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German Pages 222 Year 2020
Elisa Ronzheimer Poetologien des Rhythmus um 1800
Studien zur deutschen Literatur
Herausgegeben von Georg Braungart, Eva Geulen, Steffen Martus und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 224
Elisa Ronzheimer
Poetologien des Rhythmus um 1800
Metrum und Versform bei Klopstock, Hölderlin, Novalis, Tieck und Goethe
ISBN 978-3-11-069206-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069311-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069314-0 ISSN 0081-7236 Library of Congress Control Number: 2020936364 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Dank Die vorliegende Studie wurde im Mai 2018 an der Yale University als Dissertation angenommen. Für die Publikation wurde der Text überarbeitet. Sehr herzlich danken möchte ich Prof. Dr. Rüdiger Campe für seine umsichtige und geduldige Anleitung, die mir die Freiräume eröffnet hat, um meine Ideen zu entwickeln, und zugleich den nötigen Halt geboten hat in Zeiten der Orientierungslosigkeit. Ohne Prof. Dr. Eva Geulens unverzichtbare Begleitung, ihren steten Rat und ihr unerschütterliches Vertrauen wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ihre Feinfühligkeit im Umgang mit Texten, ihr theoretischer Scharfsinn und ihre Großherzigkeit werden mir, weit über die Arbeit an der Dissertation hinaus, ein Vorbild sein. Prof. Dr. Kirk Wetters unermüdliche Beratung hat mich in allen Phasen der Promotion verlässlich unterstützt. Ihnen allen möchte ich dafür danken, dass sie es mir ermöglicht haben, meine eigene Stimme zu finden. Dr. Helmut Hühn, meinem Leser für die längste Zeit, möchte ich danken für seine immer klugen und sorgfältigen Lektüren. Schließlich gilt mein Dank den Kolleginnen und Kollegen am Yale German Department und am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, die dafür gesorgt haben, dass die Zeit der Arbeit an der Dissertation nicht nur eine lehrreiche, sondern auch eine vergnügliche war.
https://doi.org/10.1515/9783110693119-001
Inhalt Einleitung
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Ursprünge 21
Ursprünge
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Eisbahn und Quelle. Klopstocks doppelte Poetik des Versmaßes 26 Klopstocks Metriktheorie 27 35 Die Quellmetapher. Ursprung der deutschen Versform Eislauf als poetologische Metapher 40 46 „Von der Tücke des verborgenen warmen Quells“
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„Wie wenn am Feiertage …“. Hölderlins Projekt eines individuellen Metrums 53 „Wie wenn am Feiertage …“ 55 „Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist …“. Durchgängiger Zusammenhang und poetische Individualität 66 71 Pindar-Fragmente: „Vom Delphin“
Rhythmus zwischen Poesie und Prosa
Rhythmus zwischen Poesie und Prosa
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„Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis 86 89 Antike Metrik: Das Prinzip „des plastischen Isolirens“ Frühe Lyrik: Auseinandersetzung mit antiken Metren 98 Hymnen an die Nacht: Auflösung des ‚plastischen Rhythmus‘ 101 Plastisches Metrum und prosaischer Reim im „Astralis“Gedicht 107
..
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81
Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck Polyrhythmik 117
113
VIII
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Inhalt
Dialogizität 121 Dissonanz 127 Versmaß und ‚Stimmung‘
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Moderne Metrik 141
Moderne Metrik
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„Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II Goethe und die antike Metrik 148 Ironische Adaption überlieferter Metren im Faust II Metrische ‚Querverweise‘ 156 Metrische Enzyklopädie und ‚bewegliche Ordnung‘
.
„[E]ine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“. Friedrich Nietzsche und der Metrikdiskurs des neunzehnten 171 Jahrhunderts Takt um 1800 171 183 Takt in der Metrik des zwanzigsten Jahrhunderts 186 Nietzsches Takt: Die Historizität des Rhythmus 191 Nietzsches Takt: Entdifferenzierung Nietzsches Takt: Agogik 196
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200 Literaturverzeichnis Siglen 200 Quellen 200 Forschungsliteratur Personenregister
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Einleitung Im Abschnitt zum „Ursprung der Poesie“ aus der Fröhlichen Wissenschaft stellt Friedrich Nietzsche die beliebige Funktionalisierbarkeit von rhythmischen Versformen fest. Seit der Antike seien dem Rhythmus alle möglichen Kräfte zugeschrieben worden. Im Ganzen gesehen und gefragt: gab es für die alte abergläubische Art des Menschen überhaupt etwas Nützlicheres, als den Rhythmus? Mit ihm konnte man Alles: eine Arbeit magisch fördern; einen Gott nöthigen, zu erscheinen, nahe zu sein, zuzuhören; die Zukunft sich nach seinem Willen zurecht machen; die eigene Seele von irgend einem Uebermaasse (der Angst, der Manie, des Mitleids, der Rachsucht) entladen, und nicht nur die eigene Seele, sondern die des bösesten Dämons, – ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott.¹
Nietzsche verspottet hier einen Aberglauben, der dem Versrhythmus die unterschiedlichsten Vermögen zuspricht: die magische Verrichtung von Arbeit, die Beherrschung der Götter, die Macht über die Zukunft oder die kathartische Reinigung von leidigen Affekten – die rhythmische Versform verheißt die bedingungslose Selbstermächtigung des Menschen. Dieser ‚Rhythmus-Fetischismus‘ gelte nicht allein für „die alte abergläubische Art des Menschen“, er betreffe ebenso die Zeitgenossen: „[N]och jetzt […] wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus“. Nietzsche fährt fort: Ein solches Grundgefühl lässt sich nicht mehr völlig ausrotten, – und noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt.²
Diese Studie setzt bei Nietzsches Kritik des Versrhythmus an: Sie untersucht, wie Metrum und Rhythmus in Dichtung und Poetologie um 1800 ästhetisch funktionalisiert wurden. Von Nietzsches Kritik unterscheidet sie sich durch ihre Stoßrichtung. Ziel ist nicht die „Bekämpfung solchen Aberglaubens“, sondern die Erarbeitung von Konzepten des poetischen Rhythmus, die unsere Lektüren von rhythmisierten Texten bis heute prägen. Anders gesagt: metrische und rhythmi-
Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde., hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980 (im Folgenden KSA), Bd. 3, S. 442. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft. In: KSA 3, S. 442. https://doi.org/10.1515/9783110693119-002
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Einleitung
sche Formen sollen hier aus der Sicht des „Narren des Rhythmus“ betrachtet werden, um ihre Verwendung und Bedeutung in der modernen Literatur neu in den Blick zu nehmen. Dabei werden die Funktionen und Formkonzepte, die im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert mit Rhythmus und Metrum verknüpft sind, nicht entlarvt und überwunden, sondern als Grundlage moderner Literatur und Literaturwissenschaft sichtbar gemacht. Eine Untersuchung der rhythmischen und metrischen Formen in der Literatur um 1800 erlaubt nicht allein eine Reflexion auf gängige Rhythmuskonzepte der Literaturwissenschaft, sie lässt auch unbeachtete Genealogien von poetischer Form in der Moderne hervortreten. Die Vorstellung vom rhythmischen Vers als einem autonomen Wortkörper beispielsweise, wie man sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Norbert von Hellingraths Hölderlin-Studien und seiner Adaption der ‚harten Fügung‘ des Dionysios von Halikarnassos entwickelt findet, hängt eng zusammen mit einem modernistischen Verständnis von Form als ‚Widerstand‘ und ‚Grenzziehung‘.³ Sie lässt sich im Rhythmus-Diskurs um 1800 nicht nur auf Hölderlin oder auf Klopstock zurückführen, sondern auch auf die Texte von Novalis, in denen Metren als ‚plastisch‘ konzipiert werden.⁴ Das ist im zeitgenössischen Kontext insofern überraschend, als sich das ‚Plastische‘ im achtzehnten Jahrhundert zunächst als zentrale Kategorie einer klassizistischen Ästhetik etabliert, von Novalis aber mit der romantischen Musikästhetik enggeführt wird.⁵ Damit wird nicht allein die
Den Bezug zwischen Hellingraths ‚harter Wortfügung‘ und dem russischen Formalismus arbeitet Jürgen Brokoff heraus. Vgl. Jürgen Brokoff, Norbert von Hellingraths Ästhetik der harten Wortfügung und die Kunsttheorie der europäischen Avantgarde. In: Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne, hg. von Jürgen Brokoff, Joachim Jacob und Marcel Lepper, Göttingen 2014, S. 59 – 69. Zur historischen Differenzierung verschiedener Formkonzepte und dem modernen „konstruktivistischen Formkonzept“ der „Form als Grenzziehung“ vgl. David E. Wellbery, Form und Idee. Skizze eines Begriffsfelds um 1800. In: Morphologie und Moderne. Goethes ‚anschauliches‘ Denken in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800, hg. von Jonas Maatsch, Berlin 2014, S. 17– 42, hier: S. 19. In den aktuellen Rhythmus-Diskurs hat die Idee einer dem Rhythmus eigenen Körperlichkeit auch Eingang gefunden unter dem Schlagwort ‚embodiment‘.Vgl. hierzu Isobel Armstrong, Meter and Meaning. In: Meter Matters.Verse Cultures of the Long Nineteenth Century, hg. von Jason David Hall, Athens, OH 2011, S. 26 – 52, insbesondere S. 27– 34. Vgl. zu Klopstock als dem Wegbereiter einer „Ästhetik des zu überwindenden Widerstands“ Winfried Menninghaus, Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“. In: Friedrich Gottlieb Klopstock, Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, hg. von Winfried Menninghaus, Frankfurt a. M. 1989, S. 259 – 361, hier: S. 262 und 274. Einen Überblick über die Bedeutungen des ‚Plastischen‘ in der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts bietet Christina Dongowski, [Art.] Plastisch. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/Weimar 2000 – 2005, Bd. 4, S. 814– 832, hier: S. 818 – 827.
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Verbindung von ‚Plastik‘ im Sinne der massiven Materialität des bildhauerischen Kunstwerks und ‚Plastizität‘ als der potenziellen Formbarkeit eines Stoffes im Begriff des ‚Plastischen‘ hergestellt, sondern auch das Plastische aus seiner geschichtsphilosophischen Verortung in der antiken Kunst gelöst und als Kategorie der modernen Ästhetik reformuliert. Novalis’ Verständnis der metrischen Form als einer plastischen wird so als Vorläufer von Rhythmuskonzepten der modernen Avantgarde erkennbar. Deutlich zeigt sich an diesem hier nur kurz umrissenen Beispiel (s. dazu auch Kapitel 2.1), dass es bei der Themenstellung ‚Rhythmus um 1800‘ auch um das Formdenken in der Moderne geht. Es zeichnet sich außerdem die Überkreuzung verschiedener zeitgenössischer Diskurse in der RhythmusFrage ab, deren Knotenpunkte im Folgenden skizziert seien. Dazu gehört einmal die im Wandel begriffene Wahrnehmung von Zeit, die am Rhythmus als Darstellungsform verhandelt wird. Reinhart Koselleck hat die Entstehung einer als unbestimmbar begriffenen Zukunft um 1800 herausgearbeitet und Hans Ulrich Gumbrecht hat argumentiert, dass sich im beginnenden neunzehnten Jahrhundert ein „Verlangen nach Präsenz“ entwickelt als Reaktion auf die Krise der Repräsentation.⁶ Die Konstitution von Zeitlichkeiten durch ihre Darstellungsformen, gerade auch um 1800, ist in jüngerer Zeit im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Ästhetische Eigenzeiten“ untersucht worden.⁷ Gerade am poetischen Rhythmus um 1800 wird die Pluralisierung von Zeitlichkeitskonzepten in einer „polychronen Moderne“⁸ sichtbar. Ein weiterer Hintergrund des Rhythmus-Diskurses, eng verknüpft mit der Zeitfrage, ist die Philosophie des frühen Idealismus und ihre Rezeption in der Jenaer Romantik.⁹ Bereits Vgl. Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizonte‘ – zwei historische Kategorien. In: Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, S. 349 – 377; Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000 sowie Hans Ulrich Gumbrecht, Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt a. M. 2003, S. 18. Vgl. Michael Gamper, Helmut Hühn, Einleitung. In: Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, hg. von Michael Gamper und Helmut Hühn, Hannover 2014, S. 7– 23, hier: S. 11– 18. Zum Zusammenhang von Zeittheorie, Ästhetik und Rhythmus vgl. außerdem den Sammelband Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, hg. von Patrick Primavesi und Simone Mahrenholz, Schliengen 2005. Vgl. Michael Gamper, Helmut Hühn, Was sind ästhetische Eigenzeiten?, Hannover 2014, S. 21. Beispielhaft – vor allem auch im Hinblick auf metrische Fragen – erarbeitet von Manfred Frank, Das Problem „Zeit“ in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, Paderborn u. a. 1990.Vgl. außerdem Winfried Menninghaus, Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt a. M. 1987, S. 9 – 29: Menninghaus setzt reflexive Bewegungen der idealistischen Philosophie in Beziehung zu unterschiedlichen Formen des Parallelismus in der Poesie.
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für Johann Gottlieb Fichte und dann insbesondere für Novalis in seinen FichteLektüren ist es der Rhythmus, der – als Figur der „Wechselbestimmung“ – eine Vermittlung von Ich und Nicht-Ich denkbar macht.¹⁰ Friedrich Hölderlin setzt sich in seinen philosophischen und poetischen Texten ebenfalls mit der idealistischen Philosophie auseinander und fragt dabei nach der Möglichkeit der Konstitution von dichterischer Individualität aus einem gegebenen metrischen Zusammenhang heraus. Bewegung spielt nicht nur als Denkfigur in der zeitgenössischen Philosophie eine Rolle, sie entwickelt sich auch zu einer zentralen Kategorie des ästhetischen Diskurses. Dies geschieht im Rahmen einer Ästhetik des ‚Lebendigen‘, genauer: der „Verschränkung des Beweglichen mit dem Lebendigen“¹¹, die Gegenstand von Dirk Oschmanns Studie Bewegliche Dichtung ist. Die Darstellung von Bewegung durch Rhythmus wird etwa in der Poetologie Friedrich Gottlieb Klopstocks verhandelt, der mit der metrischen Fixierung von (Körper‐)Bewegungen experimentiert, oder, auf andere Weise, in Goethes Faust II, wo anhand der Komposition einer Vielfalt von Metren die Möglichkeit einer ‚beweglichen Ordnung‘ durchgespielt wird. Mit dem Stichwort ‚Bewegung‘ – im Sinne der Mobilität von poetischen Formen zwischen Einzelsprachen – hängen außerdem zahlreiche Übersetzungsprojekte zusammen, durch die der Gebrauch von Rhythmus und Metrum in deutschsprachiger Dichtung überhaupt erst problematisch wurde.¹² Ein Auslöser der Diskussion über die moderne deutsche Metrik war Friedrich Gottlieb Klopstocks Adaption des antiken Hexameters in seinem christlichen Epos Der Messias und seine anschließende Verteidigung des Versmaßes als eines genuin ‚deutschen Hexameters‘. Dass die Arbeit an Metriken, die um 1800 floriert, dabei auch an kulturpolitische Motivationen geknüpft war, hat Remigius Bunia dargelegt.¹³ Rhythmus wird zu dieser Zeit zu einem Übersetzungsproblem nicht nur zwischen Nationalsprachen, sondern auch zwischen verschiedenen Formen der Kunst. In Rhythmusfragen treffen sich Musik und Literatur, zwei Kunstfelder, die Vgl. Barbara Naumann, „Musikalisches Ideen-Instrument“. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik, Stuttgart 1990, S. 158 – 216. Dirk Oschmann, Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist, München 2007, S. 8. Vgl. dazu Friedmar Apel, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Stuttgart 1983, S. 9 – 25. Vgl. Remigius Bunia, Metrik und Kulturpolitik. Opitz, Klopstock, Bürger, Berlin 2014, S. 12– 15. Beispiele für viel diskutierte Metriken der Zeit sind Karl Philipp Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie, Berlin 1786; Gottfried Hermann, Handbuch der Metrik, Leipzig 1799; Johann Heinrich Voß, Zeitmessung der deutschen Sprache. Beilage zu den Oden und Elegieen, Königsberg 1802 und August Apel, Metrik, Leipzig 1814. S. dazu auch Kapitel 3.2.
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sich in ihrer modernen Auffassung am Ende des achtzehnten Jahrhunderts in gegenseitiger Bezugnahme aufeinander konstituierten. Das haben Barbara Naumann und Christine Lubkoll in ihren einschlägigen Arbeiten zum ‚Musikalischen‘ um 1800 gezeigt.¹⁴ Zwischen Musik und Poesie wird zu dieser Zeit die Gattung der Lyrik verortet, die sich in ihrem modernen Verständnis als musikalische Sprachform für subjektiven Ausdruck herausbildet. Eine Untersuchung von Ludwig Tiecks Versifikation wird dabei die Komplexität einer als ‚musikalisch‘ begriffenen Lyrik aufzeigen, denn Tieck setzt Versmaße zur gezielten Produktion von Dissonanz ein. Diese Knotenpunkte des poetologischen Diskurses zum Versmaß im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert werden in der folgenden Untersuchung von rhythmischen und metrischen Formen in der Literatur zueinander in Beziehung gesetzt. In diesem Vorhaben schließt die Arbeit an Clémence Couturier-Heinrichs Studie Aux origines de la poésie allemande. Les théories du rythme des Lumières au Romantisme (2004) an, die eine Analyse des Diskurses zum Versrhythmus zwischen 1760 und 1820 unternimmt. Couturier-Heinrich hat ihre Darstellung in zwei Rhythmuskonzeptionen – anthropologisch und historisierend – und zwei Felder – Philologie und Ästhetik – gegliedert.¹⁵ Diese Einteilung soll hier vervielfältigt und ergänzt werden, auch durch eine genauere terminologische und kontextuelle Differenzierung zwischen ‚Rhythmus‘, ‚Metrum‘ und ‚Takt‘. Einen umfassenden kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Ansatz zur Betrachtung des Diskursfeldes ‚Rhythmus’ hat außerdem Janina Wellmann in ihrer Studie Die Form des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie 1760 – 1830 (2010) vorgelegt. Wellmann zeigt, dass es sich beim Rhythmus um ein epistemisches Dispositiv handelt, das die entstehende Lebenswissenschaft mit der modernen Literatur, die Ikonographie mit der Philosophie verbindet.¹⁶ Die Studien von Clémence Couturier-Heinrich und Janina Wellmann bilden zentrale Ansatzpunkte für die folgende Untersuchung. Sie knüpft daran an nicht durch eine weitere Diskursanalyse und auch nicht durch einen breiten interdisziplinären Zugriff, den insbesondere Janina Wellmanns Arbeit sowie eine Reihe von Sammelbänden zu Rhythmus als einem interdisziplinären Schwellenbegriff
Vgl. Naumann, „Musikalisches Ideen-Instrument“ sowie Christine Lubkoll, Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg i.Br. 1995. Wichtige Impulse für Naumann und Lubkoll bietet Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, 3. Aufl., Kassel 1994. Clémence Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande. Les théories du rythme des Lumières au Romantisme, Paris 2004, S. 31– 33. Vgl. Janina Wellmann, Die Form des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie 1760 – 1830, Göttingen 2010, S. 12.
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produktiv machen.¹⁷ Stattdessen wird hier der Versuch unternommen, ausgehend von den literarischen Texten selbst das diskursive Geflecht des Rhythmus sichtbar zu machen. Die spezifischen Konfigurationen von Metrum und Rhythmus sollen nicht in erster Linie aus ihrer theoretischen Reflexion, sondern aus den rhythmisch und metrisch verfassten Texten erschlossen werden. Damit treten zum einen die verschiedenen Konzepte von Rhythmus und Metrum in ihrer Heterogenität hervor, die bei einer poetologischen Diskursanalyse übersehen werden kann. Zum anderen wird ersichtlich, dass der poetologische Diskurs wesentlich durch die Experimente mit dem Versmaß und durch das dem Versmaß eigene Theoriepotenzial geprägt wird. In diesem Anliegen profitiert die Untersuchung von Studien, die in den vergangenen Jahren vor allem im angloamerikanischen Raum im Bereich der „Historical Poetics“ unternommen worden sind und die den historischen Wandel von literarischen Gattungen und deren kulturelle Spezifizität herausgestellt haben.¹⁸ Yopie Prins hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „metrical imaginaries“¹⁹ geprägt, der auch den Gegenstandsbereich dieser Arbeit umreißt: Untersucht werden im Folgenden die Vorstellungen und Fiktionen, mit denen Rhythmus und Metrum um 1800, also zu einer Zeit, in der sich das moderne Verständnis von Literatur wesentlich konstituierte, belegt wurden. Zu den „metrical imaginaries“ in englischsprachiger Prosodik und Metrik sind in der anglistischen und amerikanistischen Forschung in jüngerer Zeit eine Reihe von grundlegenden Publikationen erschienen. Neben den wegweisenden Arbeiten von Yopie Prins ist
Der interdisziplinäre Brückenschlag durch den Rhythmus ist – aus unterschiedlichen Perspektiven – Gegenstand folgender Sammelbände: Zu Rhythmus als intermedialem Phänomen seit 1800 vgl. Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften, hg. von Barbara Naumann, Würzburg 2005 sowie: Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, hg. von Christa Brüstle, Nadia Ghattas, Clemens Risi und Sabine Schouten, Bielefeld 2005; aus medienwissenschaftlicher Perspektive: Takt und Frequenz (Archiv für Mediengeschichte 11), hg. von Friedrich Balke, Bernhard Siegert und Joseph Vogl, München 2011; zum Takt-Begriff aus interdisziplinärer Sicht: Takt und Taktlosigkeit. Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie, hg. von Günter Gödde und Jörg Zirfas, Bielefeld 2012; zu Rhythmus zwischen Musik und Bild: Rhythmus – Balance – Metrum. Formen raumzeitlicher Organisation in den Künsten, hg. von Christian Grüny und Matteo Nanni, Bielefeld 2014; zu einer kultursoziologischen Perspektive: Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel, hg. von Inge Baxmann, Paderborn/ München 2009 sowie Im Rhythmus. Entwürfe alternativer Arbeitsweisen von 1900 bis in die Gegenwart, hg. von Christoph Büttner und Carolin Piotrowski, Paderborn 2018. Vgl. Yopie Prins, Historical Poetics, Dysprosody, and the „Science of the English Verse“. In: PMLA 123/1 (2008), S. 229 – 234. Vgl. Yopie Prins, Metrical Translation. Nineteenth-Century Homers and the Hexameter Mania. In: Nation, Language, and the Ethics of Translation, hg. von Sandra Bermann und Michael Wood, Princeton/Oxford 2005, S. 229 – 256, hier: S. 230.
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vor allem Meredith Martins Buch The Rise and Fall of Meter: Poetry and English National Culture, 1860 – 1930 (2012) hervorzuheben, das die Ordnungsfantasien herausarbeitet, die die englischsprachige Metrik im neunzehnten Jahrhundert mit dem Aufstieg nationalistischer Ideologien und disziplinarischer Methoden in der Pädagogik verbinden.²⁰ Martins Einsicht, dass es sich beim Metrum mitnichten um eine stabile, gewissermaßen ahistorische, sondern ganz wesentlich um eine dynamische Kategorie handelt, die dem kulturellen Wandel unterworfen ist, liegt auch dieser Studie zugrunde.²¹ Ähnliches zeigt Remigius Bunia aus komparatistischer Sicht und in diachroner Perspektive in seiner Veröffentlichung Metrik und Kulturpolitik (2014), die die kulturpolitische Motivation von Metriken nicht nur im Deutschen, sondern auch im Französischen und Lateinischen in den Blick nimmt. Mit einem medienwissenschaftlichen Ansatz hat Jason David Hall den Zusammenhang zwischen englischsprachiger Metrik und der Industrialisierung im neunzehnten Jahrhundert untersucht; Jason Rudy hat den Bezug zwischen Metrik und einer physiologisch begründeten Poetik im Viktorianischen Zeitalter herausgestellt.²² Im Unterschied zu den genannten Arbeiten geht es im Folgenden nicht vorrangig um nationalistische und disziplinarische Ordnungsideologien, Kulturpolitik oder Technologisierung, sondern um die Frage, welche Vorstellungen von literarischer Form aus den Experimenten mit Rhythmus und Metrum im späten achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhundert hervorgehen – eine Frage, die freilich von den politischen oder technologischen Implikationen der Versform nicht einfach zu trennen ist.²³ Ziel ist dabei keine Typologie des poetischen Rhythmus, wie man sie etwa aus Wolfgang Kaysers Kleiner deutscher Versschule kennt, sondern die exemplarische Analyse von Konzepten und Verwendungsweisen des Rhythmus am Beispiel von Fallstudien zeitgenössischer
Zur historischen Kontextualisierung des Metrik-Diskurses im neunzehnten Jahrhundert vgl. außerdem: Meter Matters: Verse Cultures of the Long Nineteenth Century, hg. von Jason David Hall, Athens, OH 2011. Vgl. Meredith Martin, The Rise and Fall of Meter. Poetry and English National Culture, 1860 – 1930, Princeton, NJ 2012, S. 1: „The Rise and Fall of Meter questions our assumptions that ‚English meter‘ was and is a stable category.“ Sowie S. 4: „The result is a conception of meter that stands for a host of evolving cultural concerns, including class mobility, imperialism, masculinity, labor, education, the role of classical and philological institutions, freedom, patriotism, national identification, and high art versus low art.“ Vgl. Jason David Hall, Nineteenth-Century Verse and Technology. Machines of Meter, Cham 2017, sowie Jason Rudy, Electric Meters. Victorian Physiological Poetics, Athens, OH 2009. Vgl. zur „politics of prosody“ etwa Caroline Levine, Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton, NJ 2015, S. 73 – 81.
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Autoren.²⁴ Gerahmt werden diese Fallstudien von drei grundlegenden Themenkomplexen, anhand derer sich die Diskussion des poetischen Rhythmus um 1800 strukturieren lässt. In der Moderne wird der Rhythmus zu einer Figur des sich dem menschlichen Blick entziehenden Ursprungs – man denke etwa an die ‚Rhythmik des Ursprungs‘ in Walter Benjamins Trauerspiel-Buch.²⁵ Verbunden wird der Rhythmus mit der Idee eines unverfügbaren Ursprungs in der Literatur um 1800 in zahlreichen Versuchen, das Gesetz poetischer Form zu bestimmen. Was liegt dem Rhythmus zugrunde und auf welche Regeln lässt er sich zurückführen? Am folgenreichsten für die Literaturwissenschaft ist vermutlich die Semantisierungs-Prämisse gewesen, d. h. die Begründung und Erklärung von Versmaßen durch eine ihnen zugrundeliegende Bedeutung, die im späten achtzehnten Jahrhundert von Friedrich Gottlieb Klopstock und Karl Philipp Moritz formuliert wurde.²⁶ Dass die semantische Begründung zu dieser Zeit in Konflikt mit anderen Ursprungssze-
Wolfgang Kayser arbeitet in seiner Kleinen deutschen Versschule vier verschiedene Rhythmustypen heraus: den „fließenden“, den „bauenden“, den „gestauten“ und den „strömenden“ Rhythmus. Vgl. Kayser, Kleine deutsche Versschule, 7. Aufl., Bern/München 1960, S. 111– 119. Eine interessante Alternative zu Kaysers Typologisierung stellt die von Isobel Armstrong vorgeschlagene Typologie metrischer Bedeutungsweisen dar. Amstrong unterscheidet zwischen „Meter as Empty Container“, „Meter as Equivalence or Correspondence“, „Noncorrespondence“ und „Polyrhythmia“. Vgl. Armstrong, Meter and Meaning, S. 27– 31. Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.1, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1978, S. 203 – 430, hier: S. 226: „Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein. Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprüngliche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik offen. Sie will als Restauration, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein.“ Auf die Semantisierung des Rhythmus reagieren im zwanzigsten Jahrhundert Ansätze, die Rhythmus als eine Alternative zum Paradigma der Repräsentation auffassen. Vgl. etwa Hans Ulrich Gumbrecht, Rhythmus und Sinn. In: Materialität der Kommunikation, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1988, S. 714– 729, hier: S. 715: „Deshalb vollzieht sich – etwas pauschal formuliert – die Integration von Phänomenen ohne primäre Repräsentations-Dimension (wie jenen des Rhythmus) in die kulturelle Selbstreferenz über den Versuch, ihnen eine Repräsentations-Funktion zuzuschreiben. […] Ich möchte zeigen, daß es eine konstitutive Spannung zwischen den Phänomenen des ‚Rhythmus‘ und der Dimension des ‚Sinns‘ gibt […].“ Vgl. auch Henri Meschonnics Critique du rythme, die den Rhythmus als eine alternative Weise der Bedeutungsstiftung im Vergleich zum semiotischen Denken entwirft: Meschonnic, Critique du rythme. Anthropologie historique du langage, Paris 1982, S. 72: „Le rythme fait une antisémiotique. Il montre que le poème n’est pas fait de signes, bien que linguistiquement il ne soit composé de signes. Le poème passe à travers les signes. C’est pourquoi la critique du rythme est une anti-sémiotique.“
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narien des Rhythmus gerät, wird nirgends deutlicher als in Klopstocks lebenslanger Arbeit an metrischen Versformen. Klopstock stellt seine Metrik nicht allein auf eine semantische Grundlage, sondern führt sie ebenso auf rhetorische, anthropologische und mythische Ursprünge zurück. Diese Vervielfältigung der Ursprünge der Versform untergräbt das Vorhaben, das Versmaß auf ein verbindliches Gesetz zu verpflichten. Bei Hölderlin stellt sich die Frage nach dem Ursprung des Rhythmus auf andere Weise: Wie kann der moderne Dichter einen Text metrisch gestalten, d. h. einen durchgängigen formalen Zusammenhang produzieren, wenn das Gesetz des Metrums dem menschlichen Zugriff grundsätzlich entzogen ist? Die Unverfügbarkeit des metrischen Gesetzes als Grundbedingung moderner Dichtung stellt ein zentrales Problem von Hölderlins poetologischen Überlegungen zu Dichtung als einer Form der Mitteilung von Individualität dar. In Hölderlins Pindar-Fragmenten deutet sich ein weiterer Themenkomplex des literarischen Rhythmus-Diskurses um 1800 an, der insbesondere von den Frühromantikern ausführlich verhandelt wird: das Verhältnis von poetischem zu prosaischem Rhythmus. Eine Ausgangsfrage ist dabei, ob sich die Metren der traditionellen Poetik mit der modernen Prosa vermitteln ließen, anders gesagt: inwieweit ‚die Lehre vom epischen Rhythmus Anwendung auf den Roman leide‘²⁷, wie August Wilhelm Schlegel in seiner Rezension von Goethes Versepos Hermann und Dorothea (1797) spekuliert. Rhythmus fungiert um 1800 als eine Schwelle innerhalb des im Wandel begriffenen Gattungsgefüges; anhand des Rhythmus wird die Relation von Poesie und Prosa in der modernen Literatur erörtert.²⁸ Die folgende Untersuchung geht zwar vielfach vom lyrischen Vers aus, der in dieser Zeit zum Schauplatz zahlreicher Experimente mit Rhythmus und Metrum wird, und der vom dramatischen Vers und dessen Entwicklungen zur selben Zeit zu unterscheiden ist. Dennoch tritt Rhythmus, auch in seiner gattungsspezifischen Einbindung in lyrische Texte, vor allem als eine transgenerische Form hervor, von der aus sich die Verschiebungen im literarischen Gattungsgefüge der Zeit in den Blick fassen lassen. Novalis artikuliert, in seiner Korrespondenz mit August Wilhelm Schlegel, die Differenz zwischen poetischem und prosaischem Rhythmus und zugleich den Versuch ihrer Überwindung. In Ludwig Tiecks Gedichten mit ihren gebrochenen und dissonanten Metren wiederum deutet sich die Möglichkeit an, Rhythmus in der modernen Literatur jenseits der Dichotomie von poetischem Versmaß und prosaischer Dissolution zu begreifen. Wenn in dieser Arbeit vom ‚poetischen Rhythmus‘ die Rede ist, dann nicht im Sinne einer Affirmation der Vgl. August Wilhelm Schlegel, Hermann und Dorothea. In: Schlegel, Kritische Schriften, hg. von Emil Staiger, Zürich 1962, S. 221– 252, hier: S. 251. Vgl. dazu Ralf Simon, Die Idee der Prosa. Zur Ästhetikgeschichte von Baumgarten bis Hegel mit einem Schwerpunkt bei Jean Paul, München 2013, insbesondere S. 204 f.
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Poesie gegenüber der Prosa qua Rhythmus, sondern in dem Bewusstsein, dass in der Diskussion des Rhythmus die Gegenüberstellung von ‚Poesie‘ und ‚Prosa‘ überhaupt erst an Kontur gewinnt und durch die Übertragung von rhythmischen Formen zwischen Poesie und Prosa zugleich unterlaufen wird. Entsprechend setzt sich das Textkorpus teils aus versifizierten Texten zusammen, teils aus Texten, die an der Grenze der Versifikation liegen, aber dennoch eine rhythmische Bindung aufweisen. Die Reflexion der Opposition vom gebundenen Rhythmus der Poesie und dem ungebundenen Rhythmus der Prosa eröffnet die Perspektive auf einen weiteren Themenkomplex, der nach der Bedeutung der Metrik für die moderne Literatur fragt. Sichtbar wird mit dem Rhythmus als einer transgenerischen Form nicht nur die rhythmische Bindung der Prosa, sondern auch die prosaische Beschaffenheit der modernen Metrik. Die Entwürfe einer modernen Metrik, die um 1800 aus den Experimenten mit dem poetischen Rhythmus hervorgehen, sollen in einem dritten Themenkomplex beleuchtet werden, dessen Anliegen es ist, ein alternatives Verständnis von metrischen Formen in der Moderne zu entwickeln, das diese, anstatt als „todte Form“ (Goethe) oder als ‚unrettbare Trümmer‘ (Adorno), in ihrer literarischen Produktivität begreift.²⁹ Yopie Prins hat die Adaptionen des Hexameters in der englischsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts als eine Art der Geisterbeschwörung beschrieben: Der Versuch einer Wiederbelebung der antiken Versmaße erwecke metrische Geister, die fortan die moderne Literatur heimsuchten.³⁰ Stellt man die Konzeption des Metrums in der Moderne als einer ‚toten Form‘ aber infrage, rücken Auffassungen und Verwendungen jenseits einer spektralen Existenz in den Blick. Das hat Konsequenzen für ein literaturgeschichtliches Narrativ, wonach die Erfindung des freien Verses – im deutschsprachigen Kontext durch Klopstock³¹ – eine Emanzipation des Rhythmus von
Vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Adorno, Gesammelte Schriften, 20 Bde., hg. von Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt a. M. 1973 – 1986, Bd. 4, S. 250 f.: „In den freien Rhythmen werden die Trümmer der kunstvoll-reimlosen antiken Strophen beredt. Fremd ragen diese in die neuen Sprachen hinein und taugen kraft solcher Fremdheit zum Ausdruck dessen, was in Mitteilung sich nicht erschöpft. Aber unrettbar geben sie der Flut der Sprachen nach, in denen sie aufgerichtet waren. Brüchig nur, mitten im Reich der Kommunikation und durch keine Willkür von diesem zu scheiden, bedeuten sie Distanz und Stilisierung, inkognito gleichsam und privilegienlos, bis in solcher Lyrik wie der Trakls die Wellen des Traums über den hilflosen Versen zusammenschlagen.“ Vgl. Prins, Metrical Translation, S. 252: „Nevertheless if we linger long enough in this dead end of Victorian prosody, we might see how the pursuit of a phantom—the revival of Homeric hexameter as an empty form—haunts modernity.“ Vgl. Katrin Kohl, Rhetoric, the Bible, and the Origins of Free Verse. The Early „Hymns“ of Friedrich Gottlieb Klopstock, Berlin/New York 1990.
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verbindlichen metrischen Formen in der modernen Literatur bewirkt und das hier relativiert werden soll.³² Die Lösung rhythmischer Formen von der antiken Metrik in der Moderne wird nicht bestritten, steht aber nicht im Fokus des Teilkomplexes zur ‚modernen Metrik‘. Denn die literarischen Experimente mit dem Vers um 1800 zeugen nicht allein von der Emanzipation des Rhythmus vom metrischen Gesetz, die die Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt hat, sondern ebenso von Versuchen einer Re-Konzeption der Metrik für die Moderne. Deutlich wird das etwa an Goethes Faust II, dessen enzyklopädische Verarbeitung metrischer Muster zur Grundlage einer ‚beweglichen Ordnung‘, eines sekundären Rhythmus, dient. Eine Neufassung ‚moderner Metrik‘ stellt außerdem die Adaption des musikalischen Takt-Begriffs für die Versifizierung dar, die ihre Anfänge im achtzehnten Jahrhundert nimmt. Der Rhythmus-Diskurs um 1800 und Nietzsches späterer Rückgriff darauf, der im Schlusskapitel behandelt wird, bieten Ansätze für einen Takt-Begriff, der nicht auf dem bekannten modernistischen Dualismus von Metrum/Takt vs. Rhythmus aufbaut. Die drei Themenkomplexe – Ursprünge, Rhythmus zwischen Poesie und Prosa und Moderne Metrik – dienen der konzeptuellen Rahmung der Einzelanalysen. Dabei können die jeweiligen Kapitel auch als Autorstudien gelesen werden. Die Analyse von Klopstocks Eislaufgedichten knüpft an bestehende Interpretationen wie die von Winfried Menninghaus an, der die Emanzipation der poetischen Bewegung von ihrem rhetorischen Bezugsrahmen bei Klopstock herausgearbeitet hat. An Klopstocks Behandlung der Eislaufmetapher wird die latente Bedrohung der „Wortbewegung“ durch den doppelten Ursprung von Klopstocks metrischer Theorie aufgezeigt (Kapitel 1.1).³³ Hölderlins Adaption antiker Metren ist im Zusammenhang seiner Formulierung der Aufgabe des Dichters in der Moderne, insbesondere seiner Konzeption von „poëtische[r] Individualität“, zu verstehen (Kapitel 1.2). Novalis verbindet mit Hölderlin die Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie, die auch am Rhythmus erörtert wird. Diese Problematik fasst Novalis als eine zeitliche auf und differenziert dabei zwischen verschiedenen Formen von Zeitlichkeit: Die Metren der Antike gelten ihm als ‚plastische‘ Träger einer präsentischen Gegenwart, der moderne Prosarhythmus im Unterschied dazu bewirke eine ‚auflösende Gegenwart‘, in der die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgehoben würden (Kapitel 2.1). An Tiecks versifizierten Texten zeigt sich, dass auch im Zusammenhang der romantischen Lyriktheorie und ihrer Privilegierung des Reims das metrische Versmaß weiterhin
Vgl. Timothy Steele, Missing Measures. Modern Poetry and the Revolt Against Meter, Fayetteville, AR 1990. Vgl. Menninghaus, Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 312.
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eine Rolle spielt. Tiecks dissonante Handhabung des Metrums gerät in Konflikt mit der romantischen Vorstellung einer hermetischen Abdichtung der Form im lyrischen Gedicht und erlaubt so eine Revision des Begriffs der ‚Stimmungslyrik‘ in seiner Bedeutung für Tieck (Kapitel 2.2). Goethes lebenslange Beschäftigung mit Versformen unterschiedlichster Provenienz kulminiert im Faust II, wo Versmaße auf eine Weise zusammengestellt werden, die die – im Faust I angedeutete – Einheit von Form und ‚Gehalt‘ unterwandert und stattdessen einen Pluralismus der Formkonzepte zutage treten lässt (Kapitel 3.1). Der historische Bogen der Untersuchung setzt also bei Klopstock an und endet mit Goethe und Tieck sowie einem Ausblick auf Nietzsches Rezeption des Rhythmus-Diskurses um 1800 (Kapitel 3.2). Da das Augenmerk der jeweiligen Funktionalisierung und Verwendung von Metrum, Rhythmus und Takt im Rahmen kontextueller Einzelanalysen gilt, ist eine Neu-Definition der Begriffe mit systematischem Anspruch nicht Anliegen dieser Arbeit. Heuristisch wird, in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht, davon ausgegangen, dass ‚Rhythmus‘ „das Gelingen von Form unter der (erschwerenden) Bedingung von Zeitlichkeit“³⁴ bezeichnet und dass mit ‚Metren‘ „in bestimmten kulturellen Kontexten kanonisierte[] Rhythmen“³⁵ gemeint sind. Der hier verwendete Takt-Begriff benennt eine Form der rhythmischen Isochronie, die in der Moderne anstelle der überlieferten Metren tritt, und weicht von einem geläufigen Verständnis des Begriffs insofern ab, als er sich einer dualistischen Auffassung von Rhythmus vs. Metrum entzieht (s. Kapitel 3.2). Anhand der Einzelstudien soll die ästhetische Funktionalisierung von Rhythmus, Metrum und Takt in ihrem jeweiligen Verhältnis zueinander bestimmt werden, das je nach Text und Kontext zu differenzieren ist. Von Versuchen, Rhythmus und Metrum in einer dialektischen Konstellation zu verankern, wie man sie etwa in Sammelbänden von Jörn Etzold und Moritz Hannemann oder von Christian Grüny und Matteo Nanni findet, wird hier Abstand genommen ebenso wie von einer prinzipiellen Identifizierung der Begriffe, die der Musiktheoretiker Christopher Hasty in seinem Buch Meter as Rhythm (1997) auf der Grundlage prozesstheoretischer Ansätze vorgeschlagen hat.³⁶ Während einzelne Analysen zwar die von Hasty theoretisch
Gumbrecht, Rhythmus und Sinn, S. 717. Gumbrecht, Rhythmus und Sinn, S. 716. Jörn Etzold sieht im Metrum einen „Mittler zwischen dem Takt und dem Rhythmus“. Vgl. Jörn Etzold, Formen des Unbeständigen. Zur Einführung. In: rhythmos. Formen des Unbeständigen nach Hölderlin, hg. von Jörn Etzold und Moritz Hannemann, München 2016, S. 13 – 35, hier: S. 13. Christian Grüny und Matteo Nanni schlagen vor, die „Balance“ als „vermittelnde[n] Begriff zwischen Rhythmus und Metrum“ einzusetzen. Vgl. Christian Grüny, Matteo Nanni, Einleitung. In: Rhythmus – Balance – Metrum. Formen raumzeitlicher Organisation in den Künsten, hg. von
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dargelegte Engführung von Metrum und Rhythmus unterstützen – dabei wäre etwa an Hölderlin zu denken (s. Kapitel 1.2) –, wird auf eine Systematisierung des Begriffsfeldes Rhythmus – Metrum – Takt verzichtet, das stattdessen in seinen je unterschiedlichen Konfigurationen herausgearbeitet werden soll. Zur Orientierung seien die üblichen Konnotationen der Begriffe dennoch kurz umrissen. Isabel Zollna hat die Rhythmus-Metrum-Dichotomie anhand der folgenden Kategorien zusammengefasst: Rhythmus vs. Metrum oder Takt Qualität Inhalt Aktiv Subjektiv
Quantität Form Passiv objektiv
Man kann diese Oppositionen auf die Frage in der Sprachwissenschaft übertragen, ob sie es vornehmlich mit der langue (Regel) oder der parole (Abweichung) zu tun hat, oder ob Sprache ergon oder energeia sei.³⁷
Die Gegenüberstellung von Rhythmus als individueller Form und Metrum als objektivem Strukturprinzip zeichnet sich auch in der umstrittenen Etymologie des Begriffs ab, auf die Isabel Zollna in diesem Zusammenhang hinweist.³⁸ Das Wort ‚Rhythmus‘ ist auf unterschiedliche Wurzeln zurückgeführt worden, so etwa auf das griechische Verb ῥέω, das ‚fließen‘ bedeutet und suggeriert, dass es sich beim Christian Grüny und Matteo Nanni, Bielefeld 2014, S. 7– 14, hier: S. 9. Christopher Hasty plädiert hingegen für eine undialektische Konzeption von Rhythmus und Metrum. Vgl. Christopher Hasty, Meter as Rhythm, New York/Oxford 1997, S. 13: „From this perspective, meter is not opposed to rhythm—it, too, involves the determinacy of what is complete and the indeterminacy of what is on the way to completion.“ Isabel Zollna, Der Rhythmus in der geisteswissenschaftlichen Forschung. Ein Überblick. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 96 (1994), S. 12– 52, hier: S. 14. Einen Überblick über den literaturwissenschaftlichen Rhythmus-Begriff bietet neben Isabel Zollna auch Christine Lubkoll. Vgl. Christine Lubkoll, Rhythmus und Metrum. In: Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, hg. von Heinrich Bosse und Ursula Renner, Freiburg i.Br. 1999, S. 103 – 121. Einschlägig zum Rhythmus-Begriff aus musikgeschichtlicher Sicht ist nach wie vor Wilhelm Seidel, Rhythmus. Eine Begriffsbestimmung, Darmstadt 1976. Eine musikhistorische Einordnung der Rhythmus-Metrum-Dichotomie bietet Christopher Hasty, Meter as Rhythm, S. 22– 33. Vgl. Zollna, Der Rhythmus in der geisteswissenschaftlichen Forschung, S. 14. Außerdem einschlägig zur Etymologie von ‚Rhythmus‘: Émile Benveniste, La notion de „rythme“ dans son expression linguistique. In: Benveniste, Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, S. 327– 335.
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Rhythmus um eine flüssige Strombewegung handelt. Daneben gibt es aber auch die Ableitung von ‚Rhythmus‘ aus ἐρύομαι (von ἐρύω, ‚(heraus‐)ziehen‘), das unter anderem ‚beschirmen, zum Schutz aus etwas herausziehen‘ bedeutet. Auf diese Etymologie beruft sich ein Rhythmus-Verständnis, das rhythmische Formen als ‚Widerstand‘ begreift. Unschwer lassen sich diese zwei Etymologien und ihre Formtypen mit der schematischen Darstellung Zollnas verbinden. ‚Rhythmus‘ von ῥέω wird dabei als dynamische und qualitativ bestimmte Form, als Ausdruck von Individualität, begriffen, das Metrum, von ἐρύομαι, hingegen als statische, objektive Form, die quantifizierbar ist. Das Ausmaß der terminologischen Schwierigkeiten lässt sich erahnen: Sowohl die dynamische – ‚rhythmische‘ – als auch die statische – ‚metrische‘ – Auffassung werden mit dem Wort ‚Rhythmus‘ verbunden.³⁹ Dabei gilt die semantische Ambivalenz nicht für beide Termini in gleichem Maße: Das Metrum wird nur äußerst selten mit den Attributen ‚Qualität‘, ‚Inhalt‘, ‚aktiv‘, ‚subjektiv‘ in Verbindung gebracht, während Rhythmus mit ‚metrischen‘ und ‚rhythmischen‘ Eigenschaften gleichermaßen belegt wird. Die terminologischen Schwierigkeiten stellen allerdings kein Problem für diese Studie dar, deren Anliegen schließlich nicht in der systematischen Konsolidierung des semantischen Feldes von Rhythmus, Metrum und Takt besteht, sondern in der Auffaltung unterschiedlicher Funktionen rhythmischer und metrischer Formen, die sich den umrissenen dichotomischen und dialektischen Konstellationen nicht ohne weiteres fügen. Die schematische Opposition, die Zollna umreißt, steht gewissermaßen am Ende des Prozesses der Ausdifferenzierung, um den es bei den literarischen Experimenten mit Metrum und Rhythmus um 1800 geht. Caroline Torra-Mattenklott hat gezeigt, dass die „unübersichtliche Gemengelage“⁴⁰ der Rhythmustheorien im späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhundert anhand der Kategorien „Bewegung und Verhalt“, bzw. „mouvement“ und „mesure“ gegliedert werden kann, die sich unschwer an die skizzierten Formtypen anschließen lassen.⁴¹ Die Dichotomie, die sich in den konkurrierenden
Diese Bemerkung macht Christopher Hasty zum Ausgangspunkt seines Nachweises der prozessualen Identität von Rhythmus und Metrum. Vgl. Hasty, Meter as Rhythm, S. 4– 6. Caroline Torra-Mattenklott, Bewegung und Verhalt. Theorien über die Kräfte des Rhythmus im 18. Jahrhundert. In: Colloquium Helveticum 32 (2001), S. 71– 90, hier: S. 71. Vgl. Torra-Mattenklott, Bewegung und Verhalt, S. 75: „Die Taktkonzeptionen, deren Konkurrenz die musikalischen Rhythmustheorien des 18. Jahrhunderts durchzieht, lassen sich zusammenfassend mit den historischen Begriffen ‚Mensur‘ oder ‚Mass‘ und ‚Bewegung‘, frz. mesure und mouvement belegen.Wie ich zeigen möchte, ist damit aber ein Gegensatz bezeichnet, der über die beiden skizzierten Auffassungen der musikalischen Zeit hinausgeht. Mesure und mouvement, so meine These, können als übergreifende kulturelle Deutungsmuster verstanden werden, die nicht
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Etymologien niederschlägt, reflektiert also ein Verständnis von Rhythmus und Metrum, das sich im achtzehnten Jahrhundert herauskristallisiert, aber erst gegen Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verfestigt wird.Vollzog sich die Emanzipation des Rhythmus von den antiken Metren um 1800 noch in Bezug auf die bestehenden metrischen Formen, steht die Epochenschwelle 1900 ganz im Zeichen einer Verabsolutierung des Rhythmus, der im zwanzigsten Jahrhundert zu einer Figur radikaler Differenz wird.⁴² Die unbedingte Emanzipation des Rhythmus zieht sich von den vitalistischen Rhythmus-Theorien Ludwig Klages’ bis hin zu Rhythmus-Konzepten in der poststrukturalistischen Philosophie bei Gilles Deleuze und Félix Guattari.⁴³ Rhythmus habe mit dem Maß nichts zu tun, schreiben Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie (1980), er sei „das Ungleiche oder das Inkommensurable.“⁴⁴ Rhythmus wird so für Deleuze und Guattari zu einer Figur, die das Denken unbedingter Differenz ermöglicht und die sich gerade nicht differentiell in Bezug auf ein metron konstituiere.⁴⁵ Rhythmus jenseits eines metrischen Bezugsrahmens zu denken, schlägt
zuletzt zwischen den musikalischen Rhythmustheorien und den übrigen Bereichen der Ästhetik Zusammenhänge stiften.“ Einen Überblick über den umfangreichen Rhythmus-Diskurs um 1900 bietet Christine Lubkoll, Rhythmus. Zum Konnex von Lebensphilosophie und ästhetischer Moderne um 1900. In: Das Imaginäre des Fin de siècle. Ein Symposium für Gerhard Neumann, hg. von Christine Lubkoll, Freiburg i.Br. 2002, S. 83 – 110, sowie der Sammelband Mythos Rhythmus. Wissenschaft, Kunst und Literatur um 1900, hg. von Massimo Salgaro und Michele Vangi, Stuttgart 2016. Vgl. zur „Verabsolutierung des Rhythmischen“ in der Moderne auch den Eintrag von Angelika CorbineauHoffmann im Historischen Wörterbuch der Philosophie: Jürgen Aschoff, Angelika CorbineauHoffmann, Paul Fraisse, [Art.] Rhythmus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel 1992, Bd. 8: R–Sc, S. 1026 – 1036, hier: S. 1031. Vgl. zu Ludwig Klages’ Entgegensetzung von lebendigem Rhythmus und mechanischem Takt: Ludwig Klages,Vom Wesen des Rhythmus, Kampen auf Sylt 1932, S. 59: „[D]as Leben selbst ist der Sachverhalt, der nach Maßgabe seines Übergewichts über Widerstände Vorgänge wie Gestalten rhythmisiert. Im Rhythmus schwingen, bedeutet daher, im Pulsschlag des Lebens schwingen und bedeutet damit für den Menschen noch überdies, vorübergehend den Schranken enthoben zu sein, mit denen den Lebenspulsschlag der Geist verengt.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 427. Beispielhaft für eine Rhythmus-Studie auf der Grundlage des Rhythmus-Begriffs von Deleuze und Guattari: Eleni Ikoniadou, The Rhythmic Event. Art, Media, and the Sonic, Cambridge, MA 2014. Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 428: „Das Milieu wechseln, immer auf dem Sprung, das ist der Rhythmus. […] Wie kann man auch die konstituierende Ungleichheit des Rhythmus proklamieren, wenn man gleichzeitig unterschwellige Vibrationen, periodische Wiederholungen der Komponenten zuläßt? Ein Milieu kommt zwar durch eine periodische Wiederholung zustande, aber diese führt nur dazu, daß eine Differenz geschaffen wird, durch die es in
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auch Henri Meschonnic in seiner im französischen Raum sehr einflussreichen Critique du rythme (1982) vor. Eine Konzeption von Rhythmus ‚ohne Maß‘ bedeute keine Regression in die Irrationalität; stattdessen eröffnet die Unbedingtheit des Rhythmus für Meschonnic neue Möglichkeiten der Sinnstiftung. A l’unité binaire du dualisme, le discours oppose la pluralité interne du rythme, théorie du sens. Le sans mesure ne retourne pas à l’irrationnel, qui cautionne l’idée du rationnel. Le rythme est sans mesure non pas parce qu’il s’oppose à la mesure, qu’il se rebelle ou qu’il l’a perdue. […] Le rythme ressortit à une autre rationalité. Il n’est pas le débridé dressé contre la rigueur. Il est une autre rigueur, celle du sens, qui ne se mesure pas.⁴⁶
Andere Ansätze, für die ein derart ‚emanzipierter Rhythmus‘ von zentraler Bedeutung ist, greifen auf vitalistische oder kosmologische Vorstellungen zurück, wie etwa Henri Lefebvre in seinem Projekt einer „Rhythmanalysis“, das den Rhythmus als eine Alternative zur homogenisierten Zeit der Moderne begreift, oder Martin Helds und Barbara Adams ökologischer Entwurf des Rhythmus als einem Korrektiv der technisierten Industriegesellschaft.⁴⁷ Zur Verabsolutierung des Rhythmus in der Moderne hat nicht zuletzt Friedrich Nietzsche beigetragen, der eingangs als Kritiker einer beliebigen Pluralisierung der Bedeutungen und Funktionen von Rhythmus angeführt wurde.⁴⁸ Diese Pluralisierung des Begriffs ist in der literarischen Behandlung von Metrum und Rhythmus um 1800 bereits angelegt und doch ist den metrischen Experimenten dieser Zeit allein mit dem geläufigen Narrativ der bedingungslosen Emanzipation des Rhythmus in der Moderne nicht beizukommen. Die Fragen, die den Rhythmusdiskurs um 1800 bestimmen, speisen sich direkt aus Problemen der Metrik, die zu dieser Zeit virulent werden, und so gewinnen die verschiedenen Rhythmuskonzepte Fasslichkeit erst, wenn sie in ihrem Bezug auf metrische Formen und deren Verwendung im literarischen Text verstanden werden.⁴⁹ Anliegen der
ein anderes Milieu übergeht. Die Differenz ist rhythmisch und nicht etwa die Wiederholung, durch die sie allerdings erzeugt wird.“ Meschonnic, Critique du rythme, S. 143. Vgl. Henri Lefebvre, Éléments de rythmanalyse. Introduction à la connaissance des rythmes, Paris 1992 sowie: Von Rhythmen und Eigenzeiten. Perspektiven einer Ökologie der Zeit, hg. von Barbara Adam und Martin Held, Stuttgart 1995. Vgl. zur grundsätzlich ambivalenten Konzeption von Nietzsches Rhythmus James I. Porter, Nietzsche and the Philology of the Future, Stanford, CA 2000, S. 127– 166. Insofern wird hier die Bemerkung von Christian Grüny und Matteo Nanni aufgegriffen, dass eine „Theorie des Rhythmus […] eine Theorie des Konkreten sein [müsste]“ und „dass jede intensive Beschäftigung mit einem Gegenstand unter dem Gesichtspunkt des Rhythmus zugleich an seiner Theorie arbeitet, und dass die Theoriearbeit sich nur vollziehen kann, wenn sie sich an konkreten Gegenständen abarbeitet“. Vgl. Grüny, Nanni, Einleitung, S. 12.
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Studie ist es mit solch einer auf konkreten Formen gegründeten Theoretisierung von Rhythmus nicht, der beispielsweise von Wilhelm Seidel in seinem RhythmusEintrag in den Ästhetischen Grundbegriffen beklagten Aufweichung des Begriffs in der modernen Ästhetik entgegenzuwirken.⁵⁰ Jedoch soll auch einer beliebigen Übertragbarkeit von Rhythmus nicht das Wort geredet werden, wie es etwa Caroline Levines erweiterter Formbegriff nahelegt, der mühelos ästhetische mit sozialen Rhythmen zu verbinden scheint.⁵¹ Stattdessen geht es darum, für die moderne Literatur und Literaturwissenschaft folgenreiche Rhythmuskonzepte von den literarischen Texten und den metrischen Experimenten her zu begreifen, die sie geprägt haben.
Vgl. zur beliebigen Verwendung des Begriffs in ästhetischen und geisteswissenschaftlichen Zusammenhängen Wilhelm Seidel, Rhythmus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/Weimar 2000 – 2005, Bd. 5, S. 291– 314, hier: S. 314: „Neuerdings wird das Wort auch herangezogen, wo temporale Phänomene zur Debatte stehen, deren Zeitlichkeit dem, was der Begriff zu kritisieren vermag, gänzlich entgehen. Hier mutiert ‚Rhythmus‘ zu einem schönen, unbedeutenden Logo, in dem ein jeder unterbringen kann, was er über die Zeitlichkeit von Kunst denkt.“ Vgl. dazu das Kapitel „Rhythm“ in Levine, Forms, S. 49 – 81, in dem Formen institutioneller Zeitorganisation neben metrischen Fragestellungen verhandelt werden. Dabei entwickelt Levine im abschließenden Teil des Kapitels in einer differenzierten Analyse des Gedichts „The Young Queen“ von Elizabeth Barrett Browning einen Formbegriff, der den zunächst scheinbar unkomplizierten Anschluss des ästhetischen an den sozialen Rhythmus relativiert: Levine, Forms, S. 80: „I would argue that Barrett Browning’s exploration of the independence of prosody in poetry with explicit political content points the way to an understanding of literary form as bound up in political life, without becoming subordinate to it.“ Für eine Einordnung aktueller Metrik-Studien in die Diskussion (neuer) Formalismen in der Literaturwissenschaft vgl. Derek Attridge, Moving Words. Forms of English Poetry, Oxford 2013, S. 17– 30. Ben Glaser und Jonathan Culler verfolgen in ihrer Anthologie Critical Rhythm. The Poetics of a Literary Life Form eine genealogische Untersuchung von Rhythmus als einem literaturwissenschaftlichen Formbegriff. Vgl. Ben Glaser, Introduction. In: Critical Rhythm. The Poetics of a Literary Life Form, hg. von Ben Glaser und Jonathan Culler, New York 2019, S. 1– 17, hier: S. 3 – 5.
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1 Ursprünge Clemens Brentanos Märchen von dem Schulmeister Klopfstock und seinen fünf Söhnen (posthum veröffentlicht 1847) parodiert bestimmte Grundannahmen von Friedrich Gottlieb Klopstocks Schriften zur Metrik.¹ Es führt so etwa die in der fragmentarischen Abhandlung Vom deutschen Hexameter umrissene These einer der poetischen Sprachform inhärenten Bedeutung mit dem Verweis auf Klopstocks eigenen Namen ad absurdum. Der Schulmeister Klopfstock trägt in Brentanos Märchen seinen fünf Söhnen mit den lautmalerischen Namen Gripsgraps, Pitschpatsch, Piffpaff, Pinkepank und Trilltrall auf, die von ihren Namen suggerierte Berufung zu verfolgen, woraufhin die Söhne ihrem Vater die Frage entgegnen, wozu ihn der Name ‚Klopfstock‘ bestimme. Da fragten die Söhne wieder: „Aber, Vater! was ruft uns dann?“ und der Schulmeister sagte: „Euer Name ruft euch.“ Da sagten die Söhne wieder: „Ihr,Vater, heißt Klopfstock, Euer Name ist Klopfstock, was ist nun Euer Beruf?“ Da wurde der Vater ungeduldig und sagte: „Ein Narr kann mehr fragen, als zehn gelehrte Leute beantworten können; ja, mein Name ist Klopfstock, und mein Beruf ist Klopfstock, nämlich ich soll so dumme Narren mit dem Stocke recht ausklopfen“ – und da nahm er seinen Stock und wollte seinen Söhnen einen Denkzettel mitgeben; aber sie nahmen die Beine auf die Schultern und liefen, so schnell sie konnten, davon.²
Nicht allein die Semantisierung poetischer Form wird zum Gegenstand von Brentanos Märchen-Satire, auch die von Klopstock im Detail schematisierte Affektwirkung der Versform wird aufs Korn genommen. Der jüngste Sohn, Trilltrall, Student der Vogelsprache, beschreibt so in übertriebenen Vergleichen die Wirkung, die der Versgesang eines im Wald lebenden Einsiedlers auf ihn ausgeübt habe:
Heinz Rölleke zeigt, dass es sich bei Brentanos Märchen um eine literaturhistorische Allegorie handelt, die mit der Gestalt des Trilltrall die Emanzipation der romantischen Naturpoesie von der rationalistischen Poetik der Vätergeneration, verkörpert vom Schulmeister Klopfstock (Friedrich Gottlieb Klopstock) und dem Nachtwächterkönig Knarratschki (Johann Heinrich Voß), zum Thema hat: vgl. Heinz Rölleke, Brentanos ‚Märchen von dem Schulmeister Klopfstock‘ als literarhistorische Allegorie. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1977, S. 292– 309. Unberücksichtigt bleibt dabei der satirische Ton des Textes, der mit der Desillusionierung des Einsiedlers auch die romantische Naturpoesie persifliert und damit einer allegorischen Lesart Schwierigkeiten bereitet. In diesem Zusammenhang interessiert vor allem der ironische Verweis auf Versatzstücke von Klopstocks Metrik-Theorie in Brentanos Märchen. Clemens Brentano, Das Märchen von dem Schulmeister Klopfstock. In: Brentano, Werke, Bd. 3, hg. von Friedhelm Kemp, München 1965, S. 439 – 483, hier: S. 439 f. https://doi.org/10.1515/9783110693119-003
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[M]eine Seele, welche gewesen war wie ein Meer, in welches ein großer Felsen hineinstürzte, verwirrt und trüb voll niederschlagender Wellen, wurde nach dem ersten Verse schon wie ein See, in den ein Fisch, den ein Geier herausgeraubt, frisch und gesund wieder hineinfällt; und nach dem zweiten Vers wie ein See, auf welchen ein singender Schwan niederfliegt und schimmernde Gleise zieht; und nach dem dritten Vers wie ein See, in welchen ein vorüberziehendes Lüftlein ein Rosenblatt weht; und nach dem fünften Vers war es mir, als sei ich wie ein müdes Bienlein, das über den See fliegen wollte und gar nicht weiter konnte und in großer Angst war, da es zum Wasser herabfiel, auf dieses Rosenblatt gefallen, und als schiffe ich sicher und ruhig auf dem Rosenblättlein hinüber und lande jenseits in einem blumenvollen Garten, aus dem mir die Nachtigallen entgegenschmetterten[.]³
Trilltrall geht im Laufe der Erzählung in die Lehre bei einem Einsiedler und Meister der Vogelsprache, der jedoch im Augenblick seines Todes erkennen muss, dass seine Theorie der Vogelsprache reine Spekulation war. Sein letzter Gesang endet mit den Versen: Da fing ich an zu hören, Da fing ich an zu sehn, Daß wir gar vieles lehren Und wenig doch verstehn. Die ganze Vogelsprache Nebst der Grammatika In meinem Tränenbache Ich da ersaufen sah. Wie Butter an der Sonnen In lauter Ach und Weh Ist mir allda zerronnen, Das Vogel-ABC.⁴
Eine Pointe von Brentanos satirischem Märchen ist, dass Klopstocks Versuch, die poetische Sprache, oder genauer: den modernen deutschen Vers auf verbindliche Gesetzlichkeiten zu gründen, gescheitert war. Die Vorstellung, des Ursprungs der poetischen Form habhaft zu werden, lässt sich für Brentano nicht einmal mehr im Märchen aufrechterhalten. Um nichts weniger ging es dem historischen Klopstock in seinen poetologischen Texten: Seine Absicht war es, die Regeln des modernen Verses zu ergründen und den Ursprung des deutschen Hexameters und seiner Überlegenheit über die antike Metrik zu bestimmen. Mit einer onomatopoetischen Äquivalenz von Wortbedeutung und Wortklang – diese Idee mag der romantischen Rezeption von Klopstocks Schriften geschul Brentano, Das Märchen von dem Schulmeister Klopfstock, S. 448 f. Brentano, Das Märchen von dem Schulmeister Klopfstock, S. 471 f.
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det sein – hatte Klopstocks eigentliche metrische Theorie jedoch wenig zu tun. Die zwei Grundthesen seiner Metrik, die Brentano in dem Märchen vom Schulmeister Klopfstock aufgreift – die Semantik und die Affektwirkung des Versmaßes – arbeitete Klopstock in seiner Abhandlung „Vom deutschen Hexameter“ (1779) anhand der „Wortbewegung“ aus, d. h. der metrischen Struktur des Verses. Die „Wortbewegung“ sei die „Hauptsache, worauf es in der Verskunst ankommt“⁵. Onomatopoetisches Sprechen – Klopstock nennt das „Wohlklang“ – hingegen zähle nicht zu den strukturellen Eigenschaften der Verssprache und stelle einen Ausnahmefall dar. Der Wohlklang, oder der Klang der Wörter, wie er überhaupt, und im Einzelnen, durch Stärke, oder Sanftes zum Inhalte paßt, der Wohlklang ist der Verskunst zwar auf keine Weise gleichgültig; allein er ist schwächerer Ausdruck. Überdies ist er im einzelnen auch selten anzutreffen. Denn es sind eben nicht viel Wörter in den Sprachen, deren Klang mit dem Sinne übereinkomme.⁶
Klopstocks „Wortbewegung“ stattdessen vermag zweierlei: Zum einen sei sie „begriffmäßig“, d. h. die deutsche Metrik erkläre sich – anders als die „mechanische“ der alten Griechen – aus der Bedeutung der Wörter.⁷ Grundbausteine einer derart semantisch fundierten Metrik sind die „Wortfüße“, minimale metrische Einheiten, in denen Semantik und Metrik zur Deckung gebracht werden. Zum anderen produziere die metrische Versform eine affektive Wirkung, die Klopstock in tabellarischen Schemata systematisiert. Nicht nur die Bedeutung eines Wortes, auch die Empfindungen, die es auslöse, würden durch die „Wortbewegung“ hervorgerufen. Klopstock verquickt in diesem Begriff die semantische und affektive Belegung der metrischen Form auf mitunter schwer nachvollziehbare Weise. Karl Philipp Moritz hat in seinem Versuch einer deutschen Prosodie (1786) die Ansätze von Klopstocks Metrik aufgegriffen und systematisch weiterentwickelt. Dem semantischen und dem affektiven Vermögen des deutschen Verses entsprechen bei Moritz zwei Tendenzen der poetischen Sprache, die Tendenz zum „Gedankenausdruck“ und die zum „Empfindungsausdruck“.⁸ Wenngleich die deutsche Sprache, im Gegensatz zu den antiken Sprachen, zum „Gedankenausdruck“ neige, ermögliche sie letztlich einen Kompromiss beider Tendenzen, was
Friedrich Gottlieb Klopstock, Vom deutschen Hexameter. In: Klopstock, Gedanken über die Natur der Poesie, S. 60 – 156, hier: S. 128. Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 128. Vgl. Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 72. Vgl. Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie, S. 6.
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ihre Superiorität als Dichtungssprache begründe⁹ – so die Argumentation Euphems, der seinen Gesprächspartner Arist in Moritz’ fiktivem Dialog von der Überlegenheit des deutschen Verses überzeugen möchte. Bei uns ist die Poesie nur halb Empfindungssprache, und halb noch Gedankensprache: denn sie giebt nicht allen, sondern nur allen bedeutendern Silben neben den unbedeutendern ein gleiches Interesse […]. Unsre Poesie ist also bei dem Uebergange von der Gedanken- zur Empfindungssprache gleichsam auf dem halben Wege stehen geblieben.¹⁰
Die Balance zwischen Gedanken- und Empfindungsausdruck stellt Karl Philipp Moritz dadurch her, dass er jeder Silbe einen prosodischen Wert zuspricht, der vom „Gewicht ihrer Bedeutung“¹¹ abhänge. Doch ist dieser prosodische Wert für Moritz kein absoluter, sondern ein relativer: er konstituiert sich nach dem „Differenzprinzip“¹² in Abhängigkeit von den anderen Silben und ihren prosodischen Wertigkeiten im jeweiligen Vers.¹³ Das Bedeutungsgewicht systematisiert Moritz anhand von grammatischen Kategorien: das größte Gewicht trügen Substantive, gefolgt von Adjektiven, denen als weitere Wortgruppen mit abnehmendem Gewicht folgten: Verben, Interjektionen, Adverbien, Hilfsverben, Konjunktionen
Vgl. Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie, S. 128 f. Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie, S. 125 f. Vgl. Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie, S. 246: „Das Resultat aus allem bisherigen ist: daß die Längen und Kürzen der Silben in unsrer Sprache, nicht nach der Anzahl und Beschaffenheit der Buchstaben oder einzelnen Laute, woraus sie bestehen, sondern bloß nach ihrem prosodischen Werth, als Redetheile von mehr oder minderer Bedeutung betrachtet, bestimmt werden können; und daß also die prosodischen Regeln unsrer Sprache lediglich aus der Grammatik geschöpft werden müssen, in so fern dieselbe die Beschaffenheit der einzelnen Redetheile, und ihre Unterordnung, nach dem Gewicht ihrer Bedeutung, lehrt, und also der Prosodie einer jeden Sprache, die sich wie die unsrige, mehr zum Gedanken- als zum Empfindungs-Ausdruck neigt, zur Grundlage dient.“ Vgl. Bunia, Metrik und Kulturpolitik, S. 117: „Er [Moritz] formuliert nämlich erstmals ausdrücklich, dass es im Deutschen unterschiedlich starke Wortakzente gibt, dass aber das tatsächliche Betonungsgewicht einer Silbe vom spezifischen silbischen Umfeld abhängt. Moritz erkennt also das Differenzprinzip, das Bürger noch nicht ausgesprochen hat[.]“ Vgl. Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie, S. 122: „Hieraus sehe ich, daß in unserm deutschen Versbau die Silben, in Ansehung ihrer Länge und Kürze, nicht durch sich selbst, sondern durch ihre Stellung gegeneinander, bestimmt werden; daß aber auch eben durch diese Stellung ihre Länge und Kürze ganz genau bestimmt werden kann; daß wir also kein andres Silbenmaß als durch die Silbenstellung haben; und daß wir diese Silbenstellung daher auf feste Grundregeln müssen zurückzubringen suchen, um so, wie die alten Sprachen, der unsrigen eine bestimmte Prosodie zu schaffen.“
1 Ursprünge
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usw.¹⁴ Die möglichen Kombinationen aller Wortgruppen legt Moritz in ausführlichen Tabellen dar. Die Relativierung der semantischen Prämisse durch das Differenzprinzip ermöglicht es, bei der Erklärung der metrischen Versform nicht nur die Bedeutung, sondern ebenso die Konstitution der Versform in ihrem jeweiligen Kontext zu berücksichtigen, und dadurch den „Gedankenausdruck“ mit dem „Empfindungsausdruck“ zu vermitteln. Dieser nur kursorische Umriss der Versprogramme von Klopstock und Moritz genügt hier, um anzudeuten, dass es beiden um eine letztgültige Begründung des deutschen Verses zu tun war; es ging ihnen darum, den Ursprung der modernen Versform im Deutschen freizulegen.¹⁵ Dass in diesem Bemühen mitunter konkurrierende Ursprungsszenarien in Konflikt miteinander geraten, zeigt sich eindrücklich am Widerstreit verschiedener Metaphernkomplexe in Klopstocks Eislaufgedichten. Hölderlin, der in seiner Dichtung in freien Rhythmen sowie in der Aneignung und Modifikation antiker Odenmaße an Klopstock anschließt, beschäftigt die Ursprungsproblematik des Versrhythmus auf eine andere Weise, nämlich in ihrer ethischen Dimension. Das der metrischen Versform zugrundeliegende Gesetz ist für ihn ein heteronomes, dem sich Dichter zu beugen hat. Was bedeutet diese Auffassung des Metrums als eines unverfügbaren Gesetzes für den „Dichterberuf“, genauer: für das Selbstverständnis des modernen Dichters als einem autonomen Schöpfer? Eine mögliche Antwort auf diese Frage stellt Hölderlins Versuch dar, in seiner Hymne „Wie wenn am Feiertage …“ individuelle Form und metrisches Gesetz in Deckung zu bringen.
Vgl. Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie, S. 141– 166. Die Relativität des prosodischen Wertes betrifft insbesondere einsilbige Wörter. Für eine eingehende historische und systematische Kontextualisierung der metrischen Entwürfe von Klopstock und Moritz vgl. Bunia, Metrik und Kulturpolitik, S. 71– 121.
1.1 Eisbahn und Quelle. Klopstocks doppelte Poetik des Versmaßes In Klopstocks Gedicht „Der Nachahmer, und der Erfinder“ (1796) streiten zwei Dichter darüber, welche Art zu dichten die beste sei. Der Nachahmer gefällt sich darin, das „gekohrene Urbild“ der Griechen nachzuahmen (V. 11 f.: „Ich geh, nachahmend, den sichern / Pfad; was ich auserkohr, hat schon gefallen!“), während der Erfinder sich seine eigenen Quellen schafft (Nachahmer zum Erfinder,V. 5 f.: „[D]u freust mit Stolze dich, daß in dem Haine / Du dir selber Quellen hervorrufst.“).¹ Mit dem Verhältnis der Dichter zu den poetischen Formen der Antike stehen in dieser dialogisch inszenierten Querelle des Anciens et des Modernes auch zwei Auffassungen des Versmaßes auf dem Spiel, die anhand der Metaphern des Eislaufs und der Quelle verhandelt werden. Im Eislauf wird die metrische Form des Gedichts aus der Bewegung des Menschen abgeleitet, der seinen Tanz in das Eis einschreibt. Im Bild des Quellstroms wird das Versmaß mit der natürlichen Bewegung des fließenden Wassers gleichgesetzt, das einer tiefen Quelle entspringt. Der Nachahmer und der Erfinder diskutieren, welche Art der Versbewegung zu bevorzugen sei. Dabei versteht sich der Nachahmer als Eisläufer, der Erfinder beruft sich hingegen auf die „Freuden […] des Quells“. N. Stolz blickt nieder auf mich dein lächelndes Auge; und gleichwol Wandl’ ich die Bahn der unsterblichen Alten! E. Singst du mir guten Gesang; so späh’ ich nicht nach, wo du schöpfest: Denn du schöpfest in hellen Kristall. N. Aber, ich weiß es! du freust mit Stolze dich, dass in dem Haine Du dir selber Quellen hervorrufst. E. Ich, kein Hasser des Schweigens, vertraute dir das? Doch sey es so. Jeder hat seine Freuden, des Quells Ich, und du des Kristalls.²
Der nachahmende Dichter schafft sich keine eigenen Formen, sondern wandelt auf der „Bahn der unsterblichen Alten“. Der Erfinder dagegen erzeugt seine Versformen selbst. Der Streit wird schließlich zugunsten des Erfinders entschieden, wobei sich zeigt, dass es Klopstock hier um weiterreichende ästhetische Zusammenhänge geht: die Ablösung der imitatio durch das Paradigma der
Friedrich Gottlieb Klopstock, Oden. In: Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Horst Gronemeyer und Klaus Hurlebusch, Berlin/New York 2010 (im Folgenden HKA), Bd. I.1, S. 534. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 534. https://doi.org/10.1515/9783110693119-004
1.1.1 Klopstocks Metriktheorie
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„Darstellung“.³ Die Begünstigung der Quellschöpfung (metrische Erfindung) gegenüber dem Eislauf (metrische Nachahmung) ist unzweifelhaft.⁴ Das gilt jedoch nicht für Klopstocks Eislaufgedichte, wo umgekehrt der Eislauf für die metrische Erfindung steht. Die Bedeutung der Quellmetaphorik für die Eislauf-Poetologie ist dabei nicht ohne weiteres einsichtig – denn der Quell als Ursprung der Versbewegung wird in den Eislaufgedichten nicht einfach durch den Eislauf ersetzt, sondern besteht als untergründige Strömung fort, die dem dichtenden Eistänzer zur Bedrohung wird. Die geläufige Verbindung von Rhythmus und Strom in einer „Metaphorik des ‚lebendigen Lebens‘“ ⁵ wird dadurch erschüttert. Die verschiedenen Bildkomplexe, anhand derer Klopstock die metrischen Formen seiner Dichtung verhandelt, lassen sich nicht in eine konsistente Allegorik überführen⁶; gerade an ihrem Konflikt werden miteinander konkurrierende Konzepte des Ursprungs von Rhythmus sichtbar.
1.1.1 Klopstocks Metriktheorie Das Bild der Quelle aus Klopstocks poetologischen Gedichten lässt sich unschwer in Zusammenhang bringen mit dem in den Schriften zur Metrik dargelegten Anliegen, den metrischen Formen der deutschen Dichtung eine notwendige Begründung zu verleihen. Klopstock geht es darum, die Überlegenheit der deutschen Dichtung über die antiken Vorbilder zu beweisen – man denke an die Vorrangstellung des Erfinders im Gedicht „Der Nachahmer, und der Erfinder“ – und zu diesem Zweck möchte er die ‚tieferen Ursachen‘ des deutschen Versmaßes bestimmen. Hauptstück von Klopstocks Überlegungen zur Metrik ist die Schrift „Vom deutschen Hexameter“. Mit dieser 1779 erschienenen Abhandlung richtet er sich
Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 534, V. 27 f.: „Nur selten ward die Natur von dem Griechen / Nachgeahmet; er stellte sie dar.“ Zum Konzept der ‚Darstellung‘ bei Klopstock vgl. Winfried Menninghaus, Darstellung. Zur Emergenz eines neuen Paradigmas bei Friedrich Gottlieb Klopstock. In: Was heißt Darstellen?, hg. von Christiaan Hart Nibbrig, Frankfurt a. M. 1989, S. 205 – 226; außerdem Inka Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der „Darstellung“ im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 149 – 229. Vgl. zu Klopstocks „metrischer Erfindung“ Hans-Heinrich Hellmuth, Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, München 1973, S. 15 f. Vgl. Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, hg. von Ulrich von Bülow und Birgit Krusche, Berlin 2012, S. 93. Vgl. zum „Funktionswandel des Allegorischen“ bei Klopstock Anselm Haverkamp, Klopstock/ Milton – Teleskopie der Moderne. Eine Transversale der europäischen Literatur, Stuttgart 2018, S. 92.
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1.1 Eisbahn und Quelle
gegen Gottfried August Bürger, der in seiner Veröffentlichung „An einen Freund über seine teutsche Ilias“ (1776) behauptet hatte, dass sich das hexametrische Versmaß der antiken Epik im Deutschen nicht realisieren lasse. Die deutsche Sprache eigne sich, so Bürger, im Anschluss an Martin Opitz, allein für ein alternierendes Metrum, weshalb der Jambus der deutschen Poesie zur Grundlage dienen sollte. Auf Bürgers Urteil bezieht sich Klopstock nun mit seinem Nachweis, dass die deutsche Sprache sich für den Hexameter nicht nur eigne, sondern das Griechische darin sogar übertreffe.⁷ Während der erste Teil der fragmentarischen Schrift das Problem der Eignung des Deutschen zum Hexameter behandelt, setzt sich der zweite Teil mit allgemeinen Fragen der Metrik auseinander. Dabei verzichtet Klopstock ausdrücklich auf die Verwendung des Begriffs ‚Rhythmus‘, der schon bei den Alten zu „Vermischungen und Verwechslungen der Begriffe“ geführt habe.⁸ Stattdessen gilt sein Augenmerk dem Metrum, das er als „Silbenmaß“ bezeichnet, und dessen Beziehung zur Prosodie, die mit den Begriffen „Zeitausdruck“, „Tonverhalt“ und „Wortfuß“ beschrieben wird. Verbunden sind die beiden Teile der Abhandlung „Vom deutschen Hexameter“ durch die Annahme, dass die besondere prosodische Beschaffenheit des Deutschen – die ‚Begriffmäßigkeit‘ – der deutschen Dichtung einen ‚größeren metrischen Ausdruck‘ gewähre.⁹ „Sonst ist es auch gewiß kein Nebenumstand, daß die deutsche Silbenzeit nicht mechanisch, sondern begriffmäßig ist“¹⁰, schreibt Klopstock. Die ‚Begriffmäßigkeit‘ bezeichnet die Korrespondenz zwischen der prosodischen Form und der Bedeutung eines Wortes bzw. einer Wortgruppe. Bei den Alten ist das Mechanische Ursach der Silbenzeit; bei uns ist es […] nur Beschaffenheit. Die Ursache liegt bei uns tiefer.
Einen Überblick über die Positionen von Opitz, Bürger und Klopstock bietet Bunia, Metrik und Kulturpolitik, S. 71– 121. Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 129 f.: „Das Wort Rhythmus (wenn ich es etwa gebraucht habe, so hab’ ich Tonverhalt darunter verstanden) ist eins von denen, die zeigen, zu was vor Verwirrungen der Begriffe zuweilen Worte verleiten und wie lange sie es tun können. Denn wie wimmelt es in denen Schriften, die von der Theorie der schönen Wissenschaften handeln, nicht schon bei den Alten, und wie viel mehr noch bei den Neuern, bei Vossius z.E. von Vermischungen und Verwechslungen der Begriffe, wozu sie dieses Wort gebracht hat. Wie viele Worte sind sonst noch, die ähnliches Gewirr beinah in allen Wissenschaften gewirrt haben!“ Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 122: „Der deutsche Hexameter übertrifft den griechischen dadurch, daß er die Silbenzeit genauer beobachtet; daß er die Längen nicht überhäuft, und dennoch durch seine Trochäen, und wenige Spondeen die zur Sache gehörige Langsamkeit erreicht; und daß er beinah den vierten Teil mehr metrischen Ausdruck hat.“ Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 72.
1.1.1 Klopstocks Metriktheorie
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Die Wörter und die Silben sind bei uns lang, wenn sie Hauptbegriffe, und kurz, wenn sie Nebenbegriffe ausdrücken. Das Wort Ruf ist lang. In Rufes ist die Silbe Ru lang, und die Silbe fes kurz.¹¹
Morpheme, die die Hauptbedeutung tragen, seien im Deutschen prosodisch markiert, „Nebenbegriffe“ unmarkiert; die prosodische Wortform lasse sich im Deutschen daher auf die Bedeutung zurückführen. Im Griechischen sei die prosodische Markierung hingegen willkürlich verteilt, d. h. „mechanisch“.¹² Anhand seines „Wortfuß“-Konzepts nimmt Klopstock die Übersetzung der durch das ‚Begriffmaß‘ begründeten prosodischen Form in die metrische vor. Mit dem „Wortfuß“ verbindet Klopstock die Forderung nach einer Kongruenz von Metrik und Prosodie, denn von einem Vers würden nicht dessen metrische, sondern die prosodischen Elemente, die „Wortfüße“, wahrgenommen. Die Form des jeweiligen „Wortfußes“ liege nicht auf schematische Weise vor wie metrische Versfüße, sondern ergebe sich aus dem jeweils zugrundeliegenden Inhalt: „Diese [Wortfüße] bestehen nicht immer aus einzelnen Wörtern, sondern oft aus so vielen, als, nach dem Inhalte, zusammen gehören, und daher beinah wie ein Wort müssen ausgesprochen werden“¹³. Dafür gibt Klopstock folgendes Beispiel: Der hexametrische Vers „Schrecklich erscholl der geflügelte Donnergesang in der Heerschar“ könne in „Wortfüße“ unterteilt werden oder in metrische Versfüße. Die Einteilung in Versfüße ergibt folgendes Schema: —‿‿ Schrecklich er —‿‿ scholl der ge —‿‿ flügelte —‿‿ Donnerge —‿‿ sang in der — — Heerschaar.
Klopstock,Vom deutschen Hexameter, S. 90.Vgl. dazu auch ebd., S. 125: „In unsrer Sprache ist kein einsilbiges Wort kurz, dessen Sinn die Länge erfodert. Die mehrsilbigen Wörter, die bei uns niemals aus lauter Kürzen, und sehr selten aus lauter Längen bestehn, haben die Länge, oder die Längen, und die Kürze oder die Kürzen an der Stelle, wo sie, dem Sinne gemäß, hingehören. Die griechische Sprache hat sehr oft die entgegengesetzte Silbenzeit.“ Klopstock war sich im Hinblick auf die prosodische Markierung des Unterschieds zwischen Quantität (Markierung des Versmaßes im Altgriechischen) und Akzent (Markierung des Versmaßes im Deutschen) wohl bewusst, ohne die Unterscheidung zwischen beiden konsequent durchzuführen. So spricht er hier ohne weitere Differenzierung von der „Silbenzeit“ der deutschen Prosodie. Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 130.
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1.1 Eisbahn und Quelle
Eine Auffassung im Sinne der „Wortfüße“ hingegen würde den prosodisch-inhaltlichen Zusammenhang wahren: —‿‿— Schrecklich erscholl ‿‿—‿‿ der geflügelte —‿‿— Donnergesang ‿‿— — in der Heerschaar.¹⁴
Allein die „Wortfüße“ würden vom Rezipienten des Gedichts erfasst. „Die in den Wortfüßen versteckten künstlichen gehn den Zuhörer gar nichts an. Er hört sie nicht; er hört nur die Wortfüße: und fällt, nach diesen allein, sein Urteil über den Vers.“¹⁵ Die von Klopstock entworfene Wortfußmetrik war in ihrer Verbindung von Metrik und Prosodie folgenreich für die Literaturgeschichte. Zwar hatte bereits Martin Opitz in seinem Buch von der deutschen Poeterey (1624) auf eine notwendige Übereinstimmung von Prosodie und Metrik hingewiesen, doch folgte für Opitz daraus die Beschränkung der deutschen Sprache auf alternierende Versmuster (Jambus und Trochäus).¹⁶ Für Klopstock hingegen eröffnet die Koppelung von Prosodie und Metrik einen weit größeren Spielraum für metrische Formen, die durch ihre semantische Begründung dennoch keine willkürlichen Bildungen darstellen.¹⁷ An der Semantisierung der Metrik übten Klopstocks Zeitgenossen scharfe Kritik. August Wilhelm Schlegel etwa weist in seinem fiktiven Dialog „Die Sprachen“ (1798 im Athenaeum erschienen) – eine Parodie von Klopstocks „Grammatischen Gesprächen“ von 1794 – auf die Unmöglichkeit der konsequenten
Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 131. Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 131. Vgl. Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterey. In: Opitz, Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, Bd. II/1: Die Werke von 1621 bis 1626, hg. von George Schulz-Behrend, Stuttgart 1978, S. 331– 416, hier: S. 392 f.: „Nachmals ist auch ein jeder verß entweder im iambicus oder trochaicus; nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner eine gewisse grösse der sylben können inn acht nemen; sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen / welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden. […]. Wiewol nun meines wissens noch niemand / ich auch vor der zeit selber nicht/ dieses genawe in acht genommen / scheinet es doch so hoch von nöthen zue sein / als hoch von nöthen ist / das die Lateiner nach den quantitatibus oder grössen der sylben ihre verse richten vnd reguliren.“ Vgl. zu der von Opitz eingeführten Neuordnung der Beziehung von Prosodie und Metrik Remigius Bunia, Metrik und Kulturpolitik, S. 86: „Opitzens grandiose Neuerung besteht also darin, dass er eine rigide metrische Struktur definiert und Freiheiten im prosodischen Raum entdeckt.“ Vgl. zur Semantisierung der Metrik bei Klopstock auch Winfried Menninghaus, Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 299.
1.1.1 Klopstocks Metriktheorie
31
Umsetzung eines solchen Versmaßes hin. Ein Deutscher und ein Grieche diskutieren in Schlegels Text Klopstocks These: Deutscher. Es komme woher es will, so bleibt es ein großer Vorzug, daß bey uns die Bewegung der Worte mit ihrem Inhalte immer übereinstimmt. Grieche. Mit ihrem Inhalte! Du redest wirklich, als ob die prosodische Beschaffenheit des Wortes das Bild und die Empfindung ausdrückte, die es mittheilen soll. Hat nicht steigen und fallen denselben Fuß? Und pfeilschnell den schweren Spondeen, Verzug den muntern Jamben? Führe dies durch unzählige Fälle hindurch. Der Inhalt, welcher die begriffmäßige Sylbenzeit bezeichnet, ist nicht einmal die logische, sondern nur ungefähr die grammatische Form, das Verhältniß des Ursprünglichen und Abgeleiteten. Was kann mit Bezeichnung derselben für die Darstellung des Dichters gewonnen seyn?¹⁸
Die Semantisierung der prosodischen und metrischen Form sei konsequent nicht umzusetzen – das zeigt der Grieche in Schlegels Gespräch mit wenigen überzeugenden Beispielen, wenngleich er eine Beziehung zwischen Prosodie und grammatischer Wortmorphologie einräumt, ihr für die Dichtung aber jegliche Konsequenzen abspricht.¹⁹ Umstritten ist allerdings, ob es Klopstock überhaupt um eine Realisierung der semantisch begründeten Metrik ging – seine sonst so konkreten Ausführungen lassen nicht darauf schließen. Winfried Menninghaus gibt daher zu bedenken, dass es sich bei der Semantisierungsprämisse wohl um eine abstrakte Rahmung ohne direkte Konsequenzen für die dichterische Realisierung handle: Die Berücksichtigung der Semantik qua Akzent und Wortfußgliederung gilt nur dem abstrakten Faktum bedeutungstragender Silben überhaupt, nicht aber ihrer konkreten Bedeutung im einzelnen. Oder anders: die Semantik wirkt wohl als eine Ansprüche an die Prosodie stellende Größe, nicht aber als Semantik im ‚eigentlichen‘ Sinn in die Metrik hinein.²⁰
In jedem Fall berücksichtigt August Wilhelm Schlegels Kritik nur einen Aspekt von Klopstocks Metriktheorie. Unbeachtet bleibt dabei die affektive Dimension
August Wilhelm Schlegel, Die Sprachen. Ein Gespräch über Klopstocks grammatische Gespräche. In: Athenaeum. Ersten Bandes Erstes Stück, Berlin 1798, S. 3 – 96, hier: S. 39. Das Verhältnis von Prosodie und grammatikalischer Morphologie, das sich bereits bei Klopstock andeutet und hier von August Wilhelm Schlegel aufgegriffen wird, hat Karl Philipp Moritz in seinem Versuch einer deutschen Prosodie als Ausgangspunkt für sein System einer Prosodie des Deutschen genommen. Vgl. Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie, S. 115 – 252. Menninghaus, Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 258.
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1.1 Eisbahn und Quelle
der metrischen Versformen, die Klopstock, in Anlehnung an die antike Rhetorik, im Detail ausarbeitet.²¹ Dafür unterscheidet er zwischen zwei metrischen Parametern, dem „Zeitausdruck“ und dem „Tonverhalt“. Klopstocks nicht immer durchsichtige Ausführungen zu diesen beiden komplementär angelegten Begriffen schließen mit folgender Definition: Wem dies zu umständlich, oder gar deswegen, weil es sehr genau bestimmt ist, und nichts aus der Luft greift, undeutlich vorkommt, der stelle sich die Sache etwa so vor: Die Verse haben in ihren Bewegungen teils Langsamkeit oder Schnelligkeit, und teils verschiednen Tonverhalt²².
Die „Langsamkeit oder Schnelligkeit“ bezeichnet der „Zeitausdruck“, bei dem es sich also um das Tempo der Versbewegung handelt. Auf eine eingehende Beschreibung des Zeitausdrucks, die sich erübrige, verzichtet Klopstock aber, um sich weiter dem „Tonverhalt“ zu widmen.²³ Dazu heißt es: Die Bewegung muß aber auch noch von einer andern Seite angesehn werden. […] Wie stark die Wirkung des so verbundnen Steigens und Sinkens sei, wird auch dadurch hörbar, daß die umgekehrte Stellung […] eine der schönsten Übereinstimmungen hervorbringt. Die Bewegung von dieser Seite angesehn hat Tonverhalt. (Man sieht von selbst, daß lauter Längen, und lauter Kürzen keinen haben können.)²⁴
Beim „Tonverhalt“ geht es demnach, im Unterschied zum „Zeitausdruck“, um eine Bewegung des „Steigens und Sinkens“, die Klopstock weiter klassifiziert, indem er einen ‚metrischen Affektenkatalog‘ des „Tonverhalts“ entwickelt, der auf formalen Ähnlichkeiten zwischen bestimmten Affekten und Versfüßen beruht, anders gesagt: auf den „physiognomische[n] Qualitäten reiner struktureller Verhältnisse“²⁵, wie Winfried Menninghaus es formuliert hat. Bestimmte Ge-
Vgl. zu den Anleihen von Klopstocks Metrik-Theorie bei der antiken Rhetorik Menninghaus, Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 308, sowie Mark Emanuel Amtstätter, Beseelte Töne. Die Sprache des Körpers und der Dichtung in Klopstocks Eislaufoden, Tübingen 2005, S. 13 – 66. Amtstätter versteht die rhetorische „actio“ als grundlegend für Klopstocks metrische Theorie. Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 128. Vgl. Klopstock,Vom deutschen Hexameter, S. 136: „Ich hab’ eine Abstufung der Füße gemacht vom langsamsten bis zu dem, der es am wenigsten ist; und dann weiter von dem am wenigsten schnellen bis zu dem schnellsten. Allein ich lasse dies weg, weil es mir überflüssig zu sein scheint. Man wird dabei nicht leicht mehr, als um eine Stufe fehlen, und daran liegt wenig.“ Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 126 f. Menninghaus, Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 315.
1.1.1 Klopstocks Metriktheorie
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mütszustände entsprechen demnach einer gewissen Art des Steigens und Sinkens der Versbewegung. Diese „Beschaffenheiten der Empfindung und der Leidenschaft“, die Affekte und ihre Formalisierung in den Versfüßen, sieht Klopstock als den „Inbegriff“ des „Tonverhalts“: Das Sanfte, das Starke, Muntre, Heftige, Ernstvolle, Feierliche, und Unruhige sind, oder können Beschaffenheiten der Empfindung und der Leidenschaft sein. Dies kömmt mir, wenn ich vom Sinnlichen die gehinderte Bewegung noch mitnehme, als der Inbegriff von dem vor, was der Tonverhalt ausdrücken kann.²⁶
Klopstock führt den Zusammenhang zwischen Versfuß und entsprechendem Affekt systematisch anhand von Tabellen aus und gibt ausführliche Beispiele für Wortfüße der genannten „Beschaffenheiten“. Einen sanften Tonverhalt hätten beispielsweise die Wortfüße —‿ „Laute“ oder —‿—‿ „Klagestimme“. ‿— — „der Ausruf“ oder —‿‿— „Donnergeräusch“ seien stark; ‿‿—‿ „das Gesäusel“ und —‿‿—‿ „Silbergewölke“ munter; ‿—‿— „mit Ungestüm“ und ‿—‿‿— „der Panzer Getön“ heftig; ‿— — — „des Anfalls Wut“ und —‿— „Wetterstrahl“ ernstvoll, usw.²⁷ Deutlich wird an diesem Umriss von Klopstocks metrischer Theorie, dass sie sich aus zwei Ansätzen speist, dem semantischen und dem rhetorisch-affektiven, die Klopstock anhand der strukturellen Eigenschaften der metrischen Form zur Deckung zu bringen versucht. Worauf Klopstocks Poetik des Versmaßes abzielt – sei es in der Semantisierung des Metrums oder in der Beschreibung seines affektiven Potenzials –, ist die Begründung der Notwendigkeit der metrischen Form. Den mitunter widersprüchlichen Argumentationen Klopstocks ist gemeinsam das Anliegen, die Willkür der Metrik, die er am antiken Vers bemerkt, zu beseitigen durch die Ermittlung des ‚tieferen Grunds‘ der deutschen Versform. So schreibt Klopstock bei der Einführung seiner Idee der ‚Begriffmäßigkeit‘: „Die Ursache liegt bei uns tiefer.“²⁸ Auch im Zusammenhang seiner Erläuterung von „Zeitausdruck“ und „Tonverhalt“ weist Klopstock auf den Tiefengrund der Wortbewegung hin („Diese Verbindung zwischen Zeitausdrucke, und Tonverhalte zeigt, wie es mir vorkömmt, auffallend, daß die Regeln der Wortbewegung tiefer liegen, als es vielen bei dem ersten Aufhören scheinen möchte.“²⁹), den er nicht müde wird zu betonen („Auch glaub’ ich hier wiederholen zu dürfen, daß die Regeln der
Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 136. Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 138 f. Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 90. Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 132 f.
34
1.1 Eisbahn und Quelle
Wortbewegung tiefer liegen, als es vielen bei dem ersten Aufhören vorkommen möchte.“³⁰). Die „merkliche Tendenz auf Vertikalisierung“³¹ von Klopstocks Metrik hat Thomas Althaus herausgearbeitet. Hans-Heinrich Hellmuth macht sie in seiner einschlägigen Studie zu Klopstocks Metriktheorie insbesondere am Parameter des „Tonverhalts“ fest, der das Sinken und Steigen der Silben reguliert und damit die horizontale Dimension des Tempos im „Zeitausdruck“ um eine vertikale Achse ergänzt: „Damit ist ein entscheidender Schritt zu der Erweiterung des Begriffes der ‚Bewegung‘ getan, […] wo zu den Kriterien des Langsamen und Schnellen diejenigen des Steigens und Sinkens neu hinzutreten, zu der Horizontalen also noch die Vertikale kommt.“³² Die Annahme einer vertikalen Bewegungsachse des Verses ist bereits seit Martin Opitz Bestandteil der deutschen Verslehre. Denn Opitz hatte in seinem Buch von der deutschen Poeterey bestimmt, dass die alternierenden Metren des Deutschen aus ‚hohen‘ und ‚niedrigen‘ Silben bestünden. Nachmals ist auch ein jeder verß entweder im iambicus oder trochaicus; nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner eine gewisse grösse der sylben können inn acht nemen; sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen / welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden. Ein Jambus ist dieser: Erhalt uns Herr bey deinem wort. Der folgende ein Trochéus: Mitten wir im leben sind. Dann in dem ersten verse die erste sylbe niedrig / die andere hoch / die dritte niedrig / die vierdte hoch / und so fortan / in dem anderen verse die erste sylbe hoch / die andere niedrig / die dritte hoch/ &c. außgesprochen werden.³³
Wie für Klopstock hängt auch für Opitz die Höhe und Tiefe der Silben mit dem ‚Ton‘ zusammen, dessen genaue Bedeutung allerdings, besonders im Unterschied
Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 137. Thomas Althaus, „Nim den Schwung“. Klopstocks Thematisierungen des Versgangs und die Folgen. In: Wort und Schrift. Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks, hg. von Kevin Hilliard und Katrin Kohl, Tübingen 2008, S. 187– 208, hier: S. 200: „Mehr konkurrierend als parallel dazu [zu symmetrischen Zuordnungen metrischer Muster] ergibt sich eine merkliche Tendenz auf Vertikalisierung in allen möglichen Belangen. Sie wird grundsätzlich und formal durch das Auf und Ab veranlasst, zu dem die Lyrik nach antiken Metren versrhythmisch um so mehr disponiert ist, um so mehr das hier immer wieder neu wirksame Spannungsverhältnis zwischen Silbenmessung und Silbenbetonung zum Skandieren nötigt.“ Hellmuth, Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 251. Opitz, Buch von der deutschen Poeterey, S. 392 f.
1.1.2 Die Quellmetapher. Ursprung der deutschen Versform
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zum Akzent, unklar bleibt.³⁴ Unzweifelhaft ist, dass Klopstock mit seinem Begriff des „Tonverhalts“ an eine bereits bestehende Tradition anknüpft, wonach sich der Vers im Deutschen durch eine vertikale Dimension auszeichne, die an den ‚Ton‘ gebunden sei. Für Klopstock ist diese Tiefendimension das Distinktionsmerkmal des deutschen Verses, das diesen von den willkürlich gebildeten antiken Metren unterscheide – ein Gedanke, den Klopstock in seinen poetologischen Oden ausgestaltet.
1.1.2 Die Quellmetapher. Ursprung der deutschen Versform Die Verankerung der Wortbewegung in einem ‚tieferen Grund‘ wird in Klopstocks poetologischen Gedichten anhand der Quell- und Strommetaphorik verhandelt. Dabei wird mit der fließenden Bewegung des Stroms eine neue, natürliche Art der Wortbewegung im Vers entworfen, die sich von einem häufig dezidiert ‚germanischen‘ Ursprung, der Quelle, herleitet. Bereits in der frühen Ode „Auf meine Freunde“ von 1747 stellt Klopstock die Wortbewegung des Gedichts als Strom dar: „So floß der Fluß, des Oceans Sohn, daher: / So fließt mein Lied auch, hoch, und gedanckenvol.“ ³⁵ (V. 17 f.) Variationen findet die Strommetapher später in den poetologischen Oden „Der Bach“ von 1766/1798 und „Unsere Sprache“ von 1767. Während die Strommetapher den Fokus auf die Wortbewegung richtet, rückt die Quellmetapher den germanischen Ursprung dieser Bewegung in den Vordergrund. In „Der Bach“ (Fassung von 1798) geht es um die Engführung der ‚inhaltlichen‘ Bewegung mit dem Versmaß, der „Wortbewegung“. Beschrieben werden dort ein Strom, der sich lautlos in der Tiefe bewegt, und ein Bach, der seinem Lauf „tonbeseelt“ folgt. Es wendet nach dem Strome des Quells Sich der Lautenklang des wehenden Bachs.
Mit Blick auf die Metriktheorien von Klopstock, Karl Philipp Moritz und Johann Heinrich Voss untersucht Lars Korten, ob sich bei Opitz der Akzent als prosodische Markierung unterscheiden lässt vom Ton als einem davon unabhängigen intonatorischen Parameter.Vgl. Lars Korten, Akzent und Ton. Prosodische Klang-Grundsätze in Martin Opitz’ und Enoch Hanmanns Dichtungslehren. In: Dichtung für die Ohren. Literatur als tonale Kunst in der Moderne, hg. von Britta Hermann, Berlin 2015, S. 145 – 166. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 8. 1798 überarbeitet unter dem Titel „Wingolf“. In der Überarbeitung wird die Kraft des dichterischen Sprachstroms noch mehr betont. Ebd., S. 9: „So floß der Waldstrom hin nach dem Ozean! / So fließt mein Lied auch, stark, und gedankenvoll.“
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1.1 Eisbahn und Quelle
Tief, und still strömet der Strom; tonbeseelt Rauschet der Bach neben ihm fort. Inhalt, den volle Seel’, im Erguß Der Erfindung, und der innersten Kraft, Sich entwirft, strömet; allein lebend muß, Will es ihm nahn, tönen das Wort. (V. 10 – 17)³⁶
Um vernommen zu werden, bedarf die lautlose Bewegung des Stroms der Übersetzung in den „Lautenklang“ und das Rauschen des Bachs. Dafür müssen die Läufe von Strom und Bach einander angepasst werden; Strom (Inhalt) und Bach (Ton) sollen einander in ihrer Bewegungsform entsprechen.³⁷ Dass eine solche Art von Dichtung der deutschen Sprache eigen sei, betont Klopstock am Schluss der Ode (V. 54 f.: „Schon lange maß der Dichter des Rheins / Das Getön des starken Liedes dem Ohr“³⁸). Das Motiv der Quelle steht hier im Hintergrund. Auf die Verbindung von Fluss und Quelle, genauer: auf die Tiefendimension des Stroms, geht Klopstocks Ode „Die deutsche Sprache“ von 1783 ein.³⁹ Bereits die erste Strophe betont dessen vertikale Dimension, die sich vom Grund bis in die Luft erstreckt. Ferner Gestade, die Woge schnell, Dem Blicke gehellt bis zum Kiesel ist, Das Gebüsch blinket er durch, oder wallt In die Luft, hohes Gewölk duftend, der Strom; (V. 6 – 9)
Die zweite Strophe vergleicht den Strom mit der deutschen Sprache, der ‚Sprache Hermanns‘, welcher sich – ganz wie Klopstock in seiner Dichtung – von der Herrschaft der Römer befreite: Wirbelchen drehn mit ihm fort. So strömt Die Sprache, die, Hermann, dein Ursohn spricht. (O auch du glichest dem Strom, Mann des Volks, Da dir Roms steigender Damm lockert’, und brach!) (V. 10 – 13)
Die dritte und vierte Strophe geben Aufschluss über die Herkunft und Geschichte des Stroms. Aus „[t]ieferen Quellen“ entsprungen sei er erst seit kurzem in ein
Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 271. Vgl. dazu auch Hans-Heinrich Hellmuth, Metrische Erfindung und metrische Theorie, S. 11– 14. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 275. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 442 f.
1.1.2 Die Quellmetapher. Ursprung der deutschen Versform
37
neues Flussbett geleitet worden, das das Rinnsal zu einem fließenden Strom werden ließ. Tieferen Quellen entströmet sie. Erst wenige Zeit, da der eine Quell Noch in den Sand floß, sich verlor. Säumend jetzt, Und mit Eil hallte der jetzt aus dem Geklüft; Aber er rann in den Kies. Nun kam Der Glücklichen Einer, und leitet’ ihn In den Strom. […] (V. 14– 20)
Die sechste Strophe schließlich stellt die Quelle dar, aus der sich der Strom als Wasserfall ergießt. Sage verbreitet, es schweb’ umher Wie Griechengestalten, bey Nacht am Quell; Und behorcht werde sein Fall, werd’ es, wenn Der Erguß tönet Verein, Gegenklang rauscht. (V. 26 – 29)
Eine Fußnote Klopstocks zur vierten Strophe gibt zu verstehen, dass der Wasserfall in dieser sechsten Strophe für den „Tonverhalt“ der Versform stehe und die Umleitung des Stroms in der vierten Strophe für den „Zeitausdruck“ (dort war von den verschiedenen Geschwindigkeiten des Flusses die Rede, V. 16 f.: „Säumend jetzt, / Und mit Eil“): „Das Silbenmaß hat theils Zeitausdruck, langsamen oder schnellen, theils Tonverhalt, der entweder übereinstimmend, oder kontrastirend ist. (‿‿— —. ‿— —‿) In dieser Strophe ist von dem Zeitausdrucke die Rede, in der vorletzten vom Tonverhalt.“⁴⁰ Der Vergleich des Wasserfalls mit dem „Tonverhalt“ macht deutlich, dass es dessen Tiefendimension ist, die dem Griechischen fehlt. Neben dem Wasserfall verblassen die „Griechengestalten“ zu Gespenstern, die des Nachts den Klang des fallenden Quells belauschen.⁴¹ Es ist also die vertikale Dimension, aus der eine Sprachbewegung hervorgeht, die die Griechen in den Schatten stellt. An den Oden „Der Bach“ und „Die deutsche Sprache“
Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 442. Klopstock bezweifelt auch in „Vom deutschen Hexameter“, dass die alten Dichter den „Tonverhalt“ gekannt hätten. Vgl. Klopstock, Vom deutschen Hexameter, S. 128 f.: „Wer ausmachen wollte, ob die Alten den Tonverhalt gekannt, das ist, bestimmt gedacht hätten, der müßte wohl vornehmlich die vielen Bedeutungen untersuchen, welche das Wort Rhythmus hat, und dann zusehn, ob er eine darunter fände, die vom Tonverhalte zu verstehen wäre. Das einzige hierher Gehörige treff’ ich bei Demetrius an.“
38
1.1 Eisbahn und Quelle
wird deutlich, wie sehr Klopstocks poetologische Gedichte seinen theoretischen Überlegungen bis ins Detail verbunden sind. Freilich ist der Vergleich des Verses mit einem Wasserlauf selbst ein antiker Topos. Mehr noch, er wird bereits in der Antike bemüht, wenn es darum geht, zu tradierten Versformen Stellung zu beziehen. So vergleicht etwa Horaz in seiner Ode 4, 2 die Dichtung Pindars, „aller Bande des Maßes ledig“, mit einem unbezähmbaren Bergstrom „aus tiefem Borne“. Wie ein Bergstrom stürzt, den der Regen schwellte Hoch zum Bord hinaus des gewohnten Bettes, Also braust und stürzt wie aus tiefem Borne Schrankenlos Pindar, Immer wert des Schmucks von Apollos Lorbeer: Ob in neuen Lauten des Dithyrambus Kühn er, aller Bande des Maßes ledig, Strömt seine Lieder[.]⁴²
Tatsächlich schöpft Klopstock also aus einem Topos antiker Dichtung, der im achtzehnten Jahrhundert im Zuge einer Ästhetik der Verlebendigung neue Konjunktur erlangte.⁴³ Dabei lässt sich auch an Gedichte Goethes denken, wie „Mahomets Gesang“ oder „Mächtiges Überraschen“, in denen die Befreiung bzw. die Begrenzung der Versform anhand der Bewegung eines Wasserstroms beschrieben werden. Wodurch sich Klopstocks Behandlung der Metapher auszeichnet, ist die ungewöhnliche Differenzierung zwischen verschiedenen Formen des Fließens, vom Rauschen bis hin zur Erstarrung. Die Überarbeitung seiner Ode „An Fanny“ etwa zeigt, dass Klopstock das Fließen der Zeit in der zweiten Fassung zu einem ‚Gerinnen‘ umgeschrieben hat. Lautet der Schluss der „Ode an Daphnen“ von 1749 noch: „Fließt unterdessen, fließt, melancholische / Stunden, vorüber! Keine von Thränen leer!“⁴⁴ (V. 41 f.), verändert Klopstock diese Bewegung in der späteren Fassung mit dem Titel „An Fanny“ von 1798: „Rinn unterdeß, o Leben. Sie komt gewiß / Die Stunde, die uns nach der Zypresse ruft!“ (V. 46 f.)⁴⁵ Tatsächlich nimmt das ‚Rinnsal‘ in Klopstocks morphologischem Repertoire der Wortbewegung eine zentrale Stelle ein – sehr
Horaz, IV, 2: „Monte decurrens velut amnis, imbres / Quem super notas aluere ripas, / Fervet inmensusque ruit profundo / Pindarus ore // Laurea donandus Apollinari, / Seu per audacis nova dithyrambos / Verba devolvit numerisque fertur / Lege solutis“. In: Horaz, Sämtliche Werke, hg. von Hans Färber, München/Zürich 1982, S. 180 f. Vgl. Oschmann, Bewegliche Dichtung, S. 8. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 74. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 75.
1.1.2 Die Quellmetapher. Ursprung der deutschen Versform
39
prominent etwa in der „Frühlingsfeyer“, wo die Erde in der Gestalt eines Tropfens der Hand des Allmächtigen ‚entrinnt‘ (Fassung von 1798): Da der Hand des Allmächtigen Die größeren Erden entquollen! Die Ströme des Lichts rauschten, und Siebengestirne wurden, Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen! (V. 9 – 12)⁴⁶
In der „Frühlingsfeyer“ wird der ‚entronnene Tropfen‘ zur Figur einer schöpferischen Formgewinnung aus dem Chaos. Doch in Klopstocks Formenspektrum mündet die Figur des Gerinnens nicht immer in eine vollendete Formbildung, sondern führt mitunter auch zur tödlichen Erstarrung. Die Starre als Kern der höchsten Bewegung formuliert Klopstock als ästhetisches Programm in seiner Vorrede zum ersten Band des Messias von 1755. Das „Von der heiligen Poesie“ betitelte Vorwort ist eine Apologie der poetischen Gestaltung religiöser Inhalte. Klopstock legt darin dar, auf welche Weise ein Dichter seine Zuhörer in den Zustand der größtmöglichen Rührung versetzen könne: Diesen stummen, erstaunungsvollen Schmerz will ich hervorbringen! Ich muß meine Hörer nach und nach mit wehmütigen Bildern umgeben. Ich muß sie vorher an gewisse Wahrheiten erinnern, die ihre Seele für diesen letzten großen Eindruck aufschließen. Wenn sie eine Weile bei Gräbern, die noch mit Blumen bedeckt waren, vorübergegangen sind, dann sollen sie, noch schnell genung, an die tiefe, totenvolle Gruft kommen. Führte ich sie auf einmal dahin, so würden sie mehr betäubt werden, als fühlen.⁴⁷
Seinen Hörer will Klopstock bewegen, indem er ihn den Tod erblicken lässt. Nicht auf den Berggipfel oder an das stürmische Meer – die üblichen Szenen des Erhabenen im achtzehnten Jahrhundert – führt Klopstock sein ästhetisches Subjekt, sondern „an die tiefe, totenvolle Gruft“.⁴⁸ Im Zentrum von Klopstocks Ästhetik der Bewegung befindet sich so etwas wie ein statischer Kern – das verbindet die Überlegungen aus „Von der heiligen Poesie“ mit der Poetik der Wortbewegung. Denn mit ihrem metrischen Projekt einer Festschreibung bestimmter Bewegungsarten zielt diese auf ein Feststellen von Bewegung. Die prekäre Verbindung
Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 173. Klopstock,Von der heiligen Poesie. In: Klopstock, Gedanken über die Natur der Poesie, S. 187– 201, hier: S. 194. Winfried Menninghaus liest daher Kants Kritik der Urteilskraft als eine kritische Auseinandersetzung mit Klopstock. Vgl. Winfried Menninghaus, Dichtung als Tanz – Zu Klopstocks Poetik der Wortbewegung. In: Comparatio. Revue Internationale de Littérature Comparée 2– 3 (1991), S. 129 – 150, hier: S. 146.
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1.1 Eisbahn und Quelle
von Bewegung und Erstarrung, die Klopstocks Metrik unternimmt, wird auf exemplarische Weise verhandelt in den Eislaufgedichten. Dort ist es die Erstarrung des fließenden Wassers zu Eis, die die Tanzschrift des Eisläufers überhaupt erst ermöglicht. Mit dieser Aufwertung der Starre wird der Bewegungsfluss als ästhetisches Ideal nicht nur infrage gestellt, die Quellbewegung wird in den Eislaufgedichten sogar als Bedrohung für den dichtenden Eistänzer inszeniert.
1.1.3 Eislauf als poetologische Metapher Das Bild des Eislaufs durchzieht Klopstocks gesamtes lyrisches Werk. Das früheste Gedicht, die Ode „Der Eislauf“, stammt von 1764. Es ist ein Preisgesang auf die Unsterblichkeit desjenigen, der neue Bewegungsformen erfindet – sowohl für die Poesie als auch für den Eislauf.⁴⁹ In „Braga“ (1766) und „Die Kunst Tialfs“ (1767/ 1798) verbindet Klopstock die poetologische Metapher des Eislaufs mit einem mythischen Schöpfungsszenario der deutschen Dichtung in der Tradition altgermanischer Bardengesänge. „Braga“ beschreibt die Erscheinung des germanischen Gottes Braga (der Gott der Dichtkunst in der germanischen Mythologie⁵⁰) auf dem Eis. „Die Kunst Tialfs“ existiert in zwei Fassungen: als „Eisode“ aus dem Jahr 1767 und unter dem späteren Titel „Die Kunst Tialfs“ (Untertitel: „Durch Wittekinds Barden Bliid, Haining, und Wandor.“) von 1798. Die Ode besteht aus einem Wechselgesang zwischen den drei Barden, die vom „Tanz der Lehrlinge Tialfs“, der Eisläufer, singen. Tialf ist, einer Fußnote Klopstocks zufolge, „Thors Begleiter, der mit dem Geiste des Riesen einen Wettlauf hielt“ (es scheint sich dabei um einen Wettlauf auf dem Eis zu handeln).⁵¹ Ein weiteres Gedicht von 1779 hat Klopstock 1798 unter dem Titel „Der Kamin“ überarbeitet. Es schildert die Freuden des winterlichen Eislaufs aus der Perspektive des „Weichling Behager[s]“ (V. 78), der an seinem Kamin der Abenteuer auf dem Eis gedenkt: „An des schwatzenden Stahlen / Naget indeß der Rost“ (V. 85 f.), schließt „Der Kamin“ mit ironischer Vgl. Klopstocks Ode „Der Eislauf“. In: Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 249: „Unsterblich ist mein Name dereinst! / Ich erfinde noch dem schlüpfenden Stahl / Seinen Tanz! Leichteres Schwungs fliegt er hin, / Kreiset umher, schöner zu sehn.“ (V. 18 – 21) Vgl. zum Eislaufmotiv als Versicherung der Unsterblichkeit des Dichters Terence K. Thayer, Intimations of Immortality: Klopstock’s Ode ‚Der Eislauf‘. In: Goethezeit. Studien zur Erkenntnis und Rezeption Goethes und seiner Zeitgenossen. Festschrift für Stuart Atkins, hg. von Gerhart Hoffmeister, Bern/München 1981, S. 31– 43, insbesondere S. 41. Vgl. Rudolf Simek, [Art.] Bragi. In: Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, Stuttgart 2006, S. 57 f. Vgl. die Fußnote Klopstocks zu V. 64 der Ode „Braga“, in der Tialf ebenfalls eine Rolle spielt: Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 282.
1.1.3 Eislauf als poetologische Metapher
41
Wendung.⁵² Die Elegie „Winterfreuden“ von 1797 schließlich stellt die Klage eines Eisläufers dar, der auf das Schlittschuhlaufen verzichten muss, nachdem ihm der Tanz auf dem „jüngere[n] Eis, welches dem eilenden brach“⁵³ (V. 26), fast zum Verhängnis wurde. Klopstocks dichterische Gestaltung des Eislaufs, die also eine Spanne von über 30 Jahren umfasst, ist dabei nicht einer bestimmten poetischen Form verpflichtet.Vielmehr wird das Eislaufen zum Schauplatz von Klopstocks metrischen Experimenten. So stellt das Ensemble der Eislaufgedichte einen Querschnitt durch seine Arbeit am poetischen Versmaß dar. Das Gedicht „Der Eislauf“ ist in einem von Klopstock erfundenen Versmaß geschrieben, das er von der ebenfalls 1764 verfassten Ode „Sponda“ übernimmt.⁵⁴ Das Versmaß in „Braga“ erfindet Klopstock eigens für diese Ode. In „Die Kunst Tialfs“ (bzw. „Eisode“ in der früheren Fassung) dann verzichtet er überhaupt auf feste Versmaße, die Ode ist in freien Rhythmen verfasst. Es gibt hier kein festes Metrum, sondern der Rhythmus basiert allein auf den sogenannten „Wortfüßen“.Während die frühere Fassung der „Eisode“ dabei die von Klopstock beabsichtigten Silbenbetonungen durch Unterstreichungen markiert, verzichtet Klopstock in der späteren Fassung „Die Kunst Tialfs“ auf diese Lesehilfe, so dass die rhythmische Interpretation der Versform ganz dem Leser überlassen bleibt.⁵⁵ Gerade die Loslösung von einem verbindlichen Metrum, die sich zwischen „Braga“ und „Eisode“/„Die Kunst Tialfs“ vollzieht, hat Interpretationen des Eislaufs als einer Szene der ‚rhythmischen Befreiung‘ Klopstocks nahegelegt. Hans-Heinrich Hellmuth etwa liest „Die Kunst Tialfs“ als Umsetzung von Klopstocks Idee einer ‚dithyrambischen‘, d. h. „gesetzlosen“ Dichtung.⁵⁶ Mark Emanuel Amtstätter spricht in seiner Studie zur „Sprache des Körpers und der Dichtung in Klopstocks Eislaufoden“ von der „Inszenierung einer Weiterentwicklung, eines poetischen Fortschritts von Braga
Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 257. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 554. Eine eingehende metrische Analyse der Eislaufoden bietet Hans-Heinrich Hellmuths sehr aufschlussreiche Darstellung. Vgl. Hellmuth, Metrische Theorie und metrische Erfindung bei Klopstock, S. 184– 187. Hellmuth weist allerdings auf die Ähnlichkeit der freien Rhythmen in „Die Kunst Tialfs“ mit Klopstocks selbst erfundenen Odenmaßen hin. Vgl. Hellmuth, Metrische Theorie und metrische Erfindung bei Klopstock, S. 185. Vgl. Hellmuth, Metrische Theorie und metrische Erfindung bei Klopstock, S. 186: „Wiederum wird der Schlittschuhlauf in enge Beziehung zu dem ‚dithyrambischen‘ Bardenlied gebracht […]: Der Vergleich zwischen Ullers Tanz auf dem Meerkrystalle und dem kühneren Bardenliede beruht auf beider Kennzeichnung als gesetzlos. Dies aber wird für den Dichter einer der Gründe gewesen sein, das Thema des Eislaufs in der ‚Kunst Tialfs‘ metrisch nicht mehr nach einem vorgeschriebenen Strophenmaß, sondern in ‚gesetzlosen‘ Freien Rhythmen zu gestalten!“
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1.1 Eisbahn und Quelle
zu Die Kunst Tialfs“⁵⁷. Mit den späteren Eislaufgedichten – „Der Kamin“ (1779/ 1798) und „Winterfreuden“ (1797) – wendet sich Klopstock dann zwar wieder strenger gebundenen Versformen zu.⁵⁸ „Der Kamin“ ist in einem von Klopstock eigens verfertigten Versmaß verfasst und „Winterfreuden“ greift auf das traditionelle elegische Distichon zurück. Doch diese Rückkehr zu konventionelleren Formen in den späteren Eislaufgedichten widerlegt nicht die Interpretation des Eislaufs als poetologische Metapher für eine freirhythmische Wortbewegung. Denn so, wie die metrischen Formen von „Der Kamin“ und „Winterfreuden“ Abstand zu den freien Rhythmen nehmen, wird auch in den Gedichten selbst eine distanzierte Haltung zum Eislauf eingenommen: Im „Kamin“ meidet der Sprecher die Eisbahn aus Bequemlichkeit und in „Winterfreuden“ sind es die Gefahren des Eislaufs, die den Schlittschuhläufer fernhalten. Dieser Querschnitt durch Klopstocks metrische Experimente anhand der Eislaufgedichte zeigt, dass er das Eislaufmotiv aufgreift, um seine Dichtung in neuen Metren und in freien Rhythmen poetologisch (und mythologisch) zu untermauern. Mit dem Bild des Eislaufs ist dabei verbunden die Vorstellung einer Überführung natürlicher Bewegung in eine poetische Form. Entscheidend dafür ist, dass Klopstock die Bewegung der Eisläufer als eine von sozialen oder ästhetischen Konventionen befreite begreift. Nur aus einer derart natürlichen Bewegung ließen sich die neuen Versformen ableiten. So berichtet Goethe in Dichtung und Wahrheit davon, dass der Eislauf für Klopstock eine ungekünstelte Bewegung bedeutete: „Von Kunststücken, die man bei dieser Übung zu machen pflegt, war er [Klopstock] kein Freund.“⁵⁹ Es lässt sich vermuten, dass Klopstock mit zeitgenössischen Überlegungen zur Ästhetik und Poetik des Tanzes vertraut war. William Hogarth hatte in seiner Analysis of Beauty von 1753 dargelegt, dass die Bewegungen der Tänzer eines „country dance“ Schlangenlinien beschrieben, die für Hogarth die vollendete Form der Schönheit darstellten.⁶⁰ Einen Zusammenhang
Amtstätter, Beseelte Töne, S. 90. Hellmuth vermutet aus diesem Grund, dass „Der Kamin“ früher zu datieren sei und zur gleichen Zeit entstanden ist wie „Braga“. Vgl. Hellmuth, Metrische Theorie und metrische Erfindung bei Klopstock, S. 187 f. Dies ändert aber nichts an der Rückwendung zu traditionellen Formen in Klopstocks später Dichtung, wofür insbesondere „Winterfreuden“ symptomatisch ist. Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. von Friedmar Apel u. a., 40 Bde., Frankfurt a. M. 1985 – 1999 (im Folgenden FA), Bd. 14, S. 711. Vgl.William Hogarth, The Analysis of Beauty, London 1753, S. 150 f.: „One of the most pleasing movements in country dancing, and which answer to all the principles of varying at once, is what they call the hay; the figure of it altogether, is a cypher of S’s, or a number of serpentine lines interlacing, or intervolving each other which suppose traced on the floor, the lines would appear as fig. …“
1.1.3 Eislauf als poetologische Metapher
43
zwischen Hogarths und Klopstocks Auffassung des Tanzes als Schrift stellte bereits der Zeitgenosse und Freund Klopstocks Helfrich Peter Sturz in seinen Erinnerungen an Klopstock her: „In dem Eislauf entdeckte sein [Klopstocks] Scharfsinn alle Geheimnisse der Schönheit, Schlangenlinien, gefälliger als Hogarth’s, Schwebungen, wie des pythischen Apolls; schöner als der Liebesgöttin Locken wehet ihm Bragas goldenes Haar.“⁶¹ Allerdings grenzte Klopstock den Eistanz von Hogarths Modell des Gesellschaftstanzes klar ab. Das mit dem Eislauf verbundene Ideal einer natürlichen Bewegung sei nur möglich ohne soziale Regulierung. So schließt „Die Kunst Tialfs“ mit der Rückkehr der Eisläufer aus der Natur in die Stadt, wo die Gesellschaft „regelreichen“ Tänzen frönt, die jedoch nicht nach dem Geschmack der Eisläufer sind. Wir kamen zum regelreichen Tanz in der lichten Halle, Und dem lärmenden Heerd’, auf dem die junge Tanne sank. Wir kosteten nur mit stolzem Zahn von der Halle Tanz, Und schliefen, zu der Nacht den Tag, gesunden Schlaf. (V. 103 – 106)⁶²
Überhaupt seien unnatürliche Bewegungen zur künstlerischen Darstellung nicht geeignet, heißt es in „Der Eislauf“, wo Klopstock schreibt: „Künstle nicht! Stellung, wie die, lieb’ ich nicht, / Zeichnet dir auch Preisler nicht nach.“⁶³ (V. 48 f.) Mit seinem Verweis auf den zeitgenössischen Kupferstecher Johann Martin Preissler betont Klopstock, dass eine ‚gekünstelte Stellung‘ beim Eistanz dem Künstler nicht zum Vorbild diene. Ähnlich im Gedicht „Der Kamin“, wo auf die Vorzüge des „freyeren“ Modells vor dem „gelohnte[n]“ hingewiesen wird: Die gesünderen, und froheren wünschet Der kennende Zeichner sich, Und vertauschte das gelohnte Modell Gern mit dem freyeren. (V. 73 – 76)⁶⁴
Diese Vorstellung einer natürlichen, von Zwängen jeglicher Art befreiten Körperbewegung verbindet Klopstock in der Eislaufmetapher mit der Absicht, die deutsche Metrik auf eine solche freie und natürliche Bewegung zurückzuführen. Der Eistanz als Schreibszene findet sich nicht allein bei Klopstock, sondern auch in zahlreichen Texten zum Eislauf des achtzehnten und neunzehnten Jahrhun Helfrich Peter Sturz, Klopstock an Boie. In: Sturz, Schriften. Erste Sammlung, Neue verbesserte Auflage, Leipzig 1786, S. 322– 337, hier: S. 331. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 319. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 250. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 257.
44
1.1 Eisbahn und Quelle
derts. Der Pädagoge Gerhard Ulrich Anton Vieth schreibt in seinem Versuch einer Encyklopädie der Leibesübungen von 1795: Buchstaben und Zahlen in das Eis zu zeichnen, wird demjenigen nicht zu schwer fallen, der obige Figuren herausbringen kann. Die großen Buchstaben der lateinischen Schrift bestehen aus Kreis- Schlangen- und Spirallinien, und lassen sich daher alle mit Schlittschuhen ausführen. Das E ist einer der schwersten in einem Zuge zu machen; es erfordert einen dreisten und plötzlichen Schwung in der Gegend des Knotens. Das S ist eine einfache Schlangenlinie, und dieser Zug kömmt in mehrern andern vor, z. B. in den Buchstaben A, D, L.⁶⁵
In einer Ausgabe der Gartenlaube von 1867 wird hingegen die Möglichkeit des „Namenschreibens“ auf dem Eis bestritten: Hier muß ich zuvörderst den allgemeinen Glauben an das „Namenschreiben“ unter die Mythen verweisen […]. Man kann wohl einzelne Buchstaben in lateinischen Current-Initialen, C, E, S mit Bogen in’s Eis schreiben, und also auch Namen, die aus diesen Buchstaben bestehen, allein schlechtweg Namen schreiben kann man nicht, wenn man zugleich dabei eine dem Auge gefällige Leibeswendung beobachten will.⁶⁶
Während Klopstock mit diesen Beschreibungen die Idee der Namens-Signatur im Eis teilt, unterscheidet sich sein Eistanz davon durch den poetologischen Anspruch. Die vom Eistänzer erzeugte Schrift ist für Klopstock nichts anderes als die „Wortbewegung“, also die metrische Form des Gedichts. So schreibt er in der „Eisode“, der früheren Fassung von „Die Kunst Tialfs“: Sie tanzten fort, Strophen und Antistrophen, Ruhten selten Epoden aus. Sie tanzten den ganzen Pindar durch, Da sank, ach viel zu früh! der Mond am Himmel herab. (V. 89 – 92)⁶⁷
Während hier noch Pindar das Modell der Choreographie der Eisläufer bildet, ist es im Gedicht „Braga“ umgekehrt die Bewegung der Eisläufer, aus der das Vers-
Gerhard Ulrich Anton Vieth, Versuch einer Encyklopädie der Leibesübungen, Berlin 1795, S. 351. Max Wirth, Auf den Flügeln des Stahls. In: Die Gartenlaube 62 (1867), S. 825 – 831, hier: S. 830 f. Ähnlich: H.E. Vandervell, A system of figure-skating. Being the Theory and Practice of the Art as developed in England, with a Glance at its Origin and History, London 1874, S. 24: „that most ridiculous delusion […] that it was a customary habit of accomplished skaters in their day to cut out their names in a series of evolutions on skates: a myth which, so long sustained and transmitted through a generation or two, and still accepted by many ignorant of the footsteps of the skater with a simple faith, is certainly not the least curious part of the history of skating.“ Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 316.
1.1.3 Eislauf als poetologische Metapher
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maß abgeleitet wird. So heißt es in einer Fußnote zu V. 61 der Ode „Braga“: „Ihr Silbenmaß bildete ich auf dem Eise nach meinen Bewegungen.“⁶⁸ Entsprechend sind die Eislaufgedichte als poetologischer Entwurf gedeutet worden, die das Versmaß auf natürliche Weise einer freien Körperbewegung des Menschen entspringen lassen.⁶⁹ Sie suggerieren, dass sich die Bewegungen des Eistänzers in die Eisoberfläche einschreiben und sich aus den so erzeugten Mustern die poetische Form generiere. Das heißt: Der Eislauf übernimmt die Funktion, die in den ‚Stromgedichten‘ dem Fluss zufiel, nämlich der metrischen Form den Ursprung in einer natürlichen Bewegung zu verleihen. In „Der Bach“ und „Die deutsche Sprache“ waren es die Quelle und ihre Tiefendimension, die die Versform begründeten. In den Eislaufgedichten ist es die ungebundene Bewegung des Eistänzers, aus der die neuen Versformen hervorgehen sollen. Dabei ersetzt der Eislauf die Quelle nicht einfach als Ursprungsszenario, sondern überlagert sie lediglich. Diese Doppelung des Ursprungs aber wird dem Bemühen um den ‚tieferen Grund‘ der Versbewegung zum Verhängnis. Denn der Strom aus der Tiefe bedroht die natürliche und lebendige Bewegung des Dichters auf dem Eis. Eine derart gegenläufige Vernetzung verschiedener Bildkomplexe ist in Klopstocks Werk nicht nur in den Eislaufgedichten zu finden. Am Beispiel der „Frühlingfeyer“ hat Katrin Kohl bemerkt, dass Klopstocks ausgedehnte Metaphern dort mitunter ein ‚Eigenleben‘ entwickeln: „The entire hymn is characterised by water imagery, which is initially defined by tropical substitution but then attains a reality of its own without definite signals to an ‚underlying meaning‘.“⁷⁰ Mit Bezug auf die Eislaufgedichte könnte man sogar noch weiter gehen: Die Referenz der Strommetapher löst sich hier weniger auf, als dass sie sich in ihr Gegenteil ver-
Dabei geht es um die Versicherung der Originalität von Klopstocks Erfindung. Vgl. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 282: „Ich habe weder dieß, noch sonst etwas, das in der Ode vorkomt, aus der Edda genommen. Ich hatte die Stelle, welche Cramer in seinen Anmerkungen daraus anführt, damals noch nicht gelesen, als ich die Ode machte. Ihr Silbenmaß bildete ich auf dem Eise nach meinen Bewegungen.“ Mark Emanuel Amtstätter nennt das Klopstocks „Poetik der actio“. Vgl. Amtstätter, Beseelte Töne, S. 161: „Klopstock radikalisiert die Versprachlichung des Körpers dahingehend, dass die Sprache aus dem Körper-Erlebnis bzw. dem Körper-Rhythmus hervorgeht: die getrennten Systeme des Körpers und der Sprache vermischen sich in rhythmisch-semantische patterns, sogenannte Wortfüße […], die als deklamierte Sprache hörbar, als geschriebene rhythmisch genau lesbar sind. Die bis dato nur im Rahmen der Rhetorik gekannte (gleichsam pantomimische) Ausdruckshaftigkeit des Körpers wird im Wortfuß verwandelt zu einer neu erschlossenen Expressivität des Subjektes aus seiner Körperlichkeit heraus. Dies meint die Formel von der Poetik der actio, die deshalb über das rein Rhetorische weit hinaus geht zu einem neuen Konzept der poetischen Subjekterschließung aus dem Körpererlebnis.“ Kohl, Rhetoric, the Bible, and the Origins of Free Verse, S. 167.
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1.1 Eisbahn und Quelle
kehrt – von einem Bild für die lebendige „Wortbewegung“ wird die Quelle dort zur Gefahr für eben jene Ursprungsfantasie der natürlichen Bewegung. Klopstocks konsistente Verwendung derselben Bildkomplexe suggeriert eine zugrundeliegende metaphora continua und doch verweigert sie sich einer allegorischen Lesart, da sich die Bilder auf keine konstante Bedeutung verpflichten lassen. Zwischen den Strom- und den Eislaufgedichten gewinnt das Bild der Quelle eine radikal neue Bedeutung.
1.1.4 „Von der Tücke des verborgenen warmen Quells“ In vielen der Eislaufgedichte wird der tanzende Dichter begleitet von einem untergründig strömenden Quell, der ihm das Eis unter den Füßen zu spalten droht. So warnt etwa das Gedicht „Der Eislauf“: Zurück! laß nicht die schimmernde Bahn Dich verführen, weg vom Ufer zu gehn! Denn wo dort Tiefen sie deckt, strömts vielleicht, Sprudeln vielleicht Quellen empor. Den ungehörten Wogen entströmt, Dem geheimen Quell entrieselt der Tod! Glittst du auch leicht, wie dieß Laub, ach dorthin; Sänkest du doch, Jüngling, und stürbst! (V. 58 – 65)⁷¹
Die Gefahr geht hier nicht, wie man vermuten könnte, von einer brüchigen Eisoberfläche aus, sondern von einem „geheimen Quell“, dem ‚der Tod entrieselt‘. Gewährte der Quell in den poetologischen ‚Stromgedichten‘ der „Wortbewegung“ Ursprünglichkeit, so wird er hier der Eislaufpoetik zur Bedrohung. Eine ähnliche Szene beschreibt auch die späte Elegie „Winterfreuden“. Auf einer wahren Begebenheit beruhend – Klopstock wurde beim Eislaufen von seinem Freund, dem Prediger Beindorf vor dem Einbruch ins Wasser gerettet („Dank dir noch Einmal, Beindorf, daß du mich rettetest!“,V. 31)⁷² –, wird in der Elegie die Gefahr des Eislaufens beklagt:
Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 251. Vgl. dazu etwa Carl Friedrich Cramers biographische Erzählung, die in weiten Teilen Klopstocks Gedichten nachempfunden ist. Wie in den Eislauf-Gedichten wird auch in Cramers Nacherzählung Klopstocks Einbruch auf die „verborgenen Ströme, und die warmen Quellen“ zurückgeführt: Carl Friedrich Cramer, Klopstock. In Fragmenten aus Briefen an Tellow von Elisa. Fortsetzung. Nachdruck der Ausgabe des Verlags Gottl. Friedr. Schniebes, Hamburg 1778, Bern 1971, S. 280 f.: „Er war auch, sagt ich, eines schönen Wintermorgens ausgegangen, auf dem
1.1.4 „Von der Tücke des verborgenen warmen Quells“
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Der du [„Kristall der Ströme“] so oft mit der labenden Glut der gefühlten Gesundheit Mich durchströmetest, Quell längeres Lebens mir warst, Wenn ich vorüberglitt an hellbeblütheten Ulmen; (Schnee war die Blume;) der Bahn warnende Stimme vernahm, […] Ach einst wurdest du mir, Kothurn, zum tragischen! Führtest Mich auf jüngeres Eis, welches dem eilenden brach. (V. 17– 26)⁷³
Hier ist es zwar das „jüngere[] Eis“, das dem Eisläufer zur Bedrohung wird. Doch betont wird – wie in „Der Eislauf“ – die Umkehrung der Quellmetapher von einem „Quell längeres Lebens“ in eine tödliche Bedrohung. Die mitunter schwer greifbare Gefahr, die von dem unterirdischen Quell ausgeht, gestaltet Klopstock in „Die Kunst Tialfs“ zu einem drastischen Bild. Die Eisläufer in diesem Gedicht singen „Eisgangslieder“, darunter eines von „der Tücke des verborgenen warmen Quells, / Da der schöne Jüngling sank“: Wir sangen der Eisgangslieder noch viel. Vom Weste, dem Zerstörer, ach! Wenn die Blume des nächtlichen Frostes welkt! Von der Tücke des verborgenen warmen Quells, Da der schöne Jüngling sank! Er schwung sich herauf, sein Blut Färbte den Strom, dann sank er wieder, und starb! (V. 65 – 70)⁷⁴
Die – sonst belebende – Wärme wird hier zur lebensbedrohlichen Gewalt. Neben dem warmen Westwind, der das Eis zu schmelzen droht, ist es der „verborgene[] warme[] Quell[]“, der die poetologische Idylle gefährdet. Das erklärt aber nicht, warum der Jüngling verwundet wird und eines blutigen Todes stirbt. Überhaupt lyngbyer See zu schweben; und ein Kunstverwandter, Beindorf hieß er, jetzt ist er Landprediger bey Oldenburg, begleitete ihn. […] Klopstocks Fehler ist zwar, bey aller seiner Kühnheit, Unvorsichtigkeit gerade gar nicht, und hier war um so weniger Gefahr, weil schon viele Wochen her das Eis hielt, und alle Welt drauf umher lief. Aber eins wußte er nicht. Denn, … und merken Sie sich das ja genau! zwey große Gefahren giebts auf dem Eise, die großen verborgenen Ströme, und die warmen Quellen. Lange liefen sie sicher auf den lyngbyer See umher. Endlich will er hinüber auf den friedrichsdahler. Auch der war zu, und fest; aber der Zug Wassers der beyde vereinigt, hatte die bedeckende Rinde auf dem kleineren See nicht dick genug werden lassen. Er wagts, weis das nicht, gleitet hin. Kaum ist er drauf: knaks! brichts! Er sank! […] Doch arbeitete er sich durch; aber wie er eine Hand auf legt, sich heraufzuschwingen, bricht das papierne Eis. Endlich schwimmt er an festes, altes an; aber neue Gefahr! der Strom hinter ihm drängt ihn, und drohet ihn unter das Eis zu stoßen.“ Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 554. Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 315.
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1.1 Eisbahn und Quelle
lässt sein Tod erstaunen: Die „Tücke des verborgenen warmen Quells“ scheint dem Eisläufer eine rätselhafte blutige Wunde zugefügt zu haben. Weiter wird die Szene des blutigen Todes im Eis in der „Kunst Tialfs“ nicht ausgeführt – gerade ihre Unstimmigkeit aber verleiht der Gewaltsamkeit des Todes beim Eistanz besonderen Nachdruck.⁷⁵ Was mit dieser prekären Eislaufpoetologie radikal in Frage gestellt wird, ist die Tiefendimension als Ursprung des deutschen Versmaßes, deren Begründung ein Anliegen von Klopstocks theoretischen Schriften zur Metrik war. Freilich lässt die Überlagerung der metaphorischen Komplexe auch andere Rückschlüsse zu. Literaturgeschichtlich kann sie gelesen werden als die Überschreibung eines antiken Modells des Ursprungs vom Versmaß im Tanz (χορος) durch eine moderne organizistische Ästhetik der strömenden Quellbewegung. Jedoch stellt ja bereits der Eistanz, wie Kevin Hilliard gezeigt hat, als ‚germanische Gründungsszene‘ für Klopstock eine „Kontrafaktur“ zum antiken Modell dar.⁷⁶ Thomas Althaus liest die Subversion der Quelle als Kritik am ungehemmten poetischen Ausdruck des Geniekults, von dem Klopstock sich abgrenzen wollte.⁷⁷ Damit bleibt aber der Stellenwert der Quell- und Strommetaphorik für Klopstocks Poetologie eines in der Tiefe verankerten deutschen Versmaßes unberücksichtigt. Die Einbruchsfantasien auf dem Eis, hervorgerufen durch die Gefahr aus der Tiefe, stellen Klopstocks Versästhetik des ‚tieferen Grunds‘ infrage. In den Eislaufgedichten wird dieser ‚tiefere Grund‘ der Versbewegung als grundsätzlich unverfügbar dargestellt, eine
Blutige Jagdszenen prägen etwa auch das Gedicht „Braga“. Dort wird nicht von der Einbruchsgefahr durch unterirdische Quellen gesprochen, sondern stattdessen der Eistanz mit gewaltsamen Jagdbildern verbunden.Vgl. „Braga“. In: Klopstock, Oden. In: HKA I.1, S. 281,V. 43 – 50: „Ha, wie sie blutet’, und den Adler aus der Wolke rief / Meine Lanze! Sangs, schwebete vorüber den Tanz / Des Bardiets wie in Orkanen, itzt schnell, / Langsamer jetzo mit gehaltnem Schwung. / Schlaget, ihr Adler, mit den Fittigen, und komt zum Mahl! / Trinket warmes Blut! Schwebete den Tanz des Bardiets / In dem schimmernden Gedüfte! So schön / Schwang sich Apollo Patareus nicht her!“ Kevin Hilliard hat die Eislaufgedichte sehr einleuchtend als Versuche Klopstocks rekonstruiert, die antiken Vorbilder durch ‚wiederbelebte‘ archaisch-germanische Muster zu überschreiben. Vgl. Kevin Hilliard, Klopstock in den Jahren 1764 bis 1770. Metrische Erfindung und die Wiedergeburt der Dichtung aus dem Geiste des Eislaufs. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 33 (1989), S. 145 – 184, hier: S. 166: „Der Eislauf, das dürfte jetzt außer Zweifel stehen, war von Klopstock als Kontrafaktur zum getanzten Chorgesang der Griechen konzipiert.“ Vgl. Althaus, „Nim den Schwung“, S. 207: „Mitten in der Genieperiode ist hier dennoch nicht das ursprüngliche, unverbildete Tun das richtige, vielmehr das erfahrene, erprobte, das weiß, wo und wann der Schwung zu nehmen ist, nämlich unter ihn tragenden Bedingungen. Das Risiko muss kalkulierbar bleiben, und das ist es erst dann, wenn die Ebenen festigender Normalität mit Vorsicht verlassen werden, nicht einfach nur mit einem schnell ikarisch anmutenden Enthusiasmus.“
1.1.4 „Von der Tücke des verborgenen warmen Quells“
49
Unverfügbarkeit, die auch die Ableitung des Versmaßes aus den natürlichen Bewegungen des Menschen auf der Eisbahn erschüttert. Deutlich wird in dieser prekären Schreibszene metrischer Formen, wie Klopstock – auf der Suche nach dem Ursprung der „Wortbewegung“ – den Rhythmus aus zwei verschiedenen Quellen ableitet, aus dem Tanz und dem Strom. Die Verbindung von Rhythmus und menschlicher Körperlichkeit, die Mark Emanuel Amtstätter in seiner Studie zum Kern von Klopstocks metrischer Theorie und Poetologie erklärt hat, hängt eng zusammen mit zeitgenössischen anthropologischen Rhythmus-Theorien, wie sie von August Wilhelm Schlegel und Johann Georg Sulzer entwickelt wurden.⁷⁸ Gemeinsam ist den Bildkomplexen des Eistanzes und des Stroms eine Ästhetik der Natürlichkeit, die, wie Remigius Bunia gezeigt hat, von zentraler Bedeutung für die Legitimation moderner Metriken ist, zwischen denen aber in Klopstocks poetologischen Gedichten eine Konkurrenz um den einen Ursprung des Rhythmus zutage tritt.⁷⁹ Die Dissonanzen in Klopstocks scheinbar allegorischem Metaphernnetz lassen die Inkongruenzen zweier geläufiger Metaphern des poetischen Rhythmus erkennen: des Tanzes als der Koordination menschlicher Körperbewegungen und des Stroms als einer ungebundenen, gesetzlosen Bewegung. Die Bedeutung dieser Bildlichkeiten für Konstruktionen des Ursprungs des Rhythmus hat Émile Benveniste in seinem einschlägigen Artikel zur Etymologie des Begriffs herausgearbeitet. Benveniste geht es in seinem Aufsatz „La notion de ‚rythme‘ dans son expression linguistique“ (1951) darum, eine oberflächliche Etymologie von Rhyth-
Vgl. Amtstätter, Beseelte Töne, S. 2.Vgl. zu Schlegels anthropologischer Rhythmus-Theorie die Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache. In: August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe I: Sprache und Poetik, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1962, S. 141– 180, sowie zu einer historischen Kontextualisierung Clémence Couturier-Heinrich, Schillers Beitrag zur deutschen Rhythmusdiskussion um 1800, In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 99/1 (2005), S. 189 – 211, insbesondere S. 189 – 199. Sulzer legt sein Rhythmus-Verständnis im entsprechenden Artikel seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste dar: Vgl. Johann Georg Sulzer, Rhythmus; rhythmisch. In: Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt, Nachdruck der 2. vermehrten Auflage Leipzig 1792– 1794, Hildesheim 1967– 1970, Bd. 4, S. 90 – 105. Vgl. zu einem Überblick über den anthropologischen Rhythmus-Diskurs um 1800 auch Clémence CouturierHeinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 35 – 82. Zu August Wilhelm Schlegels anthropologischem Rhythmus-Verständnis vgl. auch Joh. Nikolaus Schneider, Ins Ohr geschrieben. Lyrik als akustische Kunst zwischen 1750 und 1800, Göttingen 2004, S. 146 – 154. Vgl. Bunia, Metrik und Kulturpolitik, S. 66: „[K]eine Metriktheorie der Neuzeit kommt ohne Verweis auf die ‚Natürlichkeit‘ einer Metrik aus.“ Vgl. zum Natürlichkeitspostulat von Metriken auch Joh. Nikolaus Schneider, Ins Ohr geschrieben, S. 104– 108.
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1.1 Eisbahn und Quelle
mus zu widerlegen, die den Begriff auf das Bild eines regelmäßigen Wellenspiels zurückführte.⁸⁰ Als grundlegend für das moderne Rhythmus-Verständnis arbeitet er dessen platonische Prägung heraus, in der zum ersten Mal der Rhythmus an das metron geknüpft wurde, wodurch fortan die rhythmische Bewegung durch ihren Bezug auf ein Maß definiert wurde. Für diese Verbindung ist das Bild des Tanzes von zentraler Bedeutung: Il [Platon] innove en l’appliquant à la forme du mouvement que le corps humain accomplit dans la danse, et à la disposition des figures en lesquelles ce mouvement se résout. La circonstance décisive est là, dans la notion d’un ῥυθμός corporel associé au μέτρον et soumis à la loi des nombres: cette „forme“ est désormais déterminée par une „mesure“ et assujettie à un ordre. […] Et c’est l’ordre dans le mouvement, le procès entier de l’arrangement harmonieux des attitudes corporelles combiné avec un mètre qui s’appelle désormais ῥυθμός.⁸¹
Mit der Verbindung von Rhythmus und metron löse der platonische RhythmusBegriff den der ionischen Philosophie ab, der Rhythmus als ‚improvisierte, momentane und veränderliche Form‘ begriff: ῥυθμός, d’après les contextes où il est donné, désigne la forme dans l’instant qu’elle est assumée par ce qui est mouvant, mobile, fluide, la forme de ce qui n’a pas consistance organique: il convient au pattern d’un élément fluide, à une lettre arbitrairement modelée, à un péplos qu’on arrange à son gré, à la disposition particulière du caractère ou de l’humeur. C’est la forme improvisée, momentanée, modifiable.⁸²
Die vor- und nachplatonischen Rhythmus-Begriffe, die Benveniste herausarbeitet, nun mit Klopstocks Metaphern des Stroms als improvisierter Form und des Tanzes als einen durch das metron gebundenen Rhythmus zu identifizieren, ginge zu weit. Ausgehend von Klopstocks dezidiert metrischem Interesse sind beide Metaphernfelder seiner Gedichte einem nachplatonischen Rhythmus-Begriff zuzuordnen. Der Blick auf Benvenistes historische Differenzierung der Etymologie hilft aber, die Dissonanz der Rhythmus-Konzepte in Klopstocks Gedichten zu konturieren. Die Spannung zwischen den konkurrierenden Ursprungsszenarien des poetischen Rhythmus in Klopstocks Dichtung mag bislang auch deshalb übersehen worden sein, weil der Ruf von Klopstocks Dichtung als ‚bildarm‘ Tradition hat. Schiller zählte zu den ersten, die das Verdikt der ‚Geistigkeit‘ und ‚Körperlosigkeit‘ Vgl. Benveniste, La notion de „rythme“, S. 328: „Mais la liaison sémantique entre ‚rythme‘ et ‚couler‘ par l’intermédiaire du ‚mouvement régulier des flots‘ se révèle comme impossible au premier examen.“ Benveniste, La notion de „rythme“, S. 334 f. Benveniste, La notion de „rythme“, S. 333.
1.1.4 „Von der Tücke des verborgenen warmen Quells“
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formulierten. In „Über naive und sentimentalische Dichtung“ schreibt Schiller zu Klopstocks Messias: Für den Verstand ist alles trefflich bestimmt und begrenzt […]; aber es ist viel zu formlos für die Einbildungskraft, und hier, ich gestehe es frei heraus, finde ich diesen Dichter ganz und gar nicht in seiner Sphäre. […] Man möchte sagen, er ziehe allem, was er behandelt, den Körper aus, um es zu Geist zu machen, so wie andere Dichter alles Geistige mit einem Körper bekleiden.⁸³
In der Folge wurde diese Einschätzung von Klopstock als einem ‚unpoetischen Dichter‘ auch mit der Etikettierung des ‚grammatischen Poeten‘ (Friedrich Schlegel) tradiert, die seine dichterischen Kompetenzen auf die Grammatik und Metrik beschränkte.⁸⁴ Zwar beziehen sich die zeitgenössischen Urteile überwiegend auf Klopstocks Hauptwerk, den Messias, doch selbst in jüngeren Darstellungen zu Klopstocks Poetik finden sich vergleichbare Urteile. Für Winfried Menninghaus ist so die Eislaufpoesie Symptom für Klopstocks Verlagerung der „Poetizität der Poesie […] auf die syntagmatische Achse […] von Metrum, Rhythmus und Grammatik“: Die Klopstocksche Wortbewegung dagegen verlagert die Poetizität der Poesie ganz auf die syntagmatische Achse, aus der räumlichen Vertikalen in die zeitliche Horizontale – eben in die Dominante von Metrum, Rhythmus und Grammatik. […] Und auch darin entspricht der Eistanz aufs genaueste der Klopstockschen Poesie: als zeitliche Bewegung auf einer horizontalen Fläche schaltet er jeden bildlichen (Barock) oder gedanklichen (Aufklärung) Vertikalismus aus und privilegiert ganz die rhythmisch-grammatikalische Motorik.⁸⁵
Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. vom Schiller-Nationalmuseum in Marbach und von der Stiftung Weimarer Klassik, Weimar 1943 – 2006 (im Folgenden NA), Bd. 20, S. 457. Vgl. Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragment 127. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler, Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, 35 Bde., Paderborn/München/Wien/ Zürich/Darmstadt 1985 ff. (im Folgenden KFSA), Bd. 2, S. 186: „Klopstock ist ein grammatischer Poet, und ein poetischer Grammatiker.“ Vgl. auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III. In: Hegel, Werke, Bd. 15, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, S. 473: „In dieser Weise steht Klopstock groß im Sinne der Nation, der Freiheit, Freundschaft, Liebe und protestantischen Festigkeit da, verehrungswert in seinem Adel der Seele und Poesie, in seinem Streben und Vollbringen, und wenn er auch nach manchen Seiten hin in der Beschränktheit seiner Zeit befangen blieb und viele bloß kritische, grammatische und metrische, kalte Oden gedichtet hat, so ist doch seitdem, Schiller ausgenommen, keine in ernster männlicher Gesinnung so unabhängige edle Gestalt wieder aufgetreten.“ Menninghaus, Klopstocks Poetik der schnellen „Bewegung“, S. 328. Ähnlich auch Inka Mülder-Bach, die die Eislaufgedichte als Entwurf eines Raums versteht, in dem die Vertikale keine Geltung habe. Vgl. Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions, S. 228: „Seine Eisläufer müssen nicht
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1.1 Eisbahn und Quelle
Klopstocks Poetik der „syntagmatische[n] Achse“ lässt sich in ihrer Komplexität aber erst dann erfassen, wenn der Bildlichkeit seiner poetologischen Texte und ihrer mitunter subversiven Gestaltung von Klopstocks theoretischen Entwürfen ebenso Rechnung getragen wird. Zwar verschließen sich Klopstocks Bilder in ihrer Widersprüchlichkeit einer konsequenten Allegorik, doch lassen sie gerade in ihrer Inkonsistenz die Bemühungen des Dichters sichtbar werden, den Ursprung der eigenen poetischen Praxis und des sie leitenden Konzepts der „Wortbewegung“ zu fassen.
mehr steigen, denn die Vertikale liegt schon hinter ihnen; sie sind ohne Ziel, weil sie die Ziellinie schon überschritten haben.“
1.2 „Wie wenn am Feiertage …“. Hölderlins Projekt eines individuellen Metrums „Glaube […] nicht, Lieber! daß ich willkührlich mir eine eigene Form vorsetze, und ausklügle; ich prüfe mein Gefühl, das mich auf dieses oder jenes führt, und frage mich wohl, ob eine Form, die ich wähle, dem Ideal und besonders auch, dem Stoffe, den sie behandelt nicht widerspreche“¹, schreibt Friedrich Hölderlin im Jahr 1799 an Christian Ludwig Neuffer. In seinem Brief geht es um die Verserzählung Emilie vor ihrem Brauttag und um Hölderlins Entscheidung, den Text im Blankvers zu verfassen. Denn für moderne Stoffe – den Hintergrund für die Erzählung bildet der korsische Freiheitskrieg der fünfziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts – seien die überlieferten Formen der Antike ungeeignet. Jedoch verfiele der Gebrauch moderner Formen allzu leicht der subjektiven Willkür. Gegen diesen Verdacht erwehrt sich Hölderlin in der Passage, die im Kontext lautet: Es ist mir gar nicht um den Schein des Neuen dabei zu tun; aber ich fühle und sehe immer mehr, wie wir zwischen den beiden Extremen, der Regellosigkeit – und der blinden Unterwerfung unter alte Formen und der damit verbundenen Gezwungenheit und falschen Anwendung schwanken. Glaube deswegen nicht, Lieber! daß ich willkürlich mir eine eigene Form vorsetze, und ausklügle; ich prüfe mein Gefühl, das mich auf dieses oder jenes führt, und frage mich wohl, ob eine Form, die ich wähle, dem Ideal und besonders auch, dem Stoffe, den sie behandelt nicht widerspreche. Freilich kann ich dann im Allgemeinen recht haben, aber in der Ausführung um so leichter in Mißtritte geraten, weil ich nur mir selber folge, und mich an kein sinnlich Muster halten kann. Aber es ist eben keine andere Wahl; so wie wir irgend einen Stoff behandeln, der nur ein wenig modern ist, so müssen wir, nach meiner Überzeugung die alten klassischen Formen verlassen, die so innig ihrem Stoffe angepaßt sind, daß sie für keinen andern taugen.²
Der moderne Dichter stehe vor der Wahl zwischen „der blinden Unterwerfung unter alte Formen“ und der regellosen Willkür subjektiver Formschöpfung. Vor dieser Willkür bewahre den Dichter das Festhalten an einem „sinnlich Muster“. Ein solches Muster versucht Hölderlin zu entwerfen in der unvollendeten Hymne „Wie wenn am Feiertage …“, die um 1800 entstanden ist und als Übergang von der Verwendung horazischer Odenmaße zu den freirhythmischen Gesängen des Spätwerks gilt.³ In der Feiertags-Hymne versucht Hölderlin, ein individuelles Metrum zu verfassen, eine selbst geschaffene Form, die denselben Anspruch auf Hölderlin an Neuffer, 3. Juli 1799. In: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, 3 Bde., hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992– 1994 (im Folgenden KA), Bd. 3, S. 367. Hölderlin an Neuffer, 3. Juli 1799. In: KA 3, S. 367. Zur Datierung vgl. Jochen Schmidt, Kommentar. In: KA 3, S. 656. https://doi.org/10.1515/9783110693119-005
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1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
Verbindlichkeit zu erheben vermag wie die tradierten Maße der Antike, ohne dabei in „Mißtritte [zu] geraten, weil ich nur mir selber folge“. Die Entwicklung der Gestaltung von Metrum und Rhythmus in Hölderlins Gedichten hat Boris Previšić beschrieben als einen Prozess der „metrischen Dekomposition“⁴. Die klassisch-horazischen Odenmaße der Tübinger Hymnen aus den frühen 1790er Jahren werden dabei aufgelöst in die freien Rhythmen der späten Gesänge. In diesem Verlauf markiert die Feiertags-Hymne einen Umschlagpunkt und eine Ausnahme: sie stellt den Versuch dar, ein eigenes Metrum zu entwerfen. Mit den späten Gesängen verbindet sie der Anspruch an eine individuelle Formschöpfung, für den Friedrich Beißner die Bezeichnung des ‚Eigenrhythmischen‘ prägte.⁵ Mit den früheren Gedichten hat die Feiertags-Hymne das Festhalten an der Normativität des Metrums gemein. Mit Blick auf Beißners Wortprägung könnte man anhand der metrischen Komposition in der FeiertagsHymne von einer ‚eigenmetrischen‘ Dichtung sprechen. Formale Zusammenhänge werden natürlich auch in den Gedichten nach 1800 auf vielfältige Weisen gestiftet. Den späten Gesängen liegt häufig ein triadisches Formprinzip zugrunde; dabei verbindet Hölderlin etwa das Versmaß des elegischen Distichons mit einem triadischen Strophenaufbau (z. B. in der zweiten Fassung von „Der Wanderer“ oder in „Brod und Wein“). Wie Boris Previšić gezeigt hat, verweisen selbst die freien Rhythmen der späten Dichtung immer noch auf antike Metren, indem sie beispielsweise äolische Perioden als Formzitate aufgreifen.⁶ Hölderlin verliert auch im Spätwerk das Metrum nicht aus den Augen,
Boris Previšić, Hölderlins Rhythmus. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2008, S. 12: „Diese Entwicklung wird chronologisch zu erfassen und als metrische Dekomposition zu beschreiben sein. Der freie Vers steht immer auch in einem besonderen Verhältnis zu gebundenen metrischen Formen der Antike, zu Elegie- und Odenform. Zunächst ist ein geregelter Verfall dieser metrischen Formen zu beobachten, welche zum Teil vor, zum Teil während der frühen Gesänge entstehen. Der metrische Hintergrund der Gesänge erweist sich von zusätzlicher Relevanz, da sie sich metrisch in bestimmten Perioden verfestigen. Diese werden in der Folge aufgebrochen und auf einen eigenen Rhythmus gebracht.“ Previšić stellt in seinen ausführlichen Analysen die formstiftende Wirkung des Metrums im Prozess der „metrischen Dekomposition“ bei Hölderlin heraus: Auch die freirhythmischen Gedichte verweisen noch auf das gebrochene Metrum. Die in der Forschung vielfach aufgegriffene Bezeichnung des ‚Eigenrhythmischen‘ verwendet Friedrich Beißner im Kommentar des Gedichts „Am Tage der Freundschaftsfeier“ (Hölderlins erstem Gedicht in freien Rhythmen) in der Großen Stuttgarter Ausgabe. Vgl. Friedrich Beißner, Kommentar. In: Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hg. von Friedrich Beißner, Stuttgart 1946 – 1977, Bd. I.2, S. 369. Previšić betont aber auch, dass dieses Ergebnis nicht generalisierbar sei, sondern von Gedicht zu Gedicht verschieden. Vgl. Previšić, Hölderlins Rhythmus, S. 230: „Während in Die Wanderung, Germanien, Der Rhein und Friedensfeier der Pherekrateus in unterschiedlicher Form die wichtigste äolische Periode darstellt, scheint eine möglichst hohe Varianz im Gesang Patmos programma-
1.2.1 „Wie wenn am Feiertage …“
55
doch das Experiment einer ‚eigenmetrischen‘ Dichtung unternimmt er nur in der Feiertags-Hymne.⁷ Während sich also an den späten Gedichten eine zunehmende Lösung des Rhythmus vom Metrum nachvollziehen lässt, geht es in „Wie wenn am Feiertage …“ darum, das metrische Gesetz mit seiner rhythmischen Realisation im Bewusstsein ihrer Differenz zur Deckung zu bringen.
1.2.1 „Wie wenn am Feiertage …“ Die Hymne „Wie wenn am Feiertage …“ entsteht im Zusammenhang von Hölderlins Übersetzungen aus dem Altgriechischen. Im Manuskript schließt der Text
tisch zu sein, um die inhaltliche synkretische Bewegung möglichst breit aufzufangen.“ Das Wechselverhältnis von freirhythmischer Dissoziation und metrischer Formkonstitution untersucht auch Bruce Lawder, der feststellt, dass scheinbar unmetrische Verse sich aus gebrochenen Hexametern zusammensetzen.Vgl. Bruce Lawder,Vers le vers, Paris 1993, S. 244: „Les ‚vers libres‘ de Hölderlin sont donc libres non seulement de se détacher de la métrique, mais aussi de s’y rattacher. Comme nous l’avons vu, ses vers, ‚libres‘ sur l’axe horizontal, peuvent même se transformer, sur l’axe vertical, en l’unité qui leur manque horizontalement; ils peuvent donc remplir leur manque, en tant que ‚libre‘, en se rattachant au ‚donné‘. Ainsi ces vers, ‚libres‘ sur l’axe horizontal, Denn es hasset / Der sinnende Gott / Unzeitiges Wachstum. se rattachent, lorsqu’on les lit verticalement, au ‚grand vers classique‘, l’hexamètre, où le ‚libre‘, en se transformant, se révèle en tant que manifestation du donné.“ Auf das ‚strenge Gesetz‘ der freien Rhythmen hat auch Friedrich Beißner hingewiesen. Vgl. Friedrich Beißner, Hölderlins Gedicht. Eine Einführung. In: Beißner, Hölderlin, Reden und Aufsätze, Köln 1969, S. 3 – 14, hier: S. 7. Bereits Beißner hat auf die Ausnahmestellung der Feiertagshymne hingewiesen. Vgl. Friedrich Beißner, Erläuterungen. In: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Kleine Stuttgarter Ausgabe, hg. von Friedrich Beißner, Stuttgart 1953, Bd. 2: Gedichte nach 1800 (im Folgenden Kl.StA 2), S. 425. In den letzten Jahrzehnten ist die Bedeutung des ‚Metrischen‘ für Hölderlins Poetologie mehr und mehr ins Blickfeld der Forschung gerückt. Vgl. dazu etwa Elena Polledris Studie zum Maß-Begriff bei Hölderlin: Elena Polledri, „—immer bestehet ein Maas“. Der Begriff des Maßes in Hölderlins Werk, Würzburg 2002. Im Anschluss daran Wolfram Groddeck, Zahl, Maß und Metrik in Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“. In: Weiterlesen. Literatur und Wissen. Festschrift für Marianne Schuller, hg. von Ulrike Bergermann und Elisabeth Strowick, Bielefeld 2007, S. 159 – 173. Einschlägige Studien zum Verhältnis von Metrum und Rhythmus in Hölderlins Dichtung haben außerdem neben den bereits zitierten von Bruce Lawder und Boris Previšić vorgelegt: Wolfgang Binder, Hölderlins Verskunst. In: Binder, Friedrich Hölderlin. Studien von Wolfgang Binder, hg. von Elisabeth Binder und Klaus Weimar, Frankfurt a. M. 1987, S. 82– 109, und in jüngerer Zeit Winfried Menninghaus, der die intertextuelle Dimension von Hölderlins Metrik herausgearbeitet hat: vgl. Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Frankfurt a. M. 2005, S. 10. Diese Arbeiten machen anschaulich, auf welche Weisen Hölderlins Rhythmus sich stets im Verhältnis zu einem gegebenen Metrum konstituiert.
56
1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
an die Übersetzung der Bakchen des Euripides an.⁸ Die Form lässt außerdem auf einen Bezug zur sogenannten ‚Großen Pindar-Übertragung‘ schließen, Hölderlins Übersetzung von nahezu 200 Versen aus Pindars Oden. Obwohl die Datierung der Pindar-Übertragung umstritten ist und es sich nicht mit Sicherheit klären lässt, ob Hölderlin die Feiertags-Hymne im Anschluss an die Pindar-Übertragung verfasste oder bereits davor, kann als unzweifelhaft gelten, dass das Gedicht aus einer intensiven Auseinandersetzung mit den Versformen der Pindarischen Epinikien hervorgegangen ist.⁹ Hölderlin übernimmt hier zum ersten Mal die von Pindar verwendete triadische Strophenform für seine eigene Dichtung. Dabei werden jeweils drei Strophen zu einer Triade gebündelt, die einen inhaltlichen und formalen Zusammenhang bildet. Darüber hinaus folgt Hölderlin in der FeiertagsHymne dem Prinzip der metrischen Responsion, das zu seiner Zeit noch weitgehend unbekannt war.¹⁰ In Pindars Hymnen entsprechen sich jeweils die ersten zwei Strophen einer Triade (Strophe und Antistrophe) metrisch. Die Epode, die jeweils dritte Strophe der Triade, folgt einem anderen Metrum, das sich von Epode zu Epode wiederholt. Dieses Muster der metrischen Strophenresponsion übernimmt Hölderlin, indem er die Struktur a-a-b zu a-b-c modifiziert. Es entsprechen sich damit je die 1., 4., 7., die 2., 5., 8. und die 3., 6., 9. Strophe metrisch.¹¹ Während also die einzelnen Verse zunächst ‚freirhythmisch‘ gestaltet erscheinen, da das
Vgl. dazu Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 7: Gesänge I. Dokumentarischer Teil, hg. von Dietrich E. Sattler, Frankfurt a. M./ Basel 2000 (FHA 7), S. 95. Die besondere Stellung der Feiertagshymne im Manuskript – zwischen der Euripides-Übersetzung und dem Gedicht „Hälfte des Lebens“ – ist vielfach bemerkt und interpretiert worden. Vgl. etwa Peter Szondi, Interpretationsprobleme. Hölderlin: Feiertagshymne, Friedensfeier. In: Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik (Studienausgabe der Vorlesungen), Bd. 5, hg. von Jean Bollack und Helen Stierlin, Frankfurt a. M. 1975, S. 193 – 402, hier: S. 222 sowie S. 272. Vgl. zur Frage der Datierung Dieter Bremer, Christiane Lehle, Zu Hölderlins Pindar-Übersetzung. Kritischer Rückblick und mögliche Perspektiven. In: Neue Wege zu Hölderlin, hg. von Uwe Beyer, Würzburg 1994, S. 71– 111, insbesondere S. 79 – 84. Andere Pindarische Formelemente wie das der Wortresponsion sind Gegenstand jüngerer Analysen, vgl. Karl Maurer, Die Anfänge von Hölderlins hymnischem Sprechen – ‚Wie wenn am Feiertage …‘. In: „Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes“. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Hölderlin, hg. von Christoph Jamme und Anja Lemke, München 2004, S. 21– 66, hier: S. 36. Einschlägig zu Hölderlins motivischer Pindar-Rezeption: Albrecht Seifert, Untersuchungen zu Hölderlins Pindar-Rezeption, München 1982, S. 122 – 352. Vgl. hierzu Boris Previšićs Analyse von „Wie wenn am Feiertage…“, die das Metrum – so weit möglich – im Einzelnen rekonstruiert. Previšić, Hölderlins Rhythmus, S. 108 – 110.
1.2.1 „Wie wenn am Feiertage …“
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Metrum sich nicht κατὰ στίχον (per Vers) oder κατὰ μέτρον (per Strophe) konstituiert, tritt der metrische Zusammenhang auf der Ebene der Triaden zutage.¹² Der Text mag daher den Eindruck erwecken, dass sich das Metrum prozessual aus den freirhythmischen Versen konstituiert. Das übliche Verhältnis von Metrum und Rhythmus, bei dem der Rhythmus sich in Abweichung von einem gegebenen Metrum konstituiert, scheint umgekehrt: Der Versrhythmus bildet sich nicht mehr a posteriori in Differenz zu einem apriorischen Metrum.¹³ Stattdessen tritt der Rhythmus als das Formapriori auf, aus dem a posteriori das Metrum hervorgeht. Metrum und Rhythmus werden damit nicht notwendig als identisch begriffen, sondern unter Berücksichtigung ihrer Differenz in Übereinstimmung gebracht. Aus einem apriorischen Rhythmus entsteht im Verlauf des Gedichts das Metrum als prozessuale Form.¹⁴ Diese Interpretation der Versform der Feiertags-Hymne als dem Entwurf einer prozessualen Metrik bewegt sich freilich an der Grenze zur Spekulation. Dagegen einzuwenden wäre etwa, dass die metrische Form nach wie vor als Apriori fungiert und dass sich die Umkehrung des Verhältnisses von Rhythmus und Metrum dem Text nicht ohne weiteres ablesen lässt. Literaturgeschichtlich ist auch das Verfassen eines eigenen Metrums kein Novum, wie das Beispiel Klopstocks gezeigt hat. In Klopstock fand Hölderlin ein Modell für die Emanzipation von den als normativ begriffenen antiken Metren, denn Klopstock hatte auf Grundlage seiner Wortfußtheorie eigene Metren entworfen, die er seinen Gedichten voranstellte.
In der altgriechischen Metrik wird zwischen Sprechversen und Singversen unterschieden. Sprechverse sind im Allgemeinen strengeren metrischen Ordnungen verpflichtet, das Metrum wird κατὰ στίχον oder κατὰ μέτρον komponiert. Die Formen der Singverse hingegen sind freier und können κατὰ μέτρον oder ‚nicht κατὰ μέτρον‘ verfasst sein. Vgl. Bruno Snell, Griechische Metrik, Göttingen 1955, S. 9. Vgl. Boris Previšić zu Karl Philipp Moritz’ Versuch einer deutschen Prosodie im Hinblick auf Hölderlins freirhythmische Gedichte: Previšić, Hölderlins Rhythmus, S. 22: „Doch wie sich in den Ausführungen zu Moritz’ Versuch einer deutschen Prosodie zeigen wird, herrscht zwischen dem Rhythmus und dem Metrum nicht immer ein derart eindeutiges Verhältnis. Wird die Dichotomie selbst in Frage gestellt, so kann sich das vermeintlich Vorgegebene auch als das eigentlich Abgeleitete entpuppen. Wird das metrische Schema im freien Vers vollends verlassen, ist nicht mehr zwischen Vorgängigkeit und Ableitung zu unterscheiden. Der Rhythmus formt sich dann nicht mehr strikt a posteriori aus, sondern kann als a priori vorgeformt gelten. Der Rhythmus tendiert dazu, selbsttragend zu werden.“ Das Abrücken von einer einfachen Identifizierung von Rhythmus und Metrum, oder zumindest deren Problematisierung, kann – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – als wesentlicher Unterschied von Hölderlins Entwurf eines prozessualen Metrums zu Christopher Hastys prozessual begründeter Identifizierung von Rhythmus und Metrum gelten, die ansonsten große Ähnlichkeiten mit dem hier an Hölderlin entwickelten Metrik-Konzept aufweist. Vgl. Hasty, Meter as Rhythm, S. 13.
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1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
Klopstocks selbst entwickelte Versmaße halten jedoch am konventionellen Verhältnis von a priori-Metrum und a posteriori-Rhythmus fest. Mit seinen Metren hatte Klopstock die Absicht, eine germanische Dichtungstradition zu fingieren. Sie sollten an die Stelle der antiken Formmodelle treten und dabei deren normative Funktion übernehmen. So stellte Klopstock die Schemata seiner Metren – als verbindliche Norm – den Gedichttexten häufig voran. Anders die prozessuale Konstitution des Metrums aus dem Rhythmus in der Feiertags-Hymne: Damit aktualisierte Hölderlin eine andere Auffassung von Metrum, die aus dem Kontext der Pindarischen Epinikien stammt. Denn die Epinikien basierten nicht auf tradierten Metren – stattdessen hatte jeder Pindarische Preisgesang ein eigenes Metrum.¹⁵ Das heißt nicht, dass das Metrum und der Rhythmus dadurch in eins fielen, denn das Prinzip der metrischen Responsion erlaubte es, zwischen Metrum und Rhythmus nach wie vor zu unterscheiden. Doch lässt sich dieses Metrum nicht länger als vorgängige Form bestimmen. Mithilfe von Remigius Bunias Differenzierung zwischen drei möglichen „Versprogrammen“ lässt sich der besondere Ansatz der Feiertags-Hymne, auch in seinem Unterschied zu Klopstocks Versbehandlung, schärfen. Bunia grenzt das Metrum als abstraktes Schema ab von der Prosodie als der lautlichen Realisierung (der Rhythmus-Begriff spielt in seinem Modell keine Rolle). Zwischen diesen beiden Säulen, auf denen jede Metrik beruhe, seien drei verschiedene Relationen denkbar: Die „Norm“ setze das metrische Schema der Prosodie voraus, in der „Deduktion“ würde das Metrum aus der Prosodie abgeleitet. Im Fall der „Reziprozität“ bestimmten Metrum und Prosodie einander gegenseitig.¹⁶ Die „Deduk-
Vgl. Otto Knörrich, [Art.] Pindarische Ode. In: Knörrich, Lexikon lyrischer Formen, Stuttgart 1992, S. 169: „Im Gegensatz zu dieser [der Horazischen Ode], die sich an feste metrische Formen hält […], wurden für die Chorlieder immer wieder neue Melodien und damit auch neue metrische Formen erfunden.“ Vgl. auch Bruno Snell, Griechische Metrik, S. 38: „Die griechische Musik kannte keine Vielstimmigkeit, brauchte deshalb nicht durch festen Takt zusammengehalten zu werden, und die anspruchsvolle Kunst suchte Fülle und Wechsel gerade, indem sie vom einförmigen Rhythmus der festen Metren und gleichlangen Perioden loszukommen strebte. Zu reichen Formen führte das zumal in der Chorlyrik, wo jedes neue Gedicht anscheinend neue metrische Formen haben mußte; jedenfalls kennen wir kein Beispiel, daß eine Strophe wiederverwandt wäre.“ Bunia, Metrik und Kulturpolitik, S. 41 f.: „Es gibt drei Versprogramme: Norm, Deduktion und Reziprozität. Ohne die Pfade im metrischen Viereck genauer nachzuzeichnen, lassen sich die drei Klassen zunächst vereinfacht als jeweilige Typen der Abbildung zwischen metrischem und prosodischem Raum verstehen. In dieser Vereinfachung liegt Norm vor, wenn die metrische Dimension der prosodischen vorgeht und vielleicht Einfluss auf die konkrete Rezitation nimmt; Deduktion ist anzutreffen, wenn eine metrische Dimension aus der prosodischen hergeleitet wird; und Reziprozität ist dadurch charakterisiert, dass sich die Größen gegenseitig bestimmen.“
1.2.1 „Wie wenn am Feiertage …“
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tion“ beschreibt Verse in freien Rhythmen, die aufgrund von prosodischen Prinzipien gebildet werden. Die „Reziprozität“ sieht Bunia erfüllt in Klopstocks selbst erfundenen Metren, die auf prosodischen Beobachtungen fußen.¹⁷ Dabei lässt sich die Reziprozität als Zusammenschluss von Norm und Deduktion begreifen. Denn sowohl das zentrale Charakteristikum der Norm, nämlich dass die realisierte metrische Struktur den Ausgangspunkt der Interpretation bildet, als auch dasjenige der Deduktion, nämlich dass die abstrakte prosodische Struktur als unverrückbarer Kern erscheint, finden sich in der Reziprozität wieder. Doch weicht die Reziprozität von der Norm insofern ab, als sie keine Spannung zwischen abstrakter prosodischer Struktur (Interpretation) und (realisierter oder abstrakter) metrischer Formel kennt.¹⁸
Hölderlins metrisches Experiment in der Feiertags-Hymne lässt sich dem Modell der „Reziprozität“ zuordnen, insofern es sowohl den normativen als auch den deduktiven Anspruch zu erfüllen sucht. Dabei sollen aber Norm und Deduktion nicht ineinander aufgehen, wie es der Fall bei Klopstocks selbst erfundenen Metren ist. Die „Spannung“ zwischen Prosodie und Metrik, die sich in Klopstocks Metren auflöst, ist stattdessen konstitutiv für die metrische Konzeption der Feiertags-Hymne. Während die metrische Form auf der prosodischen Wortform basiert, wird zugleich an der Heteronomie des Metrums festgehalten. Denn ein Dichter, der sich sein eigenes Metrum erfindet, läuft Gefahr, „in Mißtritte [zu] geraten, weil ich nur mir selber folge“, wie es Hölderlin in seinem Brief an Neuffer formulierte. Lässt sich Klopstocks metrische Erfindung gemäß der „Reziprozität als Zusammenschluss von Norm und Deduktion“ verstehen, wird Hölderlins metrisches Experiment in „Wie wenn am Feiertage …“ beschreibbar als der Versuch, Norm und Deduktion gleichermaßen umzusetzen, ohne sie als identisch zu begreifen. In der Feiertags-Hymne, genauer: in ihren komplexen Vergleichen und mythologischen Verweisen, wird genau dieses Problem einer autonomen Formschöpfung verhandelt, um das es Hölderlin in seinem Versuch geht, ein individuelles Metrum zu schreiben. Die Hymne beginnt mit einem ausgedehnten Vergleich, der sich über die ersten zwei Strophen des Gedichts erstreckt. Die erste Strophe beschreibt einen Landmann, der am Morgen nach einer Gewitternacht sein Feld betrachtet. Erst mit der zweiten Strophe wird deutlich, dass diese Szene Teil eines Vergleichs zwischen dem Landmann und dem Dichter bildet. Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn Ein Landmann geht, des Morgens, wenn
Vgl. Bunia, Metrik und Kulturpolitik, S. 96 f. Bunia, Metrik und Kulturpolitik, S. 50 f.
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1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
Aus heißer Nacht die kühlenden Blitze fielen Die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner, In sein Gestade wieder tritt der Strom, Und frisch der Boden grünt Und von des Himmels erfreuendem Regen Der Weinstock trauft und glänzend In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines: So stehn sie unter günstiger Witterung Sie die kein Meister allein, die wunderbar Allgegenwärtig erzieht in leichtem Umfangen Die mächtige, die göttlichschöne Natur. Drum wenn zu schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern So trauert der Dichter Angesicht auch, Sie scheinen allein zu sein, doch ahnen sie immer. Denn ahnend ruhet sie selbst auch.¹⁹
Der Vergleich zwischen Dichter und Landmann gewinnt an Bedeutsamkeit vor dem Hintergrund des hier behandelten Formproblems, nämlich der Stiftung eines eigenen metrischen Zusammenhangs. Dass es sich beim Ackerbau um eine poetologische Metapher handelt, suggeriert nicht zuletzt die oft bemühte Etymologie des Wortes ‚Vers‘, das vom lateinischen versus hergeleitet worden ist, d. h. von der Furche, die ein Bauer beim Pflügen des Feldes gräbt.²⁰ Der Akt der autonomen Formstiftung ließe sich entsprechend als das tertium comparationis zwischen der Urbarmachung der Erde durch den Landmann und dem poetischen Entwurf des Verses durch den Dichter rekonstruieren. Gerade diese Analogie von Landmann und Dichter ist in der Forschung zur Feiertags-Hymne jedoch umstritten. Ein Blick auf die Kontroverse um den Vergleich bietet Hinweise auf die Implikationen des Formexperiments und den möglichen Grund seines Scheiterns. Peter Szondi hat argumentiert, dass der Dichter in der Hymne mit dem Weinstock verglichen würde, in Abgrenzung von der Lektüre Martin Heideggers,
Die Feiertags-Hymne wird im Folgenden zitiert nach Hölderlin, Gedichte. In: KA 1, S. 239 – 241. Vgl. etwa Wolfgang Kayser, Geschichte des deutschen Verses. Zehn Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten, Bern 1960, S. 15: „Versus heißt ja Kehre. Das Wort stammt aus der Bildlichkeit des Bauern, der die eine Furche pflügt und in der anderen zum Anfang zurückkehrt“. Jüngst prominent von Giorgio Agamben aufgegriffen, der die bustrophedische Schreibweise als Grundfigur der Prosa auffasst. Vgl. Giorgio Agamben, Idee der Prosa, übersetzt von Dagmar Leupold und Clemens-Carl Härle, Frankfurt a. M. 2003, S. 23 f.
1.2.1 „Wie wenn am Feiertage …“
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der den Dichter mit dem Landmann identifiziert hatte.²¹ In seinem Aufsatz „Interpretationsprobleme“ schreibt Szondi: Hier ist zunächst nur darauf hinzuweisen, daß sich auch im übrigen Werk des späten Hölderlin wohl kaum eine Stelle findet, welche den Beruf des Dichters, der ein Schicksal ertragender und prophetischer ist, mit dem Glück und der Souveränität des am Feiertag das Feld betrachtenden Landmannes zu vergleichen erlaubte.²²
In anderen Worten: Gegen den Vergleich von Dichter und Landmann spricht, dass er in Hölderlins Spätwerk sonst nirgends vorkommt. Dieses Argument mag vom Kritiker des unüberlegten Gebrauchs der Parallelstellenmethode auf den ersten Blick überraschen.²³ Selbst wenn man von der Problematik des Parallelstellenvergleichs absieht, scheint die These kaum haltbar. Es gibt zahlreiche Belege für das Bild des Ackerbaus in Hölderlins späten Gedichten. Auch ohne Berücksichtigung des Bildkomplexes der „Erde“, der weiterreichende Implikationen mit sich brächte²⁴, fehlt es nicht an Beispielen für das Urbarmachen des Landes. In „Dichterberuf“ etwa ist die Rede von den Menschen, denen der Gott „den Acker baut“, in der Rheinhymne ist es der „Vater Rhein“, der das „Land baut“, im „Ister“ machen die Ströme das Land urbar und in der spätesten Überarbeitung von „Der Einzige“ wird von Dionysos als einem „Ackersmann“ gesprochen²⁵. Dabei findet sich selbst in der Feiertags-Hymne eine weitere Erwähnung des Landmann-Motivs. Deren vierte Strophe schließt mit einem Verweis auf die, „die uns lächelnd den Acker gebauet, / In Knechtsgestalt, sie sind erkannt, / Die Allebendigen, die Kräfte der Götter.“ (V. 34– 36) Jedoch zieht Szondi nicht das Landmann-Motiv als
Heideggers Interpretation der Feiertagshymne gilt vor allem dem Naturbegriff und versteht den Landmann als eine von Hölderlin neu entworfene Art der Bezugnahme des Menschen auf die Natur. Vgl. Martin Heidegger, „Wie wenn am Feiertage…“. In: Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. I.4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, hg. von Friedrich-Wilhelm Herrmann, Frankfurt a. M. 1981, S. 49 – 77, hier: S. 52: „Wie ein Landmann auf seinem Gang, froh ob der Behütung seiner Welt, in der Feldmark verweilt, ‚So stehn sie unter günstiger Witterung‘ – die Dichter.“ Sowie S. 54: „Die mächtige, weil göttlichschöne, weil wunderbar allgegenwärtige Natur umfängt die Dichter. Sie sind in das Umfangen einbezogen. Dieser Einbezug versetzt die Dichter in den Grundzug ihres Wesens. Solche Versetzung ist Erziehung. Diese prägt das Geschick der Dichter“. Zu Szondis Kritik vgl. Szondi, Interpretationsprobleme, S. 218 und S. 241– 245. Szondi, Interpretationsprobleme, S. 242. Vgl. Peter Szondi, Über philologische Erkenntnis. In: Szondi, Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt 1970, S. 9 – 34, insbesondere S. 16 – 29. Vgl. dazu Previšić, Hölderlins Rhythmus, S. 237 f. Vgl. Schmidt, Kommentar. In: KA 1, S. 968.
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1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
solches in Hölderlins Dichtung in Zweifel, sondern dessen Verbindung mit dem „Beruf des Dichters“. Tatsächlich zeigt ein zweiter Blick auf die soeben angeführten Textstellen, dass das Urbarmachen der Erde bei Hölderlin stets den Göttern zugeschrieben wird, nicht aber dem menschlichen Dichter. In der FeiertagsHymne sind es die „Kräfte der Götter“, die, verborgen unter der „Knechtsgestalt“, den Acker bauen.²⁶ In „Dichterberuf“ wird die Dienstbarmachung der göttlichen Kräfte „de[s] Erhabne[n]“ zum Ackerbau, in weiterem Sinne: die Missachtung der Götter durch die Menschen (‚das schlaue Geschlecht‘), beklagt: Zu lang ist alles Göttliche dienstbar schon Und alle Himmelskräfte verscherzt, verbraucht Die Gütigen, zur Lust, danklos, ein Schlaues Geschlecht und zu kennen wähnt es, Wenn ihnen der Erhabne den Acker baut, Das Tagslicht und den Donnerer, und es späht Das Sehrohr wohl sie all und zählt und Nennet mit Namen des Himmels Sterne.²⁷
In der Rheinhymne baut der „Vater Rhein“ das Land für die Menschen: Nachdem er die Berge verlassen, Stillwandelnd sich im deutschen Lande Begnüget und das Sehnen stillt Im guten Geschäfte, wenn er das Land baut Der Vater Rhein und liebe Kinder nährt In Städten, die er gegründet.²⁸
Ebenso sind es die „Ströme“, die in der Hymne „Der Ister“ das Land für die Tiere und Menschen erschließen: Hier aber wollen wir bauen. Denn Ströme machen urbar Das Land. Wenn nämlich Kräuter wachsen Und an denselben gehen Im Sommer zu trinken die Tiere, So gehn auch Menschen daran.²⁹
Dabei handelt es sich um eine mythologische Anspielung auf den griechischen König Admetos, dem Apollo während seiner Verbannung aus dem Olymp diente und das Feld bestellte.Vgl. Schmidt, Kommentar. In: KA 1, S. 661. Hölderlin, Gedichte. In: KA 1, S. 307. Hölderlin, Gedichte. In: KA 1, S. 330. Hölderlin, Gedichte. In: KA 1, S. 362.
1.2.1 „Wie wenn am Feiertage …“
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Explizit mit einem Gott, Dionysos, wird der „Ackersmann“, wie bereits erwähnt, dann in einer späten Überarbeitung von „Der Einzige“ identifiziert. Die von Peter Szondi herausgestellte Problematik des Landmann-Vergleichs tritt damit deutlich zutage: Hölderlin bemüht das Bild des Landmanns in der Regel zur Bekräftigung der Heteronomie von (kultureller) Formstiftung; das Urbarmachen der Erde und die Formschöpfung sind göttliche Handlungen, die den Menschen überliefert werden, ohne dass diese darüber verfügten. Das bedeutet nicht, dass in der Feiertags-Hymne keine Analogie zwischen dem menschlichen Dichter und dem Landmann als göttlichem Formstifter hergestellt wird. Vielmehr unterstreicht es den Ausnahmecharakter des Formexperiments in diesem Gedicht: Den Dichtern in „Wie wenn am Feiertage …“ geht es darum, einen eigenen Formzusammenhang zu stiften – etwas, das sonst nur die Götter vermögen. Das Metrum stellt für Hölderlin eine heteronome Form dar, die seit alters her überliefert ist, und über die der Dichter nicht selbst verfügt. Genau darauf legt es aber die Feiertags-Hymne mit ihrem Vergleich von Dichter und Landmann an. Die Ambivalenz der Dichterposition zwischen Heteronomie und Autonomie wird in einem weiteren Vergleich am Ende der zweiten Triade deutlich. Darin wird eine Analogie zwischen den Dichtern und der mythologischen Figur der Semele angedeutet, die vom unverhüllten Anblick des Zeus vernichtet wurde. So fiel, wie Dichter sagen, da sie sichtbar Den Gott zu sehen begehrte, sein Blitz auf Semeles Haus Und die göttlichgetroffne gebar, Die Frucht des Gewitters, den heiligen Bacchus.
Indem er den Mythos der Semele auf die Dichter bezieht, wendet Hölderlin den Vergleich aber auf überraschende Weise. Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt Die Erdensöhne ohne Gefahr. Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.
Vom Tod Semeles, dem Preis für den Übermut, dem Gott von Angesicht zu Angesicht begegnen zu wollen, ist bei Hölderlin nicht die Rede. Anders als Semele gehen die Dichter unversehrt aus der Berührung mit dem göttlichen Strahl hervor. Anstatt vernichtet zu werden, vermögen sie den Blitz ungeschützt zu fassen. Das mag als Folge der Geburt des Dionysos durch Semele – oder genauer: der zwei-
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1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
fachen Geburt des Gottes durch Semele und Zeus – verstanden werden. Die gemeinsame göttlich-menschliche Schöpfung des Dionysos würde es dem menschlichen Dichter demnach ermöglichen, den göttlichen Geist zu fassen und mitzuteilen.³⁰ Doch mindert das nicht die Unstimmigkeit des Vergleichs zwischen Semele und den Dichtern. Gemeinsam ist ihnen die ungeschützte Begegnung mit dem Göttlichen – während Semele dafür mit dem Tod bezahlt, überleben die Dichter, um dem Volk Gesang, „der Götter und Menschen Werk“, zu bringen. Auch dieser Vergleich ‚hinkt‘ und zwar auf dieselbe Weise wie der des Landmanns: Er zeugt von dem Zwiespalt in der Positionierung des Dichters zwischen Mensch und Gott, zwischen der Affirmation von Autonomie der Formschöpfung und der Einsicht in ihre Heteronomie. Wie aus der Einsicht in die ‚Doppelbödigkeit‘ der Vergleiche schlägt die dritte Triade einen neuen Ton an, der sich von der Bildlichkeit der ersten zwei Triaden distanziert.³¹ Auch hier geht es um das Verhältnis des Dichters zum Gott, das die Rekonstruktion der Lesarten erhellt, die auf Eduard Lachmann zurückgeht. Lachmann hatte gezeigt, dass der göttliche Strahl, dem in der späteren Fassung das Attribut „rein“ beigefügt ist, zunächst als „heilig“ beschrieben worden war. Der frühere Entwurf lautete³²: Denn sind wir reinen Herzens wir, den Kindern gleich sind schuldlos oder gereiniget von Freveln unsere Hände, dann tödtet nicht, der heilige
Hölderlin veränderte diese erste Fassung dann auf folgende Weise: Den sind nur reinen Herzens Wie Kinder wir, sind schuldlos unsere Hände der reine versengt [uns] es nicht Des Vaters Strahl, er tödtet
Zu Hölderlins Dionysos-Bild und insbesondere zur Bedeutung der Dionysos-Figur für die Feiertags-Hymne vgl. Bernhard Böschenstein, „Frucht des Gewitters“. Hölderlins Dionysos als Gott der Revolution, Frankfurt a. M. 1989, S. 114– 136. Vgl. zur ‚Doppelbödigkeit‘ von Hölderlins Vergleichen Rainer Nägele, Text, Geschichte und Subjektivität in Hölderlins Dichtung. „Uneßbarer Schrift gleich“, Stuttgart 1985, S. 188: „Diese Kluft wird zunächst vom Text verdeckt, als hinge sein Gelingen davon ab. Und bis dahin scheint sich auch alles zu fügen, wenn auch schon das Anfangsgleichnis doppelbödig ist.“ Zit. nach Eduard Lachmann, Hölderlins erste Hymne. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 17 (1939), S. 221– 251, hier: S. 234.
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In der Rekonstruktion Friedrich Beißners: Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen. Denn sind nur reinen Herzens, Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände, Des Vaters Strahl, der reine versengt es nicht Und tieferschüttert, die Leiden des Stärkeren Mitleidend, bleibt in den hochherstürzenden Stürmen Des Gottes, wenn er nahet, das Herz doch fest. Doch weh mir! wenn von³³
Indem Hölderlin das Attribut des göttlichen Strahls verändert von „heilig“ zu „rein“, nähert er den Gott dem menschlichen Dichter an, der „reinen Herzens“ ist. Auch diese Fassung der Begegnung von Gott und Dichter legt eine Anverwandlung beider nahe, die es unmöglich macht, den Dichter eindeutig auf die Seite der Menschen zu verweisen. Die Beschreibung von Dichter und Gott scheint letztlich auf eine Identifizierung beider hinauszulaufen – eine Konsequenz, die freilich mit der abschließenden Warnung an den „falschen Priester“ verworfen wird, mit der das Gedicht abbricht. Weh mir! Und sag ich gleich, Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen, Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden Den falschen Priester, ins Dunkel, daß ich Das warnende Lied den Gelehrigen singe. Dort
Zit. nach Kl.StA 2, S. 124. So in der Ausgabe von Jochen Schmidt übernommen. Vgl. KA 1, S. 240 f.
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1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
1.2.2 „Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist …“. Durchgängiger Zusammenhang und poetische Individualität Das Formproblem der Feiertags-Hymne beschäftigt Hölderlin auch in seinem Aufsatz zur ‚Verfahrungsweise des poetischen Geistes‘ („Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist …“), der vermutlich Anfang des Jahres 1800, d. h. zur Zeit der Arbeit an „Wie wenn am Feiertage …“, entstanden ist.³⁴ Dort verhandelt Hölderlin unter anderem die Frage, wie Individualität sich poetisch mitteilen lasse. In Auseinandersetzung mit Fichte legt Hölderlin dar, dass die Selbsterkenntnis des Ich auf ein „äußeres Object“ angewiesen sei.³⁵ Violetta Waibel fasst die Verbindung zwischen Hölderlins Beschäftigung mit Fichtes Behandlung des Problems der intellektuellen Anschauung und der eigenen poetologischen Frage nach der Artikulation poetischer Individualität im Gedicht zusammen: Die Strukturparallele einer Selbstkonstruktion des Geistes setzt sich fort in der Darstellung der „Selbsterkenntnis der poetischen Individualität“. Das Ich muß sich selbst begreifen, auffassen durch ein Objekt seiner Wahl, um den der Reflexion eigenen durchgängigen Widerstreit in einen durchgängigen Zusammenhang zu bringen. Erst dieser durchgängige Zu-
Zur Datierung vgl. Johann Kreuzer, Kommentar. In: Friedrich Hölderlin, Theoretische Schriften, hg. von Johann Kreuzer, Hamburg 1998, S. 122. Vgl. Hölderlin, Wenn der Dichter. In: Hölderlin, Theoretische Schriften, S. 39 – 62, hier: S. 50: „Da er [der poetische Geist] aber sie [seine Individualität] nicht durch sich selbst und an sich selbst erkennen kann, so ist ein äußeres Object nothwendig und zwar ein solches, wodurch die reine Individualität, unter mehreren besondern weder blos entgegensezenden, noch blos beziehenden sondern poetischen Karakteren, die sie annehmen kann, irgend Einen anzunehmen bestimmt werde, so daß also sowohl an der reinen Individualität, als an den andern Karakteren, die jezt gewählte Individualität und ihr durch den jezt gewählten Stoff bestimmter Karakter, erkennbar und mit Freiheit vestzuhalten ist.“ Zur Erläuterung und Kontextualisierung des Aufsatzes zur Verfahrungsweise in Hölderlins Werk vgl. Marion Hiller, ‚Harmonisch entgegengesetzt‘. Zur Darstellung und Darstellbarkeit in Hölderlins Poetik um 1800, Tübingen 2008, S. 140: „Die ursprüngliche poetische Individualität kann sich somit nicht rein an sich selbst auffassen. Sie ist sich nur erkennbar über die Vermittlung durch ein anderes, das sie zwar sein kann, das sie aber nicht als sie selbst ist, das heißt: Dieses andere, der poetische Charakter, den die poetische Individualität durch die Wahl des äußeren Objekts, des Stoffes, annimmt, ist zwar ein Zustand, welcher der reinen poetischen Individualität möglich ist, doch ist er diese nicht ‚an ihr selbst‘. Die poetische Individualität kann sich nur durch ein anderes und in einem anderen ihrer selbst auffassen.“
1.2.2 „Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist …“
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sammenhang von Ich und Welt macht die Bestimmung des Menschen begreiflich, durch die das poetische Ich dem Gedicht seine Bedeutung verleiht.³⁶
Die Vermittlung des poetischen Geistes durch ein „äußeres Object“ ist Voraussetzung für die Konzeption eines durchgängigen Zusammenhangs, der den poetischen Geist mitteilbar machte. Denn letztlich geht es Hölderlin in seinen poetologischen Überlegungen im Aufsatz zur Verfahrungsweise in erster Linie um die Kommunikation des ‚poetischen Geistes‘, der sich nicht nur in sich selbst, sondern auch in anderen ‚reproduzieren‘ solle.³⁷ Ziel der dichterischen Arbeit sei das Auffinden eines „poetischen Wirkungskreises“, „worinn und woran das jedesmalige poëtische Geschäfft und Verfahren sich realisirt, das Vehikel des Geistes, wodurch er sich in sich selbst und in andern reproducirt.“³⁸ Hölderlin konstruiert ein komplexes System von aufeinander bezogenen Dichotomien, um die Artikulation der poetischen Individualität im Gedicht als einen Prozess der Vermittlung von Identität und Differenz darzustellen. Er führt dabei folgende Parameter an: den ‚sinnlichen Gehalt‘, der im Gegensatz zur ‚sinnlichen Form‘, die sich gleich bleibt, für „Verschiedenheit“ steht; den „Widerstreit zwischen geistigem Gehalt (zwischen der Verwandtschaft aller Teile) und geistiger Form (dem Wechsel aller Teile)“³⁹; den „Widerstreit zwischen dem materiellen Wechsel, und der materiellen Identität“⁴⁰. Ferner ist von der ‚objektiven Form‘, dem ‚objektiven Gehalt‘, dem ‚idealischen Gehalt‘ und der ‚idealischen Form‘ die Rede. Hölderlin nimmt dabei keine eindeutige terminologische Differenzierung vor; es wird nicht geklärt, wie sich der sinnliche Gehalt und die sinnliche Form zum materiellen Wechsel und zur materiellen Identität verhalten; ebenso wenig wird der Unterschied zwischen geistiger, idealischer und objektiver Form (bzw. Gehalt) erläutert.⁴¹ Festhalten lässt sich aber, dass aus der Reihe von Gegen-
Violetta Waibel, „Das Lebendige in der Poësie“. In: Texturen 4: „Wo sind jetzt Dichter?“ Homburg, Stuttgart 1798 – 1800, hg. von der Hölderlin-Gesellschaft Tübingen, Tübingen 2002, S. 230 – 262, hier: S. 230. Vgl. zur Spannung von Hölderlins ‚kommunikativer‘ Dichtung zwischen „Hermetik und Öffentlichkeit“ Rainer Nägele, Hermetik und Öffentlichkeit. In: Hölderlin-Jahrbuch 19/20 (1975 – 1977), S. 358 – 386, hier: S. 378: „Hölderlin will noch kommunizieren. […] Der Tendenz zur Privatisierung, zur subjektiven Lyrik, zum Ausdruck persönlichen Gefühls setzt Hölderlin hier eine objektive Lyrik entgegen, eine, die es mit dem Öffentlichen – denn das meint das Vaterländische – zu tun hat, so wie Pindars Lyrik eine öffentliche war.“ Hölderlin, Wenn der Dichter, S. 42. Hölderlin, Wenn der Dichter, S. 39. Hölderlin, Wenn der Dichter, S. 40. Vgl. Hölderlin, Wenn der Dichter, S. 39 – 41. Einschlägig zur Einordnung des Aufsatzes in Hölderlins Philosophie ist die Studie Michael Konrads: Michael Konrad, Hölderlins Philosophie
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1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
satzpaaren, die Hölderlin zueinander in Beziehung setzt, eine Kategorie gesondert behandelt wird. Der Definition der „materiellen Identität“ widmet er eine ausführliche Fußnote, die in Auszügen lautet: [M]aterielle Identität? sie muß ursprünglich das im Stoffe seyn, vor dem materiellen Wechsel, was im Geiste die Einigkeit vor dem idealischen Wechsel ist, sie muß der sinnliche Berührungspunkt aller Theile seyn. Der Stoff muß nehmlich auch, wie der Geist, vom Dichter zu eigen gemacht, und vestgehalten werden, mit freiem Interesse […]. Der Stoff muß also vertheilt, der Totaleindruk muß aufgehalten, und die Identität ein Fortstreben von einem Puncte zum andern werden, wo denn der Totaleindruk sich wohl also findet, daß der Anfangspunct und Mittelpunct und Endpunct in der innigsten Beziehung stehen, so daß beim Beschlusse der Endpuncte auf den Anfangspunct und dieser auf den Mittelpunct zurückkehrt.⁴²
Bei der „materiellen Identität“ handelt es sich um den „sinnliche[n] Berührungspunkt aller Teile“. Insofern ließe sie sich in Beziehung setzen zur Funktion des Metrums im Gedicht, eine sinnlich wahrnehmbare Form zu stiften, die die Teile miteinander verbindet. Bereits Michael Konrad hat in seiner Studie des Aufsatzes nahegelegt, dass mit den Kategorien des „materiellen Wechsel[s]“ und der „materiellen Identität“ der poetische Rhythmus gemeint sei.⁴³ Im Anschluss an Konrads Bemerkung wäre weiter zwischen dem „materiellen Wechsel“ und der „materiellen Identität“ zu differenzieren, die sich in Entsprechung zum Rhythmus und zum Metrum begreifen ließen. Dass für Hölderlins Poetologie gerade letztere Kategorie, die der „materiellen Identität“, von besonderer Bedeutung ist, zeigt sich wiederum am Ende des poetologischen Teils des Aufsatzes. Dort heißt es: [I]ch sage so ist nothwendig, daß der poëtische Geist bei seiner Einigkeit, und harmonischem Progreß auch einen unendlichen Gesichtspunct sich gebe, beim Geschäffte eine Einheit, wo er im harmonischen Progreß und Wechsel alles vor und rükwärts gehe, und durch seine durchgängige karakteristische Beziehung auf diese Einheit nicht blos objectiven Zusammenhang, für den Betrachter, auch gefühlten und fühlbaren Zusammenhang und Identität im Wechsel der Gegensäze gewinne, und es ist seine lezte Aufgabe, beim harmonischen Wechsel einen Faden, eine Erinnerung zu haben, damit der Geist nie im einzelnen Momente, und wieder einem einzelnen Momente, sondern in einem Moment wie im andern fortdau-
im Grundriss. Analytisch-kritischer Kommentar zu Hölderlins Aufsatzfragment „Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes“, Bonn 1967. Zur poetologischen Kontextualisierung vgl. Marion Hiller, ‚Harmonisch entgegengesetzt‘, S. 121– 276. Hölderlin, Wenn der Dichter, S. 40. Konrad, Hölderlins Philosophie im Grundriss, S. 147: „Materieller Wechsel und materielle Identität sind identisch miteinander im Rhythmus. Der Terminus wird nicht genannt; das entspricht durchweg dem Verhalten Hölderlins in diesem Aufsatz, aus anderen Poetiken bekannte Ausdrücke nach Möglichkeit zu vermeiden, vielleicht weil zu viel anderes oder auch wieder zu wenig, als hier gemeint ist, in ihnen mitgedacht wird.“
1.2.2 „Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist …“
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ernd, und in den verschiedenen Stimmungen sich gegenwärtig bleibe, so wie er sich ganz gegenwärtig ist, in der unendlichen Einheit, welche einmal Scheidepunct des Einigen als Einigen, dann aber auch Vereinigungspunct des Einigen als Entgegengesezten, endlich auch beedes zugleich ist, so daß in ihr das Harmonischentgegengesezte weder als Einiges entgegengesezt, noch als Entgegengeseztes vereinigt, sondern als beedes in Einem als einig entgegengeseztes unzertrennlich gefühlt, und als gefühltes erfunden wird. Dieser Sinn ist eigentlich poëtischer Karakter, weder Genie noch Kunst, poëtische Individualität – und dieser allein ist die Identität der Begeisterung und die Vollendung des Genie und der Kunst, die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment gegeben.⁴⁴
Die Aufgabe des Dichters bestehe demnach in der Stiftung eines Formzusammenhangs, der von allen Teilen des Gedichts aus nicht nur ersichtlich, sondern ‚fühlbar‘ sei: [D]aß der poëtische Geist bei seiner Einigkeit, und harmonischem Progreß auch einen unendlichen Gesichtspunct sich gebe, beim Geschäffte eine Einheit, wo er im harmonischen Progreß und Wechsel alles vor und rükwärts gehe, und durch seine durchgängige karakteristische Beziehung auf diese Einheit nicht blos objectiven Zusammenhang, für den Betrachter, auch gefühlten und fühlbaren Zusammenhang und Identität im Wechsel der Gegensäze gewinne[.]⁴⁵
Ein solcher fühlbarer Zusammenhang – die „durchgängige karakteristische Beziehung auf diese Einheit“ – erlaube die Artikulation der „poëtische[n] Individualität“. Anhand des Begriffs des ‚Durchgängigen‘ ist der Einfluss der Organisationstheorie des achtzehnten Jahrhunderts auf Hölderlins Denken herausgearbeitet worden. Stefan Metzger hat gezeigt, dass diese Bezeichnung aus der Systemtheorie Johann Heinrich Lamberts, vermittelt durch Johann Gottfried Herders Organisationstheorie, Hölderlins Philosophie und Poetologie entscheidend geprägt hat. Das weist Metzger etwa am Fragment „Über Religion“ nach, in dem Hölderlin seine Vorstellung eines „durchgängigern Zusammenhang[s]“⁴⁶ zwischen den Menschen und ‚ihrer Welt‘ entwirft.⁴⁷ Eine Rolle spielt der Hölderlin, Wenn der Dichter, S. 49. Hölderlin, Wenn der Dichter, S. 49. Hölderlin, Über Religion. In: KA 2, S. 562– 569, hier: S. 562. Stefan Metzger, „Dieser höhere Zusammenhang“. ‚Über Religion‘. In: Texturen 3: „Gestalten der Welt“ Frankfurt 1796 – 1798, hg. von der Hölderlin-Gesellschaft Tübingen, Tübingen 1996, S. 225 – 247, hier: S. 244 f.: „Herders Organisationstheorie ist für Hölderlins Philosophie und Ästhetik essentiell. ‚Über Religion‘ ist eines der frühesten Dokumente für die Ausrichtung Hölderlins an der triadischen Logik Herders, die Hölderlin zu einem komplexen Kalkül des Tonwechsels ausbauen wird. Daß er in ‚Über Religion‘ – und nicht nur dort […] – Durchgängigkeit im exakten systemtheoretischen Sinne verwendet, läßt auf eine direkte Lambertrezeption schließen, die in seine Poetik eingeht[.]“
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1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
„durchgängiger[e] Zusammenhang“ nicht nur in den Briefen „Über Religion“, sondern auch im Aufsatz zur Verfahrungsweise. Dort realisiert sich die Mitteilung der poetischen Individualität durch die Stiftung eines derartigen „durchgängigern Zusammenhang[s]“.⁴⁸ Darauf hat Violetta Waibel hingewiesen, die zur Bedeutung des Lambertschen Systemdenkens für Hölderlins Poetologie in „Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist …“ bemerkt: „Der von der Selbsterkenntnis der poetischen Individualität durch ein frei gewähltes Objekt ausgehende konstruktive Zusammenhang fungiert zugleich als durchgängige Einheit, die ein Analogon der Einheit des Geistes in der Gestalt des Gedichtes repräsentiert.“⁴⁹ Nun geht zwar der „durchgängige[] Zusammenhang“ von der poetischen Individualität aus, ist aber kein rein subjektiver, denn er entsteht in der Bezugnahme auf ein gegebenes Objekt, das vom Dichter-Ich frei gewählt wird. Das ist das Ergebnis von Hölderlins Auseinandersetzung mit Fichte, zu dem er im Aufsatz zur Verfahrungsweise gelangt. Allein einem derart die eigene Subjektivität transzendierenden Formzusammenhang sei „der göttliche Moment gegeben“; er verheißt „die Identität der [göttlichen] Begeisterung und die Vollendung des [subjektiven] Genie und der Kunst“⁵⁰. Hiermit zeigt sich die Bedeutung der Ausführungen im Aufsatz zur Verfahrungsweise für das Formproblem der Feiertags-Hymne. Dort droht mit der ambivalenten Situierung der Dichterfigur zwischen Mensch und Gott die Aneignung des „göttlichen Moments“ durch die dichterische Subjektivität. Damit wäre der „durchgängige[] Zusammenhang“, der im Metrum Gestalt annimmt, ein rein subjektiver, und das Vorhaben einer Mitteilung der „poëtische[n] Individualität“ gescheitert.⁵¹ Auch wenn die unvollendet Waibel, „Das Lebendige in der Poesie“, S. 240: „Einen durchgängigen Zusammenhang im Ausgang vom Ich zu denken, realisiert sich für Hölderlin durch die Selbsterkenntnis der poetischen Individualität.“ Waibel, „Das Lebendige in der Poesie“, S. 245. Hölderlin, Wenn der Dichter, S. 49. Die Bedeutung des ‚durchgängigen Zusammenhangs‘ für die Verfahrungsweise des Dichters hebt Hölderlin im Übrigen auch in seinen „Anmerkungen zum Oedipus“ hervor, die 1804 zusammen mit Hölderlins Übersetzungen der Antigone und des Ödipus erschienen. Der ‚durchgängige Zusammenhang‘ erlaubt es hier dem Dichter, den „lebendige[n] Sinn“ in Beziehung zu setzen zum „kalkulablen Gesez“, dem er sich zu beugen habe. Erst aus der Anerkennung der Gesetze der „μηχανη der Alten“ durch das Subjekt könne die „poëtische Individualität“ artikuliert werden. Vgl. Hölderlin, Anmerkungen zum Oedipus. In: Hölderlin, Theoretische Schriften, S. 94– 101, hier: S. 94. Auf den ko-konstitutiven Zusammenhang von „lebendige[m] Sinn“ und „kalkulable[m] Gesez“ weist Rainer Nägele in seiner Lektüre der „Anmerkungen“ hin, die den „Sprung von der mechanischen Notwendigkeit der Wiederholung zur Produktion des singulären lebendigen Sinns“ herausarbeitet. Vgl. Rainer Nägele, Hölderlins Kritik der poetischen Vernunft, Basel 2005, S. 143 f.: „Wie in der Mechanik der ‚freien‘ Assoziation einer Analyse etwas Wahres als der singuläre lebendige Sinn eines Subjekts unvorhersehbar sich ereignet, ereignet das poetische
1.2.3 Pindar-Fragmente: „Vom Delphin“
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gebliebene Feiertags-Hymne das Scheitern des Projekts eines zugleich subjektiven und objektiven Formzusammenhangs vor Augen führt, lassen Hölderlins spätere Texte nicht ab von der Auseinandersetzung mit demselben Problem. Ein Beispiel dafür sind die späten Pindar-Fragmente.
1.2.3 Pindar-Fragmente: „Vom Delphin“ Formal geht es in den Pindar-Fragmenten um die Übersetzung von antiken Verstexten in moderne Prosa. Wenngleich der Text der Prosaglossen nicht metrisch gebunden ist, lässt sich daran doch das Projekt der Stiftung eines durchgängigen Formzusammenhangs durch den modernen Dichter weiterverfolgen. Jedes der neun Fragmente setzt sich zusammen aus einer Überschrift, dem Pindar-Fragment in Versen (in deutscher Übersetzung) und einem erläuternden Kommentar in Prosa. Die Auseinandersetzung mit dem antiken Text im glossierenden Prosateil vollzieht sich dabei auch auf formaler Ebene, nämlich in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen dem Versrhythmus des Pindarischen Fragments und dem Prosarhythmus der Hölderlinschen Auslegung – zumindest für das Pindar-Fragment „Vom Delphin“ lassen sich rhythmische Korrespondenzen zwischen Vers- und Prosateil feststellen.⁵² An die Stelle der „metrischen Responsion“, dem Formprinzip der Feiertags-Hymne, tritt hier ein ‚metrisches Echo‘. Vom Delphin Den in des wellenlosen Meeres Tiefe von Flöten Bewegt hat liebenswürdig der Gesang. Der Gesang der Natur, in der Witterung der Musen, wenn über Blüten die Wolken, wie Flocken, hängen, und über dem Schmelz von goldenen Blumen. Um diese Zeit gibt jedes Wesen seinen Ton an, seine Treue, die Art, wie eines in sich selbst zusammenhängt. Nur der Unterschied der Arten macht dann die Trennung in der Natur, daß also alles mehr Gesang und reine Stimme ist, als Akzent des Bedürfnisses oder auf der anderen Seite Sprache. Es ist das wellenlose Meer, wo der bewegliche Fisch die Pfeife der Tritonen, das Echo des Wachstums in den weichen Pflanzen des Wassers fühlt.⁵³
Wort als lebendiger Sinn sich zwar unter den Bedingungen einer strengen μηχανη, ist ihr Produkt aber nur indirekt, eher Gabe eines Sprungs.“ Die hier unternommene formale Rhythmusanalyse des Pindar-Fragments „Vom Delphin“ ist nicht repräsentativ für alle Pindar-Fragmente. In den anderen Fragmenten lässt sich kein signifikanter Prosarhythmus feststellen. Zitiert nach Hölderlin, Übersetzungen. In: KA 2, S. 769.
72
1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
Mit der Feiertags-Hymne hat das Pindar-Fragment „Vom Delphin“ die Frage nach der Entstehung des Gesangs aus der Begegnung mit den Göttern gemeinsam. Die Art dieser Begegnung ist aber von der in „Wie wenn am Feiertage …“ radikal verschieden: Sie vollzieht sich nicht im Gewitter, sondern in der „Witterung der Musen“. Die Götter selbst treten hier nicht in Erscheinung, sondern werden vertreten von den Musen; die Hybris der Gottesschau wird abgemildert zu einer vermittelten Form der Kommunikation. Denn es handelt sich bei der „Witterung“ nicht um die direkte Konfrontation, um die es den Dichtern der Feiertags-Hymne zu tun war. Mit der „Witterung“ tritt anstelle des Gewitters eine mittelbare Art der Bezugnahme, die sich aus den zwei Bedeutungen des Verbs, der transitiven und der intransitiven, erklärt.⁵⁴ Als transitives Verb bezeichnet es das animalische Vermögen der Fernwahrnehmung, hier die Wahrnehmung des Delfins, der das Wirken der Musen vom Meeresboden aus empfindet. Als intransitives Verb bedeutet ‚wittern‘ einen atmosphärischen Zustand, der durch die Musen hervorgerufen wird und sich einer unmittelbaren Fasslichkeit entzieht. Mit der „Witterung“ wird der Delfin in die Position eines Empfangenden verwiesen, dessen Aufgabe weniger in der Produktion des Gesangs besteht als vielmehr in der Rezeption. Markus Fink hat den Delfin als eine poetologische Metapher für den Dichter gelesen, eine Interpretation, die sich durch Pindarische Intertexte untermauern lässt.⁵⁵ Vertieft werden kann diese Deutung durch den mythologischen Bezug zur Legende des Sängers Arion. Dem Mythos zufolge soll Arion – angeblich der Erfinder des dithyrambischen Verses – auf einer Schiffsreise einer Verschwörung zum Opfer gefallen sein und wurde gezwungen, über Bord zu springen. Ein Delfin, der seinen Gesang gehört hatte, rettete ihn.⁵⁶ Michael Franz und Michael Knaupp haben darauf hingewiesen, dass Hölderlins
Darauf weist bereits Rainer Nägele hin: vgl. zu Hölderlins Begriff der ‚Witterung‘ Rainer Nägele, Text, Geschichte und Subjektivität, S. 234. Zu dieser Stelle vgl. auch Heike Bartel, Centaurengesänge. Friedrich Hölderlins Pindarfragmente, Würzburg 2000, S. 110: „Das Wort ‚Witterung‘ kann hier in zwei Richtungen gelesen werden, je nach dem, ob ‚Witterung‘ – wie wir es schon in Von der Ruhe dargelegt haben – als ‚Wetter‘ gelesen oder vom Verb ‚wittern‘ abgeleitet wird. Im ersten Fall beschreibt es eine Zeit, die von den Musen gewährt wird; im zweiten läßt sich das ‚Wittern‘ als das Gewahrwerden der Szene durch die Musen lesen. Beide Deutungen des Ausdrucks haben gemeinsam, daß sie einen Zustand beschreiben, in dem sich die Schutzgöttinnen der Künste nicht konkret zeigen, sondern als Ahnung oder Atmosphäre gespürt werden.“ Eine solche Lektüre schlägt Markus Fink vor: vgl. Markus Fink, Pindarfragmente. Neun Hölderlin-Deutungen, Tübingen 1982, S. 61. Vgl. dazu außerdem Michael Franz, Michael Knaupp, Zum Delphin. Eine hermenautische Expedition. In: Le Pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Ausgabe 8 (1988), S. 27– 38, hier: S. 29. Markus Fink weist in seiner Lektüre des Delphin-Fragments auf die Arionsage hin, vgl. Fink, Pindarfragmente, S. 61.
1.2.3 Pindar-Fragmente: „Vom Delphin“
73
Ausgabe der horazischen Oden mit einem Frontispiz geziert war, das den Dichter Arion im Moment seines Sprungs ins Wasser zeigt, mit der Unterschrift „von der Süße des Gesangs wird er angezogen“.⁵⁷ Eine mythologische Lesart lässt die Figur des Delfins als Rettung des Dichters verstehen. Diese Rettung, so scheint das Fragment nahezulegen, erfolgt im Verzicht auf die unmittelbare Gottesschau. Wie die Feiertags-Hymne stellt das Pindar-Fragment die Frage, wie der Dichter unversehrt aus der Begegnung mit dem Göttlichen hervorgehen und davon singen könne. Die Antwort liegt hier in einer als mittelbar begriffenen Beziehung zum Göttlichen, die den Dichter in die passive Position eines Empfangenden versetzt.⁵⁸ Und doch wird auch aus dieser passiven Position des Dichters heraus an dem Anliegen festgehalten, dem modernen Gedicht, dessen Abhängigkeit vom antiken Modell derart anschaulich wird, einen durchgängigen Formzusammenhang zu verleihen. Dieser Zusammenhang wird hier aus der Approximation des Versrhythmus im Prosatext hergestellt. Wiederholt ist auf die Rhythmizität des PindarFragments „Vom Delphin“ hingewiesen worden. Markus Fink und Heike Bartel haben die rhythmische Form verstanden als Performanz des Gesangs, von dem der Text handelt.⁵⁹ Das versifizierte Fragment stellt selbst keine metrische Übersetzung des griechischen Originals dar, bildet aber eine eigene rhythmische Form aus, deren symmetrische Anlage auffällt.⁶⁰ Den in des wellenlosen Meeres Tiefe von Flöten Bewegt hat liebenswürdig der Gesang. —‿‿ —‿—‿—‿—‿ (‘) ‿—‿ ‿—‿ (‘) —‿—‿—‿—.⁶¹
Vgl. Franz, Knaupp, Zum Delphin, S. 32 f. Vgl. zur ‚Passivität‘ in Hölderlins Dichterbegriff Walter Benjamin, Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin: In: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S. 105 – 126, hier: S. 125; aufgegriffen und weiterentwickelt von Theodor W. Adorno, Parataxis. In: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 447– 491, hier: S. 475. Vgl. Fink, Pindarfragmente, S. 59: „Alles in allem entspricht der Text ‚Vom Delphin‘ gerade darin der vorgenommenen Bestimmung von ‚Gesang‘, daß er nicht nur von etwas spricht, sondern das, wovon er spricht, selber weithin ist.“ Im Anschluss daran Heike Bartel, Centaurengesänge, S. 116: „Das Besondere an Vom Delphin ist, daß der Text selbst die Bewegung vollzieht, die in ihm beschrieben wird.“ Vgl. zu Hölderlins Vorliebe für palindromatische Rhythmen Boris Previšić, Hölderlins Rhythmus, S. 256. Da die metrischen Analysen hier im Zusammenhang einer historischen Kontextualisierung unternommen werden, und kein systematisch-linguistisches Interesse verfolgen, wird dafür die antike Notation verwendet, bei der das elementum longum — der Länge/Hebung und das elementum brevum ‿ der Kürze/Senkung entspricht. Vgl. zur „Unterscheidung von historisch-intentionaler und systematisch-linguistischer Metrikanalyse“ auch Katja Mellmann, Die metrische
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1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
Die zwei Verse bestehen aus zwei Ditrochäen, von denen einer katalektisch endet („Gesang“). Sie sind durch zwei Amphibrachys („von Flöten / Bewegt hat“) miteinander verbunden. Die Verse weisen auf eine symmetrische Grundstruktur hin, ohne aber in reiner Symmetrie aufzugehen: Der Anfang des ersten Verses („Den in des“ —‿‿) wird nicht gespiegelt und auch die Wiederholung der Ditrochäen ist durch die Katalexe nicht identisch. Auf einer rhythmischen Mikroebene deutet sich hier – wie in der formalen Anlage der Feiertags-Hymne – die Überführung des Rhythmus in eine metrische Regelstruktur an, doch wird diese Tendenz unterbrochen durch die leisen Unregelmäßigkeiten, die den symmetrischen Aufbau stören. An das versifizierte Fragment schließt dann der Kommentarteil in Prosa an, der auch rhythmisch gegliedert ist. Markus Fink zufolge zeichnet sich die rhythmische Form des Kommentars durch anapästische Dimeter aus, die auf sophokleische und pindarische Chorlyrik verwiesen.⁶² Diese Bemerkung trifft zu auf den ersten Satz des Kommentarteils, aber nicht auf den gesamten Prosateil. Bereits der zweite Satz führt einen neuen – jambischen – Rhythmus ein, der wiederum durch seine rhythmische Regelmäßigkeit hervorsticht. Um diese Zeit gibt jedes Wesen seinen Ton an, seine Treue, die Art, wie eines in sich selbst zusammenhängt.
Zwei sechshebige Jamben sind hier durch einen Ditrochäus miteinander verbunden.⁶³ ‿—‿—‿—‿—‿—‿—‿ , —‿—‿ , ‿—‿—‿—‿—‿—‿—.
Vom restlichen Prosateil hebt sich der Rhythmus dieses Satzes ab durch seine geschlossene Regelmäßigkeit. Ein sechshebiger Jambus wird nach einer Unterbrechung wiederholt, wobei die Wiederholung um eine Silbe verkürzt ist. Getrennt
Gestalt. Mit Überlegungen zur Sinnfälligkeit des Viertakters. In: Journal of Literary Theory 2/2 (2008), S. 253 – 272, hier: S. 259. Vgl. Fink, Pindarfragmente, S. 59: „Ohne weiteres fallen einem anapästische Metren ins Ohr (‚seine Treue, die Art‘; ‚über Blüthen die Wolken, wie Floken‘). Eine Nachprüfung zeigt mehr, nämlich beinahe durchgehende anapästische Dimeter in Teil 2 und 3, während die Übersetzung (Teil 1) aus einem daktylischen Hexameter und folgenden (scheiniambischen) fünffüßigen Anapästen besteht. Die anapästischen Dimeter erinnern durchaus an sophokleische und pindarische Chorlyrik.“ Eine Lesart der sechshebigen Jamben als Trimeter ist unwahrscheinlich, da sich die beim Trimeter üblichen Zäsuren hier nicht bestimmen lassen.
1.2.3 Pindar-Fragmente: „Vom Delphin“
75
bzw. verbunden sind beide Hälften durch ein rhythmisch gegenläufiges Element, das trochäische „seine Treue“. Dass die beiden Satzhälften durch die Nominalphrase „seine Treue“ getrennt werden, ist sicherlich bezeichnend. Der für Hölderlins Philosophie und Ästhetik bedeutsame Begriff der Treue tritt hier in seiner poetologischen Dimension hervor.⁶⁴ Im Sinne der ‚Texttreue‘ ist der Begriff auch bei Hölderlins Zeitgenossen präsent, wenn es um Fragen der Übersetzung antiker Texte geht. So erklärt etwa Wilhelm von Humboldt im Vorwort zu seiner metrischen Übersetzung von Aischylos‘ Agamemnon (1816) die „einfache Treue“ zum Originaltext zur „erste[n] Forderung“ jeder Übersetzung.⁶⁵ Hölderlins ‚Treue‘ zu den antiken Vorbildern ist mitunter eine dialektische Entwicklung zugeschrieben worden, wonach die übermäßige Treue gegenüber den griechischen Originalen in Untreue umschlage, bevor eine Synthese erreicht werde, die die Treue gegenüber den Alten und den Modernen gleichermaßen wahre.⁶⁶ Bernhard Böschenstein begreift das in den Pindar-Fragmenten angelegte Verhältnis von deutscher Übertragung und antikem Original als den Endpunkt dieses Prozesses. Die selbstvergessene Treue des „übermäßig treu Übersetzende[n]“⁶⁷ in den früheren Pindar-Übersetzungen um 1800 verkehre sich in Hölderlins Sophokles-Übersetzungen in die Treue der eigenen Sprache gegenüber („die Treue zum einfältigen Wesensgrund“⁶⁸). Schließlich versuche Hölderlin in den Pindar-Fragmenten eine Verbindung dieser
Vgl. zur Treue in Hölderlins Philosophie Dieter Henrich, Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht, Stuttgart 1986, S. 17– 20. Sowie Dieter Henrich, Hegel im Kontext, Frankfurt a. M. 1971, S. 35. Wilhelm von Humboldt, Aeschylos Agamemnon metrisch übersetzt. Einleitung. In: Humboldt, Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I.8, S. 119 – 146, hier: S. 132: „Soll aber das Uebersetzen der Sprache und dem Geist der Nation dasjenige aneignen, was sie nicht, oder was sie doch anders besitzt, so ist die erste Forderung einfache Treue. Diese Treue muss auf den wahren Charakter des Originals, nicht, mit Verlassung jenes, auf seine Zufälligkeiten gerichtet seyn, so wie überhaupt jede gute Uebersetzung von einfacher und anspruchsloser Liebe zum Original, und daraus entspringendem Studium ausgehen, und in sie zurückkehren muss.“ Vgl. zu diesem Klassizismus-Narrativ auch Peter Szondi, Überwindung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801. In: Szondi, Hölderlin-Studien, S. 95 – 118, hier: S. 110: „Hölderlin überwindet den Klassizismus, ohne von der Klassik sich abzuwenden. In dieser Rettung des Griechischen für Hesperien, in der Einsicht, daß die Dichtung der Moderne durch andere Mittel sich wird auszeichnen können als die antike, und in der Erkenntnis, daß auch dem Eigenen gegenüber in der Kunst Freiheit vonnöten sei, besteht der Ideengehalt von Hölderlins erstem Brief an Böhlendorff.“ Bernhard Böschenstein, Göttliche Instanz und irdische Antwort in Hölderlins drei Übersetzungsmodellen. In: Hölderlin-Jahrbuch 29 (1994/1995), S. 47– 63, hier: S. 48. Böschenstein, Göttliche Instanz und irdische Antwort, S. 61.
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1.2 „Wie wenn am Feiertage …“
unterschiedlich ausgerichteten Formen von Treue.⁶⁹„Diese drei völlig verschiedenen Übersetzungsweisen entsprechen drei Momenten seines Umgangs mit den griechischen Originalen: einem abhängigen, einem programmatisch widerstreitenden, einem reflektierend ausgleichenden.“⁷⁰ Das Verständnis von Treue als einer Synthese zwischen dem fremden Original und seiner Aneignung in der Übersetzung erfasst jedoch nicht die besondere Form des Pindar-Fragments „Vom Delphin“. In dem durch seine rhythmische Regelmäßigkeit markanten Satz aus dem Prosateil des Fragments ist es genau die „Treue“, die den regelmäßigen Fluss der Jamben unterbricht und damit eine Differenz einführt, die wiederum die Ähnlichkeit der so getrennten Teile erst erkennbar macht. Das Verhältnis zwischen dem Vers- und dem Prosarhythmus wird hergestellt durch eine strukturelle Ähnlichkeit, die sich aber nicht in eine ‚metrische‘ Regel überführen lässt. Die ‚Treue‘ des Prosarhythmus zum Vers besteht im Verzicht auf eine eindeutige Identifizierung und auf die synthetisierende Vermittlung der rhythmischen Figuren, deren angedeutete Ähnlichkeit unvermittelt nebeneinander besteht.⁷¹ Der durchgängige Formzusammenhang wird damit zu einer Tendenz, die unerfüllt bleibt. Das gilt auch für die rhythmische Figur, die hier der strukturellen Ähnlichkeit von Vers- und Prosarhythmus zugrunde liegt. Sie setzt sich – im versifizierten Fragmenttext und im Prosatext – zusammen aus zwei rhythmisch fast identischen Teilen, die durch eine ‚gegenrhythmische‘ Unterbrechung voneinander abgegrenzt werden. Der jeweils zweite Teil dieses Musters ist (katalektisch) verkürzt, er stellt gewissermaßen einen Nachklang des Vorangegangenen dar, ein Echo. Der durchgängige Zusammenhang wird hier also nicht durch metrische Responsion hergestellt, sondern durch ein ‚metrisches Echo‘. Dieses metrische Echo erhebt keinen Anspruch auf metrische Regelhaftigkeit, sondern es entsteht durch katalektische Wiederholung. So wird im letzten Satz des Prosateils, der die Verse des Fragmenttexts noch einmal umschreibt, der „Gesang“ ersetzt durch „das Echo des Wachstums“: „Es ist das wellenlose Meer, wo der bewegliche Fisch die Pfeife der Tritonen, das Echo des Wachstums in den weichen Pflanzen des Wassers fühlt.“ Was der Delfin am Boden des Meeres vernimmt, ist nicht der Gesang, sondern die Entfernung davon⁷² – „das Echo des Wachstums“ als Empfindung der Distanz vom „Gesang der Natur“.
Vgl. Böschenstein, Göttliche Instanz und irdische Antwort, S. 63. Böschenstein, Göttliche Instanz und irdische Antwort, S. 48. Vgl. zu Hölderlins ‚Auflehnung‘ gegen die Synthesis des idealistischen Denkens Adorno, Parataxis, S. 471 und S. 476. Rainer Nägele hat anhand von Hölderlins Gedicht „Rousseau“ den „Echoraum“ als den Ort des Hölderlinschen Dichters herausgearbeitet, der Dichtung nicht als „Schöpfung“, sondern als
1.2.3 Pindar-Fragmente: „Vom Delphin“
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Im Unterschied zur Feiertags-Hymne verzichtet das Pindar-Fragment „Vom Delphin“ darauf, ein eigenes Metrum zu stiften. Eine vergleichbare Ausgangslage, das Entstehen von Dichtung aus der Begegnung mit dem Göttlichen und die Frage nach der Aneignung tradierter Metren, wird damit auf neue Weise fortgeschrieben. Die Trennung zwischen dem (antiken) Rhythmus im Vers und dem (modernen) Prosarhythmus wird als unüberwindbar begriffen. Doch die Einsicht in die Unverfügbarkeit des antiken Rhythmus bildet zugleich die Grundlage für die formale Verbindung beider Teile, den durchgängigen Zusammenhang, der damit die Differenz von Poesie und Prosa unterläuft und in Form einer ähnlichen rhythmischen Grundstruktur beide Teile verbindet.⁷³
„Zeugnis“ begreift. Vgl. Nägele, Hölderlins Kritik der poetischen Vernunft, S. 27: „In diesem Echoraum verwandelt die Figur des Angesprochenen sich vor allem in die Figur des Vernehmenden und wird eben dadurch zur Modellfigur des Hölderlinschen Dichters überhaupt, dessen Rede nicht Schöpfung und Zeugen ist, sondern Zeugnis dessen, was er vernommen hat.“ Hier ließe sich an Hölderlins Bemerkungen zur Zäsur anschließen, die, wie Samuel Weber dargestellt hat, als „Unterbindung“ zugleich eine trennende und eine verbindende Funktion übernimmt. Vgl. Samuel Weber, Zäsur als Unterbindung. Einige vorläufige Bemerkungen zu Hölderlins „Anmerkungen“. In: rhythmos. Formen des Unbeständigen nach Hölderlin, hg. von Jörn Etzold und Moritz Hannemann, S. 39 – 62, hier: S. 48 f. Da Hölderlins Behandlung der Zäsur und der gegenrhythmischen Unterbrechung in den Kontext seiner Tragödientheorie gehören, wird an dieser Stelle nur auf sie verwiesen.
2 Rhythmus zwischen Poesie und Prosa
2 Rhythmus zwischen Poesie und Prosa Am Ende seiner im Dezember 1797 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung erschienenen Rezension von Goethes Hermann und Dorothea spekulierte August Wilhelm Schlegel über eine mögliche Übertragung der metrischen Form des antiken Epos auf den modernen Roman: Die Lehre vom epischen Rhythmus verdient eine genauere Auseinandersetzung. Sie ist auch deswegen wichtig, weil sie Anwendung auf den Roman leidet. Ein Rhythmus der Erzählung, der sich zum epischen ungefähr so verhielte wie der oratorische Numerus zum Silbenmaße, wäre vielleicht das einzige Mittel, einen Roman nicht bloß nach der allgemeinen Anlage, sondern nach der Ausführung im einzelnen, durchhin poetisch zu machen, obgleich die Schreibart rein prosaisch bleiben muß; und im Wilhelm Meister scheint dies wirklich ausgeführt zu sein.¹
Das Verhältnis vom „Rhythmus der Erzählung“ im Roman zum Metrum des Versepos wird hier erklärt mit dem Verweis auf die Beziehung zwischem dem Rhythmus in der Prosarede und dem Silbenmaß in der Dichtung. Damit bezieht sich Schlegel vermutlich auf das dritte Buch der Rhetorik des Aristoteles, in dem die Relation von „oratorische[m] Numerus“ und Metrum thematisiert wird.² Aristoteles hatte in der Rhetorik bemerkt, dass die gesprochene Rede über einen Rhythmus verfügen solle, ohne dabei metrisch gebunden zu sein – denn dann falle sie in den Bereich der Dichtung und könne als Rede nicht mehr überzeugen.
August Wilhelm Schlegel, Hermann und Dorothea, S. 251. Das Verhältnis von „prosaische[m] Numerus“ und poetischem „Silbenmaß“ bespricht August Wilhelm Schlegel auch in seinen Jenaer Vorlesungen aus dem Jahr 1798. Darin findet sich kein expliziter Verweis auf Aristoteles, doch wird das Unterscheidungsmerkmal zwischen poetischem und prosaischem Rhythmus aus dessen Rhetorik, nämlich die regelmäßige Wiederkehr der Versfüße im poetischen Silbenmaß, aufgegriffen.Vgl. August Wilhelm Schlegel,Vorlesungen über philosophische Kunstlehre. In: Schlegel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen, hg. von Ernst Behler, Frank Jolles und Claudia Becker, 3 Bde., Paderborn/München/Wien/Zürich 1989 – 2006, Bd. 1: Vorlesungen über Ästhetik I (1798 – 1803), S. 38: „§104. Aus der Wahl und Anordnung wohlklingender und bedeutender Füße ohne gewisse Regeln entsteht der prosaische Numerus; zum Silbenmaße aber wird eine regelmäßige Wiederkehr desselben gefordert. – Das Unterscheidungszeichen der Poesie von der Prosa ist daher das Gesetz der Wiederkehr, denn sonst würde man die Verse gar nicht wieder erkennen.“ https://doi.org/10.1515/9783110693119-006
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2 Rhythmus zwischen Poesie und Prosa
Die äußere Gestalt der Sprache darf weder metrisch gebunden noch arhythmisch sein; das erste nämlich ist unüberzeugend – denn es erscheint gekünstelt –, und bewirkt zugleich Ablenkung. […] Deswegen muss die Rede über Rhythmus verfügen, aber nicht über ein Versmaß: das nämlich wäre Dichtung. Der Rhythmus darf aber nicht durchgängig sein; dies wird der Fall sein, wenn er nur bis zu einem gewissen Punkt durchgeführt ist.³
Dennoch sei der Rhythmus in der Prosarede vonnöten, um ihr die Begrenzung zu verleihen, die dem Zuhörer erst das Erfassen des Gehörten ermögliche. Auf der anderen Seite ist das Arhythmische unbegrenzt, es muss aber eine Begrenzung geben, aber nicht durch ein Versmaß. Alle Dinge aber werden durch die Zahl begrenzt: Die Zahl für die äußere Gestalt der Sprache aber ist der Rhythmus, von welchem auch die Versmaße ein Teilbereich sind.⁴
Metren sind demnach ein „Teilbereich“ der Gestaltung von Sprache durch Rhythmus, der in der Prosarede aber keine metrische Bindung aufweise. Im Anschluss bespricht Aristoteles, welche Versmaße der Prosarede zugrunde gelegt werden könnten, damit „ihre sprachliche Form einen geeigneten Rhythmus“ gewinne.⁵ Ein Blick auf Aristoteles’ Ausführungen zum Prosarhythmus lässt erkennen, dass der von August Wilhelm Schlegel gezogene Vergleich zwischen dem „Rhythmus der Erzählung“ im Roman und dem „oratorische[n] Numerus“ der Prosarede zur Klärung des Verhältnisses von Romanrhythmus und epischem Hexameter wenig beiträgt. Der Rhetorik ist zu entnehmen, dass der Prosarhythmus aus Versfüßen zu bilden sei, deren Zusammensetzung die Regelmäßigkeit eines Metrums fehle – inwieweit der „Rhythmus der Erzählung“ im Roman aus dem epischen Hexameter des Versepos hervorgeht, erschließt sich daraus jedoch nicht. Freilich mangelt es in Schlegels Rezension nicht an Hinweisen darauf, wie eine Übertragung der metrischen Form des Versepos auf den Rhythmus der Romanerzählung zu verstehen sei. So hat Clémence Couturier-Heinrich darauf auf Aristoteles, Rhetorik, übersetzt und erläutert von Christof Rapp, 1. Halbband (Aristoteles,Werke in deutscher Übersetzung, begr. von Ernst Grumach, hg. von Hellmuth Flashar, Bd. IV.1), Berlin 2002, 1408b. Aristoteles, Rhetorik, 1408b. Aristoteles, Rhetorik, 1409a: „Dass die sprachliche Form einen geeigneten Rhythmus haben muss und nicht ohne Rhythmus sein darf, und welche Rhythmen geeignet sind und wie sie sich verhalten, das wurde gesagt.“ Aristoteles zufolge sei das päonische Versmaß für den Prosarhythmus am geeignetsten, da es im Grunde genommen kein Versmaß sei (vermutlich wegen der verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten, die der Päon in seiner Zusammensetzung aus drei kurzen und einem langen Element ermöglicht). Den Hexameter sowie jambische und trochäische Versmaße hingegen schließt Aristoteles aus, vgl. ebd.
2 Rhythmus zwischen Poesie und Prosa
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merksam gemacht, dass der Rhythmusbegriff in Schlegels Aufsatz eine narratologische Umdeutung erfahre.⁶ Dabei wird die Objektivität des epischen Erzählers, des „Sängers“, der „bei jedem Punkte der Vergangenheit mit so ungeteilter Seele [verweilt], als ob demselben nichts vorher gegangen wäre und auch nichts darauf folgen sollte“⁷, in Schlegels Rezension in Entsprechung zum Metrum des epischen Hexameters begriffen, das „schwebend, stetig, zwischen Verweilen und Fortschreiten gleich gewogen [sei] und […] deswegen, ohne zu ermüden, den Hörer auf einer mittleren Höhe in ungemeßne Weiten forttragen [könne].“⁸ Eine solche narratologische Deutung des epischen Rhythmus als Qualität des Erzählers würde auch Schlegels Verweis auf Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre und dessen erzählerische Ironie in diesem Zusammenhang erklären. Eva Geulen hat den „innern geistigen Rhythmus“, den August Wilhelm Schlegel im „Vortrage des Epos“ ausmacht, und von dem das Versmaß „nur Ausdruck und hörbares Bild“⁹ sei, als Konzeption einer „zeitorganisatorisch ausgerichteten Theorie literarischer Formgebung“ verstanden, „die erst in Erzähltheorien der Mitte des 20. Jahrhunderts spruchreif wurde“.¹⁰ Wie auch immer die von August Wilhelm Schlegel angedeutete Übertragung des epischen Hexameters auf den Rhythmus im Roman untermauert wird: Das Beispiel von Schlegels Rezension macht deutlich, dass die Diskussion des Rhythmus in der Literatur um 1800 geknüpft war an die Konzeption literarischer Gattungen zu dieser Zeit. In Schlegels Gedankenexperiment am Ende der Rezension scheint so etwas wie die Möglichkeit einer formalen Bestimmung des Romans auf, der – als die Gattung der Moderne par excellence – gemeinhin durch seine Formlosigkeit definiert wird. Ließe sich eine formalisti-
Vgl. Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 227. Schlegel, Hermann und Dorothea, S. 228. Vgl. Schlegel, Hermann und Dorothea, S. 229: „Ist aber das Silbenmaß, ganz allgemein mit Abstraktion von allen besondern Bestimmungen genommen, die Erscheinung des Beharrlichen im Wechselnden, verkündigt es die Identität des Selbstbewußtseins; so ist es klar, daß dieses im Zustande der hellsten Besonnenheit (der Unterscheidung des Selbst von den in ihm vorgestellten Objekten) stärker hervortritt als in einer von Regungen durchdrungenen, strebenden Seele.“ Vgl. Schlegel, Hermann und Dorothea, S. 228: „Von diesem innern geistigen Rhythmus im Vortrage des Epos ist der demselben eigentümliche Vers nur Ausdruck und hörbares Bild.“ Vgl. Eva Geulen, Zur Idee eines ‚innern geistigen Rhythmus‘ bei A.W. Schlegel. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 137 (2018), Sonderheft: August Wilhelm Schlegel und die Philologie, S. 211– 224, hier: S. 219: „Wenn diese Lehre vom epischen Rhythmus der Kern der Rezension ist, dann sind die halb geschichtsphilosophischen, halb literarhistorischen Spekulationen über die Bildungsstufe der Vernunft und die ihr korrespondierenden Gattungen bestenfalls Beiwerk. Dann ist Schlegel mit dem epischen Rhythmus über geschichtsphilosophische Gattungspoetik hinaus und auf dem Weg zu einer ganz anderen, zeitorganisatorisch ausgerichteten Theorie literarischer Formgebung, die erst in Erzähltheorien der Mitte des 20. Jahrhunderts spruchreif wurde[.]“
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2 Rhythmus zwischen Poesie und Prosa
sche Gattungsdefinition, wie sie in der Antike praktiziert wurde, als die Gattungsformen an ihren Versmaßen erkennbar waren, auf den Roman anwenden, so könnte dieser fortan an seinem spezifischen Rhythmus festgemacht werden. Wenngleich Schlegel sein Gedankenexperiment einer formalen Definition des Romans nicht weiter verfolgt und seine Frage, wie die Lehre vom epischen Rhythmus Anwendung auf den Roman leide, unbeantwortet lässt, zeigt seine Rezension, dass die Ausdifferenzierung der modernen literarischen Gattungen und ihrer Formen, die sich im Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts vollzieht, in entscheidendem Maße eine Frage des Rhythmus war.¹¹ Ein zentraler Streitpunkt besteht dabei in der Scheidung der Poesie als einer Dichtung, die sich durch formale Verdichtung – und das heißt auch: durch metrische Bindung – konstituiert, von der Prosa als dem Stoff der modernen Literatur, die sich durch einen Mangel an formaler Bindung auszeichnet. Die jeweilige Konzeption von Poesie und Prosa bestimmt wesentlich das Gefüge der Gattungen und ihrer Formen. Im Sinne einer starken Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa steht etwa der ‚Abdichtung‘ der Lyrik durch metrische Formen die Auflösung jeglicher formalen Bindung im Roman gegenüber. Ralf Simon hat diese für die moderne Literatur und Literaturgeschichtsschreibung prägende Ausdifferenzierung zu relativieren versucht, indem er Konzeptualisierungen von Prosa als „Schöpfungsgrund“ der Poesie im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert herausgearbeitet hat.¹² Kaum überraschend ist es, dass auch Simon in diesem Zusammenhang darauf hinweist, „dass für eine komplexe und ausgearbeitete Theorie der Prosa der Begriff des Rhythmus zentral sein wird.“¹³ Dass Rhythmus nicht allein der Scheidung einer verdichteten Poesie von einer ungebundenen Prosa dient, sondern es erlaubt, poetische und prosaische Gattungskonzeptionen in Beziehung zueinander zu setzen, lässt sich an August Wilhelm Schlegels Aufsatz nachvollziehen: Der Rhythmus wird dort bemüht nicht allein zur Ausdifferenzierung der Gattungen in der modernen Literatur, sondern auch wesent-
Vgl. dazu auch das Kapitel „Le rythme et l’essence des genres“ in Clémence Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 225 – 242. Ralf Simon, Die Idee der Prosa, S. 11. Vgl. auch ebd., S. 14: „In diesem Buch wird nicht der traditionellen Gegenüberstellung von Poesie versus Prosa in dem Sinne gefolgt, dass Dichtung als Poesie, nämlich als Rede in Versen verstanden und Prosa aus dem Bereich der Dichtung ausgeschlossen wird. Vielmehr umfasst hier der Begriff der Dichtung beides, Poesie und Prosa.“ Vgl. Simon, Die Idee der Prosa, S. 204: „Nebenbei sei gesagt, dass für eine komplexe und ausgearbeitete Theorie der Prosa der Begriff des Rhythmus zentral sein wird. Wenn man der Grundintuition folgt, die Formstrukturen des Lyrischen in der Prosa in jedes einzelne Element hinein zu invertieren und dort in eine immanente Komplexität zu steigern, dann wird Prosa auf der Ebene der in ihr enthaltenen Stillagen und Genres einen wahrnehmbaren Rhythmus entfalten.“
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lich zur Verhältnisbestimmung der Gattungen zueinander, deren konstitutive Wechselbeziehungen anhand des Rhythmus sichtbar werden. Der Bezug zwischen antikem Versepos und modernem Roman wird bei Schlegel durch den Rhythmus hergestellt. So ist es nicht verwunderlich, dass Schiller und Goethe in ihrem Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung und dem Briefwechsel vom Jahresende 1797 die Unausweichlichkeit der Gattungsvermischung in der Moderne gerade im Anschluss an ihre Lektüre von Schlegels Rezension bemerken.¹⁴ Die Bedeutung des Rhythmus für die Ausdifferenzierung und die Vermischung der Gattungen soll in den folgenden zwei Kapiteln, mit Blick auf Texte von Novalis und Ludwig Tieck, untersucht werden. Mit Novalis geht es dabei um das frühromantische Projekt einer Verbindung von Poesie und Prosa, wovon sich in seinen Gedichten eine überraschend klassizistische Metrik abhebt, die zur romantischen Formästhetik parallel läuft. Dabei lässt sich Novalis’ Texten ein Konzept von Rhythmus als plastischer Form ablesen, das für das moderne Verständnis von Rhythmus als einer Form zwischen Plastik und Plastizität wegweisend sein wird. Mit Tieck wird eine weitere Möglichkeit der Beziehung von Poesie und Prosa erprobt. Komplementär zur Ralf Simons Ansatz, der die Verdichtung der Prosa aufzeigt, lässt sich an Tiecks dramatisierter Lyrik eine ‚Ent-Dichtung‘ der Poesie nachvollziehen, die aber nicht mit einer (frühromantischen) Synthese von Poesie und Prosa gleichzusetzen ist. Stattdessen rückt mit Tiecks Gedichten eine prosaisch konzipierte Metrik in den Blick.
S. dazu auch Teil 3: ‘Moderne Metrik’. Goethe nimmt in seinem Brief an Schiller vom 20.12. 1797 ausdrücklich Bezug auf Schlegels kurz zuvor erschienene Rezension. Vgl. NA 37, S. 204. Schiller, der den Brüdern Schlegel zwar kritisch gegenübersteht, kommt in seinem Brief an Goethe vom 29.12.1797 dennoch zu dem Schluss, dass eine vollkommene Unterscheidung der Gattungen unter den Bedingungen der Moderne unmöglich sei. Vgl. NA 29, S. 178: „Ihr jetziges Geschäft, die beiden Gattungen zu sondern und zu reinigen ist freilich von der höchsten Bedeutung, aber Sie werden mit mir überzeugt seyn, daß, um von einem Kunstwerk alles auszuschließen, was seiner Gattung fremd ist, man auch nothwendig alles darinn müsse einschliessen können, was der Gattung gebührt. Und eben daran fehlt es jetzt.Weil wir einmal die Bedingungen nicht zusammen bringen können, unter welchen eine jede der beiden Gattungen steht, so sind wir genöthigt, sie zu vermischen.“ Vgl. zum Bezug von Goethes und Schillers Briefwechsel zu August Wilhelm Schlegels Rezension auch Agnes Kornbacher, August Wilhelm Schlegels Einfluß auf den Aufsatz „Über epische und dramatische Dichtung“ von Goethe und Schiller (1797). In: Goethe-Jahrbuch 115 (1998), S. 63 – 67.
2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis Rhythmus kommt in den Schriften des Novalis auf verschiedene Weisen zum Tragen: Zum einen ist da der Rhythmus als Figur der „Hin und Her Direction“, d. h. der philosophischen Methode der „Wechselbestimmung“, die Novalis in seiner Auseinandersetzung mit Fichte entwickelt.¹ So heißt es in einem viel zitierten Fragment aus dem Allgemeinen Brouillon: Alle Methode ist Rhythmus. Hat man den Rhythmus der Welt weg – so hat man auch die Welt weg. […] Fichte hat nichts, als den Rhythmus der Philosophie entdeckt und Verbalacustisch ausgedrükt.²
Neben dem Rhythmus als einer philosophischen Methode, die aus der Beschäftigung mit der Philosophie des deutschen Idealismus hervorgeht, ist da zum anderen Novalis’ Gebrauch von metrischen Formen, in dem sich die Vorstellung einer dem Versrhythmus eigenen Körperlichkeit ausbildet. Die Konzeption eines derart ‚plastischen Rhythmus‘, d. h. eines Rhythmus, für den die Eigenständigkeit des Sprachmaterials konstitutiv ist, wurde im zwanzigsten Jahrhundert etwa in Norbert von Hellingraths Prägung der „harten Fügung“ fortgeschrieben.³ Hellingrath hatte die „harte Fügung“ in seiner Dissertation zu den Pindarübertragungen von Hölderlin – im Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen ‚harter‘ (ἁρμονία ἀυστηρά) und ‚glatter Fügung‘ (γλαφυρά) bei Dionysios von Halikarnassos⁴ – bestimmt durch den Vorrang der Materialität des Wortes vor dem Sinn: „harte fügung dagegen tut alles das wort selbst zu betonen und dem hörer ein-
Vgl. dazu Fragment Nr. 19 der Fichte-Studien, wo Novalis durch die „Hin und Her Direction“ Gefühl und Reflexion zu verbinden sucht. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, 3 Bde., Darmstadt 1999, Bd. 2, S. 22: „Hin und Her Direction. / Sfäre erschöpft – Zusammenhang da. / Dis ist Basis alles Philosophirens.“ Novalis, Das Allgemeine Brouillon, Nr. 382. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 544. Zur Bedeutung von Hellingraths Prägung im Zusammenhang der Lyriktheorie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, etwa bei den russischen Formalisten, vgl. Jürgen Brokoff, Norbert von Hellingraths Ästhetik der harten Wortfügung und die Kunsttheorie der europäischen Avantgarde, S. 59 – 69. Norbert von Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe, Jena 1911, S. 1. https://doi.org/10.1515/9783110693119-007
2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
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zuprägen“⁵. Zur Ausbildung der „harten Fügung“ bei Hölderlin bemerkt Hellingrath, im Hinblick auf den Einfluss der Übersetzungen aus dem Griechischen auf Hölderlins Dichtung: „Ganz auf griechischem beruht auch das plastische der sprache (womit nicht gemeint ist dass die sprache plastische bilder erweckt sondern dass die worte gleich greifbaren wesen sich nebeneinander ordnen)“⁶. Das Attribut „plastisch“ etablierte sich im achtzehnten Jahrhundert im Anschluss an Johann Joachim Winckelmanns Antikerezeption als ein „Grundbegriff der deutschen idealistischen Ästhetik“⁷, wobei der zunächst deskriptiv – zur Beschreibung eines Stils der antiken griechischen Kunst – verwendete Begriff im Rahmen der Weimarer Klassik eine zunehmend normative Funktion einnahm.⁸ Dabei findet die Zuschreibung des Plastischen auch Anwendung auf die poetische Form, insbesondere auf den Rhythmus. Mit dem plastischen Rhythmus wird verbunden die Vorstellung einer dem Sprachrhythmus eigenen Körperlichkeit, die in Auseinandersetzung mit den metrischen Formen der antiken Dichtung gewonnen wird; formuliert wird sie nicht nur im Rahmen einer klassizistischen Ästhetik, sondern auch im Kreise der Frühromantiker, im Zusammenspiel von dichterischer Praxis (Novalis) und poetologischer Reflexion (August Wilhelm Schlegel). Bislang ist der Rhythmus in der Dichtung und Philosophie des Novalis insbesondere als Realisierung der „Wechselbestimmung“ beleuchtet worden. Barbara Naumann hat in ihrer Arbeit zum ‚Musikalischen‘ in der frühromantischen Poetik und Sprachtheorie gezeigt, dass Rhythmus, mehr als andere musikalische Parameter wie der Ton oder die Stimmung, dieses Grundprinzip von Novalis’ Denken zur Darstellung bringt.⁹ „Der Rhythmus selber, sei es in Musik oder
Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin, S. 5. Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin, S. 35 f. Dongowski, [Art.] Plastisch, S. 814. Vgl. Dongowski, [Art.] Plastisch, S. 820: „Plastisch ist eine deskriptive kunstgeschichtliche Kategorie, insofern damit der Stil der antiken griechischen Kunst bezeichnet wird; durch die paradigmatische Funktion der griechischen Kunst für die klassisch-romantische Ästhetik erhält plastisch auch ein normatives Potential.“ Vgl. Naumann, „Musikalisches Ideen-Instrument“, S. 202: „Doch nicht allein durch ‚tönende‘, klangliche Eigenschaften der Vokale und Konsonanten ist das differentielle Grundprinzip der Sprache bei Novalis beschrieben. In einem noch umfassenderen Sinn charakterisiert der Rhythmus Novalis’ Sprachauffassung.“ Zum Rhythmus als Darstellung des Absoluten bei den Frühromantikern vgl. auch Barbara Naumann, Kopflastige Rhythmen. Tanz ums Subjekt bei Schelling und Cunningham. In: Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften, hg. von Barbara Naumann, S. 123 – 140. Zur „Wechselbestimmung“ als Denkfigur bei Novalis vgl. außerdem Gerhard Neumann, Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München 1976, S. 390.
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
Sprache, ist schon seiner physikalischen Basis nach der inszenierte Wechsel, ja, er verkörpert nichts als Wechsel“¹⁰. Naumann knüpft an Manfred Frank an, der eine Verzeitlichung im Denken der Frühromantik herausgearbeitet hat. Neben Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Schlegel fasste auch Novalis das von Kant und Fichte behandelte Problem der Begründung des Selbstbewusstseins als ein zeitliches auf. Die Frühromantiker, so Frank, differenzierten das Selbstbewusstsein einerseits in einen vergangenen Grund und eine zukünftige Identität, sahen in dieser Differenzierung aber andererseits die Möglichkeit einer Vermittlung beider durch die Zeit.¹¹ In diesem Zusammenhang erlaubt es der Rhythmus Novalis, die oszillierende Wechselbeziehung zwischen dem Ich und dem Wissen vom Ich als eine zeitliche zu formulieren. Berücksichtigt man außer dem Rhythmus als philosophischer Methode auch den Gebrauch von metrischen Formen in Novalis’ Schriften, lässt sich die von Frank und Naumann herausgearbeitete Verzeitlichung weiter nuancieren. Neben den Rhythmus als einer Form der Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft tritt mit einem ‚plastischen Rhythmus‘ die Idee der Produktion von Präsenz durch die dem Rhythmus eigene Körperlichkeit. Bei den verschiedenen Rhythmuskonzeptionen in den Texten des Novalis geht es damit nicht allein um die Ausdifferenzierung eines abstrakten Denkrhythmus und eines konkreten dichterischen Metrums, sondern gleichermaßen um eine Darstellung der Pluralisierung von Zeitkonzepten um 1800. Inwieweit Novalis, wie Ingrid Oesterle es beschrieben hat, diese „Vielfachmodalisierung der Zeiten als avancierte literarische Gestaltungschance“¹² begreift, lässt sich insbesondere an der Gestaltung und Reflexion von Rhythmus in seinen Schriften verfolgen.
Naumann, „Musikalisches Ideen-Instrument“, S. 209. Vgl. zur „Wechselbestimmung“ ebd., S. 210: „Die ‚Wechselbestimmung‘ beschreibt deshalb nicht – auch nicht metaphorisch – ein Prinzip, das im Zentrum von Novalis’ philosophischem Denken steht, sondern bildet das Prinzip, ohne das keinerlei philosophische oder poetische ‚Construction‘ möglich wäre.“ Frank, Das Problem „Zeit“ in der deutschen Romantik, S. 20: „Dadurch wird der Grund selbst als Vergangenheit abgesetzt, und die neue Vereinigung bleibt ewig zukünftig. Vergangenheit und Zukunft sind demnach zwei Weisen, wie die reflexive Ichheit ihr Ansichsein verfehlt. Gegenwärtigkeit ist der Zustand der ‚Substanzlosigkeit‘ selbst […]. Den Bewußtseinsmodi ‚Erinnerung‘ und ‚Sehnsucht‘ sind Vergangenheit und Zukunft zugeordnet, deren Dichotomie selbst nur ein Ausdruck des als Zeit thematisierten ‚Mangels‘ im Inneren der Ichheit ist. Die Zeit ist eine Indikation dieses Mangels und ebenso seine Überwindung.“ Ingrid Oesterle, „Es ist an der Zeit!“. Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800. In: Goethe und das Zeitalter der Romantik, hg. von Walter Hinderer, Würzburg 2002, S. 91– 119, hier: S. 105: „Vor allem Novalis ergreift poetisch die […] einsetzende Vielfachmodalisierung der Zeiten als avancierte literarische Gestaltungschance.“
2.1.1 Antike Metrik: Das Prinzip „des plastischen Isolirens“
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2.1.1 Antike Metrik: Das Prinzip „des plastischen Isolirens“ Mit großem Interesse liest Novalis August Wilhelm Schlegels Rezension von Goethes Hermann und Dorothea (1797) und äußert sich in einem Brief vom 12. Januar 1798 zu den dort verhandelten Rhythmusfragen. Schlegel hatte in seiner Rezension zur hexametrischen Verserzählung Goethes die Übereinstimmung des „innern geistigen Rhythmus“ der Erzählung mit dem Versmaß gelobt. Dieser „inner[e] geistige[] Rhythmus“ zeichne sich aus durch die ungeteilte Gegenwart des Erzählers an jedem Punkt der Erzählung und manifestiere sich im Hexameter: Der Sänger verweilt bei jedem Punkte der Vergangenheit mit so ungeteilter Seele, als ob demselben nichts vorher gegangen wäre, und auch nichts darauf folgen sollte, wodurch das Erquickliche einer lebendigen Gegenwart überall gleichmäßig verbreitet wird. […] Von diesem innern geistigen Rhythmus im Vortrage des Epos ist der demselben eigentümliche Vers nur Ausdruck und hörbares Bild.¹³
Schlegel verquickt in seiner Rezension die metrische und die narrative Komposition von Goethes Epos in einer „lebendigen Gegenwart“, die Versform und Erzählung gleichermaßen eigne.¹⁴ Die „lebendige Gegenwart“ wird auch in Wilhelm von Humboldts ausführlichem Aufsatz zu Goethes Hermann und Dorothea, erschienen im Jahr 1799, als eine wesentliche Eigenschaft des Textes ausgewiesen. Dabei könnte Humboldts Ansatz von dem Schlegels nicht unterschiedlicher sein. Während das Versepos August Wilhelm Schlegel zu Spekulationen über eine Verbindung von antikem Epos und modernem Roman durch den Rhythmus veranlasst, dient es Wilhelm von Humboldt als ein Beispiel für die Unvereinbarkeit von Roman und Epos.Wenngleich der Roman „in Absicht seines Umfangs und der Verknüpfung seiner Theile zum Ganzen eine unverkennbare Aehnlichkeit mit dem epischen Gedicht an sich trägt“, so Humboldt, bleibe sein Status als „ein wahres Gedicht und ein reines Kunstwerk“ doch zweifelhaft.¹⁵ Grund dafür sei nicht zuletzt seine prosaische Anlage, „wenn man bedenkt, dass er [der Roman] mit der wesentlichen Bedingung jedes Gedichts, mit einer rhythmischen Einkleidung schlechterdings unverträglich ist und ein Roman in Versen ein abgeschmacktes Product seyn würde.“¹⁶ Aus dem Ausschluss des Rhythmus aus der Form des Romans folgt Humboldts Forderung einer „vollkommene[n] Scheidung der poe-
Schlegel, Hermann und Dorothea, S. 228. Vgl. Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 227. Wilhelm von Humboldt, Über Göthes Herrmann und Dorothea. In: Humboldt, Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I.2, S. 113 – 323, hier: S. 232. Humboldt, Über Göthes Herrmann und Dorothea, S. 233.
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
tischen und prosaischen Sprache“¹⁷. Seine Kommentare zum Metrum in Goethes Versepos gelten vor allem dessen Fehlerhaftigkeit („Es ist nicht zu läugnen, dass hier eine Menge kleiner Flecken ins Auge fallen“¹⁸). Bei aller Unversöhnlichkeit von Humboldts ‚klassizistischer‘ Replik und Schlegels romantisierender Lesart von Hermann und Dorothea findet sich in Humboldts Ausführungen eine Bemerkung, die auch für Schlegels weitere Überlegungen zur antiken Metrik, wie er sie in der Rezension entwickelt, von Bedeutung sein wird: Humboldt sieht das Wesen des Epos durch dessen „plastische[] Natur“¹⁹ bestimmt. In seiner Diskussion der Frage, wie sich die Tragödie zum Epos verhalte, legt Humboldt dar, dass die Tragödie mit dem Epos eine plastische Anlage teile, dabei aber einem „lyrischen Zweck,“ nämlich der „Erregung der Empfindung“, diene.²⁰ Tatsächlich plädiert Humboldt an dieser Stelle für eine Neukonzeption der Gattungstrias, die nach einer Unterscheidung zwischen plastischer und lyrischer Dichtung umgeordnet werden solle: „Unstreitig aber wäre es besser, alle Poesie in plastische und lyrische und die erstere wieder in epische und dramatische […] abzutheilen.“²¹ Worin das genuin ‚Plastische‘ des Epos nun eigentlich bestehe, erschließt sich aus der ausführlichen Fußnote, die Humboldt dem Begriff widmet, nicht. Dass die Eigenschaft des Plastischen in Humboldts Vergleich der antiken Epen mit einer Gruppe von Statuen veranschaulicht wird, lässt sich nur vermuten.²² August Wilhelm Schlegel wird den Begriff des Plastischen auf den antiken Rhythmus anwenden. In seiner Rezension von 1797 findet der Ausdruck keine Erwähnung; die dort anhand des epischen Hexameters ausgearbeitete Zeitlichkeit des antiken Metrums, die „lebendige Gegenwart“, verknüpft Schlegel dann aber in seinen Vorlesungen der folgenden Jahre (Vorlesungen über philosophische Kunstlehre, Jena 1798 – 1799; Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, Berlin 1801–
Humboldt, Über Göthes Herrmann und Dorothea, S. 314. Humboldt, Über Göthes Herrmann und Dorothea, S. 315 f. Humboldt, Über Göthes Herrmann und Dorothea, S. 245. Vgl. Humboldt, Über Göthes Herrmann und Dorothea, S. 245: „Uebrigens aber ist sie [die Tragödie], als die Darstellung einer Handlung, eben so sehr, als das Epos und vollkommen plastisch. Die Hauptgesetze derselben werden sogar nur aus ihrer plastischen Natur hergeleitet werden können; aber da sie alle durch den lyrischen Zweck, die Erregung der Empfindung modificirt seyn müssen, so werden die Gesetze der epischen Poesie gar keine Anwendung auf sie finden, da sie hingegen mit den Gesetzen der lyrischen Dichtung in durchgängiger Uebereinstimmung stehen müssen.“ Humboldt, Über Göthes Herrmann und Dorothea, S. 245 f. Vgl. Humboldt, Über Göthes Herrmann und Dorothea, S. 166: „Darum lässt sich die ganze Ilias oder die ganze Odyssee am Ende wie eine einzige Statue oder, wenn diese Vergleichung zu kühn ist, wenigstens wie eine einzige Gruppe betrachten.“
2.1.1 Antike Metrik: Das Prinzip „des plastischen Isolirens“
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1804) mit dem Plastischen, das er dort als allgemeines Distinktionsmerkmal des antiken Rhythmus skizziert – in Abgrenzung von der Zeitlichkeit des Reims. Dazu bemerkt Schlegel in seinen Jenaer Vorlesungen, dass der Reim auf einer präfigurativen Struktur beruhe, die sich zwischen Erwartung und Erfüllung entspanne. Der Reiz des Reims rühre von der Befriedigung der Erwartung her, die die Kongruenz des zweiten mit dem ersten Reimwort gewähre: „Der große Zauber des Reims ist aus dem beständigen Wechsel erregter und befriedigter Erwartung sehr erklärbar. Man kann sagen, daß jeder neue Reim in einem Gedichte eine Art von aufgegebenem Rätsel ist.“²³ Dieser präfigurativen Bildung des Reims stellt Schlegel dann in seinen Berliner Vorlesungen von 1801– 1804 den antiken Rhythmus gegenüber. Im Gegensatz zur Temporalität des Reims, die sich zwischen „Erinnerung und Ahndung“ vollziehe, produziere der Rhythmus stete Gegenwart: „Wirkung des Reimes überhaupt: Verknüpfung, Paarung, Vergleichung. Erregte Erwartung schon im einzelnen Verse und Befriedigung. Erinnerung und Ahndung, statt daß die alte Rhythmik immer in der Gegenwart fest hält, und allen Theilen gleiche Dignität giebt.“²⁴ Hier wird also die Beschreibung des epischen Hexameters aus der Rezension von Hermann und Dorothea aufgegriffen und auf den antiken Rhythmus insgesamt übertragen. Schlegel geht noch weiter und identifiziert im Anschluss die Zeitlogik des Reims als „das romantische Prinzip“, das dem des gleichmäßig gegenwärtigen Rhythmus entgegengesetzt sei.²⁵ Das Prinzip des antiken Rhythmus nennt er das „plastische[] Isoliren“: „Daher liegt im Reime das romantische Prinzip, welches das entgegengesetzte des plastischen Isolirens ist. Allgemeines Verschmelzen, hinüber und herüber ziehen, Aussichten ins Unendliche.“²⁶ Die Verbindung von Plastik und Präsenz, die Vorstellung einer Schlegel, Vorlesungen über philosophische Kunstlehre. In: Schlegel, Vorlesungen über Ästhetik I, S. 46. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. In: Schlegel, Vorlesungen über Ästhetik I, S. 438. Eine eingehende Analyse des Zusammenhangs von poetischen Wiederholungsstrukturen und der Philosophie der Frühromantik bietet Winfried Menninghaus. Vgl. Menninghaus, Unendliche Verdopplung, S. 25: „Sie [die Romantiker] beziehen die formale Struktur des ‚sich in sich selbst verdoppeln‘ auf die sowohl philosophische wie poetische Frage, wie Reflexion, Selbstbewußtsein und schließlich auch ein ‚Absolutes‘ möglich und darstellbar seien. Ihre Antworten auf diese Fragen sind weithin nichts anderes als eine sehr subtile Theorie der Darstellungsleistung, der spezifischen Synthesis reflexiver Parallelstrukturen.“ Der Rhythmus steht nicht im Fokus von Menninghaus’ Arbeit. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. In: Schlegel, Vorlesungen über Ästhetik I, S. 438 f. Einen Überblick über die Diskussion von Rhythmus und Reim bei den Frühromantikern (Karl Philipp Moritz, August Wilhelm Schlegel, Novalis, Johann Wilhelm Ritter) bietet Bettine Menke, Rhythmus und Gegenwart. Fragmente der Poetik um 1800. In: Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, hg. von Patrick Primavesi und Simone Mahrenholz, S. 193 –
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
dem plastischen Kunstwerk eigenen – zeitlichen wie räumlichen – Gegenwart²⁷, die Schlegel hier dem antiken Rhythmus zuschreibt, ist, wie Inka Mülder-Bach gezeigt hat, Teil einer Ästhetik der „Darstellung“, die im achtzehnten Jahrhundert von Winckelmann, Lessing, Herder und Klopstock geprägt wurde. „Darstellung“ wird zu dieser Zeit als ein ästhetisches Paradigma formuliert, das sich gegen eine Zeichenlogik der Repräsentation wendet und stattdessen „einen neuen Begriff imaginativer Präsenz“²⁸ ausprägt. Diesen Zusammenschluss von Plastik und Präsenz überträgt August Wilhelm Schlegel auf den antiken Rhythmus, wenn er ihm das Prinzip des „plastischen Isolirens“ zugrunde legt.²⁹ Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert ist auf eben diese Vorstellung einer dem plastischem Rhythmus eigenen Präsenz rekurriert worden, wenn es darum ging, Rhythmus als eine Alternative zur Zeichenlogik der Repräsentation zu entwerfen, etwa bei Henri Meschonnic oder Hans Ulrich Gumbrecht.³⁰
204. Menke nimmt dort allerdings Abstand von der Differenzierung von Rhythmus und Reim bei Schlegel und versteht beide Versformen als Figurationen desselben differentiellen Prinzips. Menke lehnt daher auch eine Unterscheidung verschiedener Zeitlichkeiten ab; Rhythmus produziere Gegenwart nur in der Verschiebung, also differentiell. Vgl. Menke, Rhythmus und Gegenwart, S. 204: „Daher ‚thematisiert‘ er [der Rhythmus] ‚Gegenwart‘ als momentanes Festhalten dessen, was es nicht (als solches) gibt, als Gegenwart, die nachträglich, rückwirkend unterbrechend gegeben wird. Rhythmus hält also nicht ‚immer in der Gegenwart fest‘, wie Schlegel wollte, und er formuliert auch nicht bloß den Wechsel von ‚festgehaltene[n] Gegenwarten‘, sondern wenn und insofern er ‚Gegenwart‘ (momentan) fest hält, gibt er festhaltend und unterbrechend Gegenwart, die er suspendiert.“ Im Unterschied dazu wird hier Schlegels Differenzierung als Folie der Lektüre von Novalis’ Gedichttexten zugrundegelegt, die es schließlich auch erlaubt, zwischen unterschiedlichen Rhythmuskonzepten (und damit verbundenen Zeitlichkeiten) zu unterscheiden. Vgl. zur Konstitution des Begriffs ‚Gegenwart‘ um 1800 zwischen Zeit und Raum Ingrid Oesterle, „Es ist an der Zeit!“, S. 91– 119. Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions, S. 19. Vgl. zu einer Einordnung von August Wilhelm Schlegels Auffassung des Plastischen zwischen Herders Plastik und Hegels Ästhetik Anja Oesterhelt, Plastische und sprachliche Form in Bewegung. Konzepte des belebten Kunstwerks bei Herder, A.W. Schlegel und Brentano. In: Textbewegungen 1800/1900, hg. von Matthias Buschmeier und Till Dembeck, Würzburg 2007, S. 184– 203, insbesondere S. 191– 196. Vgl. Meschonnic, Critique du rythme, S. 72: „Le rythme n’est pas un signe. Il montre que le discours n’est pas fait seulement de signes. Que la théorie du langage déborde d’autant la théorie de la communication. Parce que le langage inclut la communication, les signes, mais aussi les actions, les créations, les relations entre les corps, le montré-caché de l’inconscient, tout ce qui n’arrive pas au signe et qui fait que nous allons d’ébauche en ébauche. Il ne peut pas y avoir de sémiotique du rythme. Le rythme fait une antisémiotique.“ Sowie Gumbrecht, Rhythmus und Sinn, S. 715: „Solche Ratlosigkeit der Literaturwissenschaftler [im Umgang mit dem Thema ‚Rhythmus‘] und solche (von ihr ermöglichte und sie zugleich verdrängende) Beliebigkeit der
2.1.1 Antike Metrik: Das Prinzip „des plastischen Isolirens“
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Mit seiner geschichtsphilosophischen Einordnung von Rhythmus und Reim bezieht sich August Wilhelm Schlegel auf den Aufsatz „Über das Studium der griechischen Philosophie“ seines Bruders Friedrich Schlegel aus dem Jahr 1797.³¹ Friedrich Schlegel hatte dort den Reim als Symptom der modernen ästhetischen Bildung beschrieben: „Der Reim selbst scheint ein Kennzeichen dieser ursprünglichen Künstlichkeit unsrer ästhetischen Bildung.“³² Bei dem Reim handle es sich um ein Merkmal der modernen „charakteristischen Poesie“; die „schöne Kunst“ hingegen verlange „Rhythmus und Melodie“, heißt es weiter in Friedrich Schlegels Studium-Aufsatz: In der schönen Kunst wird der Reim immer eine fremdartige Störung bleiben. Sie verlangt Rhythmus und Melodie: denn nur die gesetzmäßige Gleichartigkeit in der zwiefachen Quantität aufeinander folgender Töne kann das Allgemeine ausdrücken. Die regelmäßige Ähnlichkeit in der physischen Qualität mehrerer Klänge kann nur das Einzelne ausdrücken. Unstreitig kann sie in der Hand eines großen Meisters ungemein viel Sinn bekommen und ein wichtiges Organ der charakteristischen Poesie werden. Auch von dieser Seite bestätigt sich also das Resultat, daß der Reim (nebst der Herrschaft des Charakteristischen selbst) in der künstlichen Bildung der Poesie seine eigentliche Stelle findet.³³
Aufgegriffen und weiterentwickelt wird diese Geschichtsphilosophie der poetischen Formen dann von Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik. In seinen Bemerkungen zur Versifikation im Kapitel zur Poesie nimmt Hegel dabei nicht nur die Entgegensetzung von Rhythmus und Reim auf, sondern ebenso die Charakterisierung der antiken rhythmischen Versifikation als ‚plastisch‘.³⁴ Wir können in dieser Rücksicht das Prinzip der rhythmischen Versifikation mit der Plastik vergleichen. Denn die geistige Bedeutung hebt sich hier noch nicht für sich heraus und
Problemlösungen halte ich für ein Symptom und für eine Folge des Sachverhalts, daß (seit einigen Jahrhunderten zumindest) das, was wir ‚westliche Kultur‘ nennen, sich selbst als einen ausnahmslos in der Dimension der ‚Repräsentation‘ (des ‚Sinns‘, der ‚Semantik‘) konstituierten Phänomenkomplex beschreibt. Deshalb vollzieht sich […] die Integration von Phänomenen ohne primäre Repräsentations-Dimension (wie jenen des Rhythmus) in die kulturelle Selbstreferenz über den Versuch, ihnen eine Repräsentations-Funktion zuzuschreiben.“ Vgl. zu anderen möglichen Quellen August Wilhelm Schlegels (Jean-Jacques Rousseau, Isaac Vossius) Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 110. Schlegel, Über das Studium der Griechischen Poesie. In: KFSA I.1, S. 233. Schlegel, Über das Studium der Griechischen Poesie. In: KFSA I.1, S. 235. Die Bedeutung des ‚Plastischen‘ für Hegels Denken nimmt Catherine Malabou in den Blick, die in Hegels Plastik-Begriff eine Dialektik von Formproduktion und –destruktion am Werk sieht. Vgl. Catherine Malabou, L’avenir de Hegel. Plasticité, Temporalité, Dialectique, Paris 1996, S. 26: „Le procès de la plasticité est dialectique en ce que les opérations qui le constituent, prise de forme et anéantissement de toute forme, émergence et explosion, sont contradictoires.“
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
bestimmt die Länge und den Akzent, sondern der Sinn der Wörter verschmelzt sich ganz dem sinnlichen Element der natürlichen Zeitdauer und dem Klange, um in heiterer Fröhlichkeit diesem Äußerlichen ein volles Recht zu vergönnen und nur um die ideale Gestalt und Bewegung desselben besorgt zu sein.³⁵
‚Plastisch‘ sei die „rhythmische Versifikation“ im Griechischen und Lateinischen, weil sie ganz im Zeichen des „sinnlichen Element[s]“ der Sprache stehe.Ganz anders verhalte es sich mit der „heutigen deutschen Sprache“: In solchen Sprachen nun hat das Rhythmische wenig Raum oder die Seele wenig Freiheit mehr, in ihm sich zu ergehen, weil die Zeit und das durch ihre Bewegung sich gleichmäßig hinergießende Klingen der Silben von einem ideelleren Verhältnis, von dem Sinn und der Bedeutung der Wörter, überflügelt und dadurch die Macht der rhythmisch selbständigeren Ausgestaltung niedergedrückt ist.³⁶
Das ‚ideelle Verhältnis‘, „Sinn und […] Bedeutung der Wörter“, nehme in der romantischen Poesie Gestalt an durch den Reim. So beschreibt Hegel, wie in der romantischen Poesie, die geleitet sei von dem „Bedürfnis der Seele, sich selbst zu vernehmen“, der Reim sich durchsetze, der „gegen die fest geregelte Zeitmessung gleichgültig macht und nur darauf hinarbeitet, uns durch Wiederkehr der ähnlichen Klänge zu uns selbst zurückzuführen.“³⁷ Die Konstitution der plastischen Dichtung aus einer der poetischen Form eigenen Körperlichkeit löse sich mit der zunehmenden Verinnerlichung und Vergeistigung der romantischen Poesie auf, deren Symptom der Reim sei. Je innerlicher aber und geistiger die Vorstellung wird, um desto mehr zieht sie sich aus dieser Naturseite, welche sie nun nicht mehr in plastischer Weise idealisieren kann, heraus und konzentriert sich so sehr in sich, daß sie das gleichsam Körperliche der Sprache teils überhaupt abstreift, teils an dem Übrigbleibenden nur das heraushebt, worein sich die geistige Bedeutung zu ihrer Mitteilung hineinlegt, während sie das übrige als unbedeutend beiherspielen läßt. […] Nach dieser Seite hat sich der Reim nicht zufällig nur in der romantischen Poesie ausgebildet, sondern ist ihr notwendig gewesen. Das Bedürfnis der Seele, sich selbst zu vernehmen, hebt sich voller heraus und befriedigt sich in dem Gleichklingen des Reims, das gegen die fest geregelte Zeitmessung gleichgültig macht und nur darauf hinarbeitet, uns durch Wiederkehr der ähnlichen Klänge zu uns selbst zurückzuführen. Die Versifikation wird dadurch dem Musikalischen als solchem, d. h. dem Tönen des Inneren, nähergebracht und von dem gleichsam Stoffartigen der Sprache, jenem natürlichen Maße nämlich der Längen und Kürzen, befreit.³⁸
Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, S. 302 f. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, S. 302. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, S. 304. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, S. 303 f.
2.1.1 Antike Metrik: Das Prinzip „des plastischen Isolirens“
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Historisch habe sich der Reim aus den Versformen der Antike entwickelt, argumentiert Hegel mit Verweis auf die frühchristliche Dichtung in lateinischer Sprache, in der der Vers sowohl durch ein Metrum als auch durch den Reim bestimmt worden sei.³⁹ Doch in der modernen romantischen Poesie, die der Reim beherrsche, wäre eine derartige Vermischung der historisch distinkten Versformen nur unter Vorbehalt statthaft. Da es sich bei der „rhythmischen Versifikation“ und dem Reim um poetische Gegensätze handle, führe ihre Verbindung notwendig zu einem „unaufgelöste[n] Widerspruch“, der sich vermeiden ließe nur durch die Unterordnung des Metrums unter den Reim. [S]o würde die Anwendung des Reims bei den reicheren, den Alten nachgebildeten Silbenmaßen, wie z. B. um nur eines anzuführen, bei der alkäischen und sapphischen Strophe, nicht nur als ein Überfluß, sondern sogar als ein unaufgelöster Widerspruch erscheinen. Denn beide Systeme beruhen auf entgegengesetzten Prinzipien, und der Versuch, sie in der angeführten Weise zu vereinigen, könnte sie nur in dieser Entgegensetzung selber verbinden, was nichts als einen unaufgehobenen und deshalb unstatthaften Widerspruch hervorbringen würde. In dieser Hinsicht ist der Gebrauch der Reime nur da zuzugeben, wo das Prinzip der alten Versifikation sich nur noch in entfernteren Nachklängen und nach wesentlichen, aus dem System des Reimens hervorgehenden Umwandlungen geltend machen soll.⁴⁰
Novalis freilich kann Hegels geschichtsphilosophische Formenlehre in den Vorlesungen über die Ästhetik nicht bekannt gewesen sein; dass er mit August Wilhelm Schlegels Überlegungen zur Geschichte und Zeitlichkeit von Rhythmus und Reim vertraut war, die jener zwar erst in den Berliner Vorlesungen nach Novalis’ Tod als solche formulierte, ist allerdings sehr wahrscheinlich. Novalis’ Brief an August Wilhelm Schlegel anlässlich der Rezension von Hermann und Dorothea lässt etwa darauf schließen, dass ihm Schlegels Auffassung des Hexameters als einer Zeitform steter Gegenwärtigkeit geläufig war. Ein Blick auf Novalis’ poetologische Fragmente zeigt darüber hinaus, dass er dort ‚Plastik‘ und ‚plastisch‘ in vergleichbarer Weise verwendet wie August Wilhelm Schlegel und Hegel: d. h. im Sinne einer autonomen Materialität und Körperlichkeit der Form – und das auch im Zusammenhang mit Überlegungen zum Rhythmus. Dass Novalis Dichtung als eine plastische Kunst begriff, hat Nicholas Saul herausgearbeitet. Saul weist dabei auf Novalis’ Rezeption von Johann Gottfried Herder hin, insbesondere von dessen Schrift zur Plastik. Aussagekräftig ist eine Notiz von Novalis in den Vorarbeiten zu den Fragmenten, worin er bei der
Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, S. 305 f. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, S. 318.
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
Abschrift eines Schemas von Herder die „Plastik“ durch die „Poesie“ ersetzt.⁴¹ Dabei betont Novalis nicht allein die Nähe von Poesie und Plastik, sondern vor allem auch die Verbindung von Musik, Poesie und Plastik. So folgt die Notiz zu Herders Plastik einem Vergleich zwischen bildender Kunst und Musik und ihren „festen Verhältnissen“.⁴² Immer wieder betont Novalis die Verbundenheit der drei Künste, wie im Fragment Nr. 196 aus den Vorarbeiten von 1798, das die Beziehung zwischen Musik, Plastik und Poesie herstellt durch eine Analogie zu den drei Hauptgattungen der Literatur, die sich zueinander verhielten wie „Elemente“, aus denen, in jeweils unterschiedlichen Proportionen, sich jedes Kunstwerk zusammensetze: „Plastik, Musik und Poésie verhalten sich wie Epos, Lyra und Drama. Es sind unzertrennliche Elemente, die in jedem freyen Kunstwesen zusammen, und nur, nach Beschaffenheit, in verschiednen Verhältnissen geeinigt sind.“⁴³ Einige Fragmente erklären das enge Verhältnis zwischen den drei Kunstformen gar zur Synonymie, wie das lange Fragment Nr. 214, an dessen Ende es heißt: „Musik – Plastik, und Poësie sind Synonymen.“⁴⁴ Bekräftigt wird das in einer Notiz, die, diesmal unter Ausschluss der Poesie, die gegenseitige „Durchdringung“ von Musik und Plastik fordert: „{Durchdringung von Plastik und Musik – nicht blos Vermittelung.}“⁴⁵
Vgl. Nicholas Saul, ‚Poëtisierung d[es] Körpers‘. Der Poesiebegriff Friedrich von Hardenbergs und die anthropologische Tradition. In: Novalis. Poesie und Poetik, hg. von Herbert Uerlings, Tübingen 2004, S. 151– 171, hier: S. 164 f. Vgl. Novalis, Vorarbeiten 1798 [Studien zur Bildenden Kunst], Nr. 481. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 423: „Die Einheit des Bildes, der Gestalt, der mahlerischen Compositionen beruht auf festen Verhältnissen, wie die Einheit der musicalischen Harmonie.“ Novalis, Vorarbeiten 1798 [Fragmente oder Denkaufgaben]. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 354. Ähnlich auch das Fragment Nr. 337 aus den Fragmenten und Studien 1799/1800. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 810: „Poësie ist Darstellung des Gemüths – der innern Welt in ihrer Gesamtheit. Schon ihr Medium, die Worte deuten es an, denn sie sind ja die äußre Offenbarung jenes innern Kraftreichs. Ganz, was die Plastik zur äußern gestalteten Welt ist und die Musik zu den Tönen.“ Novalis, Vorarbeiten 1798. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 361. Novalis,Vorarbeiten 1798, Nr. 227. In: Novalis,Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 364.Vgl. dazu auch Novalis’ Bemerkungen zur „Plastisirungsmethode“ der Wissenschaften anlässlich seiner Lektüre der mathematischen Studien von Friedrich Murhard in den „Freiberger Studien“, ebd., S. 458: „Das wird die goldne Zeit seyn, wenn alle Worte – Figurenworte – Mythen – und alle Figuren – Sprachfiguren – Hieroglyfen seyn werden – wenn man Figuren sprechen und schreiben – und Worte vollkommen plastisiren, und Musiciren lernt. Beyde Künste gehören zusammen, sind unzertrennlich verbunden und werden zugleich vollendet werden.“ Vgl. ebenfalls das Fragment zur „Historik“ im Allgemeinen Brouillon, Nr. 461, ebd., S. 571: „Die bloße Geschichte (Bewegung, Bildung) ist musicalisch und plastisch. Die musicalische Geschichte ist die Philosophie. Die plastische Geschichte die Kronick – die Erzählung – die Erfahrung.“
2.1.1 Antike Metrik: Das Prinzip „des plastischen Isolirens“
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Dass die „Durchdringung von Plastik und Musik“ auch Sache des Rhythmus sei, legt das eingangs zitierte Fragment Nr. 382 aus dem Allgemeinen Brouillon nahe. Vor den Bemerkungen zum Rhythmus als Methode finden sich dort Notizen zur Verbindung von Musik und Plastik. (K[UNST]L[EHRE].) (Malerey) Plastik also nichts anders, als Figuristik der Musik. […] (Malerey) Plastik – ob[jective] Musik. Musik – subjective Musik, oder Malerey. […] Geometrie und Mechanik verhalten sich, wie Plastik und Musik. (chymische Bewegungen, chymische Hemmungen.) Alle Methode ist Rhythmus. Hat man den Rhythmus der Welt weg – so hat man auch die Welt weg. Jeder Mensch hat seinen individuellen Rhythmus. Die Algeber ist die Poësie. Rhythmischer Sinn ist Genie. Fichte hat nichts, als den Rhythmus der Philosophie entdeckt und Verbalacustisch ausgedrükt.⁴⁶
Über das Verhältnis von Musik, Plastik und Rhythmus lässt sich an dieser Stelle nur spekulieren – festzuhalten ist immerhin, dass Novalis’ Bestimmung von Plastik als ‚objektiver Musik‘ Hegels Analogie von antiker Metrik und Plastik in Erinnerung ruft, die auf beider ‚Objektivität‘, also der Konstitution durch ihre Materialität, beruhte. Bemerkenswert ist schließlich die Verbindung der Attribute ‚musikalisch‘ und ‚plastisch‘ bei Novalis, die im zeitgenössischen Kontext, etwa bei Wilhelm von Humboldt und Hegel, der ja den Reim als Form der musikalischen Versifikation der plastisch-rhythmischen gegenübergestellt hatte, als Gegensatzpaar fungieren.⁴⁷ Auf diese Novalis eigene Verschränkung des Plastischen mit dem Musikalischen hat zuerst Carl Dahlhaus aufmerksam gemacht: „Bei Novalis erscheint die Kontrastierung ‚plastisch-musikalisch‘, ohne daß sie als solche thematisiert würde, als ‚selbstverständliche‘ Prämisse einiger verschlungener dialektischer Konstruktionen.“⁴⁸ Die dichterische Ausgestaltung dieser Novalis, Das Allgemeine Brouillon, Nr. 382. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 544. Vgl. Dongowski, [Art.] Plastisch, S. 822 f. Vgl. zu Humboldts Opposition von ‚plastisch‘ und ‚lyrisch‘ Humboldt, Über Göthes Herrmann und Dorothea, S. 245 f. Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, S. 58. Zur Gegenüberstellung des Plastischen und des Musikalischen im (musik‐)ästhetischen Diskurs der Zeit vgl. auch Dahlhaus zu E.T.A. Hoffmanns einflussreicher Rezension von Beethovens fünfter Symphonie, ebd., S. 47: „In E.T.A. Hoffmanns 1810 publizierter Rezension von Beethovens Fünfter Symphonie, einer Rezension, deren Einleitung zu den Gründungsurkunden der romantischen Musikästhetik gehört, wird der Unterschied zwischen absoluter Musik einerseits und programmatischer oder ‚charakteristischer‘ […] Instrumentalmusik andererseits als Gegensatz zwischen zwei ästhetischen Ideen, der Idee des
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
„dialektische[n] Konstruktionen“ des Musikalischen und des Plastischen – und damit verbunden die Ausdifferenzierung poetischer Temporalitäten – lässt sich etwa anhand von Novalis’ Auseinandersetzung mit antiken Metren in der frühen Lyrik nachvollziehen.
2.1.2 Frühe Lyrik: Auseinandersetzung mit antiken Metren In den frühen 1790er Jahren beschäftigt sich Novalis in seinen Gedichten intensiv mit verschiedenen Versmaßen. Das zeigt sich zum einen an den Übersetzungsversuchen antiker Texte aus den Jahren 1789 und 1790, die weitgehend die metrische Form berücksichtigen, also eine gründliche Kenntnis antiker Versmaße darlegen, die sich dann auch in eigenen Dichtungen wie den hexametrischen Verserzählungen „Der abendliche Schmaus“ (1789) und „Orpheus“ (1789) niederschlägt.⁴⁹ Zum anderen deuten auf ein Interesse an metrischen Fragestellungen eine Reihe von Gedichten hin, die sich mit der Poetologie Klopstocks befassen. Dazu zählen namentliche Erwähnungen Klopstocks in „Der Harz“ (1788) und „Orpheus“ (1789) ebenso wie motivische Anklänge (etwa der Eislaufmetapher im Gedicht „Der Eislauf“, der Strommetapher in „Unsre Sprache“ oder der Freundschaftslyrik in „An meine Freunde“).⁵⁰ Wird sich Novalis – ebenso wie seine Zeitgenossen, die Brüder Schlegel und auch Friedrich Schiller – später von Klopstock als einem „unpoëtischen Philologen“⁵¹ distanzieren, so lassen diese Verweise in seiner frühen Dichtung dennoch auf eine intensive Auseinanderseteigentlich ‚Musikalischen‘ und der des ‚Plastischen‘, interpretiert. […] Die antike Gottesidee verwirklichte sich in der Statue, die christliche symbolisiert sich in Musik, die als Vokalpolyphonie wie als Instrumentalmusik das ‚Unendliche‘ ahnen läßt.“ Darunter Übersetzungen von Passagen aus Texten des Vergil (Georgika, Bucolica) und Horaz (Oden I, 38; IV,2), Homer (Ilias) und Pindar (11. Olympische Ode). Vgl. Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 1, S. 73 – 79. „Der Harz“ beschreibt eine germanisierende Szene des Erhabenen, vgl. Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 1, S. 14: „Lob dir [dem Harz], denn es besang dich, der Unsterblichkeit / Sänger Klopstock mit Harfenklang, / Daß es scholl im Gebürg und in dem Eichenwald / In dem felsichten Widerhall.“ Die Verserzählung „Orpheus“ umreißt eine Geschichte der Dichtung, die auch Klopstock erwähnt. Vgl. ebd., S. 67– 72: „Milton stürmte zuerst aus seiner göttlichen Harfe / Das Verderben der Menschen die Schöpfung, den Grimmigen Satan / Doch ihm schwang sich noch vor der Sohn Germaniens Klopstock / Sang den heilgen Messias, Erlösung den sündigen Menschen“. So in den Vorarbeiten 1798 [Poëticismen], Nr. 57. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 326: „Klopstocks Werke scheinen größestentheils freye Übersetzungen und Bearbeitungen eines unbekannten Dichters durch einen sehr talentvollen, aber unpoëtischen Philologen, zu seyn.“
2.1.2 Frühe Lyrik: Auseinandersetzung mit antiken Metren
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zung mit Klopstocks Dichtung und Poetik schließen und damit auf eine eingehende Beschäftigung mit metrischen Fragen. Davon zeugt etwa das Gedicht „An den Sklaven“ (1789), das in zwei Ausführungen in jeweils unterschiedlichem Versmaß vorliegt. Die zwei in derselben Handschrift überlieferten Fassungen des Gedichts bearbeiten ein horazisches Motiv: die Sendung des Sklaven („puer“) an die Geliebte Lydia mit der Einladung zu Fest und Tanz.⁵² Die erste Variante ist in einem dreihebigen daktylischen Versmaß im Kreuzreim verfasst, die zweite steht im Versmaß der sapphischen Ode. [a] An den Sklaven Auf Knabe beflügle die Schritte Und eile zur Lydia hin Und bringe von mir ihr die Bitte Ihr Stübchen sollte sie fliehn, Und kommen zu Scherzen und Lachen Zum Feste, der Freude geweiht Wo Titan uns findet noch wachen Zum munteren Tanze gereiht. [b] An den Sklaven Eile, Knabe, hole uns muntre Mädchen, Welche flinkes Fußes zum Reihentanze, Welchen braune Locken und blonde auf der Schulter sich kräuseln, Deren Busen weißer als Marmor, aber Voll wie eine knospende Ros’ dem Jüngling Sanft entgegen blühe, wenn seine Lippen Ihren begegnen.⁵³
Die zweite Fassung unterscheidet sich von der ersten durch das komplexere Metrum und die Reimlosigkeit sowie durch eine anschauliche Schilderung der weiblichen Körper. Die erste Fassung richtet den Fokus auf die zu überliefernde Botschaft, während die zweite Version die Körper der gerufenen Mädchen plastisch, gleich Statuen („Deren Busen weißer als Marmor“), vor Augen stellt. Im Vordergrund steht hier die Vergegenwärtigung der erhofften erotischen Begegnung. Anders gesagt: Die gereimte und metrisch weniger distinkte Fassung entwirft die Erwartung an das zukünftige Fest (grammatikalisch überwiegt der Ge-
Vgl. Hans-Joachim Mähl, Martina Eicheldinger, Kommentar. In: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 6: Der dichterische Jugendnachlaß, Teilband 2: Kommentar, hg. von Hans-Joachim Mähl und Martina Eicheldinger, Stuttgart 1999, S. 337. Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 1, S. 28.
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
brauch des Imperativ und des Konjunktiv), die metrisch stärker konturierte Bearbeitung im sapphischen Odenmaß hingegen konzipiert die Begegnung mit der Geliebten, in ausdrücklicher Betonung der Körperlichkeit, als ein gegenwärtiges Ereignis (vorherrschendes Tempus ist das Präsens). In dieser Verbindung von antiker metrischer Versform mit einer plastisch-gegenwärtigen Darstellung nimmt Novalis die Überlegungen zum ‚plastischen Rhythmus‘ vorweg, die später August Wilhelm Schlegel und Hegel formulieren werden. Vergleichbares lässt sich an der Verserzählung „Orpheus“ (1789) feststellen. Der Text ist in Hexametern verfasst, beinhaltet aber mit dem Gesang des Orpheus auch eine Passage in freien Rhythmen. Der Hexameter-Teil schildert die Geschichte des Orpheus, die in der Todesszene Eurydikes kulminiert. Orpheus’ anschließender Gesang (acht Strophen zu je vier Zeilen) greift die Erzählung aus seiner Sicht auf, um dann in ein Traumbild überzuleiten, das seine Hoffnung auf die bevorstehende Errettung Eurydikes zum Ausdruck bringt. Die Vierzeiler orientieren sich mit ihren losen Daktylen zunächst noch am hexametrischen Versmaß der vorangegangenen Erzählung. Zunehmend aber entfernt sich das Versmaß vom Hexameter; die Verse werden kürzer und häufiger von alternierenden Rhythmen durchsetzt (vor allem in der siebten Strophe). Zwar sind die Verse ungereimt, doch fallen zunehmende Wortwiederholungen und Echos bestimmter Vokale (o und i) auf. So lauten die abschließenden zwei Strophen: 7 Ich soll sie im Orkus holen Die Gattin, Euridicen, die Todte, Ich Sterblicher soll sie aus dem Orkus holen Mit Gesang aus dem unzugänglichen Orkus. 8 O freut euch ihr Hayne! Ihr Felsen! Ich sehe sie wieder Mit Wonne im Arme sie wieder.⁵⁴
Die hexametrischen Verse werden hier für eine Erzählung verwendet, die in die Schilderung eines alles entscheidenden Augenblicks mündet (der Verlust Eurydikes und Orpheus’ Vision der Katabasis), und dienen so der Perspektivierung eines gegenwärtigen Moments aus der Vergangenheit heraus. Im Hexameter wird hier ein Verständnis von Gegenwart zur Darstellung gebracht, das Manfred Frank an Novalis herausgearbeitet hat. Danach konstituiere sich Novalis’ Begriff von Gegenwart als ein aus der Vergangenheit Gewordenes, als das‚Hineinragen der Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 1, S. 67 f.
2.1.3 Hymnen an die Nacht: Auflösung des ‚plastischen Rhythmus‘
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Vergangenheit in die Gegenwart‘: „Gegenwart hat die Struktur einer in die Gegenwart hineinragenden Vergangenheit, deren Gewesensein immer jetzt gewesen ist und insofern ist.“⁵⁵ In diesem Sinne manifestiert der Hexameter hier ‚Gegenwart‘ – nicht wie bei August Wilhelm Schlegel als die gleichmäßige Verteilung von Aufmerksamkeit, die keine Vergangenheit kennt, sondern als ein in der Vergangenheit verankertes Verständnis von Gegenwart. Die Auflösung des Hexameters und seine allmähliche Überführung in eine Versifizierung, die auf der Wiederholung von Worten und Lauten beruht, schließlich dient der Gestaltung einer Zukunftsvision, die sich zwischen „Erinnerung und Ahndung“ erstreckt und in der sich die Ablösung einer plastischen Versifikation durch das poetische Prinzip des Reims abzeichnet.
2.1.3 Hymnen an die Nacht: Auflösung des ‚plastischen Rhythmus‘ In den Hymnen an die Nacht, die Novalis zehn Jahre später verfasst, wird die in „Orpheus“ angedeutete Auflösung des ‚plastischen Rhythmus‘ in ungebundene Formen auf zwei Weisen fortgeschrieben: mit Passagen im Prosarhythmus und mit Reimversen. Die erste Version der Hymnen an die Nacht in freien Versen arbeitet Novalis für die Veröffentlichung im Athenaeum im Jahr 1800 in rhythmisierte Prosa um. Diese Abschnitte im Prosarhythmus wiederum sind durchsetzt von Gedichten in Reimversen. Gerade die rhythmisierte Prosa verweist auf Novalis’ Auseinandersetzung mit dem Rhythmus-Begriff, den August Wilhelm Schlegel in seiner Rezension zu Hermann und Dorothea formulierte. In seinem Brief an August Wilhelm Schlegel vom 12. Januar 1798 anlässlich der Rezension entwickelt Novalis in Antwort auf den von Schlegel konzipierten epischen Rhythmus die Idee einer neuen poetischen Form aus der Verbindung von Poesie und Prosa, von gebundener und ungebundener Sprache.⁵⁶ Novalis zufolge gehe es
Frank, Das Problem „Zeit“ in der deutschen Romantik, S. 174. Vgl. zur Zusammenführung von Poesie und Prosa, die Novalis auch in seinen poetologischen Fragmenten beschäftigt, Fragment Nr. 51 aus den Vorarbeiten 1798 [Poëticismen] zur „PlusPoësie“ und „Minuspoësie“. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 325: „Es wäre eine artige Frage, ob denn das lyrische Gedicht eigentlich Gedicht, PlusPoësie, oder Prosa, Minuspoësie wäre? […] Die sogenannte Prosa ist aus Beschränckung der absoluten Extreme entstanden – Sie ist nur ad interim da und spielt eine subalterne, temporelle Rolle. Es kommt eine Zeit, wo sie nicht mehr ist. Dann ist aus der Beschränkung eine Durchdringung geworden. Ein wahrhaftes Leben ist entstanden, und Prosa und Poesie sind dadurch auf das innigste vereinigt, und in Wechsel gesezt.“
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
bei dieser Verbindung nicht so sehr um die Erhebung der Prosa zu einer höheren poetischen Form, als vielmehr darum, Poesie mit Prosa ‚anzureichern‘, indem ihr der ‚Schein‘ von Prosa gegeben werde, ohne dabei in ihrem poetischen Anspruch nachzulassen. Diese derart „erweiterte Poësie“⁵⁷ entfernt sich von der Formvorstellung des plastischen Rhythmus: zum einen durch die Lösung von „strengen, rhythmischen Gesetzen“, zum anderen durch die Metapher des Ozeans für eine Formkonstitution, mit der die „Entstehung aus dem Flüssigen, seine ursprünglich elastische Natur“ anstelle des „plastischen Isolirens“ tritt. Sie [die Poësie] ist von Natur Flüssig – allbildsam – und unbeschränkt – Jeder Reitz bewegt sie nach allen Seiten – Sie ist Element des Geistes – ein ewig stilles Meer, das sich nur auf der Oberfläche in tausend willkührliche Wellen bricht. Wenn die Poësie sich erweitern will, so kann sie es nur, indem sie sich beschränkt – indem sie sich zusammenzieht – ihren Feuerstoff gleichsam fahren läßt – und gerinnt. Sie erhält einen prosaischen Schein – ihre Bestandtheile stehn in keiner so innigen Gemeinschaft – mithin nicht unter so strengen, rhythmischen Gesetzen – Sie wird fähiger zur Darstellung des Beschränkten. Aber sie bleibt Poësie – mithin den wesentlichen Gesetzen ihrer Natur getreu – Sie wird gleichsam ein organisches Wesen – dessen ganzer Bau seine Entstehung aus dem Flüssigen, seine ursprünglich elastische Natur, seine Unbeschränktheit, seine Allfähigkeit verräth.⁵⁸
Zwar ist auch hier von der ‚Gerinnung‘ der „Poësie“ die Rede, doch der eigentliche Ursprung ihrer „elastische[n] Natur“ liege im „Flüssigen“. Die von Novalis angestrebte Verbindung von Poesie und Prosa zielt nicht auf das ‚Plastische‘, sondern auf Elastizität, d. h. nicht auf eine Formbildung durch Isolation, sondern auf ein proteisches Vermögen der Form, potenziell jede Gestalt anzunehmen. In dieser Behandlung der Poesie liege „das höchste Problem des practischen Dichters“, dessen Fluchtpunkt die „Poësie des Unendlichen“ bilde.⁵⁹ Mit dieser „Poësie des Unendlichen“ verschiebt sich der Fokus von der Produktion von Präsenz in Form des ‚plastischen Rhythmus‘ auf eine andere Art von Zeitlichkeit, die der „erweiterte[n] Poësie“ eigne, nämlich die Auflösung eines konkreten geschichtlichen Zeithorizonts. Das zeigt sich an der zweiten Fassung der Hymnen an die Nacht im Athenaeumsdruck. Die ersten drei der sechs Hymnen stehen in rhythmisierter Prosa, die vierte und fünfte Hymne verbinden Prosarhythmus und Reim, die sechste Hymne besteht vollständig aus Reimversen. Die ersten zwei Hymnen beschreiben die Wende von der Gegenwart des Lichts hin zur Nacht („Seine [des Lichts] Gegenwart allein
Novalis an Schlegel, 12.1.1798. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 1, S. 657. Novalis an Schlegel, 12.1.1798. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 1, S. 656 f. Novalis an Schlegel, 12.1.1798. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 1, S. 657.
2.1.3 Hymnen an die Nacht: Auflösung des ‚plastischen Rhythmus‘
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offenbart die Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt.“⁶⁰), die sich durch Zeitlosigkeit auszeichnet („Zugemessen ward dem Lichte seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft.“).⁶¹ Die dritte Hymne erzählt die Geschichte des Ich, das sich vom Licht abkehrt und der Nacht zuwendet („Einst da ich bittre Thränen vergoß“⁶²). Von diesem Blick in die Vergangenheit wendet sich die vierte Hymne der Zukunft zu („Nun weiß ich, wenn der letzte Morgen seyn wird“⁶³) und integriert zugleich als erste der sechs Hymnen eine Passage in Reimversen. Der dritten Hymne, die die Entwicklungsgeschichte des Ich beschreibt, stellt die fünfte Hymne eine mythische Weltgeschichte zur Seite, die im Dreischritt vom verlorenen ‚Arkadien‘ über den Einbruch der Vergänglichkeit zur Erlösung fortschreitet. Die sechste Hymne – ausschließlich in Reimversen – evoziert den Eingang in eine „heilge Zeit“⁶⁴, in der sich eine mystische Todesvision mit dem Blick in die „Vorzeit“ verbindet.⁶⁵ Zwei Zeitmodelle lassen sich in den Hymnen an die Nacht ausmachen: eine triadisch gefasste Geschichtszeit, die Vergangenheit mit Zukunft verbindet, und eine mystisch-ekstatische Aufhebung der Zeit. Die Engführung dieser gegenläufigen Zeitmodelle in der Dichtung des Novalis ist in der Forschung eingehend behandelt worden. Hans-Joachim Mähl etwa hat in seiner Studie zu den Intertexten von Utopie und Geschichtsphilosophie herausgearbeitet, wie in Novalis’ Dichtung das geschichtsphilosophische Denken mit einer Erlösung davon verbunden wird. Zur fünften Hymne schreibt Mähl: In einer sich jeder rationalen Deutung entziehenden Überschneidung zweier Zeitlinien – der vertikalen des Mystikers, die die ‚Wiedergeburt‘ als einen zeitlosen Akt der Erneuerung erleben läßt, und der horizontalen des Geschichtsdeuters, die die ‚Wiedergeburt‘ als ein historisches Ereignis der Welt- und Menschheitserneuerung begreifen läßt – finden wir paradigmatisch und in dichterischer Gestaltung das Lebensgeheimnis des Novalis
Novalis, Hymnen an die Nacht [Athenaeumsdruck]. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 1, S. 147– 177, hier: S. 149. Novalis, Hymnen an die Nacht, S. 153. Auch an anderer Stelle wird betont, dass die Messbarkeit von Zeit der Ordnung des Lichts angehöre.Vgl. die vierte Hymne, ebd., S. 157: „Gern will ich […] betrachten deiner [des Lichts] gewaltigen, leuchtenden Uhr sinnvollen Gang – ergründen der Kräfte Ebenmaß und die Regeln des Wunderspiels unzähliger Räume und ihrer Zeiten.“ Novalis, Hymnen an die Nacht, S. 153. Novalis, Hymnen an die Nacht, S. 155. Novalis, Hymnen an die Nacht, S. 177. Vgl. dazu etwa die siebte Strophe der sechsten Hymne: Novalis, Hymnen an die Nacht, S. 177: „Mit banger Sehnsucht sehn wir sie [„sie“, d. h.: „Die Vorzeit, wo in Jugendglut / Gott selbst sich kundgegeben“, vgl. sechste Strophe, ebd.] / In dunkle Nacht gehüllet, / In dieser Zeitlichkeit wird nie / Der heiße Durst gestillet. / Wir müssen nach der Heymath gehen, / Um diese heilge Zeit zu sehen.“
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
ausgesprochen, das seine Idee des goldenen Zeitalters mit den mystischen Erfahrungen seiner Innerlichkeit verknüpft.⁶⁶
Der Versuch, Mystik und Geschichtsphilosophie in ein Verhältnis zueinander zu setzen, der an verschiedenen Texten des Novalis bemerkt worden ist⁶⁷, schlägt sich in den Hymnen an die Nacht auch in der formalen Gestaltung nieder. Deutlich wird dies in der fünften Hymne, die mehrfach zwischen Prosa- und Reimverspassagen wechselt. Es finden sich in der fünften Hymne drei gereimte Passagen: die Schilderung der Ankunft des Todes in der arkadischen Vorwelt, das Lied des Sängers, das den Erlöser verkündet, und schließlich die Himmelfahrt desselben. In Reimform wird mit dem Eintritt des Todes Zeitlichkeit in die zeitlose Vorwelt eingeführt („Es war der Tod, der dieses Lustgelag / Mit Angst und Schmerz und Tränen unterbrach.“⁶⁸). Eben diese Zeitlichkeit wird in einem folgenden, ebenfalls gereimten Abschnitt – dem Lied des Sängers – dann aber für überwunden erklärt („Im Tode ward das ewge Leben kund, / Du bist der Tod und machst uns erst gesund.“⁶⁹). Beide Passagen bilden also auch konzeptuell einen ‚Reim‘, der die Erfahrung von Zeitlichkeit durch den Tod und die Transzendenz der Zeitlichkeit im Tod formal aneinander bindet. Die beiden Momente der Begegnung und Überwindung des Todes sind in ihrer Gereimtheit darüber hinaus dadurch miteinander verknüpft und von den anderen Versformen in den Hymnen unterschieden, dass sie in ottava rima-Stanzen verfasst sind. Während die anderen gereimten Abschnitte der Hymnen sich aus sechs- oder achtzeiligen Strophen in Kreuz- und Paarreimen zusammensetzen, heben sich die Stanzen durch ihre besondere Reimform (aba Hans-Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965, S. 387. Vgl. auch Ludwig Stockinger zu frühromantischen Anleihen an einer der Theologie inhärenten Oszillation zwischen Apokalyptik und Eschatologie, Immanenz und Transzendenz: Ludwig Stockinger, „Es ist Zeit“. Kairosbewußtsein der Frühromantiker um 1800. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen, Hartmut Lehmann, Johannes Schilling und Reinhart Staats, Göttingen 1999, S. 277– 302. Novalis’ ‚Dekonstruktion‘ der Geschichtsphilosophie haben außerdem herausgearbeitet: Gert Mattenklott, Die Erosion der Geschichtsphilosophie im Heinrich von Ofterdingen des Novalis. In: Annali. Studi Tedeschi 29 (1986), S. 113 – 132,Winfried Kudszus, Geschichtsverlust und Sprachproblematik in den ‚Hymnen an die Nacht‘. In: Euphorion 65 (1971), S. 298 – 311 sowie Eberhard Haufe, Die Aufhebung der Zeit im ‚Heinrich von Ofterdingen‘. In: Gestaltung Umgestaltung. Festschrift zum 75. Geburtstag von Hermann August Korf, hg. von Joachim Müller, Leipzig 1957, S. 178 – 188. Novalis, Hymnen an die Nacht, S. 163. Novalis, Hymnen an die Nacht, S. 167.
2.1.3 Hymnen an die Nacht: Auflösung des ‚plastischen Rhythmus‘
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babcc) und Silbenzahl (Endecasillabo) davon ab. Besonders aufschlussreich ist Novalis’ Verwendung der Stanzenform in diesem Zusammenhang, weil sie vermuten lässt, dass er mit August Wilhelm Schlegels Deutung der Reimform als einem romantischem Strukturprinzip durchaus vertraut war.⁷⁰ Denn nicht erst in seinen Berliner Vorlesungen von 1801– 1802 nennt Schlegel die Stanze als ein Beispiel für die zuvor dargelegte „Wirkung des Reimes“ („Erinnerung und Ahndung, statt daß die alte Rhythmik immer in der Gegenwart fest hält, und allen Theilen gleiche Dignität giebt.“⁷¹) – bereits in der zweiten Athenaeums-Ausgabe von 1799 macht er in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Ariosts Orlando furioso in der Stanze diejenige Struktur von Erwartung und Erfüllung aus, die er später als die des romantischen Reims ausweisen wird. In seiner „Nachschrift des Übersetzers an Ludwig Tieck“ schreibt Schlegel: „Die Hauptsache [an der Stanze] ist, daß das Ohr gleich vom Anfange an den Wechsel gewöhnt wird; er muß also immerfort angebracht werden, weil eine lange gleichförmige Reihe die Erwartung und Foderung ihrer Fortdauer hervorbringt.“⁷² Novalis’ Rückgriff auf die Stanze an dieser Stelle legt nicht nur nahe, dass ihm Schlegels Überlegungen zur Reimform bekannt waren, sondern auch, dass er die Stanze gezielt als Darstellungsform einer Zeitlichkeit verwendete, die sich durch Erwartungsstrukturen konstituiert. Damit wird der Reim auf einer poetischen ‚Mikroebene‘ erkennbar als eine Form der Präfiguration, die Jurij Striedter bereits 1953 als umfassendes Formprinzip der Dichtung des Novalis herausgearbeitet hat. Im Rückgriff auf Erich Auerbachs „figura“-Begriff zeigte Striedter, wie Novalis konzeptuelle Analogien in seiner Dichtung als Präfiguration gestaltet, d. h. als Ähnlichkeitsbeziehung von Figuren, die auf eine höhere Bedeutung verweise.⁷³ Auerbach selbst hatte zur
Auch Gerhard Schulz weist in seinen Anmerkungen zur fünften Hymne auf die Aneignung der Stanzenform durch die Frühromantiker hin. Vgl. Gerhard Schulz, ‚Mit den Menschen ändert die Welt sich‘. Zu Friedrich von Hardenbergs 5. Hymne an die Nacht. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 3: Klassik und Romantik, hg. von Wulf Segebrecht, Stuttgart 1984, S. 202– 215, insbesondere S. 207. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. In: Schlegel, Vorlesungen über Ästhetik I, S. 438. Schlegel, Nachschrift des Übersetzers an Ludwig Tieck. In: Athenaeum. Zweiten Bandes Zweites Stück, Berlin 1799, S. 277– 284, hier: S. 278 f. [Hervorhebung, E.R.] Vgl. Erich Auerbach, „Figura“. In: Auerbach, Scenes from the Drama of European Literature, Minneapolis, MN 1984, S. 11– 76, hier: S. 35: „And thus figura often appears in the sense of ‚deeper meaning in reference to future things‘“. Sowie Striedter, Die Fragmente des Novalis als „Präfigurationen“ seiner Dichtung, München 1985, S. 220: „Es wird nicht die anschauliche Wiedergabe der Realsituation und des Individuellen, die durch ihre Dichte ihrerseits zum Symbol wird, erstrebt, sondern die Gestalt erscheint von vornherein als Inkarnation und Bote eines Höheren,
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
Zeitstruktur der „figura“ bemerkt, dass ihr eine gewisse ‚Zeitlosigkeit‘ eigne. Zwar bezeichne die „figura“ ein historisches Ereignis, das auf eine zukünftige Wirklichkeit vorausdeute, doch sei deren Erfüllung in der Vorausdeutung bereits gegeben – durch eine ‚unmittelbare vertikale Verbindung mit der göttlichen Ordnung‘ – und transzendiere mithin die Kluft zwischen historisch verankerter Vorausdeutung und zukünftiger Erfüllung.⁷⁴ Um eine derartige Aufhebung der Geschichtszeit ist es Novalis in den Hymnen an die Nacht zu tun. Nichts anderes leistet hier die Form des Reims, begreift man sie als „figura“: Im Reim wird eine Erwartung entworfen, die in ihrer Projektion bereits erfüllt ist; der Reim initiiert damit eine Zeitlichkeit, der ihre eigene Aufhebung inhärent ist. Die eigentümliche Verbindung von Prosa und Reim in den Hymnen an die Nacht wird so verständlich als eine Umsetzung der Zusammenführung von Poesie und Prosa, die Novalis in seinem Brief an August Wilhelm Schlegel umriss. Prosa und Reimvers konvergieren hier in der „Poësie des Unendlichen“. Inwieweit die Etablierung und Aufhebung von Geschichtszeit durch Prosa und Reim von der Präsenz des plastischen Rhythmus zu unterscheiden sind, erhellt das Fragment Nr. 109 aus der Blüthenstaub-Sammlung. Dort unterscheidet Novalis zwischen einer „gewöhnliche[n] Gegenwart“ und einer „geistige[n] Gegenwart“, die den eigentlichen Wirkungsbereich des Dichters ausmache. Nichts ist poetischer, als Erinnerung und Ahndung oder Vorstellung der Zukunft. Die Vorstellungen der Vorzeit ziehn uns zum Sterben, zum Verfliegen an. Die Vorstellungen der Zukunft treiben uns zum Beleben, zum Verkürzen, zur assimilierenden Wirksamkeit. […] Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft Vergangenheit und Zukunft durch Beschränkung. Es entsteht Kontiguität, durch Erstarrung Krystallisazion. Es giebt aber eine geistige Gegenwart,
Geistigen, Himmlischen, wird von vornherein nicht als individuelle Gestalt, sondern als Figur gesehen und dargestellt; aber eben als Figur, die trotz der figürlichen Transparenz den Bezug zum persönlichen, realen Erleben und Geschehen nicht ausschließt, die innerhalb des Romans ebenso wie im Hinblick auf den Autor weit mehr ist als bloße Allegorie.“ Striedter stützt sich in seiner Arbeit auf die Fragmente und Prosatexte des Novalis (Lehrlinge zu Saïs, Heinrich von Ofterdingen) und weist darauf hin, dass eine Untersuchung der ‚Präfiguration‘ in der Lyrik noch aussteht. Vgl. Auerbach, „Figura“, S. 72: „In this way the individual earthly event is not regarded as a definitive self-sufficient reality, nor as a link in a chain of development in which single events or combinations of events perpetually give rise to new events, but viewed primarily in immediate vertical connection with a divine order which encompasses it, which on some future day will itself be a concrete reality; so that the earthly event is a prophecy or figura of a part of a wholly divine reality that will be enacted in the future. But this reality is not only future; it is always present in the eye of God and in the other world, which is to say that in transcendence the revealed and true reality is present at all times, or timelessly.“
2.1.4 Plastisches Metrum und prosaischer Reim im „Astralis“-Gedicht
107
die beyde durch Auflösung identifizirt, und diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters.⁷⁵
Die „geistige Gegenwart“ werde hergestellt durch die Auflösung von Vergangenheit und Zukunft ineinander – so wie es die Hymnen an die Nacht mit Prosarhythmus und Reim unternehmen. Die „gewöhnliche Gegenwart“ dagegen entstehe durch „Kontiguität“; sie grenzt Vergangenheit und Zukunft voneinander ab durch „Krystallisazion“, anders gesagt: durch „plastische[s] Isoliren[]“. Anhand des Blüthenstaub-Fragments wird deutlich, dass zwei Arten von Gegenwart in Novalis’ Texten am Werk sind: auf der einen Seite die „gewöhnliche Gegenwart“, die aus einer körperlichen Präsenz hervorgeht, so wie der ‚plastische Rhythmus‘ der antiken Metren, und auf der anderen Seite die „geistige Gegenwart“, die „Erinnerung und Ahndung“, Vergangenheit und Zukunft, „durch Auflösung identifizirt“ – worauf die Hymnen an die Nacht mit Prosa und Reim hin abzielen. Dass Novalis’ Vorzug der „geistige[n] Gegenwart“ gilt, lässt sich nicht bestreiten („diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters“). Dennoch haben auch der ‚plastische Rhythmus‘ und die „gewöhnliche Gegenwart“ ihren Ort in seinen Texten. So kultiviert Novalis gerade den „unaufgelöste[n] Widerspruch“ zwischen ‚plastischem‘ und ‚prosaischem‘ Rhythmus an anderer Stelle, nämlich im „Astralis“-Gedicht aus dem Heinrich von Ofterdingen. Dort werden Poesie und Prosa nicht zu einer „erweiterte[n] Poësie“ miteinander verbunden, sondern sie überlagern sich in ihrer Distinktheit.
2.1.4 Plastisches Metrum und prosaischer Reim im „Astralis“-Gedicht Das Gedicht „Astralis“ steht am Anfang des unvollendeten zweiten Teils des Romans Heinrich von Ofterdingen. Es stellt die Vereinigung von Heinrich und Mathilde dar, aus der das poetische Geisterwesen Astralis hervorgeht. Das Gedicht führt dessen Gestaltwerdung vor Augen, die sich nicht als Verkörperlichung vollzieht, sondern im Gegenteil als Vergeistigung. Diesem Prozess entspricht – vor dem Hintergrund der von Hegel skizzierten Ablösung der plastischen Versifikation durch die ‚prosaische‘ Form des Reims – der Übergang von einem metrisch geregelten Vers zum Reimvers zwischen den zwei Teilen des Gedichts. „Astralis“ beginnt in ungereimten Blankversen, die sich allmählich in gereimte Knittelverse
Novalis, Blüthenstaub, Fragment Nr. 109. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 283.
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
wandeln. Natürlich handelt es sich auch beim Knittelvers um ein Metrum; das Versmetrum wird also mit Eintritt des Reims nicht einfach aufgelöst, aber doch ‚aufgeweicht‘. Denn im Vergleich zum strikt alternierenden Metrum des Blankverses zeichnet sich der Knittelvers durch Füllungsfreiheit aus und damit durch eine größere rhythmische Flexibilität als der Blankvers. Mit dem Wandel der Versform sind in „Astralis“ wiederum bestimmte Zeitkonzepte verbunden. Der Zeugungsvorgang im ersten Teil steht im Präteritum; ebenso die Geburt, die mit dem Augenblick zusammenfällt, in dem die weltliche Zeitlichkeit überwunden wird: Ich hob mich nun gen Himmel neugebohren, Vollendet war das irrdische Geschick Im seligen Verklärungsaugenblick, Es hatte nun die Zeit ihr Recht verlohren Und forderte, was sie geliehn, zurück. (V. 41– 46)⁷⁶
Der anschließende zweite Teil verkündet im Präsens den Beginn einer neuen Welt, in der die zeitliche Ordnung der Vergangenheit keine Geltung mehr hat. Die Entstehungsgeschichte des ersten Gedichtteils löst sich damit auf in einen zeitlosen Zusammenhang „innigster Sympathie“ (V. 80), in der alles mit allem verbunden ist.⁷⁷ Insofern spiegelt „Astralis“ auch die Grundanlage des Heinrich von Ofterdingen wider, dessen unvollendeter zweiter Teil die Bildungsgeschichte Heinrichs auf weiterreichende kosmische Zusammenhänge hin öffnet. Und das Gedicht erlaubt eine Anknüpfung an die bisher umrissenen Zeitlichkeiten von Metrum und Reim, wonach die (antike) metrische Form mit körperlicher Präsenz und der Reimvers, wie in den Hymnen an die Nacht, mit der Auflösung von Vergangenheit und Zukunft und der Transzendenz von Geschichtszeit assoziiert wird. Damit scheint „Astralis“ dem geschichtsphilosophischen Narrativ der Formen nach Schlegel und Hegel zu folgen.⁷⁸
„Astralis“ im Folgenden zitiert nach: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 1, S. 365 – 67. Eine eingehende Rekonstruktion der Lesarten von „Astralis“ sowie eine umfangreiche Analyse des Gedichts und einen Überblick über bisherige Forschungsansätze bietet Sophia Vietor, Astralis von Novalis. Handschrift – Text – Werk, Würzburg 2001, S. 93 – 135. Folgende Verse des zweiten Teils behaupten das Ineinanderfallen von Vergangenheit und Zukunft: V. 49 – 50: „Man sieht nun aus bemooßten Trümmern / Eine wundersame Zukunft schimmern“, V. 73 – 74: „Und was man geglaubt, es sey geschehn / Kann man von weiten erst kommen sehn.“ V. 57– 58 hat Novalis in der endgültigen Version gestrichen: „Keine Ordnung mehr nach Raum und Zeit / Hier Zukunft in der Vergangenheit.“ Zur Analyse der Zeitformen in „Astralis“ vgl. außerdem Jutta Heinz, ‚Es hatte nun die Zeit ihr Recht verloren‘. ‚Absolute Gegenwart‘ als poetische Eigenzeitlichkeit in Novalis’ Astralis-Gedicht. In: Zeit der Darstellung, hg. von Michael Gamper und Helmut Hühn, S. 191– 207. Heinz liest das
2.1.4 Plastisches Metrum und prosaischer Reim im „Astralis“-Gedicht
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Dabei verläuft aber der Übergang von einer Versform zur anderen nicht ganz reibungslos: Zwischen dem metrisch gebundenen und dem gereimten Teil liegt ein Abschnitt, in dem sich beide Versarten überlagern. Blankvers und Reimvers sind nicht einfach deckungsgleich mit den zwei Teilen des Gedichts und ihren Zeitordnungen. Der Wechsel von Metrum zu Reim vollzieht sich bereits im ersten Teil (V. 26), so dass in dessen zweiter Hälfte (V. 26 – 46) das Metrum des Blankverses sich mit dem Reim überschneidet, bevor der Blankvers dann mit Beginn des zweiten Teils in die metrisch flexiblere Füllungsfreiheit des Knittelverses übergeht und der Reim zum bestimmenden Prinzip des Verses wird. – Natürlich ist ein gereimter Blankvers keineswegs ungewöhnlich; an und für sich kann er nicht als „unaufgelöster Widerspruch“ im Sinne Hegels gelten, der ja ausdrücklich die antiken Versformen (etwa der alkäischen und sapphischen Ode) dem Reim entgegengesetzt hatte, zu denen der Blankvers nicht zählt. Der „unaufgelöste[] Widerspruch“ ergibt sich hier aus der besonderen Anlage von Blankvers und Reim im „Astralis“-Gedicht – d. h. aus der Überschreibung einer Versform, die sich aufgrund eines Metrums konstituiert, mit einer Versform, die sich aus dem Reim generiert, der das Gesetz des Metrums ablöst. Insofern stellt „Astralis“ ein Verhältnis von prosaischem und poetischem Rhythmus dar, das sich nicht unter dem Begriff der „erweiterte[n] Poësie“ subsumieren lässt. Während sich die Verbindung von Prosarhythmus und Reim in den Hymnen an die Nacht als Umsetzung der im Brief an August Wilhelm Schlegel erklärten Anreicherung der Poesie mit Prosa verstehen ließ, wird in „Astralis“, wenn auch nur vorübergehend, die Gleichzeitigkeit von prosaischer und poetischer Bindeform, von Reimvers und Metrum, erprobt. Gerade die Passage, in der plastischer Rhythmus und Prosarhythmus zur Überlagerung gebracht werden, kann als Kern des Gedichts gelten. In den ungereimten Blankversen zu Beginn des Gedichts wird die Vereinigung der Geliebten geschildert. Der Eintritt des Reims in V. 26 bezeichnet den Augenblick der Zeugung, genauer noch: den Moment der Ich-Werdung, in dem das Ich das Vermögen gewinnt, ‚sich selbst zu bewegen‘. Ich quoll in meine eigne Flut zurück – Es war ein Blitz – nun konnt ich schon mich regen, Die zarten Fäden und den Kelch bewegen. (V. 25 – 27) [Hervorhebung, E.R.]
Gedicht als eine Auseinandersetzung des Novalis mit dem triadischen Geschichtsmodell Jakob Böhmes und skizziert Novalis’ Konzept der „geistigen Gegenwart“ als Alternative zur Diachronizität des triadischen Geschichtsmodells. Anders als bei Heinz soll in der folgenden Lektüre des Gedichts mit einem als plastisch begriffenen Metrum ebenfalls dem Konzept der „gewöhnlichen Gegenwart“ Rechnung getragen werden.
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
Der Reim tritt in den Entstehungsprozess also dort ein, wo das Ich sich durch Bezugnahme auf sich selbst konstituiert. Das macht der Wandel der Funktion des Personalpronomens „mich“ deutlich. Ist das Ich (als ‚mich‘) in V. 22 noch Objekt des Zeugungsvorgangs (V. 20 – 22: „Ein innres Quellen / War ich, ein sanftes Ringen, alles floß / Durch mich und über mich und hob mich leise“), so wird es in V. 26, mit der Einführung des Reims, selbstreflexiv (V. 26: „nun konnt ich schon mich regen“). Was hier inszeniert wird, ist nichts anderes als die (Fichtesche) Selbstzeugung des Selbstbewusstseins – „der Besinnung Wachsthum“ (V. 35).⁷⁹ An diese Reflexivkonstruktion schließen sich weitere an.⁸⁰ Die selbstreflexiven Bewegungen des Ich kulminieren dann in dessen Selbstaufhebung, d. h. in der Geburt des Geistes Astralis durch seine Entbindung vom „irrdische[n] Geschick“. Ich hob mich nun gen Himmel neugebohren, Vollendet war das irrdische Geschick Im seligen Verklärungsaugenblick, Es hatte nun die Zeit ihr Recht verlohren Und forderte, was sie geliehn, zurück. (V. 42– 46) [Hervorhebung, E.R.]
Mit der auf diese Weise vollendeten Geburt des Geistes schließt der erste Teil des Gedichts – und damit auch die Versifizierung im Blankvers und ‚das Recht der Zeit‘. Der nun folgende Teil zeigt die Überwindung des zuvor gezeugten und geborenen Ich; in dieser zweiten Partie tritt das Personalpronomen ‚ich‘ nicht mehr auf. Die erste Person wird stattdessen ersetzt durch unspezifische Pronomen der dritten Person (es, man, alles, jedes, manches). Sophia Vietor spricht daher von einer ‚Verobjektivierung‘ der Perspektive im Übergang vom ersten zum zweiten Teil des Gedichts.⁸¹ Die Transzendenz des Ich geht einher mit der Auflösung des raumzeitlichen Zusammenhangs. In diesem zweiten Teil bildet der Reim die Grundlage der Versform. Das bedeutet allerdings, dass der Reim – trotz seiner gewissermaßen selbst-reflexiven Struktur – in „Astralis“ nicht einfach gleichzusetzen ist mit der Konstitution des Selbstbewusstseins. Das entspräche der Dar-
Dieser ‚generativen‘ Reflexionskonstruktion geht eine andere voran, vgl. V. 13 – 15: „Wart ihr nicht Zeugen, wie ich noch / Nachtwandler mich zum erstenmale traf / An jenem frohen Abend?“ Vgl. dazu auch Sophia Vietors Deutung dieses reflexiven Moments als eines nachträglich konstruierten Vorgefühls im Sinne Fichtes: Vietor, Astralis von Novalis, S. 294. Vgl. V. 27– 33: „Schnell schossen, wie ich selber mich begann, / Zu irrdschen Sinnen die Gedanken an. / Noch war ich blind, doch schwankten lichte Sterne / Durch meines Wesens wunderbare Ferne, / Nichts war noch nah, ich fand mich nur von weiten, / Ein Anklang alter, so wie künftger Zeiten.“ [Hervorhebung, E.R.] Vgl. Vietor, Astralis von Novalis, S. 117 sowie S. 275.
2.1.4 Plastisches Metrum und prosaischer Reim im „Astralis“-Gedicht
111
stellung Hegels, wonach der Reim eine Wiederkehr instituiert, „in welcher das Subjekt sich seiner selbst bewußt wird und sich darin als die setzende und vernehmende Tätigkeit erkennt und befriedigt“⁸². In „Astralis“ aber entfaltet sich die Form des Reims ganz erst in der Überwindung des Selbstbewusstseins.⁸³ Dessen Konstitution wird stattdessen dort verhandelt, wo der Reim sich in „unaufgelöste[m] Widerspruch“ mit dem plastischen Rhythmus (hier: dem Metrum des Blankverses) befindet, der die Erinnerung an das körperlich-erotische Moment der Zeugung in den Augenblick der ersten Selbstreflexion, das erste Sich-Regen, hineinträgt. Man könnte auch sagen: Im Metrum des Blankverses manifestiert sich das vorbewusste ‚Gefühl‘, mit dem Novalis das Fichtesche Problem der Begründung des Selbstbewusstseins lösen will.⁸⁴ Novalis hat damit in seinen Gedichten nicht allein die Konzeptualisierung des metrischen Versmaßes als eines plastischen Rhythmus bei August Wilhelm Schlegel und Hegel vorweggenommen, sondern die Formkonzepte, die sich im zeitgenössischen Diskurs ausbilden, in neue Konstellationen gebracht. Im Gedicht „Astralis“ wird der Reimvers nicht, wie bei Hegel, zum Muster der Autopoiesis des Selbstbewusstseins, sondern er gestaltet dessen Transzendenz. Demgegenüber behauptet sich der, wenn auch in Auflösung begriffene, plastische Rhythmus im Metrum des Blankverses. In diesem „unaufgelöste[n] Widerspruch“ zwischen metrischem Versmaß und Reimvers liegt der ‚dissonante Keim‘ des Gedichts, aus dem heraus sich „Astralis“ entfaltet.⁸⁵ Es sind aber nicht nur Metrum und Reim, die sich derart in einem produktiven Widerspruch befinden. Es werden in „Astralis“ auch zwei Rhythmuskonzeptionen artikuliert, die sich durch Novalis’ Werk ziehen: zum einen ein Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, S. 311. Vgl. dazu auch David Wellbery, der bemerkt, dass Novalis die Goethesche ‚specularity‘, d. h. die spezifische Form der Subjektivität in Goethes früher Lyrik, in eine transzendentale Sphäre verpflanze: David E. Wellbery, The Specular Moment. Goethe’s Early Lyric and the Beginnings of Romanticism, Stanford, CA 1996, S. 62: „the major discursive transformation accomplished by Novalis’s poetic writing: the deempiricization […] of Goethean specularity, the detachment of the specular moment from any experiential context, its firm localization within the transcendental sphere.“ Vgl. zu Novalis’ Begründung des Selbstbewusstseins durch das ‚Gefühl‘ Manfred Frank, Das Problem „Zeit“ in der deutschen Romantik, S. 140 – 146, Jochen Hörisch, Die fröhliche Wissenschaft der Poesie. Der Universalitätsanspruch von Dichtung in der frühromantischen Poetologie, Frankfurt a. M. 1976, S. 64– 89 sowie Manfred Frank, Gerhard Kurz, Ordo inversus. Zu einer Reflexionsfigur bei Novalis, Hölderlin, Kleist und Kafka. In: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel zu seinem sechzigsten Geburtstag, hg. von Herbert Anton, Bernhard Gajek und Peter Pfaff, Heidelberg 1977, S. 76 – 93, insbesondere S. 76 – 80. Vgl. dazu Novalis, Vorarbeiten 1798, Fragment Nr. 242. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 370.
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2.1 „Unaufgelöster Widerspruch“. Zum Rhythmus bei Novalis
plastischer Rhythmus, der aus der Auseinandersetzung mit den antiken Metren hervorgeht und die rhythmische Form als einen konkreten Körper mit eigener Präsenz begreift, zum anderen ein ‚prosaischer‘ Rhythmus, der auf Entgrenzung zielt und in den Hymnen an die Nacht mit dem Reim verknüpft wird. An der Behandlung des Rhythmus zwischen der frühen Lyrik und den Hymnen lässt sich vor allem die Ausdifferenzierung in einen poetischen und einen prosaischen Rhythmus beobachten, aus der sich verschiedene Versuchsanordnungen einer Relation von Poesie und Prosa ergeben. Neben der Auflösung des plastischen Rhythmus in Prosa und Reim in den Hymnen deutet sich im „Astralis“-Gedicht eine mögliche Gleichzeitigkeit beider Rhythmuskonzeptionen an.
2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck War es ein Anliegen der Frühromantiker gewesen, gebundene und ungebundene Sprache im Zeichen der progressiven Universalpoesie zusammenzuführen, lässt sich an den Schriften Ludwig Tiecks die Ausdifferenzierung in gebundene Lyrik und ungebundene Prosa verfolgen, die für die Literatur und Literaturgeschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts wegweisend sein wird. Novalis’ poetologisches Projekt einer „Poësie des Unendlichen“ entwarf die Synthese von Vers und Prosa, wobei das vorangegangene Kapitel am Beispiel des „Astralis“-Gedichts eine alternative Beziehung von poetischem und prosaischem Rhythmus aufgezeigt hat, nämlich die Überlagerung beider Rhythmuskonzepte in einem „unaufgelöste[n] Widerspruch“. Auch Tiecks Dichtung bietet Anlass zu einer Revision des Verhältnisses von gebundener und ungebundener Sprache, das sich weder als Scheidung noch als Synthese fassen lässt: Seine Gedichte experimentieren mit einem prosaisch beschaffenen Metrum. Dabei scheinen Tiecks späte Texte und Textsammlungen vor allem von der Konsolidierung der Ausdifferenzierung von gebundenem und ungebundenem Rhythmus, und entsprechend der Gattungen Lyrik und Roman, zu zeugen. Beispielhaft dafür sind etwa die von ihm zusammengestellten und herausgegebenen Sammlungen seiner Lyrik von 1821– 23 und 1841 auf der einen sowie der Roman Vittoria Accorombona von 1840/41 auf der anderen Seite. In die Lyriksammlungen nimmt Tieck viele seiner berühmtesten Gedichte auf, die ursprünglich Teil seiner Romane und Erzählungen waren, und isoliert sie damit von ihrem Prosakontext.¹ Aus den Verseinlagen im Roman werden durch die Einordnung in die Gedichtsammlungen eigenständige Gedichte. Die Gattungszugehörigkeit dieser Texte wird durch die Scheidung von Lyrik und Prosa im Nachhinein vereindeutigt. Komplementär zu dieser nachträglichen ‚Lyrisierung‘ der versifizierten Texte verhält sich der Roman Vittoria Accorombona, der, anders als Tiecks frühere Romane, ganz auf Verseinlagen verzichtet. So lässt sich an Tiecks spätem Werk eine Reaktion auf das frühromantische Projekt der Integration von Vers und Prosa
So zum Beispiel das Gedicht „Melankolie“ aus dem Briefroman William Lovell (1795), das erst in der Gedichtausgabe von 1821 mit diesem Titel versehen wurde, sowie weitere Gedichte und Gedichtzyklen aus den Prosatexten Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence und Franz Sternbalds Wanderungen (1798). https://doi.org/10.1515/9783110693119-008
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2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
nachvollziehen: die vermeintlich eindeutige Trennung von gebundener und ungebundener Sprache, von Lyrik und Roman.² Stefan Scherer hat gezeigt, dass sich diese Ausdifferenzierung auch innerhalb von Tiecks Lyrik bemerkbar mache, in der zwei verschiedene Lyrik-Konzepte parallel laufen. Zum einen das Programm der frühromantischen Autonomieästhetik, das eine Markierung von Form mit Selbstreferenzialität verbindet. Zum anderen das Gelegenheitsgedicht, das die Auflösung der gebundenen Form in Prosa mit außerliterarischer Referenzialität assoziiert. Damit wird die Unterscheidung zwischen den Gattungen Lyrik und Prosa und zwischen den damit verbundenen Formkonzepten – vereinfacht gesagt: Affirmation und Dissoziation der Form – innerhalb der Gattung Lyrik reproduziert. Die Konsolidierung dieser zwei Richtungen versteht Scherer in literaturgeschichtlicher Hinsicht als Antwort auf den Legitimationsdruck, den die zunehmend verbreitete Prosaliteratur auf lyrische Texte ausübe. Die Lyrik reagiert auf den gesellschafts- und wahrnehmungsgeschichtlichen Wandel im Übergang zur Moderne also mit zwei Selektionsstrategien: durch Lockerung der Form hin zur Prosa-Nähe, durch Erstarrung der Form hin zum hermetischen Gedicht. […] Beide Optionen reagieren auf den Konkurrenzdruck der neuen Leitgattung ‚Prosa‘ in einer auch auf die anwachsende populäre Nachfrage hin ausdifferenzierten Marktsituation: durch Abwehr oder durch Angleichung, so daß sich die Lyrikgeschichte im 19. Jahrhundert nach dem Verhältnis von poetischer Verdichtung und prosaischer Empirisierung beobachten läßt.³
Vor dem Hintergrund dieses Verhältnisses arbeitet Scherer das Profil des ‚AntiRomantikers‘ Tieck heraus. Neben der ‚Wortmusik‘ des Romantikers seien die Prosaverse seines Zyklus Reise-Gedichte (verfasst 1805 – 06, veröffentlicht zuerst in der Gedichtausgabe von 1823) ebenso charakteristisch für Tiecks Lyrik. Welche Rolle metrische Formen in diesem Prozess der Ausdifferenzierung von Vers und Prosa in Tiecks Gedichten spielen, ist dabei alles andere als eindeutig. Zu vermuten wäre, dass das Metrum die Konsolidierung der Form zu ihrer „Erstarrung […] hin zum hermetischen Gedicht“ unterstützt. Jedoch vollzieht sich die Markierung der Form in Tiecks Gedichten vor allem über lautliche Wiederholungsstrukturen wie den Reim oder Assonanzen, nicht aber über eine ausgeprägte
In diesem Sinne, d. h. als Lyrisierung der Prosa, die aber schließlich in eine vollkommene Prosaisierung umschlägt, liest Paul Neuburger die Entwicklung von Tiecks Gebrauch der Verseinlagen.Vgl. Paul Neuburger, Die Verseinlage in der Prosadichtung der Romantik. Zur Geschichte der Verseinlage, Leipzig 1924, insbesondere S. 206 – 209. Stefan Scherer, Anti-Romantik (Tieck, Storm, Liliencron). In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, hg. von Steffen Martus, Stefan Scherer und Claudia Stockinger, Bern u. a. 2005, S. 205 – 236, hier: S. 213.
2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
115
Metrizität. Metrische Formen werden in Tiecks Dichtung nicht für eine selbstreferentielle Wortmusik eingesetzt, sondern auf ‚prosaischer Grundlage‘ neu konzipiert. Daraus geht eine Metrik hervor, die wenig gemeinsam hat mit der elastischen Form als dem Produkt einer frühromantischen Verschmelzung von Vers und Prosa und die ebenso wenig gleichzusetzen ist mit der Entdifferenzierung von Vers und Prosa, die Friedrich Gundolf in seiner wirkmächtigen Auseinandersetzung mit Tieck aus dem Jahr 1929 moniert hat.⁴ Es handelt sich dabei um eine inhärent dissonante Metrik, deren Form durch Brüche produziert wird und die damit auch eine neue Perspektive auf Tiecks Auffassung von romantischer Stimmungslyrik eröffnet. Daneben macht Tiecks dissonante Metrik Unstimmigkeiten in der vereindeutigenden Ausdifferenzierung von Lyrik und Prosa sichtbar. Zahlreiche Gedichte der von Tieck herausgegebenen Lyrikbände führen etwa die Auflösung des Verses in Prosa vor Augen, beispielsweise durch eine Verlängerung des Verses, die den Vers, auch im Visuellen, dem Schriftbild der Prosa annähert – und das nicht erst mit den nach 1800 entstandenen Reise-Gedichten, sondern bereits in Tiecks Lyrik der 1790er Jahre.⁵ In dem Dichterinnen-Roman Vittoria Accorombona wiederum ist die Einbindung von Gedichten in die Erzählung ein wesentlicher Gegenstand des Textes. An die Stelle der Verseinlagen der früheren Romane treten hier Paraphrasen von Gedichten in Prosa.⁶ So etwa, wenn Vittoria Accorombona im Kreise anderer Dichter ein von ihr verfasstes Gedicht zur ‚Gewalt der Liebe‘ vorliest und das Gedicht, ohne direktes Zitat, ausführlich umschrieben
Vgl. Friedrich Gundolf, Ludwig Tieck (1929). In: Ludwig Tieck, hg. von Wulf Segebrecht, Darmstadt 1976, S. 191– 254, hier: S. 237: „Der Ausgleich von Vers und Prosa, halb empfindsamer Rationalismus, halb mißverständlicher Shakespearekult, hat Tiecks Prosa aufgeweicht und seine Verse verschlissen. Er hat die Prosa, die sachliche Mitteilung, zu zweckloser Faselei und kokettem Blümeln, und den Vers, den Ausdruck des Überschwangs oder die Bindung der Mächte ins ergriffene Menschtum, zu altklugem Geschwätz mißbraucht, ohne Rücksicht auf ihre verschiedenen seelischen Ursprünge und Gesetze.“ Zum Beispiel das Gedicht „Leben“ aus dem William Lovell, dessen Zeilenlänge stark variiert. Vgl. Ludwig Tieck, Gedichte. In: Tieck, Schriften in zwölf Bänden, hg. von Manfred Frank, Achim Hölter, Uwe Schweikert und Ruprecht Wimmer, Frankfurt a. M. 1985 ff., Bd. 7: Gedichte, S. 20: „So fremd und vertraulich, / So ernst und so freundlich, / Klingt’s fern herüber. / Ach wie trotzig braust der Strom sein Lied fort, / Ziehende Vögel spotten meiner in der Ferne, / Wolken sammeln sich um den Mond und nehmen ihn mit sich, / Ach kein Wesen, das meiner sich erbarmte.“ (V. 58 – 64) Vgl. zu den Lyrik-Paraphrasen im Vittoria Accorombona-Roman als dem Zeichen einer „dezidierte[n] Abkehr von der romantischen Romanpoetik“ auch Martina Wagner-Egelhaaf,Verque(e)r und ungereimt. Zum Verhältnis von Gesetz, Geschlecht und Gedicht in Tiecks „Vittoria Accorombona“ (1840). In: Die Prosa Ludwig Tiecks, hg. von Detlef Kremer, Bielefeld 2005, S. 161– 170, hier: S. 168.
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2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
wird.⁷ Tieck selbst hat diese Lyrik-Paraphrasen des Romans im Gespräch mit seinem Biographen Rudolf Köpke folgendermaßen begründet: Manche haben gefragt, warum ich die eingeschalteten Gedichte in Prosa aufgelöst habe. Es war schwer für diese Gedichte die rechte Form zu finden; die nächste würde die Canzone gewesen sein, aber diese ist nicht leicht zu handhaben. Auch wollte ich den gleichmäßigen Fluß der Darstellung durch den Vers nicht unterbrechen.⁸
Dass Tieck sich aus Bequemlichkeit gegen das Einfügen von Verseinlagen entschieden hat, kann angesichts seiner eingehenden Beschäftigung mit der Kanzonenstrophe in seiner Anthologie mittelalterlicher Minnelieder (Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter, 1803) kaum überzeugen. Auch mit den in der Renaissance gebräuchlichen Formen der spanischen und italienischen Tradition war Tieck vertraut.⁹ Ein Interesse an der Uniformität des Prosatextes mag ihn dazu bewogen haben, hier auf Verseinlagen zu verzichten. Und doch hebt sich gerade in der Paraphrase, d. h. in ihrer explizit gemachten Absenz, die Gattung Lyrik besonders deutlich von der Prosa ab. So, wie die Gedichtausgabe von der Prosa unterwandert wird, erscheint im Roman die Lyrik in neuer Schärfe. Diese zur Ausdifferenzierung von Gattung und Form gegenläufigen Tendenzen hängen eng zusammen mit Tiecks Verwendung von Metrum und Rhythmus, die im Folgenden anhand von drei Aspekten – Polyrhythmik, Dialogizität und Dissonanz – in den Blick genommen wird. An Tiecks Metren zeigt sich eine Alternative zur hermetischen Formkonstitution der Lyrik durch Isolierung einerseits und zum prosaischen Formzerfall andererseits, und zwar in der Irritation eines lyrischen Solipsismus durch ein dissonant und dialogisch konzipiertes Metrum.
Vgl. Tieck, Vittoria Accorombona. In: Tieck, Schriften, Bd. 12, S. 527– 855, hier: S. 581: „Sie las eine Canzone, deren Inhalt ohngefähr dieser war: – / ‚Gewalt der Liebe.‘ / ‚Alles, so sagen die Dichter und viele andre Sterbliche, wird von der Liebe regiert. Ich, zu jung, um sie zu kennen, zu schüchtern, um sie heraus zu fordern, wie soll ich sie besingen? […]‘“ Zit. nach Schweikert, Kommentar. In: Tieck, Schriften, Bd. 12, S. 1258. Für die Strophenformen sind vor allem Tiecks Calderon-Rezeption von Bedeutung wie auch seine Auseinandersetzung mit der klassischen Tradition. Vgl. Gilbert Heß, Antike-Rezeption. In: Ludwig Tieck. Leben, Werk, Wirkung, hg. von Claudia Stockinger und Stefan Scherer, Berlin/ Boston 2011, S. 193 – 206. Vgl. zu Tiecks Rezeption spanischer Dichtung im Rahmen seiner Übersetzer-Tätigkeit auch Marek Zybura, Ludwig Tieck als Übersetzer und Herausgeber. Zur frühromantischen Idee einer „deutschen Weltliteratur“, Heidelberg 1994, S. 35 – 72.
2.2.1 Polyrhythmik
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2.2.1 Polyrhythmik Tiecks Texte spielen mit einer Vielzahl von selbst erfundenen und tradierten Metren. Vor allem seine Dramen Leben und Tod der heiligen Genoveva (1800) und Kaiser Octavianus (1804) sind für ihre metrische Vielfalt bekannt und darin Goethes Faust II verglichen worden.¹⁰ Nicht nur für Tiecks Dramen, die von Friedrich Gundolf aus diesem Grund abschätzig als „Sammelbecken der romantischen Dichtformen“¹¹ bezeichnet wurden, ist ein Zugleich unterschiedlicher Versmaße kennzeichnend, sondern ebenso für die vielen Sammlungen und Zyklen, in die Tieck seine Gedichte organisierte. Der kleine Gedichtzyklus Lebens-Elemente, der in dem von August Wilhelm Schlegel und Tieck 1802 herausgegebenen Musenalmanach erschien, ist beispielhaft für Tiecks polyrhythmische Komposition von Versmaßen. Während andere Gedichtzyklen wie der Sonettenzyklus Erinnerung und Ermuntrung aus Tiecks Poetischem Journal (1800) oder die Reise-Gedichte, die fast ausschließlich in Prosaversen geschrieben sind, sich durch formale Homogenität auszeichnen, kombiniert der Zyklus Lebens-Elemente verschiedene Versformen, die teils in Metren, teils in freien Versen verfasst sind.¹² Der Zyklus besteht aus acht Gedichten mit den folgenden Titeln: I Die Erde, II Das Unterirdische, III Das Wasser, IV Die Luft, V Das Feuer, VI Das Licht, VII Arbeit, VIII Sabbat. Jedes der Gedichte steht in einem eigenen Versmaß.¹³ Das Gedicht „Die Erde“ ist in vierzeiligen vierhebigen Trochäen geschrieben. Höher kann der Mut nicht streben, Wunderbar bin ich besiegt, Und ich fühle, wie das Leben Seinem Widerstand erliegt. (V. 1– 4)
Das zweite Gedicht „Das Unterirdische“ ist in sechszeiligen Strophen verfasst, die in vierhebigen Jamben stehen.
Vgl. Roger Paulin, Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie, München 1988, S. 112. In Bezug auf das Drama Kaiser Octavianus: Gundolf, Ludwig Tieck, S. 252. Damit stellt Lebens-Elemente keine Ausnahme dar. Die lyrische Szene „Wald, Garten und Berg“, ursprünglich Teil des Dramas Prinz Zerbino und für die Gedichtausgabe zum Gedicht umgeschrieben, ist dem Zyklus sehr ähnlich in der Inszenierung der Vielstimmigkeit der Natur.Vgl. Tieck, Gedichte, S. 47– 55. Auf die Heterogenität von Tiecks Lyrik weist auch Stefan Scherer hin.Vgl. Stefan Scherer, Lyrik. In: Ludwig Tieck. Leben, Werk, Wirkung, hg. von Claudia Stockinger und Stefan Scherer, S. 479: „Aufs Ganze gesehen, ist Tiecks Lyrik allerdings nicht so homogen, wie es eine Forschung insinuiert, die sich am Paradigma der musikartigen Stimmungslyrik ausrichtet“. Im Folgenden zitiert nach Tieck, Gedichte, S. 114– 121.
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2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
Was will die Angst an meiner Seele? Was flüchten die Gedanken fort? Wohin ich fliehe und mich quäle, Entdeck ich keinen sichern Ort: Mein Fuß gehemmt, mein Atem schwer, Die Brust so voll, das Herz so leer. (V. 1– 6)
Das Gedicht „Das Wasser“ ist in freien Versen geschrieben. Blauer, fließender Äther, Der von der Berge Gipfel Sich niedertaucht; Und süß genährt Von strebenden Kindern, Die ihm in die Arme stürzen, Froh lachend an den Busen fliegen, Daher mit seinen atmenden Fluten zieht. (V. 1– 8)
„Die Luft“ kehrt zu einem festeren Schema zurück – vierzeilige Strophen, deren erste drei Verse in vierhebigen Trochäen stehen –, das aber Unregelmäßigkeiten integriert: Die letzte Zeile jeder Strophe ist freirhythmisch und weist deutlich mehr Hebungen auf als die übrigen drei. Die fünfte und sechste Strophe setzen sich nicht aus vier, sondern aus jeweils sieben und sechs Zeilen zusammen. Holde Sehnsucht, steigst du nieder? Süßer Strom, der mich ertränkt? Ew’ge Ruhe, kehrst du wieder, In die sich das volle Herz so still versenkt? (V. 1– 4)
Im Gedicht „Das Feuer“ kehren die freien Verse wieder, in denen bereits das Gedicht „Das Wasser“ verfasst war. Sei mir gegrüßt, Wonne des Wiedersehns, Alte Heimat, Ewige Kunde des vorigen Bundes. Strebend, Kämpfend, Wild verwirrend Entspringt aus der Unruh Keim Der Bann der Ordnung. (V. 1– 9)
„Das Licht“ hebt, wie zuvor „Das Unterirdische“, in vierhebigen Jamben an und behält einen jambischen Grundrhythmus bei, wobei aber die Hebungszahl vari-
2.2.1 Polyrhythmik
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iert. Das Gedicht ist nicht in Strophen unterteilt und die vierzeilige Gliederung, hergestellt durch die zunächst konstante Anzahl der Hebungen und den umarmenden Reim, wird nach den ersten acht Versen durchbrochen. Willst du noch immer weiter ziehen? Entflieh hinein, sonst mußt du fließen, Dir nach tritt, dem du kaum entgangen, Mit frischen Wangen Das falsche Verlangen: Drum bleibe hier. (V. 10 – 15)
Das Gedicht „Arbeit“ kehrt zu den vierhebigen trochäischen Vierzeilern des Anfangsgedichts „Die Erde“ zurück. Vorwärts wandeln, wiederkehren, Und das Rohe neu gestalten, Ordnung in Verwirrung schalten, Wird auf Erden immer währen. (V. 1– 4)
„Sabbat“ schließlich setzt sich aus zwei Ottava rima-Stanzen zusammen. Der Himmel lacht in seiner heitern Bläue, Die Erde grünt in allen ihren Lichten, Der Adler schwärmt in der azurnen Freie, Und will den Fittig nach der Sonne richten; Der Mensch empfängt von oben seine Weihe, Vom Kreuze nieder will die Seele flüchten, Der heil’ge Leichnam steigt aus den Gewanden, Die Lieb’ ist nun vom Grabe auferstanden. (V. 1– 8)
Eine derart formale Beschreibung der Gedichte legt Beziehungen zwischen den ‚Elementen‘, eine möglicherweise zugrundeliegende (kosmische) Ordnung, nahe. Und tatsächlich verweist etwa das Gedicht „Arbeit“ nicht nur in formaler Hinsicht auf das Anfangsgedicht „Die Erde“ (beide Gedichte stehen in vierzeiligen vierhebigen Trochäen). Das Wort „Erde“ wird in jeder Strophe des Gedichts „Arbeit“ genannt; Arbeit bindet darin „Menschen, Element, Naturen“ (V. 9) wesentlich an die irdische Existenz. Die Gedichte „Das Wasser“ und „Das Feuer“ sind in freien Versen verfasst und „Das Unterirdische“ und „Das Licht“ in (überwiegend) vierhebigen Jamben. Doch wenngleich formale Ähnlichkeiten Korrespondenzen zwischen den Elementen anzudeuten scheinen, überwiegt doch deren – auch formal konstituierte – Disparatheit. Jedes ‚Element‘ zeichnet sich durch ein eigenes Versmaß aus, das gerade in der Verbindung der Gedichte zu einem Zyklus an Kontur gewinnt. Damit dienen die Versmaße im Gedichtzyklus vielmehr der
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2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
Artikulation der Differenz der Elemente als der ihres Zusammenhangs. Der ‚Eigenrhythmus‘ der Elemente ist dabei auch in den einzelnen Gedichten nicht immer kohärent, sondern oft unregelmäßig, weshalb viele der Versmaße nur bedingt als Metren schematisiert werden können. Häufig wird ein Metrum konstruiert, um im Laufe des Gedichts die zunächst etablierte Regelmäßigkeit wieder zu durchbrechen: sei es durch Variation der Zeilen in einer Strophe („Die Erde“, „Die Luft“) oder durch die der Hebungen in einem Vers („Das Wasser“, „Das Feuer“, „Das Licht“). So, wie sich die Versmaße der Zusammenfügung zu einem geschlossenen Ganzen verweigern, entzieht sich auch die eigentümlich schwankende Perspektive der Gedichte einer Vereinheitlichung. Der Titel des abschließenden Gedichts „Sabbat“ legt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Zyklus um eine poetische Darstellung der Schöpfungsgeschichte handelt, womöglich aus der Sicht Gottes. Doch lässt sich eine Analogie zu den sieben Tagen der Schöpfung nach Genesis 1 nicht herstellen, auch fällt der Sabbat nicht mit der siebten Stufe zusammen („Sabbat“ ist das achte Gedicht des Zyklus, an siebter Stelle steht das Gedicht „Arbeit“). Vor allem aber lässt sich die Perspektive der Gedichte mit der eines Schöpfergottes kaum vereinen. Das Ich erscheint zu Beginn des Zyklus als ein Subjekt, das in Dialog mit einer Schöpfung tritt, der es unterlegen ist, beispielsweise im zweiten Gedicht, in dem es die Rede des „Unterirdischen“, markiert in Anführungszeichen (V. 19 – 36), vernimmt, das das Ich in die Tiefen der Unterwelt locken möchte. Im weiteren Verlauf des Zyklus lässt sich dann eine zunehmende Entsubjektivierung der Perspektive bemerken. Was hingegen an Kontur gewinnt, ist das jeweilige ‚Du‘ der Gedichte, d. h. die Elemente, die in den Texten, oft in direkter Apostrophe, angesprochen werden. Die Gedichte werden so mehr und mehr zu einer Artikulation der adressierten Elemente, deren Rede – in „Das Unterirdische“ noch als zitierte direkte Rede vom subjektiven Rahmen abgegrenzt – zunehmend das gesamte Gedicht ausfüllt, während sich die Perspektivierung durch ein Ich auflöst. Für die Konzeption des Versmaßes in Lebens-Elemente bedeutet das: Die polyrhythmische Gestaltung ist weniger ‚impressionistisch‘ und subjektiv angelegt, sondern dient dem Austausch verschiedener Dialogpartner. So gesehen handelt es sich bei dem ‚Eigenrhythmus‘ der Elemente nicht um den Ausdruck einer subjektiven Stimmung, sondern um den des vernommenen Du, dem eine Stimme verliehen wird. Die subjektive Perspektive tritt mit der polyrhythmischen Gestaltung in den Hintergrund, stattdessen steht die Artikulation der sprechenden Objekte im Vordergrund. Zu einem vergleichbaren Schluss gelangt Gerhard Kluge in seinem Vergleich von Schillers und Tiecks Lyrikkonzeptionen. Kluge hat gezeigt, dass Tieck sich, in Auseinandersetzung mit Schillers
2.2.2 Dialogizität
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Lyrikverständnis, in seinem Versuch der ‚Poetisierung‘ von Schillers Forderung nach einer ‚Idealisierung‘ in der Lyrik abgrenzt.¹⁴ Die Gegenstände der Natur (wie Blumen, Quellen, Steine) erhalten für Schiller dichterische Relevanz nur durch eine in ihnen ‚dargestellte Idee‘, für Tieck sind sie durchaus autonome, lebendige Wesen, deren Sprache wir zu verstehen suchen, weil sie vom inneren göttlichen Leben der Natur künden, das alles menschliche Leben umgreift.¹⁵
Unter ‚Poetisierung‘ verstehe Tieck eine Übersetzung der Welt in das Gedicht, die nicht auf Abstraktion abziele, sondern die Dinge in ihrer ‚Objektivität‘ zur Darstellung bringe und insofern wesentlich ‚prosaisch‘ gegründet sei: „Das Poetische ist nicht nur eine subjektive Gemütserfahrung, die auf einen Widerhall im Draußen, in der Wirklichkeit zu rechnen hat, es liegt nicht jenseits des Lebens, sondern ist verborgen in des Lebens Prosa.“¹⁶
2.2.2 Dialogizität In vielen Gedichten Tiecks ist das rhythmisch markierte Miteinander verschiedener Stimmen als ein Dialog angelegt, in dem die Stimmen aufeinander Bezug nehmen und in dem gerade diese Bezugnahme sich durch das Versmaß vollzieht. Überhaupt ist eine szenische Anlage charakteristisch für Tiecks lyrische Texte. Tieck selbst stellt im Vorwort zu seiner Minnelieder-Anthologie fest, dass zahlreichen der von ihm ausgewählten Gedichte ein „dramatische[r] Charakter“ eigne: „Viele Gedichte haben einen dramatischen Charakter, sie enthalten die Bewerbungen der Liebe und die Antworten der Geliebten, ihren Zwist und ihre Versöhnung“.¹⁷ Werden die verschiedenen Stimmen in ihrer rhythmischen Unterschiedlichkeit in Lebens-Elemente weitgehend beziehungslos nebeneinandergestellt, so inszeniert Tieck in anderen Texten einen Dialog durch das Versmaß, so zum
Dabei bezieht sich Kluge für seine Darstellung von Schillers Lyriktheorie insbesondere auf zwei Rezensionen Schillers von Gedichten Gottfried August Bürgers und Friedrich von Matthissons: Friedrich Schiller, Ueber Bürgers Gedichte, erschienen in der Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr. 13 (1791), sowie Friedrich Schiller, Ueber Matthissons Gedichte, erschienen in der Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr. 298/299 (1794). In: NA 22, S. 245 – 284. Gerhard Kluge, Idealisieren – Poetisieren. Anmerkungen zu poetologischen Begriffen und zur Lyriktheorie des jungen Tieck (1969). In: Ludwig Tieck, hg. von Wulf Segebrecht, S. 386 – 443, hier: S. 425. Kluge, Idealisieren – Poetisieren, S. 405 f. Tieck, Die altdeutschen Minnelieder. In: Tieck, Ausgewählte kritische Schriften. Mit einer Einleitung hg. von Ernst Ribbat, Tübingen 1975, S. 39 – 66, hier: S. 63.
122
2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
Beispiel in seinem Prolog zur Magelone aus dem Jahr 1803. Auf dem MageloneStoff – der Geschichte von der Liebe und den Irrfahrten der Magelone und des Grafen Peter – basierte bereits Tiecks Erzählung Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence (1796/97). Später plante er ein dramatisches Gedicht zu demselben Sujet, das eine Brücke bilden sollte zwischen den Stücken Leben und Tod der heiligen Genoveva (1800) und Kaiser Octavianus (1804), die selbst eine Vielfalt von Versmaßen verwenden. Die szenische Anlage, die in diesem Text durch die konzeptuelle Nähe zu den Dramentexten besonders ausgeprägt ist, liegt dabei vielen von Tiecks Gedichten zugrunde. Der Prolog zur Magelone stellt eine Naturszene in der Morgendämmerung dar, in der ein Jüngling und eine Jungfrau einander begegnen. Bevor die beiden Geliebten aufeinandertreffen, entspinnt sich ein Gespräch zwischen verschiedenen ‚Figuren‘, die Teil dieser Naturszene sind (die Nacht, die Wasser, der Wald, die Blumen, etc.). Sie sprechen zunächst untereinander und treten dann mit dem Jüngling in einen Dialog. Die verwendeten Versformen lassen sich wie folgt zusammenfassen¹⁸: Die Nacht: Blankvers (V. 1– 10) Die Träume: Daktylen (Hebungsfreiheit; V. 11– 19) Die Wolken: Jamben (Hebungsfreiheit; V. 20 – 23) Der Jüngling: 1 Stanze (V. 24– 31) Die Sonne: 1 Sonett, Blankvers (V. 32– 45) Die Wasser: 2 Stanzen (V. 46 – 61) Die Blumen: dreihebige Jamben (V. 62– 77) Der Wald: dreihebige weitgehend jambische Verse (V. 78 – 98) Der Jüngling: 1 Sonett, Blankvers (V.#99 – 112) Die Sonne: 1 Quartett (V. 113 – 116) $ $ ! Die Wasser: 1 Quartett (V. 117– 120) 1 Sonett, Blankvers Die Blumen: 1 Terzett (V. 121– 123) $ $ " Der Wald: 1 Terzett (V. 124– 126) Der Jüngling: 1 Sonett, Blankvers (V. 127– 140) Die Jungfrau: 1 Stanze (V. 141– 148) Beide: zweihebige Jamben (V. 149 – 160)
Am Beginn der kleinen Szene verfügt jedes Element der Natur, das hier zur Sprache kommt, ähnlich dem Zyklus Lebens-Elemente, über eine eigene Versform: Die Nacht spricht in Blankversen, die Träume sprechen in Daktylen, die Wasser in Stanzen usw. Im Verlauf der Szene wird jedoch deutlich, dass es bei dieser rhythmischen Markierung der Rede verschiedener Sprecher nicht so sehr um die Artikulation der Dinge in ihrem ‚Eigenrhythmus‘ geht, wie zuvor in Lebens-Ele Basierend auf dem Prolog zur Magelone in: Tieck, Gedichte, S. 157– 163.
2.2.2 Dialogizität
123
mente, sondern um die Kommunikation zwischen ihnen. Denn in der Folge tauschen die Sprecher die Versformen untereinander aus und nehmen damit durch das Metrum Bezug auf die Äußerungen des anderen. Die Rede des Jünglings etwa ist als Sonett verfasst und greift damit die Versform der Sonne auf. Er klagt: „Uneinig trennt sich Alles im Vereine: / Wie alle Kräfte zur Besinnung ringen, / Kann ich nicht, was ich bin, mich selbst erinnern.“ (V. 110 – 112) Darauf antworten die Sonne, die Wasser, die Blumen und der Wald in einem weiteren Sonett. Ihre Rede verteilt sich auf jeweils eine Strophe des Sonetts (die Sonne spricht das erste Quartett, die Wasser sprechen das zweite, die Blumen das erste Terzett und der Wald das zweite). Die Versform wird hier also nicht – wie in Lebens-Elemente – zur Darstellung der Rede eines Einzelnen in seiner Eigenheit verwendet, sondern zur Gestaltung eines Gesprächs mehrerer Stimmen. Im zweiten Quartett entgegnen die Wasser auf die Klage des Jünglings: Dann senken sich durch die verklärten Auen Die milden Wogen, fließen durch die Stille; Ahndend, was kühl in deinem Geiste quille, Wirst du dich süß im klaren Spiegel schauen. (V. 117– 120)
Die Spiegelung in der Natur, versprechen die Wasser, werde den Wunsch des Jünglings nach Erinnerung seiner selbst und nach Wiedervereinigung des Getrennten erfüllen. Formal vollzieht sich diese Spiegelung hier mit dem Sonett, in dem sich der Jüngling und die Naturelemente entsprechen (V. 99 – 140). Während des folgenden Sonetts (V. 127– 140) erscheint die Jungfrau (nach dem zweiten Quartett ist die Szenenanweisung „(Die Jungfrau tritt aus dem Walde.)“ eingeschoben). Sie spricht in Stanzen und spiegelt damit die vorige Rede des Jünglings (V. 24– 31). Das Gedicht schließt mit einem Duett von Jüngling und Jungfrau, das in einem neuen Versmaß (zweihebiger Jambus) steht. Zweierlei fällt an der Gestaltung der Versmaße in diesem szenischen Gedicht auf: 1. Die Versformen dienen nicht dem solipsistischen Ausdruck von Subjektivität, sondern der Gestaltung einer Kommunikationssituation. 2. Trotz der vorübergehenden formalen Vereinigung der Sprecher im Sonett endet die Szene nicht im Einklang aller Figuren miteinander. Denn die Jungfrau stimmt nicht in das Zwiegespräch von Jüngling und Natur ein, sondern spricht in Stanzen und unterbricht damit die Sonetten-Rede. Mit den zweihebigen Jamben führen der Jüngling und die Jungfrau am Ende ein Versmaß ein, an dem die Naturelemente keinen Anteil haben. Zwar befinden sich die Geliebten nun in Übereinstimmung miteinander, doch ist die formale Spiegelung in der Natur unterbrochen.Wenn die Gestaltung des Gesprächs durch das Versmaß also zunächst auf eine formale Vereinheitlichung hinauszulaufen scheint, durchbricht das Versmaß des zwei-
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2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
hebigen Jambus diese Tendenz schließlich wieder. Fluchtpunkt der metrischen Konstruktion von Dialogizität – hierin besteht die Gemeinsamkeit mit dem Zyklus Lebens-Elemente – stellt damit nicht eine Vision allumfassender Harmonie dar, sondern eine metrisch gefasste Inskription von Differenzen in den Dialog. An anderer Stelle parodiert Tieck seine szenische Gestaltung von lyrischen Versformen selbst. Der kleine Sonettenzyklus Die Kunst der Sonette, verfasst im Jahr 1805 und zuerst veröffentlicht in der Gedichtausgabe von 1821– 23, nimmt die romantische Massenproduktion von Sonetten aufs Korn und beginnt mit einem Sonett, das ein Gespräch zwischen vier Figuren – Hans, Michel, Christian und Kasper – darstellt. Je 1– 2 Zeilen des Gedichts werden von einer Figur gesprochen. Gegenstand ist, anders als im Prolog zur Magelone, kein Naturbild, sondern eine Alltagsszene. Hans und Michel kontemplieren die moralischen Verpflichtungen des Menschen und werden dabei durch die Ankunft des Pfarrers und des Verwalters, Christian und Kasper, unterbrochen. Hans Michel Hans Michel Hans Christian tritt aus der Ferne auf:
Nun wandeln wir in grünen Lustbezirken. Es rauschen auch der Bienen holde Schwärme Säuselnd dahin durch laue Frühlingswärme. Ein Duft weht her vom neuen Laub der Birken: Drum muß der Mensch, Gevatter, Gutes wirken. Er muß, wenn auch manch kleiner Geist sich härme, Und drob im Ungetüm der Pöbel lärme. Wer anders denkt, gehört zu Heid’ und Türken. So nehmt uns mit, wir gehen des Wegs; Hans, halt Er!
Kasper ebenfalls mit Christian kommend: Hans Michel Christian. Kasper
Bleibt Kerle stehn, ihr habt ja kein Versäumnis. Es sind der Pfarrer und der Herr Verwalter. Ich seh es wohl, das ist ja kein Geheimnis. So wandle welt- und geistlicher Statthalter Und ein Sonett wird’s, gilt für einen Reim dies. ¹⁹
Das Metrum, ein Blankvers, zeichnet sich in diesem Gedicht durch eine nahezu penetrante Regelmäßigkeit aus, die sich etwa in der Tonbeugung in V. 13 („Statthálter“) äußert. Von einer vielstimmigen Gestaltung des Gesprächs durch das Versmaß kann hier also nicht die Rede sein. Stattdessen führt das Gedicht die Auflösung der lyrischen Form in Dialogizität vor Augen.Von der Einbettung in den Sonettenzyklus und dem expliziten Verweis in V. 14 („Und ein Sonett wird’s, gilt für einen Reim dies.“) abgesehen, ist das Rollengedicht allein durch die Anzahl der Zeilen als Sonett erkennbar. Deutlich wird darin, wie die dialogische Anlage in Tieck, Gedichte, S. 396.
2.2.2 Dialogizität
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letzter Konsequenz die lyrische Form zu sprengen vermag. Zurück bleibt das Sonett als eine leere Hülse, die ihre Hohlheit im forcierten unreinen Reim („Versäumnis“/„kein Geheimnis“/„einen Reim dies“) und in der Tonbeugung (V. 13) zur Schau stellt. War es im Prolog zur Magelone das Metrum, das die kommunikative Situation gewissermaßen initiierte, so wird lyrische Dialogizität in diesem Sonett als Farce inszeniert, in der dem Versmaß keine dialogische Potenz eignet. Von Tiecks Parodie seiner eigenen Dichtung bleibt aber die charakteristische dialogische Konzeption des Versmaßes unberührt. Damit lässt sich Tiecks Metrik an jüngere Beiträge zur Lyriktheorie anschließen, die die inhärente Dialogizität der Gattung herausgearbeitet haben. Jahan Ramazani etwa hat die Übertragung von Michail Bachtins Konzept der Dialogizität auf die Lyrik als einem wesentlich intergenerischen Genre erprobt.²⁰ Bachtin hatte in seiner Schrift Das Wort im Roman (1934/35) die „dialogisierte Redevielfalt“²¹ als Charakteristikum des modernen Romans herausgearbeitet. Während auch andere Gattungen und Formen mitunter dialogische Tendenzen aufwiesen, seien sie nicht in demselben Maße dadurch bestimmt wie der Roman (eine Gattungsdefinition, die Jahan Ramazani mit Blick auf die Lyrik zu revidieren sucht). In den meisten (im engeren Sinne des Wortes) poetischen Gattungen wird die innere Dialogizität des Wortes nicht künstlerisch genutzt, sie findet in das „ästhetische Objekt“ des Werkes keinen Eingang, wird im poetischen Wort unter gewissen Bedingungen gelöscht. Im Roman dagegen ist die innere Dialogizität ein wesentliches Moment des Prosastils und wird hier einer künstlerischen Bearbeitung unterworfen.²²
Dabei dient Bachtin gerade der Rhythmus zur Unterscheidung der ‚poetischen Gattungen‘ vom „Prosastil[]“ des Romans. Die Rhythmisierung begünstige eine Vereinheitlichung der poetischen Sprache, die der Roman mit seiner konstitutiven Redevielfalt sprenge. Der Rhythmus verstärkt und verdichtet die Einheit und Abgeschlossenheit des poetischen Stils und der von diesem Stil postulierten Einheitssprache erst recht. Infolge dieser Arbeit entsteht, durch den Verzicht aller Momente der Sprache auf fremde Intentionen und Akzente, durch die Vernichtung aller Spuren von sozialer Redevielfalt und Sprachvielfalt, im poetischen Werk eine gespannte Einheit der Sprache.²³
Vgl. Jahan Ramazani, Poetry and Its Others. News, Prayer, Song, and the Dialogue of Genres, Chicago, IL 2014, S. 5. Michail Bachtin, Das Wort im Roman. In: Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. und eingeleitet von Rainer Grübel, aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt a. M. 1979, S. 154– 300, hier: S. 166. Bachtin, Das Wort im Roman, S. 176 f. Bachtin, Das Wort im Roman, S. 189.
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2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
Bachtins Dialogizitäts-Konzept als Kontrastfolie erlaubt es, die Eigenheit von Tiecks dialogischer Metrik deutlicher zu konturieren: Metren dienen für Tieck nicht, wie bei Bachtin, der Herstellung einer „gespannte[n] Einheit der Sprache“ in Abgrenzung von einer der Prosa eigenen Polyphonie, sondern im Gegenteil der Produktion einer poetischen dialogischen Redevielfalt, die die klare Unterscheidbarkeit von Poesie und Prosa untergräbt. Tiecks dialogische Metrik ist dabei als wesentlich dissonante konzipiert. Seine Ästhetik einer dissonanten Vielstimmigkeit formuliert er etwa im Vorwort seines Poetischen Journals. In der Einleitung zu dieser im Jahr 1800 in zwei Teilen herausgegebenen Zeitschrift legte Tieck dar, dass gerade in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation, die von Streit und Widerspruch geprägt sei, „von allen Seiten Stimmen gehört werden“ sollten. Erklärtes Ziel seiner Veröffentlichung sei es, so Tieck im Vorwort, zum Austausch verschiedener Perspektiven anzuregen. In dieser Krisis ist es schwer, auf ein Publikum und allgemeine Teilnahme zu rechnen, aber dennoch ist es löblich, wenn jeder, der sich dazu berufen fühlt, seine Bemühungen nicht aufgibt, denn eben in dieser Periode des Kampfes ist es gut, wenn von allen Seiten Stimmen gehört werden, wenn jeder seine Überzeugungen zu verbreiten sucht und dazu beiträgt, die Lebhaftigkeit des Interesse und der Forschung zu befördern. Aus keiner andern Absicht habe ich mich zu gegenwärtiger Zeitschrift entschlossen, die durchaus der Kunst und Poesie gewidmet sein soll, so daß jeder Beitrag eine unmittelbare oder mittelbare Beziehung auf diese Gegenstände hat.²⁴
Dass die Texte des Poetischen Journals, neben einigen wenigen Beiträgen von Friedrich Schlegel, fast ausnahmslos aus Tiecks Feder stammen, tut seinem ästhetischen Ideal des polyphonen Dialogs keinen Abbruch, geht es ihm doch um eine gezielte Inszenierung von Vielstimmigkeit. Dissonanzeffekte werden innerhalb dieser Vielstimmigkeit auch durch metrische und rhythmische Formen produziert.
Ludwig Tieck, Einleitung. In: Ludwig Tieck, hg. von Uwe Schweikert, München 1971, S. 15. Auf Tiecks ‚demokratische Formenpolitik‘ weist auch Roger Paulin in seiner „literarischen Biographie“ Tiecks hin. Vgl. Paulin, Ludwig Tieck, S. 86: „In den Phantasien [Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst] erkennen wir auch Tiecks persönliche Sprache: er steht ein für die Toleranz in Sachen künstlerischer Beurteilung und – mit Ausnahme vielleicht des Sternbald – er rückt von dieser Position niemals ab. Sie ist nicht einfach die Folge des Eklektizismus, sie stammt vielleicht aus der Einsicht, daß die leichten, ‚lustigen Geister‘ wohl dieselbe Sphäre bewohnen wie der Geist des Erhabenen.“
2.2.3 Dissonanz
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2.2.3 Dissonanz Dass die oft bemühte ‚Musikalität‘ von Tiecks Dichtung nicht auf die Idee eines harmonischen Zusammenklangs von Wortformen zu reduzieren sei, hat bereits Barbara Naumann herausgearbeitet. Naumann spricht mit Hinblick auf Tiecks Lyrik von einer „Musikalisierung als Fragmentierung der Sprache, und der daran beteiligten Subjektivität“²⁵. Tieck macht eine als dissonant begriffene – durch Spannungen und Missklänge bestimmte – Musikalität auch zum Gegenstand seiner Dichtung. Neben Gedichten, die Musik, der frühromantischen Musikästhetik entsprechend, als eine immaterielle Harmonie darstellen – wie etwa das Gedicht „Stabat Mater“, das Musik in Worten nachzubilden versucht²⁶ – fehlt es nicht an Texten, die die Materialität des Klangs hervorheben und dabei Musik als Dissonanz darstellen. In dem Gedicht „Die Geige (Sonate)“ aus Tiecks Komödie Prinz Zerbino (1798) etwa klagt eine Geige, die falsch gespielt wird. O weh! o weh! Wie mir das durch die ganze Seele reißt! In’s Henkers Namen, ich bin keine Flöte! Wie kann man mich so quälen, Alle meine Töne unterdrücken, Und kneifen und schaben und kratzen, Bis ein fremdes quinkelierendes Geschrei herausschnarrt? […] Innerlich schmerzt mich die Musik, Die da unten wohnt und von wilden Klängen vernichtet wird, Eine Kolik ängstigt mich durch und durch, Der Resonanzboden wird von Gicht befallen, Der Steg winselt und wimmert. […] (V. 1– 19)²⁷
Formal wird die Dissonanz hier in freien Versen umgesetzt, die keinen metrischen Zusammenhang erkennen lassen.²⁸ Doch setzt Tieck gerade auch Metren ein, um
Vgl. Naumann, „Musikalisches Ideen-Instrument“, S. 91. Zur Auslotung von Formen der Dissonanz bei Tieck und Wackenroder vgl. auch Lubkoll, Mythos Musik, S. 124. Vgl. Tieck, Gedichte, S. 144: „Englein, kommt, im Niederklimmen / Laßt erglänzen eure Stimmen / […] Müßt euch klingend nun bewegen, / Flüglein fein zusammen legen, / Daß in den Gesanges-Stimmen, / Störend mag kein Rauschen schwimmen.“ (V. 17– 24) Tieck, Gedichte, S. 395. Zur besonderen Dissonanz von Tiecks Prosagedichten, in Abgrenzung vom Prosavers Heinrich Heines, vgl. auch Ernst Elster, Das Vorbild der freien Rhythmen Heinrich Heines. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 25 (1924), S. 63 – 86. Barbara Naumann hat am Beispiel der Gedichte im Franz Sternbald-Roman auf die Unregelmäßigkeit von Tiecks Vers- und Strophen-
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2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
Dissonanzeffekte zu erzeugen. Die Disharmonien der Prosaform werden so in eine Metrik überführt, die sich durch gezielt produzierte Brüche in der Versform konstituiert. Derart dissonante Verse finden sich bereits in Tiecks frühen Gedichten, in denen er mit Kurzversen und Enjambements experimentiert. Beispielhaft für solche Kurzverse ist ein Gedicht aus dem Jahr 1790, das zu Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde und von Tiecks Biographen Rudolf Köpke den Titel „Lila’s Schlummerlied“ erhielt (es ist Teil einer lyrischen Idylle mit dem Titel „Das Lamm“).²⁹ Das Gedicht beginnt als Wiegenlied mit einem zweihebigen Trochäus („Wiegende Wogen, / Lullet mich ein! / Wehende Winde, / Lispelt mir Schlaf!“), löst sich dann aber in Verse auf, die aus nur einem Wort bestehen und durch markante Enjambements auffallen. Woget, woget, Krause Wellen! Gieße, Himmel, Schlummer nieder! Wellchen, Wellchen, Winde, Bäume – Leise – Leise! – Leise Rieselt, Quellen! Rauschet, Bäume, Über Mir! – Ha! Süßer Schlummer Schloß die Augen! Lieblich ist der Schlummer unter Blumendüften, Und auf hellen Frühlingswiesen. (V. 13 – 33)³⁰
Hier werden die Verse zunächst um eine Hebung verkürzt, bis sie nur noch aus einzelnen Wörtern und Exklamationen bestehen („Rauschet, / Bäume, / Über / Mir! – Ha!“). Das trochäische Metrum bleibt dabei erhalten, so dass es scheint, als würden die extremen Enjambements und die Regelmäßigkeit des Trochäus ein-
formen hingewiesen. Sie stellt dabei einen Bezug zu den freien Versen moderner Lyrik, etwa Mallarmés, her. Vgl. Naumann, „Musikalisches Ideen-Instrument“, S. 110 – 113. Vgl. Ruprecht Wimmer, Kommentar. In: Tieck, Gedichte, S. 763. Tieck, Gedichte, S. 499 f.
2.2.3 Dissonanz
129
ander bedingen. Im Anschluss an die Dissolution in reine Laute wird der zweihebige Trochäus wiederhergestellt, doch unterscheiden sich die anschließenden Verse von den Anfangszeilen durch starke Enjambements. Während die Verse zu Beginn des Wiegenliedes sich weitgehend an der syntaktischen Struktur orientierten, sind die nach der Dissolution rekonstruierten zweihebigen Trochäen markiert durch betonte Enjambements („Lieblich ist der / Schlummer unter / Blumendüften, / Und auf hellen / Frühlingswiesen.“). Der ‚Fluss‘ des Wiegenliedes wird nach der Dekomposition der Verse nicht wiederhergestellt, in der erneuten Zusammenfügung erscheint das Metrum stattdessen in seinem disruptiven Vermögen. Zur selben Zeit experimentiert Tieck mit dem Enjambement auch im freien Vers, wo sich die Versform ohne ein festes Metrum wesentlich durch das Enjambement konstituiert. So im Gedicht „Ullin’s Gesang“ von 1791, das sich in die Tradition Ossianischer Bardengesänge stellt: Dann wallt mein Schatten über der nahen Tannen Wipfel empor, der Knabe sieht’s und schauert. Als Jüngling singt er dann Lieder, wie Ullin sie nicht sang, sie selbst Malwina nicht sang, denn Ullin’s Geist umweht ihn. (V. 15 – 22)³¹
Diese frühen Gedichte mit ihren verkürzten Versen und starken Enjambements sind als solche nicht repräsentativ für Tiecks Verwendung von Versformen. Keines der beiden Gedichte hat Eingang in die von Tieck herausgegebenen Lyrikbände gefunden („Ullin’s Gesang“ erscheint in dem von Tiecks Lehrer Friedrich Rambach verfassten Roman Die Eiserne Maske von 1792). Dennoch geben sie Hinweise auf Tiecks spätere Versgestaltung, die insbesondere mit der Variation von Hebungszahl und Verslänge arbeitet. Einen Anhaltspunkt bilden für Tieck dabei die Formen der mittelalterlichen Gedichte, mit denen er sich im Zusammenhang seiner Minnelieder-Anthologie beschäftigt. Dabei findet er in der Kanzonenstrophe eine Versform, für die der Wechsel von Metrum und Hebungszahl zwischen dem Aufgesang und dem Abgesang charakteristisch ist. Die Verse des Abgesangs heben sich in der Kanzonenstrophe von den Stollen des Aufgesangs durch ihre Hebungszahl, visuell: durch ihre Länge, ab. In diesem Vorbild findet Tieck eine Bestätigung der von ihm selbst entworfenen Versformen, die, wie das Beispiel von „Lila’s Schlummerlied“ Tieck, Gedichte, S. 510.
130
2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
gezeigt hat, vielfach aus Versen mit wechselnder Hebungszahl bestehen.³² Seine Rezeption mittelalterlicher Versformen zeichnet sich etwa im Gedicht „Der Minnesänger“ ab, das Tieck selbst für seine Minnelieder-Anthologie schrieb und ohne Titel an den Schluss der Sammlung stellte, bevor er es später unter dem Titel „Der Minnesänger“ in seine Gedichtausgabe von 1841 aufnahm.³³ Bei metrischer Regelmäßigkeit (überwiegend trochäischen Versfüßen) gewinnt die Versform hier Kontur durch den Wechsel der Hebungszahl. Die jeweiligen Hebungszahlen bleiben im Verlauf des Gedichts zwischen den Strophen konstant. Die Geliebten und die Schönen Weinen, Daß der Frühling mit den Kränzen, Mit der Blume süßem Glänzen, Mit den Nachtigallen Tönen, Im Erscheinen Nur so kurze Zeit mag weilen, Daß er mit den Vögeln, Düften, Farben muß so schnelle eilen. (V. 1– 8)³⁴
Ein weiteres Beispiel für Tiecks Rezeption mittelalterlicher Versformen bietet das Gedicht „Wettgesang“ aus dem Sternbald-Roman von 1798, das Tieck für seine Gedichtausgabe von 1821– 23 modifizierte. Darin sind zweihebige Verse umfasst von Versen mit vier oder fünf Hebungen. Christine Lubkoll hat an dem Gedicht „die Funktionalisierung des Musikalischen als eines polyphonen Moments, als Form der romantischen Vielstimmigkeit und Polyperspektivität“³⁵, hervorgehoben. Der „Wettgesang“ folgt dem Muster des Wechselgesangs, einem Duett, bei dem sich zwei ‚Sänger‘ strophenweise abwechseln und jeweils die letzte Zeile der vorangegangenen Strophe als Anfang übernehmen.³⁶ Vgl. zu Tiecks Legitimation eigener Dichtungsstrategien durch den Verweis auf mittelalterliche Dichtung im Vorwort der Minnelieder-Anthologie Stefan Scherer, Populäre Künstlichkeit. Tiecks Minnelieder-Anthologie im Kontext der Popularisierungsdebatte um 1800. In: Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur, hg. von Mathias Herweg und Stefan Keppler-Tasaki, Berlin/Boston 2012, S. 98 – 111, insbesondere S. 102, sowie Uwe Meves, ‚Altdeutsche‘ Literatur. In: Ludwig Tieck. Leben, Werk, Wirkung, hg. von Claudia Stockinger und Stefan Scherer, S. 207– 218, insbesondere S. 210. Vgl. Wimmer, Kommentar. In: Tieck, Gedichte, S. 641. Tieck, Gedichte, S. 149. Vgl. Lubkoll, Musik. In: Ludwig Tieck. Leben, Werk, Wirkung, hg. von Claudia Stockinger und Stefan Scherer, S. 272– 283, hier: S. 279. Lubkoll weist auf Polyphonie als Formmodell auch in Tiecks narrativen Texten hin. Vgl. ebd., S. 280. Ruprecht Wimmer zufolge hat Tieck Anregung zu diesem Strophenmuster in einem Gedicht aus Cervantes’ Erzählung La Gitanilla gefunden. Vgl. Wimmer, Kommentar. In: Tieck, Gedichte, S. 610.
2.2.3 Dissonanz
131
Rudolf Sind aus des Winters hartem Schlaf erstanden Der Wechselsang, Der Echoklang, Daß sie im heitern Raum sich fanden. Die NachtigallenGesänge schallen, Die Lindendüfte Umspielen liebekosend Frühlingsdüfte. (V. 17– 24)³⁷
Wie in „Der Minnesänger“ fungiert der formalisierte Wechsel der Hebungszahlen hier als generatives Prinzip der Versform. Der ständige Wechsel produziert – selbst in seiner Konstanz auf der Ebene der Strophen – dabei eine gewisse Unruhe. Trotz der metrischen Kohärenz durch das jambische Versmaß wird der Vers durch die uneinheitliche Hebungszahl und die dadurch produzierten Enjambements (im obigen Beispiel V. 21 „Die Nachtigallen- / Gesänge schallen“) unterbrochen, wodurch Reibungen entstehen, die von den Sängern des Wechselgesangs auch selbst kommentiert werden. So leitet Rudolf, der mit Franz Sternbald im Duett singt, am Ende des Gedichts mit der Bemerkung in den Prosatext des Romans über: „Und darum wollen wir lieber aufhören […], denn ich gehöre selbst nicht zu den reinsten.“³⁸ Deutlich wird, dass sich Tiecks Versgestaltung, bei weitgehender Ebenmäßigkeit der Versfüße, durch gezielt produzierte Brüche in der Versform konstituiert. Die Dissonanz wird unter Aufrechterhaltung des Metrums erzeugt durch den Wechsel der Hebungszahl, der die Syntax mit starken Enjambements unterbricht. Als Anknüpfungspunkt dient Tieck dafür nicht die antike Tradition, sondern vor allem die mittelalterliche. Auf dieser Grundlage konzipiert Tieck eine Metrik, die sich weder in freie Rhythmen noch in den Prosavers auflöst, sondern die stattdessen eine prosaische Dissonanz in die metrische Form integriert. Dabei ist es Tieck mitnichten um eine formale Vereinheitlichung zu tun: Seine Texte setzen sich aus sehr verschiedenen Metren und Rhythmen zusammen, die mitunter unverbunden nebeneinanderstehen. Ihre Zusammenstellung ist auf die Produktion von Dialogizität angelegt, deren Ziel nicht in harmonisierender Einstimmigkeit liegt, sondern in dissonanter Vielstimmigkeit.³⁹ Tiecks dialogische
Tieck, Gedichte, S. 97. Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte, hg. von Alfred Anger, Stuttgart 1966, S. 240. Vgl. Wimmer, Kommentar. In: Tieck, Gedichte, S. 610. Vgl. zum „Wettgesang“ auch Naumann, „Musikalisches Ideen-Instrument“, S. 98. Vgl. dazu auch Markus Häfners Analyse des Gedichts „Melankolie“, der die „disproportionale[] Logik“ von Tiecks Versen herausarbeitet: Markus Häfner, Poesie der Zahl in Ludwig Tiecks
132
2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
und dissonante Metrik gibt damit Anlass zu einer Revision seines Lyrikkonzepts, insbesondere der Bedeutung des Versmaßes für die sogenannte ‚Stimmungslyrik‘.
2.2.4 Versmaß und ‚Stimmung‘ Dass die metrische und rhythmische Gestaltung von Tiecks Texten alles andere als willkürlich ist, haben die Analysen seiner Gedichte gezeigt. Bedacht in der Wahl und im Einsatz von Metren fordert Tieck ausdrücklich auch in seiner Rezension der Musenalmanache aus dem Jahr 1798. Dort beklagt er, dass zeitgenössische Dichter die Versmaße ohne ein tieferes Verständnis ihrer Eigenschaften gebrauchten. Er fordert daher, dass aus den versifizierten Texten Goethes und einiger spanischer und italienischer Dichter „eine eigne Theorie“ entwickelt werden sollte, die nichts weniger leisten würde, als den „Begriff des ächten lyrischen Gedichtes“ zu bestimmen. Es wäre zu wünschen, daß uns ein Kritiker von feinem Ohr und reizbarem Sinn irgend einmal aus Göthens Silbenmaaßen, aus manchen spanischen und italienischen Dichtern eine eigne Theorie entwickelte, die sich gewiß aus ihnen entwerfen läßt. Oft ist anscheinende Willkührlichkeit nichts als ein strenger Gehorsam gegen ein innres Gesetz, das bis dahin noch nicht ausgesprochen ist, oder sich auch vielleicht nicht aussprechen läßt: dann würde unsre Poesie vielleicht um so eher anfangen, etwas anders als eine geschmückte Prosa zu seyn; dann würden wir vielleicht um vieles eher zum Begriff des ächten lyrischen Gedichtes kommen.⁴⁰
Eine „eigne Theorie“ der Versmaße hat Tieck zwar nicht vorgelegt und überhaupt ist er für seine mangelhafte Handhabung antiker Versmaße kritisiert worden. August Wilhelm Schlegel rät Tieck in Bezug auf den Sternbald-Roman, auf die Verwendung antiker Verse am besten zu verzichten: „Manchmal sind Sie mir doch in der Regellosigkeit des Sylbenmasses zu weit gegangen. – Die Hexameter und Pentameter sind im Sternbald fremde Gäste, und müßten heraus wenn sie auch
Melankolie. In: literatur für leser 32/2 (2009), S. 85 – 97, hier: S. 95: „Andererseits ist das metrische Schema auch nicht freirhythmisch, wie in vielen anderen Gedichten Tiecks, sondern es folgt streng seiner eigenen, eben: disproportionalen Logik. In der häufigen Wiederkehr derselben disharmonischen Proportionen hat es durchaus eine innere Geschlossenheit, die ihre Entsprechung in der Unausweichlichkeit der vom Gram ausgesprochenen Prophezeiung sich stetig erneuernder, irdischer Leiderfahrung findet.“ Ludwig Tieck, Die diesjährigen Musenalmanache und Taschenkalender. In: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 1798, Bd. 1, S. 301– 336, hier: S. 312 f.
2.2.4 Versmaß und ‚Stimmung‘
133
besser wären.“⁴¹ Dennoch hat die Untersuchung von Metrum und Rhythmus in Tiecks Verstexten gezeigt, dass sich hinter der „anscheinende[n] Willkührlichkeit“ seiner Verse, wenn nicht ein „innres Gesetz“, so doch ein eigenes Konzept des Versmaßes als einer dialogischen und dissonanten Form verbirgt. Dabei kann von einer vereindeutigenden Scheidung der Lyrik von einer „geschmückte[n] Prosa“, auf die Tiecks Bemerkungen in der Rezension der Musenalmanache zu zielen scheinen, nicht die Rede sein – vielmehr lässt eine eingehende Lektüre von Tiecks Texten vermuten, dass sein „Begriff des ächten lyrischen Gedichtes“ wesentlich prosaisch grundiert ist. Der Vorwurf der „anscheinende[n] Willkührlichkeit“ – einer gewissen „Formund Substanzlosigkeit“ – hat in der Auseinandersetzung mit Tiecks Lyrik Tradition. Stefan Scherer fasst ihn zusammen: „Vorbehalte bestehen gegen die Formund Substanzlosigkeit dieser Lyrik und gegen ihre desorientierende Flüchtigkeit, geschuldet einer augenblicksbezogenen Spontaneität, die sich in einer teils ametrischen oder gar regelwidrigen Behandlung der Verse spiegelt.“⁴² Diesen Einwand hatten bereits Tiecks Zeitgenossen vorgebracht. So bemerkt Goethe Schiller gegenüber zu Tiecks Roman Franz Sternbalds Wanderungen: „[E]s ist unglaubl. wie leer das artige Gefäß ist.“⁴³ Und Christian Gottfried Körner beanstandet an Tiecks Gedichten in dem von Tieck zusammen mit August Wilhelm Schlegel herausgegebenen Musenalmanach von 1802 deren ‚Gestaltlosigkeit‘. Er schreibt an Schiller: Ich ehre gewiß jedes ächte Gefühl, und kann mit jedem sympathisiren, der sich über ein Grashälmchen freut, oder den irgend eine religiose Vorstellung begeistert. Aber das Universum kann man nicht lieben, und nicht darstellen. Darauf geht es doch aber eigentlich bey dieser Secte hinaus, und dieß ists, worauf diese Herren so vornehm thun. Das Herz fodert ein Bild von der Phantasie, wenn es sich erwärmen soll, aber diese Poesie giebt keine Bilder, sondern schwebt in einer gestaltlosen Unendlichkeit.⁴⁴
Die Äußerungen deuten an, dass unter dem Vorwurf der „anscheinende[n] Willkührlichkeit“ teilweise sehr unterschiedliche Formkonzepte zusammengefasst werden. Zum einen ist da die Vorstellung der Auflösung von Form in eine
Schlegel an Tieck, 7. Dezember 1798. In: Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel. Briefe, auf der Grundlage der von Henry Lüdeke besorgten Edition neu herausgegeben und kommentiert von Edgar Lohner, München 1972, S. 36.Vgl. dazu auch Naumann, „Musikalisches Ideen-Instrument“, S. 90. Scherer, Lyrik, S. 476. Goethe an Schiller, 5. September 1798. In: FA 31, S. 591. Körner an Schiller, 19. Dezember 1801. In: NA 39, S. 146.
134
2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
„gestaltlose[] Unendlichkeit“⁴⁵, zum anderen deren Entleerung und Verfestigung zum „artige[n] Gefäß“.⁴⁶ Die formalistische Auffassung der Leere des „artige[n] Gefäß[es]“ als Ausweis von Formhaftigkeit wird bemüht, wenn es darum geht, Tiecks Dichtung an die romantische Musikästhetik rückzubinden. Demnach würde ihre Referenzlosigkeit die Gedichte in eine Reinheit der Form überführen, die dem ästhetischen Ideal der absoluten Musik entspräche.⁴⁷ Tiecks Beitrag zur Engführung einer Poetik der absoluten Form mit der Ästhetik der absoluten Musik hat bereits Carl Dahlhaus herausgearbeitet. Dahlhaus hat dargelegt, wie „in derselben Epoche sowohl in der Dichtung als auch in der Musik die Tendenz zum Rückzug auf reine Formen mit einem metaphysischen Anspruch verquickt wurde“⁴⁸. Dass diese Verquickung wesentliches Verdienst der gemeinsamen Schriften Wackenroders und Tiecks (Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Beispielhaft für diese Interpretation ist in der jüngeren Forschung Jörg Bongs Charakterisierung von Tiecks Dichtung als einer „Poesie des Schwindels“. Bong begreift die scheinbar willkürliche Formgebung Tiecks als mimetische Umsetzung einer ‚ungeheuren Leere‘. Vgl. Jörg Bong, Texttaumel. Poetologische Inversionen von „Spätaufklärung“ und „Frühromantik“ bei Ludwig Tieck, Heidelberg 2000, S. 197: „Gestaltet sich die Poesie des Schwindels in der Umsetzung der formalen, modalen und dynamischen Spezifika der freigemachten Phantasie, gestaltet sie sich, im Kern Anti-Mimetik, eben in der Mimesis dieser ‚natürlichen‘ seltsamen Bewegungen, die eben nicht von einem bewußten, souveränen Subjekt ausgehen bzw. ausgeführt werden, sondern diesem ebenso ‚willkürlich‘ wie schrecklich und ‚schädlich‘ sind. Sie bleibt Mimesis als Mimesis der Modi der entbundenen Phantasie und letztlich des Seelenzustandes des Schwindels: von erst zu Entbindendem freilich, Substanzlosem, Negativem.“ Manfred Frank hat außerdem das Etikett der Substanzlosigkeit – verstanden als Auflösung der Form – aufgegriffen, um die spezifische Zeitlichkeit von Tiecks lyrischen Formen herauszuarbeiten. Vgl. Frank, Das Problem „Zeit“ in der deutschen Romantik, S. 400: „Tiecks Auflösung der Form ging weiter als alles, was seine unmittelbaren Nachahmer an Formexperimenten wagten. Weder Brentano noch Eichendorff haben die Sprache so aufgelockert, so extrem verflüchtigt wie Tieck; nirgendwo ist so sehr wie beim ihm die Zeiterfahrung Stil geworden.“ Vgl. dazu Interpretationen von Alexander von Bormann und Paul Gerhard Klussmann: Alexander von Bormann, Der Töne Licht. Zum frühromantischen Programm der Wortmusik. In: Die Aktualität der Frühromantik, hg. von Ernst Behler und Jochen Hörisch, Paderborn/München/ Wien/Zürich 1987, S. 191– 207, hier: S. 201: „Tieck nimmt, konsequenter noch als Novalis, möglichst alle Benennungsfunktionen aus seiner Gedichtsprache heraus; das Vorbild Musik wird wortwörtlich zum Ansatz seiner Gedichte. Die Texte ‚sagen‘ nichts mehr, sie singen (so Eichendorff über Tieck) jener Grundmelodie zu, die, unhörbar, die Einheit der sichtbaren Welt verbürgen soll.“ Ähnlich auch Paul Gerhard Klussmanns Lektüre von Tiecks Gedicht „Glosse“: Vgl. Paul Gerhard Klussmann, Bewegliche Imagination oder Die Kunst der Töne. Zu Ludwig Tiecks „Glosse“. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 3: Klassik und Romantik, hg. von Wulf Segebrecht, S. 342– 357, hier: S. 354: „Visuelle Vorstellungsbilder wären störend. Sie sind konsequent vermieden oder werden durch die Textumgebung aus möglicher Anschaulichkeit in Musikalität überführt.“ Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, S. 152.
2.2.4 Versmaß und ‚Stimmung‘
135
1797; Phantasien über die Kunst, 1799) gewesen sei, ist ein Ergebnis von Dahlhaus’ Darstellung. Dabei wird der Ausschluss äußerlicher Referenzialität aus dem Kunstwerk – seine ‚Substanzlosigkeit‘ – gewendet zur Substanzialität der Form bzw. zur formal konstituierten Selbstreferenzialität: In der deutschen Frühromantik ist der Traum der absoluten Dichtung gleichzeitig mit dem der absoluten Musik geträumt worden. Die Abwehr des Nachahmungsprinzips – der Forderung, daß Musik entweder als Tonmalerei ein Stück äußere oder als Affektdarstellung ein Stück innere Natur schildern müsse, um nicht leeres, nichtssagendes Getön zu bleiben – ging parallel mit der poetologischen Einsicht, daß in lyrischer Dichtung als der „eigentlichen“ Poesie die Sprache Substanz und nicht bloßes Vehikel von Gedanken oder Gefühlen sei[.]⁴⁹
Tiecks Lyrik ist wegen ihrer Aufwertung der Sprachform zur eigentlichen ‚Substanz‘ des Gedichts und ihrer gleichzeitigen Abwertung des Gedankeninhalts, d. h. ihrer ‚Substanzlosigkeit‘, als Verwirklichung des „frühromantischen Programm[s] der Wortmusik“⁵⁰ gelesen worden. Daher wird sie auch als ‚Stimmungslyrik‘ bezeichnet – eine Charakterisierung, die die Auflösung der außertextuellen Referenz in einen atmosphärischen Zustand mit der ‚Musikalisierung‘ der Form im lyrischen Gedicht verknüpft.⁵¹ Im Konzept der Stimmungslyrik verschränken sich zwei Bedeutungen des Wortes ‚Stimmung‘: 1. ein Erfahrungsmodus, der die Trennung zwischen erfahrendem Subjekt und erfahrener Welt aufhebt, und der dem lyrischen Gedicht zugrunde liege. 2. ein musikalisches Prinzip, das die formale Beschaffenheit eines Gedichts, in Analogie zur Temperatur in der Musik, als einen umfassenden Komplex begreift, dessen einzelne Bestandteile harmonisch aufeinander ‚abgestimmt‘, d. h. ‚temperiert‘, seien.⁵² Gerhard Kluge hat in seiner Untersuchung von Tiecks Auseinandersetzung mit dem Lyrikverständnis Schillers gezeigt, dass es sich bei Tiecks Stimmungsbegriff um eine Neukonzeption der von Schiller geforderten ‚Idealisierung‘ im lyrischen Gedicht
Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, S. 142. Vgl. Bormann, Der Töne Licht. Zum frühromantischen Programm der Wortmusik, S. 191. Vgl. dazu auch Emil Staigers kritische Bemerkungen zu Tieck. Staiger legt nahe, dass Tieck den Mangel seiner Dichtung an Gedanken oder Plot mit ‚Stimmung‘ ersetze: Emil Staiger, Tieck und der Ursprung der deutschen Romantik (1960). In: Ludwig Tieck, hg. von Wulf Segebrecht, S. 322– 351, hier: S. 338: „Die Stimmungskunst ersetzt geradezu die Einheit des Gedankens oder der Fabel, die Tieck in der überlieferten Literatur vorfand.“ Vgl. außerdem Stefan Scherers Überblick über die Interpretation von Tiecks Lyrik als ‚Stimmungslyrik‘: Scherer, Lyrik, S. 476 – 495. Vgl. zur Begriffsgeschichte von ‚Stimmung‘, insbesondere zum semantischen Wandel von musikalischer Temperatur zu hermeneutischer Methode: David E. Wellbery, [Art.] Stimmung. In: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 5, S. 703 – 733.
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2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
handle. Ausgehend von Friedrich von Matthissons Gedichten, die er als „Landschaft-Dichtung“ bezeichnet hatte, argumentierte Schiller, dass die konkrete Naturerfahrung des Dichters ‚idealisiert‘ werden müsse, d. h. durch eine „symbolische Operation“ in ein Allgemein-Menschliches abstrahiert werden solle.⁵³ Der Stimmungsbegriff erlaubte es Tieck, so Gerhard Kluge, Schillers ‚Idealisierung‘ als ein romantisches Verfahren des ‚Poetisierens‘ zu begreifen: Idealisieren heißt bei Tieck hier im Sprachgebrauch der Romantik: romantisieren, poetisieren, will sagen: die Erscheinungen der Natur aus einer Hauptempfindung betrachten, welche die verborgenen Tiefen der Natur erschließt und die Trennung des Menschen von seinem Daseinsgrund beseitigt. Im Idealisieren, sprich: Poetisieren, entdeckt der Mensch den Stimmungsgehalt des Daseins, wie umgekehrt der stimmungsgetragene Einklang mit der Natur erst den Zugang zur Poesie des Lebens eröffnet.⁵⁴
Einen derartigen Stimmungsbegriff skizziert Tieck etwa in seiner Rezension der Musenalmanache aus dem Jahr 1796, wo er beschreibt, dass die Stimmung es dem „poetischen Menschen“ ermögliche, eine immersive Naturerfahrung in das Gedicht zu übersetzen: Können wir denn die Natur wirklich so schildern, wie sie ist? Jedes Auge muß sie in einem gewissen Zusammenhang mit dem Herzen sehn, oder es sieht nichts, wenigstens nichts was uns, in Versen wieder aufgezählt, gefallen könnte.Wird nicht jeder poetische Mensch in eine Stimmung versetzt, in der ihm Bäume und Blumen wie belebte und befreundete Wesen erscheinen, und ist dieses nicht das Interesse, das wir an der Natur nehmen?⁵⁵
Der Stimmung als einem Empfindungszusammenhang, bei dem die Natur „in einem gewissen Zusammenhang mit dem Herzen“ wahrgenommen wird, entspricht dabei das Formideal der musikalischen Stimmung – einer Gedichtform der schwebenden Korrespondenzen –, das Gerhard Kluge in seiner Darstellung zu Tieck ebenfalls umreißt: „So geht es im Gedicht nicht primär um das Aussprechen einer bestimmten Stimmung, sondern um die Auflösung der Fülle unserer ‚Gedankungen, Fühlungen, Wünsche, Thränen und Lachen‘ in eine musikalisierte Sprache, die das Gefühl ‚mehr anklingen, als aussprechen‘ läßt.“⁵⁶ Dieses „Ideal einer rein musikalischen Zusammensetzung“ formuliert Tieck selbst in seinem Vorwort zur Minnelieder-Anthologie von 1803. Zwar verwendet er das Wort ‚Stimmung‘ dort nicht explizit, fasst aber die wesentlichen Züge der romantischen Vgl. Schiller, Ueber Matthissons Gedichte. In: NA 22, S. 271. Kluge, Idealisieren – Poetisieren, S. 412 f. Ludwig Tieck, Die neuesten Musenalmanache. In: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 1796, Bd. 1, S. 215 – 241, hier: S. 221. Kluge, Idealisieren – Poetisieren, S. 429.
2.2.4 Versmaß und ‚Stimmung‘
137
Stimmungslyrik zusammen, als deren grundlegendes Formelement der Reim fungiere. Es ist nichts weniger, als Trieb zur Künstlichkeit oder zu Schwierigkeiten, welche den Reim zuerst in die Poesie eingeführt hat, sondern die Liebe zum Ton und Klang, das Gefühl, daß die ähnlich lautenden Worte in deutlicher oder geheimnißvoller Verwandtschaft stehen müssen, das Bestreben, die Poesie in Musik, in etwas Bestimmt-Unbestimmtes zu verwandeln. Dem reimenden Dichter verschwindet das Maß der Längen und Kürzen gänzlich, er fügt nach seinem Bestreben, welches den Wohllaut im gleichförmigen Zusammenhang der Wörter sucht, die einzelnen Laute zusammen, unbekümmert um die Prosodie der Alten, er vermischt Längen und Kürzen um so lieber willkürlich, damit er sich um so mehr dem Ideal einer rein musikalischen Zusammensetzung annähere.⁵⁷
Der Reim, der eine „deutliche[] oder geheimnisvolle[] Verwandtschaft“ zwischen den Worten herstelle, verwandle die Wortdichtung in Musik, die „den Wohllaut im gleichförmigen Zusammenhang der Wörter sucht“. Mit dieser Annäherung an das „Ideal einer rein musikalischen Zusammensetzung“ durch den Reim werde die tradierte Metrik hinfällig. Der „reimende[]“ – d. h. der romantische – Dichter könne das „Maß der Längen und Kürzen“ außer Acht lassen, womit sich Tiecks Beschreibung an die geschichtsphilosophische Einordnung von Metrum und Reim bei August Wilhelm Schlegel und Hegel anschließen lässt. Der Überblick über Tiecks Gebrauch der Versmaße hat zwar gezeigt, dass er tatsächlich weitgehend „unbekümmert um die Prosodie der Alten“ war. Dennoch ist deutlich geworden, dass die Gestaltung des Versmaßes in Tiecks Texten – bei „anscheinende[r] Willkührlichkeit“ – mitnichten beliebig war, sondern auf einem bestimmten Metrikkonzept beruhte. Mit der Idee einer Stimmungslyrik, wonach sich die Gedichtform, mit dem Reim als zugrundeliegendem Formelement, durch „geheimnisvolle[] Verwandtschaft“ konstituiere, ist Tiecks ausdrückliches Interesse an metrischen Fragen schwer zu vereinbaren. Tiecks Metrik steht damit quer zu einem Verständnis von Stimmungslyrik, das Stimmung als Dispersion von Referenzialität und als harmonisierende Wortmusik begreift. Mit Tiecks Gebrauch von Metrum und Rhythmus rückt stattdessen ein dialogisches Lyrikkonzept in den Blick, dessen Formen der Artikulation dissonanter Vielstimmigkeit dienen. Insofern lässt sich freilich auch Tiecks Stimmungsbegriff neu fassen, wie es Steffen Martus in seiner Studie zur Werkpolitik bei Klopstock, Tieck, Goethe und George vorgeschlagen hat. Martus hat gezeigt, dass es sich bei Tiecks ‚Stimmung‘ um ein äußerst vielfältiges Konzept handelt, das neben dem Bereich der Lyrik auch Anwendung auf die Philologie, Anthropologie, Psychologie und Politik
Tieck, Die altdeutschen Minnelieder, S. 51.
138
2.2 Dissonante Metrik. Versformen bei Ludwig Tieck
findet.⁵⁸ Die Vielfalt der Geltungsbereiche, so Martus, mache die ‚Stimmung‘ zu einem Prinzip der Heterogenität, nicht der Homogenität.⁵⁹ ‚Stimmung‘ als umfassender Form- und Erfahrungszusammenhang auf der einen und als dissonante Polyphonie auf der anderen Seite könne derart in ein Verständnis des Begriffs integriert werden, das sich nicht auf die Idee einer harmonischen Formeinheit reduzieren lässt. Aus Tiecks Gestaltung der Versmaße geht hervor, dass der „Rückzug auf reine Formen“⁶⁰, die Affirmation von Poetizität durch hermetische Abdichtung der Lyrik von der Prosa, für Tieck nicht die einzig mögliche Antwort auf den „Konkurrenzdruck“⁶¹ der Prosa darstellte. Zwischen dem Prosavers und dem Reim als Formideal der ‚Stimmungslyrik‘ tritt mit den dissonanten Metren und Rhythmen eine andere Konzeption der Versform hervor, die sich in ihrer ‚Unreinheit‘ nicht durch Isolation konstituiert, sondern im Gegenteil auf einen dialogischen Austausch hin öffnet.
Vgl. Steffen Martus,Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin/New York 2007, S. 376: „Dieser Ästhetik der Stimmung korrespondiert eine Mediologie der Stimmung, die auf eine diffuse Kommunikationssituation reagiert, eine Anthropologie der Stimmung, die den neuronal rekonzipierten Leib stimmbar macht, eine Psychologie der Stimmung, die spezifische Formen der Identitätsbildung umsetzt, sowie eine Politik der Stimmung, die hierarchische Modelle der Außensteuerung in ein vielstimmiges Miteinander selbstgesteuerter Einheiten transformiert.“ Vgl. Martus, Werkpolitik, S. 443: „Dieses Widerspiel von Diffusität und Konzentration, von Dezentrierung und Zentrierung der Aufmerksamkeit spiegelt paradigmatisch die Strukturen unterschiedlicher Stimmungsbereiche wider, in denen Öffnungen und Schließungen intrinsisch zusammengehören, sei es in der Anthropologie der Stimmung, in der Psychologie der Stimmung, in der Politik der Stimmung oder in der Historiographie geschichtlicher Stimmungslagen.“ Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, S. 152. Scherer, Anti-Romantik (Tieck, Storm, Liliencron), S. 213.
3 Moderne Metrik
3 Moderne Metrik Im Briefwechsel mit Goethe bespricht Schiller im Jahr 1797 die Versifizierung der Prosafassung seines Wallenstein-Dramas. Dabei weist Schiller auf das Vermögen des Rhythmus zur Poetisierung des Prosaischen hin; mit der Einführung des Rhythmus schieden sich die echt poetischen von den prosaischen Elementen: „Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetische=rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz andern Gerichtsbarkeit als vorher, selbst viele Motive, die in der prosaischen Ausführung recht gut am Platz zu stehen schienen, kann ich jetzt nicht mehr brauchen“¹. Der Rhythmus konsolidiere durch die Differenzierung von Poesie und Prosa die Autonomie der Sphäre des Poetischen, fährt Schiller fort. Der Rhythmus – „da er alles unter seinem Gesetze begreift“ – etabliere eine eigene „Gerichtsbarkeit“: Der Rhythmus leistet bei einer dramatischen Production noch dieses große und bedeutende, daß er, indem er alle Charactere und alle Situationen nach Einem Gesetz behandelt und sie, trotz ihres innern Unterschiedes, in Einer Form ausführt, er dadurch den Dichter und seine Leser nöthiget, von allem noch so characteristisch=verschiedenem etwas Allgemeines, rein menschliches zu verlangen. Alles soll sich in dem Geschlechtsbegriff des Poetischen vereinigen, und diesem Gesetz dient der Rhythmus sowohl zum Repräsentanten als zum Werkzeug, da er alles unter seinem Gesetze begreift. Er bildet auf diese Weise die Atmosphaere für die poetische Schöpfung, das gröbere bleibt zurück, nur das geistige kann von diesem dünnen Elemente getragen werden.²
Schillers Verknüpfung von poetischem Rhythmus und Autonomieästhetik – wie sie unter den Zeitgenossen insbesondere von Karl Philipp Moritz, etwa in dessen Versuch einer deutschen Prosodie, vertreten wurde³ – findet Goethes Zustimmung, dem Moritz’ Abhandlung als „Leitstern“ bei seiner Versifizierung des IphigenieDramas gedient hatte.⁴ Die Rhythmisierung der Prosafassung, so Goethe in seiner
Schiller an Goethe, 24. November 1797. In: NA 29, S. 159. Schiller an Goethe, 24. November 1797. In: NA 29, S. 160. In seinem Versuch einer deutschen Prosodie vergleicht Karl Philipp Moritz die ungebundene, prosaische Rede mit dem Gang und die gebundene, poetische Rede mit dem Tanz, d. h. mit einer Bewegung, die um ihrer selbst willen geschehe und keinen äußeren Zweck verfolge. Vgl. Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie, S. 29 – 34. Vgl. zur Verbindung von Moritz’ Rhythmustheorie mit der Autonomieästhetik auch Schneider, Ins Ohr geschrieben, S. 139 – 146, sowie CouturierHeinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 209 – 224. Vgl. Goethe, Italienische Reise. In: FA 15, S. 168: „Iphigenia in Jamben zu übersetzen hätte ich nie gewagt, wäre mir in Moritzens Prosodie nicht ein Leitstern erschienen.“ https://doi.org/10.1515/9783110693119-009
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Antwort auf Schillers Brief, führe die notwendige Trennung von Poesie und Prosa herbei, deren Vermischung ein Zeichen des Dilettantismus sei. Alles poetische sollte rhythmisch behandelt werden! Das ist meine Ueberzeugung, und daß man nach und nach eine poetische Prosa einführen konnte zeigt nur daß man den Unterschied zwischen Prosa und Poesie gänzlich aus den Augen verlohr. Es ist nicht besser als wenn sich jemand in seinem Park einen trocknen See bestellte und der Gartenkünstler diese Aufgabe dadurch aufzulösen suchte daß er einen Sumpf anlegte. Diese Mittelgeschlechter sind nur für Liebhaber und Pfuscher, so wie die Sümpfe für Amphibien.⁵
Doch scheint – wie Schillers Bemerkungen in den folgenden Briefen andeuten – der Sumpf der poetischen Prosa nicht so leicht trockenzulegen wie zunächst gehofft. Tatsächlich leide die durch den Rhythmus konstituierte Sphäre des Poetischen an einer gewissen Unförmigkeit, und das gerade aufgrund der Versifizierung. So klagt Schiller am 1. Dezember 1797, dass der nun rhythmisierte Wallenstein an Form zu verlieren drohe: „Es ist mir fast zu arg wie der Wallenstein mir anschwillt, besonders jetzt, da die Jamben, obgleich sie den Ausdruck verkürzen, eine poetische Gemüthlichkeit unterhalten, die einen ins Breite treibt.“⁶ Zwar versichert ihn Goethe, dass die Neigung der rhythmischen Sprache ins Breite „ganz natürlich“⁷ sei, doch lässt Schillers Bemerkung vermuten, dass die klassizistische Revision der (romantischen) Vermischung von Poesie und Prosa nicht ohne weiteres umzusetzen ist. Schwierigkeiten bereitet dabei ausgerechnet der Rhythmus, der – bei den Frühromantikern Garant der Vermittlung von Poesie und Prosa – hier zur Differenzierung der poetischen von der prosaischen Sprache eingesetzt werden soll. Gerade in den Jamben sieht Schiller die Ursache für das unbeabsichtigte ‚Anschwillen‘ des Wallenstein. Dass Schiller in seinen klassischen Dramentexten mit dem Postulat der „Reinheit des Silbenmaaßes“⁸ vielfach bricht, ist bereits konstatiert worden – so hat Friederike Felicitas Günther jüngst gezeigt, dass Schillers klassische Dramen von einem anthropologischen Rhythmusverständnis ebenso geprägt sind wie von einem klassizistischen Regelmaß,
Goethe an Schiller, 25. November 1797. In: NA 37.1, S. 149. Schiller an Goethe, 1. Dezember 1797. In: NA 29, S. 162. Goethe an Schiller, 2. Dezember 1797. In: NA 37.1, S. 184: „Daß der Rhitmus in die Breite lockt ist ganz natürlich, denn jede poetische Stimmung mag sichs und andern gern bequem und behaglich machen[.]“ Schiller an Goethe, 9. August 1799. In: NA 30, S. 78: „Es hat mit der Reinheit des Silbenmaaßes die eigene Bewandtniß, daß sie zu einer sinnlichen Darstellung der innern Nothwendigkeit des Gedankens dient, da im Gegentheil eine Licenz gegen das Silbenmaaß eine gewiße Willkührlichkeit fühlbar macht. Aus diesem Gesichtspunkt ist sie ein großes Moment und berührt sich mit den innersten Kunstgesetzen.“
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das sich, etwa im Don Carlos, auch von Rudimenten der früheren Prosafassung nicht ganz befreie.⁹ Die Herausforderung der nachträglichen Versifizierung eines in Prosa verfassten Dramentextes war Goethe von seiner Überarbeitung der Iphigenie hinlänglich bekannt. Während seiner Italienreise im Jahr 1786 schrieb Goethe die Prosafassung von 1779 in Blankverse um. Das Verhältnis der Prosa- zur Versfassung der Iphigenie ist sehr unterschiedlich beurteilt worden. Eberhard Haufe hat argumentiert, dass Goethes Versifizierung die in der Prosafassung angelegten Spannungen und Konflikte entschärfe.¹⁰ Bernhard Greiner hat umgekehrt darauf hingewiesen, dass der traumatische Grundkonflikt des Stücks in der Versfassung „noch markanter“ ausgeprägt sei.¹¹ Während Eberhard Haufe zu dem Schluss kommt, dass die Prosafassung einem modernen Publikum zugänglicher sei als der klassizistisch-harmonisierende Vers, wäre im Anschluss an Bernhard Greiner zu fragen, ob nicht auch die metrische Fassung dieses – nach Schillers Einschätzung – „so modern[en] und ungriechisch[en]“¹² Stücks als eine genuin
Vgl. zur Integration der Prosarede in die Versifizierung des Don Carlos Friederike Felicitas Günther, Rhythmus als widersprüchliche Zeitgestalt in Schillers Dramen. In: Schillers Zeitbegriffe, hg. von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder, Hannover 2018, S. 145 – 169, hier: S. 150 f.: „Schiller wählt für den Don Carlos den Jambus, und bereits die kurzen brieflichen Äußerungen Schillers zum Rhythmus in diesem Versdrama deuten an, dass diese Wendung von der Prosarede zum Versrhythmus zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht als Vorschein der Klassik zu verstehen ist, also nicht etwa eine Aufwertung der gesetzgebenden Metrik gegenüber der früheren Prosasprache im Sinne hat oder als ‚Regulativ‘ wirken soll.Vielmehr ist der Wechsel zum Jambus im Kontext der anthropologischen Aufladung ästhetischer Strukturen und damit auch ihrer Verzeitlichung zu verstehen.“ Vgl. Eberhard Haufe, [Goethes Prosa-„Iphigenie“]. In: Haufe, Schriften zur deutschen Literatur, Göttingen 2011, S. 224– 231, S. 229: „Was in der Prosa von der Strenge und Sachlichkeit des Mythos manchmal noch nachhallte, ging im Wohllaut der Verse unter. […] Insgesamt gilt: Der Iphigenievers verschleierte die Strenge, Kühnheit und Tragik von Goethes Iphigeniefabel.“ Sowie ebd.: „Diese durchgehende Tendenz zur Entschärfung, Verinnerlichung und Verallgemeinerung, die die Versfassung jedem ideologisierenden Zugriff wie jedem betont ästhetischen Genuß soviel leichter verfügbar macht, wirkt sich auch in inhaltlichen Zügen aus, auf die wenigstens hingewiesen werden muß, um den eigenen Stellenwert der Prosafassung noch genauer zu bestimmen.“ Vgl. Bernhard Greiner, Purim in Plundersweilen. Der karnevalistische Goethe (‚Jahrmarktsfest zu Plundersweilen‘, ‚Der Triumph der Empfindsamkeit‘, ‚Iphigenie auf Tauris‘, Prosafassung). In: Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft, hg. von Waltraud Wiethölter, Tübingen 2011, S. 39 – 64, hier: S. 61: „Die Versfassung des Stücks prägt diese Wiederholung des Traumas durch viele wörtliche Entsprechungen zwischen erinnertem Muttermord und vorgestelltem Hingerichtet-Werden durch die Schwester noch markanter aus, aber schon in der Prosafassung ist diese kathartische Wiederholung des Traumas vollständig gegeben.“ Schiller an Körner, 21. Januar 1802. In: NA 31, S. 90.
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moderne Form verstanden werden könnte.¹³ Für eine formale Kontinuität zwischen Prosa- und Versfassung spricht dabei der jambische Grundrhythmus, der bereits weite Teile der Prosafassung prägt.¹⁴ Gemeinsam ist Schillers und Goethes Versifizierungsprojekten die Konzeption einer Versform auf Grundlage der Prosa, d. h. einer Metrik, für die das Prosaische zur konstitutiven Bedingung wird – anders gesagt: einer Metrik unter den spezifischen Voraussetzungen der Moderne. Theodor W. Adorno hat in seiner Lektüre von Goethes Iphigenie die Modernität des Stücks betont, die er an der inhärenten Brüchigkeit der Form des Dramas festmacht.¹⁵ Goethes Drama lote die Möglichkeiten und Grenzen eines klassizistischen Humanismus aus, dessen Fragilität sich auch in der Anfälligkeit des Blankverses für Störungen manifestiere. Im berühmten Wahnsinnsmonolog des Orest sieht Adorno so den Umschlag des jambischen Versmaßes in den freien Vers, den er als Zeichen einer Behauptung des Mythos gegenüber der Vernunft begreift. Geht aus Adornos Bemerkungen der Blankvers der Iphigenie als eine in sich brüchige Form hervor, durch die die Modernität von Goethes Klassizismus Gestalt gewinnt, beleuchtet seine Lektüre ebenso das produktive Vermögen dieses spezifisch modernen Metrums. Wenngleich von der versifizierten Fassung der Iphigenie vor allem die flagranten Versbrüche an entscheidenden Wendepunkten der Handlung in Erinnerung bleiben (etwa in Orests Erzählung des Matrizids, V. 1053, in der Enthüllung von Orests Identität, V. 1081, und im letzten Vers des Thoas, „Lebt wohl!“, mit dem das Stück abbricht, V. 2174), ist der Blankvers ebenso geprägt von einer bemerkenswerten Elastizität, die sich in den Dialogen in Iphigenies Vermögen äußert, den metrischen Takt trotz aller Konflikte aufrechtzuerhalten. Der Blankvers – als eine moderne Versform, die sich im deutschen Drama des achtzehnten Jahrhunderts etablierte – mit seinem regelmäßigen und doch flexiblen Metrum ist für eine moderne Konzeption des Metrums auf prosaischer Grundlage besonders geeignet.Wie verhält es sich aber mit den tradierten Metren? Bestehen überlieferte Versformen in der modernen Literatur lediglich als „Trümmer“¹⁶ fort, wie Adorno es in den Minima Moralia von den freien Rhythmen Hölderlins behauptet, als „unrettbare“ Fremdkörper im Zeitalter der Prosa? Zwei mögliche Antworten auf diese Fragen sollen in den abschließenden Kapiteln
Vgl. dazu Haufe, [Goethes Prosa-„Iphigenie“], S. 231. Vgl. dazu Frank M. Fowler, Goethe on the road to blank verse drama. The Evidence of the Iphigenie of 1779. In: London German Studies IV (1992), S. 70 – 88, insbesondere S. 87. Vgl. Adorno, Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie. In: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 502: „[I]n seiner Brüchigkeit bewährt sich der Goethesche Klassizismus als richtiges Bewußtsein, als Chiffre des Unschlichtbaren, das zu schlichten seine Idee ist.“ Vgl. Adorno, Minima Moralia. In: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 251.
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verfolgt werden. Goethes Faust II bietet einen Entwurf der Integration überlieferter Metren in ein rhythmisches Formprinzip, das sich nicht als ‚brüchig‘, sondern vielmehr als ‚beweglich‘ beschreiben lässt. Die tradierten metrischen Formen werden dabei zur Grundlage einer „bewegliche[n] Ordnung“. Bei der Untersuchung der Verwendung des Taktbegriffs im Metrik-Diskurs des frühen neunzehnten Jahrhunderts und seiner Rezeption bei Friedrich Nietzsche schließlich geht es weniger um die Adaption überlieferter Metren als um die Konzeption des Takts im Sinne eines funktionalen Äquivalents des Metrums in der Moderne, das jenseits der Dichotomie von lebendigem Rhythmus und mechanischem Takt Bestand hat. Die metrische Komposition von Goethes Faust II sowie Nietzsches philologische Studien aus den Jahren 1870 – 71 sollen im Folgenden als Ausgangspunkte für die Untersuchung einer modernen Metrik dienen, die die Prosa – als Bedingung moderner Literatur – nicht in Opposition zur metrischen Bindung begreift, sondern als konstitutive Voraussetzung in die metrische Form integriert.
3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II Als Beginn einer Untersuchung der metrischen Formen des Faust bietet sich das Paralipomenon 1 an – die Notiz, in der Goethe das leitende Formkonzept seines Faust-Dramas umrissen hat. „Gehalt bringt die Form mit / Form ist nie ohne Gehalt“¹, heißt es dort. Form entspringe dem Gehalt, sei aber umgekehrt immer schon Träger eines ihr eigenen Gehalts. Nun handelt es sich bei „Form“ und „Gehalt“ um besonders voraussetzungsreiche Begriffe der Goethe-Literatur.² Daher soll das Paralipomenon 1 hier rein heuristisch als Ausgangspunkt für einige Überlegungen zu den Versmaßen im Faust II verwendet werden. Dabei wird angenommen, dass die „Form“ sich auf die Versmaße beziehen lässt und der „Gehalt“ auf das, was in diesen Versmaßen zur Darstellung gebracht wird. In diesem Sinne sind die Metren im Faust als ein untrennbares Ineinander von Form und Gehalt gelesen worden.³ Ein solches Verständnis der Versformen lässt sich im Hinblick auf den Faust I weitgehend aufrechterhalten, gerät aber mit dem Faust II in erhebliche Schwierigkeiten. Denn während sich die Metren im Faust I mit einiger Konsistenz bestimmten Figuren und Inhalten zuordnen lassen und sich in
Goethe, Paralipomena zum Faust. In: FA 7.1, S. 576. Einschlägig für Goethes Form-Begriff: David E. Wellbery, Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800. Wellbery arbeitet den für Goethe charakteristischen „endogenen“ Form-Begriff heraus, der sich durch Dynamizität und Prozessualität auszeichnet und darin den „eidetischen“ Form-Begriff ablöst.Vgl.Wellbery, Form und Idee, S. 19: „Endogenes Formkonzept: Form als Prozess des Sich-Herausbildens im Zusammenspiel von Varianz und Invarianz; das Verhältnis von Form und Materie wird nicht als Opposition, sondern als Durchdringung konzipiert“. In ihrer Lektüre von Goethes morphologischen Heften hat Eva Geulen die Unförmigkeit der Darstellung – genauer: das „Schwanken von Form zu Unform“ – als wesentlich für Goethes Morphologie herausgestellt. Vgl. Eva Geulen, Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager, Berlin 2016, S. 46. – Einen zentralen Ausgangspunkt der Diskussion von Goethes Gehalt-Begriff stellen Walter Benjamins einflussreiche Lektüren dar. Vgl. dazu Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I.1, S. 7– 122, und Goethes Wahlverwandtschaften. In: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I.1, S. 123 – 201. Das gilt vor allem für formorientierte Faust-Studien aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, aber auch aus jüngerer Zeit. Dazu gehören etwa Margarethe Bressem, Der metrische Aufbau des Faust und seine innere Notwendigkeit, Berlin 1931; Kurt May, Faust II. Teil, in der Sprachform gedeutet, Neuaufl., München 1962; Paul Friedländer, Rhythmen und Landschaften im zweiten Teil des Faust, Weimar 1953; Michael Winkler, Zur Bedeutung der verschiedenen Versmasse von Faust I. In: Symposium. A Quarterly Journal in Modern Literatures 18 (1964), S. 5 – 21, sowie, in der jüngeren Forschung, Markus Ciupke, „Des Geklimpers vielverworrener Töne Rausch“. Die metrische Gestaltung in Goethes „Faust“, Göttingen 1994. https://doi.org/10.1515/9783110693119-010
3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
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ihrer Anordnung ein chronologischer, wenn nicht gar geschichtsphilosophischer, Aufbau ausmachen lässt⁴, ist ein entsprechender Deutungsansatz für den zweiten Teil des Faust nur schwer aufrechtzuerhalten. Goethes Dekonstruktion einer ‚eidetischen‘⁵ Versform – d. h. eines Metrums, das sich durch eine feste Referenz auszeichnet – wird in der „Bergschluchten“Szene aus dem 5. Akt von Faust II besonders anschaulich. Hier haben die Versmaße ein Höchstmaß an Beweglichkeit erreicht und gehen von einem Sprecher zum nächsten über ohne Rücksicht auf die Hierarchie des Himmels. So verwenden innerhalb der stufenweisen Himmelfahrt von Fausts Seele die jüngeren Engel, die seligen Knaben und Doctor Marianus „in der höchsten, reinlichsten Zelle“⁶ dasselbe Metrum (V. 11966 – 11996: den zweihebigen Daktylus); ebenso das Trio der Magna Peccatrix, Mulier Samaritana und Maria Egyptiaca (V. 12037– 12068: vierhebiger Trochäus). Umgekehrt ändern Sprecher innerhalb eines Monologs das Versmaß (wie der Doctor Marianus, der zwischen V. 11989 und 12031 ein daktylisches Versmaß mit der Vagantenstrophen abwechselt: Daktylen,V. 11989 – 11996; Vagantenstrophe, V. 11997– 12012; Daktylen, V. 12013 – 12019; Vagantenstrophe, V. 12020 – 12031).⁷ Diese Eigendynamik der Metren, zugespitzt in der „Bergschluchten“-Szene, vereitelt eine ‚physiognomische‘ Lesart der Versmaße im zweiten Teil des Faust. ⁸ Vor diesem Hintergrund lohnt ein zweiter Blick auf das Paralipomenon 1. Das obige Zitat steht dort in folgendem Zusammenhang: Streit zwischen Form- u Formlosen. Vorzug dem formlosen Gehalt Vor der leeren Form. Gehalt bringt die Form mit Form ist nie ohne Gehalt. Diese Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen.⁹
Vgl. Ulrich Gaier, Goethes Faust-Dichtungen. Ein Kommentar, Bd. 1: Urfaust, Stuttgart 1990, S. 202 f. Gaier liest Goethes Verwendung der Versmaße im Urfaust als Auseinandersetzung mit der von Herder dargelegten Geschichtlichkeit poetischer Formen. Vgl. Wellbery, Form und Idee, S. 19. Goethe, Faust II. In: FA 7.1, S. 460. Vgl. die metrische Analyse des Faust II von Ciupke, „Des Geklimpers vielverworrener Töne Rausch“, S. 224. So etwa bei May, Faust II. Teil, in der Sprachform gedeutet, S. 15: „Man […] fühle schließlich all jene feinen, zarten, anmutigen Klangreize auf ihre gemeinsame sprachphysiognomische Ausdruckskraft durch.“ Goethe, Paralipomena zum Faust. In: FA 7.1, S. 576 f.
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3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
In diesem Kontext erscheint das bereits angeführte Zitat in einem anderen Licht. Ausgangspunkt ist zunächst einmal der Widerstreit zwischen Form und Formlosigkeit. Bei dem „Formlosen“ scheint es sich um den Zustand des Gehalts ohne Form zu handeln, dem Vorrang gebühre vor der „leeren Form“ ohne Gehalt. Dieses so formulierte Verhältnis von ‚Inhalt‘ und ‚Gefäß‘ wird dann hinfällig, indem der bereits erwähnte Formbegriff ins Spiel gebracht wird, wonach Form und Gehalt untrennbar seien („Gehalt bringt die Form mit / Form ist nie ohne Gehalt.“). Aber auch dieser Formbegriff wird umgehend unterlaufen mit der Bemerkung, dass es nicht um ‚Vereinigung‘ gehe, sondern darum, „[d]iese Widersprüche […] disparater zu machen“. Was ist mit „[d]iese Widersprüche[n]“ gemeint? Sind es die Widersprüche zwischen den Teilen der verschieden konzipierten Dichotomien (Form vs. Formlosigkeit, ‚Gefäß‘ vs. ‚Inhalt‘, Form vs. Gehalt) oder die zwischen den unterschiedlichen Formkonzepten, die sich aus diesen Dichotomien ergeben? Die Spannungen innerhalb der Formkonzeption des Faust, die sich dem Paralipomenon 1 ablesen lassen, sollen als Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung der metrischen Formen im Faust II dienen. Das Paralipomenon legt nahe, dass sich der Text nicht auf ein konsistentes Formprinzip verpflichten lässt. In Anlehnung David Wellberys historisch angelegte Formtypologie kann im Faust II die Überführung der eidetischen Formkonzeption der Metren des Faust I sowohl in eine modernistische selbstreflexive Form („konstruktivistisches Formkonzept“) als auch in eine immanent prozessuale Form („endogenes Formkonzept“) beobachtet werden. Goethes Behandlung der Metren im Faust II ist daher gerade für die Konzeption einer modernen Metrik von entscheidender Bedeutung: Sie entwirft eine Alternative zur Aktualisierung tradierter Metren in der Moderne als in sich gebrochene Formen, indem die Metren hier die Grundlage für einen sekundären Rhythmus als umfassendes und zugleich flexibles Formprinzip bilden.
3.1.1 Goethe und die antike Metrik Goethes heikles Verhältnis zu den überlieferten Versmaßen der Antike zieht sich durch verschiedene Phasen seines Schaffens.¹⁰ Eine ironische Adaption traditioneller Metren findet sich nicht erst im Spätwerk, sondern bereits beim jungen Goethe. Beispielhaft dafür ist etwa ein Brief an den Frankfurter Freund Johann Jakob Riese vom 30. Oktober 1765, in dem Goethe eine in Alexandrinern ge-
Eine detaillierte Überblicksdarstellung zu Goethes Beschäftigung mit Metrik bietet Erich Trunz, Eine Mappe mit Notizen zur Metrik. In: Trunz, Weimarer Goethe-Studien, Weimar 1980, S. 110 – 155.
3.1.1 Goethe und die antike Metrik
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schriebene Parodie Gottscheds, Verfechter der deutschen Adaption des französischen Alexandriners, verfasste.¹¹ Auch die Arbeit an klassischen Versen wie dem elegischen Distichon – nach den Experimenten mit dem freien Vers und freien Rhythmen in der frühen Lyrik – ist nicht ohne innere Spannungen, verbindet sie doch, wenn auch im Anschluss an die antike Tradition, Paradewerke der Weimarer Klassik wie die Römischen Elegien und die Venezianischen Epigramme mit den satirischen Episteln und den zusammen mit Schiller verfassten Xenien aus derselben Zeit. Dabei verlief Goethes Aneignung der antiken Versmaße alles andere als glimpflich. So wurden etwa die Hexameter in Hermann und Dorothea – trotz der Beratung durch Wilhelm von Humboldt und Johann Heinrich Voss bei der Überarbeitung¹² – als fehlerhaft getadelt. Auf die Kritik an einem siebenhebigen Hexameter soll Goethe geantwortet haben: „‚Die siebenfüßige Bestie möge als Wahrzeichen stehen bleiben!‘“¹³. Diesen Trotz gegenüber der Detailversessenheit der Zeitgenossen im Umgang mit überlieferten Versmaßen entwickelte der nachklassische Goethe zum poetischen Programm. In einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann vom 9. Februar 1831 bekundete er das Verlangen, nun erst recht fehlerhafte Formen zu produzieren.
Vgl. Goethe an Johann Jakob Riese, 30. Oktober 8. November 1765. In: FA 28, S. 22: „Ich sah den großen Mann auf dem Catehder stehn, / Ich hörte was er sprach, und muß es dir gestehn, / Es ist sein Fürtrag gut, und seine Reden fließen / So wie ein klarer Bach. Doch steht er gleich den Riesen, / Auf dem erhabnen Stuhl. Und kennte man ihn nicht / So wüßte man es gleich weil er steets prahlend spricht. / Genug er sagte viel von seinem Kabinette / Wie vieles Geld ihn das und jen’s gekostet hätte.“ Vgl. Christoph Brecht, Waltraud Wiethölter, Kommentar zu Herrmann und Dorothea. In: FA 8, S. 1198. So in einem Bericht von Friedrich Wilhelm Riemer, der Goethe seit 1803 in metrischen Fragen beriet. Vgl. Friedrich Wilhelm Riemer, Mittheilungen über Goethe, Bd. 2, Berlin 1841, S. 586: „Einen prosodischen Fehler, ‚einen Vers mit überzähligem Halbfuß‘, nämlich: ‚Ungerecht bleiben die Männer und die Zeiten der Liebe vergehen.‘ rügt das Morgenblatt von 1808, Nr. 123, mit Bedauern, daß der Vers unverbessert geblieben, aber – setzen wir hinzu – mit Bewußtseyn und Absicht in die letzten Ausgaben miteingewandert. Ich hatte G’n. bereits aufmerksam darauf gemacht, weil aber der Vers, ohne sein proverbialisches Ansehn zu verlieren und eine gewisse grata negligentia einzubüßen nicht wohl zu ändern war; ich mich auch erinnerte, daß F.A.Wolf einmal von diesem Verse sprechend ihn nicht nur entschuldigt, sondern auch durch Homerische Beispiele erläutert habe: so ließen wir ihn stehen oder hingehen. Nun machte später auch H.Voß, der Sohn, auf ihn aufmerksam, und G. soll, wie jener erzählt, gesagt haben: ‚die siebenfüßige Bestie möge als Wahrzeichen stehen bleiben!‘“ Vgl. dazu, inbesondere auch zur Frage der metrischen Lizenz, Lars Korten, „Wälzen und Rollen“. Goethes jambische Trimeter. In: Goethe-Jahrbuch 127 (2010), S. 57– 69, hier: S. 66.
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3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
Überhaupt geht jetzt Alles aufs Technische aus, und die Herren Kritiker fangen an zu quengeln, ob in einem Reim ein s auch wieder auf ein s komme und nicht etwa ein ß auf ein s. – Wäre ich noch jung und verwegen genug, so würde ich absichtlich gegen alle solche Grillen verstoßen, ich würde Alliterationen, Assonanzen und falsche Reime, Alles gebrauchen wie es mir käme und bequem wäre; aber ich würde auf die Hauptsache losgehen, und so gute Dinge zu sagen suchen, daß jeder gereizt werden sollte, es zu lesen und auswendig zu lernen.¹⁴
Hier bezieht Goethe sich zwar in erster Linie auf Formen wie Alliterationen, Assonanzen oder den Reim, doch seine Kritik an der Voreingenommenheit der Zeitgenossen mit allem „Technische[n]“ erstreckt sich ebenso auf die Metrik. Das zeigt ein weiteres Gespräch mit Eckermann wenige Tage später. „Ich freue mich, sagte Goethe, wie er [Carl Schöne, ein Leipziger Philologe, der eine Arbeit zu den Kostümen im Theater des Euripides verfasst hatte] mit produktivem Sinn auf die Sache losgeht, während andere Philologen der letzten Zeit sich gar zu viel mit dem Technischen und mit langen und kurzen Sylben zu schaffen gemacht haben.“ „Es ist immer ein Zeichen einer unproduktiven Zeit, wenn sie so ins Kleinliche des Technischen geht, und eben so ist es ein Zeichen eines unproduktiven Individuums, wenn es sich mit dergleichen befaßt.“¹⁵
Der Verdruss an der zeitgenössischen Behandlung metrischer Fragen äußert sich aber nicht nur in poetologischen Gesprächen, sondern findet Eingang in Goethes Dichtung selbst, und das bereits im West-östlichen Divan von 1819. Das Gedicht „Nachbildung“ etwa äußert Kritik an einer unreflektierten Adaption tradierter Formen: Zugemeßne Rhythmen reizen freylich, Das Talent erfreut sich wohl darin; Doch wie schnelle widern sie abscheulich, Hohle Masken ohne Blut und Sinn. Selbst der Geist erscheint sich nicht erfreulich, Wenn er nicht, auf neue Form bedacht, Jener todten Form ein Ende macht.¹⁶
Tatsächlich lässt sich der Divan als Versuch verstehen, der Dominanz „[j]ener todten Form“ – im Sinne des antiken Formenerbes – ein Ende zu machen. Das Vorbild Hafis ermöglicht hier die Abkehr von den metrischen Traditionen der Johann Peter Eckermann, 9. Februar 1831, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823 – 1832. In: FA 39, S. 431. Eckermann, Freitag, den 11. Februar 1831. In: FA 39, S. 431. Goethe, West-östlicher Divan. In: FA 3.1, S. 32.
3.1.2 Ironische Adaption überlieferter Metren im Faust II
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Antike durch eine im Zeichen des Orientalismus stehende Revision anakreontischer Spielarten, in denen kurze Verse alternierenden Metrums überwiegen. ¹⁷ Bereits Wolfgang Kayser hat auf die auffallende Einheitlichkeit der Versmaße (vierhebige Trochäen) im Divan hingewiesen.¹⁸ Von einer derartigen metrischen Homogenität kann im Faust II nicht die Rede sein. Dort haben neben Versen mittelalterlicher (Knittelvers, Madrigalvers) und moderner (Blankvers) Provenienz auch die „[z]ugemeßne[n] Rhythmen“ der antiken Tradition ihren Platz. Das heißt, dass der homogenisierende Orientalismus des Divan nicht Goethes einzige Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit tradierten Metren in der Moderne war. Anders als im Divan geht es im zweiten Teil des Faust nicht darum, „[j]ener todten Form ein Ende [zu] machen“. Es handelt sich aber auch nicht um eine naive Revitalisierung der toten Formen. Vielmehr werden die „todten Form[en]“ im Faust II als ‚tot‘ funktionalisiert. Diese gezielte Verwendung der Metren als „[h]ohle Masken“ scheint eine Formkonzeption zu erschüttern, die die untrennbare Einheit von Form und Gehalt voraussetzt. Das zeigt sich insbesondere an den überlieferten Versmaßen im Faust II, dem Alexandriner und dem jambischen Trimeter, deren ironische Verwendung eine mögliche Art der Aktualisierung metrischer Formen in der Moderne erkennen lässt.
3.1.2 Ironische Adaption überlieferter Metren im Faust II Es ist viel gerätselt worden über die Fehlerhaftigkeit der Alexandriner in der Belehnungsszene des vierten Akts, der einzigen Szene im Faust II, die Alexandriner verwendet. Goethe verstößt hier gleich auf mehrfache Weise gegen die Regeln des alexandrinischen Versmaßes.¹⁹ Er unterbricht die jambische Alter-
Vgl. dazu etwa auch das Gedicht „Lied und Gebilde“, in dem die Formgebung der Griechen – das Bilden des Tons – ersetzt wird durch das Schöpfen aus der Quelle des Euphrat. Goethe, Westöstlicher Divan. In: FA 3.1, S. 21. Wolfgang Kayser, Beobachtungen zur Verskunst des West-östlichen Divans. In: Kayser, Kunst und Spiel. Fünf Goethe-Studien, Göttingen 1967, S. 47– 63, hier: S. 50 f.: „Von den 256 Divangedichten mit ihren 3396 Versen sind 1838 Verse trochäisch; das sind 54 %. 77 % der Divanverse sind kurzzeilig (bis zu 4 Hebungen); die vierhebigen Zeilen sind selber mit 49 % vertreten, und rund 42 % aller Divanverse sind vierhebige Trochäen. […] Ein solches Vorwalten einer bestimmten metrischen Form bedeutet nun allerdings – unbeschadet aller Variationsmöglichkeiten – ein durchgehendes, einigendes Band“. Vgl. zur Analyse des Alexandriners im Faust II die Arbeit von Ingeborg Frandsen, Die Alexandriner-Szene in „Faust II“, Kiel 1967, sowie Ciupke, „Des Geklimpers vielverworrner Töne Rausch“, S. 166 – 176.
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3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
nation durch mehrfache Senkungen, die das Maß dichterischer Lizenz weit überschreiten, so etwa in V. 10973 f.: Reinschrift und Sieglung soll die Kanzelei beschäftigen Mit heiliger Signatur wirst dus, der Herr, bekräftigen.²⁰ —‿ ‿—‿ —‿— ‿— ‿—‿‿ ‿—‿‿ —‿— ‿— ‘ ‿— ‿—‿‿ [anstatt (regelhafter Alexandriner): ‿— ‿— ‿— ‘ ‿— ‿— ‿—]
Des weiteren bricht Goethe mit der obligatorischen Zäsur nach der sechsten Silbe, auf besonders schlagende Weise im V. 10899, wo die Zäsur durch das Wort „Erztruchseß“ überschrieben wird.²¹ Dich wähl’ ich zum Erztruchseß! Also sei fortan ‿—‿‿ —‿‿ ‘ —‿—‿—
Schließlich sind auch die Reime der Alexandriner-Szene beanstandet worden (etwa der rührende Reim in V. 11011 f., oder die gleitenden Reime in V. 10905 f. und V. 11005 f.²²). Verschiedentlich wurde Goethes auffallend fehlerhafte Gestaltung des Alexandriners mit der Absicht erklärt, die Falschheit der Konventionen des Kaiserhofes zu entlarven.²³ Die offenkundig nachlässige Behandlung lasse das Versmaß als „[h]ohle Maske[]“ erscheinen und diene so der Darstellung der lügenhaften Rede der Höflinge in der Belehnungsszene. Nun handelt es sich beim Alexandriner nicht um ein Metrum der antiken Tradition, sondern um das klassische Versmaß der französischen Tragödie des siebzehnten Jahrhunderts. Dennoch lässt er sich den „[z]ugemeßne[n] Rhythmen“ zuordnen, von denen der Dichter des Divan Abstand nehmen wollte. Und in sei Der Text von Goethes Faust wird im Folgenden unter Angabe der Verszahlen zitiert nach Goethe, Faust. Texte In: FA 7.1, S. 9 – 464. Ebenso V. 10913 f.: „Du selbst sei mäßig, laß nicht Heiterkeiten / Durch der Gelegenheit Verlocken, dich verleiten.“ oder V. 11000: „Wie sie sich, eilig schlängelnd, stürzen ab zu Tal“. Vgl. V. 11011 f.: „Sie strömen brünstig schon, durchs würdige Portal, / Der erste Glockenruf erscholl durch Berg und Tal“, V. 10905 f.: „Der Küche Dienerschaft soll sich mit mir vereinigen, / Das Ferne beizuziehn, die Jahrszeit zu beschleunigen“, V. 11005 f.: „Erst! der entweihte Raum wo man sich so versündigt, / Sei alsobald zum Dienst des Höchsten angekündigt.“ Dieser Reim weist außerdem eine große Ähnlichkeit zum Reim in den Versen 11017 f. („Mag ein so großes Werk den frommen Sinn verkündigen, / Zu preisen Gott den Herrn, so wie mich zu entsündigen.“) auf, was einen weiteren Grund zur Kritik bot. Vgl. dazu Frandsen, Die Alexandriner-Szene in „Faust II“, S. 115, Friedländer, Rhythmen und Landschaften im zweiten Teil des Faust, S. 39 f., und Ciupke, „Des Geklimpers vielverworrner Töne Rausch“, S. 173 f.
3.1.2 Ironische Adaption überlieferter Metren im Faust II
153
nem fehlerhaften Gebrauch gleicht der Alexandriner einem anderen – genuin antiken – Versmaß, nämlich dem jambischen Trimeter des antiken Dramas, den Goethe im Faust II in vergleichbarer Weise einsetzt. Die Verse im jambischen Trimeter weisen ebenfalls Unregelmäßigkeiten auf, wenn auch nicht auf so gravierende Weise wie in der Alexandriner-Szene. Exemplarisch dafür ist etwa der siebenhebige Trimeter vom Beginn des vierten Akts (V. 10039: „Der Einsamkeiten tiefste schauend unter meinem Fuß“). Albrecht Schöne weist außerdem auf die häufige Unterbrechung der jambischen Alternation durch Doppelsenkungen hin, wie etwa durch den anapästischen Versfuß in V. 8490. Diesen ursprünglich strikt jambischen Trimeter-Vers aus dem HelenaFragment von 1800 („Noch immer trunken von der Woge schaukelndem“: ‿—‿— ‿—‿—‿—‿—) arbeitet Goethe für den Faust II zu einem leicht unregelmäßigen Vers um („Noch immer trunken von des Gewoges regsamem“: ‿—‿—‿—‿‿—‿ —‿—).²⁴ Auch diese nachträglich eingefügten Unregelmäßigkeiten haben die Forschung vor ein Rätsel gestellt: Doch gerade im Falle des Trimeters lässt sich die Frage, ob es sich hier um ein Symptom von Goethes Metrikverdruss²⁵, die Verwechslung von Trimeter und Alexandriner²⁶, oder aber um eine ironische Brechung der Form handelt²⁷, leicht zugunsten des letzteren entscheiden, wenn man die Vorgeschichte des Trimeters in der Entstehung des dritten Akts berücksichtigt. Diese wird ersichtlich aus dem Paralipomenon 158. Goethe hatte ursprünglich einen Abstieg Fausts in die Unterwelt geplant, wo dieser Proserpina, die Herrscherin des Orkus, zur Herausgabe der Helena bewegen sollte.²⁸ In den Zusammenhang dieses Entwurfs gehört das Paralipomenon 158, in dem Faust und Mephisto das Treffen mit Proserpina und Helena proben, genauer: deren Sprache einüben. In dieser Spiegelung der Szene „Innerer Burghof“ des dritten Akts, in der Faust Helena in das Sprechen in Reimen einführt (V. 9365 – 9384), bittet Faust Mephisto, ihn in das Sprechen in Trimetern einzuweisen.
Vgl. Albrecht Schöne, Kommentar. In: FA 7.2, S. 590. Tatsächlich ist eine noch stärker unregelmäßige Lesart des Verses als die von Albrecht Schöne vorgeschlagene denkbar: „Noch immer trunken von des Gewoges regsamem“: ‿—‿—‿ ‿‿‿—‿—‿‿. Vgl. Korten, „Wälzen und Rollen“, S. 66 f. Vgl. Karl Bartsch, Goethe und der Alexandriner. In: Goethe-Jahrbuch 1 (1880), S. 119 – 139, hier: S. 138. Vgl. Max Kommerell, Faust zweiter Teil. Zum Verständnis der Form. In: Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, Frankfurt a. M. 1940, S. 9 – 74, hier: S. 61– 63. Vgl. Jost Schillemeit, Faust und der tragische Trimeter. Zur Vorgeschichte der Klassischen Walpurgisnacht. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1985, S. 33 – 51, hier: S. 34 f.
154
3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
Faust Das wohlgedachte glaub ich spricht sich ebenso In solchen ernsten langgeschwänzten Zeilen aus Und ist es die Bedingung jene göttliche Zu sehn, zu sprechen, ihr zu nahn von Hauch zu Hauch So wage sonst noch andres babylonische Mir zuzumuthen, schülerhaft gehorch ich dir. Mich reizt es schon von Dingen sonst mit kurzem Wort Leicht abgethan mich zu ergehen redehafft M[ephistopheles] Verspare dies bis du zur aller ältesten kommst Die Lust giebt lange {Weile} die man genießt Die Frauen liebens allermeist die Tragischen Da spricht ein jeder sinnig mit verblümtem Wort Weitläufig aus was ohn gefähr ein jeder weis. Doch still hievon gesammelt steht zur Seite scheu Man spaße nicht wenn sich der Orkus öffnen will²⁹
Unverkennbar ist im Austausch zwischen Faust und Mephisto der Spott über das Pathos des Paradeverses der antiken Tragödie, der hier als „ernste[] langgeschwänzte[] Zeile[]“ beschrieben wird, die die ‚tragischen Frauen‘ verwenden, um das „[w]eitläufig aus[zusprechen] was ohn gefähr ein jeder weis“. Für die Behandlung des Trimeters im Faust bedeutet das: Sie lässt sich weniger als genuine Reproduktion verstehen, denn vielmehr als ironische Brechung der antiken Form. „Von diesem Anschlag erholen sich die tragischen Maße nicht mehr ganz“³⁰, urteilt Emil Staiger über Mephistos/Phorkyas’ Rede in Trimetern im dritten Akt und dasselbe ließe sich von der Ironisierung des Trimeters im Paralipomenon 158 sagen. Denn obwohl das Paralipomenon 158 keinen Eingang in den endgültigen Faust-Text gefunden hat, hält der Trimeter Spuren von Ironie – die absichtlichen Unregelmäßigkeiten, die Goethe in die Trimeter-Verse einarbeitet, zeugen davon. Jost Schillemeit hat in seinem Aufsatz zum tragischen Trimeter im Faust gezeigt, dass die oben zitierte Parodie des Trimeters von Mephisto gesprochen werden sollte und nicht, wie zuvor angenommen, von der Seherin Manto, auf die Faust in der „Klassischen Walpurgisnacht“ trifft.³¹ (Die Passage ist lediglich mit einem „M“ überschrieben, das bis dahin als „Manto“ gedeutet worden war.) Schillemeits Richtigstellung ist zweifellos plausibel, verstellt aber den Blick auf die Konsequenzen der ironischen Verwendung des Metrums für die Frage der
Goethe, Paralipomenon 158. In: FA 7.1, S. 625. Emil Staiger, Goethe, 3 Bde., Zürich/Freiburg i.Br. 1952– 1959, Bd. 3, S. 373. Vgl. Schillemeit, Faust und der tragische Trimeter, S. 46.
3.1.2 Ironische Adaption überlieferter Metren im Faust II
155
Formkonzeptionen in Goethes Faust. Mit der Zuschreibung des ironischen Kommentars zur Figur Mephistos wird die Ironie auf ihren ‚üblichen Verdächtigen‘ im Faust-Drama zurückgeführt und dadurch zugleich eingedämmt. Die mephistophelische Ironie, die sich in Wortspielen und Anreden ans Publikum äußert, ist von unmittelbarer Theatralität – sie erschließt sich dem Zuschauer auch ohne Vorkenntnis des Textes und lässt sich auf den „Geist der stets verneint“ begrenzen. Der ironischen Verwendung der Versmaße – jenseits der Figurenbindung – hingegen eignet eine strukturelle Dimension, die das gesamte Werk umfasst: Sie erstreckt sich auf alle Charaktere, nicht nur auf die bekanntermaßen ironischen, und betrifft damit auf ganz grundsätzliche Weise die Beziehung zwischen Form und Gehalt, mit deren Identität die Ironie zu brechen scheint. Die Ironie des Goetheschen Spätwerks stellt einen Gemeinplatz der GoetheForschung dar.³² Dabei erfordert die ironische Behandlung der Versmaße im Faust II eine weitere Differenzierung. Die fehlerhafte Adaption antiker Metren ist eine andere Form von Ironie als die ‚theatrale Ironie‘ Mephistos, man könnte sie auch eine ‚philologische‘ Ironie nennen. Denn die ironische, da bewusst fehlerhafte, Verwendung der „[z]ugemeßne[n] Rhythmen“ erschließt sich nur dem Kenner und genauen Leser der Versmaße. Man muss mit den Regeln des Alexandriners und Trimeters vertraut sein, um die Regelverstöße als solche wahrnehmen zu können.³³ Anders als die theatral-mephistophelische Ironie der dramatischen Figuren oder etwa auch die Erzählerironie in Goethes Romanen hat diese Ironie der Sprachform in der Forschung wenig Beachtung gefunden.³⁴ Wodurch unterscheidet sich die Ironie der Metren von ‚theatraler‘ oder ‚narrativer‘ Ironie? Sie Vgl. etwa Ehrhard Bahr, [Art.] Ironie. In: Goethe-Handbuch, Bd. 4.1: Personen, Sachen, Begriffe A–K, hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, Stuttgart/Weimar 1998, S. 543 – 545; Ehrhard Bahr, Die Ironie im Spätwerk Goethes. „…diese sehr ernsten Scherze …“. Studien zum „West-östlichen Divan“, zu den „Wanderjahren“ und zu „Faust II“, Berlin 1972; Hermann Meyer, „Diese sehr ernsten Scherze“. Eine Studie zu Faust II, Heidelberg 1970; Jane K. Brown, Ironie und Objektivität. Aufsätze zu Goethe, Würzburg 1998. Mathias Mayer hat Ironie bei Goethe nicht als rhetorisches Mittel, sondern als ein Verfahren der produktiven Reflexion von Normativität herausgearbeitet. Vgl. Mathias Mayer, Mythos und Ironie. Goethes Relativitätstheorie. In: Heikle Balancen. Die Weimarer Klassik im Prozess der Moderne, hg. von Thorsten Valk, Göttingen 2014, S. 139 – 159. Grundsätzliche Überlegungen zum literaturwissenschaftlichen Ironie-Begriff anhand von Goethe stellt Irmgard Honnef-Becker an. Vgl. Irmgard Honnef-Becker, Ist Goethe eigentlich ironisch? Zum Ironie-Begriff in der Literaturwissenschaft. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 115/2 (1996), S. 161– 175. Ironisch ist daran natürlich auch, dass diese Ironie sich nur den silbenzählenden Philologen erschließt, von denen sich Goethe ja ausdrücklich abgrenzen wollte. Eine Ausnahme stellt Ehrhard Bahrs Arbeit zur Ironie in Goethes Spätwerk dar, die ausdrücklich auch die Versformen in Faust II, etwa in der Bergschluchten-Szene berücksichtigt. Vgl. Bahr, Die Ironie im Spätwerk Goethes, S. 155 f.
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3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
rührt nicht von einem Bruch zwischen Gemeintem und tatsächlich Gesagtem her, sondern vom Bruch zwischen dem eigentlich gemeinten Versmaß und seiner tatsächlichen Realisierung. Das bedeutet aber, dass die ‚philologische Ironie‘ die Einheit von Form und Gehalt unberührt lässt. Stattdessen führt sie eine Distanz im Verhältnis der Versform zu ihrem Vorbild ein – eine Dissoziation, die gewissermaßen eine Entsprechung in inhaltlicher Hinsicht findet. Denn zum brüchigen Alexandriner stimmt die Falschheit der Konventionen am Hof des Kaisers in der Belehnungsszene und in der Parodie des tragischen Trimeters wird im dritten Akt die Unmöglichkeit einer Wiederkunft der Antike in der Moderne gestaltet. Der Ironie auf der Formebene entspricht eine Ironie des Gehalts. Das Formkonzept, das auf einer Einheit von Form und Gehalt beruht, bleibt in dieser Gestaltung des Versmaßes also unberührt. Allerdings gibt es im Faust II eine andere Form von metrischer Ironie, die von der Disparität von Form und Gehalt ausgeht. Sie wird sichtbar an den umstrittenen daktylischen Versmaßen.
3.1.3 Metrische ‚Querverweise‘ Die daktylischen Verse bilden eine Konstante im metrischen Potpourri der „Bergschluchten“-Szene. Sie lassen sich aber nur schwer auf ein eindeutiges Metrum festlegen, da die Hebungszahl im Vers variiert und nicht einmal der daktylische Grundrhythmus durchgehend beibehalten wird. Vom Beginn der Szene an sprechen der Chor/das Echo, der Pater Ecstaticus, die jüngeren und die vollendeteren Engel, die seligen Knaben und Doctor Marianus in Versen, die sich im weiteren Sinne als daktylisch beschreiben lassen. Das berühmteste Beispiel bietet der Abschluss durch den Chorus mysticus. Dort lässt sich eine daktylische Grundstruktur mit jeweils zwei Hebungen ausmachen. Jeder zweite Vers endet katalektisch. Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche Hier wird’s Ereignis; Das Unbeschreibliche Hier ist es getan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan.
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Bei genauerer Betrachtung erfasst dieser metrische Rahmen den Rhythmus der Verse jedoch nur unzureichend. In V. 12105/12106 und V. 12108 – 12110 weicht der jeweils erste Versfuß vom Daktylus ab und es lässt sich nur schwer entscheiden,
3.1.3 Metrische ‚Querverweise‘
157
ob es sich bei diesen Abweichungen um Lizenzen handelt oder ob sie ein eigenes – nicht daktylisches – Metrum konstituieren. Denn es eignet ihnen eine gewisse Regelmäßigkeit: Der erste Versfuß des jeweils zweiten (— —) und dritten Verses (‿ —‿) jeder Vierergruppe weicht auf dieselbe Weise (Spondeus/Amphibrachys) ab. Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche Hier wird’s Ereignis; Das Unbeschreibliche Hier ist es getan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan.
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Trotz dieser Divergenzen kann am Grundgerüst des Daktylus festgehalten werden – genau dieser aber ist der Goethe-Forschung lange Zeit ein Dorn im Auge gewesen: Unvorstellbar sei es, dass Goethe der mystischen Apotheose in den „Bergschluchten“ eine derart triviale Gestalt verleihen würde. „Heílige Póesie, Hímmelan an steíge sie – im Walzertakt? – Nein. Das nähme der Wirkung gerade dieser Verse das Gewicht weg, das sie vom Versgehalt aus haben.“³⁵ So fertigt Kurt May in seiner Studie der Versformen des Faust II aus dem Jahr 1936 den Verdacht auf die walzenden Engel ab, den eine Interpretation des Metrums als Daktylus nahezulegen scheint. Verschiedene Ehrenrettungen dieses schwer fassbaren Versmaßes sind unternommen worden. Andreas Heusler etwa prägte in seiner Deutschen Versgeschichte (1925 – 1929) den Begriff der ‚falschen Daktylen‘. Mit Bezug auf V. 11844– 11853 stellte Heusler fest, dass es sich bei den vermeintlichen Daktylen in Wirklichkeit um alternierende Vierheber handle („Oft aber sind die zweihebigen ‚falschen Daktylen‘ in Wirklichkeit Vierheber alternierenden Schrittes“³⁶). Aus dieser Kategorisierung folgt für Heusler: Auch die andern Schäden der Sprachbehandlung verschwinden; dem Metriker ist dies der Stern, der den rechten Weg weist. Und an Stelle einer würdelos tänzelnden Bewegung ein Schritt von Ernst und Größe, diesen Inhalten angemessen. Walzer und Ländler in allen Ehren; aber in den Chorus mysticus gehören sie nicht!³⁷
May, Faust II. Teil, in der Sprachform gedeutet, S. 205. Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte mit Einschluss des altenglischen und altnordischen Stabreimverses, 3 Bde., Berlin 1925 – 1929, Bd. 3, S. 399. Heusler, Deutsche Versgeschichte, Bd. 3, S. 399.
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3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
Zwar ist Andreas Heuslers Kritik an einer undifferenzierten Lesart der Verse als Daktylen durchaus gerechtfertigt, wie die metrische Analyse der Passage gezeigt hat, doch lassen sich die Verse ebenso wenig als alternierende Vierheber beschreiben (aus dem einfachen Grund, dass die wenigsten von ihnen vier Hebungen haben; Heusler muss die Versgrenze überlesen, um seine Deutung zu untermauern).³⁸ Neben Heuslers einflussreicher Prägung der ‚falschen Daktylen‘ hat sich in jüngerer Zeit eine Lesart etabliert, die das zweifelhafte Versmaß aus lateinischen Kirchenhymnen ableitet. Christian Wagenknecht hat mit Verweis auf den Chor der Engel aus dem ersten Teil des Faust darauf hingewiesen, dass die ‚falschen Daktylen‘ ihren Ursprung in der Tradition christlicher Hymnen hätten. Tatsächlich ist der Gesang des Engelschores in der Szene „Nacht“ aus Faust I in einem vergleichbaren Metrum verfasst (vgl. V. 737 f. „Christ ist erstanden! / Freude dem Sterblichen …“). Ein Rückgriff auf diesen metrischen Topos der christlichen Tradition am Ende des Faust II wäre insofern durchaus schlüssig. Wie die vierhebigen Trochäen etwa des Pater Seraphicus […] metrisch dem „Pange lingua gloriosi“ oder dem „Dies irae, dies illa“ nachgebildet scheinen, so die ‚falschen Daktylen‘ des Chorus mysticus den allerdings minder häufigen Kurzversen, die etwa bei Petrus Abaelardus die ganze Pars Altera im Libellus Primus seines Hymnarius Paraclitensis füllen. […] Den für Goethes Verse charakteristischen Wechsel zwischen daktylisch und jambisch einsetzenden Versen findet man auch hier – zusammen mit dem oft nur von der Schlußsilbe gebildeten Reim. […] Von daher scheinen mir Goethes ‚falsche Daktylen‘ zu stammen.³⁹
Die drohende Trivialität der Daktylen wird hier umgangen, indem das Versmaß an eine Tradition angeschlossen wird, die über jeden Profanitätsverdacht erhaben ist. Einen weiteren Vorschlag zur Einordnung der suspekten Daktylen hat Markus Ciupke in seiner Arbeit zu den metrischen Formen im Faust gemacht: Ciupke plädiert für die Differenzierung der daktylischen Verse entsprechend ihres ‚Gehalts‘. Denn genau genommen sind die daktylischen Versformen der „Bergschluchten“-Szene in weiten Teilen identisch mit denen der Euphorion-Szene des dritten Akts. Ciupke bezeichnet nun die Daktylen der „Bergschluchten“ als „hymnisch-daktylische Liedverse“, die Daktylen Euphorions hingegen als „freirhythmisch-daktylische Singspielverse“. Die abschließenden Verse des Chorus mysticus stünden wiederum in einem anderen Metrum („Lyrische Sprechverse: Vgl. Heusler, Deutsche Versgeschichte, Bd. 3, S. 400. Christian Wagenknecht, Falsche Daktylen? In: Wagenknecht, Metrica minora. Aufsätze, Vorträge, Glossen zur deutschen Poesie, Paderborn 2006, S. 268 – 270, hier: S. 269 f. Dasselbe Argument findet sich im Übrigen bereits bei Margarethe Bressem, Der metrische Aufbau des Faust II und seine innere Notwendigkeit, S. 51.
3.1.3 Metrische ‚Querverweise‘
159
Freie Verse“⁴⁰). Grund für diese unterschiedliche Klassifizierung desselben Versmaßes sei der fundamental disparate Gehalt. So schreibt Ciupke zur erstmaligen Verwendung des daktylischen Versmaßes im Faust I (Szene „Vor dem Tor“): Da der Grundrhythmus ein daktylischer ist, der vielfältig variiert, soll die Versform als „freirhythmisch-daktylische“ bezeichnet werden. Es tritt dabei allerdings der besondere Fall ein, daß diese Form exakt der in der vorigen Szene beschriebenen „hymnisch-daktylischen“ entspricht. Eine gleiche Bezeichnung für beide Passagen verbietet sich aber wegen des allzu verschiedenartigen Gehalts, der mit dieser Form unterlegt ist. So mag es in diesem einen Fall erlaubt sein, für eine metrische Form auf Grund des Gehalts zwei Termini einzuführen.⁴¹
Damit wird also die Form durch ihren Gehalt definiert und Zusammenhänge zwischen Disparatem, die durch formale Ähnlichkeiten hergestellt werden, bleiben unberücksichtigt. – Im Unterschied zu Andreas Heuslers Lösungsvorschlag, das daktylische Metrum als ein anderes auszulegen, oder zur Argumentation Christian Wagenknechts, die die Daktylen aus ehrwürdigen Traditionen abzuleiten versucht, verweist Ciupkes Differenzierung auf das eigentliche Skandalon dieses Versmaßes: Dabei geht es nicht um die Frage, ob es sich nun um ein ‚tänzelndes‘ oder ein sakrosanktes Metrum handle, sondern darum, dass in den ‚falschen Daktylen‘ vollkommen Verschiedenes verbunden wird. Dasselbe – mehr oder weniger – daktylische Metrum wird in vollkommen disparaten Zusammenhängen verwendet. Die gehaltliche Distinktion der Daktylen gilt dem Versuch, die erhabenen Sphären des Endes von Faust II vor der Kontamination durch andere Bereiche zu schützen, die formal identisch sind: Dazu gehört neben der Euphorion-Szene etwa auch der Chor der Ameisen. Denn der Chor der Ameisen in der „Klassischen Walpurgisnacht“ spricht in einem Versmaß, das dem des Chorus mysticus vom Ende des Faust verblüffend ähnlich ist (V. 7586 – 7597): CHOR DER AMEISEN Wie ihn die Riesigen Empor geschoben Ihr Zappelfüßigen Geschwind nach oben! Behendest aus und ein! In solchen Ritzen Ist jedes Bröselein Wert zu besitzen. Das Allermindeste
[strikt daktylisches Metrum] —‿‿—‿‿ —‿‿—‿ —‿‿—‿‿ —‿‿—‿ —‿‿—‿‿ —‿‿—‿ —‿‿—‿‿ —‿‿—‿ —‿‿—‿‿
[mögliche Abweichung davon] ‿—‿—‿ ‿—‿—‿‿ ‿—‿—‿ ‿—‿—‿— ‿—‿—‿ ‿—‿—‿‿ ‿—‿—‿‿
Vgl. Ciupke, „Des Geklimpers vielverworrener Töne Rausch“, S. 224. Ciupke, „Des Geklimpers vielverworrener Töne Rausch“, S. 48.
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3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
Müßt ihr entdecken, Auf das geschwindeste In allen Ecken.
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‿—‿—‿‿ ‿—‿—‿
Ebenso wenig wie für den Chorus mysticus lässt sich für den Chor der Ameisen ein konsistent daktylisches Metrum feststellen (das zeigt sich anhand der zwei alternativen Transkriptionen), was freilich die formale Parallele zwischen den beiden Textstellen nur unterstreicht. Hierin liegt also die Ironie der Daktylen im Faust II: nicht in der Vorstellung, dass die Engel der „Bergschluchten“ Walzer tanzen, sondern darin, dass das Versmaß des Chorus mysticus und das des Chors der Ameisen formal identisch sind. Das ist nun eine viel fundamentalere Ironie als die der lässigen Behandlung der überlieferten Versmaße, die sich am Alexandriner und am antiken Trimeter abgezeichnet hatte – sie zwingt das Disparate in eine identische Form.⁴² An den ‚falschen Daktylen‘ wird so ein grundlegendes Formprinzip des Faust II fassbar: das der „metrischen Querverweis[e]“⁴³, die ein formales Beziehungsnetz herstellen, in dem identische Versmaße sehr unterschiedliche Szenen miteinander verknüpfen. Durch das unregelmäßig daktylische Versmaß wird eine formale Analogie suggeriert zwischen der „Bergschluchten“-Szene des fünften Akts und der Euphorion-Szene des dritten Akts – eine Analogie, die auch auf der inhaltlichen Ebene eine Entsprechung zu finden scheint, handelt es sich doch bei beiden Szenen um Darstellungen einer Himmelfahrt. Jedoch erscheint die Apotheose von Fausts Seele durch diese formale Koppelung an die Verflüchtigung des romantischen Geistes natürlich in einem anderen Licht. Dasselbe Versmaß findet sich außerdem in der Szene „Klassische Walpurgisnacht“ im zweiten Akt. Neben dem Chor der Ameisen sprechen hier die Nymphen, die Pygmäen-Ältesten, der Generalissimus sowie die Imsen und Daktylen in daktylischen Versen. Gemeinsam ist diesen Szenen bestenfalls eine wimmelnde Bewegung, aber keine ‚gehaltliche Substanz‘, am wenigsten eine erhabene. Diese Verbindung von Gegensätzen in einem gemeinsamen Metrum bestätigt sich, zieht man eine weitere daktylische Versart hinzu, nämlich die zweihebigen Daktylen, die sich von den vorigen durch ihre Auftaktigkeit unterscheiden (‿—‿‿—‿(‿)). In diesem Dieses Beieinander des Disparaten arbeitet auch Theodor W. Adorno in seiner Interpretation der Schlussszene der Faust heraus. Vgl. Adorno, Zur Schlußszene des Faust. In: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 135: „Human läßt die Sprache das Nichtidentische, in den protestierenden Worten des jungen Hegel Positive, Heteronome stehen, opfert es nicht der bruchlosen Einheit eines idealischen Stilisationsprinzips: im Eingedenken der eigenen Grenze wird der Geist zum Geist, der über jene hinwegträgt.“ Diese Bezeichnung übernehme ich von Markus Ciupke. Vgl. Ciupke, „Des Geklimpers vielverworrener Töne Rausch“, S. 113.
3.1.3 Metrische ‚Querverweise‘
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Versmaß entsprechen sich der Chor der Insekten vom Beginn des zweiten Akts (V. 6592– 6603: „Willkommen! willkommen / Du alter Patron …“) und der berühmte Monolog des Lynceus vom Anfang der Szene „Tiefe Nacht“ aus dem fünften Akt (V. 11288 – 11303: „Zum Sehen geboren / Zum Schauen bestellt …“). Auch hier wird Disparates durch eine identische Form verknüpft: Der humoristische InsektenChor, Erscheinung des „Schalk in dem Busen“ (V. 6600), tritt in Beziehung zu dem heiter-kontemplativen Schwanengesang des Türmers. Die daktylischen Metren sind nicht die einzigen, die auf diese Weise Querverbindungen zwischen Auseinanderliegendem herstellen.⁴⁴ Die zweihebigen jambischen Kurzverse etwa werden geteilt von verschiedenen Figuren in der Mummenschanz im ersten Akt (Holzhauer, Pulcinelle, Parasiten, abschnittsweise auch Faunen und Nymphen), von den Lamien im zweiten Akt („Klassische Walpurgisnacht“, V. 7697– 7709), von Euphorion, Helena, Faust und dem Chor im dritten Akt (V. 9711– 9736, V. 9767– 9784) sowie von den Gewaltigen Gesellen und Mephisto im fünften Akt (V. 11167– 11170, V. 11189 – 11216) und in den „Bergschluchten“ vom Chor der Büßerinnen (V. 12032– 12036). Im Gebrauch der Vagantenstrophe stimmen Doriden und Jünglinge in der „Klassischen Walpurgisnacht“ (V. 8416 – 8423), Kundschafter und Herolde aus dem vierten Akt (V. 10385 – 10392,V. 10399 – 10406,V. 10489 – 10496) und schließlich im fünften Akt Mephisto und die Lemuren (V. 11511– 11522, V. 11531– 11538, V. 11604 – 11611), dort aber auch die Engel (V. 11934– 11941) und Doctor Marianus (V. 11997– 12012, V. 12020 – 12031, V. 12096 – 12103) überein. Und die markanten vierhebigen Daktylen, in denen das Quartett aus Mangel, Schuld, Sorge und Not im fünften Akt spricht (V. 11384– 11397), werden außerdem verwendet von verschiedenen mythologischen Wesen der „Klassischen Walpurgisnacht“ (Chor: V. 8275 – 8284; Telchinen: V. 8289 – 8302; Nereus, Thales, Sirenen: V. 8464 – 8479). Ziel dieser Beschreibung der formalen Bezüge zwischen den Metren ist es nicht, eine ihnen etwa gemeinsame Bedeutungssubstanz, ein ‚gehaltliches Fundament‘, herauszuarbeiten. Die metrischen Formen werden stattdessen sichtbar in ihrer Beweglichkeit und Übersetzbarkeit zwischen verschiedenen Kontexten. In diesem Sinne kann von den Metren als Realisationen des „endogenen Formkonzepts“ nach David Wellbery gesprochen werden: Deutlich wird die Notwendigkeit, die metrischen Formen aus ihrer prozessualen Einbettung in den Verlauf des
Die folgende Analyse berücksichtigt vor allem diejenigen Versmaße, die wiederholt verwendet werden, ohne aber durch zu häufige Wiederholung ihren Wiedererkennungswert zu verlieren. Die häufigsten Versmaße im Faust II (Madrigalvers, vierhebige Trochäen, Blankvers, vierhebige Jamben) bleiben dabei unbeachtet. Als Grundlage für die folgenden Ausführungen dient die ausführliche metrische Analyse von Markus Ciupke, „Des Geklimpers vielverworrener Töne Rausch“, insbesondere S. 207– 237.
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3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
Stücks heraus zu verstehen, aus ihrem Bezug zum Kontext und Inhalt der Darstellung – d. h. als eine Form, bei der „das Verhältnis von Form und Materie, […] nicht als Opposition, sondern als Durchdringung konzipiert [wird]“⁴⁵. Das entspräche der in diesem Sinne durchaus gerechtfertigten gehaltlichen Differenzierung der Metren, die Markus Ciupke vorgeschlagen hat. Das Prinzip der metrischen Querverweise hält dabei aber verschiedene Formkonzepte in der Schwebe. Denn zwischen den gehaltlich zu differenzierenden Metren stellt es zugleich eine formale Identität her. Diese Eigenständigkeit der Form ließe sich, wieder im Anschluss an David Wellberys Formtypologie, als Ausprägung des „konstruktivistischen Formkonzepts“ verstehen, d. h. eines modernistischen Verständnisses von Form als willkürlicher Setzung – oder aber als die groteske Konsequenz eines „eidetischen Formkonzepts“, die das „zeitlose Wesen“ der gemeinsamen Form des Ameisenchors und des Chorus mysticus ad absurdum führt.⁴⁶ Wie auch immer man den eigentümlichen Formalismus der metrischen Komposition beurteilt: Die Anlage der metrischen Querverweise lässt sich nur schwer auf ein bestimmtes Formkonzept festlegen und ermöglicht stattdessen eine Überlagerung verschiedener Formvorstellungen, die gleichzeitig aufrechterhalten werden. Vor diesem Hintergrund sei die Frage nach der Ironie in der formalen Gestaltung des Faust II noch einmal gestellt. Die Adaption der antiken Metren hatte sich als ironisch im Sinne einer gezielt fehlerhaften Reproduktion der antiken Muster erwiesen, aber nicht als ein Bruch zwischen Form und Gehalt. Mit dem Prinzip der metrischen Querverweise wird nun das Verhältnis von Form und Gehalt reflektiert und es treten dabei Inkonsistenzen einer gehaltlichen Definition der Metren zutage. Von einem Bruch zwischen Form und Gehalt kann also insofern die Rede sein, als sich der Gehalt angesichts des Formprinzips der metrischen Querverweise dem Zugriff entzieht. Diese Art der metrischen Anlage könnte statt als ‚ironisch‘ vielmehr als ‚skeptisch‘ bezeichnet werden, im Anschluss an eine Differenzierung, die Jochen Schmidt vorgeschlagen hat. Schmidt hat ausgehend von Goethes Wahlverwandtschaften für eine Unterscheidung zwischen Ironie und Skepsis in Goethes späten Texten plädiert. Anders als die Ironie enthalte sich die Skepsis eines subjektiven Urteils und zeuge damit vor allem von dem Bewusstsein des eigenen Unvermögens zur Urteilsfähigkeit.⁴⁷ Während die Verwendung der
Wellbery, Form und Idee, S. 19. Vgl. Wellbery, Form und Idee, S. 19. Jochen Schmidt, Ironie und Skepsis in Goethes Alterswerk, besonders in den „Wahlverwandtschaften“. In: Goethe-Jahrbuch 121 (2004), S. 165 – 175, hier: S. 168: „Eng verwandt mit der Ironie ist der zweite Grundzug in Goethes Alterswerk: die Skepsis […]. Wie die Ironie wirkt die Skepsis relativierend und distanzierend. Anders als die Ironie markiert sie allerdings keine subjektive Superiorität. […] Von zentraler Bedeutung ist die auch für Goethe wesentliche Ur-
3.1.4 Metrische Enzyklopädie und ‚bewegliche Ordnung‘
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überlieferten Metren des Alexandriners und des Trimeters mit ihrer gebrochenen Reproduktion der überlieferten Formen als ‚ironische Metrik‘ beschrieben werden kann, ist die Querverbindung von Disparatem durch identische Formen von einer radikalen Skepsis geprägt, deren Stoßrichtung aber letztlich offen bleibt. Lesbar wird das Formprinzip der metrischen Querverweise damit als Umsetzung einer „sceptische[n] Beweglichkeit“, derentwegen Goethe die Dichtung Hafis’ im Divan zu seinem Vorbild erklärte.⁴⁸
3.1.4 Metrische Enzyklopädie und ‚bewegliche Ordnung‘ Die Struktur der metrischen ‚Querverweise‘ erlaubt eine neue Sicht auf die Formkonzeption des Faust II im Ganzen. Aus der Wiederholung derselben Metren im Gesamtverlauf des Textes konstituiert sich ein ‚sekundärer Rhythmus‘. Mit diesem ‚sekundären Rhythmus‘ als grundlegendem Formprinzip des Faust II lassen sich auf der einen Seite die unterschiedlichen Versmaße in ihrer jeweiligen Einbettung in den Verlauf des Stücks, d. h. in ihrem prozessualen Kontext, erfassen. Auf der anderen Seite kann damit die Gleichzeitigkeit im Blick behalten werden, die durch die identischen Formen hergestellt wird. Bereits Max Kommerell hat im Faust II eine rhythmische Grundstruktur am Werk gesehen und argumentiert, dass dieser Grundrhythmus ein teleologisches Entwicklungsnarrativ unterwandere. In seinem Aufsatz „Zum Verständnis der Form“ argumentiert Kommerell, dass der Form von Faust II keine Bildungsidee zugrunde liege – im Sinne einer faustischen ‚Entelechie‘⁴⁹ –, sondern die Komposition disparater teilsenthaltung.“ Eine vergleichbare Differenzierung schlägt auch Ehrhard Bahr vor, wenn er zwischen einer „ironie qui sait“ und einer „ironie qui cherche“ unterscheidet.Vgl. Bahr, Die Ironie im Spätwerk Goethes, S. 17: „Der geheimere Sinn ist nicht festgelegt, sondern wird indirekt angenähert durch die Gegenüberstellung polar spiegelbildlicher Gedanken. Damit wird ein Hauptcharakteristikum der Goetheschen Ironie deutlich. Die rhetorische Ironie ist im Gegensatz dazu präzis. […] Die Zweideutigkeit, das Schweben zwischen den Gedanken, besteht nur für das Publikum, das die Ironie nicht sofort durchschaut, aber nicht für den Autor. Es handelt sich bei Goethe nicht um eine ironie qui sait, sondern um eine ironie qui cherche. Die Goethesche Ironie ist bereits für den Autor vieldeutig.“ Vgl. Goethe, West-östlicher Divan („Noten zum besseren Verständnis“). In: FA 3.1, S. 175: „wie denn überhaupt diese Dichtart, was sie auch zu befördern und zu lehren scheint, durchaus eine sceptische Beweglichkeit behalten muß.“ Vgl. etwa Andreas Anglet, [Art.] Entelechie. In: Goethe-Handbuch, Bd. 4.1, S. 264– 265, hier: S. 265: „Wie sehr die Entelechie-Vorstellung in G.s Dichtung wirksam ist, zeigt die BergschluchtenSzene des Faust, wo die Engel Fausts ‚Unsterbliches‘ […], den Ursprung seines unaufhörlichen Strebens, den ‚Erdenrest‘ […], als erlösungswürdig zur Mater gloriosa emportragen.“ Wie gängig eine solche ‚entelechische‘ Lesart des Faust II immer noch ist, verdeutlicht ein Handbuch-Artikel
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3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
Augenblicke, die durch keinen teleologischen Entwicklungsgang miteinander verbunden seien: „Das Leben [Fausts] ist nicht, in der Weise des Romans und mancher längeren lyrischen Gedichte, dem Gedanken der Bildung unterworfen, sondern als Ewigkeit aus Augenblicken kosmisch betrachtet, im Rhythmus des Tuns.“⁵⁰ Dieser Rhythmus, führt Kommerell weiter aus, manifestiere sich im Faust durch „Zäsuren“. Damit bezeichnet er die Einschnitte zwischen den Akten, die diese als autonome Sphären voneinander isolieren würden und so eine Deutung des Faust als Bildungsgeschichte verwehrten. Indem diese Zäsuren die Form deuten helfen, helfen sie auch die Dichtung deuten; denn sie sind mehr als ein Formbegriff, sie enthalten eine Ansicht des Lebens, die über seinen Verlauf hinausträgt: die kosmisch-rhythmische Lebensansicht gegen die biographisch-fortschreitende der Romane.⁵¹
Mit den Zäsuren definiert Kommerell das rhythmische Strukturprinzip des Faust II ex negativo: Die „kosmisch-rhythmische Lebensansicht“ ergebe sich aus der Unterbrechung der „biographisch-fortschreitende[n]“. Mit dem Prinzip der metrischen ‚Querverweise‘ wird der Rhythmus auch in seinem produktiven Vermögen sichtbar – weniger als Störung einer teleologischen Fortschreitung denn als Wiederholungsstruktur, die Disparates miteinander verbindet. Das ist in der Untersuchung der Metren deutlich geworden: Der Chor der Ameisen und der von David Wellbery. In seinem Artikel „Faust and the Dialectic of Modernity“ weist Wellbery zunächst auf die enzyklopädische Disposition des zweiten Teils hin, die sich auch in der Versifizierung niederschlage. Vgl. David E. Wellbery, 1831, July 21. Faust and the Dialectic of Modernity. In: A New History of German Literature, hg. von David E. Wellbery u. a., Cambridge, MA/London 2004, S. 546 – 550, hier: S. 548: „The versification is a virtual catalogue of metrical and strophic forms from antiquity to Goethe’s time.“ Doch nimmt Wellbery diese Charakterisierung im Folgenden zurück zugunsten einer ‚linearen‘ Entwicklung Fausts, deren Antrieb das entelechische ‚Streben‘ Fausts sei. Vgl. ebd.: „Helpful as it is in highlighting the meta-epistemic and, as it were, archival character of Faust, the encyclopedic paradigm is misleading insofar as it suggests a static order viewed from a single, quasi-omniscient perspective. Faust, by contrast, is sustained by a forward-moving drive epitomized in what can be called the drama’s key word: Streben (‚striving‘).“ Eine rhythmische – auf Wiederholung basierende – Rahmung des Faust-Textes stellt hingegen das entelechische Paradigma in Frage. Kommerell, Faust zweiter Teil. Zum Verständnis der Form, S. 38. Dass sich in vergleichbarer Weise auch Goethes Geschichtsverständnis als ‚rhythmisch‘ beschreiben lässt, hat Reinhart Koselleck gezeigt. Vgl. Reinhart Koselleck, Goethes unzeitgemäße Geschichte. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 27– 39, hier: S. 39: „Goethes Ereignisgeschichte blieb zukunftsoffen, aber ihre vielschichtigen Bedingungen wiederholen sich, einander überwerfend, noch und noch, ohne deshalb zeitlos zu werden. Sie bezeugen einen anderen Rhythmus, als die Ereignisse selbst zu erkennen geben können.“ Kommerell, Faust zweiter Teil. Zum Verständnis der Form, S. 73.
3.1.4 Metrische Enzyklopädie und ‚bewegliche Ordnung‘
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Chorus mysticus, die Gewaltigen Gesellen und der Chor der Büßerinnen, die Lemuren und Doctor Marianus werden durch identische Formen in Beziehung zueinander gesetzt. Auf die Nähe dieser ‚beweglichen Ordnung‘⁵², die Goethe im Faust II inszeniert, zu seinem Projekt der Morphologie ist bereits hingewiesen worden. Olaf Breidbach hat den Faust II als eine poetische Realisation von Goethes Projekt einer Morphologie des Wissens gelesen: „Gemahnt dies nicht sehr an den Aufbau des ‚Faust II‘, in dem mit einem Agglomerat von Szenen ein Beziehungsnetz gespannt ist, das die Vielfalt des Möglichen in die Realität des Assoziierbaren setzt?“⁵³, fragt Breidbach mit Blick auf seine Beschreibung von Goethes Sammlungen. Im Faust II nimmt die „Realität des Assoziierbaren“ Gestalt an in der übergreifenden rhythmischen Anordnung der Versmaße. Wie Goethes andere Sammlungen ist auch die Sammlung der Metren im Faust II vom morphologischen Anliegen der Produktion einer ‚beweglichen Ordnung‘ motiviert.⁵⁴ ‚Beweglich‘ ist diese Ordnung nicht nur, weil es sich bei ihren Gegenständen, den Versmaßen, um Bewegungsformen handelt, sondern vor allem deshalb, weil sie selbst skeptische Unentschiedenheit – ‚Beweglichkeit‘ – produziert.⁵⁵ Bei aller Beweglichkeit löst sich diese Ordnung nicht in Formlosigkeit auf. Das Einschreiben der metrischen Formen in einen sekundären Rhythmus, in eine prozessual konzipierte Form, produziert einen umfassenden und flexiblen Zusammenhalt. Eine derart rhythmische Ordnung – als „ein koordiniertes Nach- und Nebeneinander […], dessen Übergang in ein Ganzes oder eine Identität vorläufig ausbleibt“ – hat Eva Geulen
So in Goethes „Atroismos“-Gedicht, wo es um die Erkenntnis der Ordnung der Natur geht.Vgl. FA 24, S. 473: „Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür / Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, / Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse / Bringt harmonisch ihn dir mit sanftem Zwange belehrend.“ Olaf Breidbach, Die Typik des Wissens und die Ordnung der Dinge. Zur Systematik des Goetheschen Sammelns. In: Räume der Kunst. Blicke auf Goethes Sammlungen, hg. von Markus Bertsch und Johannes Grave, Göttingen 2005, S. 322– 341, hier: S. 334. Vgl. dazu etwa Carrie Asmans Bemerkungen zu Goethes Text „Der Sammler und die Seinigen“: Carrie Asman, Kunstkammer als Kommunikationsspiel. Goethe inszeniert eine Sammlung. In: Goethe, Der Sammler und die Seinigen, hg. und mit einem Essay versehen von Carrie Asman, Dresden 1997, S. 119 – 177, hier: S. 176: „Ihm [Goethe] geht es nicht um Inventarisierung oder Beschreibung einzelner Objekte, sondern um die Bewegung der Dinge und die meßbaren Spuren des ordnenden Geistes in der Zeit, kurz, um die Sammlung als fortschreitende Signatur.“ Sowie zu Goethes Sammlungen Markus Bertsch, Johannes Grave, Einleitung. „Ein Unendliches in Bewegung“. In: Räume der Kunst. Blicke auf Goethes Sammlungen, hg. von Markus Bertsch und Johannes Grave, S. 7– 14. Eine Analyse der ‚Formen‘ von Goethes Unentschiedenheit im Hinblick auf morphologische Fragen bietet Eva Geulen anhand des „Schwankens“. Vgl. Geulen, Aus dem Leben der Form, S. 65 – 76.
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3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
an Goethes Beschreibung der Nagerskelette von Eduard D’Alton herausgearbeitet.⁵⁶ Dass sich der formale Zusammenhang des Faust II gerade aus der Verknüpfung des Disparaten konstituiert, hat auch Ernst Osterkamp gezeigt, der den Text als Versuch Goethes liest, ‚das Ungereimte zusammenzureimen‘.⁵⁷ Osterkamp nimmt das Reimpaar ‚Gewalt/Gestalt‘ im Faust als Ausgangspunkt für seine Untersuchung des im „Spätwerk ausgetragenen Widerspruch[s] zwischen klassizistischer Idealisierung und historistischer Entidealisierung der Antike“⁵⁸. Ziel ist eine Revision von Goethes Klassizismus: Zwar habe Goethe in seiner Beschäftigung mit der bildenden Kunst auf einem idealisierenden Antikebild beharrt, im Faust II aber inszeniere er gezielt die Konfrontation des idealistischen Gestaltbegriffs mit einer Reflexion auf die Gewalt der Geschichte.⁵⁹ Im Reim Gewalt/ Gestalt, so Osterkamp, prallen die zwei Zugrichtungen von Goethes Antikeverhältnis aufeinander: Gestalt und Gewalt werden in ihm [dem Reim] nicht mehr als komplementäre Begriffe positiv aufeinander bezogen, sondern der Reim verbindet nun das einander Entgegengesetzte: das
Geulen geht von Goethes Bemerkungen zu den Abbildungen als einem Kern seines morphologischen Unternehmens aus und zeigt daran seinen Entwurf einer Ordnung, die prozessuales Nacheinander und gleichzeitiges Beieinander miteinander verbindet. So sei es möglich, verschiedene Beziehungen (hier die Beziehungen nach innen und nach außen) ohne eine Verpflichtung auf Identität zur Darstellung zu bringen. Vgl. Geulen, Aus dem Leben der Form, S. 57: „Die Gemeinsamkeit der Organisation – nicht Einheit – ist gleichzeitig und gleich ursprünglich mit der Verschiedenheit. Ihr Gegensatz löst sich auf der Zeitachse im Prozess der Umbildung in ein koordiniertes Nach- und Nebeneinander auf, dessen Übergang in ein Ganzes oder eine Identität vorläufig ausbleibt.“ So charakterisiert Goethe die orientalische Ästhetik in seinen „Noten zum besseren Verständnis“ aus dem West-östlichen Divan, die er sich als Vorbild für seine Lyriksammlung genommen hat. Er vergleicht die Gleichzeitigkeit des Disparaten dort mit einem orientalischen Bazar. Vgl. Goethe, West-östlicher Divan. In: FA 3.1, S. 179: „[U]nd wenn der Orientale, seltsame Wirkungen hervorzubringen, das Ungereimte zusammenreimt, so soll der Deutsche, dem dergleichen wohl auch begegnet, dazu nicht scheel sehen. Die Verwirrung, die durch solche Productionen in der Einbildungskraft entsteht, ist derjenigen zu vergleichen, wenn wir durch einen orientalischen Bazar, durch eine europäische Messe gehen. Nicht immer sind die kostbarsten und niedrigsten Waaren im Raume weit gesondert, sie vermischen sich in unsern Augen und oft gewahren wir auch die Fässer, Kisten, Säcke, worin sie transportirt worden.Wie auf einem Obst- und Gemüsmarkt sehen wir nicht allein Kräuter, Wurzeln und Früchte, sondern auch hier und dort allerley Arten Abwürflinge, Schalen und Strunke.“ Ernst Osterkamp, Gewalt und Gestalt. Die Antike im Spätwerk Goethes, Basel 2007, S. 19. So weist Osterkamp etwa darauf hin, dass es sich beim Schauplatz der „Klassischen Walpurgisnacht“ mitnichten um ein mythisches, sondern im Gegenteil um ein durch Historisierung erschlossenes Terrain handle. Vgl. Osterkamp, Gewalt und Gestalt, S. 34.
3.1.4 Metrische Enzyklopädie und ‚bewegliche Ordnung‘
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Idealschöne und dasjenige, was die Schönheit zerstört und aus der Welt treibt, eine mit der Antike verbundene Idealkonzeption und den entidealisierenden Blick auf die Antike, das in der Kunst verbürgte Griechenideal und die Schrecken der Geschichte.⁶⁰
Die Verwendung des Reims als formale Verbindung des Disparaten weist Gemeinsamkeiten mit der Gestaltung der Versmaße im Faust II auf, die ebenfalls das Entgegengesetzte in identischen Metren zusammenfügt und auf diese Weise Disparität im formalen Zusammenhang zur Darstellung bringt. Goethe hebt genau dies im West-östlichen Divan als „poetische Technik“ der „Orientalen“ hervor, die ihm dort zum Vorbild dient. Er nennt die formale Wiederholungsstruktur, die auf „ganz fremdartige Gegenstände“ verweist, einen Parallelismus, der, „statt den Geist zu sammeln, selben zerstreut“: Bedenken wir nun daß poetische Technik den größten Einfluß auf jede Dichtungsweise nothwendig ausübe; so finden wir auch hier daß die zweyzeilig gereimten Verse der Orientalen einen Parallelismus fordern, welcher aber, statt den Geist zu sammeln, selben zerstreut, indem der Reim auf ganz fremdartige Gegenstände hinweist.⁶¹
Im Faust II, argumentiert Ernst Osterkamp, eine Deutung aufgreifend, die sich schon bei Emil Staiger findet, münde die Unmöglichkeit eines idealisierenden Antikebilds in die ‚Veroperung‘ der Antike.⁶² Da eine naive Nachahmung der Antike im Zeitalter des Historismus nicht mehr gegeben sei, entbinde die nichtmimetische Form der Musikoper – als solche hatte sie nämlich Schiller in den gemeinsamen Überlegungen „Über epische und dramatische Dichtung“ von 1797 definiert⁶³ – Goethe eines nachahmenden Zugriffs auf die Antike. Goethe selbst Osterkamp, Gewalt und Gestalt, S. 25. Goethe, West-östlicher Divan („Uebergang von Tropen zu Gleichnissen“). In: FA 3.1, S. 200. Vgl. Osterkamp, Gewalt und Gestalt, S. 43: „Der Versuch, darstellerisch den Spagat zwischen Idealisierung und Entidealisierung der Antike zu bewältigen, führt im Spätwerk Goethes aber auch zu bemerkenswerten formalen Konsequenzen. Es läßt sich nämlich beim späten Goethe eine entschiedene Neigung zur Veroperung der Antike beobachten, zur darstellerischen Vergegenwärtigung der Antike mit den ästhetischen Mitteln der Oper.“ Bereits Emil Staiger hat die Tendenz zum Opernhaften im Faust thematisiert. Vgl. Staiger, Goethe, Bd. 3, S. 374: „Da setzt, nicht nur im Szenischen, sondern auch in der Sprache, ein Stilwandel ein, beginnt der Prozeß, der schließlich die alte Tragödie in eine Oper verwandelt. Ein außerordentliches Verfahren, das gleichfalls, wie das Ineinander des Simultanen und Sukzessiven, kein älterer Dichter je gewagt oder nur von weitem ins Auge gefaßt hat.“ Goethe hat die gemeinsam mit Schiller 1797 formulierten Überlegungen zur Erstpublikation in Kunst und Altertum (VI.1, erschienen 1827) 1826 überarbeitet. Vgl. hier insbesondere den letzten Abschnitt „Schiller an Goethe“. In: FA 22, S. 305 f.: „Ich hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper, daß aus ihr wie aus den Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel in einer edlern Gestalt sich loswickeln sollte. In der Oper erläßt man wirklich jene servile Naturnachahmung, und
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3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
aber scheint in seinen Bemerkungen zur Oper weniger an deren Potenzial zur Überwindung eines nachahmenden Verhältnisses zur Antike gelegen zu sein, als vielmehr an dem formalen Rahmen, den diese zur Komposition von Disparatem zur Verfügung stellt. In diesem Sinne kommt Goethe in seinem Aufsatz zu den „Tragischen Tetralogien der Griechen“, der 1823 in der Zeitschrift Über Kunst und Altertum (IV.2) erschien, auf die Oper zu sprechen. Jost Schillemeit hat bereits auf den engen Zusammenhang zwischen diesem Aufsatz und Goethes Entwurf des Helena-Akts als „Satyr=Drama“⁶⁴ hingewiesen.⁶⁵ Der Aufsatz zu den tragischen Tetralogien ist Goethes Reaktion auf die Forschungen Gottfried Hermanns zur Dramenform bei den alten Griechen. Hermann hatte in seiner 1819 publizierten Abhandlung De compositione tetralogiarum tragicarum dissertatio August Wilhelm Schlegels These von der tetralogischen Aufführung der Tragödie im antiken Griechenland aufgegriffen und dahingehend berichtigt, dass der Zusammenhang zwischen den drei Tragödien und dem Satyrspiel einer Tetralogie nicht – wie bisher vermutet – inhaltlicher, sondern vielmehr wirkungsästhetischer und struktureller Natur gewesen sei.⁶⁶ Eben dieser Fokus auf den Strukturzusammenhang findet das Gefallen Goethes in seiner Rezension von Gottfried Hermanns Schrift. So schreibt er: Höchst natürlich und wahrscheinlich nennen auch wir daher die Behauptung gegenwärtigen Programms: eine Tri- oder gar Tetralogie habe keineswegs einen zusammenhängenden Inhalt gefordert, also nicht eine Steigerung des Stoffs, wie oben angenommen, sondern eine Steigerung der äußeren Formen, gegründet auf einen vielfältigen und zu dem bezweckten Eindruck hinreichenden Gehalt.⁶⁷
Als zeitgenössische Umsetzung einer solchen „Steigerung der äußeren Formen, gegründet auf einen vielfältigen […] Gehalt“ führt Goethe zunächst Schillers Wallenstein an, der aufgrund seines unübersichtlichen Stoffes in mehrere Teile zerfalle (ohne dabei eine Mehrteiligkeit im Sinne der antiken dramatischen Tetralogien beabsichtigt zu haben). Der Wallenstein aber münde in einer tragischen
obgleich nur unter dem Namen von Indulgenz, könnte sich auf diesem Wege das Ideale auf das Theater stehlen.“ So hatte Goethe seinen Entwurf des ‚Helena-Akts‘ ursprünglich betitelt. Vgl. Goethe, Paralipomena zum Faust. In: FA 7.1, S. 671: „Helena im Mittelalter // Satyr=Drama, / Episode zu Faust // Concept.“ Vgl. Jost Schillemeit, Satyrspiel und tragische Tetralogien. Zum Kontext eines philologischen Themas beim späten Goethe. In: Formen innerliterarischer Rezeption, hg. von Wilfried Floeck, Dieter Steland und Horst Turk, Wiesbaden 1987, S. 303 – 318, hier: S. 304 f. Vgl. Stefan Greif, Andrea Ruhlig, Kommentar. In: FA 21, S. 949 f. Goethe, Die tragischen Tetralogien der Griechen. In: FA 21, S. 489.
3.1.4 Metrische Enzyklopädie und ‚bewegliche Ordnung‘
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Aporie, von der aus eine Wendung zum satirischen Drama undenkbar sei. Daher nennt Goethe als ein weiteres Beispiel die italienische Oper, der es gelinge, „völlig Unzusammenhängendes auf einander glücklich und schicklich folgen zu lassen“: Nun müssen wir aber, um an die von dem Programm [d. h. Hermanns Abhandlung] eingeleitete Weise, völlig Unzusammenhängendes auf einander glücklich und schicklich folgen zu lassen, durch ein Beyspiel irgend eine Annäherung zu gewinnen, uns über die Alpen begeben, und uns eine italiänische, eine dem Augenblick ganz gewidmete Nation, als Zuschauermasse denken. So sahen wir eine vollkommen ernste Oper in drey Akten, welche, in sich zusammenhängend, ihren Gang ruhig verfolgte. In den Zwischenräumen der drey Abtheilungen erschienen zwey Ballette, so verschieden im Charakter unter einander als mit der Oper selbst; das erste heroisch, das zweyte ins Komische ablaufend, damit die Springer Gewandtheit und Kräfte zeigen konnten. War dieses vorüber, so begann der dritte Akt der Oper, so anständig einherschreitend, als wenn keine Posse vorhergegangen wäre.⁶⁸
Hier wird deutlich, was an der Form der dramatischen Tetralogie und ihrer Fortsetzung in der modernen italienischen Oper für Goethes Arbeit am Faust II von Interesse war: ein Formzusammenhang, der Disparates miteinander verbindet und „völlig Unzusammenhängendes auf einander glücklich und schicklich folgen zu lassen“ vermag. Die ‚Veroperung‘ der Tragödie ist deshalb weniger als die Folge eines problematisch gewordenen Nachahmungs-Anspruchs zu verstehen denn vielmehr als Lösung des Formproblems, das sich Goethe im Faust II stellt. Von daher ist die Tendenz zur Oper relevant für die Gestaltung der metrischen Formen: Denn sie ermöglicht einen formalen Zusammenhang des „völlig Unzusammenhängende[n]“. Dabei lässt sich die Verwendung der metrischen Formen im Faust II nicht auf ein konsistentes Formkonzept zurückführen. Verschiedene Vorstellungen von poetischer Form sind in Goethes metrischer Enzyklopädie am Werk. Mitunter scheint sich die Versform in Bezug auf einen ‚Gehalt‘ zu konstituieren, wie es das programmatische Zitat aus dem Prolegomenon 1 nahelegte: „Gehalt bringt die Form mit / Form ist nie ohne Gehalt.“ Gerade dort, wo, wie in der ironischen Verwendung antiker Versmaße, die Formen als gebrochene erschienen, wurde ein derartiges Formkonzept erstaunlicherweise am ehesten greifbar. Die Vorstellung einer gegenseitigen „Durchdringung“ von Form und Gehalt wird jedoch unterlaufen, sobald man die metrische Gesamtkomposition als ein Beziehungsnetz begreift, in dem die Versmaße ein Eigenleben entwickeln, dessen Bewegung sich völlig unabhängig von einem etwaigen Gehalt vollzieht. Dieses Beziehungsnetz ist das, was einem umfassenden Formprinzip im Faust II am nächsten kommt: Es
Goethe, Die tragischen Tetralogien der Griechen. In: FA 21, S. 490.
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3.1 „Sceptische Beweglichkeit“. Metren in Goethes Faust II
erlaubt,Widersprüche – auch die zwischen Formkonzepten verschiedener Art – in ihrer Disparatheit in eine „bewegliche Ordnung“ zu integrieren und lässt sich so als Umsetzung eines Formkonzepts verstehen, das im Paralipomenon 1 ebenfalls angelegt war („Diese Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen.“). Bei der Produktion eines sekundären Rhythmus durch die Koordination des Nacheinander und Nebeneinander der Metren handelt es sich nicht zuletzt um eine Möglichkeit, überlieferte Formen – auch im Bewusstsein ihrer Gebrochenheit – in der Moderne fortzuschreiben. Dabei dienen die Metren weder als Vorbild klassizistischer Imitation noch als Stoff für Parodie, als „todte[] Form[en]“ werden sie nicht revitalisiert noch als leere Hülsen begriffen; stattdessen werden sie zum Ausgangspunkt einer Formbildung, deren Antrieb in einer „sceptische[n] Beweglichkeit“ liegt.
3.2 „[E]ine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“. Friedrich Nietzsche und der Metrikdiskurs des neunzehnten Jahrhunderts 3.2.1 Takt um 1800 Der ‚Takt‘ war bei den Metrikern des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts ein umstrittener Begriff. Er bezeichnete eine Form von Rhythmus, für die Isochronie und maximale Abstraktion charakteristisch sind: Der Takt besteht nicht aus bestimmten metrischen Mustern, sondern aus identischen Zeitabschnitten, deren beständige Wiederholung die Grundlage für die ‚Füllung‘ mit rhythmischen Figuren bildet. Mit der Übertragung der Taktnotation aus der Musik auf die poetische Metrik im achtzehnten Jahrhundert stellte sich die Frage nach dem Verhältnis von musikalischem zu sprachlichem Rhythmus.¹ Noch brisanter aber war das Problem der Historizität des Rhythmus, das der Takt aufwarf. Denn der Takt wurde um 1800 als eine genuin moderne Form von Rhythmus begriffen und als solche dem antiken Rhythmus gegenübergestellt. Gegen eine Adaption des Takts für die Metrik sprach sich Gottfried Hermann – eine zeitgenössische Autorität auf dem Gebiet der Altphilologie – aus, der in die Geschichte der Metrik eingegangen ist mit seinem Versuch, nach ‚Kantischen Grundsätzen‘ eine Wissenschaft des Rhythmus zu begründen.² Für Hermann bedeutete das, unter Ausschluss empirischer Phänomene die allgemeingültigen Gesetze des Rhythmus herauszuarbeiten.³ In seinem Handbuch der Metrik (1799) schreibt Hermann:
Einen Überblick über die Adaption des musikalischen Takts für metrische Fragestellungen gibt Joh. Nikolaus Schneider, Ins Ohr geschrieben, S. 81– 94. Schneider arbeitet dabei heraus, wie der Takt in der poetischen Metrik vor allem für eine flexiblere Notation syllabotonischer Metren genutzt wurde, vgl. ebd., S. 90 f. Eine komplementäre Perspektive bietet Roman Hankelns Studie Kompositionsproblem Klassik. Antikeorientierte Versmetren im Liedschaffen J.F. Reichardts und einiger Zeitgenossen, Köln 2011, die untersucht, inwiefern die musikalische Adaption von in antiken Metren verfassten Gedichten im achtzehnten Jahrhundert zu einem „Kompositionsproblem“ für die Liedkomposition wurde. Hankeln behandelt dabei auch die musiktheoretische Diskussion des Taktbegriffs, vgl. Hankeln, Kompositionsproblem Klassik, S. 93 – 99 sowie S. 108 – 112. Einen biographischen Überblick und eine Einordnung von Hermanns metrischen Theorien in den zeitgenössischen Rhythmus-Diskurs bietet Clémence Couturier-Heinrich, Gottfried Hermann, un philologue kantien. In: Revue germanique internationale 14 (2011), S. 73 – 90. Vgl. auch Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 133 – 204. In einem differenzierten Überblick über Hermanns Kant-Rezeption in seinen altphilologischen Arbeiten zeigt Michael Schramm, dass die Auseinandersetzung mit Kant – bei einzelnen Misshttps://doi.org/10.1515/9783110693119-011
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3.2 „[E]ine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“
Rhythmus ist die Aufeinanderfolge von Zeitabtheilungen nach einem Gesetz. […] Das Gesetz des Rhythmus, wenn es ein solches giebt, kann erstens nicht subjectiv seyn. […] Das Gesetz des Rhythmus kann zweytens nicht material seyn. […] Das Gesetz des Rhythmus kann drittens nicht empirisch seyn. […] Wenn also der Rhythmus etwas allgemeingültiges seyn soll, so muß das Gesetz desselben 1) ein objectives, 2) ein formales, 3) ein a priori bestimmtes Gesetz seyn.⁴
Dieses „a priori bestimmte[] Gesetz“ des Rhythmus beruhte auf der Annahme einer grundsätzlichen Identität von antikem und modernem Rhythmus; die Idee eines historischen Wandels des Rhythmus war mit Hermanns Projekt unvereinbar. Dennoch gesteht Hermann, in Bezug auf den Takt, im Vorwort zu seinem Handbuch eine historische Differenz zwischen antikem und modernem Rhythmus ein, begrenzt diese aber auf die Musik. Moderne Musik, so Hermann, entstehe aus „eine[m] doppelten Rhythmus“, dem Rhythmus der Melodie und dem des Takts. Im Gegensatz zur antiken Musik, die allein dem Rhythmus der Melodie gefolgt sei, würde die rhythmische Mannigfaltigkeit der Melodie in der modernen Musik durch den Takt eingegrenzt: Die jetzige Musik hat nämlich einen doppelten Rhythmus, den des Takts und den der Melodie. Der Rhythmus des Tacts ist der Grundrhythmus einer Musik, und beherrscht den Rhythmus der Melodie, durch welchen er, bey aller Mannigfaltigkeit desselben, nicht aufgehoben werden kann. Er giebt der Musik Einheit, indem der Rhythmus der Melodie ihr Mannigfaltigkeit verschafft, und macht die sonst sehr schwierige Begleitung mehrerer Stimmen nicht nur möglich, sondern auch leicht. Die Griechische Musik hingegen war von allem Tacte entblößt, und kannte bloß den Rhythmus der Melodie. Hieraus, glaube ich, lassen sich die sonst sehr unwahrscheinlichen Erzählungen von der großen Gewalt der alten Musik auf die Gemüther auf eine völlig befriedigende Art rechtfertigen.⁵
Mit der Beschränkung der rhythmischen Mannigfaltigkeit durch die Einförmigkeit des Takts würde freilich auch die affektive Wirkung der modernen Musik gedämpft: Aber alle diese Mannigfaltigkeit in unserem Rhythmus der Melodie wird durch den Rhythmus des Tacts eines großen Theils ihrer Wirkung beraubt. Denn nicht bloß Einheit bringt der Rhythmus des Tacts in unsere Musik, sondern auch Einförmigkeit. Bey der leidenschaftli-
verständnissen Kantischer Begrifflichkeiten – für Hermanns Entwurf der Philologie als einer Wissenschaft von zentraler Bedeutung war.Vgl. Michael Schramm, Hermann und Kant. Philologie als (Kantische) Wissenschaft. In: Gottfried Hermann (1772– 1848). Internationales Symposium in Leipzig 11.–13. Oktober 2007, hg. von Kurt Sier und Eva Wöckener-Gade, Tübingen 2010, S. 83 – 121, insbesondere S. 120 f. Hermann, Handbuch der Metrik, S. 1– 3. Hermann, Handbuch der Metrik, S. IXf.
3.2.1 Takt um 1800
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chen Musik geht der Rhythmus des Tacts immer seinen ruhigen Gang fort, und die Gemüthsbewegung des Hörers wird in eben dem Grade durch den Tact beruhigt, in welchem sie durch den Rhythmus der Melodie erregt wird. In der alten Griechischen Musik hingegen ist der Rhythmus der Melodie von allem Zwange frey, und da kein einförmiger Tact neben ihm hergeht, wird er allein gehört, und kann mit seiner ganzen Kraft das Gemüth des Zuhörers bewegen.⁶
Hermanns Darlegung des zeitlosen und universalen Gesetzes des Rhythmus beschränkt sich also auf den Rhythmus der Poesie; im Bereich der Musik hingegen nimmt er einen historischen Wandel an, dessen Symptom der Takt sei. Eine Anwendung des Takts auf die poetische Metrik schließt Hermann aus, was er durch die Taktlosigkeit antiker Musik begründet, die er an einem dichterischen Beispiel – Pindars erster Pythischer Ode – nachzuweisen sucht.⁷ Die Inkonsistenzen von Hermanns Argumentation blieben von den Zeitgenossen nicht unbemerkt. So schrieb August Apel, der sich nach anfänglicher Zustimmung gegen Hermanns metrische Theorien wandte, zu dessen Beweisführung in seiner Metrik (1814): Aus dieser angeblichen Taktlosigkeit der Versrhythmen wird nun, durch einen etwas schnellen Schluss, die Taktlosigkeit der griechischen Musik gefolgert, und aus dieser Folgerung wiederum rückwärts die Taktlosigkeit der Versrhythmen gegen die Forderung des Gehörs in Schutz genommen. Man sieht, die Metriker nehmen es mit der Logik nicht immer allzugenau.⁸
Noch vor der Veröffentlichung von Apels Metrik im Jahr 1814 erfährt Gottfried Hermanns Behauptung der Unvereinbarkeit des Taktbegriffs mit der poetischen Metrik Kritik von vielen Seiten. So begreift etwa August Böckh in seiner Abhandlung zu Pindars Versmaßen (Über die Versmaße des Pindaros, 1809) den Takt als einen festen Bestandteil der antiken Rhythmik.⁹ Wenngleich Böckh an der Eindeutigkeit der Transkription von antiken Rhythmen in die moderne Taktno-
Hermann, Handbuch der Metrik, S. XXf. Vgl. Hermann, Handbuch der Metrik, S. XXI–XXIV. Apel, Metrik, S. 12. Vgl. zu Apels Einschätzung von Hermanns Theorien, das sich von Zustimmung zu polemischer Ablehnung wandelte Hermann Ziemke, Johann August Apel. Eine monographische Untersuchung, Greifswald 1933, S. 43 – 48. Einen Umriss des jahrzehntelangen Forschungsstreits zwischen Gottfried Hermann und August Böckh, der unter anderem auf dem Gebiet der Metrik ausgetragen wurde, bietet Thomas Poiss, Zur Idee der Philologie. Der Streit zwischen Gottfried Hermann und August Boeckh. In: Gottfried Hermann (1772– 1848), hg. von Kurt Sier und Eva Wöckener-Gade, S. 143 – 163.Vgl. auch CouturierHeinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 140 sowie S. 156 – 159.
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tation zweifelt, geht er doch von einer prinzipiellen Gültigkeit des Taktprinzips für die antike Rhythmen aus.¹⁰ Denn überall bedürfe das Leben des Menschen Richtigkeit im Zeitmaß und im Zusammenhang. Und doch sollten ihre Rhythmen keine Gleichheit des Maßes gehabt haben? Aber man lese nur alle Gedichte mit angemessenem Ernst und Salbung; wie den Philoxenos der Dithyrambos gegen seinen Willen von der Dorischen Tonart zur Phrygischen hinriß, so zwingt, wie man zu sagen pflegt, der richtige Takt auch den Widerstrebenden zur Beobachtung des Taktes.¹¹
Johann Heinrich Voss nimmt in seiner Schrift Zeitmessung der deutschen Sprache (1802) detaillierte Übertragungen antiker Rhythmen in das moderne Taktsystem vor. In seinen theoretischen Ausführungen dazu knüpft Voss an die von Klopstock geprägte Unterscheidung zwischen prosodischem Wortfuß und metrischem Versfuß an; letzteren versteht als synonym mit dem ‚Takt‘.¹² Diese Trennung zwischen Wortfuß und Versfuß/Takt ermöglicht es Voss, den Takt als konstitutiven Parameter des Verses zu begreifen, ohne den Vers allein durch das abstrakte Prinzip der Isochronie zu definieren. Anhand des Hexameterverses „Flüchtiger rollt es hinab, dann schwer arbeitend den Weg an“, der die Arbeiten des Sisyphos beschreibt, argumentiert Voss für eine zeitliche Differenzierung innerhalb des Verses zwischen einem isochronem Taktmaß und dem davon unabhängigen Wortfuß-Rhythmus: Damit man die Gleichmäßigkeit des Taktes, und die daraus folgende der ganzen rhythmischen Melodie, nicht misverstehe: so füge ich hinzu, was fast der Verzeihung zu bedürfen scheint. Keiner behauptet, daß im Hexametertakt der Spondeus und der Daktylus, weil beiden ein gleich großer Zeitraum ward, die beschiedene Zeit gleich schnell oder langsam hinbringen. Keiner behauptet, daß der aufgewälzte und herabrollende Felsen des Sisyfos in gleich trägen oder geflügelten Hexametern gehört werde. Die sechs Takte jedes Hexameters, behaupten wir, heben sich in gleichem Verhältnis gegen einander; aber die Wortfüße in den
Vgl. Böckh, Über die Versmaße des Pindaros, Berlin 1809, S. 182: „Dieses zur geschichtlichen Begründung der Versuche einer Wiederherstellung des Taktes in den Rhythmen der Alten: Versuche aber werden es immer nur bleiben; denn nur Möglichkeiten sind es, und für einen und denselben Rhythmus haben sich schon mehrere Möglichkeiten der Taktherstellung gefunden; die historischen Zeugnisse aber, welche die Entscheidung geben müßten, verlassen uns hier völlig.“ Böckh, Über die Versmaße des Pindaros, S. 180. Voss, Zeitmessung der deutschen Sprache, S. 97 f.: „Wir verstehn unter Wortfuß die abgezählte Frist und Bewegung sowohl des einfachen und zusammengesezten Wortes, als mehrerer in Verbindung stehender, wenn sie nicht über zwei Hebungen hinausgehn […]. Man unterscheide den Versfuß, oder des Verses gleichgemessenen Schritt, der auch Takt in der Sprache des Musikers heißt.“
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Takten halten ungleichen Gang; und die Lebendigkeit des Vortrags, oder, mit dem Musiker zu reden, das Tempo, wird durch den Inhalt bestimmt.¹³
Diese Ausdifferenzierung innerhalb des Verses von einem „ungleichen“ Rhythmus und einem isochronen Takt veranschaulicht Voss abschließend an einem Vergleich mit der Behandlung des Takts im musikalischen Vortrag: So, wie der Musiker in der künstlerischen Darbietung vom Gleichmaß des Takts mitunter abweiche, sei bei der Deklamation versifizierter Texte das gleichförmige Taktmaß zwar zu berücksichtigen, aber nicht allein maßgeblich für die Interpretation des Versrhythmus. Wir alle empfinden dem Tonkünstler nach, wenn er in einem leidenschaftlichen Solo, bei sorgfältig gehaltenem Takte, dennoch die sanftesten Einschnitte, die zartesten Ruhepunkte der musikalischen Frasen beobachtet, jede Note, wo das Gefühl ausweicht oder höher sich schwingt, vorschallen läßt, jeder Regung der Leidenschaft gemäß die Melodie hier schleift, dort ründet, dort abstößt, dort einen Ton fest, und oft über sein Maß, anhält, und die Bewegung der Taktschritte bald schwächt mit allmählig gedämpftem Klange, bald mit anschwellendem verstärkt und beschleuniget. So und nicht anders muß der Vorleser den gleichmäßig fortschreitenden Takt, und die Melodie des Verses mit Abschnitt und Ausgang, deutlich angeben; zugleich aber den eigenthümlichen Schwung der Wortfüße, den Sprechton samt dem Tone des örtlichen Nachdrucks, und die mit den rhythmischen Gliedern nicht immer zusammentreffenden Absäze des Gedankens, im vielfachen Laute der Empfindung, und, nachdem der Inhalt sich regt, gelassener und heftiger vortragen.¹⁴
Dieser Vergleich zwischen musikalischem Vortrag und Gedicht-Deklamation wird von August Apel in seiner Metrik (1814) für die Legitimation des Takts aufgegriffen. Apel geht es in seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit den Theorien Gottfried Hermanns darum zu zeigen, dass „in allen Rhythmen Takt [sei], Rhythmus ohne Takt lasse sich dem Wesen des Rhythmus nach nicht denken, und die alte Musik sey […] der neuen Musik vollkommen gleich, wenn auch in mancher Rücksicht beschränkter und unvollkommener gewesen.“¹⁵ Anhand des Vergleichs zwischen dem Konzert-Vortrag und der Rezitation eines Gedichts differenziert Apel zwischen dem gleichmäßigen Taktmaß und einem Taktgefühl – im Sinne des freien Umgangs mit der Isochronie des Takts –, das das Taktgesetz dennoch nicht außer Kraft setze. Die Freiheit des Virtuosen […] im Vortrage, hebt also den Takt im Musikstücke selbst nicht auf, und was vom Sänger gilt, das gilt offenbar in noch höherm Grade und mit grösserer
Voss, Zeitmessung der deutschen Sprache, S. 118. Voss, Zeitmessung der deutschen Sprache, S. 178 f. Apel, Metrik, S. 13.
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Freiheit vom Deklamator. […] Die Erhaltung dieser ideellen Taktanschauung, ohne reelle Darstellung des Zeitmessens, würde eine der höchsten Aufgaben der metrischen leidenschaftlichen Deklamation seyn.¹⁶
Dabei legt Apel Wert darauf, dass im musikalischen Vortrag wie in der Deklamation am Taktmaß grundsätzlich festgehalten werde, ohne dadurch die Unabhängigkeit eines Taktgefühls zu mindern, das der Isochronie des Takts nicht unterworfen sei. Dieses Taktgefühl nennt Apel, in Anlehnung an eine Wortprägung Goethes aus der Farbenlehre, den „intentionellen Takt“¹⁷. Apel versteht darunter eine subjektive Aneignung des Taktmaßes. Der Takt wird damit gespalten in die objektiv messbare Isochronie und deren subjektive Realisation. Es fällt in die Augen: Je weniger individuell und subjektiv der Charakter einer Musik ist, um so strenger sind ihre Rhythmen und Melodieen an den Takt gebunden, z. B. in kirchlichen Fugen, Motetten, und im Choralgesang. Je mehr hingegen die musikalische Darstellung sich dem Ausdruck des Individuellen und Subjektiven hingiebt, um so mehr und öfter tritt der Charakter des intentionellen Taktes hervor, der im Recitativ der herrschende wird, indem ihn der Virtuos selbst nach Gefallen (ad libitum) anwendet, wo ihm sein Gefühl sagt, das er statt finde.¹⁸
Die Verhandlung des Taktbegriffs als einer universalen oder einer historischen, einer objektiven oder einer subjektiven Form von Rhythmus, wie man sie an den Diskussionen zwischen den Metrikern Gottfried Hermann, Johann Heinrich Voss, August Böckh und August Apel verfolgen kann, ist dabei im Zusammenhang des zeitgenössischen musiktheoretischen und ästhetischen Diskurses zu betrachten. Um eine Vermittlung des musikalischen Takts mit der poetischen Metrik hatte sich der Musiktheoretiker und Komponist Johann Mattheson bereits im frühen achtzehnten Jahrhundert bemüht. Dabei findet sich schon bei Mattheson die später von Johann Heinrich Voss und August Apel aufgegriffene Differenzierung des Takts in ein isochrones Gleichmaß und ein Taktgefühl, das die Isochronie unterläuft. In seiner Kleinen General-Baß-Schule (1734) schreibt Mattheson:
Apel, Metrik, S. 57 f. Apel, Metrik, S. 53 f.: „Wie der Zuhörer mit dem Festhalten des Sinnes gleichsam über der Parenthese schwebt, so schwebt sein Taktgefühl über der Fermate, die eben dadurch Fermate ist, dass sie bei fortwährendem Taktgefühl, das reelle Fortgehen des Taktes selbst anhält. Man könnte diesen, durch die Fermate angehaltenen Takt, mit dem sinnvollen Ausdruck bezeichnen, den Göthe von den Farben so schön erklärt, und ihn intentionellen Takt nennen. Die Wahrheit dieser Benennung fühlt der Taktschläger am sinnlichsten nächst dem Virtuosen selbst.“ Apel, Metrik, S. 54 f.
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Das beste Gleichniß/ wobey die Natur und Bedeutung des Tacts begriffen, gesehen/ gehöret und gefühlet werden mag, ist ein grosses Schlag-Uhrwerck, dessen Bley-Wage einen ordentlichen geraden Tact führet/ und dadurch die Minuten, Secunden und Tertzen richtig, nach der Zeit-Maasse, eintheilet. Doch ist hiebey zu mercken/ daß alle Abmessungen in Uhrwercken nur einen gleichen Verhalt zum Grunde legen; da hingegen der musicalische Tact nicht nur an ihm selbst ungleich seyn/ sondern auch gantz verschiedene Glieder und Gelencke haben kann.¹⁹
Mattheson unterscheidet hier zwischen dem Takt der Uhr und einem „musicalische[n] Tact“, der – anstatt durch Gleichmaß – durch die Ungleichheit seiner Bestandteile bestimmt sei. Diese zweifache Bestimmung des Takts nimmt Mattheson auch in seine Abhandlung Der vollkommene Capellmeister aus dem Jahr 1739 auf, wo er die „zweyerlei Art[en]“ des Zeitmaßes „mesure“ und „mouvement“ nennt.²⁰ Im Kapitel „Von der Länge und Kürtze des Klanges, oder von der Verfertigung der Klang-Füsse“ unternimmt Mattheson eine detaillierte Übertragung antiker Versfüße in Notenschrift, um dadurch die antike Metrik für die moderne Komposition fruchtbar zu machen: „Das Experiment ist neu, und wir machen es in keiner andern Absicht, als die ungemeine Krafft der Rhythmopöie darzulegen, um dadurch zu weiterm Nachdencken Anlaß zu geben.“²¹ In einem „Von der ZeitMaasse“ überschriebenen Kapitel erklärt Mattheson dann, „wie aus solchen Gliedern gewisse Theile des Körpers zusammen gefüget werden können“, in anderen Worten: wie die „Klang-Füsse“ in einer Komposition angeordnet werden sollten. Sache der „Rhythmopöie“ sei die Beschaffenheit der „Klang-Füsse“, d. h. der rhythmischen Bausteine einer Komposition; ihre Anordnung im Musikstück wiederum werde in der „Rhythmic“ behandelt. In Zusammenhang seiner Erklärung von „Rhythmic“ und „Rhythmopöie“ führt Mattheson den Begriff des Takts ein: Die Rhythmic ist demnach eine Abmessung und ordentliche Einrichtung der Zeit und Bewegung in der melodischen Wissenschafft, wie langsam oder geschwind solche seyn soll; da hingegen die Rhythmopöie nur die Länge und Kürtze der Klänge untersuchet. Mit einem Worte, es ist der Tact, nach gemeiner Redens-Art, welche vom Sinne des Gefühls (a tactu) ihren Ursprung nimmt.²²
Johann Mattheson, Kleine General-Baß-Schule, Hamburg 1735, S. 92 f. Caroline Torra-Mattenklott schlägt vor, die Taktkonzeptionen in den Rhythmustheorien des achtzehnten Jahrhunderts anhand der hier von Mattheson genannten Kategorien „mesure“ und „mouvement“ zu strukturieren, die von einer anthropologischen Begründung der Ästhetik zeugten. Vgl. Torra-Mattenklott, Bewegung und Verhalt, S. 74 f. Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, hg. von Friederike Ramm, Kassel/New York 1999, S. 254. Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, S. 267.
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Im Folgenden differenziert Mattheson dann zwischen zwei Maßstäben, auf denen die Taktordnung beruhe, der mathematischen Einteilung und der Gemütsbewegung: Die Ordnung aber dieser Zeitmaasse ist zweierley Art: eine betrifft die gewöhnlichen mathematischen Eintheilungen; durch die andre hergegen schreibt das Gehör, nach Erfordern der Gemüths-Bewegungen, gewisse ungewöhnliche Regeln vor, die nicht allemahl mit der mathematischen Richtigkeit übereinkommen, sondern mehr auf den guten Geschmack sehen. […] Die erste Art nennet man auf Frantzösisch: la Mesure, die Maaß, nehmlich der Zeit; das andre Wesen aber: le Mouvement, die Bewegung.²³
Während der „mathematische[] Theil der Rhythmic“²⁴ leicht zu lehren und zu erlernen sei, ließe sich ihr zweiter Teil nur schwer in Worte fassen und erschließe sich erst in der Interpretation durch den Musiker: „Aber das zweite und geistigere Stück, […], ich meine das Mouvement, läßt sich schwerlich in Gebote und Verbote einfassen: weil es auf die Empfindung und Regung eines ieden Setzers hauptsächlich, und hiernächst auf die gute Vollziehung, oder den zärtlichen Ausdruck der Sänger und Spieler hier ankömmt.“²⁵ Deutlich zeigt sich an diesem kurzen Umriss von Matthesons Überlegungen zum Taktbegriff, dass die Legitimation des Takts durch die Ausdifferenzierung in ein mathematisch berechenbares Maß und in ein intuitives Taktgefühl, wie sie sich in den Metriken von Johann Heinrich Voss und August Apel findet, bereits in Matthesons musiktheoretischer Reflexion des Begriffs angelegt ist.²⁶ Johann Georg Sulzer nimmt mit seinen anthropologisch fundierten Überlegungen zu Takt und Rhythmus in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste eine
Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, S. 267. Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, S. 269. Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, S. 269. Christopher Hasty arbeitet die Integration eines rationalen und eines intuitiven Taktverständnisses in Matthesons Taktbegriff heraus, hält eine derartige Vermischung der Parameter aber für problematisch. Vgl. Hasty, Meter as Rhythm, S. 24: „We have quoted Mattheson and Rousseau at some length because we find in this writing a frank acknowledgement of an aspect of measured rhythm that resists analysis and quantification—something spontaneously produced and judged attractive or expressive in performance. What is remarkable in this account is the attempt to unite these aspects of the rhythmic within the concept of Zeitmaß. […] This ingenious union is, however, quite problematic. Apart from the difficulty of reconciling a fully describable means with an ineffable end, there is the difficulty of reconciling movement, animation, and the particularity of musical expression with the clocklike regularity of Zeitmaß, which as the measure of time and the receptacle of musical content proceeds with full autonomy and homogeneity.“
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eigene Position im (musik‐)ästhetischen Diskurs der Zeit ein.²⁷ Dabei versteht Sulzer das gemeinhin für seine Monotonie kritisierte Gleichmaß des Takts als notwendige Voraussetzung für die Wirkung jeglicher Form von Rhythmus. Sulzer interessiert in seinen Artikeln „Takt. (Musik)“ und „Rhythmus; rhythmisch“ insbesondere die Entstehung des ‚Gesangs‘ in der Musik, der durch den Takt erst ermöglicht werde. Denn der Takt gewährleiste gerade durch seine Uniformität, die bei Sulzer so eine affirmative Umdeutung erfährt, die anhaltende Wirkung von Musik. Zum Gesange wird also nothwendig eine solche Folge von Tönen erfodert, die sich in gleichlange Glieder eintheile, damit das Gehör die Einförmigkeit der Bewegung, und durch diese das Gleichartige der Empfindung fühle. Diese gleichlangen Glieder aber müssen auch gleichförmig zusammengesetzt seyn. Denn ohne diese Gleichförmigkeit würde das Gleichartige der Empfindung sich verlieren. […] Diese gleichlangen und gleichförmigen Glieder nun machen das aus was man den Takt in der Musik nennt.²⁸
Im Artikel zum Rhythmus schließlich zeigt sich, dass beide Begriffe – Rhythmus und Takt – bei Sulzer sogar bis zu einem gewissen Grad konvergieren. Sulzer versteht den isochronen Takt ausdrücklich nicht als Gegensatz zu einem mannigfaltigen Rhythmus, sondern vielmehr als dessen „erste und einfacheste Art“: Nach dieser vorläufigen Erläuterung, können wir nun schon etwas näher bestimmen, was eigentlich der Rhythmus in einer Folge von Tönen sey. Nämlich überhaupt die Eintheilung dieser Folge in gleich lange Glieder, so, daß zwey, drey, vier oder mehr Schläge ein Glied dieser Reihe ausmachen, das nicht blos willkührlich, sondern durch etwas, das man würklich empfindet, von andern unterschieden sey. Dieses ist eigentlich das, was man in der Musik den Takt und in der Poesie das Sylbenmaaß nennet, und zugleich die erste und einfacheste Art des Rhythmus. Dieser einfache Rhythmus hat schon vielerley Arten.²⁹
In ihrer Wirkung – der kontinuierlichen Stimulation von Empfindungen – sind Rhythmus und Takt für Sulzer damit weitgehend identisch: „Wir sind also durch gewisse Erfahrungen überzeuget, daß der Rhythmus da nothwendig sey, wo ein durchaus gleichartiges Bestreben, oder eine durchaus gleichartige Empfindung soll anhaltend seyn.“³⁰
Vgl. Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 39 – 48. Sulzer, Tact. (Musik.). In: Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 4, S. 491. Sulzer, Rhythmus; Rhythmisch. In: Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 4, S. 93. Sulzer, Rhythmus; Rhythmisch. In: Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 4, S. 98.
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Wie Sulzer wird später auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik vor allem die Einförmigkeit des Takts als dessen wesentliche Leistung begreifen. Die mithilfe des Takts hergestellte Uniformität – als die „durch das Subjekt in die Zeit hineingesetzte Einheit“³¹ – versichere das Subjekt seiner Identität mit sich selbst. Im Abschnitt zu „Zeitmaß, Takt, Rhythmus“ in der Musik heißt es in Hegels Ästhetik: In dieser Einförmigkeit findet das Selbstbewußtsein sich selber als Einheit wieder, insofern es teils seine eigene Gleichheit als Ordnung der willkürlichen Mannigfaltigkeit erkennt, teils bei der Wiederkehr derselben Einheit sich erinnert, daß sie bereits dagewesen sei und gerade durch ihr Wiederkehren sich als herrschende Regel zeige. Die Befriedigung aber, welche das Ich durch den Takt in diesem Wiederfinden seiner selbst erhält, ist um so vollständiger, als die Einheit und Gleichförmigkeit weder der Zeit noch den Tönen als solchen zukommt, sondern etwas ist, das nur dem Ich angehört und von demselben zu seiner Selbstbefriedigung in die Zeit hineingesetzt ist.³²
Bei seiner Interpretation der Gleichförmigkeit des Takts als identitätssichernd plädiert Hegel allerdings für den Ausschluss des Takts aus der Poesie. Die Übertragung des Takts aus der Musik auf die Dichtung, wie sie von seinen Zeitgenossen praktiziert wurde, möchte Hegel revidieren. Die Musik mit dem ephemeren Ton als ihrem Material bedürfe der abstrakten Taktordnung, die Dichtung hingegen nicht, da dort der Sprache durch die „innere Vorstellung“ bereits eine „Festigkeit“ eigne, die der Takt erst in die Musik einführe. Das bemerkt Hegel im Kapitel zur Poesie hinsichtlich der Versifikation: Wie sehr nun aber in betreff auf das Zeitmaß Musik und Poesie die ähnlichen Bedürfnisse befriedigen, so dürfen wir doch die Unterschiedenheit beider nicht unerwähnt lassen. Die wichtigste Abweichung bringt hier der Takt hervor. Man hat deshalb vielfach hin und her gestritten, ob eine eigentlich taktmäßige Wiederholung der gleichen Zeitabschnitte für die Metra der Alten anzunehmen sei oder nicht. Im allgemeinen läßt sich behaupten, daß die Poesie, welche das Wort zum bloßen Mitteilungsmittel macht, sich in Ansehung der Zeit
Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke Bd. 13, S. 323: „Der Takt erscheint daher als etwas rein vom Subjekt Gemachtes, so daß wir nun auch beim Anhören die unmittelbare Gewißheit erhalten, in dieser Regulierung der Zeit nur etwas Subjektives zu haben, und zwar die Grundlage der reinen Gleichheit mit sich, die das Subjekt als Gleichheit und Einheit mit sich und deren Wiederkehr [es] in aller Verschiedenheit und buntesten Mannigfaltigkeit an sich selber hat. Dadurch klingt der Takt bis in die tiefste Seele hinein und ergreift uns an dieser eigenen, zunächst abstrakt mit sich identischen Subjektivität. Von dieser Seite her ist es nicht der geistige Inhalt, nicht die konkrete Seele der Empfindung, welche in den Tönen zu uns spricht; ebensowenig ist es der Ton als Ton, der uns im Innersten bewegt; sondern es ist diese abstrakte, durch das Subjekt in die Zeit hineingesetzte Einheit, welche an die gleiche Einheit des Subjekts anklingt.“ Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, S. 166.
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dieser Mitteilung nicht einem absolut festen Maße für die Fortbewegung in so abstrakter Weise unterwerfen dürfe, als dies in dem musikalischen Takte der Fall ist. In der Musik ist der Ton das Verklingende, Haltlose, das einer Festigkeit, wie der Takt sie hereinbringt, schlechthin bedarf; die Rede aber braucht dies Feste nicht, weil sie einerseits in der Vorstellung selbst ihren Anhalt hat und andererseits sich überhaupt nicht vollständig in das Äußerliche des Klingens und Verklingens hineinlegt, sondern gerade die innere Vorstellung zu ihrem wesentlichen Kunstelemente behält.³³
Die Anwendung des Takts auf die Metrik habe die Ununterscheidbarkeit von Musik und Dichtung zur Folge, die Hegel revidieren möchte, weshalb er sich dafür erklärt, die Verwendung des Takts auf die Musik zu begrenzen. Wollte sich deshalb das Metrum ganz der Gesetzgebung des Taktes beugen, so wäre der Unterschied zwischen Musik und Poesie, in dieser Sphäre wenigstens, durchweg ausgelöscht, und das Element der Zeit würde sich überwiegender, als die Poesie es ihrer ganzen Natur nach gestatten darf, geltend machen. Dies läßt sich als Grund für die Forderung hinstellen, daß in der Poesie wohl ein Zeitmaß, aber kein Takt herrschen, sondern dem Sinn und der Bedeutung der Worte die relativ durchgreifendere Macht über diese Seite bleiben müsse.³⁴
Von der (eingeschränkt) positiven Bewertung, die die Uniformität des Takts bei Sulzer und Hegel erfährt, sind zeitgenössische Positionen abzugrenzen, die den Takt als Dekadenzerscheinung einer verloren geglaubten Mannigfaltigkeit der antiken Rhythmen begreifen – eine Vorstellung, die auch Gottfried Hermanns These von der Taktlosigkeit antiker Musik zugrunde lag.³⁵ Maßgeblich beeinflusst wurde dieses Dekadenznarrativ durch die im Jahr 1673 veröffentlichte Schrift De poematum cantu et viribus rhythmi des niederländischen Altphilologen Isaac Vossius.Vossius zufolge sei das quantitative Silbenmaß der Antike durch den Takt ersetzt worden, wodurch die moderne Dichtung ihre Sangbarkeit und Wirkungskraft eingebüßt habe.³⁶ Anstelle der rhythmischen Mannigfaltigkeit sei die Uniformität des Takts getreten: „[M]it einem Worte, unserer Musik fehlt es jetzt an
Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, S. 296. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, S. 296 f. Vgl. zu geschichtsphilosophischen Rhythmus-Theorien im achtzehnten Jahrhundert Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 87– 132. Isaac Vossius, Abhandlung vom Singen der Gedichte, und von der Kraft des Rhythmus. In: Musikalisch-kritische Bibliothek, hg. von Johann Nicolaus Forkel, Bd. 3, Gotha 1779, S. 1– 107, hier: S. 103: „Aber unsere jetzige vierfache Theilung, welche man Takt nennt, weil anstatt der ehemaligen Sylbenfüße die Hände den Dienst verrichten müssen, ist viel zu langsam und träge, als daß das Sylbenmaaß dadurch gehörig abgetheilt werden könnte.“ (Übersetzung des Musikhistorikers Johann Nikolaus Forkel)
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mannichfaltigen Taktarten so sehr, daß man mit Wahrheit von ihr sagen kann, sie habe überall nur eine einzige Farbe, und nur einerley Geschmack“³⁷. Neben Johann Georg Sulzer, der sich mit seinem anthropologischen Ansatz allerdings von Vossius abgrenzte, rezipierte im achtzehnten Jahrhundert auch Jean-Jacques Rousseau Vossius’ Abhandlung.³⁸ Im Anschluss daran schrieb Rosseau im Artikel „Battre la mesure“ seines Dictionnaire de musique, dass die moderne Praxis des Taktschlagens in erster Linie von der Unfähigkeit der Zuhörer zeuge, den Rhythmus in seiner Mannigfaltigkeit zu empfinden: On s’imagine qu’un Auditeur ne bat par instinct la Mesure d’un Air qu’il entend, que parce qu’il la sent vivement; & c’est, au contraire, parce qu’elle n’est pas assez sensible ou qu’il ne la sent pas assez, qu’il tache, à force des mouvemens des mains & des pieds de suppléer ce qui manque en ce point à son oreille.³⁹
Das moderne Taktschlagen produziere, im Gegensatz zur reizvollen Variation der antiken Rhythmen, nichts als einen ‚unangenehmen und überflüssigen Lärm‘: Tout ce bruit si désagréable & si superflu parmi nous, à cause de l’égalité constante de la Mesure, ne l’étoit pas de même chez eux [les Ancients], où les fréquens changemens de pieds & de Rhythmes exigeoient un Accord plus difficile & donnoient au bruit même une variété plus harmonieuse & plus piquante.⁴⁰
Vossius, Abhandlung vom Singen der Gedichte, S. 105. Vgl. zur Vossius-Rezeption bei Sulzer und anderen Autoren des achtzehnten Jahrhunderts Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 41– 43. Jean-Jacques Rousseau, Battre la Mesure. In: Rousseau, Collection complète des Oeuvres de Jean-Jacques Rousseau, Bd. 9.1– 2: Dictionnaire de Musique, hg. von Pierre Alexandre Du Peyrou und Paul Moultou, Bd. 9.1, Genf 1782, S. 82. Vgl. zur Rezeption von Jean-Jacques Rousseaus Dictionnaire de musique in den Rhythmustheorien des achtzehnten Jahrhunderts, insbesondere bei August Wilhelm Schlegel, Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 108 – 113. Rousseau, Battre la Mesure, S. 82. Vgl. auch den Artikel „Rhythme“, wo es heißt, dass die modernen Verse nur über einen einzigen Versfuß verfügten. Rousseau, Rhythme. In: Dictionnaire de Musique, Bd. 9.2, S. 161: „Nos vers, dit-il [Rousseau bezieht sich hier auf Vossius und dessen Schrift De poematum cantu], sont précisément comme s’ils n’avoient qu’un seul pied; de sorte que nous n’avons dans notre poésie aucun rhythme véritable, et qu’en fabriquant nos vers nous ne pensons qu’à y faire entrer un certain nombre de syllabes, sans presque nous embarrasser de quelle nature elles sont: ce n’est surement pas là de l’étoffe pour la musique.“
3.2.2 Takt in der Metrik des zwanzigsten Jahrhunderts
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3.2.2 Takt in der Metrik des zwanzigsten Jahrhunderts Die Fäden der Takt-Debatte um 1800 werden in den Metriken des zwanzigsten Jahrhunderts auf unterschiedliche Weisen aufgegriffen. An die Auffassung des Takts als dem Anzeichen einer in der Moderne verlorenen rhythmischen Vielfalt knüpft der Musikwissenschaftler Thrasybulos Georgiades in seinen musiktheoretischen Studien zum antiken Rhythmus an. Der Taktordnung liege die Vorstellung einer grundsätzlich ‚leeren Zeit‘ zugrunde, während die antiken Rhythmen, in ihrer körperlichen Konkretheit, ‚erfüllte’ Zeit darstellten: „War für das Prinzip des abendländischen Rhythmus der Ausdruck leere Zeit zutreffend, so wollen wir den griechischen Rhythmus als die erfüllte Zeit bezeichnen.“⁴¹ Die Durchsetzung einer abstrakten Behandlung der Zeit in der Metrik datiert Georgiades auf das achtzehnte Jahrhundert, wo sich in der Musik der Wiener Klassik der Takt in Analogie zu Kants Auffassung der Zeit als einer reinen Form der Anschauung herausbildete: „Man erinnert sich dabei, daß das gleiche Jahr, 1781, die Kantischen bloßen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, gebracht hat, und es liegt nahe, den reinen Zeitbegriff und den reinen Taktbegriff als parallele Wendungen des abendländischen Geistes anzusprechen.“⁴² Auch Leif Ludwig Albertsen begreift in seinen Arbeiten zur poetischen Metrik den Takt als ein metrisches Regime der Moderne. Im achtzehnten Jahrhundert konkurriere mit der „metrischen Poesie“⁴³, die auf dem Prinzip der Silbenquantität basiere, die „motorische Poesie“, die den Takt als metrischen Parameter zu naturalisieren versuche. Im 18. Jahrhundert ist die Lage die: Man befindet sich in einer Epoche der Motorik, des akzentuierenden Taktstrichs, der das 18. und 19. Jahrhundert entschieden beherrscht. Ein Großteil der in dieser Zeit entstandenen Musik und Dichtung bekennt sich zu einem
Thrasybulos Georgiades, Sprache als Rhythmus. In: Georgiades, Kleine Schriften, Tutzing 1977, S. 81– 96, hier: S. 90. Die geschichtsphilosophische Einordnung von Rhythmus und Takt dient Georgiades dabei zum Brückenschlag zwischen der Rhythmik des modernen neugriechischen Volkslieds und der antiken Quantitätsrhythmik. Vgl. Thrasybulos Georgiades, Der griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache, Hamburg 1949, S. 74: „Wir stellen plötzlich fest, daß die totgeglaubte Quantitätsrhythmik lebt, aber nicht in der Sprache, wo der Philologe freilich sie vergebens sucht, sondern dort, wo er sie nicht vermutet, in der Musik, in die sie sich geflüchtet hat; dort verborgen, führt sie ein eigenes Leben weiter. Das neugriechische Volkslied erscheint also wie ein Zwittergebilde: Mit einem Fuß steht es auf dem christlich-abendländischen Boden der akzentuierenden, leiblosen Sprachen, mit dem anderen aber auf der heidnischen Antike durch die unzerspaltene musikalisch-rhythmische Haltung.“ Georgiades, Aus der Musiksprache des Mozart-Theaters. In: Georgiades, Kleine Schriften, S. 9 – 32. Leif Ludwig Albertsen, Die freien Rhythmen. Rationale Bemerkungen im allgemeinen und zu Klopstock, Aarhus 1971, S. 26.
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3.2 „[E]ine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“
Quadratismus, nach dem sich alles in Vier- oder Dreivierteltakte bringen lasse. Der Takt mit seinem regelmäßigen Wechsel zwischen guten und schlechten Teilen wird für ein menschliches Urphänomen gehalten, das man im Marsch, im Tanz, in der Umarmung, – noch seltsamer: im Herz, im Atmen, im Wechsel des Mondes und der Jahreszeiten wiederfinden will.⁴⁴
Neben der im zwanzigsten Jahrhundert vor allem im Rahmen vitalistischer Rhythmustheorien virulenten Taktkritik fehlt es aber auch nicht an Versuchen, das musikalische Taktsystem – im Sinne von Johann Heinrich Voss und August Apel – für die Metrik produktiv zu machen.⁴⁵ Andreas Heuslers Definition des Verses als „taktierte[r], takthaltige[r] Rede“ in seiner Deutschen Versgeschichte (1925 – 1929) etwa hat sich als sehr einflussreich erwiesen.⁴⁶ Heusler begreift den Takt dabei nicht als Merkmal einer spezifisch modernen Metrik, sondern als wesentliche Eigenschaft des „germanische[n] Vers[es]“⁴⁷, die den mittelalterlichen und neuzeitlichen deutschen Vers gleichermaßen präge („Unsre Versgeschichte hat es im allgemeinen nur mit gleichtaktigen Versarten zu tun.“⁴⁸).⁴⁹ Beispielhaft für eine Tradierung des Heuslerschen Taktbegriffs ist Erwin Arndts 1958 erschienene Deutsche Verslehre, die vom Verstakt als einem „Baustein“⁵⁰ des deutschen Verses ausgeht. Dabei betont Arndt allerdings, dass es sich beim Takt
Albertsen, Die freien Rhythmen, S. 25. Einen umfassenden Entwurf zum Takt als einem modernen Dekadenzphänomen liefert außerdem Eske Bockelmann, der einen Zusammenhang herzustellen versucht zwischen der Taktmetrik, der Entstehung der modernen Geldwirtschaft und der cartesianischen Philosophie. Vgl. Eske Bockelmann, Im Takt des Geldes. Zur Genese des modernen Denkens, Springe 2012, S. 189. Vgl. zu einer vitalistisch geprägten Taktkritik etwa Ludwig Klages’ 1934 veröffentlichen Vortrag: Ludwig Klages, Vom Wesen des Rhythmus, Kampen auf Sylt 1934, S. 15: „Beachten wir auch gleich, daß wir die metronomisch genaue Wiedergabe einer Tondichtung, den skandiert vorgetragenen Vers, den Parademarsch und alles Ähnliche als etwas vergleichsweise Seelenloses und Totes erleben und solche Leistungen ‚mechanisch‘ zu nennen pflegen, womit wir zum Ausdruck bringen, eine vollkommenste Regelerscheinung sei die Maschine und die Maschinenbewegung vernichte den Rhythmus.“ Einen Überblick über den vitalistischen Rhythmusdiskurs um 1900 bietet Christine Lubkoll, Rhythmus. Zum Konnex von Lebensphilosophie und ästhetischer Moderne um 1900, S. 83 – 110. Vgl. Heusler, Deutsche Versgeschichte, Bd. 1, S. 4: „Wie grenzen wir die Dichtung von der Prosa ab? […] Als entscheidend gilt uns ein gehörmäßiges Merkmal: der Takt. ‚Verse‘ sind uns taktierte, takthaltige Rede.“ Heusler, Deutsche Versgeschichte, Bd. 1, S. 75. Heusler, Deutsche Versgeschichte, Bd. 1, S. 27. Vgl. zum Einfluss Apels auf Heusler auch Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 23 f. Erwin Arndt, Deutsche Verslehre. Ein Abriß, 7. Aufl., Berlin 1975, S. 24.
3.2.2 Takt in der Metrik des zwanzigsten Jahrhunderts
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lediglich um einen „Hilfsbegriff“⁵¹ handle; er legt Wert darauf, den abstrakten Takt abzugrenzen vom „lebendigen Rhythmus“: Mit Heusler das Wesen des Verses allein in der „takthaltigen Rede“ zu sehen, wäre demnach zu eng. Entweder ist der Takt eine rein mechanische Größe und bezeichnet den etwa gleichen Abstand von Hebung zu Hebung, oder er wird, wie in unserem Abriß, als rein abstrakter Begriff gefaßt und kann damit niemals Grundelement des lebendigen Rhythmus sein. Außerdem lassen sich nicht mehr alle Verse taktmäßig gliedern.⁵²
Noch 1988 hat Christoph Küper in seiner Studie Sprache und Metrum den Versuch unternommen, den Taktbegriff, ohne den ideologischen Ballast der Heuslerschen Prägung, für die linguistische Metrik zu rehabilitieren.⁵³ Der taktierende Vers stellt für Küper einen von fünf möglichen Versifikationstypen dar. Dessen Beschreibung greift Merkmale auf, die aus der Diskussion des Begriffs um 1800 bekannt sind, wie etwa die Kongruenz des taktierenden Verses mit dem musikalischen Takt und die Isochronie: Das Taktprinzip hat zur Voraussetzung den Sprechtakt (die Tongruppe), eine sprachliche (rhythmische) Größe; zusätzlich aber kommt dabei auch ein musikalisch-rhythmisches Prinzip ins Spiel, das zum einen gegenüber dem Sprachrhythmus eine stärkere Tendenz zur Isochronie der Takte und zum anderen eine Gruppierung von (zweimal) zwei Viererformationen zu einer größeren Einheit impliziert.⁵⁴
Sebastian Donat hat Christoph Küpers Verwendung des Taktbegriffs dafür kritisiert, dass sie einen „Ebenenwechsel“ vollziehe, indem sie die Eigenschaft der Isochronie aus der performativen Deklamation heraus begründe, wodurch der Bereich der systematischen Metrik überschritten werde.⁵⁵ Der von Donat bemerkte
Arndt, Deutsche Verslehre, S. 86: „Der Takt ist nur ein Hilfsbegriff. Im lebendigen Vortrag wird die taktmäßige Gliederung immer frei umspielt.“ Arndt, Deutsche Verslehre, S. 50. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist außerdem Anita-Mathilde Schrumpfs Arbeit zu Hölderlins Elegien zu erwähnen, die versucht, den Takt durch historische Situierung als tragfähigen Parameter einer historischen Metrik zu entwickeln. Vgl. Anita-Mathilde Schrumpf, Sprechzeiten. Rhythmus und Takt in Hölderlins Elegien, Göttingen 2011. Christoph Küper, Sprache und Metrum. Semiotik und Linguistik des Verses, Tübingen 1988, S. 257. Vgl. Sebastian Donat, Deskriptive Metrik, Innsbruck/Wien/Bozen 2010, S. 58: „Mit der Einbeziehung des Takts vollzieht Küper (eingestandenermaßen) einen Ebenenwechsel. Denn letztlich ausschlaggebend für das Vorliegen einer Taktgliederung ist nicht die sprachliche Verfaßtheit eines Textes, sondern die Relevanz oder Irrelevanz einer bestimmten Vortragskonvention sowie der entsprechenden rhythmischen Erwartung beim Leser.“ Donat bezieht sich hier insbesondere
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3.2 „[E]ine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“
„Ebenenwechsel“ verbindet Küpers Begründung des Taktbegriffs mit dessen Legitimation bei Johann Heinrich Voss und August Apel, die die Verwendung des Takts in der Metrik ebenfalls durch die Verknüpfung von Takt und Rezitation bzw. musikalischer Interpretation rechtfertigten. Zuletzt hat Remigius Bunia, der in seiner Metrik-Studie Takttheorien anhand des Begriffs der „Uhrfähigkeit“⁵⁶ verhandelt, für eine Trennung des metrischen Prinzips der „Uhrfähigkeit“, d. h. der Isochronie, von musikästhetischen Grundlegungen der Metrik plädiert: „[E]s ist ein Gemeinplatz, dass Verse und Musik eng miteinander verbunden seien. Gegen die Behauptung ist nichts einzuwenden, denn sie ist zweifellos wahr. Es ist offenkundig, dass sich jeder Liedtext als – durch die Musik – gebundene Sprache begreifen lässt. Die Verwandtschaft von Musik und Versdichtung gründet sich nur nicht auf die Uhr.“⁵⁷ Deutlich wird aus diesen kursorischen Hinweisen zur Reflexion des Taktbegriffs in der Metrik des zwanzigsten Jahrhunderts, wie die von den Metrikern zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts entwickelten Auffassungen des Takts fortgeschrieben wurden. Takt verspricht nach wie vor eine Engführung von musikalischem und sprachlichem Rhythmus sowie die Verknüpfung von systematischen und performativen Ansätzen. Aus historischer Sicht bleibt der Takt eng verbunden mit modernekritischen Anliegen. Vermittelt werden diese Linien des Metrikdiskurses zwischen dem frühen neunzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert unter anderem durch Friedrich Nietzsche, in dessen philologischen Studien sich die verschiedenen Stränge der Diskussion um den Takt verfolgen lassen.⁵⁸
3.2.3 Nietzsches Takt: Die Historizität des Rhythmus Die Einsicht in die historische Differenz zwischen dem Rhythmus der Antike und dem der Moderne betrachtete Friedrich Nietzsche als das größte Verdienst seiner philologischen Studien aus der Zeit der Basler Professur. Wie für die Metriker des frühen neunzehnten Jahrhunderts stellte auch für Nietzsche der Takt den zen-
auf Küpers „Hypothese, nach der taktierende Verse […] stärker als nicht taktierende zu einer isochronen Rezitation ‚hindrängen‘.“ (Küper, Sprache und Metrum, S. 280) Vgl. Bunia, Metrik und Kulturpolitik, S. 58 – 63. Bunia, Metrik und Kulturpolitik, S. 61. Vgl. zur Bedeutung Nietzsches für die Rezeption der Rhythmus-Theorien des neunzehnten Jahrhunderts im zwanzigsten Jahrhundert auch Janina Wellmann, Form des Werdens, S. 12.
3.2.3 Nietzsches Takt: Die Historizität des Rhythmus
187
tralen Angelpunkt in der Auseinandersetzung mit einem historisch begriffenen Rhythmus dar.⁵⁹ An Erwin Rohde schrieb er am 23. November 1870: [A]n meinem Geburtstag hatte ich den besten philologischen Einfall, den ich bis jetzt gehabt habe – nun, das klingt freilich nicht stolz, soll’s auch nicht sein! Jetzt arbeite ich an ihm herum. Wenn Du es mir glauben willst, so kann ich Dir erzählen, daß es eine neue Metrik giebt, die ich entdeckt habe, der gegenüber die ganze neuere Entwicklung der Metrik von G. Hermann bis Westphal oder Schmidt eine Verirrung ist. Lache oder höhne wie du willst – mir selber ist die Sache sehr erstaunlich. Es giebt sehr viel zu arbeiten, aber ich schlucke Staub mit Lust, weil ich diesmal die schönste Zuversicht habe und dem Grundgedanken eine immer größere Tiefe geben kann.⁶⁰
Bei dem erwähnten „philologischen Einfall“ handelt es sich um die Entdeckung des „πρῶτον ψεῦδος“ ⁶¹ der Metrik des neunzehnten Jahrhunderts, d. h. der irrtümlichen Anwendung des Takts auf die antike Metrik. „Die Ausbildung jener Gleichsetzung von Takt u. pous, vor allem der Ictustheorie, ist die Geschichte der modernen Rhythmik. […] Die allgemeine Behauptung gilt, daß eine zeitmessende Rhythmik nothwendig auch accentuirend sein müsse. Historisch ist das falsch“⁶², heißt es in einem Text mit dem Titel „Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik“ aus Nietzsches Vorlesungsaufzeichnungen aus den Jahren 1870 – 71. In verschiedenen Notizen bekräftigt Nietzsche, dass der „Ictus“, d. h. der Schlag, den er als konstitutiv für die Etablierung der Taktordnung begreift, in der altgriechischen Metrik nicht existierte: „Der rhythmische Ictus den Alten unbekannt. Also ist
Auf die Kontinuität zwischen Nietzsches Rhythmusbegriff und der metrischen Tradition des neunzehnten Jahrhunderts (insbesondere Gottfried Hermann), die Nietzsche selbst weitgehend abstritt, weist auch Christian Emden hin. Vgl. Christian Emden, Sprache, Musik und Rhythmus. Nietzsche über die Ursprünge von Literatur. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 121/2 (2002), S. 203 – 230, hier: S. 228. Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, 23. November 1870. In: Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, 8 Bde., hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/ New York 1986, Bd. 3, S. 159. Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik. In: Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, begr. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, Berlin/New York 1967 ff. (im Folgenden KGW), Bd. II.3, S. 267: „Gegen alle diese differierenden Systeme behaupte ich eine Grunddifferenz: jene nämlich haben etwas Gemeinsames, und hier steckt das πρῶτον ψεῦδος. Eine spätere historische Charakteristik wird zeigen, daß die Differenzen nur im consequenteren oder weniger consequenten Durchführen ihres Grundirrthums liegen. Jetzt endlich kommt auch die antike Überlieferung zu ihrem Recht u. wird nicht (wie es selbst von den Vorfechtern geschah) geknickt u. gebrochen.“ Nietzsche, Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik. In: KGW II.3, S. 269.
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3.2 „[E]ine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“
unser Takt etwas Anderes als pes.“⁶³ Die Entstehung des modernen Takts führt Nietzsche zurück zum einen auf das Volkslied und zum anderen auf die Ausbildung polyphoner Musik, in der das Taktmaß die Synchronisation mehrerer Stimmen ermöglicht habe.⁶⁴ Dabei geht es Nietzsche mit seiner Einsicht in die Historizität des Rhythmus nicht allein um die Korrektur eines zeitgenössischen wissenschaftlichen Paradigmas der Altphilologie, sondern auch um die Möglichkeit einer Kultivierung von rhythmischer Sensibilität in der Moderne.⁶⁵ Denn mit der Verbreitung des Taktsystems sei nicht allein die Mannigfaltigkeit antiker Rhythmik verloren gegangen, sondern auch das rhythmische Empfindungsvermögen. Die Ubiquität des Takts versperre dem modernen Leser und Hörer den Genuss der antiken Rhythmen.⁶⁶ So schreibt Nietzsche in seinen Bemerkungen „Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik“: Bei diesem etwas bombastisch klingenden Versprechen ist nun andrerseits hinzuzufügen, daß meine Theorie viel Vergnügen wegräumt, was die andern bereiteten. Die andern hatten zum Ziel, uns zum Genuß der rhythm. Schemata zu bringen; jedes System brachte es zu excentrischer Begeisterung. […] Rechnet man den Triumph über die eigenen Entdeckungen ab, die mitunter zu einem dithyramb. Tone verleiten, so bleibt ein Genuß übrig, den ich mit dem am Trommelschlag vergleichen muß: für mein Gefühl hat eine pathetische Verherrlichung der Trommelschlägergenüsse etwas Komisches u. Heiteres. Nun kommt aber hinzu, daß – nach meinem Nachweis – in die antiken Rhythmen erst wir aus unserer modernen Gewöhnung hineingetragen haben, was wir nachher bewundern. Bei den Alten war nichts davon darin. – Meine Aufgabe ist vielmehr, die Kluft des Hellenischen in ihren rhythmischen
Nietzsche, Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik. In: KGW II.3, S. 225. Vgl. auch ebd., S. 230: „Die Griechen haben demnach gar nicht unsern Tact, aber eine strenge Zeitmessung. Oder sie haben den Tact nicht gekannt.“ Vgl. Nietzsche, Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik. In: KGW II.3, S. 269. Die Entstehung der christlichen polyphonen Kirchenmusik nimmt bereits Jean-Jacques Rousseau im Artikel „Plain-Chant“ seines Dictionnaire de Musique als Ursache des Verfalls des antiken Rhythmus an. Vgl. Couturier-Heinrich, Aux origines de la poésie allemande, S. 110 – 113. Vgl. dazu auch Friederike Felicitas Günthers Arbeit zum Rhythmus beim frühen Nietzsche, die Nietzsches Verständnis von Rhythmus als einer „anthropologische[n] Technik“ herausarbeitet: Friederike Felicitas Günther, Rhythmus beim frühen Nietzsche, Berlin/New York 2008, S. 1 sowie S. 96 – 117. Vgl. zu Nietzsches Projekt einer Geschichte der rhythmischen Sensibilität in den philologischen Studien auch James Porter, Nietzsche and the Philology of the Future, S. 134– 144. Vgl. auch Nietzsche, Encyclopädie der klassischen Philologie. In: KGW II.3, S. 401: „Im Ganzen sehen wir, daß unsere Vortragsart viel leidenschaftlicher ist, der Accent herrscht bei uns dh. die leidenschaftl. Erregung. Bei den Griechen ist es der Genuß an Zeitproportionen, bei uns an Erregungen u. Milderungen. Hier ist eine ungeheure Kluft. Hier stark u. schwach, dort kurz und lang. Wir haben den starren Mechanism. der Taktgleichheit. Darin waren die Alten viel feinfühliger: hier ist unser Zeitgefühl roh.“
3.2.3 Nietzsches Takt: Die Historizität des Rhythmus
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Genüssen vor uns klar zu machen – wobei wir als moderne Menschen viel Verzicht zu leisten haben.⁶⁷
Der Genuss, den die Metriken von Nietzsches Vorgängern bereitet hatten, bestehe – neben dem Gefallen an der eigenen Leistung – in der Freude am „Trommelschlag“, d. h. an der Monotonie des Taktschlags, die Nietzsche hier verspottet. Selbst unter Verzicht auf die „Trommelschlägergenüsse“ der modernen Metriker aber seien die antiken Rhythmen dem modernen Betrachter unwiederbringlich verloren – weshalb Nietzsche ankündigt, dass seine Theorie „viel Vergnügen wegräum[en]“ werde. Diese Einsicht in die Unverfügbarkeit des antiken Rhythmus und in das Unvermögen der Modernen, ihn zu empfinden, erklärt Nietzsche im folgenden Abschnitt zur wesentlichen Voraussetzung für die wissenschaftliche Untersuchung von Rhythmus überhaupt. Zweitens giebt es nach meiner Theorie einzelnen rhythm. Schemata gegenüber keine sichere Entscheidung, sondern viele Möglichkeiten. Es ist aber sehr thöricht, darin einen wissenschaftlichen Rückschritt zu finden (wie dies Schmidt gegen Westphal thut. Uns fehlt der antike rhythm. Geschmack, uns fehlt das antike Melos – wie wollen wir unfehlbar sein! Also weniger Genuß u. scheinbar weniger Verständniß der Einzelerscheinungen – das sind gewiß keine lockenden Versprechungen! Dafür haben sie den unsterblichen Reiz der anspruchslosen Wahrheit – die ich für meine Haupttheorie ohne jede Überhebung in Anspruch nehmen darf.⁶⁸
Das Eingeständnis der Unmöglichkeit einer „sichere[n] Entscheidung“ ist – als Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit einer Wissenschaft vom Rhythmus – zum Grundzug von Nietzsches kritischem Wissenschaftsentwurf in den philologischen Studien erklärt worden.⁶⁹ Es deutet sich in dieser Passage mit dem Entzug des Rhythmus als einem Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis außerdem
Nietzsche, Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik. In: KGW II.3, S. 268 f. Nietzsche, Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik. In: KGW II.3, S. 269. Vgl. zur inhärenten Wissenschaftskritik von Nietzsches Rhythmusbegriff Friederike Felicitas Günther, Am Leitfaden des Rhythmus. Kritische Wissenschaft und Wissenschaftskritik in Nietzsches Frühwerk. In: Der Tod Gottes und die Wissenschaft. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches, hg. von Carlo Gentili und Cathrin Nielsen, Berlin/New York 2010, S. 107– 121. Die Bedeutung der Rhythmus-Studien für Nietzsches Verständnis von Philologie im Besonderen hat Christian Benne untersucht: vgl. Christian Benne, Good cop, bad cop. Von der Wissenschaft des Rhythmus zum Rhythmus der Wissenschaft. In: Nietzsches Wissenschaftsphilosophie, hg. von Helmut Heit, Günter Abel und Marco Brusotti, Berlin/New York 2011, S. 187– 212. Für Hannah Vandegrift Eldridge bietet Nietzsches Rhythmusbegriff eine Möglichkeit der Kritik an szientistischem Denken. Vgl. Hannah Vandegrift Eldridge, Towards a Philosophy of Rhythm. Nietzsche’s Conflicting Rhythms. In: Journal of Literary Theory 12/1 (2018), S. 151– 170, insbesondere S. 151.
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3.2 „[E]ine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“
eine Ambivalenz an, die Nietzsches Rhythmusbegriff in den Vorlesungsaufzeichnungen insgesamt eignet, nämlich das Schillern zwischen Historisierung und Enthistorisierung, zwischen Differenzierung und Entdifferenzierung. Während anhand des Takts bislang vor allem Nietzsches Bemühungen skizziert wurden, die „Kluft des Hellenischen“ aufzuzeigen und die fundamentale historische Differenz zwischen dem Rhythmus der Alten und dem der Neuen nachzuweisen, scheinen andere Passagen ein entgegengesetztes Anliegen zu verfolgen und die soeben etablierte historische Differenz wieder zu verwischen. In einem „Verfall des lateinischen Vocalismus“ betitelten Abschnitt erzählt Nietzsche zunächst die bekannte Geschichte von der Ablösung der quantitativen Metrik durch die Akzentmetrik: „Es zerfällt allmählich das starke Zeitgefühl beim Sprechen. Jetzt tritt der Akzent und der Ictus ein, gleichsam ein gewaltsames Fortleben des Wortes.“⁷⁰ Mit seinen nun folgenden Bemerkungen stellt Nietzsche genau dieses Narrativ jedoch infrage: Wir haben hier also eine Weiterbildung des Accentlebens. Wir sehen daraus, daß das Tonleben der latein. u. griech. Sprache allmählich das Zeitleben überwindet: ist nun das Zeitleben das ursprüngliche? Einmal war das Tonleben freier, dann wird es durch das Zeitleben eingeengt und fast überwunden, schließlich siegt es wieder. Zuältest Kampf zwischen Zeit- und Tonleben (nebeneinander) Sieg des Zeitlebens über das Tonleben Verfall des Zeitlebens u. Sieg des Tonlebens.⁷¹
Mit der Frage: „ist nun das Zeitleben das ursprüngliche?“ wird nicht nur die Geschichte des Rhythmus als die eines Wandels von antiker Quantitäts- zu moderner Akzentmetrik angefochten, sondern überhaupt die Form der Geschichtlichkeit von Rhythmus in Zweifel gezogen. Nietzsche gibt hier zu bedenken, dass die historische Veränderung des Rhythmus mitnichten als Dekadenzphänomen verstanden werden müsse, sondern als Teil eines mythischen Konflikts begriffen werden könne, der die Unterscheidung zwischen ‚antikem‘ und ‚modernem‘ Rhythmus in letzter Konsequenz hinfällig macht. Genau diese Erschütterung der zunächst emphatisch erklärten Historizität hat auch James Porter in seiner Lektüre der Vorlesungsaufzeichnungen herausgearbeitet: Nietzsche’s revised historical scheme does not replace the earlier one. Instead, it frustrates both the likelihood of a straightforward, linear progression, in virtue of that history’s split origins, and the prospect of a resolution, for the very same reason: a resolution, insofar as it is imaginable at all, could only mean a return to conflictual, irresolute origins. But then to
Nietzsche, Rhythmische Untersuchungen. In: KGW II.3, S. 307. Nietzsche, Rhythmische Untersuchungen. In: KGW II.3, S. 308.
3.2.4 Nietzsches Takt: Entdifferenzierung
191
what degree, one might well ask, is the scheme any longer even historical? […] It causes the whole of his recuperative effort to vacillate indeterminately.⁷²
Indem Nietzsche seiner historischen Definition des Rhythmus den Boden entziehe, so Porter, unterbinde er zugleich die Möglichkeit einer objektiven Bestimmung von Rhythmus: „At stake is nothing less than the objectivity of rhythm, which Nietzsche proceeds to put into doubt from both the modern and ancient perspectives.“⁷³
3.2.4 Nietzsches Takt: Entdifferenzierung Von dieser Verwischung der historischen Differenz bleibt auch der Taktbegriff, der ja die „Kluft des Hellenischen“ wesentlich markierte, nicht unberührt. Auffällig ist in den Vorlesungsaufzeichnungen Nietzsches weithin umstandslose Anwendung des Begriffs auf die antike Rhythmik, etwa in seinen Notizen zu den Theorien des Aristoxenos von Tarent.⁷⁴ Die metrischen Termini Arsis und Thesis erklärt Nietzsche so etwa als schweren und leichten ‚Taktteil‘ und übersetzt in diesem Zusammenhang den Versfuß als ‚Takt‘: „Das Bezeichnen mit dem Fuße stammt aus der Orchestik: im schweren Takttheil setzte der Tänzer den Fuß nieder. – ‚πούς Takt‘.“⁷⁵ Auch an anderer Stelle greift Nietzsche zur Beschreibung der antiken Rhythmen auf den Taktbegriff zurück. Die Zusammensetzung von Versfüßen aus Längen und Kürzen, deren Verhältnis zueinander auf eine ganzzahlige Proportion gebracht werden kann (rhythmoi haploi), entspräche der „Taktgleichheit“, die
Porter, Nietzsche and the Philology of the Future, S. 147. Vgl. dazu auch John Hamilton, Extemporalia. Music, Philology, and Nietzsche’s Misology. In: Philia & Filia 3/2 (2012), S. 7– 27, hier: S. 19 f.: „What this reflexion suggests is that at the origin there is a fundamental conflict that frustrates any straightforward historical plot.“ Porter, Nietzsche and the Philology of the Future, S. 149. James Porter versteht daher Nietzsches Auseinandersetzung mit Rhythmus-Fragen als Kritik des historischen Denkens überhaupt. Vgl. ebd., S. 166: „Nietzsche’s vision of history might be thought to be continuist, when it is in fact neither continuous nor disjunctive, but only a commentary on the specular and asymmetrical processes of representation that have fashioned historical consciousness to date. Rhythm is an appropriate vehicle for making this comment, because the conditions of rhythm are the conditions of historical consciousness itself.“ Vgl. zum Zusammenhang von Nietzsches RhythmusStudien und genealogischem Denken auch ebd., S. 144, sowie Christian Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin/New York 2005, S. 96 – 150, der den Einfluss von Nietzsches philologischer Arbeit auf seine Philosophie (insbesondere auf die Genealogie) herausarbeitet. Vgl. Nietzsche, Griechische Rhythmik. In: KGW II.3, S. 131. Nietzsche, Griechische Rhythmik. In: KGW II.3, S. 102.
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3.2 „[E]ine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“
Zusammensetzung aus Längen und Kürzen, die sich nicht auf ganzzahlige Verhältnisse zurückführen lassen und sich damit der mathematischen Berechenbarkeit entziehen (rhythmoi synthetoi), der „Taktungleichheit“. In diesem Kontext bezeichne die ἀλογία – ein Phänomen der antiken Metrik, dem Nietzsche besondere Aufmerksamkeit widmet – eine minimale Unregelmäßigkeit, die sich aus mathematisch nicht berechenbaren Verhältnissen zwischen den Längen und Kürzen in der Konstitution der Versfüße ergibt.⁷⁶ In Verbindung mit dem Takt stellt die ἀλογία für Nietzsche einen kaum merklichen Bruch mit der uniformen Taktordnung dar: „eine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit. “ Taktgleichheit bei den ἁπλοῖ. Taktungleichheit bei den σύνθετοι. Die ἀλογία ist nicht zu benützen für die Herstellung der Taktgleichheit: umgekehrt: sie ist eine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit. Also gleiche Takte, ῥυθμοί ἁπλοῖ – mit leisen Dissonanzen der ἀλογία.⁷⁷
Wiederholt ist Nietzsches Assoziation der ἀλογία mit dem Kult des Dionysos herausgearbeitet worden.⁷⁸ Friederike Felicitas Günther hat in ihrer Studie zum Rhythmus beim frühen Nietzsche darauf hingewiesen, dass der ἀλογία nach Nietzsches Verständnis dabei weniger eine formzersetzende als vielmehr eine formregulierende Wirkung eigne: Es läge nahe, alogia dem Ausdruck nach als Alogisches, als Formzerstörendes schlechthin zu verstehen. Doch ein näherer Blick auf die genaue Bedeutung des Begriffs im Rahmen der griechischen Rhythmik zeichnet ein anderes Bild. In der Zeitenrhythmik der Griechen bedeutet die alogia zwar eine Abweichung von der Regel, der genaue Umfang dieser Abweichung war jedoch, wie Nietzsche in seinen Untersuchungen in Übereinstimmung mit Aristoxenos’ Rhythmik hervorhebt, exakt festgelegt.⁷⁹
Vgl. dazu auch Hamilton, Extemporalia, S. 20. Nietzsche, Rhythmische Untersuchungen. In: KGW II.3, S. 327. „ῥυθμοί ἁπλοῖ“ sind Versmaße, die aus identischen Versfüßen gebildet werden. Vgl. zu Nietzsches Beschäftigung mit der ἀλογία auch Fritz Bornmann, Nietzsches metrische Studien. In: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 472– 489, insbesondere S. 485; James Porter, Nietzsche and the Philology of the Future, S. 160; John Hamilton, Extemporalia, S. 20 – 23, sowie Friederike Günther, Rhythmus beim frühen Nietzsche, S. 50 – 65. Insbesondere mit Verweis auf folgende, „Kraft des Rhythmus“ betitelte, Notiz aus den Vorlesungsaufzeichnungen. In: KGW II.3, S. 322: „Die dionysischen Neuerungen in Tonart, in Rhythmus (die ἀλογία?)“. Sowie in der Erörterung der ῥυθμοί σύνθετοι ebd., S. 329: „Ich glaube: Der Reiz mit starken Dissonanzen des Zeitmaaßes zu wirken ist eine Frucht des Dionysuskult.“ Günther, Rhythmus beim frühen Nietzsche, S. 57 f.
3.2.4 Nietzsches Takt: Entdifferenzierung
193
Die kalkulierte Abweichung der ἀλογία ermögliche es, so Günther, die ‚dionysischen Dissonanzen‘ in eine „strenge apollinische Ordnung“ zu integrieren und damit ein „Konzept der Individualität im modernen Sinne“ anzudeuten: Das Auftreten der alogia in der griechischen Rhythmik zeugt von einem Wandel: Der Rhythmus fungiert unter dionysischem Einfluss nicht mehr als eherne Grenze und Bollwerk gegen jede Veränderung und Verwandlung in der Zeit, sondern die alogia bezieht die Abweichung von diesem strengen Takt mit in den rhythmischen Ablauf ein und variiert ihn. Ein Konzept der Individualität im modernen Sinne scheint auf, das sich vom schematischen Eingefügtsein des einzelnen Bausteins in die strenge apollinische Ordnung durch abweichende Eigenmerkmale unterscheidet und ihr Bewegung verleiht.⁸⁰
Die Verbindung von ἀλογία und Takt erlaubt damit eine Revision des Taktbegriffs, für den nicht länger allein die Einförmigkeit konstitutiv ist, sondern ebenso „eine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“. Dass Nietzsche bemüht ist, das Phänomen der ἀλογία auf die moderne Musik übertragen, zeigt sich auch in seinen Analysen der Taktverhältnisse in der Musik Richard Wagners, die sich in den Vorlesungsaufzeichnungen finden. An die Bemerkungen zu der ἀλογία und den zusammengesetzten Rhythmen (rhythmoi synthetoi) schließt eine rhythmische Skizze von Wagners Tristan und Isolde an, die die Taktwechsel in der Komposition herausarbeitet.⁸¹ Unter der Notiz „Die Ausdehnung der Tacte war von den unsern keine wesentlich verschiedne“ findet sich ein Abriss der verschiedenen Taktarten, aus denen sich die zweite Szene des dritten Aufzugs von Wagners Tristan und Isolde zusammensetze.⁸² Überhaupt spielt Richard Wagner Günther, Rhythmus beim frühen Nietzsche, S. 60. John Hamilton versteht auf vergleichbare Weise die ἀλογία als eine Möglichkeit, Zeitlichkeit als der metrischen Form inhärent zu verstehen und dadurch deren scheinbare Stabilität von innen zu unterlaufen. Vgl. Hamilton, Extemporalia, S. 22: „What Nietzsche arguably discovers in his study of rhythm is the possibility of exploding all forms from within—from within, because the temporality that is necessary to mark a beginning, middle, and end, the time sequence that is the condition for gathering verbal elements into a form of meaning, is in fact the same temporality that prohibits that form to be permanently established or secured.“ Christophe Corbier hat die von Nietzsche hergestellte Analogie zwischen antiker ἀλογία und moderner Durchbrechung der Taktordnung durch Richard Wagner anhand der genannten Passage herausgearbeitet.Vgl. Christophe Corbier, Alogia et Eurythmie chez Nietzsche. In: NietzscheStudien 38 (2009), S. 1– 38, hier: S. 33: „Ce qui est plus important, c’est qu’une telle interprétation fait apparaitre une idée fondamentale pour Nietzsche: la rythmique wagnérienne est bien une résurrection de la rythmique grecque, puisqu’on peut utiliser les mêmes concepts pour en rendre compte. Il existe en effet un terme tout à fait approprié pour désigner ces incessants changements de mesure: alogia. C’est pourquoi l’analyse rythmique de cette scène de Tristan se situe à la fin d’un ensemble de notes consacrées à l’alogia antique.“ Vgl. Nietzsche, Griechische Rhythmik. In: KGW II.3, S. 201.
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3.2 „[E]ine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“
für Nietzsches Konzeption des Takts zu dieser Zeit eine wesentliche Rolle. In einem nachgelassenen Fragment aus dem Jahr 1871 etwa stellt Nietzsche Wagners Musik als Wiederherstellung einer verlorenen „Urmusik“ dar, gerade weil sie die Schranken des Takts durchbreche: Die Musik selbst, die in das geschaute Schema eingezwängt wird, muß jetzt ledig aller der strengen Formen sein d. h. vor allem der streng symmetrischen Rhythmik. Denn die dramatische Mimik ist etwas viel zu Bewegliches, Irrationales für alle Formen der absoluten Musik, sie kann nicht einmal den Takt einhalten, und deshalb hat die Wagnersche Musik die allergrößten Tempoverschiebungen. Diese Musik wird nun wieder als hergestellte Urmusik begriffen, weil sie schrankenlos ist: sie entspricht dem Stabreim.⁸³
Zur Zeit von Nietzsches Wagner-Verehrung verspricht dessen Musik eine (‚dionysische‘) Befreiung vom Takt.⁸⁴ Nach Nietzsches Abkehr von Wagner fordert er umgekehrt – wenn auch nicht ohne Ironie – die Restitution des Takts.⁸⁵ So heißt es in einem „Der Cyniker redet“ überschriebenen Abschnitt aus der Fröhlichen Wissenschaft: „Meine Einwände gegen die Musik Wagner’s sind physiologische Einwände: wozu dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden? Meine ‚Thatsache‘ ist, dass ich nicht mehr leicht athme, wenn diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein Fuss gegen sie böse wird und revoltirt – er hat das Bedürfniss nach Takt, Tanz, Marsch“.⁸⁶ In den philologischen Studien der Jahre
Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 9[149]. In: KGW III.3, S. 342. Zum Zusammenhang der Rhythmus-Theorien in den philologischen Studien mit der Geburt der Tragödie vgl. Helmut Müller-Sievers, ‚Eine ungeheure Kluft‘. Nietzsche, die Geburt der Tragödie und das Maß in der Dichtung. In: Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, hg. von Christian Begemann und David E. Wellbery, Freiburg i.Br. 2002, S. 271– 291, sowie Héctor Julio Pérez López, Die doppelte Wahrheit von Nietzsches Tätigkeit 1870 – 1872. Zur Beziehung griechischer Rhythmik und moderner Musikästhetik im Umkreis der „Geburt der Tragödie“. In: Nietzscheforschung 2 (1995), S. 219 – 236, und Corbier, Alogia et Eurythmie chez Nietzsche, S. 1– 38. Hans-Joachim Hinrichsen hat anhand von Nietzsches Rezeption der Schriften des Musiktheoretikers Hugo Riemann den inhärenten Klassizismus von Nietzsches Rhythmusbegriff herausgearbeitet. Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Musikalische Rhythmustheorien um 1900. In: Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften, hg. von Barbara Naumann, S. 141– 156, hier: S. 150. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft. In: KSA 3, S. 616 f. Vgl. auch Nietzsche, Nietzsche contra Wagner. In: KSA 6, S. 418. Gabriella Pelloni hat argumentiert, dass Nietzsches Zarathustra mit seinem Projekt eines ‚großen Rhythmus‘ einen Gegenentwurf zur rhythmischen Dekadenz in der Musik Richard Wagners biete. Vgl. Gabriella Pelloni, Nietzsches Zarathustra und der „grosse Rhythmus“. In: Mythos Rhythmus. Wissenschaft, Kunst und Literatur um 1900, hg. von Massimo Salgaro und Michele Vangi, S. 99 – 116. Vgl. zu Nietzsches Rhythmus als einer „allgemeinen
3.2.4 Nietzsches Takt: Entdifferenzierung
195
1870 – 71 finden sich beide Positionen: Zum einen wird der Takt als historisches Phänomen in einer Verfallsgeschichte des Rhythmus verortet, also eines Rhythmus, der in seiner verloren geglaubten Mannigfaltigkeit durch Wagners Bruch mit dem Taktregime erneuert worden sei. Zum anderen wird die anhand des Takts etablierte Historizität des Rhythmus untergraben durch eine weitgehend undifferenzierte Anwendung des Takts auf die antike Metrik und Rhythmik. Fritz Bornmann hat argumentiert, dass gerade der anachronistische Synkretismus in Nietzsches Verwendung des Taktbegriffs diesen zur Einsicht in die unüberwindliche historische Differenz von antikem und modernem Rhythmus geführt habe. Und trotzdem ist gerade dieses Herausarbeiten von parallelen Erscheinungen aus der antiken und modernen Musik der Impuls zur radikalen Revision seiner metrischen Theorien geworden. Die oft provokatorische Gegenüberstellung der in Nietzsches Auffassung einmaligen Charakteristik der griechischen Musik und derjenigen der modernen, d. h. eben jener Mangel an historischen Bezügen, den man dem Philologen Nietzsche aus der Sicht seiner späteren Entwicklung gern als Schwäche anlastet, ist gerade das gewesen, was ihn schließlich von der Unhaltbarkeit des Vergleiches überzeugte.⁸⁷
Eine solche genetische Erklärung lässt allerdings die Tendenz zur Aufhebung der historischen Differenz unberücksichtigt, die in Nietzsches Darstellung des historischen Wandels von der Quantitäts- zur Akzentmetrik deutlich geworden ist. Festzuhalten bleibt, dass Nietzsche – der Kritiker eines ahistorischen Rhythmusbegriffs und einer beliebigen Funktionalisierung des Rhythmus, die er im eingangs zitierten Absatz zum „Ursprung der Poesie“ aus der Fröhlichen Wissenschaft monierte – zur Verflüssigung des Rhythmusbegriffs in der Moderne maßgeblich beigetragen hat. Mit dem dezidiert historischen und dem anachronistischen Taktbegriff sind aber die Auffassungen des Takts in den Vorlesungsaufzeichnungen nicht erschöpft. Es deutet sich darin ein anderes Verständnis von Takt an, das, im Anschluss an Nietzsches Überlegungen zur ἀλογία, weitere Züge der Takt-Diskussion des frühen neunzehnten Jahrhunderts aufnimmt und den Takt als ein Mittel flexibler Zeitgestaltung begreift.
Theorie der Décadence“ auch Jörg H. Gleiter, Nietzsches ‚extremste Ästhetik‘ der Modernität. ‚Der grosse Rhythmus‘. In: Nietzscheforschung 18 (2011), S. 17– 26. Bornmann, Nietzsches metrische Studien, S. 480. Ähnlich auch Corbier zu dem Beispiel aus Tristan und Isolde, vgl. Corbier, Alogia et Eurythmie chez Nietzsche, S. 34: „Mais cet exemple lui permet aussi de comprendre la différence profonde qui existe entre les deux rythmiques“.
196
3.2 „[E]ine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“
3.2.5 Nietzsches Takt: Agogik Die ἀλογία als ein Phänomen der antiken Metrik, das sich der mathematischen Berechnung entzieht, integriert Nietzsche in die isochronisch angelegte und mathematisch definierbare Taktordnung. Ausgangspunkt von Nietzsches Erkundung der „leisere[n] Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“ ist die Frage, wie sich unterschiedliche Taktarten miteinander vermitteln lassen, wenn sie, wie in der Musik Richard Wagners, aufeinandertreffen. Möglich sei eine Vermittlung verschiedener Takte durch die ἀγωγή, d. h. die Nuancierung des musikalischen Tempos im Vortrag. In einem „Tactwechsel und Tactgleichheit“ überschriebenen Absatz notiert Nietzsche: 3/4 ♩♩♩ und 2/4 ♩♩ können ganz gleiche Takte sein u. nur anders gegliedert sein. Wenn sie aber die selbe Zeitdauer haben, dann ist allerdings der Werth des ♩ im einen Falle ein andrer als im andern Falle, dh. es ist Sache der ἀγωγή hier zu vermitteln. Ist nun Einheit des Tempo’s für jede Composition vorauszusetzen? Diese aber ist das Feinste u. Geistigste u. enthält eigentlich den tiefsten Inhalt des Vorgetragenen. Wenn zB. jeder irrationale Takt etwas pressirt wurde, so gehört er ganz in die Composition in unserm Sinne.⁸⁸
Mit dem „irrationalen Takt“ findet hier das rhythmische Phänomen der ἀλογία Eingang in Nietzsches Überlegungen zum Takt.Werden ein 3/4- und ein 2/4-Takt so miteinander verbunden, dass ihre Zeitdauer identisch ist, muss die Geschwindigkeit der Viertelnoten des 3/4-Takts erhöht werden; die Vermittlung der unterschiedlichen Tempi der Viertelnoten im 3/4- und 2/4-Takt „ist Sache der ἀγωγή“, der Agogik. Die Grundlage für eine rhythmische Komposition, die sich aus verschiedenen Taktarten zusammensetzt, bilde die flexible Regulierung des Tempos durch den „irrationale[n] Takt“. Damit wird die Isochronie als konstitutives Prinzip des Takts grundlegend in Zweifel gezogen. Dem Takt liegt nun nicht mehr nur die Idee einer gleichmäßigen Zeiteinteilung zugrunde, sondern ebenso die Differenzierung verschiedener Tempi. So notiert Nietzsche bereits im Vorfeld seiner Bemerkungen zu „Tactwechsel und Tactgleichheit“: „In Wirklichkeit giebt es ja nie einen mathemat. Takt. Deshalb ist auch eine rhythm. Bezeichnung eines Taktes, der um ein Klein-wenig größer ist als sein Vorgänger ganz gut möglich.Wir würden da eine Tempobezeichnung machen.“⁸⁹ Die Bedeutung einer „temporale[n] Binnendifferenzierung“⁹⁰ für Nietzsches Philosophie ist in verschiedenen
Nietzsche, Griechische Rhythmik. In: KGW II.3, S. 171. Nietzsche, Griechische Rhythmik. In: KGW II.3, S. 169. Benne, Good Cop, bad Cop, S. 193.
3.2.5 Nietzsches Takt: Agogik
197
Kontexten bereits herausgearbeitet worden. So hat Gert Mattenklott auf die „Tempi des Denkens“ in der Fröhlichen Wissenschaft hingewiesen, deren Differenzierung zentral für Nietzsches Wissenschaftsbegriff und –kritik sei.⁹¹ Christian Benne hat dargelegt, dass die Vorstellung einer „temporale[n] Binnendifferenzierung“ gerade auch Nietzsches Verständnis von Philologie wesentlich zugrunde lag: „Philologie scheint bei Nietzsche zu einem großen Teil die Kunst der Zeitbeherrschung zu beschreiben. Der Philologe ist, im weitesten Sinne, der Meister der Tempi und Rhythmen, einer Artistik der Wiederholung und der Variation in der Gleichförmigkeit.“⁹² Erstaunlich ist nun, dass Nietzsche die „temporale Binnendifferenzierung“ in seinen Vorlesungsaufzeichnungen gerade mit dem Taktbegriff verbindet, der mit der Isochronie als wesentlichem Merkmal die Möglichkeit einer zeitlichen Differenzierung per definitionem auszuschließen scheint.⁹³ Am deutlichsten wird diese eigenwillige Interpretation des Taktbegriffs in folgendem Abschnitt aus den Aufzeichnungen zur Metrik und Rhythmik: Tactgleichheit. Mathematisch genau sind nie zwei Takte gleich: je geistiger das Darzustellende erfaßt ist, um so feiner individualisirt sich der Takt, einmal seiner Dauer nach (ἀγωγῇ), dann seinen Icten nach (nach seiner Deklamation) und drittens in der Dauer seiner einzelnen Theile. In Reihen und Perioden steigert sich nun diese Individualität, die architektonische Starrheit ist der Tod des Vortrags. Deshalb darf der Dirigent keine Maschine, kein Chronometer sein. Das richtige Erfassen vom Tempo eines folgenden Musikstücks ist eine psychologische Erkenntniß: das innerste Wesen der zwei auf einander folg. Tonstücke spricht sich im Gefühl des verschieden gewählten Taktes aus.Wie die Form des Blattes der Idee nach immer dieselbe, in Wirklichkeit nie dieselbe ist, so steht es mit der Gleichheit der Takte, der Perioden, der Strophen. Der Pendelschlag berührt uns peinlich: er giebt das mathematische Gerippe. Wie nun wird dies mit Fleisch umkleidet?⁹⁴
Die Bestimmung des Takts durch „Tactgleichheit“ – im Sinne einer mathematisch berechenbaren Isochronie – wird hier grundsätzlich infrage gestellt. Im Gegenteil verspricht der Takt hier die Möglichkeit einer temporalen Differenzierung, ja: der rhythmischen Individualisierung. Diese ergebe sich, sobald man den musikalischen Vortrag berücksichtige, d. h. die performative Dimension des Takts. Aus dieser Perspektive erscheint der Takt dann nicht mehr als eine Form rhythmischer Uniformität, sondern als ‚Taktgefühl‘: als eine Sensibilität für Tempounterschie-
Vgl. Gert Mattenklott, Der Taktschlag des langsamen Geistes. Tempi in der „Fröhlichen Wissenschaft“. In: Nietzsche-Studien 26 (1997), S. 226 – 238. Benne, Good cop, bad cop, S. 192. Darauf weist auch Christian Benne hin, vgl. Benne, Good cop, bad cop, S. 196. Nietzsche, [Aufzeichnungen zur Metrik und Rhythmik]. In: KGW II.3, S. 205.
198
3.2 „[E]ine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“
de, die für die richtige Interpretation eines Musikstückes entscheidend sei.⁹⁵ Das „mathematische Gerippe“ der „Tactgleichheit“ wird dadurch nicht aufgelöst, jedoch sei davon ein individueller Takt zu unterscheiden. Dieser Takt sei der Form des Blattes im Unterschied zu dessen Idee zu vergleichen, dem „Fleisch“, das das „mathematische Gerippe“ umhüllt. Mit dieser Beschreibung des Takts greift Nietzsche Fäden des Metrik-Diskurses um 1800 auf. Die Konstitution des Takts aus einer mathematisch kalkulierbaren „mesure“ auf der einen Seite, und einem „mouvement“ auf der anderen, das „sich schwerlich in Gebote und Verbote einfassen [läßt]“⁹⁶, war so bereits bei Johann Mattheson zu finden. Selbst der „Ebenenwechsel“⁹⁷ zwischen systematischer Taktdefinition und Taktperformanz in der Rezitation bzw. in der musikalischen Interpretation war in Matthesons Taktdefinition angelegt.⁹⁸ Besonders deutlich wurde dieser „Ebenenwechsel“, die doppelte Legitimation des Takts aus systematischer und aus performativer Sicht, die sich – wie etwas das Beispiel von Christoph Küpers Versifikationstypen zeigte – bis ins zwanzigste Jahrhundert fortschrieb, um 1800 von Johann Heinrich Voss und August Apel artikuliert. Apel hatte unter Rückgriff auf Voss zur Rechtfertigung seiner Adaption des Taktbegriffs für metrische Zwecke auf die „Freiheit des Virtuosen […] im Vortrage“⁹⁹ verwiesen, die das Potenzial zur temporalen Differenzierung innerhalb des isochronen Takts berge. Die Parallelen zum Taktbegriff, den Nietzsche im Abschnitt „Tactgleichheit“ skizziert, sind augenfällig: Auch hier geht es um eine Relativierung der Isochronie, die durch die Integration einer performativen Dimension erreicht wird. Eigen ist Nietzsche dabei die Umdeutung des Takts zu einem Mittel der Agogik, d. h. der differenzierenden Zeitgestaltung. So findet sich in seinen anschließenden Notizen die Bemerkung: „Die ἀγωγή als die Hauptsache der Rhythmik. Wäre es möglich die Rhythmik vornehmlich in Betreff des Tempo’s, der Taktgröße zu verstehen?“¹⁰⁰ Agogik – als die Flexibilität im Umgang mit Tempounterschieden, eine Einübung in die Fähigkeit zur temporalen Differenzierung
Auf die semantische Ambivalenz von Nietzsches Takt – zwischen ‚Taktschlag‘ und ‚Taktgefühl‘ – weist auch James Porter hin. Vgl. Porter, Nietzsche and the Philology of the Future, S. 135: „Takt, which covers ‚time,’ ‚measure,‘ or ‚beat,‘ but also ‚tact‘ and feeling, derives from the Latin tangere, ‚to touch,‘ and Nietzsche never loses sight of this sensuous connotation either.“ Vgl. Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, S. 269. Donat, Deskriptive Metrik, S. 58. Vgl. Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, S. 269: „Aber das zweite und geistigere Stück, […], ich meine das Mouvement, läßt sich schwerlich in Gebote und Verbote einfassen: weil es auf die Empfindung und Regung eines jeden Setzers hauptsächlich, und hiernächst auf die gute Vollziehung, oder den zärtlichen Ausdruck der Sänger und Spieler hier ankömmt.“ Apel, Metrik, S. 57. Nietzsche, [Aufzeichnungen zur Metrik und Rhythmik]. In: KGW II.3, S. 207.
3.2.5 Nietzsches Takt: Agogik
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– wird hier zur „Hauptsache“ von Nietzsches Überlegungen zum Rhythmus erklärt. Sie bildet die Grundlage für einen Entwurf des Taktbegriffs, der gerade durch den „Ebenenwechsel“ zwischen metrischer und performativer Perspektive für eine Revision der Metrik in der Moderne produktiv zu sein verspricht. Dieser Taktbegriff ist als Alternative zu verstehen zu den Taktauffassungen, die Nietzsche in seinen Vorlesungsaufzeichnungen, im Anschluss an den metrischen Diskurs des neunzehnten Jahrhunderts, ebenfalls entwickelt: d. h. als Alternative zum Takt als einer modernen Form von Metrum, die in ihrer mechanischen Uniformität aus dem Zerfall eines mannigfaltigen und lebendigen Rhythmus hervorgeht. Er wäre ebenso als Alternative zu begreifen zu einem Takt, der antiken und modernen Rhythmus anachronistisch miteinander identifiziert. Stattdessen erkennt die Konzeption von Takt als einem Mittel der Agogik die Isochronie, als Merkmal eines modernen und damit historisch definierten Takts, an. Doch würde der Takt dabei nicht auf die Isochronie reduziert, sondern zugleich durch das Vermögen zur temporalen Differenzierung definiert. Auf diese Weise bietet Nietzsches Rezeption des Taktdiskurses um 1800 Impulse für eine Revision von Metrik in der Moderne, die eine verbindliche Versordnung nicht als „todte Form“ begreift, sie aber auch nicht durch Identifizierung mit einem ‚lebendigen Rhythmus‘ zu revitalisieren sucht, sondern die das dem Takt eigene Potenzial zur Gestaltung von Zeit erfasst.
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Personenregister Lubkoll, Christine
Adorno, Theodor W. 144 Apel, August 173 – 176 Aristoteles 81 f. Auerbach, Erich 105 f.
Mähl, Hans-Joachim 103 Martus, Steffen 137 f. Mattenklott, Gert 197 Mattheson, Johann 176 – 178 Menninghaus, Winfried 31, 51 Meschonnic, Henri 16, 92 Moritz, Karl Philipp 23 – 25, 141 Mülder-Bach, Inka 92
Bachtin, Michail 125 Beißner, Friedrich 54 Benne, Christian 197 Benveniste, Émile 49 f. Böckh, August 173 f. Böschenstein, Bernhard 75 f. Brentano, Clemens 21 f. Bunia, Remigius 58 f., 186 Couturier-Heinrich, Clémence
Naumann, Barbara 87, 127 Nietzsche, Friedrich 1, 186 – 199 Novalis 2 f., 86 – 112 5, 82 f. Oesterle, Ingrid 88 Opitz, Martin 34 Osterkamp, Ernst 166 f.
Dahlhaus, Carl 97, 134 f. Donat, Sebastian 185 Frank, Manfred
88, 100 f.
Georgiades, Thrasybulos 183 Geulen, Eva 83, 165 Goethe, Johann Wolfgang 42, 85, 141 – 170 Gumbrecht, Hans Ulrich 12, 92 Gundolf, Friedrich 117 Günther, Friederike Felicitas 192 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 93 – 95, 180 f. Hellingrath, Norbert von 86 f. Hermann, Gottfried 171 – 173 Heusler, Andreas 157 f., 184 Hogarth, William 42 Hölderlin, Friedrich 53 – 77 Horaz 38 Humboldt, Wilhelm von 75, 89 f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 57 f., 98 Kluge, Gerhard 120 f., 136 Kommerell, Max 163 f.
130
Pindar 56, 71 Porter, James I. 190 f. Previšić, Boris 54 Prins, Yopie 6 Ramazani, Jahan 125 Rousseau, Jean-Jacques
182
Scherer, Stefan 114 Schillemeit, Jost 154, 168 Schiller, Friedrich 50 f., 141 – 143 Schlegel, August Wilhelm 30 f., 81 – 85, 89 – 92, 105, 132 Schlegel, Friedrich 93 Schmidt, Jochen 162 Simon, Ralf 84 Striedter, Jurij 105 Sulzer, Johann Georg 178 f. Szondi, Peter 60 – 63
22 f., 26 – 52, Tieck, Ludwig
113 – 138
Voss, Johann Heinrich Vossius, Isaac 181 f.
174 f.
214
Personenregister
Wagenknecht, Christian 158 Wagner, Richard 193 f.
Wellbery, David E. 148, 161 f. Wellmann, Janina 5