden deutschen Gesellschaft und ihrer einzelnen regionalen Untergruppen: Diese teutsche Gesellschaft bildet und versammelt sich in allen größeren Städten des Vaterlandes, wo sich eine hinreichende Zahl gebildeter Männer findet, welche leiten und führen und die Menge befeuern und beleben können. 7 5
Arndt ruft alle aufrechten Deutschen auf, sich auf diesem Weg patriotisch zu organisieren. Die Zusammenkunft in einer Gesellschaft bietet ihm die Gewähr dafür, daß das seiner Meinung nach wichtigste Medium zur Förderung der vaterländischen Gesinnung im Zentrum der politischen Bewußtseinsbildung stehen werde: die öffentliche Rede. Die Gesellschaft müsse daher, so Arndt, darauf achten, daß alle Reden und Vorträge nur in deutscher Sprache gehalten werden, denn auch dahin zielt sie vorzüglich, daß die unmittelbare K r a f t des Lebens und die große Gewalt der Seele lebendig werde, daß die Menschen aus Schreibern Sprecher und aus Träumern Thäter werden: wer nicht sprechen kann, entbehrt eines der gewaltigsten Hülfsmittel, Menschen zu bewegen, und, wenn es seyn muß, zu beherrschen, die Z u n g e ist eine der mächtigsten Gewalten, die es giebt. 7 6
Arndt fordert entschieden die Abkehr von einer Schriftstellerei, die Passivität erzeuge und vor allem die Phantasie beflügele, nicht aber die aktive Teilnahme am Gemeinwesen. Nur das lebendige Wort der Beredsamkeit, nicht das tote der Literatur könne eine Tat unmittelbar hervorrufen. Darüber hinaus müsse die Gesellschaft »offen aussprechen, was sie will«, schließlich habe sie »eine
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Arndt ( 1 8 1 4 ) . S. 1 4 . Als Beispiel einer nationalkulturellen Vereinsbildung beschreibt Dann ( 1 9 7 8 ) Arndts deutsche Gesellschaften. (S. 1 2 3 ) Arndt ( 1 8 1 4 ) . S. 1 5 . Ebd., S. 29. Ebd., S. 3 3 . Schäfer ( 1 9 7 4 ) berichtet von Gründungen derartiger Gesellschaften in Idstein, Butzbach, Wiesbaden, Kreuznach, Heidelberg und Gießen. Als Mitglieder seien vornehmlich protestantische Geistliche, Beamte, Juristen, Lehrer und Studenten, aber nur vereinzelt auch Handwerker und Gastwirte in Erscheinung getreten. (S. 2 2 8 )
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öffentliche Meinung zu begründen, deren Gewalt über die meisten Menschen mächtiger ist, als die Gewalt aller Gesetze«. 7 7 Das Konzept dieser Gesellschaft wandte sich so dezidiert gegen die geheimen Gesellschaften der Aufklärung, in denen ein ausschließlich innerelitärer Diskurs geführt wurde und wohl auch geführt werden mußte. Arndt will, dem pietistischen Gemeindegedanken verpflichtet, grundsätzlich das Volk in seiner Gesamtheit angesprochen wissen und nicht nur exklusive Teile davon. Auf erzieherischem Wege sowie durch eine organisierte Form der Meinungsäußerung glaubt er ein öffentliches politisches Bewußtsein aller Deutschen konstituieren zu können. Dazu lehnt er zwar die spezifische Form der Gesellschaften des 1 8 . Jahrhunderts ab, sein Gründungsversuch erinnert aber dennoch an einen historischen Vorläufer. Arndts Vorstellungen erscheinen als moderne Variante des von Leibniz 1 6 9 7 entworfenen Modells einer »teutschgesinnten Gesellschaft«. 7 ® Leibniz betrachtete Wissensvermittlung als ein gesellschaftliches Schlüsselproblem und erhoffte sich von der Wissenschaft eine einigende Wirkung auf das zersplitterte Deutschland. Ähnlich wie gut hundert Jahre später Arndt wollte er die »teutschgesinnte Gesellschaft« mit der Aufgabe betrauen, den Patriotismus zu fördern. Vor allem die Pflege der Muttersprache, die im Gegensatz zu England und Frankreich zu wenig geschätzt werde, müsse intensiv betrieben werden. 7 9 Mit der deutschen Sprache, so Leibniz, sei zugleich die deutsche Beredsamkeit verkümmert. Dem müsse eine wohlorganisierte Erziehung, wie sie die »teutschgesinnte Gesellschaft« zu leisten in der Lage sei, entgegenwirken — »zum Ruhm und Wohlfahrt teutscher Nation«. 8 0 Mit Hilfe einer muttersprachlichen Beredsamkeit Patriotismus zu erwecken, war auch das erklärte Ziel Arndts. Der Wissenschaft räumte er dagegen keinen vergleichbaren Stellenwert für eine Einigung Deutschlands ein wie Leibniz. Uber den Beitrag der Gelehrten zur Ausbildung einer vaterländisch gesinnten öffentlichen Meinung äußerte sich Arndt vielmehr, wie noch zu zeigen sein wird, eher abschätzig. Sein Plan einer »teutschen Gesellschaft« reagierte nicht zuletzt auf dieses von ihm beklagte Fehlen einer wirklichkeitszugewandten Gelehrtenkultur. Eine ähnlich hohe Wertschätzung wie bei Arndt genoß die öffentliche Meinung bei dessen Förderer, dem Freiherrn vom Stein. In seiner Denkschrift aus dem Jahr 1 8 1 0 macht dieser die allgemeinen Umstände für das mangelhafte politische Bewußtsein seiner Landsleute verantwortlich: Ein eiserner Druck lähmt alle auf politische oder historische Gegenstände angewandte Geistestätigkeit, es gibt keine öffentliche Meinung mehr, die sich aus denen frei ausgesprochenen, sich wechselseitig bekämpfenden Urteilen der Menschen bildet, und
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Arndt ( 1 8 1 4 ) . S. 3 1 . Leibniz ( 1 6 9 7 / 1 9 6 7 ) . Ebd., S. 70. Ebd., S. 80.
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es darf sich nur die Stimme der Schmeichelei und des Beifalls erheben, die der Wahrheit der freimütigen Beurteilung, des Unwillens über Unterdrückung und zugefügte Schmach, muß schweigen. 8 '
Dennoch zeigt sich Stein optimistisch, daß das napoleonische Herrschaftssystem fallen werde, da auf Dauer die Entwicklung der öffentlichen Meinung zu einer willensbestimmten Aktivität nicht zu unterdrücken sei: Die Meinung bekämpft siegreich die Gewalt, die Herrschaft Napoleons steht in W i derspruch mit der öffentlichen Meinung, mit der Vernunft, sowohl mit denen eigennützigen, als mit denen edelsten Gefühlen des Menschen, dem Gefühl für Recht, für Wahrheit und Freiheit. 8 2
Den Auftrag Steins, eine öffentliche Meinung als Gegenkonzept zu einer atomisierten Gesellschaft zu konstituieren, machte sich Arndt, im Unterschied etwa zu Gentz, der sich, wie Metternich, gegen eine gezielte Lenkung der öffentlichen Meinung aussprach, zueigen. Das geht vor allem aus seinem Hauptwerk Geist der Zeit, einem zeitkritischen »Weckruf an die deutsche Nation«® 3 in vier Teilen, erstmals veröffentlicht in den Jahren 1 8 0 6 , 1 8 0 9 , 1 8 1 3 und 1 8 1 9 , hervor. Im zweiten und dritten Band spitzt Arndt zudem seinen Stil agitatorisch zu, so daß sich diese Bücher wie Flugschriften lesen. Das brachte ihm auch das Lob Steins ein, der, wie Varnhagen von Ense in seinen Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens berichtet, den zweiten Band mit den Worten feierte: »>Seit Burke [ . . . ] ist nichts von so echter politischer Beredsamkeit erschienen, von so eindringlicher Wahrheit! Ascher (1808). S. 1 3 4 . ,24 Ebd., S. 1 3 5 .
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Populismus für sich einzunehmen versuche. Freilich habe sich Fichtes R u f in Berlin mittlerweile » ü b e r l e b t « . 1 2 5 In seinen öffentlichen, populären Vorlesungszyklen wollte Fichte, geleitet von einem praktisch-politischen Sendungsbewußtsein, nicht zuletzt die handlungstheoretische Dimension seiner Transzendentalphilosophie, der Wissenschaftslehre, o f f e n l e g e n . 1 2 6 Z u diesem Z w e c k mußte er sich insbesondere mit der Frage nach einer eingängigen und damit wirkungsvollen Vermittlung von Wissen auseinandersetzen. Für derartige Probleme bot die Rhetorik seit der A n t i k e ein breites Methodenarsenal an. So spielte die Lehre von der Redekunst auch in Fichtes Strategien der Wissensvermittlung eine nicht unbedeutende Rolle, ohne daß er sich aber m i t ihr systematisch auseinandergesetzt h ä t t e . 1 2 7 Sein Hauptinteresse in den öffentlichen Vorlesungen galt der praktisch-pädagogischen Umsetzung philosophischer Erkenntnisse, insbesondere seiner Wissenschaftslehre. M i t H i l f e der Rhetorik sollte nicht zuletzt die Problematik des Adressatenbezugs gelöst werden: Die verschiedenen Abhandlungen und Vorlesungen über seine Wissenschaftslehre waren — das lag in der N a t u r der Sache vorwiegend abstrakt und spekulativ abgefaßt und daher selbst einem begrenzten Kreis von Spezialisten nur schwer vermittelbar. Gleichwohl sah er den letztlichen Sinn all seiner philosophischen Überlegungen darin, diese im gesellschaftlichen und politischen Leben praktisch zu verankern. Seine eigenen philosophischen Einsichten waren dafür seiner Meinung nach besonders g u t geeignet, nicht zuletzt auch wegen der spezifischen Wesensart seiner Begrifflichkeit. Diese verlange geradezu danach, paraphrasiert und versinnlicht zu werden, wie er dem Philosophieprofessor Karl Leonhard Reinhold am 2 . 7 . 1 7 9 5 schrieb: Setzen Sie auf meine Ausdrüke nicht so viel Werth, als etwa die Ihrigen allerdings haben. Man hat angemerkt, und ich glaube mit Recht, daß es fast unmöglich sey, die eigenthiimlichen Gedanken Ihrer Philosophie anders auszudrüken, als Sie dieselben ausgedrükt haben; das ist bei den meinigen, und ich glaube auch bei den Kantischen, nicht der Fall. Sie laßen sich auf unendlich verschiedne Weise ausdriiken; und es ist, von mir wenigstens, nicht zu erwarten, daß die zuerst gewählte Darstellungsart die vollkommenste sey. Der Körper, in den Sie den Geist hüllen, liegt ihm sehr fest an: der, worin ich ihn hülle, ist loker, und leicht übergeworfen. Das, was ich mittheilen will, ist etwas, das gar nicht gesagt, noch begriffen, sondern nur angeschaut werden kann: was ich sage, soll nichts weiter thun, als den Leser so leiten, daß die begehrte Anschauung sich in ihm bilde. 1 2 8
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Ebd., S. 138. Bereits 1794 hat Ascher in seiner Schrift Eisenmenger II. nebst einem vorausgesetzten Sendschreiben an den Herrn Professor Fichte in Jena den Philosophen massiv angegriffen. Zur Persönlichkeit Aschers vgl. etwa Hubmann (1990). Die handlungstheoretischen Implikationen von Fichtes Philosophie analysiert z.B. Wolfgang Becker (1985). Fichtes Verhältnis zur rhetorischen Tradition hat Bezzola (1993). S. 64—119 untersucht. GA 111,2, S. 3 4 3 f .
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Der Wunsch nach Anwendbarkeit seiner Transzendentalphilosophie entsprang seiner genuinen Wirkungsintention. Am 2.3.1790 äußerte er sich dazu gegenüber Marie Johanne Rahn unmißverständlich: »Ich habe nur eine Leidenschaft, nur ein Bedürfnis, nur ein Volles Gefühl meiner Selbst, das: außer mir zu würken.« 1 2 9 Vom rein formalen Prinzip, freilich nicht von den jeweiligen Inhalten her gesehen, ist dieser Impetus demjenigen der Popularphilosophen vergleichbar. Die Popularphilosophie bildete daher für Fichte gerade in seinen Berliner Jahren, in denen er gleichsam vor Ort mit diesem praktisch-wirkungsorientierten Zweig der Spätaufklärung konkurrierte, eine kritische Bezugsgröße. Darauf wird später noch zurückzukommen sein. Als Grundlage aller Erkenntnis postulierte Fichte in den verschiedenen Stufen seiner Wissenschaftslehre das absolute Denken, das er mit dem reinen Ich gleichsetzte. Das Wesen des Ich definierte er als Tathandlung. Indem er Handlungswissen und Tathandlung ineinander verschränkte, hatte er bereits die Beziehung der Wissenschaftslehre zu seiner praktisch-populären Philosophie systemimmanent hergestellt. 130 Dieser dezidiert handlungsorientierte Ansatz nicht nur seiner praktischen, sondern bereits seiner systematischen Philosophie zeugt von Fichtes unbedingtem Willen, die Gesellschaft zu verändern. In seinen frühen Schriften artikulierte sich diese Intention auf mitunter radikalaufklärerische Weise. Der Redetext Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten (1793) ist im Rahmen dieser Untersuchung ja bereits analysiert worden. Aus dem selben Jahr stammt etwa noch sein Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, der sich explizit gegen Burkes Revolutionskritik wandte. Das Streben nach gesellschaftlichen und politischen Veränderungen beherrschte das Denken Fichtes auch nach Abkehr von seiner revolutionsfreundlichen Gesinnung. Bis zu seinem Lebensende war er damit beschäftigt, ein umfassendes Erziehungsprogramm zur sittlichen Vervollkommnung des Menschen zu entwerfen. Für den Vertreter eines nachkantischen, subjektiven Idealismus mußte jede soziale Reform zunächst im Individuum selbst grundgelegt werden. Die in der Wissenschaftslehre theoretisch entwickelte Tathandlung des Ich bildete die geistige Basis dieser Konzeption. Zur Durchsetzung seiner weitreichenden Ziele sollte die über Publizität herzustellende öffentliche Bewußtseinsbildung dienen. Fichte ernannte dabei die Gelehrten zu Protagonisten dieser allumfassenden Erziehungsbewegung. Ihnen übertrug er die Aufgabe, Vernunft und Freiheit in der Welt zu verwirklichen. Der wahre Gelehrte besitzt in seiner Philosophie geradezu diktatorische Vollmachten. Fichte verstand sein Ideal eines Gelehrten als deutsche Antwort auf den französischen Kriegsherrn Napoleon. Die Macht der
• ν G A I I I , ι , S. 7 3 . 1,0
V g l . zu den Inhalten des praktisch-populären Z w e i g s von Fichtes Philosophie die Abhandlungen von Batscha ( 1 9 7 0 ) sowie Willms ( 1 9 6 7 ) .
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Waffen glaubte er mit der Macht des Geistes brechen zu können. In dieser Vorstellung offenbart sich freilich auch der Zwangscharakter von Fichtes Philosophie sowie die totalitäre Dimension seiner Erziehungsdiktatur, die vom Staat umgesetzt werden sollte. Erst im künftigen Zeitalter der Vernunftherrschaft und keinesfalls in der von Krisen geschüttelten Gegenwart werde das Zwangssystem Staat überflüssig. Die inhaltliche Dimension von Fichtes popularphilosophischen Überzeugungen ist im Rahmen dieses Kapitels lediglich von subsidiärer Bedeutung. Im Mittelpunkt der Betrachtung sollen vielmehr — gemäß der Fragestellung die spezifischen Methoden und Strategien der Wissensvermittlung, die Fichte konzipiert bzw. auch angewendet hat, stehen. Fichte richtete sein Augenmerk nicht zuletzt auf das von ihm anvisierte Ziel der Popularität, d. h. konkret: auf die allgemeinverständliche Darstellung philosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse für ein breiteres P u b l i k u m . 1 3 1 So konzipierte Fichte gerade seine popularphilosophischen Vorlesungszyklen, die es hier zu interpretieren gilt, als systematische Einheit. Hinsichtlich der Frage nach Fichtes Wirkungsintentionen und -Strategien müssen sie daher auch im Zusammenhang untersucht werden. Fichte wollte mit seinen Vorlesungsreihen formal und inhaltlich einen wesentlichen Beitrag zur öffentlichen Bewußtseinsbildung leisten. Dieser Ansatz wird nun in diesem Kapitel en détail zu analysieren sein, wobei drei Leitfragen, die eng aufeinander bezogen sind und gegebenenfalls ineinander zu verschränken sein werden, den Gang der Untersuchung strukturieren sollen: Zunächst wird darzustellen sein, wie Fichte das Problem der Vermittlung von Wissen und — damit einhergehend — der Bildung eines öffentlichen Bewußtseins innnerhalb seines Denksystems selbst zu lösen versucht hat. Daran anschließend wird sich das Interesse darauf zu richten haben, welche Folgen Fichte aus seinen Überlegungen für die Konzeption seiner eigenen öffentlichen und populären Vorlesungen gezogen hat. Schließlich muß noch die Frage nach der zeitgenössischen Rezeption von Fichtes System beantwortet werden: Inwieweit waren seine intendierten Wirkungsstrategien im Deutschland des beginnenden 19. Jahrhunderts erfolgreich? Das Problem populärer Darstellung philosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse hat Fichte in seiner Vorlesungsreihe Die Anweisung zum seligen heben (1806), seiner Religionslehre, grundlegend thematisiert. Besonders in der zweiZ u den inhaltlichen Gesichtspunkten von Fichtes Popularphilosophie vgl. etwa Traub ( 1 9 9 2 ) . Fragen der spezifischen Lehrform hat Lauth ( 1 9 8 0 ) anhand von Fichtes Berliner Privatissima zur Wissenschaftslehre untersucht. Über diese nichtöffentlichen Vorlesungen im voruniversitären Berlin urteilt Lauth: »Es ist meines Wissens ein einmaliges Ereignis der Weltgeschichte, daß ein Philosoph in seinen privaten Vorlesungen einen Prinzen, 7 Minister, 6 zukünftige Minister und 5 Gesandte neben zahlreichen angesehenen Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern zu seinen Hörern (oder doch wenigstens zu Eingeladenen) hatte.« (S. 4 7 )
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ten Vorlesung entwickelt Fichte, freilich gedanklich ausgesprochen abstrakt, Überlegungen zur genetischen Wahrheitsfindung. Klarheit will Fichte durch gedankliche Tiefe gewinnen und »tiefste Metaphysik und Ontologie [ . . . ] auf eine populäre Weise« vermitteln. 1 3 2 Der Kritik strenger Systematiker an einem derartigen Verfahren begegnet Fichte offensiv und verteidigt nachdrücklich sein Plädoyer für Anschaulichkeit und Verständlichkeit: G e g e n ein solches Vorhaben p f l e g t man nun g e w ö h n l i c h einzuwenden, entweder, es sei u n m ö g l i c h , jene Erkenntnisse populär vorzutragen, oder auch, es sei unratsam; und das letztere sagen zuweilen Philosophen, welche ihre Erkenntnisse gern zu Mysterien machten [ . . . ] I "
Die Pflicht des Gelehrten, so Fichte, bestehe darin, die durch reines, wahres Denken gewonnenen Erkenntnisse »jedem Einzelnen [ . . . ] in derjenigen Form [mitzuteilen], in der er derselben am empfänglichsten i s t « . 1 3 4 Fichte spannt hier einen gedanklichen Bogen zwischen reiner philosophischer Lehre und rhetorisch persuasiver Wirkungsstrategie. Letztlich zeigt er sich davon überzeugt, daß grundsätzlich jedes Thema, jeder Sachverhalt, so komplex oder kompliziert er auch sein mag, einem breiten Publikum eingängig zu vermitteln sei. Das Verständnis des dargebotenen Stoffes muß dabei so weit reichen, daß der Hörer in die Lage versetzt wird, danach selbst über dieses Thema zu referieren. Daher darf Popularität auch nicht als reine Reduktionsleistung mißdeutet werden, geht es Fichte doch schließlich um die »Möglichkeit und Notwendigkeit eines gemeinfaßlichen Vortrages der tiefsten Elemente der Erkenntnis«. Seine spezifischen Vorstellungen über den idealen Vortragsstil erläuterte Fichte bereits Anfang Februar 1 7 9 4 in einem Brief an Johann Kaspar Lavater. Darin heißt es über die Verbindung von systematischer Logik und deren nachvollziehbarer Darstellung: M e i n Vortrag ist i m m e r synthetisch; ich werfe meine G e d a n k e n nie hin, wie ich sie unsichtbar in meiner Studirstube gedacht habe, sondern ich denke sie, finde sie, entw i k l e sie vor den A u g e n der Hörer, und m i t Ihnen; ich bemühe mich dabei den strengsten logischen G a n g auch in den kleinsten T h e i l e n des Vortrags zu gehen. D a ich fast alles wörtlich niederschreiben werde, so hoffe ich diese A r t des Vortrags dann so ziemlich in der G e w a l t zu h a b e n . " 5
Dennoch bestehen zwischen einem wissenschaftlichen und einem populären Vortrag wesentliche Unterschiede, wie Fichte in der Anweisung zum seligen Leben weiter ausführt. Im wissenschaftlichen Vortrag muß die Wahrheit entwickelt werden im Sinne ihrer »Ausläuterung [ . . . ] aus dem verworrenen Chaos, in
1,2
Fichte ( 1 8 0 6 / 1 9 2 3 / 5 4 ) . S. 2 6 .
' » E b d . , S. 2 7 . 1,4
E b d . , S. 3 1 , w i e auch das folgende Z i t a t .
'•» G A 1 1 1 , 2 , S. 6 o f .
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welchem Wahrheit und Irrtum durcheinanderliegen«. 1 3 6 Der populäre Vortrag wendet sich dagegen »unmittelbar, ohne noch etwas anderes zu Hilfe zu ziehen«, an den »natürlichen Wahrheitssinn«. Er muß die Wahrheit nicht durch »Aussonderung der Gegensätze« entwickeln, sondern die bereits entwickelte Wahrheit »rein und einfach« ansprechen: »Beweisen kann dieser Vortrag nicht, wohl aber muß er verstanden werden«. Gleichwohl - und das ist ein entscheidender Gedanke in der Argumentation Fichtes — erlangt ein Philosoph seinen natürlichen Wahrheitssinn auf populärem Weg. Damit erhebt Fichte die Popularität selbst in den Rang philosophischer Erkenntnis. Eine derart weitreichende Konsequenz aus seinen Überlegungen hat Fichte in seiner Auseinandersetzung mit Schiller, auf die im folgenden Unterkapitel einzugehen sein wird, noch nicht gezogen. In der Anweisung zum seligen Leben charakterisiert Fichte die Popularität, die Kant für philosophische Fragestellungen ausgeschlossen wissen wollte, als Methode der Forschung, er wertet sie zu einem Denkprinzip auf. Philosophie und Rhetorik gehen damit gleichsam systemimmanent ineinander a u f . 1 3 7 Die den Gelehrten anheimgegebene Aufgabe der Wissensvermittlung gewinnt vor diesem Hintergrund erst ihre fundamentale Bedeutung. Fichte trug dem hohen Stellenwert, den er den Gelehrten in seinem System beimaß, nicht zuletzt dadurch Rechnung, daß er diesem Stand drei öffentliche Vorlesungszyklen widmete. 1 3 ® 1 7 9 4 hielt Fichte unter dem Zuspruch von etwa 500 Zuhörern als frisch berufener Professor in Jena Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten. Aufgrund seiner frühen Revolutionsschriften sah er sich gleichwohl mancherlei Anfeindungen ausgesetzt, die ihn bewogen, die ersten fünf Vorlesungen drucken zu lassen, um so seine politische und weltanschauliche Integrität unter Beweis zu stellen. Ueber das Wesen des Gelehrten, und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit sprach Fichte dann öffentlich im Sommersemester 1 8 0 5 in Erlangen. Die Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten bot er 1 8 1 1 in Berlin an. Seine Beschäftigung mit diesem Thema nahm also einen Zeitraum von siebzehn Jahren in Anspruch. Im Kern mahnte Fichte die gesellschaftliche Verantwortung des Gelehrten in seiner Funktion als Erzieher der Menschheit an. Damit einhergehend entwarf er die Grundlagen seines Bildungs- und Erziehungskonzepts, das auch für seine prominenten Vorlesungszyklen, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters ( 1 8 0 6 ) sowie die Reden an die deutsche Nation (1807/08), maßgeblich wurde. Die drei Vorlesungszyklen zu Wesen und Bestimmung des Gelehrten beschäftigen sich in erster Linie mit der Frage nach der populären Vermittlung philosophischen Wissens, speziell der sozialen Konkretisierung der abstrakten Welt der eigenen Wissenschafts-
1.6 1.7 1.8
Fichte ( 1 8 0 6 / 1 9 2 3 / 5 4 ) . S. 3 2 , wie auch die folgenden Zitate. V g l . zu Fichtes Die Anweisung zum seligen Leben auch Bezzola ( 1 9 9 3 ) . S. I i 8 f . V g l . zusammenfassend zu diesen Vorlesungen die Einleitung von Peter Goldammer in der von ihm herausgegebenen Ausgabe von 1 9 5 6 . S. 5 - 3 4 .
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lehre. Wie auch in seinem 1807 verfaßten Deduzierten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt verlangt Fichte in den Gelehrten-Vorlesungen den perfekt geschulten Erzieher, der das geistige Fundament des künftigen Zeitalters der Vernunftherrschaft zu errichten habe. Die von Fichte in den Abhandlungen zur Wissenschaftslehre entwickelte Tathandlung des absoluten Denkens, des reinen Ich, als Grundlage aller Erkenntnis ist der Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Bildungs- und Erziehungsreform. Daher betont er auch gleich in der ersten seiner Jenaer Vorlesungen von 1794 den subjektivistischen Ansatz seiner Lehre: »Die lezte Bestimmung aller endlichen vernünftigen Wesen ist [ . . . ] absolute Einigkeit, stete Identität, völlige Uebereinstimmung mit sich selbst.«' 39 Gleichwohl ist aber der Mensch ein gesellschaftliches Wesen. Innerhalb der Gesellschaft bilden wiederum die Gelehrten einen eigenen Stand, der auf die Vollkommenheit der Menschen hinwirken solle. Fichte leitet aus diesem Postulat die methodische Folgerung ab, daß sich der Gelehrte insbesondere um die Ausbildung der gesellschaftlichen Talente »Empfänglichkeit« und »Mittheilungsfertigkeit« 140 zu kümmern habe, denn: »Seine für die Gesellschaft erworbene Kenntniß soll er nun wirklich zum Nutzen der Gesellschaft anwenden«, um auf diese Weise zum »Lehrer des Menschengeschlechts«, 14 ' zu einem » E r z i e h e r der Menschheit«' 42 zu werden. In seinem Vorlesungszyklus von 1 8 1 1 wird Fichte dann, ausgehend von diesen hier skizzierten Vorstellungen, eine die Zeiten überdauernde regelrechte Erziehungskette knüpfen: Gelehrte müssen künftige Gelehrte erziehen, diese wiederum eine erneute Generation usw. - »und nach dieser Regel fort bis an das Ende der Tage«.' 4 3 Fichte stilisiert die Gelehrten zu Auserwählten. Sich selbst betrachtet er als Vollender der Transzendentalphilosophie und erhebt sich in den Rang eines Ur-Gelehrten. Damit verleiht er sich geradezu prophetische Züge. Die Arbeit eines Gelehrten erfordere »Redlichkeit und Geschicklichkeit«, um komplexes Wissen für das Publikum so zu vereinfachen, daß es allgemein verständlich, nicht aber verfälscht werde.' 44 Fichte spricht hier aus dem Blickwinkel der Rhetorik das >persuaderephilosophisch< überzeugen, nicht >rhetorisch< überreden und schon gar nicht täuschen, gleichwohl aber auf seinen Popularitätspostulaten beharren. Im Rahmen seiner Wirkungsstrategie hält er daher ausschließlich »moralische Mittel«' 4 5 für legitim, die Anwendung von Zwang und Gewalt lehnt er explizit und definitiv ab. Vom Standpunkt der Rhetorik deklariert Fichte letztlich den Primat der arguG A 1,3 (1794). I. Vorlesung. S. 30. ° Ebd. 4. Vorlesung. S. 55. Zitate in Sperrdruck. ·*' Ebd., S. 56. 142 Ebd., S. 57. 143 Zitiert wird nach der Ausgabe von Goldammer (1956). 2. Vorlesung. S. 227. 144 G A 1,3 (1794). 4. Vorlesung. S. 56. 145 Ebd., S. 57, wie auch die folgenden Zitate. ,4
247
mentativen Belehrung, des Docere, während er die Pathoserregung, das Movere, skeptisch beurteilt. In seinen frühen politischen Schriften, wie etwa in der »Rede« Zurückforderung
der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, hatte dagegen
die rhetorische Leidenschaftsästhetik innerhalb seiner persuasiven
Strategie
noch eine zentrale Funktion zu erfüllen. Fichte drängte aber im Laufe der J a h r e seinen Anspruch als politischer Redner zusehends zurück und akzentuierte verstärkt sein Selbstverständnis als philosophischer Denker, der freilich aus wirkungsästhetischen Gründen den Stellenwert der Beredsamkeit in seinen popularphilosophischen Schriften und Vorlesungen nicht entscheidend geschmälert wissen wollte. Der maßgebliche Z w e c k des von Fichte entworfenen Erziehungs- und B i l dungsprogramms ist die »sittliche Veredelung des ganzen Menschen«. Ein derart fundamentales Ansinnen kann m i t rhetorischen Augenblickserfolgen nicht verwirklicht werden, fehlt diesen doch die anhaltende W i r k u n g . Das persuasive Unterfangen Fichtes und der Gelehrten überhaupt ist daher philosophischer, nicht agitatorischer Natur. Der Gelehrte muß zudem nicht nur sein Wissen überzeugend vermitteln, sondern darüber hinaus auch m i t seiner eigenen E x i stenz Vorbildfunktion übernehmen können. A l s »ein guter Mensch«, im rhetorischen Sinn ein vir bonus dicendi peritus, ist er voll und ganz der göttlichen Idee verpflichtet. Den Zusammenhang zwischen Idee und Handeln stellt Fichte in der ersten seiner Berliner Vorlesungen 1 8 1 1 her: »Ein praktisches Wissen ist ein durch sich selbst bestimmtes, also ein bloßes Gesicht, wie die deutsche Sprache das griechische Wort Idee trefflich a u s d r ü c k t « . 1 4 6 Bereits 1 8 0 5 hat Fichte in seinem zweiten Vorlesungszyklus den B e g r i f f der göttlichen Idee näher bestimmt und auch hier explizit auf den Handlungsbezug verwiesen: Talent und Fleiß, so Fichte, verleihen der Idee Gestalt, damit »die in dem wahren Gelehrten zum Leben gekommene Idee in die umgebende Welt e i n g r e i f e « . 1 4 7 Erst im A k t der Handlung verwirklicht sich die Idee. In diesem praktischen Bezugsrahmen bewegt sich Fichtes Vorstellungswelt. N u r dem Gelehrten, so führt Fichte in der zweiten Vorlesung von 1 8 1 1 aus, »erscheinen die Gesichte der übersinnlichen Welt, nach denen die Sinnenwelt immerfort weiter gestaltet werden s o l l « . 1 4 ® Diese Gesichte, Ideen, »sind ihm [dem Gelehrten, d.Verf.] treibend zur Tat«. Die Philosophie der sich im Handeln vollziehenden göttlichen Idee ist daher letztlich »tatbegründendes W i s s e n « . 1 4 9 Z u m Schluß seiner Vorlesungsreihe in J e n a 1 7 9 4 ruft denn auch Fichte seinen Zuhörern bzw. Lesern eindringlich zu: »Handeln! Handeln! das ist es, wozu w i r da s i n d . « 1 ' 0
146 147 148 149 150
Fichte (1811/1956). ι . Vorlesung. S. 206. GA 1,8 (1805/06). 3. Vorlesung. S. 82. Fichte (1811/1956). 2. Vorlesung. S. 218, wie auch das folgende Zitat. Ebd. ι . Vorlesung. S. 206. G A 1,3 (1794). 5. Vorlesung. S. 67.
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Diese Botschaft wurde von den Zeitgenossen auch verstanden - und mitunter kritisiert. N o c h im gleichen Jahr, genau am 7 . 1 2 . 1 7 9 4 , äußerte sich Friedrich K a r l Forberg, Privatdozent der Philosophie in J e n a , über den W i r k u n g s i m petus von Fichte und zeigte dabei wenig Verständnis für dessen Ausrichtung auf die göttliche Idee: Fichte ist wirklich gesonnen durch seine Philosophie auf die Welt zu wirken [...] Er schärft bey jeder Gelegenheit ein, daß Handeln! Handeln! die Bestimmung des Menschen sey, wobei nur zu fürchten steht, daß die Majorität der Jünglinge, die dieß zu Herzen nehmen, eine Aufforderung zum Handeln fur nichts besseres, als für eine Aufforderung zum Zerstören ansehn dürfte. Und überdem ist der Satz falsch. Der Mensch ist nicht bestimmt zu handeln, sondern gerecht zu handeln [.. J 1 ' 1 Dieser skeptische K o m m e n t a r bestätigt nicht zuletzt die N o t w e n d i g k e i t von Fichtes Anliegen, daß der Mensch eine ebenso verständige wie verständliche Vermittlung der göttlichen Idee benötige, u m zu einer verbindlichen innerweltlichen Handlungsorientierung zu gelangen. Das macht Fichte in allen drei Vorlesungszyklen über B e s t i m m u n g und Wesen des Gelehrten unmißverständlich deutlich. In dieser anspruchsvollen Vermittlertätigkeit, die nicht jeder seiner Hörer bzw. Leser sogleich verstand, wird der Gelehrte zu einem »Priester der W i s s e n s c h a f t « , 1 ' 2 zu einem »freien K ü n s t l e r « . 1 ' 3 Er muß sich daher ständig seine göttliche B e s t i m m u n g bewußt machen und sein Leben und Handeln danach ausrichten. Das Leben des vollendeten Gelehrten geht ganz im Leben der Idee, »im Denken der S a c h e « 1 ' 4 auf. In der neunten seiner Erlanger Vorlesungen von 1 8 0 5 differenziert Fichte das methodische Vorgehen der Gelehrten weiter, indem er sich speziell mit dem Wirken des mündlichen Gelehrten-Lehrers bzw. -Erziehers beschäftigt. W i e bereits die entsprechenden Lehrsätze der Rhetorik seit der A n t i k e hervorheben, garantiert Mündlichkeit unmittelbaren Adressatenbezug. Der lebendige Austausch direkter K o m m u n i k a t i o n ermöglicht es dem Redner-Lehrer, sofort auf die konkreten Bedürfnisse seiner Hörer-Schüler zu reagieren. D a m i t die Schüler einst die Fähigkeit, »selbstständig und durch sich die Idee zu erfass e n « , 1 " überhaupt erlangen können, muß sich der Lehrer bei seinem Unterricht nach deren » F a s s u n g s k r a f t « 1 ' 6 orientieren. Das wiederum ist im mündlichen Vortrag leichter zu bewerkstelligen als im schriftlichen. Daher räumt Fichte der Mündlichkeit auch einen höheren Stellenwert als der Schriftlichkeit ein. D i e genuine A u f g a b e des Gelehrten besteht darin, seine Schüler so auszubilden, daß sie die Idee nicht nur begreifen lernen, sondern auch selbständig 151 152 153 154 155 156
Fichte im Gespräch 1. Nr. 214. S. 204. GA 1,8 (1805/06). 9. Vorlesung. S. 1 3 1 . Ebd. 3. Vorlesung. S. 83. Ebd. 7. Vorlesung. S. i n . Ebd. 9. Vorlesung. S. 125. Fichte (1811/1956). 5. Vorlesung. S. 261.
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entwickeln und mit Leben erfüllen können. Um die Vermittlung seiner Lehrinhalte so eingängig wie möglich zu gestalten, muß der Dozent eine breite Methodenpalette anwenden. Die größte Wirkung ist zu erzielen, wenn der Gelehrte die Idee mit »Lebendigkeit, Beweglichkeit, und innerer Wendbarkeit und Gewandheit« vorträgt;' 5 7 »er muß sie auf das mannigfaltigste gestalten, ausdrücken, und kleiden, um in irgend einer dieser zufälligen Hüllen sie an diejenigen, nach deren gegenwärtiger Bildung er sich zu richten hat, zu bringen.« Das »Künstlertalent des Gelehrten« beschreibt Fichte schließlich als die vollendete Fähigkeit, und Fertigkeit, in jeder Umgebung, den Funken der sich zu gestalten beginnenden Idee anzuerkennen, immer das geschickteste Mittel zu finden, um gerade diesem Funken zu vollkommnem Leben zu verhelfen, allenthalben und in jedem Zusammenhange anzuknüpfen wissen, dasjenige, worauf es eigentlich ankommt.
Der mündlich unterrichtende akademische Lehrer verfügt über einen deutlich größeren Gestaltungsspielraum als der Schriftsteller. Während dieser sich auf eine einzige Darstellungsform beschränken muß, hat jener »eine Unendlichkeit von Formen« zur Auswahl. Daher ist auch der vollkommene mündliche Gelehrten-Lehrer zwangsläufig ein idealer Schriftsteller, wohingegen der Umkehrschluß, jeder gute Schriftsteller sei auch ein guter Lehrer, nicht a priori gezogen werden kann. Die Idee muß sich in der Sprache, ob nun mündlich oder schriftlich, »auf eine allgemein gültige Weise, in einer vollendeten F o r m « 1 ' 8 artikulieren. Nur so kann sie zum Leben erweckt werden. Ohne adäquaten sprachlichen Ausdruck bleibt jede Leistung des Verstandes wirkungslos. Fichte steht bei der Behandlung dieser Problematik ganz im Banne der persuasiven Möglichkeiten der Rhetorik, ohne freilich deren jahrhundertelang verbindlich geltendes, strenges Regelwerk zum Maßstab zu erheben. Ihn interessierte einzig und allein der im Vortrag zu erzielende rednerische Erfolg. Dieser wird durch die Unmittelbarkeit der mündlichen Rede aber nicht nur befördert, sondern auch gefährdet, ist doch das gesprochene Wort an den jeweiligen Augenblick gebunden und daher in gewisser Weise auch vergänglich. 1 5 9 Trotz des Problems der Flüchtigkeit ist der mündliche Kathedervortrag das wichtigste Unterrichtsmittel eines Gelehrten. Die Chance, unmittelbar, überzeugend und nachhaltig auf seine Hörer zu wirken, wiegt jeden Nachteil, auch den der Vergänglichkeit, bei weitem auf. Aufgrund des dezidierten Praxisbezugs von Bildung, wie Fichte sie sich idealiter vorstellte, nimmt der Gelehrte eine Schlüsselstellung in der Welt ein, formt er doch in entscheidendem Maß die zukünftige Gesellschaft mit. Besondere Relevanz gewinnt seine Tätigkeit vor allem in Krisen- und Umbruchs-
157 158
G A 1,8 (1805/06). 9. Vorlesung. S. 1 3 0 , wie auch die folgenden Zitate. Ebd. 1 0 . Vorlesung. S. 1 3 7 . Ebd., S. 1 3 8 .
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Zeiten, wenn die vorherrschenden Verhältnisse in Staat und Gesellschaft als unbefriedigend empfunden werden. In seinem öffentlichen Vorlesungszyklus Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, den er vom 4 . 1 1 . 1 8 0 4 bis zum 1 7 . 3 . 1 8 0 5 in Berlin anbot, thematisierte Fichte seine Unzufriedenheit mit der Gegenwart, entwickelte gleichzeitig aber auch Perspektiven für eine bessere Zukunft. Ausgangspunkt seiner Ausführungen ist ein Geschichtsmodell, in dem »fünf Grund-Epochen des Erdenlebens« 160 aufeinander folgen und einander ablösen. Die erste Epoche, in der sich das Menschengeschlecht im »Stand der Unschuld« 1 0 1 befunden hat, ist von der unbedingten Herrschaft der Vernunft durch den Instinkt geprägt gewesen. Daran anschließend wurde der Vernunft-Instinkt in eine äußerlich zwingende Autorität verwandelt. Dieser Abschnitt markiert den »Stand der anhebenden Sünde«. Der »Stand der vollendeten Sündhaftigkeit« ist in der dritten Epoche erreicht worden, als sich das Zeitalter aller Banden und Einschränkungen entblößte, dabei aber auch gegenüber der Wahrheit absolute Gleichgültigkeit und Ungebundenheit walten ließ und läßt. In diesem Zeitabschnitt siedelt Fichte die Gegenwart an. Nach Überwindung dieser sündhaften Epoche wird die Menschheit in eine Phase der Vernunft-Wissenschaft eintreten. Die Wahrheit wird in diesem »Stand der anhebenden Rechtfertigung« wieder höchste Anerkennung und Wertschätzung finden. Zuletzt wird sich dann die Menschheit im Zeitalter der Vernunft-Kunst selbst aufbauen und den »Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung« herbeiführen. In dieser abschließenden Epoche kehrt die Menschheit gleichsam zu ihrem Ursprung zurück, indem sie erneut vom Baum der Erkenntnis ißt und dadurch den Zugang zum Paradies wieder erlangt. Diese eigenwillige Deutung des Buches Genesis faßt gleichsam die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit in einem vielsagenden Bild zusammen. Fichte betrachtet das Streben nach Erkenntnisgewinn als positiven Akt und Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt. Der Stand der Gelehrten bildet dabei die Avantgarde dieses Fortschritts. Fichte sieht in der Gegenwart nicht nur die Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit, sondern auch den Mittelpunkt »der gesammten Zeit«. 1 6 2 Neben den bereits genannten negativen Eigenschaften tritt hier besonders der Hang zu bedingungslosem Egoismus in Erscheinung: Jeder ist einzig und allein auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Der »Unterschied zwischen dem vernunftwidrigen und dem vernunftgemäßen Leben«, so Fichte, hänge davon ab, »ob das Leben lediglich an das Persönliche gesetzt werde, und in demselben aufgehe, oder, ob es der Idee aufgeopfert werde«.' 63 Die Befreiung von Egoismus und
160 101 162 163
G A 1,8 (1806). ι . Vorlesung. S. 2 0 1 . E b d . Z i t a t in S p e r r d r u c k , wie auch die E b d . 2. Vorlesung. S. 2 0 6 .
folgenden
Zitate.
E b d . 5. Vorlesung. S. 244.
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Vernunftwidrigkeit ist denn auch das erklärte Z i e l aller Anstrengungen, die Fichte bei seinen Zeitgenossen anmahnt. Vernünftig zu leben bedeutet, sich dem Ganzen zu widmen. Die unter der Herrschaft der vollendeten Sündhaftigkeit stehende dritte Epoche der Weltgeschichte muß durch die Tathandlung des Ich überwunden werden. Den Gelehrten bleibt es vorbehalten, die Initiative zu ergreifen, um die künftigen Verhältnisse »mit Freiheit nach der Vern u n f t « " 5 4 einzurichten. D i e Organisation des umfassenden
Erziehungspro-
gramms der Gelehrten will Fichte dem Staat anvertrauen. Bis zum Anbruch des Zeitalters der Vernunftherrschaft bleibt dieser eine Zwangsanstalt, die alle K r ä f t e zu einem einzigen W i l l e n , dem sich jeder zu unterwerfen habe, bündeln m ü s s e . 1 0 5 Als eine weitere Schwäche der Gegenwart führt Fichte den Umstand an, daß nur diejenigen Phänomene allgemein anerkannt werden, die man unmittelbar begreifen, d . h . sinnlich erfahren könne. Dadurch bleibe jedoch der direkte Z u g a n g zu den Ideen versperrt. A n diesem Punkt muß die Arbeit der Gelehrten ansetzen. M i t H i l f e einer detaillierten Strategie der Vermittlung philosophischen Wissens sollen sie prinzipiell alle Menschen in die Lage versetzen, sich die höheren Sphären des Lebens selbsttätig zu erschließen. D e m »Verhältniß der gebildeten Stände zum V o l k e « ' 6 6 k o m m t bei diesem anspruchsvollen Vorhaben besondere Bedeutung zu. Das Individuum muß sich als Teil des G a n zen begreifen. J e g l i c h e Superioritäts- bzw. Inferioritätsgefühle sind aus dem Denken der Menschen zu verbannen. Grundsätzlich ist jeder einzelne, unabhäng i g von Stand und Bildungsgrad, ein G l i e d der Gemeinschaft und muß sich in »den Dienst des Staates« stellen. Fichte ist sich darüber im klaren, daß in einer rein auf Schriftlichkeit basierenden K u l t u r sein umfassendes Bildungs- und Erziehungsprogramm
zum
Scheitern verurteilt wäre. Das im M e d i u m der Schrift zu erreichende W i r kungspotential ist seiner Meinung nach keineswegs optimal. Die Erfindung der Buchdruckerkunst sei zudem nicht nur ein Segen, verführe sie doch » K o m p i l a toren«, »Modeschriftsteller« und insbesondere Rezensenten zu publizistischer M a ß l o s i g k e i t . 1 6 7 Darunter leide nicht zuletzt der Stil einer Sprache. Diese These untermauert Fichte m i t dem Hinweis auf die griechische und römische Antike. Deren Schriftsprache sei »ein A b b i l d gehaltner Rede« und daher ästhetisch gelungen. D i e lebendige Rede diene in stilistischer Hinsicht als positives »Korrektiv« jeder Sprache. 1 6 8 Fichte selbst hat aus diesen Überlegungen zum vielschichtigen
Verhältnis zwischen Mündlichkeit
und Schriftlichkeit
praktische Konsequenzen gezogen und in seinen Vorlesungsstunden jede M i t -
164 165 166 167 168
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
252
I. Vorlesung. S. 198. Zitat in Sperrdruck. I i . Vorlesung. S. 320. 15. Vorlesung. S. 373, wie auch das folgende Zitat. 6. Vorlesung. S. 2 6 0 - 2 6 2 . 7. Vorlesung. S. 269.
schrift untersagt, um so das aktive Mitdenken des Auditoriums zu fördern. 1 0 9 Die fehlende Redekultur hat nach Fichtes Ansicht wesentlich zu dem geistigen Niedergang des gegenwärtigen Zeitalters, den er konstatiert, beigetragen. Seinen Hörern schärft er daher immer wieder ein, daß mündliche Beredsamkeit effektive Möglichkeiten biete, gestaltend in die augenblicklichen Zeitläufte einzugreifen. Reden bedeute wahrhaft tätig zu sein: So hat die mündliche Mittheilung, - durch fortgehende Rede, oder wissenschaftliche Unterredung, — unendliche Vortheile vor der, durch den todten Buchstaben; das Schreiben ist bei den Alten erfunden worden, lediglich u m die mündliche Mittheilung denen zu ersetzen, die zu ihr keinen Zugang haben konnten; alles Geschriebne war zuerst mündlich vorgetragen, und war Abbildung des mündlichen Vortrags; nur bei den Neuern, besonders seit Erfindung der Buchdruckerkunst, hat das Gedruckte begehrt, für sich etwas Selbstständiges zu seyn, — wodurch unter andern auch der Styl, dem das lebendige Korrektiv der Rede entging, in solchen Verfall gerathen. Aber selbst für diese mündliche Mittheilung ist ein Leser, wie der Beschriebne, vors erste verdorben." 7 0
Angesichts derart schwerwiegender kultureller - und damit auch gesellschaftlicher sowie politischer - Defizite ermahnt Fichte seine Landsleute zur Umkehr in Form eines geistigen Neubeginns. Die möglichst rasche Umsetzung von zwei konkreten Forderungen soll mit dazu beitragen, daß der Wandel umgehend eingeleitet werde. Z u m einen müsse »das Mittel der mündlichen Mittheilung« wieder in sein ursprüngliches Recht gesetzt und »zur Fertigkeit, und Kunst« ausgebildet werden; zum anderen müssen die Menschen zur »Empfänglichkeit für diese Art der Mittheilung« sensibilisiert werden. 1 7 ' Gleichwohl will Fichte sein eindringliches Plädoyer für eine lebendige, mündliche Beredsamkeit nicht als generelle Absage an die Schriftkultur verstanden wissen. An der historischen Bedeutung des Buchdrucks für die Durchsetzung und Ausbreitung der Reformation läßt er beispielsweise, auch später in den Reden an die deutsche Nation, keinen Zweifel. Er wendet sich nicht gegen die Schriftlichkeit per se, sondern nur gegen deren unangefochtene Dominanz in Deutschland. U m ein O p t i m u m an Wirkung zu erreichen, müssen sich vielmehr mündliche und schriftliche Redestrategien wechselseitig ergänzen. 172 Fichte spricht dabei den von ihm in diesem Kontext angeführten Kriterien
169
Zu Fichtes Versuch, seine Vorträge hörerfreundlich anzulegen, vgl. ζ. B. den Brief des Studenten August Twesten an seinen Bruder Karl vom 2 9 . 1 2 . 1 8 1 0 : »Er redet mit Bestimmtheit, Lebendigkeit u. Feuer [ . . . ] und sehr langsam, so daß man Zeit hat, das Gesagte recht zu bedenken, und sich einzuprägen. [ . . . ] Seine Vorlesungen arbeite ich zu Hause aus; in den Stunden hat er sich das Nachschreiben verbeten, als welches das lebendig ausgesprochne in todte Buchstaben verwandle [...]« (Fichte im Gespräch 4. Nr. 2116. S. 288).
170
G A 1,8 (1806). 6. Vorlesung. S. 263. Ebd., S. 264. Ebd. 7. Vorlesung. S. 277.
171 172
253
der Redekunst: der »Höhe der Klarheit, der ätherischen Durchsichtigkeit, der Ungetrübtheit«, 1 7 3 besondere Verbindlichkeit und wirkungsästhetische Relevanz zu. Mit dieser Argumentation dringt er in das Zentrum der Vorstellungswelt traditioneller Rhetorik vor. Klarheit und Durchsichtigkeit, in der Fachterminologie Perspicuitas genannt, sowie Ungetrübtheit, also Sprachrichtigkeit, d.h. Latinitas bzw. Puritas, zählen zu den wesentlichen Postularen der Redelehre. 1 7 4 Zwischen beiden Phänomenen besteht zudem eine enge Verbindung. Die entscheidende Richtlinie für die Latinitas, die idiomatisch korrekte Ausdrucksweise, ist die Consuetudo, der gegenwärtige empirische Sprachgebrauch, freilich nicht derjenige, den die Majorität des Volkes p f l e g t , 1 7 5 sondern der übereinstimmende Sprachgebrauch der Gebildeten. 1 7 6 Die Sprach- und Meinungsführerschaft der Gebildeten ist — es wurde bereits ausführlich dargestellt - auch in Fichtes Bildungs- und Erziehungsprogramm vorgesehen. Darüber hinaus fordert Fichte die Gelehrten und Gebildeten auf, selbst komplexe und komplizierte Sachverhalte nicht nur kompetent, sondern zudem allgemein verständlich darzustellen. Das entspricht dem Postulat der Perspicuitas. Die intellektuelle Verständlichkeit der Rede, eben Perspicuitas, ist eine wesentliche Voraussetzung für deren Glaubwürdigkeit, ohne die wiederum das anvisierte Redeziel nicht zu erreichen ist. 1 7 7 Die Perspicuitas realisiert sich — in der Theorie der Rhetorik ebenso wie in Fichtes praktischen Forderungen — auf zwei Ebenen: in der Klarheit der Gedanken einerseits sowie in der Klarheit der jeweiligen sprachlichen Formulierungen andererseits. Fichte hat hier also Kernelemente der Rhetorik direkt und nahezu wörtlich übernommen. Diese Orientierung an der traditionellen Redelehre bedeutet freilich nicht, daß Fichte die ungebrochene Geltung des entsprechenden Regelkanons ohne Einschränkung akzeptierte, im Gegenteil. In einer Rezension von Carl Friedrich Bahrdts Versuch über die Beredsamkeit, nur für meine Zuhörer bestimmt, die er 1 7 8 8 in der Zeitschrift Kritische Übersicht der neuesten schönen Litteratur der Deutschen veröffentlicht hat, kritisiert er das in der Rhetorik vorherrschende Ausmaß an Vorschriften und plädiert demgegenüber für eine »simplere Beredsamkeit«: Mit einer einfachen und natürlichen Diktion sei ein Redner ungleich erfolgrei173 174
Ebd., S. 2 7 9 . Z u Latinitas und Perspicuitas vgl. die entsprechenden Abschnitte bei Lausberg ( 1 9 7 3 ) · §§ 4 6 3 - 5 3 7 (S. 2 5 4 - 2 7 7 ) .
175
Quint. 1 , 6 , 4 4 : »unde enim tantum boni, ut pluribus quae recta sunt placeant? [ . . . ] non si quid vitiose multis insederit, pro regula sermonis accipiendum erit.«
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Quint. 1 , 6 , 4 5 : »nam ut transeam, quem ad modum vulgo imperiti loquantur, tota saepe theatra et omnem circi turbam exclamasse barbare scimus. ergo consuetudinem sermonis vocabo consensum eruditorum, sicut vivendi consensum bonorum.«
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Quint. 8 , 2 , 2 3 : »nam si ñeque pauciora, quam oportet, ñeque plura ñeque inordinata aut indistincta dixerimus, etunt dilucida et neglegenter quoque audientibus aperta [ . . . ] « Zuvor hat Quintilian bereits die Virtus der Perspicuitas gegen das Vitium der Obscuritas abgegrenzt. ( 8 , 2 , 1 2 )
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cher »als der künstlichste Deklamateur, der mit der sonorsten Stimme, dem bezauberndsten Gebärdenspiel, flach empfundene Wahrheiten in einem erborgten Affekte daher schwatzt«. 1 7 ® Daher grenzt Fichte auch - ähnlich wie am Ende seiner »Rede« Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten — den engagierten Redner, der in der Sache, die er vertritt, wahrhaft aufgeht, entschieden von einem Lobredner alten Stils ab. In seinen fragmentarisch gebliebenen Reden an die deutschen Krieger zu Anfange des Feldzuges 1806 stilisiert er den patriotischen Redner der Gegenwart zum Erwekker des Vaterlandes: Er hat diesen Beruf lediglich durch sein Herz getrieben übernommen; was er sagt, sind seine eigenen Ansichten und Ueberzeugungen, nicht die eines fremden Auftrages, noch haben sie sonst irgend eine andere Absicht. Er will sie darum auch allein verantworten.' 7 9
In Kriegszeiten, wie den gegenwärtigen, so Fichte weiter, verspüre selbst ein an sich bedächtiger Gelehrter das Verlangen, »Schwerter und Blitze zu reden«. Schließlich sei zu bedenken, daß »oft Ein Wort Armeen geschlagen hat«, betont er in seiner 1 8 0 6 verfaßten, ungedruckten Schrift Anwendung der Beredsamkeit für den gegenwärtigen Krieg.'80
Ein Kriegsredner müsse die Bedeutung seines
Themas erkennen und »selber von diesem Interesse so mächtig ergriffen« sein, »dass sich von ihm erwarten lässt, seine Rede werde lebendig und belebend ihm aus dem Herzen quellen«.' 8 1 Aus diesen Worten spricht letztlich die rhetorische Leidenschaftsästhetik, die Hugh Blair folgendermaßen beschrieben hat: Beredsamkeit ist eine der vorzüglichsten Aeußerungen der menschlichen Geisteskräfte. Sie ist die K u n s t zu überreden und zu gebiethen; die Kunst, nicht bloß der Einbildungskraft zu gefallen, sondern auch zu dem Verstände und zu dem Herzen zu sprechen; die Aufmerksamkeit und Theilnehmung der Zuhörer in einem solchen Grade zu gewinnen, daß wir uns ihrer ganz bemächtigen, sie mit uns fortreißen, und den tiefsten Eindruck von dem, was wir gesagt haben, in den Gemüthern derselben zurückzulassen. 1 8 2
Diesen Pathosbezug, den Arndt und seine Gesinnungsfreunde im Vorfeld der Befreiungskriege ja so nachhaltig anmahnten, hat Fichte allerdings in seinen Vorlesungszyklen deutlich modifiziert, selbst in seinen auf Breitenwirkung an-
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Die Rezension Fichtes ist abgedruckt bei Lauth ( 1 9 6 8 ) . S. 1 8 - 2 2 . Zitat: S. 2 1 . Fichte's sämmtliche Werke 7 , 3 , 2 ( 1 8 4 6 / 1 9 6 5 ) . S. 5 1 0 , wie auch das folgende Zitat. 180 Ebd., S. 5 0 5 . ,8 ' Ebd., S. 5 0 7 . 182 Blair 3.Theil ( 1 7 8 8 ) . S. 1 5 5 . Im englischen Original ( 1 7 8 5 ) lautet diese zentrale Stelle im Werk Blairs: »It is a great exertion of the human powers. It is the Art of being persuasive and commanding; the Art, not of pleasing the fancy merely, but of speaking both to the understanding and to the heart; of interesting the hearers in such a degree, as to seize and carry them along with us; and to leave them with a deep and strong impression of what they have heard.« (2. Bd. S. 4 5 7 Í . ) 179
2
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gelegten Reden an die deutsche Nation - und das sowohl theoretisch-systemimmanent als auch in der konkreten, praktischen Umsetzung. In allen seinen öffentlichen Vortragsreihen hat Fichte die jeweiligen Stunden als Vorlesungen bezeichnet und damit den akademischen Charakter der Veranstaltungen betont, mit einer Ausnahme: Seinem im Wintersemester 1807/08 in Berlin gehaltenen, wirkungsgeschichtlich prominentesten Kolleg gab er den Titel Reden an die deutsche Nation. Dieser Austausch der Begriffe »Vorlesung« und »Rede« ist ohne Zweifel programmatisch begründet. Fichte war offenkundig bestrebt, zumindest formal nicht den Eindruck eines akademischen Lehrers zu erwecken, sondern sich im Habitus eines Staatsmannes zu präsentieren. Diesen Wandel hat er bereits 1806 in seiner Anwendung der Beredsamkeit für den gegenwärtigen Krieg mit der Bemerkung angedeutet, daß — hier freilich explizit im Vergleich zur Kanzelberedsamkeit — »die freiere Form eines weltlichen Staatsredners unseren Zeiten angemessener scheint«. 1 ® 3 Inhaltlich gesehen führen hingegen die Reden an die deutsche Nation die insbesondere in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters aufgegriffenen und behandelten Themen fort. So ist etwa die Reflexion über das Wesen der Sprache auch ein essentieller Aspekt der Vortragsreihe von 1807/08, insbesondere in der vierten und fünften Rede. Die Autonomie des Geistes, so die Kernthese Fichtes, entfaltet sich auf der Grundlage der Autonomie der Sprache. Der Prozeß der nationalen kulturellen und politischen Erneuerung muß sich daher zunächst primär um die Belange der Muttersprache kümmern, drückt sich in dieser doch die Identität einer Nation aus. Eine lebendige Sprache kann darüber hinaus tätig in den Lauf der Dinge eingreifen. Worte dieser Sprache »sind Leben, und schaffen Leben«, 1 ® 4 sie sind, sprachtheoretisch betrachtet, die elementaren Bausteine sprachlicher Tathandlung. Nur in einer lebendigen Sprache läßt sich daher das genuine Aktionspotential persuasiver Beredsamkeit voll und ganz ausschöpfen. Alle diese Voraussetzungen erfüllt nach Meinung Fichtes die deutsche Sprache in besonderem Maße. Sie ist »eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache« 1 ® 5 par excellence, hat sie doch »von dem ersten Laute an, der in demselben Volke ausbrach, ununterbrochen aus dem wirklichen gemeinsamen Leben dieses Volks sich entwickelt«. 186 Und so sind dem deutschen Volk alle Möglichkeiten gegeben, die Welt aktiv zu gestalten: »Beim Volke der lebendigen Sprache greift die Geistesbildung ein ins Leben [ . . . ] « 1 8 7 Fichte charakterisiert das Deutsche aber nicht nur als lebendige, sondern auch als Ur-Sprache. Diese Klassifizierung nimmt er in der fünften Rede zum l8
' Fichtes sämmtliche Werke 7 , 3 , 2 ( 1 8 4 6 / 1 9 6 5 ) . S. 507. Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . 4. Rede. S. 66. Z u r näheren Orientierung über den philosophischen Gehalt des Vorlesungszyklus sei auf den Aufsatz von Lauth ( 1 9 9 2 ) verwiesen.
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Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . 4. Rede. S. 7 2 . Ebd., S. 66. Ebd., S. 7 4 .
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Anlaß, mit einer ausgesprochen chauvinistischen Argumentationsweise das Deutsche und Französische, ohne letzteres — wohl aus Zensurgründen -
ex-
pressis verbis herabzuwürdigen, miteinander zu vergleichen. Während etwa die »lebendige Wirksamkeit des Gedankens [ . . . ] durch Denken, und Bezeichnen in einer lebendigen Sprache« befördert werde,' 8 8 gehen beim Volk einer toten Sprache, wie der romanischen, »geistige Bildung und Leben jedes für sich seinen Gang fort«. 1 8 9 Fichte fokussiert anschließend seine Unterscheidungen auf den Gegensatz zwischen »Naturgemäßheit« der deutschen und »Künstelei« der romanischen Sprache. 190 Anhand von drei Kriterien lassen sich nach Fichte die wichtigsten Vorzüge der lebendigen gegenüber der toten Sprache zusammenfassen: In einem Volk der lebendigen Sprache greife die geistige Bildung unmittelbar ins Leben ein, des weiteren existiere hier keine künstliche »Scheidewand« zwischen den gebildeten Ständen und dem Volk, und schließlich sei das Leben eines derartigen Volkes von Fleiß, Ernst und Mühe geprägt. Diese fünfte von Fichtes Reden an die deutsche Nation propagiert nicht nur in der Theorie eine Sprache, die sich ihres genuinen Wirkungs- und Handlungspotentials bewußt werden solle, sondern versucht darüber hinaus, ihre eigenen Postulate praktisch umzusetzen. Das äußert sich in einer ansatzweise polarisierenden Rhetorik, die insbesondere auf eine Fülle antithetischer Zuspitzungen zurückgreift. 191 Diese Partien der Rede hatte wohl Varnhagen von Ense vor Augen, als er sich um das Jahr 1 8 3 2 folgendermaßen über die Reden an die deutsche Nation geäußert hat: Sein [Fichtes, d.Verf.] geistig bedeutendes, mit aller Kraft der innigsten und redlichsten Überzeugung mächtig ausgesprochenes Wort wirkte besonders auch durch den außerordentlichen Mut, mit welchem ein deutscher Professor im Angesichte der französischen Kriegsgewalt, deren Gegenwart durch die Trommeln vorbeiziehender Truppen mehrmals dem Vortrag unmittelbar hemmend und aufdringlich mahnend wurde, die von dem Feinde umgeworfene und niedergehaltene Fahne deutschen Volkstums 188 189 190 191
Ebd. 5. Rede. S. 79. Ebd., S. 76. Ebd., S. 84, wie auch das folgende Zitat. Peter L. Oesterreich macht in den Reden insgesamt die Strategie einer ergreifenddurchgreifenden Pathosrhetorik, welche die Grenze zur Demagogie gelegentlich überschreite, aus. (Peter L. Oesterreich: Fichtes Reden (1992); ders.: Politische Philosophie oder Demagogie? Zur rhetorischen Matakritik von Fichtes Reden an die deutsche Nation. In: Fichte-Studien 2 (1990). S. 7 4 - 8 8 ; ders. (1994). S. 1 4 7 - 1 6 9 ) . Das dürfte in dieser Deutlichkeit aber wohl — wenn überhaupt — nur auf die fünfte Rede zutreffen. Zieht man die wirklich emotionalisierende, affektive Rhetorik der frühen politischen Schriften Fichtes in Betracht, wird selbst diese vorsichtige Einschätzung angesichts der letztlich philosophischen Sprödigkeit des Gesamtwerks obsolet. Zur Sprachgestaltung der Reden an die deutsche Nation vgl. das entsprechende Kapitel bei Ehrlich (1977). S. 211— 269. Einen direkten Einfluß der vierten und fünften Rede auf das späte Sprachdenken Humboldts sieht Jochem Hennigfeld: Fichte und Humboldt - Zur Frage der Nationalsprache. In: Fichte-Studien 2 (1990). S. 37 — 50.
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aufpflanzte, und ein Prinzip verkündigte, welches in seiner Entfaltung den fremden Gewalthabern den Sieg wieder entreißen und ihre Macht vernichten sollte. [ . . . ] Man konnte sie nicht ohne Ergriffensein und Begeisterung anhören, diese Reden, welche mit Recht über den Kreis der unmittelbaren Zuhörerschaft hinaus sich als Reden an die deutsche Nation erklärten, als solche weit und tief gewirkt haben [. . . ] ' 9 2
In der Sprache vollzieht sich freilich nicht nur die Tathandlung des Ich, die Sprache stellt zugleich das einigende Band einer ansonsten zersplitterten N a tion dar, insbesondere »nachdem das letzte äußere Band, das die Deutschen vereinigte, die Reichsverfassung, auch zerrissen i s t « . 1 9 3 Fichte definiert das Gebilde »Deutschland« nicht staatsrechtlich, sondern sprachlich-kulturell, als Kulturnation. 1 9 4 Die natürlichen Grenzen einer Nation markiert er als deren Sprachgrenzen: Ein Gebiet, das eine Sprache spreche, »gehört zusammen, und ist natürlich Eins, und ein unzertrennliches Ganzes«.' 9 5 Diese Beschwörung eines kulturellen Gemeinschaftsgefühls ist typisch für die Zeit der napoleonischen Fremdherrschaft, die das Entstehen eines echten Nationalbewußtseins, das im Alten Reich, allen Fürsprechern von Nationaltheater und Nationalliteratur zum Trotz, noch kaum ausgeprägt war, befördert hat. Der deutsche Frühnationalismus bezog dann aus dieser Erfahrung seine Identität, konstituierte sich aber erst nach 1 8 1 5 , also jenseits des hier zugrundeliegenden Untersuchungszeitraums. Die spezifische Verfassungskonstruktion des Deutschen Bundes entsprach letztlich den im Jahrzehnt zuvor formulierten Staatsvorstellungen der politischen Publizistik, die sich primär von der Idee einer umfassenden Friedensordnung leiten ließ. Z u diesen staats- und verfassungspolitischen Überlegungen leistete Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation keinen Beitrag. 1 9 0 Er ist auch hier Philosoph geblieben, dem es an praktischem Verständnis für konkrete verfassungspolitische Belange mangelte. Das Bild einer idealen deutschen Nation, das er in den Reden entworfen hat, ist eher religiöser Natur. Von einem modernen nationalstaatlichen Denken kann weder bei Fichte noch überhaupt im frühen 19. Jahrhundert ausgegangen werden. 1 9 7 192
Varnhagen von Ense ( 1 9 8 7 ) . 1. B d . S. 4ç>6f. ' Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . 1 2 . Rede. S. 2 0 1 . 194 Z u r Bedeutung der K u l t u r im deutschen Nationalbild des frühen 1 9 . Jahrhunderts im allgemeinen und bei Fichte im besonderen vgl. etwa Nipperdey (1983/90); de Pascale ( 1 9 9 1 ) sowie in den Fichte-Studien 2 ( 1 9 9 0 ) die Aufsätze von Wolfgang H. Schräder: Nation, Weltbürgertum und Synthesis der Geisterwelt (S. 27 — 36) und Johannes Heinrichs: Nationalsprache und Sprachnation. Z u r Gegenwartsbedeutung von Fichtes Reden an die deutsche Nation (S. 5 1 — 73)· Z u den im Deutschland dieser Jahre diskutierten staatsrechtlichen und verfassungspolitischen Konzeptionen vgl. insbesondere Angermeier ( 1 9 9 0 ) ; Heinz Duchhardt: Föderalismus, Nationalstaatsidee, Europagedanke im deutschen Ancien R é g i m e und im 1 9 . Jahrhundert — eine Quadratur des Kreises? In: Lottes ( 1 9 9 2 ) . S. 1 6 2 - 1 7 6 ; Langewiesche ( 1 9 9 2 ) . ,9
195 196 197
Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . Inhaltsanzeige der 1 3 . Rede. S. 2 0 7 . Darauf weist auch Angermeier ( 1 9 9 0 ) zu Recht hin. (S. 60) Angermeier ( 1 9 9 0 ) hebt hervor, Fichte sei kein »Apostel des modernen Nationalstaa-
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Fichte entwickelte die in den drei Vorlesungszyklen über Wesen und Bestimmung des Gelehrten sowie in den Grundzügen
des gegenwärtigen
Zeitalters
konzipierte Idee der Redehandlung als Tathandlung in den Reden an die deutsche Nation
inhaltlich und formal konsequent weiter. Ihrem Ergebnis nach handelt
es sich hier um den Versuch einer rhetorischen Konstituierung der deutschen Nation auf sprachlich-kultureller Grundlage. Wie im dritten Kapitel dieser Studie dargelegt wurde, sahen beispielsweise Karl Philipp Moritz und Adam Müller einerseits sowie Joachim Heinrich Campe andererseits die rhetorische Konstituierung einer politischen Nation idealiter im englischen bzw. französischen Parlament, also in verfassungsrechtlichen Institutionen, verwirklicht. Fichte orientierte sich dagegen ausschließlich an den deutschen Verhältnissen, die ein entsprechendes konstitutionelles Organ nicht zuließen, und zielte daher auf die sprachlich-kulturelle Eigentümlichkeit (im wörtlichen Sinne), ja Besonderheit des deutschen Volkes ab. Für seine Analysen wählte er statt eines institutionellen einen kulturellen Bezugsrahmen. Auf der Grundlage einer dezidiert geschichts- und sprachphilosophisch überlagerten Argumentation legitimierte er das Recht des deutschen Volkes auf nationale Selbstbestimmung. In diesem Zusammenhang erinnert Fichte an die bereits in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters angesprochene Reformation, die er in den Rang »der letzten großen, und in gewissem Sinne, vollendeten Welttat des deutschen Volkes« erhebt. 1 9 8 Der anschließende Siegeszug der Reformation entsprang nach Fichte dem Wesen des lebendigen deutschen Geistes. Mit dem Sieg des Protestantismus sei, der wahren Bestimmung des deutschen Volkes entsprechend, »das freie Denken zur Quelle unabhängiger Wahrheit« g e w o r d e n . 1 " Der Blick in die Vergangenheit ist für Fichte kein Selbstzweck, sondern soll Orientierungshilfen für künftiges Handeln bieten. Während er sich in den Grundzügen
des
gegenwärtigen Zeitalters hauptsächlich mit der augenblicklichen Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit auseinandergesetzt hat, will er in den Reden an die deutsche Nation
Wege und Möglichkeiten aufzeigen, die bestehenden Verhältnisse
zu verändern. Diese Handlungsorientierung, das »unmittelbare[s] Eingreifen in das Leben«, 2 0 0 entspreche nämlich ganz dem deutschen Wesen.
tes« gewesen. (S. 9 3 ) Eine andere Auffassung vertritt Richard Schottky: Fichtes Nationalstaatsgedanke auf der Grundlage unveröffentlichter Manuskripte von 1 8 0 7 . In: Fichte-Studien 2 ( 1 9 9 0 ) . S. 1 1 1 — 1 3 7 , kann aber seine Nationalstaatsthese weder begriffs- noch verfassungsgeschichtlich für das beginnende 1 9 . Jahrhundert überzeugend nachweisen. Oesterreich ( 1 9 9 4 ) charakterisiert Fichtes Konzeption zutreffend als »Vorstellung von der rhetorischen Konstitution eines Volkes in der Sphäre volkssprachlich-politischer Öffentlichkeit« (S. 1 5 5 ) . "->8 Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . 6. Rede. S. 9 1 . Ebd., S. 1 0 0 . 200 Ebd. 7. Rede. S. 1 0 7 .
259
Die Gründe für den immer ausgeprägteren Handlungsbezug im Denken Fichtes sind wohl nicht zuletzt in den spezifischen politischen Zeitumständen, die in den Augen vieler Patrioten ein tatkräftiges Engagement zum Gebot der Stunde werden ließen, zu sehen. Insbesondere seit 1806, also zeitlich zwischen den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (1804/05) und den Reden an die deutsche Nation (1807/08), beherrschte der Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit und Souveränität den öffentlichen politischen Diskurs in Deutschland. Die einzelnen Vorschläge, wie diese Souveränität zu erlangen sei, unterschieden sich dabei mitunter erheblich: Während etwa Arndt und seine Gesinnungsfreunde sich entschieden für die Insurrektion, also eine schnelle militärische Lösung, an der sich idealiter das ganze Volk beteiligen sollte, aussprachen und zu diesem Zweck die Beredsamkeit in ihren verschiedenen, mündlichen wie schriftlichen Formen als unmittelbar wirksame Waffe für einen möglichst raschen Augenblickserfolg einsetzen wollten, war Fichtes Widerstand gegen die napoleonische Fremdherrschaft geistiger Natur. In der freien Reflexion des Geistes entwarf er eine bessere Wirklichkeit, in der die Verhältnisse gemäß der Vernunft eingerichtet sein würden. Fichte erwies sich so als entschiedener Vertreter einer Gelehrtenkultur, wohingegen Arndt die Ebene des gelehrten Diskurses verlassen und das gesamte Volk unmittelbar appellativ-emotional aktivieren wollte. Arndt verfolgte eine kurzfristig angelegte Strategie der Überredung, bei der das rhetorische Movere dominierte, Fichte dagegen eine mittel- bis langfristig angelegte Strategie der Uberzeugung, bei der das rhetorische Docere im Vordergrund stand. Fichte erklärte die Idee der Vernunftwissenschaft, nicht diejenige des bewaffneten Aufstandes zur neuen Lebensgrundlage des deutschen Volkes. Seine öffentlichen Reden sollten einen wichtigen Beitrag zu dieser angestrebten inneren Erneuerung der deutschen Nation leisten. Dieses rhetorische Vorgehen begründete er mit entsprechenden Erfahrungen aus der Geschichte: »Die großen National- und Weltangelegenheiten sind bisher durch freiwillig auftretende Redner an das Volk gebracht worden, und bei diesem durchgegangen.« 201 Im Unterschied zu den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters sind die Reden an die deutsche Nation ausgesprochen zukunftsorientiert: Er wolle in diesem Kolleg, so Fichte zu Beginn seiner Veranstaltungsreihe, »das neue Zeitalter, das der Zerstörung des Reichs der Selbstsucht durch fremde Gewalt unmittelbar folgen kann und soll«, vor dem geistigen Auge seines Publikums enthüllen. 202 Die von außen herbeigeführte Katastrophe müsse als Chance einer grundlegenden inneren Erneuerung verstanden und genützt werden. Die »Vernichtung der Selbstsucht«, 203 der »Wurzel aller andern Verderbtheit«, 204 sei dabei zunächst 2t
" Ebd. 6. Rede. S. 96. Ebd. I. Rede. S. 12. 2 °' Ebd., S. 17. 204 Ebd., S. 18. 202
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die vordringliche Aufgabe. Die »Erziehung der Nation« hält Fichte für das einzig relevante »Rettungsmittel« in dieser unheilvollen Situation. 2 0 5 Die spezifische Funktionsbestimmung des Gelehrtenstandes, die Fichte in den entsprechenden drei Vorlesungszyklen vorgenommen hat, erfährt nun in den Reden an die deutsche Nation eine noch ausgeprägtere gesellschaftspolitische Dimension. Das Erziehungs- und Bildungsprogramm dieser Gelehrten muß den Anspruch verfolgen, den Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen und »bis zur Wurzel der wirklichen Lebensregung und -bewegung durchzugreifen«. 2 0 6 Der Plan dieser deutschen Nationalerziehung bezieht das gesamte Volk und keineswegs nur bestimmte Stände oder Schichten ein: »Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutschen zu einer Gesamtheit bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben und belebt sei durch dieselbe Eine Angelegenheit [ . . . ] « 2 ° 7 Was Fichte exakt unter »Volk« versteht, erläutert er in der achten Rede: Ein Volk sei das Ganze der in Gesellschaft miteinander fortlebenden, und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besondern Gesetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht. 2 0 8
Die Fortentwicklung des Ursprünglichen eines Volkes macht in den Augen Fichtes dessen Nationalcharakter aus. Die Protagonisten dieses Erziehungs- und Bewußtwerdungsvorgangs, die gebildeten Stände, müssen dabei vordringlich die Menschen zur freien Einsicht in die Notwendigkeit sowie zur Selbsttätigkeit anleiten. 20 ® Besonders letzteres nimmt, wie bereits erwähnt, in der Vorstellungswelt Fichtes einen exklusiven Stellenwert ein. Darauf weist er abschließend, in der vierzehnten Rede, noch einmal explizit und unmißverständlich hin: »Diese Reden sind nicht müde geworden, euch einzuschärfen, daß euch durchaus nichts helfen kann, denn ihr euch selber, und sie finden nötig, es bis auf den letzten Augenblick zu wiederholen.« 2 1 0 Die innere Problematik von Fichtes Ansatz besteht jedoch darin, daß sich dieser Aufruf zur Selbsthilfe mit der von ihm postulierten Einsicht in die Notwendigkeit nur schwer vereinbaren läßt. Fichte selbst konnte hier freilich keinen Widerspruch erkennen, war er doch im Stile eines Ideologen von der absoluten Wahrheit seiner Philosophie überzeugt. Freiheit und Notwendigkeit schließen daher einander nicht aus, sondern gehen vielmehr in der Anerkennung der göttlichen Idee ineinander auf. Diese angebliche Identität ist aber nur rhetorisch konstruiert, hat Fichte 205
Ebd., S. 2 1 . V g l . zu dieser grundsätzlichen Thematik auch Alois K . Soller: Nationale Erziehung und sittliche Bestimmung. In: Fichte-Studien 2 (1990). S. 8 9 — 1 1 0 .
206
Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . ι . Rede. S. 2 2 . Ebd., S. 2 3 . Ebd. 8. Rede. S. 1 2 8 . Bei seiner Definition des Volkes verfolgt Fichte nach McGuire ( 1 9 7 6 ) »a rebirth-resurrection psychology«. (S. 1 4 1 ) Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . 2. Rede. S. 29; 3 2 . Ebd. 1 4 . Rede. S. 2 3 4 .
207 208
209 2,0
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doch den entscheidenden Widerspruch in seinem System nicht reflektiert: Die totale Akzeptanz seiner Vorstellungswelt ist nämlich zugleich Z i e l und Voraussetzung der gesamten Lehre. I m gegenwärtigen Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit konnte Fichte nicht auf die Fähigkeit der Menschen rechnen, in Freiheit die N o t w e n d i g k e i t anzuerkennen. Daher entwarf er sein Programm einer Nationalerziehung als staatlich kontrolliertes Zwangssystem, das den freien Willen, den er eigentlich freizusetzen gedachte, zwangsläufig brechen mußte. In der achten R e d e beschönigt er diesen Zwangscharakter seiner Erziehungs- und Bildungsvorstellungen noch, wenn er zum T h e m a Ausbreitung und Förderung der Vaterlandsliebe ausführt: »Für diesen Z w e c k muß freilich die natürliche Freiheit des einzelnen auf mancherlei Weise beschränkt werden [ . . . ] « 2 1 1 In der zehnten Rede verdeutlicht Fichte die totalitäre Dimension seines Denkansatzes noch stärker: »Jeder wisse, daß er sich dem Ganzen ganz schuldig ist, und genieße nur, oder darbe, wenn es sich so f ü g t , mit dem G a n zen.«212 Fichtes Erziehungsprogramm, das den Kantschen Gegensatz von Pflicht und N e i g u n g überwinden will, erscheint gleichsam als Konzept eines idealistischen Totalitarismus. Das idealistische Moment seiner Lehre besteht in der Prophetie, daß einst das Zeitalter der Vernunftherrschaft das Zwangssystem Staat beseitigen werde. Totalitär ist dagegen die Forderung, daß kein Angehöriger der N a tion sich dem zu etablierenden System entziehen könne und dürfe. Totalitarismus beruhte und beruht häufig auf dem Phänomen der aggressiven Verabsolutierung genuin idealistisch-utopischer Konzepte, wie vor allem die Geschichte der kommunistischen Ideologie und ihrer doktrinären Umsetzung durch Parteiapparat und Polizeistaat zeigt. Die historischen Erfahrungen des 2 0 . J a h r hunderts haben die idealistische Komponente totalitärer Machtansprüche vollständig desavouiert. Gleichwohl gilt es zu bedenken, daß Fichte mit seiner idealistisch-totalitären Programmatik kein ausgesprochen politisches Anliegen verfolgte. D i e Reden an die deutsche Nation selbst sind ja im ganzen, trotz der ständigen, aus Zensurgründen zumeist aber impliziten dialektischen Abgrenzungen gegenüber Frankreich und Napoleon, letztlich kaum politisch in einem engeren Sinne, weisen sie doch alle aktionistischen Bestrebungen der Z e i t nachhaltig zurück. D i e Protagonisten der Nationalerziehung sollen keine Partisanenkämpfer gegen Napoleon ausbilden, sondern in einem eher umfassend philosophischen Sinne danach trachten, daß bald »eine ganz neue Ordnung der D i n g e , und eine neue Schöpfung beginnen« k a n n . 2 1 3 Errichtung einer neuen Ordnung bedeutet in diesem Kontext primär Erziehung in einem vaterländischen Geist, und das heißt wiederum Erziehung zur M ü n d i g k e i t . Fichtes G e -
" · Ebd. 8. Rede. S. 1 3 1 . 2,2 Ebd. 10. Rede. S. 172. 2 " Ebd. 3. Rede. S. 52.
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lehrtet m u ß versuchen, das Entstehen eines allgemeinen Nationalbewußtseins so wirkungsvoll wie möglich zu fördern und damit einem Postulat der Vernunft Rechnung zu tragen. Er denkt und handelt dabei letztlich als vaterländisch gesinnter Philosoph, der nicht über das konkret umsetzbare Aktionsprogramm eines Politikers verfügt. Dafür geht Fichtes Konzept zu sehr vom einzelnen Individuum, dessen Bildung nur mittel- bis langfristig zu erreichen ist, aus. Sein Erziehungsplan rief zudem nicht die Resonanz hervor, die sich sein Erfinder erhofft hatte. Selbst Varnhagen von Ense, der in seinen Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens die Reden an die deutsche Nation rühmte, mußte einräumen, daß Fichtes ambitioniertes Programm Utopie geblieben ist: Merkwürdig ist es, daß dieses Werk bei seiner bedeutenden Verbreitung und W i r k samkeit, dennoch seinen unmittelbaren Absichten und Vorschlägen keinen Eingang gewonnen hat; nirgends ist auch nur ein Versuch gemacht worden, solche Volkserziehung einzuführen [. . . ] 2 1 4
Ähnlich wie bereits in den Gelehrten-Vorlesungen und in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters spricht Fichte auch in den Reden an die deutsche Nation der Ausbildung der Fähigkeit, sich mündlich effektiv zu artikulieren, große Bedeutung im Rahmen seiner Nationalerziehung zu. In diesem Zusammenhang hebt er auch nachdrücklich hervor, daß er Pestalozzis Präferenz des Lesens und Schreibens nicht teilen könne. 2 1 5 Im Gegenzug begründet er seine Wertschätzung der mündlichen Spracherziehung mit dem Argument, das Mitteilungsbedürfnis führe den Menschen »aus der Dunkelheit und Verworrenheit zur Klarheit und Bestimmtheit.« 2 1 6 In der Äußerung dieses Gedankens konvergieren gleichsam Form und Gehalt von Fichtes öffentlichen Vorlesungszyklen. Der Sinn dieser umfassenden theoretischen wie praktischen W ü r d i g u n g muttersprachlicher mündlicher Rede besteht nach Fichte in dem zu erzielenden N u t zen für die deutsche Nation, der er mit seinem Konzept einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise und eine echte Zukunftsperspektive bieten zu können glaubte. Die prospektive, optimistische Dimension seiner Reden basierte letztlich auf seinen Ansichten zum Wesen der Sprache. Fichte postulierte eine genuine sprachkulturelle Überlegenheit des Deutschen, mit der, wenn die entsprechend vorgestellten relevanten Maßnahmen ergriffen werden, die militärische Niederlage gegen Frankreich zu kompensieren sei. »Nicht die Gewalt der Arme, noch die Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft des Gemüts ist es, welche Siege erkämpft«, hebt er in der achten Rede hervor. 217 Fichte ist überzeugt, daß die gegenwärtige Krise geistig, nicht militärisch entschieden werde. Den Planspielen für eine mögliche Insurrektion redet er daher auch nicht das
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Varnhagen von Ense ( 1 9 8 7 ) . 1. B d . S. 4 9 7 . Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . 9. Rede. S. 1 5 1 . Ebd., S. 1 5 5 . Ebd. 8. Rede. S. 1 3 7 .
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Wort. Propaganda für die Befreiungskriege wie etwa Arndt, Körner oder Jahn hat Fichte nicht betrieben. Er hält vielmehr seine Nationalerziehung für erfolgversprechender als beispielsweise die bisher aufgebrachten Heeresausgaben, denn: Ich hoffe, — vielleicht täusche ich mich selbst darin, aber da ich nur um dieser H o f f n u n g willen noch leben mag, so kann ich es nicht lassen, zu hoffen; — ich hoffe, daß ich einige Deutsche überzeugen, und sie zur Einsicht bringen werde, daß es allein die Erziehung sei, die uns retten könne von allen Übeln, die uns drücken. Ich rechne besonders darauf, daß die N o t uns zum Aufmerken, und zum ernsten Nachdenken geneigter gemacht h a b e . 2 ' 8
Fichtes Heilserwartungen beruhen einzig und allein auf der Zukunft, denn »die Gegenwart ist nicht mehr unser«. 2 1 9 Arndt dachte und argumentierte dagegen streng gegenwartsbezogen und artikulierte deshalb seine Überzeugungen in einer unmittelbar ergreifenden und eingreifenden affektiven Überwältigungsrhetorik. Fichte bemühte sich demgegenüber um eine allmähliche Verinnerlichung und Verbreitung seiner Lehre, die mit kurzfristig erzielten Redeerfolgen seiner Meinung nach nicht zu erreichen seien. Aus diesem Erziehungsvorgang geht schließlich ein selbst- und nationalbewußtes Volk hervor, das jeden potentiellen Aggressor a priori abschrecken muß, weil es letztlich unbesiegbar ist. Nicht ohne ironischen Unterton prophezeit Fichte sogar den freiwilligen Rückzug von Invasoren aus einem besetzten Land, wenn ihnen dort ein innerlich gefestigtes, starkes Volk entgegentritt: Der K a m p f mit den Waffen ist beschlossen; es erhebt sich, so wir es wollen, der neue K a m p f der Grundsätze, der Sitten, des Charakters. Geben wir unsern Gästen ein Bild treuer Anhänglichkeit an Vaterland und Freunde, unbestechlicher Rechtschaffenheit, und Pflichtliebe, aller bürgerlichen, und häuslichen Tugenden, als freundliches Gastgeschenk mit in ihre Heimat, zu der sie doch wohl endlich einmal zurückkehren werden. 2 2 0
Fichte begreift die militärische Niederlage gegen Frankreich als zwangsläufige Folge innerer Schwäche. Seine gesellschaftspolitischen Ideale münden daher in das eine große Ziel der nationalen Individuation. Jegliche Anbiederung an die fremde Macht stehe diesem Ansinnen jedoch entgegen und werde zusätzlich von dieser mit Verachtung bestraft. Die positiven Folgen der Nationalerziehung, die etwa auch die Wehrpflicht überflüssig machen werde, greife doch ein nationalbewußtes Volk, wenn nötig, freiwillig zu den Waffen, um das Vaterland zu verteidigen, 221 rechtfertigen für Fichte selbst staatliche Zwangsmaßnahmen zu ihrer Durchsetzung. 222 2.8 2.9 220 221 222
Ebd. I i . Rede. S. 1 8 0 . Ebd., S. 1 8 1 . Ebd. Inhaltsanzeige der 1 3 . Rede. S. 2 1 7 . Ebd. I i . Rede. S. i 8 3 f . Krautkrämer ( 1 9 7 9 ) weist darauf hin, daß Fichte in seiner Grundlage des Naturrechts von 1 7 9 6 und seinem System der Sittenlehre von 1 7 9 8 das Recht der Erziehung noch
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Für die Verwirklichung seines Erziehungs- und Bildungsprogramms veranschlagte Fichte einen Zeitraum von 25 Jahren, dachte also in mittel- bis langfristigen Kategorien. 2 2 3 Das ist von den Zeitgenossen, die sich angesichts der täglichen Belastungen einer Besatzungsherrschaft insgesamt wohl eher auf die unmittelbare Gegenwart und die nähere Zukunft konzentrierten, auch durchaus registriert worden. U m 1 8 2 9 erinnerte sich etwa Fouqué in den Berlinischen Blättern für deutsche Frauen daran, »was der Germanische Weise immitten triumphirender Feinde Germaniens seinen Volksgenossen über die vorherrschend pressenden Umstände mitzutheilen, als heilige Pflicht anerkannte«, betonte dabei aber, daß der in den Reden an die deutsche Nation entwickelte Widerstandsbegriff rein geistiger Natur gewesen sei: »Es war hier allerdings nicht im mindesten von einem Versuche die Rede, das Deutsche Volk in die Waffen zu rufen gegen seine fremden Besieger.« 2 2 4 In einem eher lehrhaft-philosophischen denn affektiv-rhetorischen Sprachduktus äußert sich Fichte vielmehr über seinen Glauben an die Wirkungsmöglichkeiten pädagogischer Beeinflussung, über den Aufbau einer geistigen Nation und nicht, wie etwa Arndt, über die Insurrektion, den Volkskrieg. Die langfristig wirkungsvollste Reaktion auf die Wirklichkeit äußerer Unfreiheit ist das Streben nach innerer Freiheit als Voraussetzung für die Gewinnung auch äußerer Freiheit. In der zwölften Rede ermahnt Fichte seine Landsleute eindringlich, diesen Umstand zu berücksichtigen: Wird unser äußeres Wirken in hemmende Fesseln geschlagen, laßt uns desto kühner unsern Geist erheben zum Gedanken der Freiheit, zum Leben in diesem Gedanken, zum Wünschen und Begehren nur dieses einigen. Laßt die Freiheit auf einige Zeit verschwinden aus der sichtbaren Welt; geben wir ihr eine Zuflucht im innersten unsrer Gedanken, so lange, bis um uns herum die neue Welt emporwachse, die da K r a f t habe, diese Gedanken auch äußerlich darzustellen [ . . . ] Lassen wir nur nicht mit unserm Körper zugleich auch unsern Geist niedergebeugt und unterworfen, und in die Gefangenschaft gebracht werden! 2 2 5
Mit diesem durch den anaphorischen Einsatz des Imperativs emphatisch verstärkten Aufruf erreicht Fichte ein in den Reden an die deutsche Nation keineswegs häufiges Maß an Pathos, das inhaltlich auf eine Betonung des innerlichgeistigen Moments und — darüber hinaus — auf das Ethos abzielt. U m einen unmittelbaren rhetorischen Tataufruf handelt es sich trotz der hier dezidiert
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ausschließlich den Eltern zugebilligt, später jedoch seine Meinung zugunsten einer Erziehung unter staatlicher Regie korrigiert habe. (S. 1 2 3 ) V g l . zu dieser Thematik auch K ö n i g ( i 9 6 0 ) sowie ders. ( 1 9 7 2 / 7 3 ) . Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . Ii. Rede. S. 1 8 6 . Fichte im Gespräch 4. Nr. 1 8 3 9 . S. 7 5 . Krautkrämer ( 1 9 7 9 ) mißversteht dagegen sowohl den Inhalt als auch die unmittelbare Rezeption von Fichtes Reden an die deutsche Nation, wenn sie betont, diese stellten »einen Aufruf zu den Befreiungskriegen dar und sind auch als das verstanden worden«. (S. 1 4 3 ) Ähnlich argumentiert Damaschke ( 1 9 2 1 ) . S. 288. Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . 1 2 . Rede. S. 1 9 3 .
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emotionalen Redestrategie nicht. Das Kernproblem bleibt letztlich - inhaltlich wie sprachlich - ein philosophisches. Erst wenn innere und äußere Freiheit hergestellt sein werden, wird schließlich das Zeitalter der Vernunftherrschaft anbrechen. Daß der Kampf um die Befreiung Deutschlands mit geistigen Mitteln geführt werden müsse, ist ein durchaus weit verbreiteter Gedanke im Deutschland der Jahre 1806 bis 1 8 1 3 . So schrieb etwa Schleiermacher am 1 . 1 2 . 1 8 0 6 dem Prediger Ehrenfried von Willich, daß er auch nach der Zerschlagung der Universität Halle durch Napoleon hier, auf alle Fälle aber in Preußen, weiterwirken wolle: Denn mehr als je scheint mir jezt der Einfluß höchst wichtig, den ein akademischer Lehrer auf die Gesinnung der Jugend haben kann. Wir müssen eine Saat säen, die vielleicht erst spät aufgehn wird, aber die nur um desto sorgfältiger will behandelt und gepflegt sein. Lieber Freund, wenn ich Dir beschreiben sollte, wie zerrissen mein Herz ist, wenn ich an den Verlust meines Katheders und meiner Kanzel denke und wenn es mir doch bisweilen einfällt, das Alles könne ganz zerstört sein — das kannst Du Dir kaum denken. 2 2 6
Auch Fichte verstand sein Erziehungsprogramm primär als Saat für die Jugend und arbeitete also für eine ertragreiche Zukunft. In dieser Frage stimmten Fichte und Schleiermacher bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten227 überein. Nach dieser Darstellung der systemimmanenten Vorstellungen Fichtes zur Nationalerziehung soll nun in einem zweiten Schritt der Frage nachgegangen werden, welche Konsequenzen der Philosoph aus seinen Erkenntnissen und Einsichten für die Konzeption seiner eigenen Vorlesungszyklen gezogen hat. Auch darüber äußert er sich in manchen der bereits analysierten Vorträgen. Den Unterschied zwischen der populären Darstellung eines philosophischen Sachverhalts und dessen strengem Beweis aus dem System des Denkens erläutert er beispielsweise in der siebten Vorlesung seiner Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Zunächst müsse der Wissenschaftskundige, also der Gelehrte, seine Anschauungen »in einem Systeme des zusammenhängenden Denkens« entwikkeln. 228 »Das also Gefundene theilt er nun dem Unkundigen mit, keinesweges begleitet von dem strengen Beweise aus dem Systeme des Denkens«, d.h. »gerade also, wie wir in diesen Vorlesungen, die sich als populär ankündigten, verfahren sind.« Rein formal gesehen erinnert dieses Vorgehen an die entspre-
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Aus Schleiermacher's Leben 2. Bd. (1860/1974). S. 78. In einem Brief an Friedrich von Raumer vom 12.1.1807 kritisierte Schleiermacher beispielsweise Fichtes Vorlesungszyklus Oie Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters mit herben Worten: »Fichte ist mir durch die Grundzüge, wenn ich das rechte Wort gebrauchen soll, so ekelhaft geworden, daß ich die andern Blätter des Kleeblatts [der übrigen Schriften Fichtes in diesem Jahr, d.Verf.] nicht einmal lesen mag.« (Fichte im Gespräch 4. Nr. 1768. S. 18) GA 1,8 (1806). 7. Vorlesung. S. 276, wie auch das folgende Zitat.
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chenden Vorstellungen Garves, die in dieser Untersuchung ja bereits diskutiert worden sind. Garve betont etwa in seinem 1793 verfaßten Aufsatz Von der Popularität des Vortrages die Notwendigkeit einer allgemeinverständlichen Schreibart, die besonders durch den Einsatz von Bildern und Beispielen herzustellen sei. 229 Ähnlich wie Fichte hält Garve die populär-eingängige Vermittlung gerade philosophischer Ideen erst nach deren vollständiger systematischer Entwicklung für legitim: »Populär kann also der Vortrag der Erfinder nie seyn, oder er ist es selten.« 2 ' 0 Für Garve und Fichte erscheint so der Popularphilosoph nicht zuletzt als Sprachrohr und Multiplikator des individuell-schöpferischen Systematikers. Der entscheidende Unterschied zwischen Fichte und Garve besteht freilich auf inhaltlicher Ebene. Nachdrücklich hebt Fichte hervor, daß die Thematik seiner wissenschaftlich-philosophischen sowie die seiner populär-philosophischen Vorlesungen dieselbe sei, »aber ich versehe es mit ganz andern Beweisen«. 2 ' 1 Damit grenzt er sich nicht zuletzt implizit von der Popularphilosophie Garves u. a. ab. Popularphilosophie ist für ihn primär eine Frage der Darstellung, nicht des Inhalts, während für Garve beide Faktoren eine mehr oder weniger gleichberechtigte Rolle gespielt haben. Fichte will zudem das Publikum »auf eine anständige und seiner würdige Weise unterhalten« und dadurch in eine »freiere und reinere Stimmung« versetzen. 2 ' 2 Ein eingängiger Vortragston soll die Zuhörer nicht nur belehren, sondern auch erfreuen, also — im Sinne der Rhetorik — docere und delectare. Darüber hinaus modifiziert er noch ansatzweise sein Popularitätspostulat und räumt ein, daß die letzte Einsicht in die Gedankenführung trotz aller inhaltlichen und stilistischen Vorgaben nicht von Anfang an offen zutage liegen werde. Dieses Zugeständnis an den systematisch-abstrakten Charakter jeder philosophischen Einlassung, das Garve nicht hätte gelten lassen, kommt einer Bitte an die Zuhörer um Geduld gleich: ich m u ß Sie ersuchen, die vollkommene Klarheit erst am Schlüsse, und nachdem die Uebersicht des Ganzen möglich geworden, zu erwarten. Daß jedoch jedweder Gedanke an seine Stelle zu stehen, komme, und diejenige Klarheit erhalte, die er an dieser ihm gebührenden Stelle erhalten kann, es versteht sich für diejenigen, die der deutschen Büchersprache mächtig, und fähig sind einem zusammenhangenden Vortrage zu folgen, ist die Pflicht eines jeden, der es unternimmt etwas vorzutragen, und ich werde m i t ernster Mühe mich bestreben, diese Pflicht zu erfüllen. 2 5 3
Fichte hat auf diese Weise wohl nicht zuletzt potentielle und, wie noch zu zeigen sein wird, dann ja auch erhobene Einwände gegen seine rhetorischen Bemühungen offensiv und selbstbewußt aufgegriffen und sie zu entkräften verGarve (1793/96/1985). S. 3 3 9 - 3 4 1 . Ebd., S. 345. 2 " G A 1,8 (1806). 7. Vorlesung. S. 276. 2,2 Ebd. ι . Vorlesung. S. 204. 2 » Ebd., S. I 9 5 f . 229
250
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sucht. In der dritten Vorlesung weist Fichte seine Zuhörer dann noch explizit auf den Experimentalcharakter dieser Form von Wissensvermittlung hin. Dezidiert grenzt er sich in diesem Zusammenhang von der Leidenschaftsästhetik der Pathosrhetorik ab. Zwar beabsichtige er mit seinen populären Vorlesungen unter anderem auch, einen gewissen A f f e k t in Ihnen [zu] erregen; aber keinesweges Sie überraschend, und lediglich deswegen, damit er erregt sey, und ich ihn einen Augenblick zu meinem Vortheile gebrauchen könne, wie der Redner es thut, sondern mit Ihrem eignen hellen, klaren Bewußtseyn, und daß er Ihnen sichtbar werde [. . . ] 2 3 4
Der Philosoph dürfe keinerlei »sophistische Rednerkünste« anwenden, sei er doch »schon durch die Regeln seiner Kunst genöthigt, durchaus redlich und offen zu verfahren«. Der von Fichte postulierte »freie und offene Gebrauch dessen, was bewirkt werden soll«, versetze den philosophischen Redner in die Lage, »seinen Zuhörern vorher sagen zu können, was er in ihnen erregen wolle, und es, falls sie ihn nur verstehen, dennoch ganz sicher zu erregen«. Fichte schließt also jegliche appellativ-emotionalisierende Überredungsstrategie für seinen Vortragsstil aus. Die Transparenz des eigenen Vorgehens soll vor jedem nur denkbaren rhetorischen Mißbrauch a priori schützen. Eine derartige Offenlegung der eigenen Strategie geht noch weit über das traditionelle »vir bonus«-Ideal der Rhetorik hinaus. Fichte distanziert sich in seiner Eigenschaft als Redner von dem Zweig der Rhetorik, der das Pathos zum Zweck der Manipulation einzusetzen weiß. Das gilt nahezu in gleicher Weise für die Reden an die deutsche Nation. Auf das Phänomen, daß Fichte keine, wie im Titel eigentlich angekündigt, politischen Reden, sondern philosophische Vorlesungen gehalten hat, machte etwa auch der Literarhistoriker Friedrich Bouterwek 1 8 1 9 aufmerksam: Ein Versuch von F i c h t e , durch gedruckte R e d e n an d i e d e u t s c h e N a t i o n diese Nation mit sich selbst und ihrer Bestimmung bekannter zu machen, mußte seinen Zweck bei allen Lesern verfehlen, die nicht schon an philosophische Speculation und eine der fichtischen ähnliche Abstractionsmethode gewöhnt waren. 2 3 5
In seiner Eigenschaft als Philosoph, der seine mitunter abstrakten Erkenntnisse eher dozierend vorträgt, stellt sich Fichte wiederum die Frage, welches Ausmaß an populärer Vermittlung eine in sich differenzierte systematische Lehre überhaupt verträgt. Das Ergebnis seiner eigenen Bemühungen erscheint dabei wie der Kompromißversuch eines Grenzgängers zwischen Kathederberedsamkeit und reiner Philosophie, der sich weder mit der strengen Deduktion eines Kant noch mit den entschiedenen Popularitätsvorstellungen eines Garve anfreunden wollte. Fichte sah seine Aufgabe als akademischer und öffentlicher Lehrer nicht 234 235
Ebd. 3. Vorlesung. S. 2 2 2 , wie auch die folgenden Zitate. Bouterwek 1 1 . B d . ( 1 8 1 9 ) . S. 5 2 0 . Abwägend klassifiziert etwa Weller ( 1 9 5 4 ) die Reden an die deutsche Nation als »Mittelding zwischen Kunstprosa und eigentlicher Redekunst«. (S. 1 5 9 )
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darin, seine Zuhörer mit einem ihnen fremden Stoff zu konfrontieren. Sein Erziehungsmodell stellte vielmehr den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt. Dieser bringe alle notwendigen Anlagen für seine Ausbildung bereits von Natur aus mit sich. Der Gelehrte muß diese aktivieren und das Individuum so zum Selbstdenken und Selbsthandeln befähigen. Dadurch kann nach Meinung Fichtes der freiwillige Verzicht auf eine affektive, emotionalisierende Beredsamkeit und der damit einhergehende Verlust des entsprechenden Wirkungspotentials mehr als kompensiert werden. In den Reden an die deutsche Nation radikalisiert Fichte diese rhetorisch-pädagogische Programmatik noch, indem er seine eigene Funktion geradezu hypertroph aufwertet: Er stilisiert sich am Katheder im besetzten Berlin der Jahreswende 1807/08 zum Propheten, der einem geknechteten Volk die quasireligiöse Frohbotschaft innerweltlicher Erlösung verkündet. Der »allgemeine Zweck dieser Reden« sei es, »Mut und Hoffnung zu bringen in die Zerschlagenen, Freude zu verkündigen in die tiefe Trauer, über die Stunde der größten Bedrängnis leicht und sanft hinüberzuleiten«: 2 ' 6 Sie, Ehrwürdige Versammlung, sind zwar meinem leiblichen A u g e die ersten und unmittelbaren Stellvertreter, welche die geliebten Nationalzüge mir vergegenwärtigen, und der sichtbare Brennpunkt, in welchem die Flamme meiner Rede sich entzündet; aber mein Geist versammlet den gebildeten Teil der ganzen deutschen Nation, aus allen den Ländern, über welche er verbreitet ist, um sich her, bedenkt und beachtet unser aller gemeinsame Lage und Verhältnisse, und wünschet, daß ein Teil der lebendigen K r a f t , mit welcher diese Reden vielleicht Sie ergreifen, auch in dem stummen Abdrucke, welcher allein unter die Augen der Abwesenden kommen wird, verbleibe, und aus ihm atme, und an allen Orten deutsche Gemüter zu Entschluß und Tat entzünde. 2 1 7
Im Gewand eines messianischen Wissenschaftspriesters predigt er seiner Hörergemeinde und verklärt sie zur idealen Nation in nuce. Das anwesende Publikum erfüllt in der Sicht Fichtes eine Art Stellvertreterfunktion für die gesamte Nation und wird so zu deren Avantgarde. Die unmittelbare Kommunikation mit Zuhörern bedeutet für Fichte den ersten Schritt hin zur Herstellung eines öffentlichen Bewußtseins in Deutschland: Diese Reden haben zunächst Sie eingeladen, und sie werden einladen die ganze deutsche Nation, inwieweit es dermalen möglich ist, dieselbe durch den Bücherdruck um sich zu versammeln [.. . ] 2 , s 256
Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . I. Rede. S. 26. Z u Recht betont Peter L. Oesterreich: »Der philosophische Redner stellt sich hier selbst in der topischen Rolle des Heilandes seines Volkes vor.« (Fichte-Studien 2 ( 1 9 9 0 ) . S. 85) A u f diese Selbsterhebung Fichtes hat etwa auch Ives Radrizzani: Ist Fichtes Modell des Kosmopolitismus pluralistisch? In: Fichte-Studien 2 ( 1 9 9 0 ) . S. 7 - 1 9 . Hier S. i 8 f . hingewiesen. Fichte habe nicht wirklich in nationalen Kategorien gedacht, sondern im Kontext seiner eigenen Ideen. Daher habe er Deutschsein mit Fichteaner sein gleichgesetzt.
2.7
Fichte ( 1 8 0 8 / 1 9 7 8 ) . ι . Rede. S. 1 3 . Ebd. 1 2 . Rede. S. I 9 4 f .
2.8
269
Auch in der letzten, der vierzehnten Rede schärft er seinen Zuhörern, den »Stellvertretern der Nation«, 2 3 9 noch einmal ein, die Intention dieser öffentlichen Vortragsreihe habe darin bestanden, daß nun »eine einzige fortfließende und zusammenhängende Flamme vaterländischer Denkart sich verbreite und entzünde«: 2 4 0 Die Reden, welche ich hierdurch beschließe, haben freilich ihre laute Stimme zunächst an Sie gerichtet, aber sie haben im Auge gehabt die ganze deutsche Nation, und sie haben in ihrer Absicht alles, was, so weit die deutsche Z u n g e reicht, fáhig wäre, dieselben zu verstehen, um sich herum versammlet, in den R a u m , in dem Sie sichtbatlich atmen.
Sein eigenes Redehandeln begreift Fichte denn auch als »erste[n] Schritt zu dem Ziele einer durchgreifenden Verbesserung«: »Einer muß immer der erste sein [ · . . ] « 2 4 1 Während etwa Moritz, Müller oder Campe das britische bzw. französische Parlament zu einer idealen Nation in nuce verklärten, hat Fichte dem Publikum seiner Reden diesen Ehrentitel verliehen. Diese Nobilitierung verpflichtet freilich auch zu besonderen Anstrengungen. Fichte sieht sich als Stifter einer Idee, die, nachdem er sie in die Welt gesetzt hat, weitergetragen werden müsse. Die schriftliche Verbreitung kann dank des Buchdrucks erfolgen, aber auch Fichtes Zuhörer selbst sollen mit dazu beitragen, daß sich seine Botschaften im Denken seiner Landsleute festsetzen und entsprechende Handlungen hervorrufen. Fichte setzt so auf einen Multiplikationseffekt. Er versteht sich als ein Gelehrter, der gleichsam einen Stein in einen See wirft und damit Wellenbewegungen in Form von konzentrischen Kreisen auslöst. Seine öffentlich gehaltenen Vorlesungen bzw. Reden geben den Anstoß für seine volkserzieherischen Vorstellungen. Die erste Welle erreicht unmittelbar die leibhaftig anwesenden Zuhörer, die — zur Unterstützung der Druckfassung — als missionarische Avantgarde, gleichsam als Apostel der Wissenschaftslehre mittelbar in einer zweiten Welle weiterwirken sollen usw., bis — idealiter - die gesamte deutsche Nation die Lehren Fichtes wahrgenommen, angenommen und verinnerlicht hat. In gewisser Weise handelt es sich bei Fichtes pädagogischem Redekonzept also doch um einen Tataufruf, wenn auch um einen geistig-philosophischen und nicht um einen politisch-militärischen. Obwohl Fichte selber seine Reden an die deutsche Nation weder inhaltlich noch rhetorisch-stilistisch als Kampfaufruf verstanden und konzipiert hat, ist er in einer von Franzosen besetzten Stadt ein gewisses Risiko eingegangen, auch wenn die Gefahr nicht so schwerwiegend war, wie manche Berichte aus der Zeit glauben machen wollten. A m 2 0 . 1 2 . 1 8 0 8 , ein Jahr nach Eröffnung der Reden, hatte sich Fichtes Frau Marie Johanne in einem Brief an Charlotte von 2,9 240 241
Ebd. 1 4 . Rede. S. 2 2 9 . Ebd., S. 2 2 8 , wie auch das folgende Zitat. Ebd., S. 2 3 2 .
270
Schiller über die näheren Umstände der patriotischen Vorlesungsreihe folgendermaßen geäußert: »Daß Ihnen die >Reden an die Deutschen< gefallen, ist mir ein rechter Trost; das Buch hat mir viel Angst gekostet, indem mir immer die Behandlung des unglücklichen Palm dabei vorschwebte.« 242 Auch Fouqué hat in seinem bereits zitierten Beitrag für die Berlinischen Blätter für deutsche Frauen den Mut Fichtes gewürdigt. Als Grund für die drohende Gefahr nennt er zunächst einmal »die Halbkenntniß der Sprache des Redners von Seiten der einstweilen Regierenden, und die Scheu derselben vor jedem mündlich öffentlichen Vortrage, durch trübe Erfahrungen einer kaum erst überstandenen Revolution erzeugt«. 243 Falls in einer solchen Situation die Reden »als strafwürdig mißdeutet« worden wären, hätte die »Deportation nach Frankreich« als »das Mindeste, was den Redner treffen konnte«, gedroht. Die in ihrer Thematik an sich eher unpolitischen Reden gewannen so aufgrund der spezifischen Situation in Berlin eine brisante politische Note. Aber auch unabhängig davon hatte sich die Zensur mit dieser Angelegenheit zu befassen. 244 Während sich Fichte einen Einzeldruck der jeweiligen Vorlesungen wünschte, schlugen die zuständigen Konsistorialräte vor, das ganze Werk nach Abschluß der Veranstaltungsreihe der Zensur vorzulegen und begründeten das mit dem Hinweis, die Reden würden im Zusammenhang milder wirken. Darüber hinaus verfuhr die Zensur bei umfangreicheren Werken grundsätzlich nachgiebiger als etwa bei Flugschriften und dergleichen. 1807/08 war Fichte die Redeerlaubnis prinzipiell erteilt worden. Gegen einen maßvollen Ausdruck von Patriotismus hatte man nichts einzuwenden. 245 Der Abstraktionsgrad von Fichtes philosophischem Räsonnement erleichterte zudem auch die Druckgenehmigung von 1808. Das trotz Fichtes Popularitätspostulats hohe sprachliche und gedankliche Abstraktionsniveau der Reden an die deutsche Nation schlug sich auch in deren unmittelbarer Wirkungsgeschichte nieder, auf die nun in einem dritten Untersuchungsschritt kurz eingegangen werden soll. Ein öffentlicher Vorlesungszyklus im frühen 19. Jahrhundert richtete sich dem eigenen Selbstverständnis nach an ein stände- und konfessionsübergreifendes Publikum, an Adlige wie Bürgerliche, an Juden wie Christen, an Männer wie Frauen. Das teilweise beträchtliche Eintrittsgeld sowie die notwendigen Bildungsvoraussetzungen sorgten gleichwohl für eine exklusive Beschränkung der Hörerschaft. Dennoch hatte auch diese ihre Schwierigkeiten, Fichtes Ausführungen in toto zu verstehen. 242
Fichte: Briefwechsel 2. B d . (1930/67). S. 5 i 9 f . A m 2 6 . 8 . 1 8 0 6 wurde der Buchhändler Johann Philipp Palm wegen Verbreitung der Schrift Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung auf Geheiß Napoleons in Braunau erschossen.
243
Fichte im Gespräch 4. Nr. 1 8 3 9 . S. 7 6 , wie auch die folgenden Zitate.
244
V g l . zu diesem Thema etwa Lehmann ( 1 8 9 5 ) ; Doris Fouquet-Pliimacher: Georg A n dreas Reimer und die Zensur von Fichtes Reden an die deutsche Nation. In: Göpfert/ Weyrauch (1988). S. 2 4 9 - 2 6 8 .
245
V g l . dazu Czygan (1908).
271
Dieses Problem wurde bereits bei den ersten Vorlesungen über Wesen und B e s t i m m u n g der Gelehrten akut. So meinte etwa Marie Johanne Fichte rückblickend zwischen 1 8 1 4 und 1 8 1 9 , ihr Mann habe 1 7 9 4 »mit vielem Beyfall« in J e n a öffentlich gelesen, »wenn auch vielleicht nur eine kleinere Z a h l fähig war ihn [»den heiligen Ernst« seiner Vorträge, d.Verf.] zu faßen«. 2 4 6 Ü b e r das zunehmende Desinteresse der Hörer an den zunächst g u t besuchten Erlanger Gelehrten-Vorlesungen von 1 8 0 5 zeigte sich die Allgemeine Zeitung vom 1 8 . 1 0 . dieses Jahres nicht allzu verwundert: bei aller Lebendigkeit, Fülle, Kraft und Schönheit des Vortrags ist Fichte's Lehre, seine hoch und tief greifende Philosophie keine Speise für den Alltagshaufen junger Studierender, die kaum am Vorhofe des eigenen freien Verstandesgebrauchs angelangt sind. 2 4 7 In Ton und Sache noch negativer urteilte etwa der anonyme Rezensent des Europäischen Aufsehers vom 9 . 5 . 1 8 0 6 über die Erlanger Veranstaltungsreihe: Die Vorlesungen, welche Fichte im Jahr 1805 in Erlangen gehalten und nunmehro im Drucke herausgegeben hat, sind kein Beweis von der Vorzüglichkeit seines Lehrertalentes für die Jugend. Wer diese belehren will, dessen Vortrag muß deutlich, bestimmt, lebendig, hinreißend und folgerichtig, ohne Auswüchse und Abschweifung, seyn. Dunkle Phrasen, unbestimmte, halbwahre Begriffe, Verwirrung in der Gedankenfolge, zerrütten die menschlichen Kräfte und bringen der Menschheit und dem Staate die größten Nachtheile. Mit Schwärmern und schaalen Köpfen ist beiden nicht gedient. 2 4 8 Derartige Äußerungen mögen unter Umständen auch einem grundsätzlichen Dissens m i t den Lehren Fichtes entspringen. Die Relevanz dieser Einwände gewinnt freilich dadurch an G e w i c h t , daß keineswegs nur G e g n e r Fichtes entsprechende Vorbehalte angebracht haben. N e b e n allen inhaltlichen Kontroversen blieb jedenfalls der Vortragsstil Fichtes bei seinen Zeitgenossen umstritten. Auch Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters standen in puncto Verständlichkeit im Kreuzfeuer der K r i t i k . Der gegenüber Fichte an sich wohlwollend gesinnte schwedische Diplomat und Schriftsteller Carl Gustav
Brinkmann
schrieb am 8 . 1 2 . 1 8 0 4 Friedrich Heinrich Jacobi über Fichtes Vortragsprogramm: Die wenigsten Zuhörer sind im Stand es ganz zu verstehen, aber die bessern werden doch wenigstens aufgeregt aus der latschigen Stimmung des immer sinnlicher werdenden und entnervenden Zeitgeistes. Indessen macht die Sache viel Lärmens [.. .] 2 4 9
246 247 248 249
Fichte im Fichte im Fichte im Fichte im tendierten (1806). S.
272
Gespräch 1. Nr. 104. S. 97. Gespräch 3. Nr. 1630. S. 357. Gespräch 6.2. Nr. 1698a. S. 670. Gespräch 3. Nr. 1549. S. 286. Friedrich Schlegel zollte zumindest der inpopulären Form der Vorlesungen uneingeschränktes Lob. (Vgl. GA 1,8 165; Fichte im Gespräch 3. Nr. 1705^ S. 4i8f.)
Ein entscheidender G r u n d für die Überforderung mancher Zuhörer bestand wohl darin, daß Fichte das Z i e l seines Unterrichtsprogramms, das Verständnis insbesondere der handlungstheoretischen Dimension seiner Wissenschaftslehre, letztlich voraussetzte. Fichte hat selbst die problematische Anlage seines Vortragszyklus erkannt und war auch bereit, den Bedürfnissen des Publikums Rechnung zu tragen. Z u Beginn der zweiten Vorlesung begründete er seinen einleitenden »Rückblick auf die vorige Stunde« mit dem Eingeständnis, in der Sitzung zuvor sein Lernziel nicht erreicht zu haben: »Man will bemerkt haben, daß mehrere Mitglieder dieser Versammlung, dem größten Theile desjenigen, was ich am A n f a n g e des vorigen Vortrages gesagt, nicht ganz haben folgen k ö n n e n . « 2 5 0 Aber auch diese praktische Konzession änderte nichts an der Meinung A d a m Müllers, daß Fichte mit seinem Popularitätsvorsatz gescheitert sei, da er am P u b l i k u m letztlich vorbeigelesen habe. I m ersten Stück des ersten J a h r g a n g s des Phöbus führt Müller aus: Eine weltumfassende Idee populär vorzutragen, kann nichts anderes heißen, als sie in jedem noch so untergeordneten Kreise des Lebens wiederfinden [...]. Eine schwierige Aufgabe, die ein vollständiges Verständniß jener, welche verstehen sollen, voraussetzt. Darum ist Fichten und so vielen andern der redlichste Vorsatz der Popularität nie gelungen, weil sie nicht vor allen Dingen die begriffen, die begreifen sollten. 2 5 1 In dieser Sicht hat Fichte hauptsächlich das rhetorische Kerngebot des äußeren aptum mißachtet, d . h . er hätte sich mit seinen Ausführungen in größerem Maß am Sprach- und Wissenshorizont seines Publikums orientieren sollen. Die vorher schriftlich vollständig ausgearbeiteten Vorlesungen ließen zudem auch wenig R a u m für ein spontanes Eingehen auf die eigentlichen Bedürfnisse der Hörer, etwa nach genauerer Erklärung bestimmter Phänomene. Andere K r i t i ker zeigten sich von den Grundzügen
des gegenwärtigen Zeitalters
insbesondere
deswegen enttäuscht, weil sie — vergebens — eine Fortschreibung der Wissenschaftslehre erwartet und erwünscht hatten. Das Fehlen einer streng wissenschaftlichen Deduktion in einem philosophischen Vortrag bereitete einigen R e zensenten Probleme. In einem Artikel der Miscellen für die Neueste Weltkunde vom 2 3 . 1 2 . 1 8 0 7 mokiert sich der Verfasser unter anderem mit Blick auf Fichte über die »gelehrten Geistesunterhaltungen« im Berlin dieser Jahre: Alle lassen sich herab, gemeinfaßlich zu sein, oder einem so genannten g e m i s c h t e n P u b l i k u m Empfänglichkeit für ihren Vortrag einzuflößen. Es fragt sich nun, ob es aus Bedürfniß des Publikums oder der Herren Professoren geschieht? 2 ' 2 Inhaltliche K r i t i k an der in den Grundzügen vertretenen Fünf-Epochen-Theorie
250 251 252
GA 1,8 (1806). 2. Vorlesung. S. 205. Fichte im Gespräch 4. Nr. 1854. S. 102. Ebd. Nr. 1832. S. 69.
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übte beispielsweise Kleist und setzte ihr in den Betrachtungen über den Weltlauf seine Dekadenz-Theorie entgegen. 253 Denkbar zwiespältig wurden auch die Reden an die deutsche Nation aufgenommen. Positiv angetan zeigte sich, überraschenderweise, der eigentliche FichteKritiker Gentz: »so groß, tief und stolz hat fast noch Niemand von der deutschen Nation gesprochen«, teilte er seinem Freund Adam Müller am 27.6.1808 brieflich mit. 2 5 4 Dagegen artikulierte Müller selbst in einer Rezension für die Zeitschrift Fallas 1808 sein Unbehagen angesichts des totalitären Moments im Denkansatz Fichtes: Vor allem andern leuchtet der Wahn hervor, als ob der Mensch eine zwar willenfáhige, aber doch eigentlich willenlose Maschine wäre, die sich gutwillig eindrillen ließe, oder eine weiche, nachgebende Masse, die man nach Belieben in diese oder jene Form zerren und einpressen könnte. 2 5 5
Trotz aller Vorbehalte mancher Zeitgenossen begründeten die Reden an die deutsche Nation letztlich die Aufnahme Fichtes in die nationalliberale Ahnengalerie des 19. Jahrhunderts. Die zeitgenössische Rezeption der Reden hätte das zunächst gar nicht erwarten lassen. 2 ' 6 Insbesondere zwischen der Veröffentlichung der Reden und dem Beginn der Befreiungskriege, also zwischen 1808 und 1 8 1 3 , fanden Fichtes Einlassungen nur geringen Widerhall. 257 Die vorhandenen Zeitungsnotizen waren eher sparsam und dann überwiegend reserviert. Selbst die Franzosen nahmen kaum Notiz von Fichtes patriotischen Ansprachen. In seiner Ankündigung fehlte außerdem der Hinweis, daß er konkrete Vorschläge zur Rettung des Vaterlandes unterbreiten wollte. Und so erwarteten die Berliner eine nicht übermäßig aufregende Fortsetzung der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters für ein adliges und bürgerliches Publikum beiderlei Geschlechts. Der verhältnismäßig hohe Eintrittspreis von einem Reichstaler pro Vorlesung tat ein übriges, um das allgemeine Interesse in Grenzen zu halten. Zudem mußten die Zeitgenossen den Titel der Veranstaltung als Etikettenschwindel empfinden, wurden ihnen doch keine politischen Reden, sondern philosophische Vorlesungen angeboten. Bereits Cicero hat davor gewarnt, Philosophen als Redner mißzuverstehen. Zwar können auch Philosophen beredt sein, die rhetorische
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Dieser Beitrag für die Berliner Abendblätter vom 9 . 1 0 . 1 8 1 0 ist abgedruckt in: Kleist (1990). S. 542; 1 1 2 6 . Fichte im Gespräch 4. Nr. 1 9 2 8 . S. 1 6 5 . A m 2 4 . 7 . 1 8 0 8 schrieb er Böttiger: »Welch ein vortreffliches Buch sind Fichtes Reden an die deutsche Nation!« (Nr. 1 9 3 9 . S. 1 7 5 ) Müller 2. Bd. (1808/1967). S. 2 9 1 . Z u r zeitgenössischen Rezeptionsgeschichte der Reden an die deutsche Nation vgl. etwa Rudolf Körner (1927). Ibbeken ( 1 9 7 0 ) sieht in der Erhebung von 1 8 1 3 prinzipiell eine dynastisch-patriotische Bewegung für König und Vaterland und keine Bewegung für nationale Einheit und bürgerliche Freiheit.
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Kampfbereitschaft eines Redners auf dem Forum fehle ihnen freilich zwangsl ä u f i g . 2 ' 8 Letztlich sprechen sie zu einem wissenschaftlich gebildeten Publikum, das sich eher belehren als hinreißen lassen will. 2 5 9 Die philosophische Rede zeuge daher in erster Linie von der Stille der Studierstube (»mollis est enim oratio philosophorum et umbratilis«), in ihr finde sich nichts Zorniges, Haßerfülltes, Wildes, Klägliches oder Verschmitztes (»nihil iratum habet, nihil invidum, nihil atrox, nihil miserabile, nihil astutum«); vielmehr sei sie rein, zurückhaltend, gleichsam eine unberührte Jungfrau (»casta, verecunda, virgo incorrupta quodam modo«). Daher müsse sie auch mehr als eine Unterredung (»sermo«) denn als eine Rede (»oratio«) angesehen werden. 2 0 0 All diese Einschränkungen treffen mehr oder weniger auch auf Fichtes öffentliche Vorlesungen zu. Der Philosoph und der Redner in ihm gerieten bei seinen öffentlichen, popularphilosophischen Vorlesungszyklen in einen kaum aufhebbaren Rollenkonflikt. Gleichwohl wurde er nachträglich nicht selten zu einem wirkungsmächtigen Redner stilisiert, eindrucksvoll beispielsweise in dem 1 9 1 3 / 1 4 entstandenen Wandgemälde des Malers und Graphikers Arthur K a m p f , das bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg das Auditorium Maximum der Universität zu Berlin schmückte (Abb. 2). 2 6 1
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Cicero: Orator 1 9 , 6 2 : »tarnen horum oratio ñeque ñervos ñeque acúleos oratorios ac forenses habet [ . . . ] « Ebd., 1 9 , 6 3 : »loquuntur cum doctis, quorum sedare ánimos malunt quam incitare, si de rebus placatis ac minime turbulentis, docendi causa non capiendi [ . . . ] «
260
Ebd., 1 9 , 6 4 . Die Abbildung entstammt dem Band: Befreiungskriege ( 1 9 7 9 ) .
261
275
Hier wird Fichte im Stile eines pathetisch deklamierenden Volksredners unter freiem Himmel dargestellt. Dieser vermag die Hörer im germanischen Wald wortgewaltig und gestenreich in seinen Bann zu ziehen. Fichtes Hörerschaft setzt sich auf dem Bild zudem aus allen Ständen zusammen. Angehörige des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums sind ebenso zu erkennen wie ein adliges Mitglied des Offizierskorps. Sogar (beschürzte) Vertreter der Arbeiterschaft scharen sich um den Redner. Historisch gerechtfertigt ist dagegen die Anwesenheit von Frauen. Die wahre exklusive Zusammensetzung der damaligen Z u hörerschaft der Reden an die deutsche Nation hatte mit der von K a m p f postulierten und von Fichte ja durchaus auch gewollten Repräsentation einer Gesamtnation, die bei K a m p f , seiner eigenen sozialgeschichtlichen Wirklichkeit entsprechend, vier Stände
umfaßt, nichts gemein.
Mit
der
Realität
deutscher
philosophischer Kathederberedsamkeit, die für viele Zuhörer und Leser unverständlich blieb, hatte Kampfs künstlerischer Verklärungsversuch nichts zu tun. Auf die Erhebung von 1 8 1 3 hatten Fichtes Reden an die deutsche Nation jedenfalls kaum Einfluß. Das abstrakt-unpolitische Denken Fichtes, im Unterschied etwa zu Arndts praktisch-politischem Impetus, verminderte die ohnehin spärlichen Wirkungsmöglichkeiten noch beträchtlich. 202 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden freilich die Reden an die deutsche Nation zunehmend als rhetorisch-politischer Meilenstein für die Konstituierung eines nationalstaatlichen Bewußtseins verklärt, insbesondere nach 1 8 7 1 , als der junge Nationalstaat bestrebt war, sich zusätzlich eine historische Identität zu verleihen. 2 6 ' Die Geschichte der politischen Vereinnahmung von Fichtes Reden an die deutsche Nation erreichte im Kaiserreich zweifellos einen Höhe-, wenn auch keineswegs einen Endpunkt. Selbst heute werden sie noch für rechtsradikale Agitation instrumentalisiert. 264 Ein Blick auf die zeitgenössische Wirkungsgeschichte der öffentlichen Vorlesungszyklen Fichtes belegt, daß sein Versuch, mittels öffentlicher Reden eine
262
V g l . zu diesem Thema Ibbeken ( 1 9 7 0 ) . S. 3 3 — 4 9 sowie, zu den Reden an die deutsche Nation, S. 1 7 4 — 2 2 7 . Auch von Miinchow-Pohl ( 1 9 8 7 ) konstatiert die Wirkungslosigkeit der Redeη hinsichtlich des Kriegsausbruchs: »Fichtes »Reden an die deutsche Nation< sind zweifelsohne ein bedeutendes Zeugnis für das Erwachen des deutschen Nationalbewußtseins, aber es war kein politisches Gebilde, das der weltfremde Philosoph ersann, sondern ein geistiges R e f u g i u m im waffenstarrenden Europa Napoleons, ein luftiges Wolkenkuckucksheim.« (S. 3 3 8 ) Dagegen siedelt Peter L. Oesterreich die Reden »im zweideutigen Hell-Dunkel genialer Philosophie und unheilvoller Demagogie« an (Fichte-Studien 2 ( 1 9 9 0 ) . S. 88) und überschätzt damit deren philosophische Tiefenschärfe ebenso wie die persuasive Wirkungsmacht. Versieht man schon den Redner Fichte mit dem Attribut »demagogisch«, welche Etiketten will man dann noch für Arndt, Körner oder J a h n finden?
263
V g l . z . B . Treitschke ( 1 8 7 9 / 1 9 2 7 ) . S. 306. Als Beispiel sei die propagandistische Schrift von Schmalbrock ( 1 9 8 2 ) angeführt, die gleichwohl, offenkundig ohne vorherige Autopsie, in Bibliographien zur wissenschaftlichen Forschungsliteratur verzeichnet ist.
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nationale Identitätsstiftung von oben zu erzielen, nicht den gewünschten oder erwarteten Erfolg erbrachte. Ähnliches gilt auch für die entsprechenden Bemühungen Adam Müllers, der Brüder Schlegel u. a. Speziell Fichtes Bildungs- und Erziehungsprogramm konnte lediglich eine geistige Surrogatfunktion für die fehlende politische Partizipation der angesprochenen »Nation« erfüllen. Für das Entstehen eines fundierten Nationalbewußtseins gerade im Bürgertum fehlte nicht zuletzt ein politisches Partizipationsangebot der Herrscherelite. Gleichwohl blieb Fichte mit seinem rhetorischen und inhaltlichen Ansatz in jenen Jahren nicht allein. Das mögen nun einige wenige Schlaglichter auf den Diskurs- und Rezeptionskontext von Fichtes Reden an die deutsche Nation etwas erhellen. 1 8 1 0 hielt etwa Heinrich Luden in Jena vier öffentliche Vorlesungen »über das Studium der vaterländischen Geschichte«, mit denen er seine eigentliche Geschichtsvorlesung einleiten wollte. Eine wesentliche Intention Ludens bestand darin, durch Erweckung eines nationalgeschichtlichen Bewußtseins den Patriotismus in der Gegenwart zu stärken. Luden, der laut Karl Ludwig Sand Fichte als seinen »theueren Lehrer« charakterisiert haben soll, 265 betont gleich in seiner ersten Vorlesung, ähnlich wie Fichte, daß angesichts einer trostlosen Gegenwart nur der » G l a u b e [ n ] an die Zukunft« bleibe. 266 Diesen gelte es durch die Erinnerung an die vaterländische Geschichte zu beschwören und so das Nationalbewußtsein des Auditoriums zu erwecken. Es entspricht ebenso der Programmatik Fichtes, wenn Luden die Erringung von »Selbstständigkeit« sowie die Verteidigung der »Eigenthümlichkeit« eines Volkes als notwendige Voraussetzung, um eine bessere Zukunft herbeiführen zu können, deklariert. 267 Insgesamt gesehen argumentierte bei allen unbestreitbaren Parallelen der Historiker Luden geschichtsorientierter als der Philosoph Fichte, der primär die Verbreitung seiner spezifischen Lehre im Sinn hatte. Ferdinand Delbrück, Professor an der Universität Königsberg und Rat der ostpreußischen Regierung, konzipierte seine Reden veranlaßt durch die Ereignisse der Zeit, die er 1 8 1 3 in Königsberg hielt, als Ermahnung an die »Gelehrten [...], sich der öffentlichen Angelegenheiten anzunehmen dadurch, daß sie ihre Wissenschaft und Beredsamkeit gebrauchen, in Ansehung derselben rechtschaf265
Diese Äußerung verbürgt jedenfalls Sand am 2 . 6 . 1 8 1 8 (Fichte im Gespräch 6.2. Nr. 1 4 4 9 b . S. 620). V g l . darüber hinaus Ludens Erinnerungen, in denen er über seine Teilnahme an den wissenschaftlichen Vorlesungen Fichtes 1 8 0 4 berichtet (Fichte im Gespräch 3. Nr. 1 4 4 3 . S. 2 i o f . ) . Luden und Fichte begegneten sich zudem im Hause Hufelands. Luden rezensierte außerdem Fichtes Erlanger Vorlesungszyklus Über das Wesen des Gelehrten in den N u m m e r n 9 1 und 92 der Jenaischen Allgemeinen LiteraturZeitung, gelangte allerdings zu einem eher reservierten Urteil. V g l . dazu Fichte im Gespräch 3. Nr. 1 6 9 0 . S. 4 1 0 , Nr. 1 6 9 6 . S. 4 1 3 ^ sowie Fichte im Gespräch 4. Nr. 1 7 5 4 . S. 8.
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Luden ( 1 8 1 0 ) . ι . Vorlesung. S. 7. Ebd., S. 14. V g l . zur Entwicklung einer nationalen Geschichtsschreibung bei Luden und seinen Zeitgenossen Marks ( 1 9 8 7 ) .
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fene Gesinnungen und richtige Begriffe zu nähren und zu verbreiten.« 2 6 8 Dieses Ansinnen entspricht exakt der Grundintention Fichtes in allen seinen öffentlichen Vorlesungszyklen. 2 6 9 Kunst und Wissenschaft müssen sich, so Delbrück, in den Dienst einer höheren, nämlich der nationalen Sache stellen. 2 7 0 Ein rein zweckfreies Erkenntnisstreben, so wie es etwa Humboldt im Rahmen seiner Vorstellungen zur Universitätsreform propagierte, lehnten angesichts der turbulenten Zeitläufte sowohl Fichte als auch Luden oder Delbrück ab. Den Gelehrten falle nun vielmehr die gesellschaftspolitische Aufgabe zu, ihren Landsl'euten die rechte, vaterländische Gesinnung zu vermitteln. Auch Delbrück setzte dabei auf die Macht der Beredsamkeit. In der ersten Rede beklagt er sich, daß die Gebildeten in Deutschland zumeist entweder ein bedeutendes Thema rhetorisch unzulänglich oder umgekehrt, ein unbedeutendes Thema beredt darstellen: Daraus nun, daß bei uns die beredten Schriftsteller um die öffentlichen Angelegenheiten, und die politischen (das Wort in der weitesten Bedeutung genommen) um die Beredsamkeit sich weniger bekümmert haben als anderswo, könnte man schließen, die deutschen Gelehrten überhaupt verdienten den Vorwurf, es fehle ihnen N e i g u n g oder Fähigkeit, an den großen Geschäften des handelnden Lebens durch Belehrung, Rath und Ermunterung Theil zu nehmen. 2 7 1
Die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse erschweren freilich nach Delbrück eine beredte Einmischung der gebildeten Stände in öffentliche Angelegenheiten und so bleibt auch für ihn nur der optimistische Glaube an eine bessere Zukunft. Delbrück wünscht sich dabei wie Fichte die Gelehrten als erzieherische Avantgarde der Nation. Einen offensichtlichen Reflex auf Fichte stellten die Reden an das deutsche Volk ( 1 8 1 4 ) des Schriftstellers Philipp Joseph Rehfues, den der Freiherr vom Stein dank seiner in diesen Reden bewiesenen vaterländischen Gesinnung mit der Verwaltung der linksrheinischen Gebiete betraute, dar. Rehfues verzichtet freilich im Unterschied zu Fichte programmatisch auf die Verwendung >welscher< Worte wie etwa >Nation
Die öffentliche Meinung soll sich nicht gegen das Staatswesen richten, sondern ihm dienen. Fichte, der seine Reden an die deutsche Nation unter anderen politischen Bedingungen hielt, als sie Garve vorgefunden hatte, vertrat wiederum die Auffassung, daß sich das Staatswesen über die öffentliche Meinung erst konstituieren müsse. Daraus resultierte nicht zuletzt seine Bereitschaft, auch auf rhetorischem Weg Einfluß auf die Zeitläufte zu nehmen, während Garve das größere Maß an Zurückgezogenheit und Ruhe des Schriftstellers im Vergleich zum Redner durchaus als vorteilhaft empfand. Fichte trug ja denn auch 277 278 279 280
Ebd., S. 308. Ebd., S. 3 2 9 . Ebd., S. 3 2 4 . Ebd., S. 3 2 6 .
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seine Gedanken der Öffentlichkeit in mündlicher, Garve in schriftlicher Form vor. Die B i l d u n g und Erziehung des Volkes waren sowohl für Garve als auch für Fichte wesentliche, ja entscheidende Anliegen. Gleichwohl schlugen sie unterschiedliche Vorgehensweisen vor: Während sich Fichtes Popularphilosophie zunächst, in einem ersten Schritt, an die gelehrte Öffentlichkeit wandte, propagierte Garve die sofortige Umsetzung eines Bildungsprogramms, das das Volk in seiner Gesamtheit ansprechen sollte. 2 ® 1 Fichtes Verhältnis zur aufgeklärten Popularphilosophie jener Jahre war insgesamt ausgesprochen gespannt, verstand er doch seinen eigenen popularphilosophischen Ansatz als populäre Darstellung einer an sich systematischen Philosophie. 1 8 0 1 publizierte er eine Schrift, die unter dem programmatischen Titel: Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum
über das eigentliche Wesen der neuesten
Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen den Nachweis erbringen wollte, daß die Wissenschaftslehre allgemeinverständlich und öffentlichkeitswirksam erklärt werden könne. Weite Teile der angesprochenen Öffentlichkeit reagierten auf dieses Unternehmen freilich nicht unbedingt so, wie sich der Autor das erwartet bzw. erhofft hatte. Bereits der Untertitel löste manche Irritationen aus, wurde er doch in einigen Rezensionen als unmäßiger Machtanspruch mißverstanden, während Fichte lediglich seine Absicht, einen zwingenden Nachweis zu führen, bekunden w o l l t e . 2 8 2 Seine Ausführungen richtete er in der Vorrede explizit an »das größere P u b l i k u m , welchem das Studium der Philosophie nicht zum eigentlichen Geschäfte geworden« sei und damit letztlich an jeden, »der auf allgemeine Geistesbildung Anspruch m a c h t « . 2 ® 3 A l s »die gemeinfaßlichste Weise« 2 ® 4 der A u f k l ä r u n g über das Wesen seiner wissenschaftlichen Philosophie wählte er in diesem Fall die Form eines sokratischen Lehrdialogs zwischen Autor und Leser. D i e metaphorisch-vergleichende
Be-
handlungsart Fichtes behagte dagegen etwa Hegel gar nicht; dieser disqualifizierte sie dementsprechend als »einen unseligen, subjektiven Versuch, die Spekulation zu popularisieren.« 2 ® 5 In einem noch abfälligeren Ton äußerte sich Karoline Schlegel in einem Brief an A u g u s t Wilhelm Schlegel vom 1 8 . 5 . 1 8 0 1 über Fichtes Methode: ich bitte Dich, was ist es doch, daß Fichte treibt seine Lehre den Leuten wie einen Wollsack vor die Füße zu schmeißen, und wieder aufzufangen und nochmals hinzu-
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Konkrete Äußerungen von Garve und Fichte über den philosophischen Ansatz des jeweils anderen sind ausgesprochen spärlich, zeugen aber auf beiden Seiten von keiner besonders großen Wertschätzung, im Gegenteil: Vgl. z.B. Fichte im Gespräch: 2. Nr. 665. S. 2; Nr. 694. S. 24; 3. Nr. 1586. S. 320; GA 1,7, S. 445. Vgl. zu diesem Mißverständnis das Herausgebervorwort von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky: GA 1,7. S. 1 6 7 - 1 8 1 . Ebd., S. 185. Ebd., S. 187. Fichte im Gespräch 3. Nr. 1258. S. 69.
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werfen? Es gehört eine unsägliche Geduld dazu, und am Ende, zum G u c k g u c k , wenn sie es nicht verstehn, was liegt daran, und wer kann sie im Ernst zwingen wollen! 2 8 6
Am 3 1 . 5 . 1 8 0 1 steigerte Karoline ihre Ironie bis zur Häme und schrieb August Wilhelm: W i r haben für den sonnenklaren ein Motto ausgefunden: Zweifle an der Sonne Klarheit, Zweifle an der Sterne Licht, Leser, nur an meiner Wahrheit Und an Deiner Dummheit nicht. Das Fundament des Einfalls ist von Schelling, die letzte Zeile von mir. S. hat es Goethen mitgeteilt, der, sehr darüber ergötzt, sich gleich den sonnenklaren geben ließ, um sich auch ein paar Stunden von Fichte maltraitiren zu lassen, wie er sich ausgedrückt hat. 2 8 7
Fichte mußte sein popularphilosophisches Konzept also gegen zwei Seiten verteidigen: gegen den sich formierenden Kreis der Romantiker einerseits sowie gegen die auf ihren gelehrten Machtanspruch pochenden Berliner Spätaufklärer andererseits. Zu Beginn seiner Streitschrift und Personalsatire Friedrich Nicolai's Leben und sonderbare Meinungen. Ein Beitrag zur LitterarGeschichte des vergangenen und zur Pädagogik des angehenden Jahrhunderts aus dem Jahr 1 8 0 1 , laut Adam Müller »das Meisterstück deutscher Polemik«, 288 urteilt Fichte die Popularphilosophie der Spätaufklärung ganz allgemein in verächtlichem Ton ab und wirft ihr belanglose Oberflächlichkeit vor: Nehmlich ich scheue mich nicht zu gestehen, daß seitdem ich die mich umgebende Welt kenne und selbst eine Meinung habe, nichts mir verhaßter und verächtlicher gewesen ist, als die elende Behandlung der Wissenschaften, da man allerlei F a k t a und Meinungen, wie sie uns unter die Hände kommen, zusammenrafft, ohne irgend einen Zusammenhang oder einen Z w e c k , außer dem, sie zusammenzuraffen und über sie hin und her zu schwatzen; da man über alles für und wider disputirt, ohne sich für irgend etwas zu interessiren, oder es ergründen auch nur zu wollen; und in allen menschlichen Kenntnissen nichts erblickt, als den Stoff für ein müßiges Geplauder, dessen Haupterfoderniß dies ist, daß es eben so verständlich sei am Putztische, als auf dem Katheder; jene schaale Wisserei und Stümperei, Eklekticismus genannt, die ehemals beinahe allgemein waren, und auch gegenwärtig noch sehr häufig angetroffen werden. 2 8 9
Aber nicht nur mit der Popularphilosophie der Spätaufklärung hat Fichte eine Kontroverse ausgefochten. In eine ganz andere Richtung zielte die Auseinan-
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Ebd. Nr. 1 2 2 8 . S. 4 3 . Ebd. N r . 1 2 3 5 . S. 48. Ebd. Nr. 1 6 6 3 . S. 3 8 7 . Diese Bemerkung Müllers ist auch in einer öffentlichen Rede gefallen, und zwar in der vierten seiner Dresdner Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Literatur aus dem J a h r 1 8 0 6 . V g l . Bd. 1 der Kritischen Ausgabe von Schroeder/ Siebert (1967). S. 5 1 . G A 1 , 7 , S. 3 7 0 . 283
dersetzung, die er bereits einige Jahre früher mit Schiller über das Wesen des populären Vortrags hatte. Wegen ihrer grundsätzlichen und auch weitreichenden Bedeutung für die Frage nichtfiktionaler, prosaischer Schreibart um 1 8 0 0 soll ihr ein eigenes Unterkapitel gewidmet sein.
5 . 1 . 4 Ein Streit um Konzeptionen: die Fichte-Schiller-Kontroverse Obgleich Adam Müller in seinen Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland Schiller postum zum »größte[n] Redner der deutschen Nation« stilisierte, 290 hat der so Gelobte selbst keineswegs für rhetorische Glanzlichter am Katheder gesorgt. 2 9 1 Schiller wollte vielmehr die wirkungsästhetischen Vorzüge der Redekunst für seine schriftstellerische Arbeit nützen, wie etwa aus dem bereits zitierten Brief an Garve vom 2 5 . 1 . 1 7 9 5 hervorgeht. Die Rhetorik betrachtete er als ein Element der praktischen Kultur, die den ganzen Menschen, dessen Verstand und Gefühl, im Blick hatte. Die entsprechenden Maximen einer wirkungsorientierten Beredsamkeit versuchte er nicht nur in seinen dramatischen Werken — darauf wird noch einzugehen sein - , sondern auch in Aufsätzen und Abhandlungen, vor allem wenn sich diese an ein breiteres Publikum richteten, umzusetzen. So konzipierte er etwa seine Zeitschrift Die Hören mit dem programmatischen Ziel, die K l u f t zwischen Gelehrten und Nichtgelehrten zu überbrücken. 2 9 2 Während der Entstehung der Erstfassung seiner Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen ( 1 7 9 5 ) beschäftigte er sich zudem intensiv mit Quintilian. Schiller vertrat das Ideal einer ästhetisch-philosophischen Kunstprosa, in der Verstand und Einbildungskraft, Begriff und Bild, Erkenntnis und Imagination zu einer Einheit verschmelzen sollten, wobei die Vorstellung einer autonomen Ästhetik die traditionelle rhetorische decorum- bzw. aptum-Lehre ablöste. 2 9 3 Der klassische Dichter erhob nun das Schöne zur maßgeblichen Kategorie der Ästhetik. Bei der Erforschung der Wahrheit wollte Schiller - der Tradition von Descartes bis Kant folgend — ausschließlich den Verstand am Werk sehen, für den Vortrag der Wahrheit forderte er dagegen die Berücksichtigung der dem Menschen wesenseigenen Sinnlichkeit, die durch den ästhetischen Geschmack zu vermitteln sei. Aus dieser Differenzierung leitete Schiller drei voneinander zu unterscheidende Arten des Vortrags ab. 2 9 4 Der wissenschaftliche Vortrag verfolgt den Zweck des Erkenntnisgewinns. Er bedient sich der strengen Lehre, d.h. er muß aus Prinzi-
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Müller 1. Bd. ( 1 8 1 2 / 1 9 6 7 ) . 1. Rede. S. 3 0 2 .
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V g l . zum Thema »Schiller als Dichter und Redner« die entsprechenden Abschnitte bei Gert Ueding ( 1 9 7 1 ) . S. 1 2 8 - 1 4 2 sowie dems. (1990). S. 8 9 - 9 5 . Meyer ( 1 9 5 9 ) . S. 3 4 1 . Z u m Verfall des Dekorum im Kontext von Schillers ästhetischen Anschauungen vgl. Borchmeyer ( 1 9 7 3 ) . S. 3 2 — 7 5 . V g l . Ueding ( 1 9 7 1 ) . S. 1 0 9 - 1 2 7 sowie ders. ( 1 9 8 7 ) . S. 7 7 5 .
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pien sachlich und logisch konsequent überzeugen, ohne auf individuelle oder sinnliche Ausschmückungen zurückzugreifen. Rhetorisch gesehen orientiert sich der wissenschaftliche Vortrag am Docere, beschreitet also den intellektuellen Weg der Persuasio. 295 Der populäre oder didaktische Vortrag, über dessen Wesen sich Schiller und Fichte nicht einigen konnten, setzt dagegen auf eine sinnlich-anschauliche Ausdrucks weise. Die Einbildungskraft unterstützt hier das Denken, um so den in der Rhetorik geforderten Adressatenbezug zu gewährleisten. Das Ideal einer rhetorischen Kunstprosa verwirklicht für Schiller schließlich der schöne Vortrag, der Denken und Einbildungskraft, Erkenntnis und Imagination in sich vereinigt. Ähnlich wie Kant gesteht Schiller der Rhetorik nur ein ästhetisch-formales Recht zu. Der populäre wie auch der schöne Vortrag sollen delectare, d. h. das Gemüt des Publikums beeinflussen und dessen Sympathie für die Sache des Redners und für diesen selbst gewinnen. 2 ® 6 Wie Fichte mit zunehmender Ausdifferenzierung seiner popularphilosophischen Programmatik beschränkte sich Schiller auf die sanften Affektstufen der Rhetorik, docere und delectare, die das Ethos des Redners und den Logos der Ausführung in den Mittelpunkt stellen. Das pathetische Mittel des Movere, mit dem momentane, wenn auch in ihrer Wirkung durchaus nachhaltige seelische Erschütterungen des Publikums erzielt werden können, ist in diesem Z u sammenhang, anders als bei seinen Dramen, nicht relevant. 297 Mit seinen Ansichten zum Wesen des Vortrags bewegt sich Schiller zwischen dem Wunsch nach populärer Verständlichkeit und den Forderungen nach wissenschaftlicher Strenge. Aus dem Blickwinkel persuasiver Strategien betrachtet, hat die Philosophie die Aufgabe, zu überzeugen, während die dem Gesetz des Geschmacks unterworfene Ästhetik überreden will. Letztlich ordnet Schiller im Sinne Kants das Rhetorisch-Imaginative der wissenschaftlichen Erkenntnis unter. Mit Fichte geriet Schiller über die Frage nach dem Wesen des populären Vortrags in Streit. Gleichwohl räumten beide dem Erziehungsgedanken eine zentrale Bedeutung in ihren jeweiligen philosophischen Konzeptionen ein. Hinsichtlich des Inhalts und der Form oder -
rhetorisch gesprochen -
res und verba vertraten sie
jedoch unterschiedliche Auffassungen. Im vierten seiner Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen bezieht sich Schiller explizit auf Fichtes Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten aus dem J a h r 1 7 9 4 . 2 9 8 Schiller argumen-
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Z u m persuasiven Mittel des Docere vgl. Lausberg ( 1 9 7 3 ) . § 2 5 7 , 1 (S. i4of.).
296
V g l . ebd., § 2 5 7 , 2 (S. 1 4 1 ) . V g l . ebd., § 2 5 7 , 3 (S· 1 4 2 ) · Über die drei Arten, auf rhetorischem Weg das Publikum für sich zu gewinnen, führt etwa Quintilian aus: »quorum tarnen ea fere ratio est; ut primum docendi, secundum movendi, tertium illud, utrocumque est nomine, delectandi sive, ut alii dicunt, conciliandi praestare videatur officium, in docendo autem acumen, in conciliando lenitas, in movendo vis exigi videatur.« ( 1 2 , 1 0 , 5 9 ) N A 20, S. 3 1 6 . V g l . zu dieser Thematik auch die einführenden Bemerkungen von Hogrebe (1984).
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tiert, insgesamt gesehen, in diesen Briefen mit Kant gegen Piaton und eben mit Fichte gegen Rousseau. Bei der Frage nach Träger und Inhalt der Erziehung enden freilich die Gemeinsamkeiten zwischen Fichte und Schiller. Dieser sah vor, daß Künstler die Aufgabe der Erziehung zur ästhetischen Kultur übernehmen sollten, während jener für eine von Gelehrten getragene Erziehung im Geiste einer praktischen Philosophie plädierte. Schlagwortartig ließe sich dieser Unterschied auf das Begriffspaar Schönheit versus Wahrheit zuspitzen. Dabei ist besonders zu beachten, daß Schiller Fichtes Idee einer Kultur der Sinnlichkeit ästhetisch las, obgleich die Ästhetik in Fichtes System kaum eine Rolle spielte. Fichte rügte ja auch die Ausschließlichkeit von Schillers ästhetischem W e g . 2 " Fichte intendierte letztlich eine moralische Veredelung des Menschen, Schiller eine ästhetische. Gleichwohl setzte Schiller zunächst allergrößte Hoffnungen auf den Philosophen Fichte. Am 2 2 . 1 1 . 1 7 9 4 schrieb er seinem Freund, dem Arzt Friedrich Wilhelm von Hoven: »Fichtens überlegenes Genie wird alles zu Boden schlagen, denn nach Kant ist er gewiß der größte Speculative Kopf in diesem Jahrhundert.« 300 Die Kontroverse zwischen Fichte und Schiller über das Wesen des populären Vortrags wurde ausgelöst, als Schiller es ablehnte, Fichtes Manuskript Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie in den Hören, für die er diesen zuvor als engen Mitarbeiter gewinnen konnte, zu veröffentlichen. Schiller machte dabei inhaltliche und formale Vorbehalte geltend, wobei in diesem Zusammenhang mehr die letzteren von Interesse sind. In einem Briefentwurf vom 24.6.1795 bewertete Schiller Fichtes Darstellung für Die Hören als zu abstrakt, hätte er sich doch gerade für ein Organ mit dieser Ausrichtung »eine allgemein verständliche und allgemein interessierende Untersuchung« gewünscht. 301 Und so befriedigte ihn »weder die Einkleidung noch der Innhalt«, insbesondere habe er »die Bestimmtheit und Klarheit« des Ausdrucks, also Fichtes ureigene rhetorisch-popularphilosophische Ideale, vermißt. Es verwundert daher keineswegs, daß sich Fichte gerade gegen diesen Vorwurf, der ihn gleichsam auf seiner Argumentationsebene traf, vehement zur Wehr setzte. Im Kern rekurrierte die Auseinandersetzung auf die Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Bild in einer popularphilosophischen Abhandlung. In dem schon erwähnten Brief konkretisiert Schiller seinen Einwand hinsichtlich dieses Sachverhalts: Von einer guten Darstellung fodre ich vor allen Dingen Gleichheit des Tons, und wenn Sie aesthetischen Werth haben soll, eine W e c h s e l w i r k u n g zwischen Bild und B e g r i f f , keine A b w e c h s l u n g zwischen beyden, wie in Ihren Briefen häufig der Fall ist. 5 0 2
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Barnouw ( 1 9 7 2 ) . S. 2 7 6 . Fichte im Gespräch 1. N r . 2 0 7 . S. 1 9 6 . G A 1 1 1 , 2 , S. 3 3 4 , wie auch das folgende Zitat. Ebd., S. 3 3 4 f .
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Begriffliches Denken und Phantasie dürfen nach Schillers Ansicht im populären Vortrag nicht getrennt werden. Wenn der Schriftsteller nicht versucht, aus dem rein logischen Netz der Ratio auszubrechen, wird er immer nur das Allgemeine, nie aber das Konkrete erfassen und ausdrücken können. Für Fichte ist dagegen auch die Philosophie eine künstlerische Tätigkeit. Er geht zunächst von der Dualität zwischen Begriff und Bild aus, um sie dann mittels einer bildlichen Verkleidung des Begriffs zu überwinden. Die populäre Behandlung einer Fragestellung erfolgt also immer erst nach der streng philosophischen Disposition. Es ist daher angesichts dieser divergierenden Konzeptionen nur konsequent, daß Fichte in seinem Antwortbrief vom 27.6.1795 Schiller Verständnislosigkeit vorhielt. Den Geist in der Philosophie und den Geist in der schönen Kunst könne man nicht zu scharf voneinander abgrenzen. Fichte wendet gegen Schiller hauptsächlich ein, daß dieser den Begriff nicht — wie seiner Meinung nach erforderlich - durch Bilder begleiten, sondern ihn durch sie ersetzen wolle und so die Einbildungskraft zwinge, zu denken. Das Wesen der Popularität bestehe aber nicht, wie Schiller meine, in einem analytischen, sondern in einem synthetischen Vorgehen. Fichte legt »die Popularität vorzüglich in den Gang, den ich nehme«, er will zugleich das Docere wie das Delectare, während Schiller, im Sinne Kants, letztlich die Trennung von Belehrung und Unterhaltung betreibe, indem er die Popularität anstelle des abstrakten Begriffs setze. 303 Schiller meint Popularität nur durch Bilder erreichen zu können, ohne dabei in Bildern zu denken, während Fichte Popularität im Gedankengang selbst erzeugen will: »Bei mir steht das Bild nicht an der Stelle des Begriffs, sondern vor oder nach dem Begriffe, als Gleichniß [.. ,]« 3 ° 4 Nach dieser gleichsam systemimmanenten Kritik argumentiert Fichte rezeptionsästhetisch. Indem Schiller mit seinem Plädoyer für ingeniöses Reden die Einbildungskraft zum Denken zwinge, gehe die Verständlichkeit seiner Ausführungen verloren: »Ich muß alles von Ihnen erst übersetzen, ehe ich es verstehe; und so geht es andern auch.« Seine philosophischen Schriften seien daher im Unterschied zu seinen poetischen und historischen »weniger gelesen, und gar nicht verstanden worden«. Schillers Vorwurf, er, Fichte, selbst schreibe nicht eingängig genug, begegnet er mit der Bemerkung, er sehe seinen Stil im Einklang mit traditionellen Richtlinien der Rhetorik, die heute jedoch zu Unrecht in Vergessenheit geraten seien: Der Anschein der Härte in meinem Periodenbau kommt gröstentheils daher, daß die Leser nicht deklamiren können. Hören Sie mich gewiße meiner Perioden lesen, und ich hoffe, sie sollen ihre Härte verlieren.
Auf Fichtes Bekenntis zum rhetorischen Adressatenbezug - allein das größere Publikum sei zu einem Urteilsspruch berechtigt — erwidert Schiller am 3./ 303 304
Ebd., S. 3 3 8 f . Ebd., S. 3 3 9 , wie auch die folgenden Zitate.
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4-8.1795
m
' £ dem Einwand, daß Urteile zwar gefällt werden müßten, »aber
von einer beßern Autorität, als das Publikum, so wie es ist, oder ein einzelner aus demselben seyn kann«, denn: Es giebt nichts roheres als den Geschmack des jetzigen deutschen P u b l i k u m s , und an der Veränderung dieses elenden Geschmacks zu arbeiten, nicht meine Modelle von ihm zu nehmen, ist der ernstliche Plan meines L e b e n s . ' 0 5
Die Vorstellungen der Genieästhetik lassen sich mit einem strengen rhetorischen Adressatenbezug im ganzen nicht vereinbaren. Nicht unbedingt die Rezeption eines Werks, sondern sein genuiner Wahrheitsgehalt entscheide über seine Q u a l i t ä t : »Wenn Aristoteles nicht mehr gelesen wird, so ist sein Einfluß auf seine Wißenschaft und folglich sein R u h m dennoch ewig, auch wenn sein N ä h m e vergeßen w ü r d e . « 3 0 6 Daher läßt Schiller nur die Totalität seiner eigenen Individualität als letztinstanzliche Richterin gelten. Die wirkungsorientierte Rhetorik, die sich dem öffentlichen Urteil zu stellen hat, muß dagegen immer von der augenblicklichen Beschaffenheit, vom Istzustand des Publikums ausgehen. Schiller ist freilich nicht bereit, dem Geschmack des Publikums Konzessionen auf Kosten des ihm sakrosankten ästhetischen Geschmacks zu machen: Ich müßte eine ganz andere Meinung von dem deutschen P u b l i k u m bekommen, als ich gegenwärtig habe, wenn ich in einer Sache, worüber meine N a t u r nach einer mühsamen und hartnäckigen Crise endlich mit sich einig geworden ist, sein Ansehen respektieren sollte. Das allgemeine und revoltante G l ü c k der Mittelmäßigkeit in jetzigen Zeiten, die unbegreifliche Inconsequenz welche das ganz Elende auf demselben Schauplatze, wo man kurz vorher das Vortrefliche bewunderte, mit gleicher Z u f r i e denheit a u f n i m m t , die Rohigkeit auf der einen und die Kraftlosigkeit auf der andern Seite erwecken mir, ich gestehe es, einen solchen Eckel vor dem, was man öffentliches Urtheil nennt, daß es m i r — vielleicht zu verzeihen wäre, wenn ich in einer unglücklichen Stunde mir einfallen liesse, diesem heillosen Geschmack entgegen wirken zu wollen, aber wahrlich nicht, wenn ich ihn zu meinem Führer und Muster machte. Glücklicher weise ist mir die eine Thorheit so fremd als die andre.' 0 7
Nicht nur Schiller, auch Fichte wollte das Publikum erziehen, war jedoch gleichzeitig, aus wirkungsästhetischen Gründen, auf dessen günstige Aufnahme seiner Vorträge und Schriften angewiesen. D a m i t setzte Fichte aber das anvisierte Ziel seines Erziehungsplans, eine in seinem Sinne gebildete Öffentlichkeit, gleichsam voraus. Diesen Widerspruch, der sich aus der gegenseitigen Durchdringung von Rhetorik und Philosophie, aus dem Wunsch, gleichzeitig optimale Wirkung zu erzielen und avantgardistische Lehren zu verbreiten, geradezu zwangsläufig ergab, vermochte er letztlich nicht zu lösen. Schiller lehnte es hingegen ab, »durch Anschmiegung an den Geist der Zeit das Publikum zu gewinnen, sondern dadurch daß ich es durch die lebhafte und kühne AufstelE b d . , S. 3 6 0 . ' 0dying speeches< - wie im Abschnitt über Goethes Reineke Fuchs (Kapitel 3 . 1 . 3 ) bereits erwähnt — im allgemeinen Bewußtsein der Zeit aufgrund ihres endgültigen Charakters als ausgesprochen wahrhaftig. Die Interaktion von Held und Volk gestaltet sich freilich nicht nur bei Hölderlin problematisch. In Goethes Egmont, um kurz ein anderes Beispiel zu nennen, verehrt zwar das Volk seinen Helden, dieser bleibt jedoch entschlußI0S. 529 In den Dramen Schillers handelt meist ein großes Individuum allein. Mustergültig für diesen Typus ist Wilhelm Teil. Er ist am wenigsten in die Geschichte des Bundes involviert, ein Einzelkämpfer, der am Rütlischwur nicht teilgenommen hat. Mit seinem tödlichen Schuß vollzieht er die Selbsthilfe eines
,2fi
Laut Hans Joachim Kreutzer ist >Gesang< »der häufigste Ausdruck überhaupt für das, was Hölderlin als seine Dichtkunst ansieht«. (Hans Joachim Kreutzer: Tönende Ordnung der Welt. Über die Musik in Hölderlins Lyrik. In: Kreutzer ( 1 9 9 4 ) . S. 6 7 1 0 2 . Hier S. 83) Haberer ( 1 9 9 1 ) hebt hervor, daß der >Gesang< »ein Schlüsselbegriff für Hölderlins Dichtung« sei und »für eine höchstbewertete Form von Äußerung« stehe. (S. 2 9 1 )
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S t A , S. 1 6 0 . Schmidt betont in seinem D K V - K o m m e n t a r ( 1 9 9 4 ) , Empedokles spreche in seiner Vermächtnisrede »die Totalität aller Lebenssphären« an: »Das politische System tritt gegenüber den umfassenden Errungenschaften von neuer Religion und neuer Mythologie eher in den Hintergrund.« (S. 1 1 0 4 ) Im Stellenkommentar hat Schmidt die Vermächtnisrede detailliert analysiert (S. 1 1 5 2ff.).
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Hannelore Schlaffer ( 1 9 7 2 ) . S. 44. Eine Untersuchung unter anderem zum Paradigmenwechsel von der rhetorisch-demonstrativen zur imaginativen Dramaturgie bei den frühen Stücken Goethes hat Fehr ( 1 9 9 4 ) vorgelegt.
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einzelnen, der unmittelbar auf erlittenes Unrecht reagiert. Abgesehen davon ist er »ein Mann der Tat, nicht des Wortes«. 5 3 0 Zu den hochgradig politischen Worten in einem Drama von Schiller zählen diejenigen, die gleichsam als sermo secretas jenseits aller Öffentlichkeit unter vier Augen fallen. »Geben Sie Gedankenfreiheit!« fordert Marquis Posa den König von Spanien, Philipp den Zweiten, in der zehnten Szene des dritten Aktes auf. 5 3 1 Und dennoch ist Don Karlos ähnlich wie die Braut von Messina und Wilhelm Teil primär eine Familientragödie in staatspolitischem Gewand. 532 Wenn das Volk - nicht nur bei Schiller auftritt, dann zumeist, wie etwa in der Jungfrau von Orleans, als lediglich »szenisches Ornament«, 5 3 3 jedenfalls nicht als selbständig agierende Figur. Die großen Reden der handelnden Subjekte richten sich dementsprechend weniger an eine Menge auf der Bühne als vielmehr direkt an das Publikum selbst. So ist etwa Johannas zentraler prophetischer Monolog (IV, i ) kommentierend und nichtaktional, sie spricht gleichsam über die Anwesenden hinweg. 5 3 4 Einen vergleichbaren Adressatenbezug weist auch Teils Reflexionsmonolog (IV,3) auf. In dieser »imaginäre[n] Verteidigungs- und Rechtfertigungsrede« 5 3 5 wandelt sich Teil zum modernen Freiheitskämpfer. Nach einer allgemeinen Anklage trägt er die Beschuldigungen gegen seinen Widersacher im Detail vor und versichert dabei, Stellvertreter der göttlichen Gerechtigkeit zu sein. Schiller ästhetisiert und sublimiert in diesen hochdramatischen Momenten seine Stücke selbst zu Volksreden, die er jedoch so angelegt wissen will, daß die Gemütsfreiheit des Publikums gewahrt bleibt. 5 3 6 Das Drama wird gleichsam in toto ästhetisch zur wirkungsorientierten Rede, die sich an das Publikum richtet, ohne es zu überwältigen. Das Wort, das zwischen Gedanke und Tat vermittelt, gewinnt so dramatische Bedeutung, ist selbt die Tat, die Aktion. 5 3 7 Das Genus deliberativum findet sich durchaus in Schillers Werken, so etwa auch in Maria 5,0
Gert Ueding: Wilhelm Teil. In: Hinderer ( 1 9 8 3 ) . S. 2 7 1 - 2 9 3 . Hier S. 279. »" N A 7,1, V 22i8f. 552
Helmut Koopmann spricht in diesem Zusammenhang von einer »Transposition des Familienthemas in die Welt der hohen Tragödie«. (Helmut Koopmann: Don Karlos. In: Hinderer ( 1 9 8 3 ) . S. 87 — 1 0 8 . Hier S. 99) Borchmeyer ( 1 9 7 3 ) sieht im Don Karlos den ersten, zumindest teilweise gelungenen Versuch »der über eine bloße künstlerische Abbreviatur des Politischen hinausgehenden poetischen Vergegenwärtigung des öffentlichen Lebens«. (S. 78f.)
533
Hannelore Schlaffer ( 1 9 7 2 ) . S. 1 0 .
534
Gerhard Sauder: Die J u n g f r a u von Orleans. In: Hinderer ( 1 9 8 3 ) . S. 2 1 7 — 2 4 1 . Hier S. 2 2 8 — 2 3 0 . Ueding bei Hinderer ( 1 9 8 3 ) . S. 2 8 5 . Berghahn ( 1 9 8 0 ) kommentiert diese ästhetische Prämisse Schillers: »Die Gemütsfreiheit ist für Schiller die conditio sine qua non tragischer Kunst; denn sie ermöglicht es, sowohl den Ernst des Leidens zu empfinden als auch die Erfahrung einer höheren Bestimmung zu machen.« (S. 2 1 8 )
5.5 5.6
537
Böckmann ( i 9 6 0 ) interpretiert den dramatischen Vorgang bei Schiller als sprachliche Aktion.
338
Stuart, einem Stück, in dem sich Politisches und Privates wechselseitig bedingen. Die beiden Königinnen, Maria und Elisabeth, halten — gleichwohl nichtöffentliche - Reden, mit denen sie das Theaterpublikum in den Rang einer »richtenden Öffentlichkeit« 5 3 ® erheben. Zielgerichtete Reden, die mit der Absicht gehalten werden, unmittelbar eine Tat der Zuhörer auszulösen, finden sich auch bei Schiller. Die entsprechende Zentralfigur versucht mittels ihrer Beredsamkeit den weiteren Gang der Handlung zu bestimmen. Das jeweils vorhandene aktionistische Potential dieser Reden ist im Charakter der einzelnen Helden prädisponiert. Z u den Individuen, die ein unbedingter Wille zur Macht umtreibt und die auch dazu in der Lage sind, eine Masse demagogisch zu verführen, zählt etwa Fiesko. Im Sinne von Machiavellis 11 Principe erweist er sich als rational vorgehender Techniker des Machterwerbs und -erhalts, der den Staatsstreich als Kunstwerk inszeniert. 5 3 9 Schiller bearbeitete in der Verschwörung des Fiesko zu Genua einen politischen Stoff mit affektiv-emotionalen Mitteln, indem er nicht zuletzt die Figuren konsequent psychologisierte und damit individualisierte. 5 4 0 Im sechsten Auftritt des vierten Aufzugs beschwört Fiesko, das schöpferische Genie, zu nächtlicher Stunde gegenüber seinen Gefolgsleuten noch einmal die Notwendigkeit des Staatsstreichs. In seinem Schloßhof haben sich neben Verrina, den Verschworenen Bourgognino und Sacco sowie den mißvergnügten Zenturione, Z i b o und Aßerato auch Soldaten und Schildwachen eingefunden. Ahnlich wie bei einer Rede vor dem britischen Unterhaus nimmt Fiesko - laut Regieanweisung — »den Hut ab, und tritt mit freiem Anstand zur Versammlung «. 5 4 ' Er spricht die Umstehenden zunächst persönlich an: »Meine Herrn!« Das Ziel seiner Rede besteht darin, die Gruppe der Verschwörer erneut zu befeuern und so ein einheitliches Vorgehen sicherzustellen. Eine klassische Entscheidungsrede muß er gar nicht halten, haben doch die Anwesenden allein durch ihr Erscheinen ihre
5,8
Gert Sautermeister: Maria Stuart. In: Hinderer ( 1 9 8 3 ) . S. 1 7 4 - 2 1 6 . Hier S. 2 0 2 . V g l . allgemein zur rhetorischen Sprache in den dramatischen Reden Schillers: Garland (1969).
539
Rolf-Peter Janz interpretiert das Drama als ein In- und Gegeneinander von Staatsaktionen und Familienstück. Neben den politischen K o n f l i k t tritt nach Ansicht von J a n z gleichberechtigt ein moralischer: der zwischen Tugend und Laster. (Rolf-Peter Janz: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua. In: Hinderer ( 1 9 8 3 ) . S. 3 7 - 5 7 )
540
Albert Meier ( 1 9 8 7 ) versteht das Drama als Versuch einer »Restitution des Trauerspiels mit politisch-historischen Stoffen und damit auch unmittelbarer politischer Relevanz.« (S. 1 3 4 ) Schiller habe das politische Trauerspiel für die Bühne retten wollen und den Republikanismus nicht, wie im heroischen Trauerspiel der Frühaufklärung, als theoretisch-intellektuelles, sondern, gemäß seinen sensualistisch-anthropologischen Prämissen, als moralisch-affektives Problem dargestellt.
541
N A 4 , S. 88, wie auch die folgenden Zitate. Herangezogen wird die Erstausgabe von 1 7 8 3 , die laut Albert Meier ( 1 9 8 7 ) »unbestritten die psychologisch überzeugendste Variante« darstellt. (S. 1 2 1 )
339
Loyalität zu Fiesko unter Beweis gestellt und genuine Handlungsbereitschaft signalisiert. Fiesko geht es daher vor allem darum, den Verbündeten ihre jeweiligen »Rollen« in diesem »Schauspiel« zuzuteilen. Zu Beginn erinnert er aber gleichwohl an die zu stürzenden Gegner, Andreas und Gianettino Doria, und mahnt zur Eile: »Wenn wir Genua retten wollen, Freunde, wird keine Zeit zu verlieren seyn.« Das Bewußtsein, kurzfristig reüssieren zu müssen, hat ja auch die emotional-affektiv angelegten rhetorischen Strategien der deutschen Jakobiner sowie zahlreicher Propagandisten der Befreiungskriege geprägt. Mit ähnlichem Pathos geht Fiesko zu Werke, auch wenn in diesem Fall die Ausgangslage weit weniger offen ist, als sie es bei den beiden genannten historischen Beispielen sein wird. In drei anaphorisch eingeleiteten rhetorischen Fragen (»Zu was Ende«) warnt er eindringlich vor der militärischen Bedrohung durch die derzeitigen Machthaber und zieht daraus mit Nachdruck die sentenzhafte Schlußfolgerung: » A l l e s zu retten, mus a l l e s gewagt werden«, die die Notwendigkeit uneingeschränkter Solidarität, unmittelbarer Tat sowie kompromißlosen Kampfeswillens unterstreichen soll. Fiesko argumentiert - wie später die deutschen Jakobiner und Propagandisten der Befreiungskriege - auf der Grundlage eines monolithischen Freund-Feind-Schemas, ohne das eine unbedingte Handlungsbereitschaft unter Einsatz des eigenen Lebens nicht zu erreichen wäre. Die potentiellen Akteure brauchen die innere Gewißheit, daß sich ihr Tun in jeder Hinsicht lohnen wird. Zur Steigerung seines rhetorischen Wirkungspotentials unterstützt Fiesko sein Ansinnen mit der metaphorischen Sentenz: »Ein verzweifeltes Uebel will eine verwegene Arznei« und suggeriert damit die absolute Legitimität des geplanten Vorgehens. Durch den Vergleich mit einem Arzt, der eine bösartige Krankheit bekämpft, stilisiert er sich und seine Gefolgschaft auf ideologische Weise zu ebenso politischen wie moralischen Heilsbringern. Aufgrund ihrer Abkunft bestehe zudem keinerlei Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaftsansprüche: »Hier ist keiner, dessen Ahnen nicht um Genuas Wiege standen.« Zuvor hat bereits die Menge durch »Gemurmel« erstmals auf die Ausführungen Fieskos reagiert. Dieses Geräusch steigert sich schließlich beträchtlich — »Wilders Gemurre« ist in der Regieanweisung zu lesen —, nachdem der entschlossene Anführer seine Rhetorik pathetisch noch verstärkt und mit einer durch einen elliptischen Ausruf eingeleiteten rhetorischen Frage die Herrschaft der Doria als Usurpation diskreditiert hat: »Was? bei allem, was heilig ist! Was? Was haben denn diese zween Bürger voraus, daß sie den frechen Flug über unsere Häupter nehmen?« Mit der feierlichen Beschwörung jedes einzelnen, »Genuas Sache gegen seine Unterdrüker zu führen« und damit das persönliche Schicksal vom politischen des Gemeinwesens nicht zu trennen, löst Fiesko schließlich » Ungestüme Bewegungen unter den Zuhörern« aus. Seine Worte erzielen unmittelbar die erwünschte Wirkung - der Idealfall in der Rhetorik. Das erkennt auch der Redner: »Sie empfinden - izt ist alles gewonnen.« Der Weg 340
über die Gefühle der Zuhörer führt allemal schneller zum Erfolg als derjenige über den Verstand. Das Movere spielt daher in der Redestrategie Fieskos eine wichtigere Rolle als das Docere und Probare. Nachdem er erneut seine Führungsrolle innerhalb der Verschwörung untermauert hat, appelliert er abschließend noch einmal an die Geschlossenheit und den »Heldenmuth« der Mitverschworenen. Im Stile eines Ideologen läßt er am Erfolg der geplanten Revolte keinen Zweifel, handele es sich schließlich doch um eine gerechte Sache, die gar nicht mißlingen könne. Zuletzt spitzt er seine Argumentation rhetorisch dahingehend zu, daß er die Auserwähltheit dieses Kreises hervorhebt: »Das Unternehmen ist gerecht, denn Genua leidet. Der Gedanke macht uns unsterblich, denn er ist gefährlich und ungeheuer.« 542 Seine auf emotionale Überwältigung der Zuhörer hin angelegten Worte erzielen die gewünschte Wirkung. Unmittelbar im Anschluß an die affektive Rede Fieskos äußert sich Zenturione »in stürmischer Aufwallung«: »Genug! Genua wird frei! mit diesem Feldgeschrei gegen die Hölle.« Der militärische Begriff des »Feldgeschreis« charakterisiert die rhetorische Strategie Fieskos wohl am genauesten. Schiller gestaltet in dieser Szene die Rede eines genialen Feldherrn an sein Heer. Fiesko spricht vor keiner im strengen Sinne neutralen Öffentlichkeit. Die Entscheidung zum Losschlagen ist eigentlich schon vorher gefallen. Alle Anwesenden verstehen sich von Anfang an als Zweckgemeinschaft, die noch einmal, abschließend, von ihrem Anführer auf das nahende Ereignis eingeschworen wird. Eine politisch offene Situation, wie sie das Genus deliberativum eigentlich voraussetzt, ist daher letztlich nicht gegeben. Ähnlich wie Fiesko 543 verabsolutiert auch Wallenstein die eigene Person und verlangt von seinen Gefolgsleuten unbedingte Subordination. Sein Herrschaftsanspruch ist total. Das wiederum prägt seine rhetorische Strategie entscheidend. Gleichwohl steht seine charismatische Wirkung auf andere in einem Spannungsverhältnis zu seiner inneren Unsicherheit. Seine prinzipielle Unentschlossenheit macht ihn mehr zu einem Möglichkeits- als zu einem Wirklichkeitsmenschen. 544 Wallensteins Charakter erweist sich als widersprüchlich. Einmal ist er politischer Phantast und Träumer, dann wieder raffinierter Taktiker. Sein rhetorisches Geschick versucht er unter anderem in seiner Rede vor
542
N A 4 , S. 89, wie auch das folgende Zitat. ' Albert Meier ( 1 9 8 7 ) hebt hervor, Schillers Charakterzeichnung des Helden schwanke »zwischen der Darstellung Fieskos als tugendhafter Republikaner und als zynischer Epikureer«. (S. 1 2 6 ) Eine bruchlose Identifikation sei daher nicht möglich. 544 So Walter Hinderer: Wallenstein. In: Hinderer ( 1 9 8 3 ) . S. 1 2 6 - 1 7 3 . Hier S. 1 4 9 . Helmut Koopmann ( 1 9 7 5 ) führt aus, Schiller habe mit der Wa/lensUin-Tcilogie »ein antikes Gedicht im Stile Shakespeares« schaffen wollen. (S. 266) Die Zerstörung des Mythos Wallenstein durch die Zeit, die Geschichte, die einer Zerstörung des Naiven durch das Sentimentalische entspreche, begründe, so Koopmann, die klassische Tragödie. Diesen an Benjamin anschließenden Gedanken nimmt auch Carl ( 1 9 7 7 ) auf. 54
341
den Pappenheimern (Wallensteins Tod, III,15) auszuspielen. Ähnlich wie in der gerade analysierten Rede Fieskos will sich hier ein Anführer mit Mitteln der Rhetorik der Gefolgschaft seiner Streitkräfte versichern. Schiller charakterisiert die Soldaten im Wallenstein insgesamt als Geschöpfe ihres offenkundig genialen Feldherrn. Die Pappenheimer stellen dabei die Ausnahmesoldaten und genießen eine entsprechend privilegierte Behandlung. Wallenstein hatte bis zu diesem Zeitpunkt ein herzliches Verhältnis zu ihnen, das nun gleichwohl durch die Nachricht, er habe sich mit den Schweden verbündet, gefährdet ist. Als nun zehn Kürassiere, angeführt von einem Gefreiten, bei ihm vorsprechen, spitzt sich die Lage für ihn bedrohlich zu. Der Mythos seiner Unbesiegbarkeit, der sogar das Gerücht hat aufkommen lassen, er stehe mit dem Teufel im Bunde, ist bereits ins Wanken geraten. Mit den Pappenheimern droht er jetzt seine Elitetruppe und entscheidende Hausmacht zu verlieren. Entsprechend sorgfältig ist seine Rede aufgebaut. Zunächst richtet Wallenstein an einzelne Soldaten, die er kennt, einige persönliche Worte, um so eine vertrauensvolle Atmosphäre zu erzeugen: »Ich vergesse keinen, / Mit dem ich einmal Worte hab gewechselt.« 545 Wallenstein stilisiert sich so zu einem patriarchalisch-fürsorglichen Befehlshaber, dem das Wohl jedes einzelnen seiner Untergebenen am Herzen liegt. Anschließend trägt der Gefreite die Sachlage vor: Laut kaiserlichem Befehl sollen die Pappenheimer dem »Feind und Landesverräter« (V 1858) Wallenstein die Pflicht aufkündigen. Angesichts ihres besonderen Treueverhältnisses — die Regieanweisung charakterisiert den Vortragsstil des Gefreiten als »Treuherzig« (vor V 1866) und Wallensteins anfänglicher virtuoser Beschwörung des Gemeinschaftsgefühls genießt der Feldherr bei den Pappenheimern im Unterschied zu anderen, bereits abgefallenen Regimentern einen nicht zu unterschätzenden Vertrauensbonus, wie aus den Worten des Gefreiten unmißverständlich hervorgeht: D u selber sollst uns sagen, was du vorhast, Denn du bist immer wahr mit uns gewesen, Das höchste Zutraun haben wir zu dir, Kein fremder Mund soll zwischen uns sich schieben, Den guten Feldherrn und die guten Truppen. (V 1 8 6 6 - 7 0 )
Die Sache scheint bereits vor der Rede Wallensteins entschieden, zu eng fühlen sich die Soldaten mit ihrem Befehlshaber verbunden. Darüber hinaus beherrscht Wallenstein die Kunst der Täuschung, all sein Reden und Handeln ist durch Zweideutigkeit bestimmt. Mit seiner adressatenbezogenen Redeweise hat er bisher schon manchen strategischen Fehler, den er begangen hat, kompensieren können. Sein Bündnis mit den Schweden erreicht freilich in dieser Hinsicht eine neue Dimension, bedeutet es doch eine offene Rebellion gegen den Kaiser. 545
Zitiert wird im fortlaufenden Text nach N A 8, hier V i 8 4 i f .
342
Mit der väterlich vertrauensvollen Anrede: »Hört, Kinder« (V 1889), versucht Wallenstein seine Rede einzuleiten, wird aber von dem Gefreiten zu der nur denkbar möglichen Kürze angehalten: »Braucht nicht viel Worte. Sprich / J a oder nein, so sind wir schon zufrieden.« (V i889f.) Angesichts der politischen Konstellation benötigt Wallenstein freilich eine Rede, um sich zu retten, muß er doch ein an sich inakzeptables Verhalten zu rechtfertigen oder gar zu verschleiern versuchen. Die Pappenheimer lassen ihn schließlich rhetorisch gewähren, auch wenn der Gefreite Wallensteins Rede immer wieder unterbricht. Allein aus diesem Grund handelt es sich also um keine klassische politische Entscheidungsrede, sondern eher um eine dialogisch durchsetzte Ansprache. Wallenstein beginnt rhetorikspezifisch mit einer Captatio benevolentiae, indem er die Verständigkeit und Eigenständigkeit der Pappenheimer lobend hervorhebt. Er rechtfertigt zudem ihre exponierte Stellung innerhalb seiner Armee. Als »freie Männer« (V 1 9 0 3 ) habe er sie stets behandelt und ihnen »Der eignen Stimme Recht [ . . . ] zugestanden« (V 1904). In Wirklichkeit will er ihnen mit dieser Rede ihre angebliche Entscheidungsfreiheit aber gerade nehmen. Er muß sie zu überreden versuchen, überzeugend erklären läßt sich sein eigenmächtiger Entschluß kaum. Daher befreit er sich auch mit einer gezielten rhetorischen Offensive, die er mit einer Reduplikation, deren Emphase durch Inversion noch verstärkt wird, einleitet: »Mich, mich verrät man!« (V 1 9 1 3 ) Er, der charismatische Feldherr, stilisiert sich seinen Soldaten gegenüber zum eigentlich Schutzbefohlenen: »Euch will ich mich vertrauen - Euer Herz / Sei meine Festung!« (V I 9 i 6 f . ) In anaphorisch eingeleiteten Reihungen stellt er einerseits die eigenen Verdienste und die seiner treuen Soldaten heraus und akzentuiert andererseits implizit wie explizit den Undank der Krone. Ein entsprechendes FreundFeind-Schema hat etwa auch die Rede Fieskos geprägt. Die Narrado seiner militärischen Erfolge überhöht Wallenstein mit pathetischer Metaphorik: »Und wie des Windes Sausen, heimatlos, / Durchstürmten wir die kriegbewegte Erde.« (V 1 9 2 9 O Der Gefreite reagiert sofort affirmativ, Wallensteins Redestrategie ist also zunächst erfolgreich. Nach diesem gelungenen Auftakt nimmt Wallensteins Rede in einer Amplificado eine überraschende Wendung. In düsteren Farben zeichnet er den weiteren Kriegsverlauf: »Ihr werdet dieses Kampfes Ende nimmer / Erblicken! Dieser Krieg verschlingt uns alle.« (V 1 9 4 7 ^ Mit diesem für die Zuhörer unerwarteten Umschwung versucht er das Freund-Feind-Schema, den Kulminationspunkt seiner Argumentation, noch schärfer zu konturieren. Er stellt sich selbst als einzig wahrhaft Friedenswilligen, den die kriegslüsterne Krone beseitigen wolle, dar. Dieser dramaturgisch effektvolle Schachzug verfehlt seine intendierte Wirkung nicht: »Ihr seid gerührt - ich seh den edlen Zorn / Aus euren kriegerischen Augen blitzen.« (V I954f.) Diesen Augenblick will Wallenstein nutzen und sich zum ideologischen Führer seiner Soldaten erheben: »O daß mein Geist euch jetzt beseelen möchte, / Kühn wie er einst in Schlachten euch 343
geführt!« (V 1956F.) Das ist auch notwendig, kann er doch seinen Gefolgsleuten angesichts des militärischen Potentials seiner Gegner nichts anderes als einen heldenhaften Tod versprechen. Aber unmittelbar nach dieser schockierenden Prognose zeigt er sich wieder »Zutraulieb« (vor V 1963) und wirbt um ein Bündnis mit den Schweden, das er gleichwohl nur zum Schein eingehen wolle. Sein eigenmächtiges Ausscheren aus der kaiserlichen Front verklärt er so zur einzig möglichen Alternative zum drohenden Untergang. Emphatisch beteuert er in einer Aneinanderreihung von Ausrufen, daß er nicht aus Sympathie mit den Schweden koaliere, sondern nur, weil es ihm »allein ums Ganze« (V 1976), und das heißt, um den Frieden gehe: Seht! Fünfzehn J a h r schon brennt die Kriegesfackel, Und noch ist nirgends Stillstand. Schwed und Deutscher! Papist und Lutheraner! Keiner will Dem andern weichen! J e d e Hand ist wider Die andre! Alles ist Partei und nirgends Kein Richter! Sagt, wo soll das enden? Wer Den Knaul entwirren, der sich endlos selbst Vermehrend wächst — Er muß zerhauen werden. Ich fühls, daß ich der Mann des Schicksals bin, Und hoffs mit eurer Hilfe zu vollführen. (V 1 9 8 1 - 9 0 )
Wallensteins geradezu messianische Selbstüberhöhung wäre — zumindest kurzfristig — wohl positiv aufgenommen worden, wenn nicht Buttler unmittelbar nach dem Ende der Rede den Anwesenden den Verrat des Grafen Terzkys berichtet hätte. Dessen Regiment hat den kaiserlichen Adler auf seinen Fahnen durch Wallensteins Zeichen ersetzt. Sogleich verlassen die Kürassiere den Saal. Später werden sie dann den eher widerstrebenden Max Piccolomini zu ihrem Führer ernennen und nicht einmal mehr bereit sein, Wallenstein anzuhören. Im Unterschied zu Fiesko gelingt es also Wallenstein zum Schluß nicht, sein Redeziel zu erreichen. Das hat freilich ausschließlich externe und nicht redeimmanente Gründe. Mit seinem rhetorischen Geschick allein hätte er sich wohl noch einmal — zumindest kurzfristig — aus der für ihn bedrohlichen Lage befreien können. Die beiden hier analysierten Redebeispiele haben unter anderem eine Gemeinsamkeit: Die jeweilige Zuhörerschaft setzt sich - mehr oder weniger — aus Gefolgsleuten der Hauptpersonen zusammen. Von einer Öffentlichkeit im strengen Sinne, die idealiter zunächst neutral die Argumente und rhetorischen Strategien eines Redners erwartet, kann daher kaum gesprochen werden. Sowohl in der Verschwörung des Fiesko zu Genua als auch im Wallenstein greift zudem eine, wie auch immer geartete, Öffentlichkeit kaum ins dramatische Geschehen ein. Die Handlungen vollziehen die großen, nach Macht strebenden Individuen. Eine Form, die Öffentlichkeit sinnlich-konkret auf der Bühne zu repräsentieren und einen Kollektivwillen zu äußern, bildete in der antiken Tragödie 344
der Chor. Auf diese Weise nahm die Polisgemeinschaft gleichsam an der Handlung des Dramas selbst teil. In der vierten seiner Vorlesungen über dramatische Kunst und Litteratur charakterisiert August Wilhelm Schlegel die griechische Tragödie als ein unter freiem Himmel durchgeführtes religiöses Volksfest. 546 Ein integraler Bestandteil der Aufführungen sei die Gegenwart der republikanischen Öffentlichkeit in Gestalt des Chores, dem »idealische[n] Stellvertreter der Zuschauer«, 547 gewesen: Was er [der Chor, d.Verf.] auch in dem einzelnen Stücke Besondres sein und thun mochte, so stellte er überhaupt und zuvörderst den nationalen Gemeingeist, dann die allgemeine menschliche Theilnahme vor. Der Chor ist mit einem Worte der idealisierte Zuschauer. Er lindert den Eindruck einer tief erschütternden oder tief rührenden Darstellung, indem er dem wirklichen Zuschauer seine eignen Regungen schon lyrisch, also musikalisch ausgedrückt entgegenbringt, und ihn in die Region der Betrachtung hinaufführt. 548
Die intendierte Zuschauerreaktion wird durch die Gegenwart des Chores selbst Teil des Bühnengeschehens. Im antiken Chor konnte der Tragödiendichter das angestrebte Wirkungspotential sogleich mitinszenieren. Diese Funktion des Chores als Stimme der öffentlichen Meinung hat freilich nach Schlegels Überzeugung nur dann Sinn, wenn, wie in der athenischen Demokratie, politische Entscheidungen auch realiter in der Öffentlichkeit herbeigeführt werden. Geschieht dies nicht, wie in der Wirklichkeit des frühen 19. Jahrhunderts, kann es auch für die dramatische Wiederbelebung des antiken Chores keinen legitimen Grund geben. Bereits Lessing hatte sich gegen eine Wiedereinführung des Chores mit dem Argument gewandt, die dramatische Handlung habe sich aus der Öffentlichkeit in den Bereich tragischer Privatangelegenheiten zurückgezogen. Im entpolitisierten bürgerlichen Trauerspiel mit seiner Reduktion auf familiäre Beziehungen hat für ihn der Chor als Repräsentant der Öffentlichkeit seinen Platz verloren. 549 Im Unterschied zu Lessing wollte Schiller den Gedanken der Öffentlichkeit des tragischen Geschehens wiederbeleben. 550 Seine Rechtfertigung der Wiedereinführung des Chores in der modernen Tragödie ist freilich rein ästhetischer Natur; einer Nachahmung der antiken Tragödie sprach er nicht das Wort. In seiner Abhandlung Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie, die 1803 als Vorrede zur Braut von Messina erschien, beschreibt er den Charakter des Chores
546
Schlegel (1808/46/1971). Bd. V. 4. Vorlesung. S. 52. Ebd., S. 60. 548 Ebd. 5. Vorlesung. S. 77. 549 Vgl. zu Lessings Position, die er im 59. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie dargelegt hat, Borchmeyer (1973). S. 2off. 550 Schillers Weg zur öffentlichen Tragödie hat Borchmeyer (1973). S. 76—95 nachgezeichnet. Vgl. auch Turk: Gedankenfreiheit (1992). 547
345
als einen doppelten. 5 5 1 Z u m einen verläßt der Chor als »eine sinnlich mächtige Masse [...] den engen Kreis der Handlung« und hebt die »blinde Gewalt der Affekte« auf, indem er sich der Reflexion hingibt und so dem Zuschauer seine ästhetische Freiheit gerade in der affektbetonten Tragödie bewahrt. 5 5 2 Z u m andern greift das »Kunstorgan« 5 5 3 des pathetisch deklamierenden 5 5 4 Chores im Unterschied zur griechischen Tragödie aber auch aktiv in das Geschehen ein und handelt »als wirkliche Person und als blinde Menge« mit. 5 5 5 Der Chor ist einmal Repräsentant der Öffentlichkeit und dann kollektive Privatperson, also Partei. Diesen Funktionswandel gegenüber der Antike begründet Schiller mit einer veränderten Öffentlichkeitsstruktur: »Der neuere Dichter findet den Chor nicht mehr in der Natur, er muß ihn poetisch erschaffen und einführen [.. ,]«55Geschichte der Abderiten< (1963). In: Hansjörg Schelle (Hg.): Christoph Martin Wieland. Darmstadt 1 9 8 1 (Wege der Forschung; Bd. 421). S. 1 5 2 - 1 8 8 . Mathy, Helmut: Georg Wedekind. Die politische Gedankenwelt eines Mainzer Medizinprofessors. In: Festschrift Ludwig Petry. Teil 1. Wiesbaden 1968 (Geschichtliche Landeskunde; Bd. V). S. 1 7 7 - 2 0 5 . Mattenklott, Gert/ Klaus R. Scherpe (Hg.): Demokratisch-revolutionäre Literatur in Deutschland: Jakobinismus. Kronberg/Ts. 1975 (Literatur im historischen Prozeß; Bd. 3/1). Maurer, Doris: August von Kotzebue. Ursachen seines Erfolges. Konstante Elemente der unterhaltenden Dramatik. Bonn 1979 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur; Bd. 34). Maurer, Michael: Aufklärung und Anglophilie in Deutschland. Göttingen/Zürich 1987 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London). Mauser, Wolfram/ Günter Säße (Hg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Referate der Internationalen Lessing-Tagung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Lessing Society an der University of Cincinnati, Ohio/USA, vom 22. bis 24. Mai 1 9 9 1 in Freiburg im Breisgau. Tübingen 1993. May, Kurt: Die »realistische Wendung« und »neue Tragik« in Schillers >Demetrius