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German Pages 540 Year 2014
David-Christopher Assmann Poetologien des Literaturbetriebs
Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger
Band 139
David-Christopher Assmann
Poetologien des Literaturbetriebs Szenen bei Kirchhoff, Maier, Gstrein und Händler
DE GRUYTER
Gefördert durch die Individuelle Graduiertenförderung, Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn, und die FAZIT-Stiftung. Gedruckt mit Unterstützung durch die Geschwister Boehringer Ingelheim-Stiftung für Geisteswissenschaften und die FAZIT-Stiftung.
Zugl. Bonn/Firenze, Univ., Diss. 2013
ISBN 978-3-11-035766-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035933-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038679-0 ISSN 0174-4410 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort
VII
1
Das Verderben der Literatur im Literaturbetrieb um 2000
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2
Eine Redeskription literaturbetrieblichen ›Verderbens‹ 13 15 Annäherungen an ein ›diffuses Phänomen‹ Literaturbetrieb zwischen Unübersichtlichkeit und Vielfalt 21 Betriebskulisse und Betriebsemphase Die Schreib-Szene um 2000 als Literaturbetriebs-Szene 29 ›Literaturbetrieb‹ als Selbstbeschreibungsformel 38 Soziale Einbettung der Schreib-Szene
3 3.1
47
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Das Verderben der Literatur durch die Medien: Bodo Kirchhoff Literatur, Literaturbetrieb und Legenden um den eigenen 53 Körper 55 Identität und Iteration 65 Verdorren in Talkshows Kippfiguren: Schundromane zwischen Literatur und 73 Betrieb 78 Bodymotion und Turboperformance 90 Literarische Reinigung 103 Goethe-Roman und Hämorrhoidenrenner 122 Unterscheidungsvermögen
4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3
Das Verderben der Literatur durch das Gerede: Andreas Maier 135 Verführung zum Gerede 138 Einflussangst: Thomas Bernhards Rhetorik 152 Zur Grundstruktur des Maierschen Programms 167 Intentionslosigkeit 183 Sanssouci und die Potsdamer Posse 189 Angemessener Wohnraum 210 Wimmelbild und Thesenroman 237 Literaturbetriebsgerede
131
5
Das Verderben der Literatur durch die Wahrheit: Norbert Gstrein 251 Fakten, Fiktion und Literaturbetriebskalkül 258 Reflexionsstufen
3.1.1 3.1.2 3.2
5.1 5.1.1
254
1
16 28
VI 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1 6.2.2
Inhalt
Literaturskandale zwischen Störung und Strategie 270 Fiktive Verteidigungsschriften 280 298 Skandal mit Ansage und Die ganze Wahrheit 302 Persönliche Beziehungssysteme 314 ›Obszöner Slapstick der Trauer‹ 324 Die Suhrkamp-Konstellation 341 Literarischer Realismus in Intervallverschachtelung Das Verderben der Literatur durch die Literatur: 369 Ernst-Wilhelm Händler 370 Die Frau des Schriftstellers lesen Ein gigantomanisches Erzählprojekt (Unlesbarkeit I) 394 Explizitdarstellung (Unlesbarkeit II) 410 Terrorist des Literaturbetriebs 422 Kaleidoskop-Prosa mit Überblick 426 Zwei Operationen: Abschreiben und Ersetzen 451 Unternehmensdichter in Betrieb
7 7.1 7.2
Poetologien des Literaturbetriebs 469 Literaturbetriebsliteratur und Literaturbetriebs-Szenen Literaturbetrieb in der Literatur und Literaturkritik um 474 2000
8
Riassunto italiano
9 9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4
Literaturverzeichnis 483 483 Verzeichnis der Siglen 483 Quellenverzeichnis 483 Hinweise zur Zitation 484 Allgemeines Quellenverzeichnis 523 Verzeichnis der Internetquellen Verzeichnis der Fernseh- und Radiobeiträge
10 10.1 10.2
Register 525 525 Personenregister 528 Sachregister
481
524
375
471
Vorwort Diese Studie wurde mit Mitteln der Individuellen Graduiertenförderung in Bonn begonnen und in Florenz weitergeführt. Abgeschlossen wurde sie mit Mitteln der Fazit-Stiftung wiederum in Bonn. Der Stiftung und dem DeutschItalienischen Promotionskolleg, speziell Patrizio Collini, schulde ich ebenso Dank wie Eva Geulen, meiner vorbildlichen Bonner Betreuerin. Frankfurt am Main, im April 2014
1 Das Verderben der Literatur im Literaturbetrieb um 2000 Die unter anderen von Schriftstellern und Literaturkritikern gelegentlich vorgebrachte Behauptung, der Literaturbetrieb sei »dem literarischen Schaffen feindlich«,1 nimmt Jens Jessen 2007 zum Anlass, um »die Gründe für diesen Vorwurf« (VL 11) zu erörtern. ›Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur?‹ lautet der Titel seiner Vorbemerkung zu einer Diskussion im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, die mit einer Bestandsaufnahme von Formen der Literaturvermittlung um 2000 einsetzt: Es gibt die Klage über die Rastlosigkeit der Lesereisen, es gibt den Ärger über die Medien, die den Autoren mit Interviews, Porträts, zudringlichen Rezensionen und biographischen Unterstellungen auf den Pelz rücken, es gibt vor allem verbreiteten Verdruß, daß die Öffentlichkeit nicht an der Kunst im engeren Sinne interessiert sei, sondern nur an den politischen, ideologischen, kulturkritischen Destillaten, die sich aus den Werken filtern lassen. (VL 11)
Dass diese oder ähnliche Klagen über Vermittlungsformen und deren Auswirkungen auf Autoren und Literatur ihre Berechtigung hätten, der mit gewisser Regelmäßigkeit formulierte Vorwurf gegenüber dem Betrieb und seinen Akteuren also durchaus begründet sei, dafür gibt es Jessen zufolge genügend Hinweise. Schaue man genauer hin, gehe es im deutschsprachigen Literaturbetrieb nämlich nur »[v]orgeblich« (VL 11) darum, die Rahmenbedingungen literarischer Kreativität großzügig bereitzustellen. Tatsächlich seien die an Literaturvermittlung Beteiligten, also »die Medien und die Institutionen, die in die Medien drängen, die Preisverleiher, die Literaturhäuser, die Verlage, die Stipendiengeber« (VL 11), unentwegt damit beschäftigt, auf sich aufmerksam zu machen. Und dies nicht, weil sie sich ganz in den Dienst der Sache, also der Literatur, stellten, sondern »weil sie etwas verkaufen [...] oder ihre Tätigkeit politisch rechtfertigen müssen« (VL 11). Vom ewigen »Kampf« (VL 11) um die eigene Existenz bedingt, stehe im Zentrum der Betriebsinteressen »nicht die Literatur« (VL 11), sondern nur das Medieninteresse erregende »Abgeleitete, de[r] Skandal, die Enthüllung, de[r] Klatsch« (VL 11).
1 Jens Jessen: Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur? In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 11–14. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle VL in runden Klammern im Text, hier S. 11.
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Das Verderben der Literatur im Literaturbetrieb um 2000
Die Frage, ob der Literaturbetrieb die Literatur ›verdirbt‹, erörtert Jessen mit Blick auf zwei Ebenen. Zum einen bestimmt er den Literaturbetrieb als einen den Smalltalk, »die höflichen Komplimente, die elegante Manipulation« (VL 13) generierenden Boulevard, der sich in einem für Außenstehende zumeist ebenso schlecht einseh- wie nachvollziehbaren Gemenge hinter den Kulissen abspiele. Dieser Ebene der Interaktion unter Anwesenden, der »Geselligkeiten, d[es] Geplapper[s], d[er] Küßchen« (VL 13), korrespondieren zum anderen Beobachtungen zu Entwicklungen auf der sozialen Makro-Ebene. Mit dem Hinweis darauf, dass Autoren dem den literarischen Werken schädlichen »Literaturmilieu« (VL 14) nun einmal unhintergehbar ausgeliefert seien, schließt sich am Ende der Diskussionseröffnung der Kreis zu der zu Beginn formulierten Diagnose einer »amusische[n] Öffentlichkeit« (VL 11). Diese sei zunehmend durch mediale und ökonomische Vorgaben geprägt und trage dadurch ihren Teil zur Beeinträchtigung der Literatur bei. Verbindendes Element zwischen ›Geplapper‹ und ›amusischer Öffentlichkeit‹ ist das Ringen der Beteiligten um die »knappe Ressource Aufmerksamkeit« (VL 11). Wer im Konkurrenzkampf des Betriebs bestehen wolle, müsse sich von der Literatur abwenden und sich auf aufmerksamkeitsstarke Vermittlungsstrategien konzentrieren. Setzten sich Autoren und Literatur diesem Kampf aus, um beim Publikum, in den Medien und auf dem Markt Beachtung zu finden, würden sie schließlich zum »Material« (VL 11) eines medial wie ökonomisch geprägten Produktionsprozesses reduziert. Auch auf literaturwissenschaftlicher Seite werden die betrieblichen Bedingungen literarischer Kreativität der Jahrtausendwende thematisiert. Neben der Suche nach ›neuen Paradigmen‹,2 »neuen Inhalten und narrativen Verfahren« 3 oder dem Ausrufen einer »Wendezeit« 4 oder ›Zeitenwende‹,5 mitunter der ›Ent-
2 Vgl. Corina Caduff u. Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München 2005. Siehe daneben Christine Cosentino u. a. (Hg.): An der Jahrtausendwende. Schlaglichter auf die deutsche Literatur. (Frankfurter Forschungen zur Kultur- und Sprachwissenschaft 6) Bern u. a. 2003; Julia Schöll u. Johanna Bohley (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg 2012; Evi Zemanek u. Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008. 3 Johanna Bohley u. Julia Schöll: Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts – eine Einleitung. In: Julia Schöll u. Johanna Bohley (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg 2012, S. 9–20, hier S. 9. 4 Natalie Binczek u. a.: Einleitung. In: Natalie Binczek u. a.: Anfang offen. Literarische Übergänge ins 21. Jahrhundert. (Reihe Siegen 145) Heidelberg 2002, S. 7–13, hier S. 8. 5 Vgl. Michael Boehringer u. Susanne Hochreiter (Hg.): Zeitenwende. Österreichische Literatur seit dem Millennium: 2000–2010. Wien 2011.
Das Verderben der Literatur im Literaturbetrieb um 2000
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grenzungen‹ 6 ist in der jüngeren literaturwissenschaftlichen Forschung zur deutschsprachigen Literatur um 2000 deshalb nicht von ungefähr viel von Vermarktungs- und Inszenierungsstrategien die Rede. Aber auch die Frage, welche Stellung Literatur in einer medial und ökonomisch geprägten Gesellschaft hat, welche Leser sie erreicht und worin ihre spezifische ›Gegenwärtigkeit‹ besteht, spielt eine wesentliche Rolle. Der Wandel von Literaturvermittlungsprozessen, wie er etwa durch diversifizierte Publika, steigende Profitvorgaben der zwischenzeitlich größtenteils in Konzernen organisierten Verlage sowie durch gewachsene Marketinganforderungen vorangetrieben wird, ist in diesem Zusammenhang sowohl in Fallstudien7 als auch in Überblickskompendien8 thematisiert und eingehenden Analysen unterzogen worden. Allerdings gilt es dabei, die Diagnose der tatsächlichen oder vermuteten veränderten gesellschaftlichen Bedeutung literarischer Texte9 von der Feststellung der grundsätzlichen sozialen Einbettung von Literatur und Autoren zu unterscheiden. Um das, was Jens Jessen als ›Literaturbetrieb‹ bezeichnet und dann im Hinblick auf den Zeitraum der Jahrtausendwende konkretisiert, theoretisch-methodisch zu operationalisieren, beziehen sich neuere literatursoziologische Arbeiten nicht nur, aber zu großen Teilen auf die Arbeiten Pierre Bourdieus10 oder auf das Begriffsinstru-
6 Siehe Elke Brüns: Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung. München 2006. 7 Siehe die Aufsätze in Markus Joch u. a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Gemeinsam mit Nina Birkner. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 118) Tübingen 2009; Erhard Schütz u. Thomas Wegmann (Hg.): literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing. Berlin 2002; Heribert Tommek u. Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Medien-Ökonomien – Autorpositionen. (Diskursivitäten 16) Heidelberg 2012. 8 Vgl. Heinz Ludwig Arnold u. Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3., völlig veränderte Auflage. Neufassung. München 2009; Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005. 9 Siehe dazu vor allem Klaus-Michael Bogdal: Klimawechsel. Eine kleine Meterologie der Gegenwartsliteratur. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Unter Mitarbeit von Hannes Krauss und Jochen Vogt. Opladen u. Wiesbaden 1998, S. 9–31; Klaus-Michael Bogdal: Deutschland sucht den Super-Autor. Über die Chancen der Gegenwartsliteratur in der Mediengesellschaft. In: Clemens Kammler u. Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, S. 85–94. Siehe daneben die Aufsätze in Matthias Beilein u. a. (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 129) Berlin u. Boston 2011. 10 Vgl. Markus Joch u. Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108) Tübin-
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Das Verderben der Literatur im Literaturbetrieb um 2000
mentarium der soziologischen Systemtheorie.11 Der Rückgriff auf die Theorien des literarischen Feldes oder des literarischen Systems verspricht unter anderem, sich im Fahrwasser des in den 1970er und frühen 1980er Jahren unvollendet gebliebenen Projekts einer Sozialgeschichte der Literatur bewegen zu können, ohne deren literatursoziologisches ›Versprechen‹ 12 schlichtweg einlösen zu müssen. Dieses Versprechen stellte ein Kommunikationsmodell von Literatur in Aussicht, das es ermöglichen sollte, die Form von Literatur aus sozialen Kontexten mehr oder weniger ›ableiten‹ zu können. Forschungsprogrammatisch interessierte mithin die Untersuchung der ›Bedingungsverhältnisse‹ von sozialen Zusammenhängen und literarischen Texten: Als Ausgangspunkt fungierte der Bezug auf eine als im weitesten Sinne ›sozial‹ markierte Referenz. Die so unterstellte sozialstrukturelle Bedingtheit von Literatur legitimierte dann dazu, Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur mithilfe eines die Gesamtheit an literalen Kontexten einbeziehenden Modells möglichst umfassend zu beschreiben. Unterstellt wurde bei all dem die Irreversibilität von sozialen Zusammenhängen und literarischen Texten: Das ›Soziale‹ ›bedingt‹ die Literatur – und nicht umgekehrt. System- und feldtheoretisch informierten Ansätzen geht es demgegenüber mittlerweile darum, Literatur im Allgemeinen, Gegenwartsliteratur im Besonderen gesellschaftsstrukturell zu verorten, ohne eine Asymmetrie in das Verhältnis von ›Literatur‹ und ›Gesellschaft‹ einzubauen. Betont wird nun, nach »dem ›Ende‹ der Literaturgeschichte als Sozialgeschichte« 13, die grundsätzliche Reversibilität von sozialen Kontexten und Tex-
gen 2005. Siehe speziell zum Zusammenhang von Sozialgeschichte und feldtheoretischer Literaturwissenschaft Markus Joch: Literatursoziologie/Feldtheorie. In: Jost Schneider (Hg.): Methodengeschichte der Germanistik. Unter redaktioneller Mitarbeit von Regina Grundmann. Berlin u. New York 2009, S. 385–420. 11 Um nur ein Beispiel zu nennen, siehe Christoph Deupmann: Narrating (New) Economy. Literatur und Wirtschaft um 2000. In: Evi Zemanek u. Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008, S. 151–161. Einen Überblick über die systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaft bietet Natalie Binczek: Systemtheorie. In: Jost Schneider (Hg.): Methodengeschichte der Germanistik. Unter redaktioneller Mitarbeit von Regina Grundmann. Berlin u. New York 2009, S. 701–720. 12 Vgl. zum Folgenden Jürgen Fohrmann: Das Versprechen der Sozialgeschichte (der Literatur). In: Martin Huber u. Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 105–112. 13 Heribert Tommek u. Klaus-Michael Bogdal: Einleitung. In: Heribert Tommek u. Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Medien-Ökonomien – Autorpositionen. (Diskursivitäten 16) Heidelberg 2012, S. 7–23, hier S. 8.
Das Verderben der Literatur im Literaturbetrieb um 2000
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ten, mithin der Verzicht auf »eine[ ] Soziologie der unmittelbaren ›äußeren‹ Determination.« 14 Jessens Frage nach dem ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb zielt genau auf diesen Beziehungszusammenhang, verknüpft ihn indes wiederum mit dem eigentlich als abgehakt angenommenen sozialgeschichtlichen Interesse an kausalen Ableitungsverhältnissen. Nicht zuletzt dem Format der Diskussionseröffnung geschuldet spitzt er nämlich die sich an dem Verweis auf ihre sozialstrukturelle Einbettung entzündende Frage der gesellschaftlichen ›Verortbarkeit‹ von Literatur in zwei Hinsichten zu. Zum einen ist für ihn nicht ausschließlich, aber vor allem mit Blick auf den deutschsprachigen Literaturbetrieb um 2000 das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft durch einen starken, kaum zu überwindenden Gegensatz geprägt: ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹ seien einander »entgegengesetzt« (VL 13). Seien Autoren gleichwohl »unweigerlich« (VL 14) sozialstrukturell eingebunden, könnten sich also gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht entziehen, folgt nach Jessen aus diesem Gegensatz zum anderen, dass die Literatur der Jahrtausendwende sich nicht als das ausbilden könne, was sie eigentlich auszeichne: nämlich als auf das »Inkommensurable« (VL 14) abzielende Kunst. Kunst verlangt Wahrheit und Kompromißlosigkeit, die Gesellschaft verlangt Lügen und Diplomatie. Es ist für einen Künstler nicht ungestraft möglich, das geschmeidige, unaufrichtige, berechnende Wesen eines Salonlöwen einzulernen, ohne daß dieses Wesen schließlich auch zum Wesen seiner Literatur wird. (VL 13)
Erweise sich der Literaturbetrieb als Ausdruck der »Überfidie« (VL 14) eines Milieus, das der »kompromißlosen Individualität« (VL 14) literarischer Werke diametral entgegengesetzt sei und diese mitunter beschädige, stehe mithin nichts weniger als die »Eigenlogik« (VL 14) von Literatur als Kunst auf dem Spiel. Der »Literaturbetrieb als soziale Erfahrung« (VL 13) setze einen tiefgreifenden Prozess der ›Beschädigung‹ alles Literarischen in Gang, der letztlich dazu führe, dass es zwischen Literatur und Nicht-Literatur, zwischen ›Werk‹ und ›Markenware‹, keine klare Differenz mehr gebe beziehungsweise keine solche etabliert werden könne. Die Abgrenzung gegenüber der »Macht der Gesellschaft« (VL 13) ist aber Jessen zufolge konstitutiv für das »Wesen« (VL 13) der Literatur, weil diese sich über ihr ›Anderssein‹ definiere, sich gleichsam nur in Opposition zu den »üblichen Selbstverständigungsdiskurse[n]« (VL 13) als »Kunstradikalität« (VL 14) realisiere.
14 H. Tommek u. K.-M. Bogdal, Einleitung, S. 8. Siehe daneben die Beiträge in Maik Bierwirth u. a. (Hg.): Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen. (»Automatismen«) München 2012.
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Das Verderben der Literatur im Literaturbetrieb um 2000
Also noch einmal: ›Verdirbt‹ der Literaturbetrieb das, was Fritz Raddatz im Zuge einer ganz ähnlich wie Jessens Diskussionseröffnung ausgerichteten Diagnose zum ›kulturellen Sinkflug‹ ebenso emphatisch wie unbestimmt den »innere[n] Kern« 15 alles Literarischen nennt? Und wie müsste eine literaturwissenschaftliche Antwort auf die damit verbundene Frage nach dem Verhältnis von ›Literatur‹ und ›Betrieb‹ um 2000 aussehen? Wie kann oder soll Literaturwissenschaft mit einer solchen Frage umgehen? Oder ganz konkret: Kann man überhaupt – konkret, mit empirischen Daten – nachzeichnen, wie gegebenenfalls die ›Verderbnis‹ sich ihren Weg in die einzelnen Werke bahnt, wie die angeblich drohende Beeinträchtigung von Werken durch den berühmten Lärm des Literaturbetriebs um sie herum funktioniert, durch dieses Insgesamt der Anstrengungen zur Verbreitung von Autorennamen und zur Steigerung der Verkaufsziffern, samt zugehörigem Klatsch und ›events‹ einschlägiger Art? 16
Dass Jessens Frage nach dem literaturbetrieblichen ›Verderben‹ literarischer Texte und deren Autoren als Ausgangspunkt der vorliegenden Studie dient, bedeutet nicht, dass sie am Ende beantwortet wird. Statt solche Antworten zu eruieren, sich also auf die Suche nach wie auch immer betrieblich ›beeinträchtigter‹ Literatur zu begeben und gegebenenfalls »[a]uf Missstände im literarischen Feld aufmerksam zu machen« 17 (oder Jessens Vermutung in Gegenrichtung und unter Verweis auf ihre ›Substanzlosigkeit‹ zu widerlegen18 ), interessiert vielmehr, wer wie vom Verhältnis zwischen Literatur und Literaturbetrieb redet. Vorausgesetzt ist dabei die Hypothese, dass die Zustandsdiagnose einer durch den Literaturbetrieb ›verdorbenen‹ Literatur nicht so sehr etwas über eine objektiv greifbare ›Lage‹ oder ›Verfassung‹ der zeitgenössischen Gegenwartsliteratur aussagt. Der Befund erweist sich vielmehr als eine Selbstverständigungskonstruktion eben jener »ritualisierte[n] Scheingefechte an den Schnittstellen der literarischen und der publizistischen Felder« 19 seit den 1990er Jahren, an 15 Fritz J. Raddatz: Wie tief wollen wir noch sinken? In: Die Welt vom 30. 04. 2010. 16 Jörg Drews: Zum Thema: Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur? In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 481–491, S. 481. 17 Stefan Neuhaus u. Oliver Ruf: Was ist Literaturvermittlung? In: Oliver Neuhaus u. Oliver Ruf (Hg.): Perspektiven der Literaturvermittlung. (Angewandte Literaturwissenschaft 13) Innsbruck u. a. 2011, S. 9–23, hier S. 13. 18 Michael Braun betont: »Substantieller Grund zur Klage besteht [...] nicht«, Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln u. a. 2010, S. 38. Stuart Taberner schreibt angesichts der literaturbetrieblichen Gefahren, denen literarisches Schreiben ausgesetzt sei, noch plakativer: »Literature did survive, of course«. Stuart Taberner: German Literature of the 1990s and Beyond. Normalization and the Berlin Republic. Rochester 2005, S. 10. 19 Matthias Beilein: Literarische Debatten ohne Literatur? Das Beispiel Martin Mosebach, in: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften (2010), Nr. 17. http://www.inst.at/trans/ 17Nr/8–3/8–3_beilein. htm (19. 05. 2010).
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die Jessens Diskussionseröffnung im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft anknüpft und für die er selbst exemplarisch stehen kann20 – eine Selbstverständigungskonstruktion mithin, zu deren Spielregeln gehört, dass die Klage über das als mittlerweile fragwürdig angenommene »Existenzrecht« 21 der Literatur im Literaturbetrieb selbst als in vielerlei Hinsichten ›verdorben‹ beschrieben und als bloßes »Krisengerede« 22 entlarvt werden kann. Folgerichtig steht im Folgenden nicht das vermutete oder tatsächliche ›Verderben‹ der Literatur im Mittelpunkt des Interesses, sondern das Verhältnis von Literatur und Betrieb »in seiner poetischen Ausführung«,23 das heißt die Art und Weise, wie sich Literatur über die Unterstellung ihrer ›Beschädigung‹ im und durch den Litera-
20 Diese Lageberichte zum ›Zustand‹ der Literatur besitzen »an abiding vigour and capacity to capture public attention«. Frank Finlay: Literary debates and the literary market since unification. In: Stuart Taberner (Hg.): Contemporary German Fiction. Writing in the Berlin Republic. Cambridge 2007, S. 21–38, hier S. 36. Ebenso wie den zahlreichen sich parallel ereignenden Literaturskandalen – etwa um Maxim Biller, Günter Grass, Peter Handke, Charlotte Roche, Botho Strauß, Martin Walser, Binjamin Wilkomirski oder Christa Wolf – wird ihnen deshalb eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Evolution deutschsprachiger Literatur der Jahrtausendwende zugeschrieben. Siehe zum Beispiel M. Braun, Die deutsche Gegenwartsliteratur, S. 78–108. Die immer wieder als Ausgangspunkt genannten Beiträge der frühen 1990er Jahre sind in zwei Sammelbänden dokumentiert. Vgl. Andrea Köhler u. Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998; Christian Döring (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt a. M. 1995. Ihren Höhepunkt und vermeintlichen, weil auf Selbstzuschreibungen basierenden Abschluss finden diese Diskussionen in großangelegten Bestandsaufnahmen von feuilletonistischen Größen, die zu Beginn der 1990er Jahre programmatische Forderungen stellen und diese dann nach 2000 als mehr oder weniger erfüllt ansehen. Vgl. insbesondere Hubert Winkels: Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995–2005. Köln 2005; Uwe Wittstock: Leselust. Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur? Ein Essay. München 1995. Dass Debatten um den ›Zustand‹ der Literatur und Literaturskandale nicht erst seit den 1990er Jahren ein literaturbetriebliches Phänomen sind, versteht sich von selbst. Siehe zur Vorgeschichte des ›Verderbens‹ der Literatur im Literaturbetrieb um 2000 etwa Robert Weninger: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. München 2004. 21 Clemens Kammler: Deutschsprachige Literatur seit 1989. Ein Rückblick. In: Clemens Kammler u. Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, S. 13–35, hier S. 19. 22 Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Mit 8 Abbildungen. Göttingen 2004, S. 77. 23 Anja K. Johannsen: »Zuviel zielwütige Kräfte?« Der Literaturveranstaltungsbetrieb unter der Lupe. In: Maik Bierwirth u. a. (Hg.): Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen. (»Automatismen«) München 2012, S. 263–281, hier S. 265. Siehe in diesem Sinne auch Philipp Theisohn u. Christine Weder: Literatur als/statt Betrieb – Einleitung. In: Philipp Theisohn u. Christine Weder (Hg.): Literaturbetrieb. Zur Poetik einer Produktionsgemeinschaft. München 2013, S. 7–16.
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turbetrieb selbst beschreibt. Nicht nur das Feuilleton, sondern auch die deutschsprachige Literatur um 2000 setzt sich nämlich mit den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen ihrer Produktion, Vermittlung und Rezeption immer wieder auseinander.24 Leitend ist in diesem Zusammenhang die Annahme, dass die Selbstbeschreibungsformel des ›Verderbens‹ der Literatur im Literaturbetrieb wie jede andere Selbstbeschreibungsformel durch die Verwendung einer Unterscheidung bestimmt und geformt wird. Die Selbstbeschreibungsformel des literaturbetrieblichen ›Verderbens‹ der Literatur ist durch die Unterscheidung zwischen primären und sekundären literarische Formen strukturiert. Sie setzt die ›eigentlichen‹ literarischen Formen in Beziehung zu jenen Erwartungsstrukturen, die den Leser bei der Vermutung unterstützen, bei bestimmten Texten handele es sich um literarische Werke. Beide Seiten der Unterscheidung sind relational aufeinander bezogen und die Zuordnung literarischer Formen zu einer der beiden Seiten nicht bereits im Vorhinein festgelegt. Dies vorausgesetzt, interessiert sich die vorliegende Studie mithin für die Effekte, die sich aus dem Umstand ergeben, dass Selbstbeschreibungen sowohl als primäre als auch als sekundäre Formen beobachtet werden können, und wie mit dieser Beobachtung in literarischen Texten umgegangen wird. Bezeichnend für solche ›Literaturbetriebs-Szenen‹ – so die hier im Anschluss an das Konzept der ›Schreib-Szene‹ entwickelte Terminologie – ist mithin die Gleichzeitigkeit von condensation und cancellation der Differenz von primären und sekundären Formen innerhalb des literarischen Systems.25 Die literarischen Texte, wie sie die Einzelstudien untersuchen, verweigern sich dessen, was sie selbst je unterschiedlich als ›Literaturbetrieb‹ thematisieren, können aber gleichwohl nicht ohne diesen auskommen. Es kommt zu literarisch-betrieblichen Oszillationsbewegungen, die literarischer Kommunikation selbst wiederum zur Formbildung dienen. Gerade mit der Reflexion ihrer sozialstrukturellen Einbindung und Abhängigkeit, wie sie Literaturbetriebs-Szenen vollziehen, stellen die untersuchten Texte also ihren Anspruch auf literarischen ›Eigensinn‹ heraus.26 24 Vgl. denn auch den Hinweis bei Steffen Richter: Der Literaturbetrieb. Eine Einführung. Texte – Märkte – Medien. Darmstadt 2011, S. 118. 25 Vgl. dazu Dirk Baecker: Im Tunnel. In: Dirk Baecker (Hg.): Kalkül der Form. Frankfurt a. M. 1993, S. 12–37. 26 Siehe zu diesem Argument Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel. Frankfurt a. M. 2002. Damit ist nichts darüber gesagt, ob es so etwas wie ›literarische Autonomie‹ überhaupt (noch oder wieder) unter den von Teilen des Feuilletons thematisierten Bedingungen gesellschaftlicher Ökonomisierung, Medialisierung, Pluralisierung, Hybridisierung usw. gibt. Thomas Wegmann, der letztlich feldtheoretisch argumentiert, geht etwa davon aus, dass künstlerische Autonomie um 2000 als eine Form von Autonomie verstanden werden könne, »die nicht mehr per se vorausgesetzt und durch die Isolation gegenüber dem Heterono-
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Wenn die Einzelstudien sich dazu vornehmen, eine »Redeskription« 27 des ›Verderbens‹ der Literatur im Literaturbetrieb um 2000 anzufertigen, sind mit diesem Anspruch gleichwohl einige konventionelle literaturwissenschaftliche Untersuchungsinteressen ausgeblendet. Zunächst geht es nicht darum, den literarischen Texten ein spezifisches ›Wissen‹ über die sozialstrukturelle Einbettung von Autoren und literarischen Texten zu entnehmen und etwa mit empirisch ausgerichteten literatursoziologischen Studien zu konfrontieren. Untersuchte man die Texte anhand dieser letztlich um ›Aufklärung‹ bemühten Beobachtungsdirektive, erhielte man tatsächlich wenig ›neues‹ Wissen über die Abläufe literaturbetrieblicher Prozesse.28 Auch verzichtet die vorliegende Studie auf solche Lektüren, die den untersuchten Texten ein wie auch immer subversiv-kritisches oder überkommene Strukturen hybridisierendes Potential zuschreiben. Es geht in diesem Sinne auch nicht um (selbst-)ironisch oder satirisch gefärbte Kritik am vermeintlich oder tatsächlich ›verdorbenen‹ Literaturbetrieb. Und schließlich soll auch nicht so sehr die »gewachsene[ ] Selbstreflexivität« 29 zwischen Literatur und Betrieb, wie sie in Literaturbetriebsliteratur zum Ausdruck komme, ›an sich‹ im Vordergrund stehen. Selbstredend arbeiten die untersuchten Texte mit selbstreferentiellen Formen, in den Blick geraten diese der vorliegenden Studie jedoch – wie alles andere auch – vor allem dann, wenn sie wesentlich für das jeweilige Textverfahren sind. Als Verfahren wird dabei das Einpassen von Operationen in das »Formenkombinat des Kunstwerks« 30 verstanden – und um die Untersuchung genau dieses geht es. Das Problem jeder im weitesten Sinne konstruktivistisch, differenz- oder systemtheoretisch ausgerichteten literaturwissenschaftlichen Studie liegt in men behauptet wird, sondern erst und immer wieder hergestellt werden muss«. Thomas Wegmann: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000. Göttingen 2011, S. 527. Man kann das so sehen, der systemtheoretische Autonomie-Begriff, auf den sich die vorliegende Studie bezieht, ist gleichwohl noch voraussetzungsärmer, hebt lediglich auf die operative Anschlussfähigkeit von Kommunikation ab und würde literarische Autonomie feldtheoretisch betrachtet auf der Ebene von Programmen verorten. 27 Niklas Luhmann: Eine Redeskription »romantischer Kunst«. In: Jürgen Fohrmann u. Harro Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996, S. 325–344, hier S. 344. 28 Vgl. Matthias Beilein: Intriganten, Alkoholiker, Zwangsneurotiker. Der Literaturbetrieb kommt in der Literatur nicht gut weg. In: Logbuch. Kreuzer Beilage zur Leipziger Buchmesse (2012), S. 14–15. 29 S. Richter, Der Literaturbetrieb, S. 118. 30 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2002, S. 315. Siehe dazu auch den Verfahrens-Begriff bei Luhmann: Verfahren als System zu verstehen, bedeutet »Alternativen eliminieren, Komplexität reduzieren, Ungewißheit absorbieren oder doch die unbestimmte Komplexität aller Möglichkeiten in eine bestimmte, greifbare Problematik verwandeln.« Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. (Soziologische Texte 66) Neuwied am Rhein u. Berlin 1969, S. 40.
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der grundsätzlichen Kontingenz der Auswahl des Untersuchungsgegenstands. Auch die vorliegende Arbeit kann sich diesem Problem nicht entziehen. Erschwert wird die ohnehin schlichtweg gegebene theoretische Unbestimmtheit zudem noch durch den Umstand, dass das literaturbetriebliche Geschäft mit jenen literarischen Texten, die Prozesse ihrer sozialstrukturellen Rahmenbedingungen thematisieren, um die Jahrtausendwende geradezu »boomt«.31 Gleichwohl ist die Textauswahl der Einzelstudien nicht vollkommen beliebig. Zum einen liegt der Fokus nicht auf Literaturbetriebsliteratur, sondern auf Literaturbetriebs-Szenen, das heißt nicht auf Thematisierungen, sondern auf verfahrenstechnischen Verknüpfungen von histoire-, discours- und paratextuellen Formelementen, was die Textgrundlage erheblich einschränkt. Zum anderen sind die Einzelstudien so angelegt, dass sie jeweils auch zumindest kursorisch andere Literaturbetriebsereignisse um 2000 ansprechen: etwa die Verwicklungen um den Suhrkamp-Verlag, insbesondere nach dem Tod Siegfried Unselds, den Skandal um Martin Walsers Tod eines Kritikers oder Charlotte Roches Bestseller Feuchtgebiete. Als Ausgangspunkt fungiert ein auch von der Forschung bereits eingehender untersuchter, beinahe schon als Klassiker gehandelter Beitrag zur Literaturbetriebsliteratur der Jahrtausendwende: Bodo Kirchhoffs Schundroman (2002) und mehr noch die Erinnerungen an meinen Porsche von 2009 inszenieren die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Formen, zwischen ›Literatur‹ und ›Betrieb‹ als eine Art Kippfigur, wobei sie jeweils unter Rückgriff auf auktorial-(para)-textuelle Elemente versuchen, die Unterscheidung in Richtung betrieblich ›unverdorbener‹ Literatur stillzustellen (Kapitel 3). Andreas Maiers Sanssouci (2009) verfährt gleichsam invers dazu, indem die Literaturbetriebs-Szene die provokativ platzierte auktoriale Erzählinstanz mit der Autorfunktion ›verschleift‹ und als Figur der auf der histoire-Ebene entfalteten sekundären Formen des Literatursystems wieder auftauchen lässt. Vorbereitet wird dies durch das Zusammenspiel von Maiers Dissertation und der 2006 erschienenen Poetikvorlesung Ich (Kapitel 4). Norbert Gstreins Die ganze Wahrheit von 2010 verfährt insofern ähnlich, als auch ihre Literaturbetriebs-Szene zu einer programmatisch grundierten ›Verschachtelung‹ von Text und Paratext führt, wie sie Gstrein unter anderem bereits im Selbstportrait mit einer Toten durchspielt. Dabei ist es gerade die Selbstreflexion der Unterscheidung von
31 Gunther Nickel: Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Wolfgang Bauers Change, Albert Ostermaiers The Making Of. B.-Movie, Rainald Goetz’ Jeff Koons und Falk Richters Gott ist ein DJ. In: Frank Göbler (Hg.): Das Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen. (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 41) Tübingen 2009, S. 283–301, hier S. 283.
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realer und fiktionaler Realität, die im Modus eines ›Skandals mit Ansage‹ die lancierten Realitätseffekte derart forciert, dass sich der Text in den von ihm selbst thematisierten Klatsch literaturbetrieblicher Beziehungssysteme transformiert (Kapitel 5). Ernst-Wilhelm Händlers 2006 erschienener Roman Die Frau des Schriftstellers schließlich de- und rekonstruiert kontinuierlich die Identität des Ich-Erzählers und Schriftstellers, um auf diese Weise keineswegs das Verhältnis zwischen ›Betrieb‹ und ›Literatur‹ als ein letztlich ›fatales‹, weil Identität destruierendes zu reinszenieren. Tatsächlich zielt die aus heterogenen Partikeln zusammengesetzte Narration weniger auf die fiktionale Realität, als vielmehr auf die paratextuelle Inszenierung Händlers, der sich als ›Unternehmensdichter‹ im Literaturbetrieb platziert (Kapitel 6). Zur relativen Ausführlichkeit der einzelnen Kapitel seien zwei Bemerkungen hinzugefügt. Erstens ist jede Analyse von Literaturbetriebs-Szenen geradezu konstitutiv an eben jenes paratextuelle Feld verwiesen, das durch den sozialstrukturellen Rahmen, insbesondere die literaturkritische Rezeption der jeweils ›eigentlichen‹ Texte bestellt wird. Es geht eben um den Zusammenhang zwischen ›Literatur‹ und ›Betrieb‹, der konventionelle Text-, um nicht zu sagen: ›Werkgrenzen‹ ignoriert. Das hat aber zur Folge, dass die vorliegende Untersuchung immer auch in Gefahr steht, sich selbst in ihrem Gegenstand, also im literaturbetrieblichen Gerede vom Verderben der Literatur zu verfangen, ja dieses gleichsam weiterzuschreiben. Das textanalytische Konzept der Literaturbetriebs-Szene soll dem gleichwohl entgegenarbeiten. Zweitens ist der Umfang der Studien der argumentativen Schichtung geschuldet. Die Binnendifferenzierung der Kapitel folgt jeweils einer zweigliedrigen Struktur. Der erste Teil übernimmt zum einen den Forschungsbericht. Zum anderen untersucht er das jeweilige literarische Programm im Hinblick auf die Frage, inwiefern es literarisches Schreiben auf dessen literaturbetriebliche Rahmenbedingungen bezieht. Die damit einhergehende werkgeschichtliche Einordnung der jeweils im zweiten Kapitelteil analysierten Texte entwickelt darüber hinaus das argumentative Rüstzeug für die Analyse der jeweiligen Literaturbetriebs-Szene. Das nun folgende Kapitel stellt den groben theoretischen Rahmen für die Einzelstudien bereit. Dazu wird zunächst die konventionelle literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit literaturbetrieblichen Phänomenen diskutiert, um in Abgrenzung dazu das Konzept der Literaturbetriebs-Szene zu erörtern, das die vorliegende Studie entwickelt und der Literaturwissenschaft zur Analyse des Verhältnisses von primären und sekundären literarischen Formen vorschlägt (Kapitel 2). Jeweils lokal am Einzelphänomen platzierte, über den Text verstreute Theoriebausteine ergänzen die dort beschriebene theoretische Basis.
2 Eine Redeskription literaturbetrieblichen ›Verderbens‹ Auch wenn die literaturbetriebliche Einbettung der deutschsprachigen Literatur um 2000 immer wieder als Desiderat der Forschung ausgeschrieben wird, gibt es doch eine Vielzahl an Ansätzen aus unterschiedlichen Disziplinen, die sich mit eben jenem Literaturbetrieb der Jahrtausendwende beschäftigen. Dieses interdisziplinär bestellte Feld, mitunter explizit als ›Inter-Disziplin‹ 1 gefasst, kann ebenso auf buchwissenschaftliche und kultur- oder medienwissenschaftliche Herangehensweisen zurückgreifen, wie auf betriebswissenschaftliche, philosophische oder soziologische Importe.2 Die Literaturwissenschaft nähert sich dem mit Jens Jessens Frage nach dem ›Verderben‹ aufgerufenen Zusammenhang von Literatur und Literaturbetrieb üblicherweise in drei Hinsichten: Einer historischen Perspektive stehen eine praktische und eine kulturanalytische Perspektive gegenüber. Der historischen Sichtweise geht es um die »Tiefen der Literaturgeschichte«.3 Jessens Beobachtungen erscheinen vor diesem Hintergrund »eher als Nuancierungen und Variationen eines alten Themas«,4 da das Verhältnis zwischen moderner Literatur und Buchmarkt seit dem 18. Jahrhundert ein »fast ursprüngliche[s]« 5 sei. In historischer Perspektive lasse sich mithin erkennen, dass Literatur und Literaturbetrieb nicht nur aufeinander bezogen, sondern auch in vielfältigen Hinsichten angewiesen seien. Die praktische Perspektive begegnet Jessens Frage demgegenüber mit dem Hinweis darauf, »dass Literatur auch immer der marktwirtschaftlichen Vermitt-
1 Siehe Tasos Zembylas: Kulturbetriebslehre. Grundlagen einer Inter-Disziplin. Wiesbaden 2004. 2 Vgl. Renate Grau: Ästhetisches Engineering. Zur Verbreitung von Belletristik im Literaturbetrieb. Bielefeld 2006; Anke Vogel: Der Buchmarkt als Kommunikationsraum. Eine kritische Analyse aus medienwissenschaftlicher Perspektive. Wiesbaden 2011; Tasos Zembylas u. Claudia Dürr: Wissen, Können und literarisches Schreiben. Eine Epistemologie der künstlerischen Praxis. Wien 2009. Zu nennen wären an dieser Stelle sicherlich noch groß angelegte historischsystematische Arbeiten etwa von Georg Jäger, Siegfried J. Schmidt oder Jörg Schönert. 3 Silke Bittkow u. a.: Vorwort. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 5–9, hier S. 6. Siehe dazu umfassend Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. München 1999. 4 S. Bittkow u. a., S. 6. 5 S. Bittkow u. a., S. 6.
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lung bedarf.« 6 Literatur und Markt unterlägen zwar je eigenen »Gesetzmäßigkeiten«,7 es ließen sich indes wechselseitige Austauschprozesse zwischen den Bereichen beobachten. Die sich damit einstellenden »Schnittstellen« 8 zwischen Betrieb und Literatur machten mithin deutlich, dass Letztere nicht als ein Phänomen betrachtet werden könne, das abgelöst von Markt und Medien bestehen könnte. Die kulturanalytische Perspektive versteht Literatur und Literaturbetrieb schließlich als Teile »des umfassenden Zeichen- und Wertesystems Kultur«.9 Wird Jessens Frage in den ersten beiden Perspektiven bereits deutlich historisch und systematisch relativiert, wird ihr in kulturanalytischer Perspektive gleichsam der Boden entzogen. Die Frage nach dem literaturbetrieblichen ›Verderben‹ der Literatur stellt sich in dieser Perspektive überhaupt nicht, weil Betrieb und Literatur demzufolge gar nicht getrennt voneinander betrachtet werden könnten. Markt und Literatur seien vielmehr zwei ›Diskurse‹, »die sich vielfach überschneiden, verwirren und gegenseitig befördern und zuweilen auch hemmen«.10 Auch wenn an dieser Stelle nicht näher auf diese drei literatur- und kulturwissenschaftlichen Theoriekonglomerate eingegangen werden kann, verdeutlicht die holzschnittartige Skizze der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem, was Jens Jessen exemplarisch für andere als ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb bezeichnet, doch zumindest eines: Bei allen Unterschieden im Einzelnen setzt jede der drei Perspektiven voraus, dass es so etwas wie einen ›Literaturbetrieb‹ gibt. So plausibel und einleuchtend dies aber auch sein mag, die vorliegende Studie geht von anderen Voraussetzungen aus. Sie nimmt die Feststellung, dass es sich beim literaturbetrieblichen ›Verderben‹ der Literatur um eine ›Klage‹, mithin um eine ›Äußerung‹ handelt, literaturwissenschaftlich ernst. Wenn es dazu im Folgenden nun zunächst um Literaturwissenschaft, schließlich um literarische Texte geht, dann ist dabei vorausgesetzt, dass die Beobachtung des Literaturbetriebs in Kommunikationszusammenhängen zu verorten ist, die das, was als ›Literaturbetriebszusammenhänge‹ analysiert beziehungsweise literarisch beschrieben wird, überhaupt erst generieren.
6 S. Bittkow u. a., S. 7. 7 S. Bittkow u. a., S. 7. 8 S. Bittkow u. a., S. 7. 9 S. Bittkow u. a., S. 7. 10 S. Bittkow u. a., S. 7.
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2.1 Annäherungen an ein ›diffuses Phänomen‹ Das »Summarische[ ]« 11 von Jens Jessens Frage rückt einen wichtigen, wenn nicht den entscheidenden Gesichtspunkt in den Blickpunkt, dem sich jede Auseinandersetzung mit dem ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb stellen muss. Die Beobachtung, man habe es bei dem, was üblicherweise als ›Literaturbetrieb‹ bezeichnet wird, keineswegs mit einem »einheitliche[n] Milieu« 12 zu tun, thematisiert die für den jeweiligen Beobachter nicht unproblematische Komplexität des Phänomens. Dessen ›Vielfalt‹ oder ›Unübersichtlichkeit‹ ist es nämlich, die literaturkritische Zustandsdiagnosen wie diejenigen des ›Verderbens‹ der Literatur immer auch als unterkomplex erscheinen lassen. Um dem Problem des ›Unübersichtlichen‹ zu begegnen, wird der Feststellung, die Frage nach dem ›Verderben‹ sei schlicht »zu pauschal gestellt, um sie sinnvoll beantworten zu können«,13 dort, wo die Auseinandersetzungen um die ›Verfassung‹ deutschsprachiger Literatur literaturbetriebliche Zusammenhänge thematisieren, mit spezifischen Zugriffsformen Rechnung getragen: insbesondere in Form von autobiographisch gerahmten ›Anekdoten‹,14 ›Stippvisiten‹ 15 oder programmatisch betriebenen ›Annäherungen‹.16 Als Lösungsversuche reagieren diese Zugriffe auf das Problem, mit einer notgedrungen »kasuistisch« 17 ausgerichteten Perspektive immer nur Teilaspekte des als ›unübersichtlich‹ vorausgesetzten Betriebs thematisieren zu können. Analog dazu sind die literaturtheoretischen Zugriffe auf den Literaturbetrieb durch zwei Aspekte gekennzeichnet: Zum einen wird auch und gerade auf literaturwissenschaftlicher Seite immer wieder die ›Komplexität‹ des Betriebs betont, der es literaturwissenschaftlich spezifisch zu begegnen gelte. Zum anderen zeichnen sich die literaturwissenschaftlichen ›Annäherungen‹ an den Betrieb zumeist durch einen literatursoziologischen Akteursbegriff aus, um mit diesem gleichsam ›hinter‹ die Betriebskulissen zu schauen.
11 Jörg Drews: Zum Thema: Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur? In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 481–491, hier S. 486. 12 Beatrice von Matt: Eine Stellungnahme aus schweizerischer Sicht. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 492–495, hier S. 494. 13 Uwe Wittstock: Anmerkungen zu Jens Jessens Diskussionseröffnung Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur? In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 503–507, hier S. 507. 14 Siehe etwa Hubert Winkels: Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995–2005. Köln 2005. 15 Vgl. Uwe Wittstock: Die Büchersäufer. Streifzüge durch den Literaturbetrieb. Springe 2007, S. 22 16 Vgl. Andreas Breitenstein (Hg.): Der Kulturbetrieb. Dreißig Annäherungen. Frankfurt a. M. 1996. 17 J. Drews, S. 490.
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2.1.1 Literaturbetrieb zwischen Unübersichtlichkeit und Vielfalt Diagnostizieren bereits die literaturkritischen ›Annäherungen‹ an den Literaturbetrieb wiederholt dessen ›Unübersichtlichkeit‹, hält auch die literaturwissenschaftliche Seite ein »verwirrendes und kontroverses Ergebnis« 18 fest. Die Beobachtung, dass es sich bei dem, was gewöhnlich als ›Literaturbetrieb‹ bezeichnet wird, um »ein diffuses Phänomen« 19 handelt, betrifft zunächst die Begriffsbestimmung selbst. Der Begriff ›Literaturbetrieb‹ ist Teil eines heterogenen Begriffsensembles, das zum einen die Zuordnung zu den sozialen Differenzierungsformen Interaktion, Organisation und Gesellschaft betrifft. Das BuchMarktBuch differenziert unter dem Lemma ›Kulturbetrieb‹ zwischen drei Perspektiven. Demnach bezeichnet ›Kulturbetrieb‹ erstens »eine spezifische Kultureinrichtung«,20 die unter »betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten« 21 betrachtet wird. Zweitens benennt der Begriff »die Summe der Kulturbetriebe und Institutionen einer bestimmten Sparte«,22 von denen der Literaturbetrieb ein Bereich unter anderen ist. Und drittens bezeichnet der Begriff des Kulturbetriebs »im umfassenden Sinn« 23 schließlich »die Summe aller Einrichtungen, Organisationen und Personen, die mit der Herstellung, der Verbreitung und schließlich der Konsumption von Kunst und Kultur befasst sind«.24 In diesem letzten Sinne gerinnt der Begriff zur Bezeichnung eines gesellschaftlichen Funktionsbereichs, wobei auch die Ebene der Interaktion dann wieder angesprochen ist. Zum anderen betrifft die Heterogenität der Begriffsbestimmung die Abgrenzung von benachbarten, mitunter synonym verwendeten Begriffen. Hält man sich an den ›umfassenden Sinn‹ des Literaturbetriebsbegriffs zur Bezeichnung eines gesellschaftlichen Funktionsbereichs erweist sich die Bestimmung nämlich als nicht weniger diffus. So verzeichnet das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft unter dem Lemma ›Literaturbetrieb‹ bemerkenswerterweise keinen Eintrag. Unter dem Lemma ›Literarisches Leben‹, das als die »Gesamtheit des Zusammenwirkens zwischen Produktion, Distribution und Rezepti-
18 Bodo Plachta: Literaturbetrieb. Paderborn 2008, S. 9. 19 B. Plachta, S. 9. 20 Armin Klein: Kulturbetrieb. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 180–183, hier S. 180. 21 A. Klein, S. 180. 22 A. Klein, S. 180. 23 A. Klein, S. 181. 24 A. Klein, S. 181.
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on der Literatur« 25 verstanden wird, findet sich indes eine Begriffsabgrenzung. So werde ›Literarisches Leben‹ gewöhnlich unterschieden von »konkurrierenden Bezeichnungen wie Literaturbetrieb oder Literarische Kommunikation, die stärker Funktionen und Insider-Aktivitäten des Buchmarkts hervorheben«.26 Der Beobachtung, dass hinter dem Begriff des Literaturbetriebs »kein klar umrissenes wissenschaftliches Konzept« 27 stehe, ja eine »Vielzahl von Begriffsalternativen wie ›Literaturmarkt‹, ›literarisches Leben‹, ›literarische Öffentlichkeit‹ oder ›Literaturvermittlung‹ im Gebrauch« 28 sei und deshalb pragmatische »Akzentsetzung« 29 gefragt sei, korrespondiert eine spezifische, mitunter pejorative Konnotation des Begriffs. Geht es bei all den genannten Begriffen darum, eben jene Akteure und Organisationen zu bezeichnen, die daran beteiligt sind, »die Literarizität eines Textes in der Öffentlichkeit herauszustellen«,30 handelt es sich beim Begriff des Literaturbetriebs anders als etwa beim »traditionell[en]« 31 Begriff der ›literarischen Öffentlichkeit‹ oder der »funktionalistisch« 32 orientierten Bezeichnung ›Literatursystem‹ um einen nicht nur »saloppe[n]«,33 sondern geradezu »abfällig[en]« 34 Begriff. Dass dies so ist, mit dem Literaturbetrieb also nicht nur das »Ensemble von Institutionen und Praktiken [...] für die Herstellung, Verbreitung und Aufnahme von Literatur« 35 bezeichnet wird, sondern mit ihm eine Vorstellung verbunden ist, die Jens Jessens Frage nach dem ›Verderben‹ der Literatur aktualisiert, liegt nicht zuletzt in der Rückführung des Begriffs auf das Konzept der ›Kulturindustrie‹, wie es im Anschluss an Horkheimer und Adorno bis in die Debatten um den ›Zustand‹ der deutschsprachigen Literatur um 2000 mitgetragen wird.36 25 Otto Lorenz: Literarisches Leben. In: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Bd. II. Berlin u. New York 2003, S. 438–441, hier S. 438. 26 O. Lorenz, Literarisches Lebens, S. 439. 27 Matthias Beilein: Literaturbetrieb. In: Gerhard Lauer u. Christine Ruhrberg (Hg.): Lexikon Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2011, S. 181–183, hier S. 181. 28 M. Beilein, Literaturbetrieb, S. 181. 29 M. Beilein, Literaturbetrieb, S. 181. 30 B. Plachta, S. 13. 31 Literarisches Leben. In: Dieter Burdorf u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart u. Weimar 2007. 32 Literarisches Leben. 33 Literaturbetrieb. In: Ralf Schnell (Hg.): Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945. Stuttgart u. Weimar 2000. 34 Literarisches Leben. 35 Steffen Richter: Der Literaturbetrieb. Eine Einführung. Texte – Märkte – Medien. Darmstadt 2011, S. 118. 36 Siehe speziell zum Zusammenhang von Literaturbetrieb und Kulturindustrie die Skizze bei Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln u. a. 2010, S. 40. Vgl.
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Die durch die literaturwissenschaftlichen Lexika bestätigte ›Komplexität‹ des Literaturbetriebs, den es mithin ›eigentlich gar nicht gibt‹,37 legt nun wie auf feuilletonistischer Seite auch in der Literaturwissenschaft die Form des ›Schlaglichts‹ oder der ›Annäherung‹ nahe – verknüpft auch hier mit der Betonung, immer nur »Teilaspekte eines komplexen Beziehungsgeflechts« 38 ins Zentrum stellen zu können. Realisiert findet sich dies vor allem im Handbuch. Zwei in dieser Hinsicht aufschlussreiche Beispiele sind die von Heinz Ludwig Arnold und Matthias Beilein herausgegebene Neufassung des Handbuchs Literaturbetrieb in Deutschland von 2009 sowie das bereits zitierte und von Erhard Schütz betreute BuchMarktBuch von 2005. In den forschungsprogrammatischen Vorworten der beiden Übersichtskompendien zum Literaturbetrieb der Jahrtausendwende wird das, was der Begriff ›Literaturbetrieb‹ bezeichnet, zwar nicht zur Disposition gestellt, so doch aber als komplex und deshalb als letztlich nicht umfassend beschreibbar charakterisiert. Den Herausgebern geht es denn auch jeweils lediglich um die Beschreibung von »Aspekt[en]« 39 beziehungsweise die Ermöglichung eines »Panorama[s]«,40 keinesfalls jedoch um »Vollständigkeit« 41 oder eine »Darstellung ›aus einem Guss‹«.42 Die Form des Handbuchs ergibt sich mithin auch hier aus der Form der angenommenen Komplexität des Gegenstands. So versammelt das Handbuch Literaturbetrieb in Deutschland eine Reihe »kritischer, teils dezidiert subjektiver Auseinandersetzungen«.43 Das Programm von Arnold und Beilein zeichnet sich dabei durch den expliziten Verzicht auf programmatische Einheit aus. Auf Konsens wurde [...] nicht abgezielt: Der Dynamik des höchstlebendigen Literaturbetriebs selbst ist es geschuldet, dass die Autorinnen und Autoren in ihren Interpretationen und Prognosen voneinander abweichen, ja stellenweise einander widersprechen.44
Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. In: Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 15. Auflage. Frankfurt a. M. 2004, S. 128–176. 37 Siehe die Formulierung bei B. Plachta, S. 9. 38 Lutz Hagestedt: Autorenpräsentation und -förderung: Lesungen, Ausstellungen, Preise. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Bd. 1. Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart u. Weimar 2007, S. 296–306, hier S. 296. 39 S. Bittkow u. a., S. 8. 40 Heinz Ludwig Arnold u. Matthias Beilein: Vorbemerkung. In: Heinz Ludwig Arnold u. Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3., völlig veränderte Auflage. Neufassung. München 2009, S. 9–11, hier S. 10. 41 S. Bittkow u. a., S. 8. 42 H. L. Arnold u. M. Beilein, S. 10–11. 43 H. L. Arnold u. M. Beilein, S. 10. 44 H. L. Arnold u. M. Beilein, S. 11.
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Die beiden Herausgeber weisen an dieser Stelle betont darauf hin, dass die literaturwissenschaftliche Darstellung in Handbuch-Form der diffusen Form des Betriebs selbst ›geschuldet‹ sei. Die Widersprüchlichkeit und Subjektivität der versammelten Beiträge wird also durch die angenommene ›Komplexität‹ des Gegenstands legitimiert, die eine solche Herangehensweise nahelege. Auch der Anspruch des BuchMarktBuchs, »ein Netzwerk von Stichworten, Themen, Debatten und Verweisen zu entwerfen«,45 ergibt sich den Herausgebern zufolge aus der Struktur des Literaturbetriebs. Ähnlich dem Vorgehen Arnolds und Beileins setzt das BuchMarktBuch auf Autoren, die in unterschiedlichen Bereichen des Literaturbetriebs tätig sind und diesen aus ebenso unterschiedlichen Perspektiven vorstellen – ohne einen abgestimmten Gesamtüberblick ermöglichen zu wollen. Hier schreiben Verleger, Lektoren, Schriftsteller und Literaturagenten ebenso wie Literaturkritiker, PR-Fachleute, Leiter von Literaturhäusern, Festivalveranstalter, Eventmanager, Fundraiser, Buchhersteller, Buchhändler und Antiquare. Hinzu kommen Experten für Populäre Kultur und Literaturgeschichte, Sachbuchforscher, Medienwissenschaftler, Kulturwissenschaftler und nicht zuletzt Ökonomen und Juristen.46
Die schlichte Aufzählung der Beiträger soll auch in diesem Fall die unterstellte Unübersichtlichkeit oder Vielfalt des Literaturbetriebs um 2000 verdeutlichen, die es nicht zulasse, das »komplexe[ ] Funktionssystem« 47 aus einer einheitlichen Perspektive heraus zu beschreiben. Sowohl im BuchMarktBuch als auch im Handbuch Literaturbetrieb in Deutschland wird die Komplexität des Literaturbetriebs mithin dermaßen hervorgehoben, dass sich der Eindruck einstellt, die beobachtete und vorausgesetzte betriebliche ›Unübersichtlichkeit‹ oder ›Vielfältigkeit‹ ist nicht der Ausgangspunkt der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung, sondern wird durch die beiden Handbücher gleichsam überhaupt erst erzeugt. Diese Form der Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb, die den forschungsprogrammatischen Verzicht auf einen »einheitliche[n] Zugriff« 48 gleichsam zu erzwingen scheint, setzt sich bis in einzelne Aufsätze fort. Kann dabei der unterstellten Komplexität des Literaturbetriebs nicht mehr durch die Netzwerkform eines Handbuchs begegnet werden, wird, sofern nicht auf die Ausblendung der großen Mehrzahl an Aspekten des Phänomens explizit hingewiesen wird, immer wieder die Liste als Darstellungsform gewählt. Ein eindrück-
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S. S. S. S.
Bittkow Bittkow Bittkow Bittkow
u. a., u. a., u. a., u. a.,
S. 8. S. 8. S. 8. S. 8.
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liches Beispiel ist in diesem Zusammenhang eine Fußnote in einem Aufsatz Burckhard Dückers zu Literaturpreisen. Den Literaturbetrieb versteht Dücker als ein ›Akteursnetzwerk‹ und unterscheidet dazu zwei Gruppen: menschliche und nicht-menschliche Akteure. Zur ersten Gruppe gehören Autoren, Verlage, Leser, Akademien, Wissenschaften, Literaturhäuser, Preisinstitutionen, literarische Gesellschaften, Dichtervereine, Literaturagenten, Buchmessen, Buch- und Leseclubs, Literaturkritik, Journalisten, Literatur- und Dichtermuseen, Buchhandel, Bibliotheken, Heimatvereine, Literaturzeitschriften, Literaturstreite. Zur zweiten Gruppe können literarische und kulturelle Traditionen, Ritualformen und mentalitär-intellektuelle Atmosphären gezählt werden.49
Relevant an Dückers Definition des Literaturbetriebs als ›Akteursnetzwerk‹ ist nicht so sehr die Frage, ob die von ihm angeführte Netzwerk- oder Ritualtheorie für Analysen von Zusammenhängen des Literaturbetriebs, insbesondere der Funktionsweise von Literaturpreisen hilfreich ist oder nicht. Wichtig ist auch nicht so sehr die Frage, ob die Liste Vollständigkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Gerade das Ausbleiben der Konjunktion ›und‹ in der Aufzählung der menschlichen Akteure weist auf den partiellen, ausschnitthaften Charakter selbst dieser umfangreichen Liste hin. Bemerkenswert ist die Liste mithin als Liste. Funktional ähnlich der feuilletonistischen Anekdote etwa bei Winkels und Wittstock koppelt sie unterschiedliche Aspekte dessen, was Dücker als Literaturbetrieb verstanden wissen will, ohne die unterstellte Komplexität und Heterogenität der einzelnen Aspekte in einer Einheit aufheben zu müssen. Genau damit entspricht die Form der Liste dem Handbuch, ist doch das, was in einer Liste aufgezählt wird, ebenso wie die Artikel eines Handbuchs oder Lexikons grundsätzlich dekontextualisiert. Schreibtechnisch ergibt sich damit der Vorteil, eben diesen Zusammenhang nicht explizit nennen zu müssen, ja diesen im Unbestimmten zu belassen. Dückers Betriebsliste ermöglicht es mithin literaturwissenschaftlich als disparat erscheinende Aspekte zusammenzubringen und analytisch integrieren zu können. Die diversen Gesichtspunkte unterhalten dabei gerade keine spezifischen Beziehungen untereinander, ja die Liste »schaltet Gewichtungen und sinnhafte Querverbindungen aus.« 50 In diesem Sinne repräsentiert Dückers Fußnote eine »Vielheit«,51 die zwar einen »verein-
49 Burckhard Dücker: Literaturpreise. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (2009), Nr. 154, S. 54–76, hier S. 65, Fn. 65. 50 Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 22) Berlin u. New York 2003, S. 8. 51 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 7.
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heitlichende Bezugspunkt« 52 hat, diesen jedoch im grundsätzlich Unbestimmten belassen kann.
2.1.2 Betriebskulisse und Betriebsemphase Dass das ›Diffuse‹ des Betriebs sowohl die literaturwissenschaftliche Gegenstands- als auch Begriffsbestimmung betrifft, bedeutet indes nicht, dass darauf verzichtet würde, Theorie-Modelle zu konstruieren, die es ermöglichen, den Betrieb auf einen literaturwissenschaftlichen Nenner zu bringen. Das Gegenteil ist der Fall: An der Erforschung des Literaturbetriebs und seiner Bedingungen »haben diverse Theoriemodelle Anteil«,53 wobei die neuere Forschung zur deutschsprachigen Literatur um 2000 insbesondere auf die soziologische Systemtheorie sowie Pierre Bourdieus Arbeiten vor allem zum literarischen Feld als Bezugsgrößen zur Untersuchung der Rahmenbedingungen für die Herstellung, Verbreitung und Rezeption von Literatur zurückgreift.54 Häufig wird dabei mitunter das, was als ›Literaturbetrieb‹ bezeichnet wird, durch den jeweiligen theoretischen Leitbegriff schlicht ersetzt. So stellt etwa Lutz Hagestedt in seinem Artikel im Handbuch Literaturwissenschaft mit Blick auf die Systemtheorie als Referenz einer Theorie des Literaturbetriebs fest, die systemtheoretische Literaturwissenschaft postuliere eine »›Autopoiesis‹ der Systemoperationen des Literaturbetriebs«.55 Was diese vereinfachende Applikation indes ausblendet, ist die Trennung von literaturwissenschaftlicher Fremd- und literarischer Selbstbeschreibung, wie sie im zu beobachtenden System strukturbildend ist. Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, system- oder feldtheoretische Ansätze der Literaturwissenschaft in Gänze zu erörtern.56 Wesentlich ist viel-
52 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 7. 53 L. Hagestedt, Autorenpräsentation und -förderung, S. 296. 54 Siehe auch Andreas Dörner u. Ludgera Vogt: Literatur – Literaturbetrieb – Literatur als ›System‹. In: Heinz Ludwig Arnold u. Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. 7. Auflage. München 2005, S. 79–99. Eine elaborierte Applikation unter anderem des struktur-funktionalistischen AGIL-Schemas auf die literarische Öffentlichkeit entwickelt Otto Lorenz: Die Öffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publikationsstrategien: Wolfgang Koeppen – Peter Handke – Horst-Eberhard Richter. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 66) Tübingen 1998, insbesondere S. 1–30. 55 L. Hagestedt, Autorenpräsentation und -förderung, S. 296. 56 Verwiesen sei an dieser Stelle lediglich auf Henk de Berg: Kunst kommt von Kunst. Die Luhmann-Rezeption in der Literatur- und Kunstwissenschaft. In: Henk de Berg u. Johannes F. K. Schmidt (Hg.): Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns
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mehr, wie und wozu die Literaturwissenschaft des Literaturbetriebs auf system- oder feldtheoretische Begriffe zurückgreift. So einleuchtend Übersetzungen wie diejenige von Hagestedt auch sein mögen, stellt sich nämlich die Frage, ob das bloße Ersetzen des Begriffs ›Literaturbetrieb‹ durch ›literarisches System‹ oder ›literarisches Feld‹ der in der vorliegenden Studie interessierenden Rede vom ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb weiterhilft. Es gilt zu berücksichtigen, dass diese Begriffe »besser nicht unabhängig von ihrer spezifischen Funktion in literaturtheoretischen Modellen« 57 verwendet werden. Was in Einführungen in den Literaturbetrieb noch der didaktischen Reduktion geschuldet sein mag, erweist sich in anderen Studien nämlich als durchaus problematisch. Fraglich ist in diesem Zusammenhang also nicht so sehr das Problem der Komplexität der jeweiligen Modelle und ob diese der unterstellten Komplexität des Betriebs gerecht werden können. Fraglich sind vielmehr die mit der Übernahme der Begrifflichkeiten von System- oder Feldtheorie einhergehenden Analyseansprüche der literatursoziologisch orientierten Forschung. So geht mit dem Rückgriff auf System- oder Feldtheorie zumeist der Anspruch einher, »Einblicke hinter den Vorhang des Literaturbetriebs« 58 zu erhalten. Dass mit diesem nur scheinbar so selbstverständlichen forschungsprogrammatischen Ziel durchaus handfeste literaturtheoretische Probleme verbunden sind, mag ein kurzer Artikel von Renate Grau zu Ästhetik-Ingenieuren verdeutlichen. Grau betont in ihrem Text, der sich mit internationaler Belletristik auf dem deutschsprachigen Buchmarkt um 2000 beschäftigt, zunächst, dass es verschiedene Modelle zur Beschreibung des Literaturbetriebs gebe. Demnach stehe der Literaturbetrieb als »faszinierendes gesellschaftliches Phänomen« 59 im Zentrum »zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen, die mit je eigenen Metaphern arbeiten, um dessen Eigenheiten und Besonderheiten zu veranschaulichen«.60 Dieses Theorieangebot mache dabei im Überblick deutlich, dass der Literaturbetrieb nicht nur aus ›Texten‹ bestehe, sondern auch aus ›Menschen‹, ja ›Menschen‹ und ›Organisationen‹ würden neben
außerhalb der Soziologie. Frankfurt a. M. 2000, S. 175–221; Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995. 57 M. Beilein, Literaturbetrieb, S. 181. 58 Ernst Fischer: Einleitung. In: Ernst Fischer (Hg.): Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb? (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 11) Wiesbaden 2001, S. 7–15, hier S. 7. 59 Renate Grau: Ästhetik-Ingenieure. Internationale Belletristik auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. In: Evi Zemanek u. Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008, S. 401–412, hier S. 403. 60 R. Grau, Ästhetik-Ingenieure, S. 403.
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Buchtiteln einen elementaren »Bestandteil des Literaturbetriebs« 61 darstellen. Graus forschungsprogrammatisches Anliegen verdeutlicht nun ihr Anspruch, nicht nur die ohnehin bekannte »vorderste[ ] Front« 62 von Betriebsakteuren zu betrachten, sondern unter Rückgriff auf literatursoziologische Ansätze unter anderen von Bourdieu und Luhmann gleichsam ›hinter‹ die Kulissen des Literaturbetriebs zu schauen. Grau spricht in diesem Zusammenhang auch davon, dass die »undurchsichtige Black Box« 63 des Literatur- und Kulturbetriebs durch die Wissenschaft erforscht, die ›Box‹ also gleichsam ›durchsichtig‹ gemacht werde. Es gilt, das durch die Medien verzerrte Bild zurechtzurücken, demzufolge Büchermacher vorwiegend Überverleger, also Männer in Verlagsleiterposition, und Einzelkämpfer sind.64
Im vorliegenden Zusammenhang geht es weniger um die Frage, ob Graus Feststellung den ›Realitäten‹ im Literaturbetrieb entspricht, es also tatsächlich keine ›männlichen Überverleger‹ mehr gibt. Bedeutsam ist an dieser Stelle vielmehr der Hinweis auf das ›durch die Medien verzerrte Bild‹. Mit dem literatursoziologisch ›zurechtrückenden‹ Verweis auf Formen kollektiver Zusammenarbeit zielt Grau auf die ›tatsächlichen‹ Bedingungen literarischer Produktion, wie sie nicht zuletzt auch von Teilen der deutschsprachigen Literaturkritik seit den 1990er Jahren beklagt wird. Mit anderen Worten, Grau geht es um eine Rekonstruktion der auf literarische Kommunikation bezogenen Akteure, die die Produktion literarischer Texte unter den gegebenen Verhältnissen des Literaturbetriebs motivieren oder einschränken, in jedem Fall bedingen. Dass derart positionierte literatur- oder kultursoziologische Ansätze, die durch Einblicke ›hinter‹ die Kulissen betriebliche »Eigenheiten und Besonderheiten [...] veranschaulichen« 65 wollen, zu validen Forschungsergebnissen kommen, soll an dieser Stelle keineswegs bestritten werden. Im Zentrum stehen dabei zumeist die ›hinter‹ Produktion, Vermarktung und insbesondere Inszenierung vermuteten Strategien der beteiligten Akteure. Dem damit verbundenen Akteursmodell literarischer Kommunikation ist indes nicht nur aus der Perspektive einer systemtheoretisch ausgerichteten Literaturwissenschaft mit
61 R. Grau, Ästhetik-Ingenieure, S. 405. 62 R. Grau, Ästhetik-Ingenieure, S. 405. 63 R. Grau, Ästhetik-Ingenieure, S. 403. 64 R. Grau, Ästhetik-Ingenieure, S. 405. 65 Susanne Krones: Borges und der Betrieb von Babel. Entstehungsbedingungen ästhetischer Sprache im Literaturbetrieb des 20. Jahrhunderts. In: Phöbe Annabel Häcker u. a. (Hg.): textern. Beiträge zur literaturwissenschaftlichen Kontext-Diskussion. München 2008, S. 145–172, hier S. 147.
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Skepsis zu begegnen. Nicht nur liest Grau die Systemtheorie nämlich gewissermaßen fehl, wenn sie sich einen privilegierten Beobachterstandpunkt zuschreibt, der es ermögliche, die ›tatsächlichen‹ Betriebsbedingungen zu beobachten und von Medieninszenierungen abzugrenzen. Sie arbeitet zwar mit sozialwissenschaftlichen Kategorien, setzt dieser aber so ein, dass ihre Forschungsergebnisse in eine erstaunliche Nähe zu eben jenen asymmetrischen Bedingungsanalysen geraten, wie sie für die literaturkritischen Zustandsdiagnosen um 2000 typisch sind. Dass dies so ist, dass sich also das ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb bis in Teile der Literaturwissenschaft des deutschsprachigen Literaturbetriebs um 2000 fortsetzt, lässt sich an zwei anderen Beispielen aus der neueren deutschen Literaturwissenschaft verdeutlichen. So stellt etwa Stefan Neuhaus seiner Einführung in die Literaturvermittlung folgende Definition seines Leitbegriffs voran: Literaturvermittlung bezeichnet [...] eine bestimmte Gruppe von Menschen, die in einer Gesellschaft und innerhalb der dafür bereit stehenden Strukturen über Literatur kommunizieren, und zwar mit der Absicht, Kenntnis von und Wissen über Literatur an andere Menschen weiterzugeben, die sich für den Kauf oder die Lektüre von literarischen Texten interessieren.66
Ihre besondere Relevanz erhält diese Definition von Literaturvermittlung, die auf den ersten Blick recht konventionell und an die vorgestellten Bestimmungen des Literaturbetriebsbegriffs anschlussfähig erscheint, durch die Betonung zum einen der ›Absicht‹ und zum anderen des ›Interesses‹ der an Literatur beteiligten ›Menschen‹. Dahinter steht einerseits ganz offensichtlich wiederum eine akteurstheoretisch fundierte Vorstellung von Literaturvermittlung, was insofern von Bedeutung ist, als Neuhaus in anderen Kapiteln seiner Einführung dezidiert akteurskritische Theorien zur Modellierung von Literaturvermittlung diskutiert (Feld-, System- und Diskurstheorie). Gesteht man zu, dass die Definition pointiert und didaktisch reduziert gesetzt sein mag, ist der Hinweis auf die unterstellte ›Absicht‹ und das angenommene ›Interesse‹ der mit Literatur beschäftigten Akteure gleichwohl schwerwiegend. Mit beiden Begriffen baut Neuhaus nämlich einen normativ-wertenden Anspruch in seine Definition ein, der alle nicht-literarischen (man könnte sagen: ›verdorbenen‹) ›Interessen‹ und ›Absichten‹ oder besser: alle ›nicht-literarischen‹ Motive aus Prozessen der Literaturvermittlung exkludiert. Und so lässt sich mit Blick auf die skizzierten
66 Stefan Neuhaus: Literaturvermittlung. Konstanz 2009, S. 8. Die Hervorhebungen sind weggelassen.
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Betriebsbedingungen um 2000 mitunter nur noch beinahe resignierend fragen: »Wie konnte es so weit kommen«?67 Auf der anderen Seite korrespondieren dem Anspruch, den medialen Bildern vom Literaturbetrieb ein literaturwissenschaftlich kontrolliertes Modell literarischer Kommunikation entgegenzusetzen, solche Ansätze, denen es um die literaturwissenschaftlich abgesicherte Aufwertung des feuilletonistisch gewöhnlich als ›verdorben‹ gescholtenen Betriebs geht. Sieht man von vereinzelten Versuchen der Aufwertung insbesondere von konventionell, das heißt autonomieästhetisch abgewerteten Vermittlungsformaten wie etwa der öffentlichen Inszenierung von Literatur in Autorenlesungen,68 Poetry Slams69 oder Großereignissen wie Literaturfestivals70 ab, hat das elaborierteste, emphatischste, aber eben deshalb auch folgenreichste Plädoyer, deutschsprachige Literatur um 2000 als Literatur jenseits ihres ›Verderbens‹ im Literaturbetrieb zu fassen, Stephan Porombka vorgelegt. Porombka plädiert dafür, Formen der Literaturvermittlung literaturwissenschaftlich in ihrer Form gleichsam zu würdigen. Nicht ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb, sondern kreative Ermöglichung von Literatur im Literaturbetrieb lautet das Credo – auch und gerade durch ›neue‹, von Teilen des Feuilletons als ›verdorben‹ klassifizierte Vermittlungsformate. Insbesondere die Diagnose vom »Untergang der Literatur« 71 im eventisierten Literaturbetrieb stellt Porombka die Forderung nach einer kulturanalytischen »Eventhermeneutik« 72 gegenüber – dies nicht zuletzt deshalb, weil in der deutschen Literaturgeschichte um 2000 mittlerweile ein
67 Stefan Neuhaus: Der Autor als Marke. Strategien der Personalisierung im Literaturbetrieb. In: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 61 (2011), Nr. 2, S. 313–328, hier S. 316. 68 Vgl. insbesondere Thomas Böhm: Für ein literarisches Verständnis von Lesungen. In: Thomas Böhm (Hg.): Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: O-Töne, Geschichten, Ideen. Köln 2003, S. 170–185. 69 Siehe zur Frage, warum Poetry-Slams so populär sind, Reinhold Schulze-Tammena: Poetry Slam. Performance-Poesie als Buhlen um die Publikumsgunst. In: Anja Hill-Zenk u. Karin Sousa (Hg.): To read or not to read. Von Leserinnen und Leseerfahrungen, Leseförderung und Lesemarketing, Leselust und Lesefrust. (Publications of the Institute of Germanic Studies 83) München 2004, S. 130–146. 70 Siehe Katrin Kohl: Festival, Performance, Wettstreit: deutsche Gegenwartsliteratur als Ereignis. In: Nicholas Saul u. Ricarda Schmidt (Hg.): Literarische Wertung und Kanonbildung. Würzburg 2007, S. 173–190. 71 Stephan Porombka: Vom Event-Event zum Non-Event-Event und zurück. Anmerkungen zum notwendigen Zusammenhang von Literatur und Marketing. In: Thomas Böhm (Hg.): Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: O-Töne, Geschichten, Ideen. Köln 2003, S. 125–138, hier S. 127. 72 S. Porombka, Vom Event-Event zum Non-Event-Event und zurück, S. 130.
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»offener, abgeklärter und selbstbewusster« 73 Umgang der Autoren, aber auch anderer Literaturbetriebsakteure mit der literaturbetrieblichen Einbettung von Literatur zu beobachten sei. Als Beispiel führt Porombka Poetry-Slams an, die als neue Formen der Vermittlung seit den 1990er Jahren nicht nur hinzugekommen seien, sondern der Literatur unter sich verändernden sozialstrukturellen Rahmenbedingungen gleichsam das »Fortleben gesichert« 74 hätten. Die neuen Vermittlungsformate des »Eventmarketing[s]« 75 haben nach Porombka das ›Kultpotential‹ von Literatur erheblich gesteigert und diese damit im Konkurrenzkampf um massenmediale Aufmerksamkeit und Publikumsgunst wieder ›wettbewerbsfähig‹ gemacht. Die Selbstverortung des Literatur- und Kulturanalytikers in den literaturkritischen Debatten zum Zustand der deutschsprachigen Literatur um 2000 wird spätestens an dieser Stelle unmittelbar einsichtig. Porombka gesteht einerseits ein, dass Literatur im Betrieb ›unter Druck‹ geraten sei, um andererseits zu beobachten, wie sich Literatur und Autoren aus diesem ›Druck‹ befreit hätten. Verbindendes Element ist dabei seine kulturanalytische Perspektive, die Betrieb und Literatur nicht als Gegensatz denkt, sondern als sich wechselseitig durchdringend. Dass dieses Bemühen um literatur- und kulturwissenschaftliche Lockerheit mit der dezidierten Ausweitung nicht nur des literaturwissenschaftlichen Objekt-, sondern auch und gerade des Kompetenzbereichs einhergeht, liegt auf der Hand. So formuliert der Kulturanalytiker programmatisch: Diese These kann man wohl gar nicht radikal genug verstehen. Sie impliziert eben nicht nur, dass der Literaturbetrieb die Literatur entscheidend mitbestimmt. Sie impliziert auch, dass man diesen Einfluss nicht richtig erfasst, wenn man ihn als das unkreative Verdinglichungsprinzip aus der Literatur herauszurechnen versucht. Im Gegenteil lässt sich der kreative Prozess der Entstehung von Literatur (und von Kunst im Allgemeinen) erst dann richtig verstehen, wenn man ihn nicht auf den Autor allein zurückprojiziert, sondern als strukturelles Ereignis im literarischen Feld interpretiert.76
73 Stephan Porombka: Der Autor schaut direkt in die Kamera (und damit dem Zuschauer in die Augen). Über alte und neue Formen der Literaturvermittlung. In: Birgit Mandel (Hg.): Kulturvermittlung. Zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing. Eine Profession mit Zukunft. Bielefeld 2005, S. 205–216, hier S. 212. 74 Stephan Porombka: Slam, Pop und Posse. Literatur in der Eventkultur. In: Matthias Harder (Hg.): Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht. Würzburg 2001, S. 27–42, hier S. 32. 75 S. Porombka, Slam, Pop und Posse, S. 37–38. 76 Stephan Porombka: Literaturbetriebskunde. Zur ›genetischen Kritik‹ kollektiver Kreativität. In: Stephan Porombka u. a. (Hg.): Kollektive Kreativität. (Jahrbuch für Kulturwissenschaft und ästhetische Praxis 1) Tübingen 2006, S. 72–87, hier S. 75.
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Porombkas Programm eines Jenseits des ›Verderbens‹ der Literatur im Literaturbetrieb mündet schließlich im Traum einer Verschmelzung von Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft in dem, was dann metaphorisch als ›literarisches Feld‹ bezeichnet wird. Und so tritt der Kulturanalytiker als literarischer Akteur denn auch folgerichtig für ein literaturwissenschaftliches Methodenset ein, das »Literaturwissenschaftler dazu bringt, an den aktuellen Auseinandersetzungen im Feld teilzunehmen, also nicht nur der Beobachter und Protokollant einer Gruppe auf einem Feld zu sein, sondern dieser Gruppe und diesem Feld zugleich anzugehören«.77 Es geht also nicht nur um den interdisziplinären Einbau von Methoden der empirischen Sozialforschung.78 Es geht um ein spezifisches Programm ›angewandter Literaturwissenschaft‹,79 die sich letztlich als Reflexionstheorie des literarischen Systems versteht. Anja Johannsen bringt diesen praxeologischen, das heißt handlungstheoretisch basierten Ansatz, der letztlich ein Verschmelzen der Systemreferenzen von Literatur und Literaturwissenschaft einfordert, schließlich ganz ähnlich auf den Punkt: »Eine Aufgabe der Literaturwissenschaft im Bezug auf den Literaturbetrieb könnte genau dies sein: nicht nur im Falle des Misslingens den Schwund zu diagnostizieren, sondern duch die kritische, durchaus skeptische Begleitung dessen, was innerhalb des Betriebs geschieht, mit zum Gelingen beizutragen.« 80
77 Stephan Porombka: Gegenwartsliteraturwissenschaft. Von der interpretativen Mumien-Betrachtung zur Operation am offenen Herzen. In: Paul Brodowsky u. Thomas Klupp (Hg.): Wie über Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 73–89, hier S. 87. Die Hervorhebungen sind weggelassen. 78 Siehe in diesem Sinne etwa Claudia Dürr: »Das Gegenwärtige ist immer flüchtig.« Zur Erfassung des literarischen Schaffensprozesses. In: Paul Brodowsky u. Thomas Klupp (Hg.): Wie über Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 91–104. 79 Ein ähnliches, auf Aufwertung von Prozessen der Literaturvermittlung abzielenedes, letztlich aber vollständig anders ausgerichtetes, weil auf einem anderen Literaturbegriff basierendes Konzept ist das einer »anwendungsbezogene[n] Literaturwissenschaft« von Neuhaus und Ruf. Stefan Neuhaus u. Oliver Ruf: Was ist Literaturvermittlung? In: Stefan Neuhaus u. Oliver Ruf (Hg.): Perspektiven der Literaturvermittlung. (Angewandte Literaturwissenschaft 13) Innsbruck u. a. 2011, S. 9–23, hier S. 12. Siehe daneben wiederum anders positioniert Ina Karg: Vermittlung. Ein Arbeitsbuch für eine anwendungsorientierte Germanistik. Unter Mitarbeit von Anna Christina Schmidt. Frankfurt a. M. u. a. 2012. 80 Anja K. Johannsen: »Zuviel zielwütige Kräfte?« Der Literaturveranstaltungsbetrieb unter der Lupe. In: Maik Bierwirth u. a. (Hg.): Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen. (»Automatismen«) München 2012, S. 263–281, hier S. 279.
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2.2 Die Schreib-Szene um 2000 als Literaturbetriebs-Szene Der Anspruch der vorliegenden Studie ist geringer. Sie bemüht sich weder darum, durch Blicke ›hinter‹ die Kulissen massenmedial oder diskursiv vermeintlich ›verzerrte‹ Vorstellungen vom deutschsprachigen Literaturbetrieb um 2000 literaturwissenschaftlich zurechtzurücken, noch eine umfassende oder angesichts des unterstellten ›Diffusen‹ des Phänomens auf Vollständigkeit bewusst verzichtende Typologie von Literaturbetriebsaspekten zu erarbeiten. Auch sollen die diversen Praktiken von literaturvermittelnden Akteuren und Organisationen keineswegs in einem spezifischen Sinne literaturwissenschaftlich ›gewürdigt‹ und als ›kollektive Kreativität‹ aufgewertet werden oder – umgekehrt – im Zuge kulturkritischen Bedenkens als tatsächlich ›verdorben‹ ausgewiesen werden. Schließlich geht es auch nicht darum, die literarischen Akteure (wo bei und wie auch immer) zu ›unterstützen‹. Die vorliegende Studie interessiert sich für etwas anderes. In einer sich dezidiert als Textanalyse verstehenden Perspektive geht es ihr um die Frage, wie und wozu in der und durch die deutschsprachige Literatur der Jahrtausendwende vom Literaturbetrieb, spezifischer: vom ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb die Rede ist. Im Zentrum dieser »Redeskription« 81 stehen deshalb Literaturbetriebs-Szenen literarischer Texte. Bedenkt man, dass Jens Jessens Frage nach dem literaturbetrieblichen ›Verderben‹ der Literatur nicht zuletzt semantisch gleich zwei wichtige Selbstverständigungsdiskurse der deutschsprachigen Literatur aufruft – diejenige vom ›Ende der Kunst‹ 82 und ex negativo die Vorstellung einer ›reinen Poesie‹ 83 –, so lässt sich im Anschluss daran und in Abgrenzung dazu das ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb um 2000 als Selbstbeschreibungsformel des literarischen Systems verstehen, die literarische Produktions-, Distributions- und Rezeptionsprozesse spezifisch in Szene setzt, um daraus Gewinne für die eigenen Identitätskonstruktionen zu ziehen. Dies vorausgesetzt, koppelt die Untersuchung im Modus einer redeskriptiven »Parallelschaltung« 84 die Beobachtung, dass sich Selbstbeschreibungsformeln durch Unterscheidungen strukturieren, mit der Idee, dass in Texten eine bestimmte Differenz oder Differenzkombination
81 Niklas Luhmann: Eine Redeskription »romantischer Kunst«. In: Jürgen Fohrmann u. Harro Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996, S. 325–344, hier S. 344. 82 Vgl. Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel. Frankfurt a. M. 2002. 83 Siehe Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen 2010. 84 E. Geulen, Das Ende der Kunst, S. 119.
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als »textbestimmende Organisationsform[ ]« 85 fungiert, von der aus sich eine Narration enfaltet. Die textbewegende ›Redeform‹ von Literaturbetriebs-Szenen ist die Unterscheidung von primären und sekundären Formen literarischer Kommunikation, wobei die Unterscheidung auf je spezifische Weise auf den jeweiligen Text selbst angewandt wird, primäre und sekundäre Formen sich mithin miteinander ›verketten‹.
2.2.1 ›Literaturbetrieb‹ als Selbstbeschreibungsformel Vielversprechender als den zitierten Definitionen und Aspekttypologien eine weitere hinzuzufügen, ist es, das, was gewöhnlich als ›Literaturbetrieb‹ bezeichnet und mitunter mit pejorativen oder emphatischen Konnotationen versehen wird, als eine Unterscheidung zu verstehen, die dazu dient, etwas zu beobachten. Jessens Diskussionseröffnung im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft ist in diesem Zusammenhang gleich in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Dies insbesondere deshalb, weil sich an seinem kurzen Text einige systematische Aspekte des ›Verderbens‹ der Literatur im Literaturbetrieb entwickeln lassen, die für die vorliegende Studie hilfreich sind. Dies betrifft erstens den Status des ›Verderbens‹ der Literatur im Literaturbetrieb und zweitens den Hinweis darauf, dass es sich beim ›Literaturbetrieb‹ um die eine Seite einer Unterscheidung handelt. Interessant ist zunächst, dass Jessen die Frage nach dem ›Verderben‹ durch die Verwendung des Konjunktivs immer wieder als uneigentliche Rede ausweist. Auch wenn er seine Frage nicht detailliert literaturhistorisch einordnet, verknüpft er seine Diagnose mit einem konkreten Gegenwartsbezug. Der kurze Text setzt mit einer Anekdote ein, in deren Zentrum der ostdeutsche Schriftsteller Wolfgang Hilbig steht. Dieser habe bereits einige Jahre vor seinem Tod 2007 mit dem literarischen Schreiben aufgehört, weil er sich seit der Wende 1989/ 1990 nach eigener Auffassung nicht mehr als literarischer Autor geeignet habe. In seinem letzten Buch Das Provisorium habe Hilbig, der immer von der Zensur bedroht gewesen sei, bereits 2000 bekannt, in der DDR »für niemanden oder für Gott geschrieben« 86 zu haben. »Jetzt aber schreibe er für den Literaturbetrieb« (VL 11). Auch wenn Jessen als Literaturkritiker zugestehen müsse, dass
85 Jürgen Fohrmann: Textzugänge. Über Text und Kontext. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 1 (1997), S. 207–223, hier S. 216. 86 Jens Jessen: Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur? In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 11–14. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle VL in runden Klammern im Text, hier S. 11.
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das Verstummen des Autors eher dem Wegfall einer wesentlichen Ressource literarischer Kreativität geschuldet sei (den realsozialistischen Gegebenheiten der DDR), verweise Hilbigs Beobachtung den Literaturbetrieb betreffend doch auf einen wichtigen Gesichtspunkt. Demnach sei es Hilbigs Verdienst, mit seiner Klage einen Vorwurf auf den Punkt gebracht zu haben, der auch bei anderen Schriftstellern, auch bei Kritikern, auch bei Lesern abgerufen werden kann: daß der Literaturbetrieb dem literarischen Schaffen feindlich sei. (VL 11)
Von Relevanz ist diese Stelle nun nicht so sehr im Hinblick auf die Frage des Verhältnisses von Literatur und Politik in der DDR. Für den hier interessierenden Zusammenhang ist sie vielmehr deshalb bemerkenswert, weil Jessen Hilbigs ›Klage‹ als Klage zitiert. Ganz gleich ob es sich bei Hilbigs Behauptung mithin um die Aktualisierung einer grundlegenden »Entfremdungsklage« (VL 12) oder um eine spezifisch verengte »Klage über den Markt« (VL 12) handelt, macht Jessens Diskussionseröffnung deutlich, dass es sich bei der Diagnose vom literaturbetrieblichen ›Verderben‹ vor allem um eines handelt: nämlich um eine Beschreibungsform. Bedenkt man darüber hinaus, dass Hilbig und auch Jessen selbst Akteure des literarischen Systems sind, lässt sich der Status des ›Verderbens‹ der Literatur genauer fassen. Wird dieser Status auch andernorts als »momentane[r] Ärger, [...] Seufzer, Ächzen und Flüche« 87 charakterisiert, so ist dabei nicht die damit einhergehende Abwertung dieser Äußerungen als »Begleiterscheinungen« 88 relevant, sondern der Status des ›Verderbens‹ der Literatur im Literaturbetrieb als Selbstbeschreibungsformel des literarischen Systems. Man könnte die Klage über den Betrieb damit als für literarische Kommunikation sekundär, ja gar irrelevant abtun, würde damit indes verkennen, in welchem Maße solche Selbstbeschreibungen im literarischen System selbst wirksam sind. ›Selbstbeschreibungsformel‹ meint in diesem Zusammenhang im Anschluss an den systemtheoretischen Begriff eine Operation, die eine »Beschreibung des Systems durch sich selbst« 89 anfertigt. Um literarische Kunstwerke überhaupt erkennen zu können, ist ein »rekursive[r] Beobachtungszusammenhang [notwendig; DCA], der Strukturen benutzt, die identifiziert werden können, um nichtidentische Reproduktion zu ermöglichen.« 90 Als Selbstbeschreibungsformel muss das ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb einerseits von einer gewissen Komplexität sein, damit das literarische System durch sie
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J. Drews, S. 481. J. Drews, S. 481. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2002, S. 398. N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 394.
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überhaupt irritiert werden kann. Andererseits darf es jedoch einen bestimmten Komplexitätsgrad nicht überschreiten, um seine zentrale Funktion der Selbstbeschreibung nicht zu verfehlen: nämlich literarische Kommunikation mit einer Identität zu versorgen. In der Rede vom literaturbetrieblichen ›Verderben‹ macht sich das literarische System also »selbst zum Thema, es behauptet eine eigene Identität.« 91 Deutlich wird damit, dass die Beobachtung vom ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb geradezu simplifizierend sein muss. Selbstbeschreibungen erfordern immer Selbstsimplifikationen, denn »kein System kann eine vollständige Beschreibung seiner selbst in sich selbst herstellen.« 92 Diese identitätsstiftende, weil auf Reduktion von ohnehin nicht einholbarer Komplexität zielende Funktion von Selbstbeschreibungen ist es, die die Rede vom ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb nicht nur, aber auch dem deutschsprachigen Feuilleton um 2000 so attraktiv macht. Die Identitäskonsruktion erfolgt dabei über Differenzsetzung. Die Selbstbeschreibung »bezieht sich auf ein anderes Anderes als die basale Selbstreferenz, nämlich auf die Umwelt des Kunstsystems, und speziell auf die innergesellschaftliche Umwelt des autopoietischen Systems der Kunst.« 93 Neben Bestimmungen über Programme wird das ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb in der Funktion literarischer Selbstbeschreibungen verwendet, um in der Differenz zum Literaturbetrieb ähnlich wie Differenzbildungen etwa über Epochen,94 Autoren95 oder Generationen,96 die Einheit des Systems zu konstruieren. Gleichzeitig gehen die als Kontroversen, Debatten oder Diskussionen bezeichneten literaturkritischen Wortmeldungen zum ›Zustand‹ der deutschsprachigen Literatur um 2000 und deren Verhältnis zum Literaturbetrieb in dem übergreifenden Konzept der Selbstbeschreibung auf. Eigens betont sei an dieser Stelle deshalb,
91 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 399. 92 Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt a. M. 1985, S. 11–33, hier S. 25. 93 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 396. 94 Vgl. etwa Annina Klappert: Gegenwartsliteratur unter anderem: Epochenkonstruktion als Reihe. In: Paul Brodowsky u. Thomas Klupp (Hg.): Wie über Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 47– 72. 95 Siehe etwa Gerhard Plumpe u. Ingo Stöckmann: Autor und Publikum – Zum Verhältnis von Autoren und Lesern in medienspezifischer Perspektive. In: Bodo Franzmann u. a. (Hg.): Handbuch Lesen. Im Auftrag der Stiftung Lesen und der Deutschen Literaturkonferenz. Unter Mitarbeit von Georg Jäger u. a. München 1999, S. 298–328. 96 Vgl. Thomas Anz: Generationenkonstrukte. Zu ihrer Konjunktur nach 1989. In: Andrea Geier u. Jan Süselbeck (Hg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen 2009, S. 16–29.
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dass die vorliegende Studie »Literaturkritiken [...] als Kerntextsorte des Literatursystems aus[ ]mach[t], denn Kommentierungen gehören zum System«.97 Gleichwohl sie über Literatur sprechen, knüpfen sie an den Selbstbeschreibungen literarischer Kommunikation an. Fasst man das ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb in diesem Sinne als Selbstbeschreibungsformel des deutschsprachigen literarischen Systems um 2000 auf, kann im Übrigen theoretisch-methodisch zumindest eine Frage ausgeblendet werden: die Frage nach der konstitutiven Operation des literarischen Systems – und dies sowohl in medial-struktureller (Text/Kommunikation)98 als auch in semantischer (Code) Hinsicht. Bei Selbstbeschreibungen, um die es in der vorliegenden Studie geht, handelt es sich nämlich »um eine nachträgliche Operation, die nur möglich ist, wenn sie auf etwas zurückgreifen kann, was schon vorliegt.« 99 Im Folgenden wird eben dieses, ›was schon vorliegt‹, wie immer theoretisch unbestimmt es auch sein mag, heuristisch als schlichtweg ›vorliegend‹ betrachtet und damit ausgeblendet. Zweitens ist Jessens Diskussionseröffnung mit Blick auf die Unterscheidung zwischen »literarische[m] Schaffen« (VL 11) und »Literaturbetrieb« (VL 11) aufschlussreich. Nach Jessen unterscheidet sich die ›eigentliche‹ Literatur, die »Kunst im engeren Sinne« (VL 11), in ihrem »Wesen« (VL 13) grundsätzlich von ihrem Betrieb, ja die auf ›Abgeleitetes‹ abzielenden Betriebsmechanismen stünden der literarischen »Eigenlogik« (VL 14) gleichsam konfrontativ gegenüber. Diese, Jessens Text strukturierende Differenz lässt sich mithilfe einer Unterscheidung abstrahieren, die die soziologische Systemtheorie zur Beschreibung der Autopoiesis des Kunstsystems verwendet, bisher von der Forschung aber nicht eingehender berücksichtigt worden ist. Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass die Ausdifferenzierung künstlerischer beziehungsweise literarischer Kommunikation die »Einrichtung von Informationsbeihilfen« 100 vo-
97 Christina Gansel: Literaturkritik als Textsorte und systemspezifische Ausdifferenzierungen. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 58 (2011), Nr. 4, S. 358–371, hier S. 363. 98 Vgl. zum Verhältnis von Kommunikation und Text insbesondere Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. (Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur 1) Tübingen 2005, S. 117– 134. Letztlich untersucht die vorliegende Studie in Baßlers Perspektive Texte (primäre Formen) und relationiert diese zu anderen Texten (sekundäre Formen). Man könnte sagen, Formen sind nur als Text zu haben. 99 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 394. Man kann die Frage des Verhältnisses von Semantik und Sozialstruktur natürlich auch anders sehen. Siehe insbesondere die Arbeiten von Stäheli, zum Beispiel Urs Stäheli: Semantik und/oder Diskurs: ›Updating‹ Luhmann mit Foucault? In: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte diskurstheorie (2004), Nr. 47, S. 14–20. 100 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 395.
Die Schreib-Szene um 2000 als Literaturbetriebs-Szene
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raussetzt. Folgt man der systemtheoretischen Begrifflichkeit, verweist das, was gewöhnlich als ›Kultur-‹ oder ›Literaturbetrieb‹ bezeichnet wird, demnach zunächst darauf, »daß die Kunst sozial konstituierte Erwartungen voraussetzen können muß – etwa die, daß Schrift lesbar, Musik als solche hörbar, das heißt von Geräuschen unterscheidbar sein müsse, oder auch einfach die: daß das, was man in Konzertsälen, Literaturvorlagen, Museen usw. antreffe, Kunst sei.« 101 Speziell eingerichtete Erwartungsstrukturen stellen die Bedingung der Möglichkeit dar, davon ausgehen zu können, dass es sich bei einem Objekt um ein Kunstwerk, bei einem Text um ein literarisches Werk handelt. Ohne solche im Kunst- beziehungsweise Literatursystem immer vorausgesetzten Einrichtungen würde Literatur »in den Alltag auslaufen und versickern«.102 Mit anderen Worten, es reicht nicht aus, dass Literatur sich über spezifisch codierte und programmierte Formen reproduziert, die an andere Formen anschließen. Um eine solche autopoietische Reproduktion überhaupt in Gang zu bringen und aufrechterhalten zu können, sind vielmehr »sekundäre Formen des Wahrscheinlichmachens von Unwahrscheinlichkeit« 103 notwendig. Diese sind es, die die Beobachtbarkeit von primären Formen der Kunst garantieren. »Das Kunstsystem stellt Einrichtungen zur Verfügung, in denen es nicht unwahrscheinlich ist, Kunst anzutreffen – etwa Museen, Galerien, Ausstellungen, Literaturbeilagen von Zeitungen, Theatergebäude, soziale Kontakte mit Kunstexperten, Kritiker usw.« 104 Insbesondere Organisationen lassen sich als sekundäre Formen künstlerischer beziehungsweise literarischer Kommunikation verstehen, sind sie doch gleichsam das »Stützkorsett für die historisch gewonnene Autonomie der Kunst«,105 indem sie nicht zuletzt die Professionalisierung der individuellen Künstlerexistenz in der Marktgesellschaft durchgesetzt haben.106 Und so wird durch Organisationen Literatur nicht nur vermittelt (etwa in Literaturhäusern), sie schaffen überhaupt erst die Produktions- und Rezeptionsvoraussetzungen für literarische Kommunikation (zum Beispiel durch Verlage). Zum anderen
101 Niklas Luhmann: Das Medium der Kunst. In: Niklas Luhmann: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. von Niels Werber. Frankfurt a. M. 2008, S. 123–138, hier S. 132. 102 N. Luhmann, Das Medium der Kunst, S. 132–133. 103 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 249. Luhmann verwendet in diesem Zusammenhang in der Tat den Begriff »Kunstbetrieb«. 104 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 249. 105 Walther Müller-Jentsch: Die Kunst in der Gesellschaft. Wiesbaden 2011, S. 82. 106 Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass in Luhmanns kunsttheoretischen Arbeiten gleichwohl »die Rolle von Kunstorganisationen überhaupt nicht analysiert, ja nicht einmal angesprochen wird.« Markus Koller: Die Grenzen der Kunst. Luhmanns gelehrte Poesie. Wiesbaden 2007, S. 133.
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Eine Redeskription literaturbetrieblichen ›Verderbens‹
sind Organisationen der Ort, an der die »generell vorhandene Interferenz von künstlerischen und wirtschaftlichen Handlungsorientierungen in sehr unterschiedlichen Graden wirksam ist«,107 ja in Organisationen schwankt die »dominante Handlungsorientierung« 108 zwischen »wirtschaftlichen Momente[n]« 109 und künstlerischer Autonomie. Neben Organisationen zählt zu den sekundären Formen des literarischen Systems schlichtweg »all das, was nicht zum ›Innen‹ des literarischen Text [sic!] gehört«,110 mithin »literarische Diskussionsrunden, Dichterporträts, Verfilmungen, Kurzmeldungen, aber auch Rezensionen, von der opulenten Zweiseitigen im FAZ-Literaturteil bis zum als Kurzrezension verkleideten ›Waschzettel‹-Text im Stadtmagazin«.111 Der Hinweis auf das ›Außen‹ des ›eigentlichen‹ Textes spricht in diesem Zusammenhang das an, was in literaturwissenschaftlichen Kategorien gewöhnlich als Paratext bezeichnet wird. Auch wenn Literaturwissenschaft sich letztlich nur auf ein Archiv von Texten beziehen kann und die Unterscheidung zwischen Text, Paratext und Kontext naheliegt,112 präferiert die vorliegende Studie die systemtheoretische Terminologie als theoretischen Ausgangspunkt, weil diese sowohl abstrakter als auch konkreter angelegt ist. Sie ist abstrakter, weil sie einerseits über Texte als beobachtbare Phänomene hinausgeht (und dann etwa Organisationen und Akteure mitbeobachtet) und andererseits aber auch bestimmte Schreibverfahren als Formen bezeichnen kann; sie ist konkreter, weil der Form-Begriff spezifische Rückkopplungsbewegungen gleichsam intrinsisch vorsieht. Dies bedeutet jedoch gerade nicht – ganz im Gegenteil –, dass das Paratext-Konzept nicht partiell explizit zum Einsatz kommt. An dieser Stelle geht es nur um den literaturtheoretischen Rahmen der Untersuchung. Wichtig sind in diesem Zusammenhang zwei Gesichtspunkte. Erstens verweist der Form-Begriff darauf, dass die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Formen als Unterscheidung einen Beobachter voraussetzt, ja grundsätzlich kann jede Form primär oder sekundär (›Literatur‹ oder ›Betrieb‹)
107 W. Müller-Jentsch, S. 83. 108 W. Müller-Jentsch, S. 83. 109 W. Müller-Jentsch, S. 83. 110 Dirk Frank: Zwischen Deliteralisierung und Polykontextualität. Günter Grass’ Ein weites Feld im Literaturbetrieb. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Unter Mitarbeit von Hannes Krauss und Jochen Vogt. Opladen u. Wiesbaden 1998, S. 72– 96, hier S. 73. 111 D. Frank, S. 73. 112 Siehe Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 2008.
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sein, da sich an ihr nicht ›an sich‹ ablesen lässt, ob sie Teil der Selbstprogrammierung des Kunstwerks ist oder lediglich dessen Wahrnehmbarkeit sichert. Die Differenz ist nicht schlicht gegeben, sondern das Produkt eines Beobachters, mithin ein grundsätzlich kontingentes, beobachterabhängiges Konstrukt. Die beiden Seiten der Unterscheidung sind dabei strikt relational zueinander gesetzt, erlaubt die Unterscheidung doch, ihre beiden Seiten »stets nur in Bezug zueinander zu bestimmen.« 113 Ihren jeweiligen Eigensinn erhalten primäre Formen literarischer Kommunikation über die Abgrenzung von sekundären Formen und vice versa. Das ist der Sinn der Unterscheidung. Zweitens handelt es sich bei sekundären Formen, gleichwohl die Unterscheidung asymmetrisch gebaut ist, vor allem um eines: nämlich um Formen.114 Sowohl im Falle primärer als auch im Falle sekundärer Formen geht es um feste Kopplungen von Elementen – und nicht um Medien, die den »Fall loser Kopplung von Elementen« 115 bezeichnen. Mit anderen Worten, sekundäre Formen bilden nicht unbedingt das Medium der primären Formen des Systems. Bezeichnet der Begriff des Mediums die »offene Mehrheit möglicher Verbindungen, die mit der Einheit eines Elementes noch kompatibel sind«,116 werden Formen durch die »feste Kopplung« 117 der vom Medium bereitgestellten Elemente erzeugt. »Das Medium der Kunst ist demnach für alle Kunstarten die Gesamtheit der Möglichkeiten, die Formgrenzen (Unterscheidungen) von innen nach außen zu kreuzen und auf der anderen Seite Bezeichungen zu finden, die passen, aber durch eigene Formgrenzen ein weiteres Kreuzen anregen.« 118 Die Unterscheidung zwischen den beiden Formtypen ergibt sich vielmehr aus der Funktion von sekundären Formen. Während die Spezifik der Kunstformen an der Unterscheidung von ›passen‹ und ›nicht-passen‹ orientiert ist, mithin darauf beruht, dass »die Bestimmung der einen Seite nicht völlig offen läßt, was auf der anderen Seite geschehen kann«,119 geht es bei sekundären Formen um
113 Natalie Binczek: Medium/Form – Robert Walser. In: Niels Werber (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Unter Mitarbeit von Maren Lickhardt. Berlin u. New York 2011, S. 271–283, hier S. 275. 114 Dies deckt sich durchaus mit dem Ansatz von Zanetti, der eine ›Poetik des Literaturbetriebs‹ vorschlägt. Vgl. Sandro Zanetti: Welche Gegenwart? Welche Literatur? Welche Wissenschaft? Zum Verhältnis von Literaturwissenschaft und Gegenwartsliteratur. In: Paul Brodowsky u. Thomas Klupp (Hg.): Wie über Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 13–29, hier S. 25–27. 115 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 168. 116 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 168. 117 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 169. 118 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 191. 119 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 189.
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eine »erste Stufe der Annäherung« 120 an das jeweilige Kunstwerk, die – etwa mit Blick auf die Literaturkritik – nicht lediglich Orientierungs- und Selektionsfunktionen hat. Ihre Funktion besteht vielmehr ganz basal in der Markierung von Literatur als Literatur, das heißt primäre Formen als Werke unterscheidbar zu machen. Die sekundären Formen heben ihre primären Gegenstücke gleichsam aus dem »unpräparierten Alltag gesellschaftlicher Kommunikation« 121 heraus, ja bilden gleichsam den Rahmen für solche Erwartungen, die darauf abzielen, »Überraschendes als Kunst zu beobachten«.122 Die primären Formen stellen demgegenüber die zweite Stufe der Annäherung an Literatur dar, auf der es dann um die Frage der ›passenden‹ Form geht. Wichtig ist mithin, dass »das inkriminierte ›Gerede‹, das ›Sekundäre‹ der literarischen Verteiler und Rezipienten, aber auch der Künstler als Symptome eines Ausdifferenzierungsprozesses innerhalb des Literatursystems« 123 zu verstehen sind, der die »Wiedereinführung von Redundanzen als Eigenkonstruktionen des Systems [...] zweistufig« 124 organisiert. Sekundäre Formen dienen dazu, Kommunikation für die Beobachtung von Kunstwerken zu ›präparieren‹,125 und sind gleichzeitig keine hinreichende Bedingung für die Autopoiesis des Systems: »Eine Institutionalisierung von Kunst und die Einrichtung von Informationsbeihilfen (Ausstellungen etc.) erfordern außerdem, daß Kunstwerke untereinander ›Diskurse‹ führen, daß Kunst Kunst zitiert, copiert, ablehnt, innoviert, ironisiert – jedenfalls, wie auch immer, in einem über das Einzelwerk hinausgreifenden Referierzusammenhang reproduziert wird.« 126 Das schließt natürlich nicht aus, dass sekundäre Formen als Medium zur Bildung primärer Formen fungieren können – ganz im Gegenteil: Legt die »selbstimplikative und regenerative Struktur« 127 der Unterscheidung zwischen Medium und Form es nahe, literarische Texte als Mehrzahl von Medium/Form-Kopplungen zu verstehen, die »aufeinander stufenweise aufbauende[ ] Beobachtungsketten« 128 entfalten und dabei wiederum mit dem Medium der Kunst gekoppelt sind, lassen sich auch und gerade hier solche literarischen Texte verorten, die sekundäre literarische Formen zur eigenen Formbildung heranziehen.
120 121 122 123 124 125 126 127 128
N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 249. N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 250. N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 249. D. Frank, S. 91. N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 250. Siehe die Formulierung N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 250. N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 395. N. Binczek, Medium/Form – Robert Walser, S. 281. N. Binczek, Medium/Form – Robert Walser, S. 281.
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Das ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb ist also in diesem spezifischen Sinne eine Selbstbeschreibungsformel literarischer Kommunikation, die durch die Unterscheidung von primären und sekundären Formen strukturiert ist. Verständlich wird vor diesem Hintergrund nicht zuletzt, warum die vorliegende Studie als theoretische Basis nicht auf die feldtheoretischen Arbeiten Pierre Bourdieus zurückgreift, wie dies sicherlich für die Mehrzahl der literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Fragen und Problemen der sozialstrukturellen Einbettung von deutschsprachiger Literatur um 2000 gilt.129 Auch wenn sich Bourdieus Theorie des literarischen Feldes wie die soziologische Systemtheorie gegen den »Kategorienfehler intentionalistischer Handlungstheorien« 130 richtet, das heißt die »soziale Genese« 131 von Strategien, Motiven oder Präferenzen einzelner Akteure betont, orientiert sie sich theoretisch letztlich doch wiederum am literarischen Akteur, der »nicht als Ursprung, auch nicht als Effekt, sondern als Element einer sozialen Dynamik angesehen wird.« 132 So steht der feldtheoretisch informierten ›Provokation‹ 133 der Literaturwissenschaft gerade aufgrund der Dezentrierung des Akteurs, insbesondere des Autors, mithin nur die Sozialdimension literarischer Kommunikation zur Verfügung – ein Manko, das nicht zuletzt durch weiteren Theorieimport jeweils ausgeglichen wird. Die über die doppelte Brechung erzeugte Eigendynamik des literarischen Feldes versteht die feldtheoretische Literaturwissenschaft ausschließlich als einen Strukturzusammenhang ungleicher Verteilung von Positionierungspotentialen, in dem Akteure »um Machtpotentiale kämpfen, die eigenen Chancen und Möglichkeiten zu verbessern.« 134 Dennoch oder gerade deshalb greift die vorliegende Studie wiederholt explizit auf feldtheoretisches Vokabular zurück – und dies eben deshalb, weil dieses einerseits zur Beschreibung der Sozialdimension des literarischen Systems nahezu konkurrenzlos ist und andererseits die Vorstellung literarischer Kommunikation als Konkurrenzkampf innerhalb eines Kräftefeldes mitunter
129 Siehe insbesondere Markus Joch u. a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Gemeinsam mit Nina Birkner. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 118) Tübingen 2009. 130 Armin Nassehi: Sozialer Sinn. In: Armin Nassehi u. Gerd Nollmann (Hg.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich. Frankfurt a. M. 2004, S. 155–188, hier S. 166. 131 A. Nassehi, S. 166. 132 A. Nassehi, S. 170. 133 Vgl. Markus Joch u. Norbert Christian Wolf: Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung. In: Markus Joch u. Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108). Tübingen 2005, S. 1–24. 134 A. Nassehi, S. 172.
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mit literarischen Selbstbeschreibungen konvergiert; mit anderen Worten: Die gewöhnlich in strikter Abgrenzung gedachte system- und feldtheoretische Konzeption von Literatur135 blendet die vorliegende Arbeit insofern ineinander, als sie feldtheoretische Kategorien zur redeskriptiven Präzisierung der Selbstbeschreibungen literarischer Kommunikation einsetzt. Dementsprechend wird im Folgenden selbstverständlich von literarischen Akteuren die Rede sein – vorausgesetzt ist dabei indes, dass diese nur über Kommunikation Eingang in das literarische System finden. Es geht eben gerade nicht darum, mit Literaturbetriebs-Szenen verbundene Intentionen, Strategien oder Motive analytisch herauszufiltern, sondern diese als Zuschreibungen innerhalb von Selbstbeschreibungen literarischer Kommunikation zu rekonstruieren.
2.2.2 Soziale Einbettung der Schreib-Szene Die Bestimmung des ›Verderbens‹ der deutschsprachigen Literatur im Literaturbetrieb um 2000 als Selbstbeschreibungsformel des literarischen Systems bezieht sich nun nicht so sehr auf bestimmte Metaphern zur Beschreibung des Verhältnisses von Literatur und Literaturbetrieb. In den feuilletonistischen Zustandsdiagnosen, für die Jessens Artikel exemplarisch steht, sind ohne Frage einige pointierte Bestimmungen vorhanden, die als Veranschaulichungen der Beziehung von Literatur zu ihrem betrieblichen Gegenstück fungieren: László Földényis ›Einprogrammierung‹ der Betriebsanforderungen in die Literatur und Ulrich Greiners ›Mittanzen‹ der Autoren auf den Medienevents ist hier sicherlich genauso zu nennen wie Maxim Billers betrieblich bedingte ›Rezensentenbücher‹ oder Fritz Raddatzs ›Zerstörung‹ des literarischen Kerns durch den Literaturbetrieb.136 Der vorliegenden Studie geht es jedoch um einen anderen
135 Vgl. Markus Joch: System versus Feld. Skizze eines schwelenden Konflikts. In: Ralf Klausnitzer u. Carlos Spoerhase (Hg.): Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse. (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 19) Bern u. a. 2007, S. 467–484. 136 Siehe László F. Földényi: Der Autor als Anführungszeichen. Überschattete Liebe zur deutschen Literatur. In: Kursbuch (2003), Nr. 153, S. 134–142, hier S. 137; Ulrich Greiner: Der Betrieb tanzt. Über Literatur und Öffentlichkeit. In: neue deutsche literatur 46 (1998), Nr. 4, S. 159– 169, hier S. 167; Maxim Biller: Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel. Warum die neue deutsche Literatur nichts so nötig hat wie den Realismus. Ein Grundsatzprogramm. In: Die Weltwoche vom 25. Juli 1991. Wiederabgedruckt in: Andrea Köhler u. Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998, S. 62–71, hier S. 63; Fritz J. Raddatz: Wie tief wollen wir noch sinken? In: Die Welt vom 30. April 2010.
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Aspekt des Zusammenhangs von literarischer Form und systemischer Selbstbeschreibung. Aufschlussreich ist an dieser Stelle zunächst eine Passage in Jörg Drews Antwort auf Jessens Diskussionseröffnung im Schiller-Jahrbuch von 2008. Dort schreibt Drews: Wenn der Literaturbetrieb ›verderben‹ soll, dann muß da jemand sein, der sich verderben läßt. Eine merkwürdige Vokabel übrigens, eine moralische sozusagen. Ist die so affizierte Literatur dann ›verderbt‹ oder ›verdorben‹? Heißt das, sie ist schlechter, oberflächlicher, kurzatmiger, also: viele Werke sind niveauloser und unvollkommener als sie sein könnten? 137
Bemerkenswert ist diese Passage weniger mit Blick auf die ethisch-moralische Semantik, die Drews anspricht. Interessant ist vielmehr die Bewegung, die das Verb ›verderben‹ beschreibt, und die damit konnotierte Relation zwischen Subjekt und Objekt des ›Verderbens‹. Um den strukturellen Effekt des (Selbst-)Verderbens zu beschreiben, kann man sich an die Mikrobiologie halten, wird das Verb ›verderben‹ doch nicht nur in ethisch-moralischen Kontexten gebraucht, sondern nicht zuletzt auch im Bereich der Lebensmittel. Verändern diese durch mikrobiologischen Verderb »ihr Aussehen, ihren Geruch, ihren Geschmack und ihre Textur«,138 wird ›Verderben‹ biologisch wie folgt definiert: A food is considered spoiled when it loses its acceptance qualities. The factors considered in judging the acceptance qualities of a food include colour, texture, flavour (smell and taste), shape, and absence of abnormalities. Loss of one or more normal characteristics in a food is considered to be due to spoilage.139
Um welche Art des ›Verderbens‹ es sich handelt, hängt dabei von Innen-, Herstellungs- und Außenfaktoren ab. Und in der Tat bestimmt bereits das GrimmWörterbuch ›verderben‹ grundsätzlich als ›zu grunde gehen‹,140 um dabei zwi-
137 J. Drews, S. 482–483. 138 Johannes Krämer: Lebensmittel-Mikrobiologie. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. 102 Abbildungen. 44 Tabellen. Stuttgart 1992, S. 99. 139 Bibek Ray: Fundamental Food Microbiology. 3. Auflage. Boca Raton u. a. 2004, S. 255. 140 verderben. In: Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Zwölfter Bd. I. Abteilung. Bearbeitet von E. Wülcker, R. Meiszner, M. Leopold, C. Wesle und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches zu Berlin. Leipzig 1956. Etymologisch ist mhd. ›verderben‹ demnach unklar, da es ›in älteren Sprachen nicht bezeugt ist‹. Vermutlich lässt sich eine Verbindung zu ae. ›deorfan‹ herstellen, was soviel wie ›arbeiten, sich mühen, zugrunde gehen‹ bedeutet. Vgl. verderben. In: Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 24., durchgesehene u. erweiterte Auflage. Berlin u. New York 2002.
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schen einer transitiven und einer intransitiven Verwendungsweise des Verbs zu differenzieren; in transitiver Funktion bedeutet ›verderben‹ demnach jemanden oder etwas ›zu grunde richten‹.141 Auch das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache unterscheidet zwischen einem transitiven und einem intransitiven Gebrauch, wenn es die Bedeutung ›schlecht, unbrauchbar werden‹ von ›etw. schlecht, unbrauchbar machen‹ unterscheidet.142 Um diese Zusammenhänge für das Verhältnis von Literatur und Betrieb um 2000 zu konkretisieren, ja nicht zuletzt den differenzierungstheoretischen Ausgangpunkt textanalytisch herunterzubrechen, ist eine zweite Bemerkung Jörg Drews’ hilfreich, derzufolge es geradezu ein Gemeinplatz sei, dass die literaturbetrieblichen Verhältnisse »vom stillen und konzentrierten Schaffen abhalten können und den Leser vom stillen und konzentrierten Lesen«.143 Dieser Hinweis auf die ›Störung‹ des literarischen Produzierens und Rezipierens soll im Folgenden dazu dienen, die Form des ›Verderbens‹ der Literatur als Selbstbeschreibungsformel zu konkretisieren, mithin das ›Verderben‹ als Schreibverfahren zu bestimmen.144 Drews’ Thematisierung der Beeinträchtigung des ›stillen und konzentrierten Schaffens‹ verweist zunächst einmal auf die Praxis des Schreibens. Als literarisches ›Schreiben‹ soll in diesem Zusammenhang das »produktionsästhetische Moment des schöpferischen Arbeitsprozesses« 145 verstanden werden, das aus diversen Tätigkeitsphasen wie etwa Einfall, Formulierung, Überarbeitung und Korrektur sowie schließlich Veröffentlichung zusammengesetzt ist. Wichtig ist nun, dass jede dieser Phasen wesentlich durch die sie jeweils rahmenden Begleitumstände bestimmt wird. Die Kontextbedingun-
141 Adelung unterscheidet zwischen ›Neutrum‹ und ›Activum‹. Demnach ist ›unbrauchbar, untauglich werden, die zu seiner Bestimmung und Absicht nötige Eigenschaft verlieren‹ von ›ein Ding zu seiner Absicht, zu seiner Bestimmung untauglich machen, aus dem gehörigen guten Zustand in einen schlimmen versetzen‹ zu unterscheiden. Vgl. verderben. In: Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Bd. IV. Zweite vermehrte und verbesserte Ausgabe. (Documenta Linguistica. Reihe II) Hildesheim u. New York 1970. 142 Vgl. verderben. In: Ruth Klappenbach u. Wolfgang Steinitz (Hg.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. 6. Band. Berlin 1977. 143 J. Drews, S. 481. 144 In diesem Sinne geht es nicht um die Frage der Wertung des ›Verderbens‹, also um die Beobachtung, dass die Metapher des Literaturbetriebs eine »spezifisch deutsche« ist, die »gelegentlich abwertend benutzt wird«. M. Beilein, Literaturbetrieb, S. 181. 145 Martin Stingelin: ›Schreiben‹. Einleitung. In: Martin Stingelin (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. In Zusammenarbeit mit Davide Giuriato und Sandro Zanetti. (Zur Genealogie des Schreibens 1) München 2004, S. 7–21, hier S. 15.
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gen nicht nur, aber auch literarischen Schreibens lassen sich dabei auf ein »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste« 146 zurückführen, wobei die drei Elemente sich gegenseitig bedingen, also in der Praktik des Schreibens nicht unabhängig voneinander zu denken sind. So kommt mit Blick auf die Sprache die Semantik ins Blickfeld, auf die das Schreiben zurückgreift. Die instrumentelle Dimension bezeichnet – zweitens – die jeweils verwendeten Schreibwerkzeuge (zum Beispiel Feder, Schreibmaschine, Kugelschreiber oder Computer). Und drittens wird (literarisches) Schreiben durch eine je spezifische Körperlichkeit geprägt, die sowohl das ›Kratzen mit der Feder‹ als auch das ›Hämmern mit der Schreibmaschine‹ umfasst.147 Jede individuelle Schreibszene eines Autors, Dichters oder Schriftstellers setzt sich aus diesen drei Faktoren zusammen. Ist Literatur selbst »(zumindest immer auch) Effekt dieser Heterogenität«,148 lässt sich der spezifische Fall der Thematisierung und Reflexion von Abhängigkeiten der literarischen Tätigkeit von diesen mehr oder weniger widerständigen Praktiken des Schreibprozesses als Schreib-Szene verstehen.149 Dabei hält sich das Schreiben an dem ihn rahmenden ›Ensemble‹ auf, so dass dessen Beziehungsgefüge in seiner Instabilität und Problematik in den Fokus der literarischen Darstellung rückt, mithin die Kontextbedingungen literarischen Schreibens in den »szenischen Rahmen[ ] des Schreibens« 150 verlegt werden. Nicht selten sind es gerade die Widerstände im Schreiben selbst, das heißt Störungen, die Möglichkeiten eines Schreibprozesses in eine Wirklichkeit auf dem Papier zu übersetzen, die dazu führen, im Schreiben über das Schreiben zu reflektieren und dieses gleichzeitig »auf seine hetereogenen Bedingungen hin« 151 zu öffnen. In den damit sichtbar werdenden Praxisspuren des Schreibens thematisieren literarische Texte mithin nicht nur ihr Geschrieben-
146 Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Unter Mitarbeit von Irene Chytraeus-Auerbach u. a. Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772, hier S. 760. 147 Vgl. Martin Stingelin: ›Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken‹. Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche. In: Lichtenberg-Jahrbuch (1999), S. 81–98, hier S. 85. 148 Sandro Zanetti: Einleitung. In: Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin 2012, S. 7–34, hier S. 21. 149 Wird das Schreiben im Schreiben selbst problematisiert und gerät damit zur literarischen Darstellung, kann im Unterschied zur faktisch durchlaufenden Schreibszene von Schreib-Szene gesprochen werden. Vgl. zu dieser begrifflichen Differenzierung M. Stingelin, ›Schreiben‹, S.15. 150 R. Campe, S. 764. 151 Sandro Zanetti: (Digitalisiertes) Schreiben. Einleitung. In: Davide Giuriato u. a. (Hg.): »System ohne General«. Schreibszenen im digitalen Zeitalter. (Zur Genealogie des Schreibens 3) München 2006, S. 7–26, hier S. 12.
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Eine Redeskription literaturbetrieblichen ›Verderbens‹
Sein, sondern die Praktik des Schreibprozesses im Prozess des Schreibens, inszenieren und vollziehen also gleichsam eine »Wiederkehr des Schreibens im Geschriebenen«.152 In dieser sehr spezifischen Hinsicht handelt es sich bei Schreib-Szenen um eine »Verkettung« 153 der Rahmenbedingungen des Schreibens mit dem Schreiben der Rahmenbedingungen. Während nun die Forschung das Modell der Schreib-Szene im Hinblick auf diverse Medien, Formen und Funktionen des Schreibens einsetzt, konzentriert sie sich abgesehen von einigen Ausnahmen154 im Wesentlichen auf individuelle Schreib-Szenen. Der Prototyp der Schreib-Szene ist der Autor am Schreibtisch. Mit Blick auf die deutschsprachige Literatur um 2000 ist nun jedoch auffallend, so die Hypothese der vorliegenden Studie, dass zu den Inszenierungen oder Thematisierungen von Schreibprozessen keineswegs nur die Thematisierung und Reflexion individueller Schreibprozesse zählen. Betont die For-
152 Sandro Zanetti: Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Zum analytischen Potential der Literatur. In: Uwe Wirth (Hg.): Logiken und Praktiken der Kulturforschung. Mit Beiträgen von Safia Azzouni u. a. (Wege der Kulturforschung 1) Berlin 2008, S. 75–88, hier S.77. 153 R. Campe, S. 761. 154 Uwe Wirth nutzt die Begrifflichkeit von Campe, um vor dem Hintergrund der Verkomplizierung des Verhältnisses des Schreibens zu den Schreibwerkzeugen durch digitale Datenverarbeitung und Telekommunikation die Schreib-Szene um 2000 als eine durch die ›Neuen Medien‹ bestimmte Szene zu beschreiben. In diesen Szenen wird das »Verhältnis der Schrift und des Schreibens zu den Übertragungs- und Konvertierungswerkzeugen thematisiert«. Uwe Wirth: Neue Medien im Buch. Schreibszenen und Konvertierungskonzepte um 2000. In: Corina Caduff u. Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München 2005, S. 171–184, hier S. 172. Carlos Spoerhase weitet die Schreib-Szene demgegenüber zur Lese-Szene aus, die die Rahmenbedingungen des Lesens in der Institution der Leihbibliothek sieht. Vgl. Carlos Spoerhase: Die spätromantische Lese-Szene: Das Leihbibliotheksbuch als ›Technologie‹ der Anonymisierung in E. T. A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), Nr. 4, S. 577–596. Arne Höcker und Ulrich Plass beschreiben das, was die vorliegende Studie mit der Unterscheidung von primären und sekundären Formen bezeichnet, als die ›Einrichtung der Literatur‹. »›Die Einrichtung der Literatur‹ soll [...] sowohl den institutionellen Bedingungen der Literatur Rechnung tragen, der Literatur als Insitution, den Institutionen der Literatur wie denen ihrer Kritik und Geschichte, als auch direkt bezogen bleiben auf die konkreten Bedingungen der Literaturproduktion, die Gegenstände, die an der Einrichtung literarischer Texte unmittelbar beteiligt sind.« Arne Höcker u. Ulrich Plass: Die Einrichtung der Literatur. Einleitung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), Nr. 4, S. 481–487, hier S. 482. Schließlich hat wiederum Wirth die Schreib-Szene zur Editions-Szene ausgeweitet. Siehe Uwe Wirth: Die Schreib-Szene als Editions-Szene. Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls Leben Fibels. In: Martin Stingelin (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. In Zusammenarbeit mit Davide Giuriato und Sandro Zanetti. (Zur Genealogie des Schreibens 1) München 2004, S. 156–174.
Die Schreib-Szene um 2000 als Literaturbetriebs-Szene
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schung, dass die »Wechselbeziehung« 155 zwischen Literatur und Betrieb sich nicht zuletzt als »zunehmende[r] Einfluss« 156 von Betriebsvorgängen auf Literatur realisiere, so verweist dies nicht zuletzt auf eine mit Jessens Frage nach dem literaturbetrieblichen ›Verderben‹ der Literatur unmittelbar konnotierten Vermutung: dass nämlich der Literaturbetrieb die Autoren »vom Schreiben abhält«.157 Jessens Diskussionseröffnung thematisiert weder Schreibwerkzeuge noch Semantik oder Körperlichkeit des Schreibens und damit verbundene Widerstände, sondern die das literarische Schreiben rahmenden, mehr oder weniger problematischen und als ›verdorben‹ angenommenen Begleitumstände: nämlich die für die Publikation eines Textes als literarisches Werk notwendigen »Praktik[en]« 158 von Akteuren und Organisationen. Die Schreib-Szene um 2000 ist nicht nur, aber auch eine Literaturbetriebs-Szene. Vor dem Hintergrund der literaturkritischen Debatten zum ›Zustand‹ der deutschsprachigen Literatur seit den 1990er Jahren und den dort thematisierten Ableitungsbemühungen der literarischen ›Verfassung‹ aus sozialstrukturellen Veränderungen scheint sich im Falle der Literaturbetriebs-Szenen nicht zuletzt tatsächlich eine nicht unwesentliche These der Schreib-Szenen-Forschung zu bestätigen: dass nämlich der Instabilität und Problematik literarischen Schreibens insbesondere in medienhistorischen, im Falle der LiteraturbetriebsSzenen sozialstrukturellen, »Umbruchphasen« 159 literarische Thematisierungen und Reflexionen »korrespondieren[ ]«.160 Denn tatsächlich bestimmt in der deutschsprachigen Literatur der Jahrtausendwende nicht das nicht-stabile Ensemble aus Sprache, Instrumentalität und Geste als Störung oder Irritation der literarischen Eigenlogik. Als »Rahmenbedingungen literarischer Arbeit«,161 ja als »Umstände der Produktion« 162 fungieren vielmehr die Praktiken von Akteuren der »Einrichtungen [...], in denen es nicht unwahrscheinlich ist, Kunst anzutreffen«.163 Es sind diese durch die sozialstrukturellen Rahmenbedingun-
155 S. Richter, Der Literaturbetrieb, S. 118. 156 M. Beilein, Literaturbetrieb, S. 181. 157 M. Braun, Die deutsche Gegenwartsliteratur, S. 39. 158 R. Campe, S. 759. 159 Davide Giuriato u. a.: Einleitung. In: Davide Giuriato u. a. (Hg.): »Schreiben heißt: sich selber lesen«. Schreibszenen als Selbstlektüren. (Zur Genealogie des Schreibens 9) München 2008, S. 9–17, hier S. 12. 160 D. Giuriato, S. 12. 161 S. Zanetti, Welche Gegenwart? Welche Literatur? Welche Wissenschaft?, S. 27. 162 Davide Giuriato: (Mechanisiertes) Schreiben. Einleitung. In: Davide Giuriato u. a. (Hg.): »SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN«. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. (Zur Genealogie des Schreibens 2) München 2005, S. 7–20, hier S. 7. 163 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 249.
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Eine Redeskription literaturbetrieblichen ›Verderbens‹
gen bereitgestellten »sekundären Formen des Wahrscheinlichmachens von Unwahrscheinlichkeit« 164 literarischer Kommunikation, auf die die in den Einzelstudien untersuchten Texte hinweisen. Damit transformieren sie die SchreibSzene in eine Literaturbetriebs-Szene, in der der sozialstrukturelle Rahmen der Literatur »poetologische Unterscheidungen anreg[t]«,165 die nicht lediglich im Bereich der programmatischen Selbstreflexion zu verorten sind, sondern in ihrer Form über diese hinausweisen. In der Literaturbetriebs-Szene wird Jessens Frage, ob der literaturbetriebliche Rahmen die Literatur ›verdirbt‹ oder ob Literatur aus sozialstrukturellen Vorgaben abgeleitet werden kann, verfahrenstechnisch exponiert. Es geht mithin nicht um das Zusammenspiel primärer und sekundärer literarischer Formen in ihrer historischen und faktischen Varianz, für den sich literatursoziologische Arbeiten gewöhnlich interessieren. Auch steht nicht allein die Frage im Zentrum, ob und wie literaturvermittelnde Akteure und Organisationen in literarischen Texten thematisiert werden. In der Literaturbetriebs-Szene kreuzen vielmehr einander »Thematisierung und Regulation«.166 Und eben diese Spannung zwischen primären und sekundären Formen, zwischen Literatur und Betrieb, die über die Irritation und Störung literarischen Schreibens mit dessen vermittelnden Begleitumständen die SchreibSzene in eine Literaturbetriebs-Szene umwandelt, interessiert im Folgenden. Der sozialstrukturelle Rahmen literarischer Tätigkeiten, wie ihn sekundäre literarische Formen bereitstellen, bildet in diesem Zusammenhang einen »unersetzbare[n], logisch relevante[n] Fall« 167 der literarischen Form, in der in und mit sozialen Strukturen Literatur produziert, vermittelt, medialisiert oder gefördert wird, was der jeweilige literarische Text literarisiert. Ermöglicht die Kopplung des Konzepts der Schreib-Szene mit demjenigen der Selbstbeschreibungsformel es also, den Anspruch auf einen mehr oder weniger ›homogenen‹ Literaturbetriebsbegriffs und die Diagnose des ›Diffusen‹ zusammenzubringen, gerät das ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb als Form in den Blick. So soll nicht ein Konzept von Literaturbetrieb auf die Texte appliziert, sondern herausgearbeitet werden, wie diese die Unterscheidung von Literatur und Literaturbetrieb als ein Verhältnis zwischen primären und sekundären Formen bestimmen. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die heuristische Differenzierung der Praktiken der an literaturbetrieblichen Prozessen beteiligten Akteure und Organisationen in vier Bereiche: Neben Autoren und Lesern sind all diejenigen Akteure und Organisationen zu nennen,
164 165 166 167
N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 249. R. Campe, S. 761. R. Campe, S. 767. R. Campe, S. 761.
Die Schreib-Szene um 2000 als Literaturbetriebs-Szene
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»die (a) am Entstehungsprozess vom Manuskript zum fertigen Buch und seiner Vermarktung, (b) an der Vermittlung, (c) an der Weiterverarbeitung oder Medialisierung und (d) an der Förderung und Bewahrung von Literatur beteiligt sind«.168 So abstrakt, kontingent und grundsätzlich mit Überschneidungen ausgestattet diese Typologie auch sein mag, sie erlaubt es, die im Folgenden analysierten Literaturbetriebs-Szenen einerseits nicht mit einem bereits im Vorhinein festgelegten Begriffsapparat zu konfrontieren, sondern die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Formen jeweils deduktiv aus dem vorhandenen Material zu entwickeln; andererseits können die Dimensionen aber als grobes Schema der wechselseitigen Abgrenzung der literarischen Inszenierungen fungieren.
168 M. Beilein, Literaturbetrieb, S. 182.
3 Das Verderben der Literatur durch die Medien: Bodo Kirchhoff Die Autorentheatertage im Schauspiel Hannover können 1997 mit einer vielversprechenden Debütantin aufwarten. Zu den drei Preisträgertexten, die in einer Werkstattinszenierung szenisch präsentiert werden sollen, gehört neben Tatar Titus von Albert Ostermaier und Alexander Gerners Trance. Szenen aus der Normalitätsanstalt auch das Stück einer jungen, der literarischen Öffentlichkeit noch gänzlich unbekannten Autorin. Wie Ostermaier und Gerner hat sich Odette Haussmann – so der Name der nach Angaben des Fischer-Verlags »1969 auf der Insel Réunion im Indischen Ozean als Tochter einer Deutschen und eines Franzosen« 1 geborenen Autorin – mit ihrem Stück Mach nicht den Tag zur Nacht gegenüber knapp 200 Mitbewerbern behaupten können. Doch gleichwohl die Auszeichnung Haussmann die Gelegenheit bieten würde, »die Aufmerksamkeit des Publikums zu fokussieren« 2 und sich gleich mit ihrer ersten Publikation auch als Autorin der interessierten literarischen Öffentlichkeit auf einer größeren Bühne zu präsentieren, sagt die junge Debütantin ihre Teilnahme an einer angesetzten Podiumsdiskussion ab. Als Begründung führt sie gesundheitliche Probleme an. Da sie sich derzeit in London in psychiatrischer Behandlung befinde, könne sie nicht ins niedersächsische Hannover kommen. Es ist jedoch weder die ungewöhnliche Absage der Autorin noch Haussmanns Auszeichnung als solche, sondern ein mit beidem verbundener, gleichsam hinter den Betriebskulissen verorteter Umstand, der dazu führt, dass sich schließlich auch das überregionale Feuilleton für die Hannoverschen Theatertage interessiert. Dass Haussmanns Begründung nämlich nur vorgeschoben ist, der tatsächliche Grund für ihre Absage weniger in ihrem Gesundheitszustand
1 Biographische Angaben zu Odette Haussmann, wie sie auf der Homepage des Fischer-Verlags angegeben worden sind. Zitiert nach dem Screenshot auf http://www.bodokirchhoff.de/ biografie5.html (27. 02. 2012). Die vollständigen Verlagsangaben lauten wie folgt: »Odette Haussmann wurde 1969 auf der Insel Réunion im Indischen Ozean als Tochter einer Deutschen und eines Franzosen geboren. Bis zu ihrem Abitur lebte sie mit ihrer Mutter in Berlin. Anschließend studierte sie in Paris Ethnologie und Philosophie. Mach nicht den Tag zur Nacht ist ihr erstes Stück. Sie schreibt in deutscher Sprache«. Dass Haussmann auf der Insel Réunion geboren worden ist, lässt sich im Übrigen als Anspielung auf Michel Houellebecq lesen, der einer biographischen Version zufolge ebenfalls dort geboren sein soll. 2 BMB: Literaturwettbewerb. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 240–243, hier S. 243.
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Das Verderben der Literatur durch die Medien: Bodo Kirchhoff
als vielmehr in ihrer Person zu suchen ist, deckt kurze Zeit nach Bekanntwerden von Haussmanns Rückzug das Magazin Focus auf. »Der wahre Grund: Fräulein Haussmann ist der prominente Macho-Literat Bodo Kirchhoff!« 3 Alamiert durch die mit der Focus-Meldung ausgelösten Diskussionen um seine Person, entschließt sich der Betroffene denn auch selbst zur Stellungnahme. In einem ausführlichen Interview mit dem Spiegel gesteht Kirchhoff nicht nur seine Autorschaft an dem beim Schauspiel Hannover eingereichten Text. Er nutzt die Gelegenheit zudem, um seine mit der fingierten Identität verbundenen Absichten dem Publikum offenzulegen. Ich wollte, daß Odette Haussmann ohne Heimvorteil angenommen wird, und deshalb habe ich das Stück über einen französischen Verlag eingereicht, über L’Arche, mit der Bitte, es an den deutschen Verlag weiterzugeben, in dem Kafka publiziert wird, also an S. Fischer. All das war verbunden mit sehr viel Feinarbeit, mit Briefen und kleinen Zeichnungen, die ich an Rudolf Rach, den französischen Verleger, geschickt habe. Für mich handelte es sich nicht um eine Spielerei, sondern ich versenkte mich da richtig rein – das war wie Romanarbeit.4
Die für die Publikation von Mach nicht den Tag zur Nacht als literarisches Werk notwendigen Praktiken von literaturvermittelnden Akteuren und Organisationen im Blick, thematisiert Kirchhoff in dieser Passage die sozialstrukturellen Begleitumstände, die der Arbeit am Manuskript von Mach nicht den Tag zur Nacht nachfolgen. L’Arche und S. Fischer als Verlage, im besonderen Verleger Rudolf Rach, die Hannoversche Jury, die als literaturbetrieblicher Gatekeeper den Text begutachtet, aber auch die Akteure im Schauspiel Hannover stellen die »sekundären Formen des Wahrscheinlichmachens von Unwahrscheinlichkeit« 5 literarischer Kommunikation dar. Kirchhoffs zum ›Gegenangriff‹ auf die deutschen Betriebsbedingungen ausholende Inszenierung einer vermeintlich ›aus dem Nichts kommenden Stimme‹ 6 kalkuliert mithin ganz erheblich mit Erwartungen der von ihm kritisierten ›deutschen Literaturverhältnisse‹. Dass der Fall ›Haussmann‹ gut zehn Jahre später als »one of the most hilarious hoaxes the German literary scene had recently witnessed« 7 klassifiziert wird,
3 Kirchhoffs Rockrolle. In: Focus 27 vom 30. Juni 1997. 4 Anke Dürr u. Wolfgang Höbel: Literaten sind Lügner. Der Autor Bodo Kirchhoff über sein unter Pseudonym veröffentlichtes Theaterstück »Mach nicht den Tag zur Nacht«, Kritiker-Attacken und die Sehnsucht des Schriftstellers nach einem anderen Körper. In: Der Spiegel 29 (1997). 5 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2002, S. 249. 6 Vgl. Christian Kortmann: Die aus dem Nichts kommende Stimme. Zur Ästhetik des literarischen Debüts in der Mediengesellschaft. (Epistemata 561) Würzburg 2006. 7 Bodo Kirchhoff. In: William Grange: Historical dictionary of postwar German literature. (Historical dictionaries of literature and the arts 32) Lanham 2009.
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gründet nicht lediglich auf Beobachtungen die textinternen Strukturen betreffend – tatsächlich ist der Text bisher nicht erschienen –, sondern auf einem »emotionalen Betrug an den Gefühlen des Publikums«.8 Im Zuge der Aufregungen um die Autorschaft Kirchhoffs entdecken just jene literarischen Experten, die eben noch Haussmanns »Mut zur Banalität« 9 gelobt sehen wollten, dass das Stück eigentlich, wenn nicht minderwertig sei, so doch einem literarischen Programm folge, dessen Eckpfeiler durch den »von zuviel Testosteron getriebenen Macho-Literaten« 10 Kirchhoff kontaminiert seien. Teile des Feuilletons sind es schließlich selbst, die nicht ohne Schadenfreude darüber berichten, wie sich die Hannoveraner Entscheidungsträger im Nachhinein eingestehen müssen, sich von der »photogenen Erscheinung des Phantoms Odette wohl irgendwie haben blenden [zu; DCA] lassen.« 11 Denn wissend um die Autorschaft Kirchhoffs hätten sie das eingereichte Stück ohne Frage »anders« 12 gelesen, mithin »die Peinlichkeiten aus dem Text herausgehört« 13 – und, so die dem Publikum überlassene, indes naheliegende Schlussfolgerung, als Konsekrationsinstanzen Werk und Autor die Zuerkennung symbolischen Kapitals verweigert. Das Eingeständnis, der Text sei nach dem Aufdecken von Kirchhoffs Inszenierung ›anders‹ zu lesen, fußt dabei auf einer spezifischen, durch paratextuelle Elemente provozierten Lektürehaltung. Ihren wenn auch nur kurzen Ruhm verdankt Odette Haussmann nämlich »der für eine biographisch-hermeneutische Interpretation optimalen Verschränkung von Leben und Werk«.14 Wird Haussmanns Stück von den Beteiligten zunächst autobiographisch kontextualisiert, dann als ›authentisch‹ beobachtet und auf eben dieser Basis schließlich als der Konsekration durch die Autorentheatertage würdig bewertet, irritiert der unvorhergesehene ›Wechsel‹ der Autorschaft eben diese Kausalkette ganz erheb-
8 Barbara Schaff: Der Autor als Simulant authentischer Erfahrung. Vier Fallbeispiele fingierter Autorschaft. In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. (Germanistische Symposien 24) Stuttgart u. Weimar 2002, S. 426–443, hier S. 431. 9 So wird der alleinverantwortliche Juror und Spiegel-Redakteur Wolfgang Höbel zitiert. Christine Dössel: Schizoaffektiv. In: Süddeutsche Zeitung vom 3. Juli 1997. 10 C. Dössel. 11 Ralph Hammerthaler: Cunnilingus nachmittags im dunklen Flur. In: Süddeutsche Zeitung vom 9. Juli 1997. 12 R. Hammerthaler. 13 R. Hammerthaler. 14 Niels Werber u. Ingo Stöckmann: Das ist ein Autor! Eine polykontexturale Wiederauferstehung. In: Henk de Berg u. Matthias Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik. Tübingen u. Basel 1997, S. 233–262, hier S. 242.
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lich. Kirchhoff legt sich nicht nur ein Pseudonym15 zu, um das Label ›Kirchhoff‹ hinter einer letztlich beliebigen Maske verschwinden zu lassen und dem Publikum dadurch eine ›unvoreingenommene‹, gleichsam interpretativ ›bereinigte‹ Textlektüre zu ermöglichen. Nicht zuletzt auf die Autorinnenpraxis des 19. Jahrhunderts zurückgreifend, das eigene Geschlecht zu verhüllen,16 fingieren die paratextuellen Elemente auch und gerade eine andere, zweite Autoreninnenidentität, die als literaturbetriebswirksames Label die kommunikative Anschlussfähigkeit des Stückes in der literarischen Öffentlichkeit spezifisch steuern soll.17 Als paratextuelle Organisatoren der Kommunikation18 tragen die fingierten biographischen Angaben, Haussmanns Brief aus der Psychatrie sowie das vom Verlag bereitgestellte verschwommene Autorenfoto maßgeblich dazu bei, die Lektüre von Mach nicht den Tag zur Nacht im Sinne von Kirchhoffs Projekt zu ›manipulieren‹.19 Die geplante Auszeichnung des Textes in Hannover nutzt folglich geradezu die Kopplung der epitextuellen Hinweise auf die »schizodepressiv[e]« 20 Autorin mit der im Text angelegten »psychologische[n] Konturierung Miriams als sprunghafter Figur, die widersprüchliche Geschichten erzählt und zwischen se-
15 Siehe den Eintrag Bodo Kirchhoff. In: Jörg Weigand: Pseudonyme. Ein Lexikon. Decknamen der Autoren deutschsprachiger erzählender Literatur. 3., verbesserte und erweiterte Auflage. Baden-Baden 2000. 16 »Während im 18. Jahrhundert das Pseudonym hauptsächlich dazu dient, die Identität zu verbergen, liegt im 19. Jahrhundert die Betonung auf der Verhüllung des Geschlechts der Autorin.« Susanne Kord: Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft. Stuttgart u. Weimar 1996, S. 55. Vgl. auch Carola Hilmes: Skandalgeschichten. Aspekte einer Frauenliteraturgeschichte. Königstein/Ts. 2004, S. 43–65. 17 Vgl. allgemein Dirk Niefanger: Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer). In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. (Germanistische Symposien 24) Stuttgart u. Weimar 2002, S. 521–539. 18 Vgl. allgemein Georg Stanitzek: Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung. In: Klaus Kreimeier u. Georg Stanitzek (Hg.): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Unter Mitarbeit von Natalie Binczek. (LiteraturForschung) Berlin 2004, S. 3–19, hier S. 12. 19 Vgl. allgemein Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 2008, S. 390. 20 C. Dössel. Auf den Punkt gebracht wird das so erzeugte Bild der Autorin in dem nach dem Aufdecken der Inszenierung erschienen, ironisch ausgerichteten Artikel von Christine Dössel: »Arme Odette. Ernst und traurig sieht sie auf dem Fischer-Verlagsphoto aus: eine junge Frau mit klaren Gesichtszügen, der Blick verdächtig, schizodepressiv.« Im Interview klärt Kirchhoff auch die Identität der auf dem Foto abgebildeten Person auf: »Es wurde vor 25 Jahren in Florida aufgenommen. Das war meine damalige Freundin, und ich finde es sehr schön, auch weil es ein wenig unscharf ist«, A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview].
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xueller Aggressivität und Abwehr schwankt«.21 In dieser Hinsicht verzichten Juror Wolfgang Höbel, aber auch die Regisseurin und der Dramaturg auf eine komplexe Lektüre des Stückes, ja reduzieren dessen Semantik auf die Eindeutigkeit dessen, was in ihm den Lebensumständen der Debütantin entsprechen soll.22 Haussmanns mit wenigen Stationen markierte Vita und ihre psychischen Probleme, nicht zuletzt aber die basalen Indices Alter und Geschlecht werden auf diese Weise im Medium ihres Wettbewerbstextes von den beteiligten Akteuren mehr oder weniger emphatisch nachempfunden, der »klebrige[ ] Dialog eines Midlife-Mannes mit der Babysitterin seines Sohnes« 23 auf die Biographie seiner vermeintlichen Autorin projiziiert. Dass die Verwicklungen in Hannover nicht ohne zwischenmenschliche Enttäuschungen auskommen, mag nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser emphatischen Lektürehaltung auf der Hand liegen. So wird berichtet, dass sich etwa der Hannoveraner Intendant Khuon von Kirchhoff »hintergangen« 24 fühle und auch der Autor selbst verstehe nun, nachdem seine ›Tarnung‹ aufgeflogen sei, »keinen Spaß« 25 mehr. Andererseits unterstellt die Bemerkung, Kirchhoffs Stück sei das »schwächste Stück der langen Nacht« 26 im Theater Hannover gewesen, dem Autor, er habe sein »zweites Ich« 27 überhaupt nur erfunden, um mit einer marketingstrategischen Verpackung seinen letztlich literarisch misslungenen Text zu verhüllen. Dass Kirchhoff selbst explizit beansprucht, die Inszenierung um Debütantin Haussmann sei gerade kein ›Joke‹ gewesen, »sondern etwas Ernstes« 28, mag demgegenüber ebenso wenig überraschen. So heißt es im Interview mit dem Spiegel: Ich hatte nur dieses eine Mal, mit »Infanta«, einen für deutsche Literaturverhältnisse ungewöhnlichen, anstößigen Erfolg. Seitdem bin ich in einer Weise angegriffen worden, die mich irgendwann nicht nur gekränkt, sondern einfach angewidert hat. Ich wollte das diesem Stück und mir selber nicht mehr zumuten.29
Die fingierte Autorschaft Haussmanns wird zum paratextuellen Medium, das es Kirchhoff erlaubt, sich mit aufmerksamkeitsaffinen Mitteln »zur Wehr zu 21 B. Schaff, S. 431. Dort findet sich auch eine knappe Inhaltsangabe des unveröffentlichten Stückes, vgl. S. 442. 22 Vgl. allgemein N. Werber u. I. Stöckmann, S. 246. 23 Kirchhoffs Rockrolle. 24 C. Dössel. 25 R. Hammerthaler. 26 Ronald Meyer-Arlt: Schlag nach bei Shakespeare. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 7. Juli 1997. 27 Gerhard Stadelmaier: Ode an Odette. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Juli 1997. 28 A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview]. 29 A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview].
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setzen gegen die Auswüchse der Mediengesellschaft«,30 wie sie die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen seines Schreibens bestimmten. Im selben Interview kommt Kirchhoff schließlich auch auf den Umgang mit Mach nicht den Tag zur Nacht nach dem Aufdecken des Pseudonyms zu sprechen. Es ist genau das eingetreten, was ich vermeiden wollte. Die Richtung ist doch vorgegeben, wenn es gleich in der Meldung, die das Pseudonym nun enthüllt hat, heißt, der »prominente Macho-Literat« Kirchhoff habe einen »klebrigen« Text geschrieben. Und natürlich hat es sich auch auf die Werkstattaufführung von »Mach nich den Tag zur Nacht« in Hannover ausgewirkt: Der Text, so empfinde ich es, wurde dort regelrecht gefickt.31
Zunächst thematisiert der Autor hier noch einmal die mit dem Label ›Kirchhoff‹ verbundenen, durch die Focus-Meldung aktualisierten Schlagworte. Als problematisch erweisen sich diese im Betrieb kursierenden Etikettierungen nach Kirchhoff insofern, als mit ihnen eine letztlich autobiographisch gefärbte Lektürehaltung einhergehe, die sich in fataler Weise auf seine Texte ›ausgewirke‹, ja diese analog zum Autorenlabel des auf Sexualität festgelegten ›Macho-Autors‹ gleichsam ›ficke‹. Geradezu konvers dazu ist Kirchhoff selbst vorgegangen, wenn er die interpretative Kopplung von Autorin und Text von Seiten der Hannoveraner Beteiligten provoziert hat. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Passage in dem gut zehn Jahre später erschienenen ›Freundschaftsroman‹ Eros und Asche. Dort kommt ein Bekannter des Ich-Erzählers auf Haussmanns fingierte Autorschaft zu sprechen: Odette Haussmann (eine Figur samt Legende, um hinter ihr zu verschwinden und noch einmal von vorn anzufangen: ein Anfang, der auf gutem Weg war, mit ersten Erfolgen, bis Verrat dem Ganzen ein Ende gesetzt hat).32
Von Bedeutung ist diese Passage vor allem deshalb, weil sie die paratextuell in Szene gesetzten biographischen Fragemente der Autorin mit dem Begriff der Legende verknüpft. Der Ich-Erzähler weist Haussmann in der Parenthese nicht nur als ›Figur‹ aus. Mit dem Begriff der ›Legende‹ ist zudem eben jenes programmatische Konzept Kirchhoffs aufgerufen, das im Zentrum seines literarischen Programms steht. Kirchhoff beobachtet mithin ein ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb, aber die Form, wie er dies tut, markiert, dass es sich um ein literarisches ›Sich-zur-Wehr-Setzen‹ handelt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Aktion in Hannover in einen anderen Kontext stellen, als es die
30 A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview]. 31 A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview]. Aufgedeckt worden ist das Pseudonym nach Angaben Kirchhoffs durch einen befreundeten Journalisten. 32 Bodo Kirchhoff: Eros und Asche. Ein Freundschaftsroman, Frankfurt a. M. 2007, S. 249.
Literatur, Literaturbetrieb und Legenden um den eigenen Körper
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Konzentration auf persönliche Enttäuschungen oder die Frage nach dem ›beleidigten‹ Autor nahelegt. Dieser Kontext ist ein spezifisch literarischer. In dem Ausdruck ›Legende‹ werden Kirchhoffs betriebliche Inszenierungsform und die Form seiner literarischen Texte enggeführt. Die Frage, ob der Autor sich im Schauspiel Hannover lediglich ›einen kleinen Spaß‹ erlaubt oder eine hochgradig ›ernsthafte‹ Inszenierung vollzieht, ob er mithin ›Betrieb‹ oder ›Literatur‹ betreibt, soll als Anlass dienen, das Verhältnis zwischen primären und sekundären Formen literarischer Kommunikation bei Bodo Kirchhoff etwas genauer in den Blick zu nehmen und dabei insbesondere zu fragen, welche Probleme sich aus Kirchhoffs Anspruch ergeben, aus der Position eines literaturbetrieblich ›unverdorbenen‹ Beobachters heraus zu sprechen. Dazu steht zunächst die abstrakte Rekonstruktion des ›Verderbens‹ der Literatur im Literaturbetrieb im Zentrum der Analyse, wie sie im Programm des Autors gleichsam intrinsisch angelegt ist, um diese Konzeption dann in einem zweiten Schritt mit Kirchhoffs zwei maßgeblichen literarischen Erzähltexten zum Literaturbetrieb zu konfrontieren: dem Schundroman und den Erinnerungen an meinen Porsche.
3.1 Literatur, Literaturbetrieb und Legenden um den eigenen Körper Der Fall ›Odette Haussmann‹ ist nicht die einzige Gelegenheit, zu der Bodo Kirchhoff seiner kritischen Haltung gegenüber den sozialen Rahmenbedingungen seiner literarischen Arbeit Ausdruck verleiht. Die Beobachtung, sekundäre Formen des literarischen Systems ›beschädigten‹ oder ›fickten‹ die ›eigentliche‹ Literatur, ist in diversen Autoreninterviews, essayistischen Beiträgen, aber auch in literarischen Texten des Autors mindestens seit den frühen 1990er Jahren so allgegenwärtig, dass sie spätestens nach der Jahrtausendwende droht, in einen durch »Hassantrieb« 33 gesteuerten »Feldzug gegen den Literaturbetrieb« 34 umzuschlagen. Medium dieser kulturpessimistisch gefärbten ›Rundumschläge‹ gegen den »Wahnsinn unseres gegenwärtigen Literaturbetriebes« 35 ist vor allem der 2002 erschienene Schundroman sowie dessen Nachfolger Erinnerungen an meinen Porsche (2009). Weiß Kirchhoff die in beiden
33 Jens Jessen: »Walser TeK« gegen »Kirchhoff SR«. In: Die Zeit vom 27. Juni 2002. 34 Kolja Mensing: Ich Autor, du Freytag. In: Die Tageszeitung vom 26. Juni 2002. 35 Uwe Wittstock: Der unerträgliche Wahnsinn des Literaturbetriebes. Wie man ein Buch zu einer heißen Ware macht – Ein Gespräch mit Bodo Kirchhoff über den Literaturbetrieb und seinen neuen »Schundroman«. In: Die Welt vom 11. Juni 2002.
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Das Verderben der Literatur durch die Medien: Bodo Kirchhoff
Romanen vorgenommene Thematisierung der sozialstrukturellen Voraussetzungen von Literatur zudem durch pointiert gesetzte Auftritte epitextuell zu kommentieren, droht indes ebenso das literaturprogrammatische Gerüst der Kirchhoffschen »Seitenhiebe[ ] auf den Literaturbetrieb« 36 vollends aus dem Blick zu geraten. Nicht unerheblich ist dies insofern, als Kirchhoffs Programm die literarische Relevanz sekundärer Formen alles andere als eindeutig bestimmt. Sein Umgang mit dem Massenmedium Fernsehen, insbesondere mit Talkshow-Auftritten mag als ein erstes Indiz für diese paradoxe Struktur gelten. So beklagt Kirchhoff sich zum einen darüber, dass Autoren im Fernsehen zu »bedauernswerte[n], mit ein paar Scheinen abgespeiste[n] Randfigur[en]« 37 degradiert würden, »die fernsehlogischerweise auch nie in eine Gesprächsrunde jenseits der Literatur eingeladen« 38 seien. Diesem Bedauern mangelnder Beachtung steht jedoch zumindest partiell der explizite Verzicht auf massenmediale Aufmerksamkeit gegenüber. Andererseits hält Kirchhoff nämlich an verschiedenen Stellen nicht ohne eigens betontem Stolz fest, er habe bisher »neun Talk-Shows abgesagt«,39 da in diesem Sendungsformat literarische Autoren als Gäste »nur verlieren« 40 könnten. Kirchhoff selbst sei sich schlicht »zu schade [...] für derartige Auftritte«.41 »Ich nehme mich dafür selber zu ernst. Und deshalb kann ich mir das nicht zumuten.« 42 Trotz aller literarischen Ernsthaftigkeit ist der Autor dem deutschsprachigen Fernsehen gleichwohl kein Unbekannter: Kirchhoff schreibt Drehbücher für Krimiserien (Die Kommissarin), den NDR-Tatort und Filme (Mein letzter Film), versucht sich als Moderator einer Literatursendung (cult.date – Gute Leute, gute Bücher im hessischen Fernsehen)43 und stellt seine literarischen Texte für Verfilmungen zur Verfügung (In36 Holger Liebs: Das Weichei und der Korkenzieher. In: Süddeutsche Zeitung vom 3. April 2009. 37 Bodo Kirchhoff: Doktor Perlenhändler. In: Alexander Wasner (Hg.): Ich möchte lieber doch. Fernsehen als literarische Anstalt. Göttingen 2008, S. 141–143, hier S. 142. 38 B. Kirchhoff, Doktor Perlenhändler. 39 Bodo Kirchhoff u. Uwe Wittstock: Der Autor hat nur eine Chance: Er muß den Kritiker überleben. Bodo Kirchhoff im Gespräch mit Uwe Wittstock über die Brauchbarkeit von Literatur und über Kopfgeldjägerei sowie das katastrophale deutsche Unterhaltungsverständnis. In: Neue Rundschau 104 (1993), Nr. 3, S. 69–81, hier S. 69. 40 A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview]. 41 Bodo Kirchhoff: Legenden um den eigenen Körper. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1995. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle LK in runden Klammern im Text, hier S. 114. 42 A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview]. 43 Vgl. dazu die Angaben auf der Homepage des Autors http://www.bodokirchhoff.de/ biografie.html (10. 07. 2012). Siehe zur ersten Sendung auch Claudia Schülke: Plaudern über Literatur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Oktober 2003.
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fanta, Der Sandmann, Wo das Meer beginnt). Nicht zuletzt tritt Kirchhoff immer wieder auch in Fernsehsendungen auf – so etwa aus Anlass der Erinnerungen an meinen Porsche: Neben dem blauen sofa, aspekte und Literatur im Foyer nimmt Kirchhoff in der ZDF-Sendung Das philosophische Quartett zu Ursachen der Finanzkrise um 2008 Stellung.44 Diese hier nur angedeuteten Widersprüche zwischen talk und action Kirchhoffs lassen sich nun weder auf einen Konflikt zwischen den mit der sozialstrukturellen Einbettung von Literatur einhergehenden Anforderungen an Autoren und Texte einerseits und Kirchhoffs literarischem Anspruch andererseits reduzieren, noch auf die divergierenden, sich polykontextural ausdifferenzierenden Funktionen zurückrechnen, die dem Autor in massenmedialer, ökonomischer oder literarischer Systemreferenz zugeschrieben werden.45 Das Insistieren auf die Differenz zwischen Kirchhoffs literaturprogrammatischen Äußerungen und seinen ›Inszenierungspraktiken‹ 46 invisibilisiert vielmehr ebene jene Paradoxie, die bereits Kirchhoffs literaturprogrammatische Selbstbeschreibungen strukturiert. Auf welche Weise die damit in Zusammenhang stehende Verkettung von primären und sekundären literarischen Formen sowohl Kirchhoffs Autor- als auch seinen Literaturbegriff bestimmt, soll im Folgenden mit Blick auf literaturprogrammatische Texte, insbesondere die Frankfurter Poetikvorlesungen erläutert werden. Im Zentrum steht dabei zunächst die Unterscheidung von ›Identität‹ und ›Legende‹, um von dort aus die spezifische Relevanz der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur für Kirchhoffs Programm kommentieren zu können.
3.1.1 Identität und Iteration In seinem zentralen literaturprogrammatischen Text, den 1995 erschienenen Legenden um den eigenen Körper, setzt sich Kirchhoff an mehreren Stelle auch
44 Vgl. Das philosophische Quartett. ZDF-Sendung vom 19. April 2009. http://www.zdf.de/ ZDFde/inhalt/25/0,1872,7554873,00.html (01. 06. 2011). Die Sendung ist ebenso wie die anderen genannten online nicht mehr verfügbar. Als Nachweis siehe http://www.das-blaue-sofa.de/ hall-of-fame/buchmessen/autoren-der-buchmessen-2009 (08. 08. 2012); http://www.hoffmannund-campe.de/go/bodo-kirchhoff-erinnerungen-an-meinen-porsche-fulminante-premiere-inhamburg-am-erscheinungstag (08. 08. 2012). 45 Siehe dazu allgemein N. Werber u. I. Stöckmann. 46 Vgl. allgemein Christoph Jürgensen u. Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese. In: Christoph Jürgensen u. Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. (Beihefte zum Euphorion 62) Heidelberg 2011, S. 9–30.
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mit den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur auseinander. Die Erörterungen dieser Voraussetzungen finden im dritten Kapitel, das unter dem Titel ›Schreiben und Narzißmus‹ firmiert, ihren erklärten Höhepunkt. Wird die fünfgliedrige Struktur der Vorlesungen auch institutionell aus Frankfurt vorgegeben,47 ist damit gleichwohl ein Programm angedeutet, das die Legenden um den eigenen Körper und mit diesen das von Kirchhoff beobachtete sozialstrukturell bedingte ›Verderben‹ der Literatur um 2000 als literarische Inszenierung ausweist, ja in die Form einer autofiktional verdichteten Tragödie presst, die im dritten (Literaturbetriebs-)Kapitel ihr tragisches Moment erhält. Der Exposition (›Das Kind und die Buchstaben‹) und deren weiterer Entfaltung (›Orthopädische Wahrheit‹) korrespondiert so nach dem dritten »Kapitel über den deutschsprachigen Kulturbetrieb und seine Protagonisten« (LK 111) die Peripetie (›Dem Schmerz eine Welt geben‹) und mit dem als Faksimile angedeuteten Abdruck des Manuskripts von Der Ansager einer Stripteasenummer gibt nicht auf die als gleichsam doppelte »Textperformanz« 48 inszenierte Katastrophe. Doppelt deshalb, weil die Tragödie vom ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb, wie sie die Legenden entwerfen, auf diese Weise in einer Rückeroberung auktorialer »Handlungsmächtigkeit« 49 im Medium eines literarischen Textes endet, der aber selbst wiederum durch einen konkreten institutionellen Kontext, nämlich die Frankfurter Poetikvorlesungen, realisiert und damit umfunktionalisiert wird. In Frankfurt wie in der Publikation im SuhrkampBand einerseits als fünfte Vorlesung markiert, andererseits als davon abgehobene literarische Inszenierung ausgewiesen, rückt der Ansager die Legenden in einen Status, der sie weniger als kommentierende oder explizierende Sekundärkommunikation erscheinen lässt, als vielmehr als literarisch-programmatische Umsetzung dessen, was sie thematisieren. In der in der edition suhrkamp erschienenen Druckfassung der Poetikvorlesungen erfolgt die Markierung die-
47 Siehe zur ›Frankfurter Stiftungsgastdozentur Poetik‹ allgemein Ulrich Volk: Der poetologische Diskurs der Gegenwart. Untersuchungen zum zeitgenössischen Verständnis von Poetik, dargestellt an ausgewählten Beispielen der Frankfurter Stiftungsgastdozentur Poetik. (Frankfurter Hochschulschriften zur Sprachtheorie und Literaturästhetik 13) Frankfurt a. M. u. a. 2003. 48 Andrea Geier: ›... wenn man es logisch zu Ende denkt, zieh ich mich selbst hier aus.‹ – Imaginationen des Geschlechtertauschs und erotische Geschlechterverwirrung in Bodo Kirchhoffs Der Ansager einer Stripteasenummer gibt nicht auf. In: Robert André u. Christoph Deupmann (Hg.): Paradoxien der Wiederholung. (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 17) Heidelberg 2003, S. 171–191, hier S. 174. Kirchhoffs Text ist 1994 als Einzelpublikation erschienen. Vgl. Bodo Kirchhoff: Der Ansager einer Stripteasenummer gibt nicht auf. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 1994. 49 A. Geier, S. 191.
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ses Wechsels im Darstellungsmedium der Legenden durch den peritextuellen Hinweis darauf, dass es sich bei der letzten Vorlesung um einen Abdruck der ersten Seite der Buchausgabe beziehungsweise des Manuskripts des Ansagers handelt, sowie durch die fehlenden Seitenzahlen auf den entsprechenden Seiten (vgl. LK unpaginiert [174–175]). In Frankfurt markiert der Ortswechsel vom Universitätshörsaal in das ›Theater am Turm‹ die literarische Inszenierung (vgl. LK unpaginiert [176]). Dass es sich dabei um einen Bruch im Darstellungsmedium der Legenden handelt, verdeutlichen die diversen forciert selbstkommentierenden Ausbuchtungen der Poetikvorlesungen, wie sie sich bereits in den vorherigen Kapiteln der Legenden finden. Neben dem Einbau von Manuskriptpassagen aus dem noch unveröffentlichten Parlando, die Kirchhoff explizit als solche markiert und dann im Modus eines Werkstattgesprächs kommentiert, finden sich intertextuelle Anleihen, die als explizite Zitation markiert sind: neben essayistischen Texten Kirchhoffs (siehe etwa LK 116 oder 118) auch von Autoren wie Wilhelm Genazino und Josef Winkler (vgl. LK 67–68 bzw. 70–72). Der Autor Kirchhoff, soll das heißen, literarisiert sich in der fünften Vorlesung gleichsam selbst, ja setzt sich als Ansager einer Stripteasenummer und damit als homodiegetischer Erzähler in Szene, der am ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb zwar nach eigener Auskunft ›leidet‹, sich gegen die thematisierten Bedingungen jedoch dennoch mit den selbst definierten literarischen Mitteln mehr oder weniger souverän zu behaupten weiß. Der Ansager, den Poetikvorlesungen zufolge »Titel und Inhaltsangabe in einem« (LK 97), markiert zum einen Kirchhoffs »Situation als Autor« (LK 97) und ist zum anderen Teil eines »Enttäuschen[s] des Publikums, das sehen muß, wie sehr der Autor selber Teil der Fikton ist« (LK 144–145). Mit dieser Form eines sich selbst als Fiktion ausweisenden »Hersteller[s] von Literatur und Kenner[s] der Produktionsbedingungen« (LK 70) schlägt Kirchhoff den Bogen von den Kindheitserfahrungen, wie er sie im ersten Kapitel schildert, über den Einstieg in den Literaturbetrieb bis hin zur dezidiert literarischen Antwort auf die vom Text zuvor als ›verdorben‹ markierten Vermittlungsstrukturen. Am Anfang von Kirchhoffs literarischem Programm das Verhältnis von primären und sekundären literarischen Formen betreffend steht die Beobachtung, dass die öffentliche Bedeutung von Literatur und Autoren spätestens seit den 1990er Jahren stark zurück gegangen sei. So wie Bücher nur noch als »Requisiten« (LK 106) gebraucht würden, ja die ›eigentliche‹ Literatur durch ein »Bild von der Literatur« (LK 107) ersetzt werde, so seien Schriftsteller zu gesellschaftlichen »Randfigur[en]« 50 degradiert. Während »Autoren alten Schlags« (LK
50 B. Kirchhoff, Doktor Perlenhändler, S. 142.
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115), wie sie sich nach 1945 noch hätten positionieren können, »glaubhafte Mahner« (LK 105), »glaubhafte Gelehrte und Weltdeuter« (LK 105) gewesen seien, die sich mit ihrem »repräsentativen Rang« 51 als »Idealisten, Utopisten, Märtyrer, Hofnarren, Renegaten, Prediger, Mahner« (LK 115) einen Namen hätten machen können, würde eben diese Funktionsstelle in der Gesellschaft um 2000 »von Moderatoren besetzt« (LK 105). An die Stelle des gesellschaftsrelevanten und -repräsentativen Autors seien »telegene Prediger« (LK 105) getreten. Den literarischen Autoren, zu denen sich Kirchhoff zählt, bleibt die Bücherecke in einem Dritten Programm, die Stunde der Schwierigen, mit der sich das Fernsehen immer schon schwer getan hat, ganz am Anfang todernst betulich, gar nicht das Schlechteste, später mit Lederjacke, der Moderator als Rockerbraut des Romans, dann zunehmend selbstverliebt, die Vermittler als die wahren Stars, bis hin zum Kaspertheater oder zur Märchenstunde für Erwachsene.52
Im Modus eines sentimentalen Rückblicks auf offensichtlich unwiderruflich Verlorengegangenes der fünfziger und sechziger Jahre diagnostiziert Kirchhoff, dass Literatur in der Zwischenzeit schlicht »kein[ ] gesellschaftliche[r] Wert mehr« 53 zukomme. Das gesellschaftspolitische, nicht zuletzt ethisch-moralische ›Mitreden‹ literarischer Autoren sei angesichts massenmedial dominierter Erwartungsstrukturen »winzig geworden« (LK 115). Eingelassen ist diese allgemeine Zeitdiagnose in eine abstrakte Erörterung der »Ermöglichungsbedingungen« 54 literarischen Schreibens. Bereits der im Titel der Frankfurter Poetikvorlesungen genannte Begriff der ›Legende‹ verdeutlicht dabei, dass es Kirchhoff darum geht, (schriftstellerische) Identität als problematische Größe zu fassen. Die lexikalische Bestimmung legt die ›Legende‹ auf eine literarische Gattung fest, die auf einen Erzähltext referiert, »der vom Leben und Wirken Heiliger berichtet«.55 Kirchhoff interessiert sich indes nicht so sehr für diese abstrakte Bezeichnung, sondern bezieht sich in den Vorlesungen auf seine konkrete (auto-)biographische Person. Während Legenden bereits alltagssprachlich einerseits im Zeichen des Erzählens, andererseits eines zwischen historischer Wahrheit und literarischer Fiktion verorteten, mit-
51 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 79. 52 B. Kirchhoff, Doktor Perlenhändler, S. 142. 53 B. Kirchhoff, Doktor Perlenhändler, S. 142. 54 Andreas Weber: Prozesslogik als Logik moderner Selbstreflexion. Eine soziologische Analyse zu Bodo Kirchhoffs ›Legenden um den eigenen Körper‹. In: Thomas Kron u. Uwe Schimank (Hg.): Die Gesellschaft der Literatur. Opladen 2004, S. 361–397, hier S. 363. 55 Legende. In: Dieter Burdorf u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart u. Weimar 2007.
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hin auf unzuverlässigen Tatsachenbehauptungen basierenden Sprechakts stehen, geht es Kirchhoff um eine spezifische Form des personenbezogenen »Selbstbetrug[s]« (LK 47). Zu Beginn literarischen Schreibens stehen demnach gerade keine spezifischen Fertigkeiten, kein »Überfluß« (LK 41), sondern »eine Reihe von Unfähigkeiten«.56 In deren Zuge erweist sich für die schriftstellerische Identität eine Form von Selbstbeschreibung und -erschaffung als konstitutiv, die sich auf der Grundlage einer »künstliche[n] biographische[n] Legende« 57 einstellt, um einen Begriff von Boris Tomaševskij zu verwenden. Solche ›Legenden‹ haben als sprachliche Konstrukte die Funktion »eines befreienden Artefakts« (LK 107), ja einer selbsterschaffenden und damit befreienden Identität, die auf einer »Veränderung des äußerlichen Scheins« 58 basiert. Dieser ›äußerliche Schein‹ ist im Falle Kirchhoffs zunächst unter Rezeptionsgesichtspunkten von Relevanz. Nicht nur dem breiteren literarischen Publikum seit dem Bestseller Infanta, sondern auch der Literaturkritik gilt Kirchhoff vor allem als ›Macho-Autor‹,59 der sich auf den Körper als »Zugangsweg zur Welt und damit zur Literatur« 60 konzentriere, das konsequente »Herausstellen der Körperlichkeit« 61 jedoch nur an der Oberfläche betreibe, mithin den Anspruch vermisse lasse, »unter die Haut bis in das Seelenleben vorstoßen zu wollen«.62 Dass Kirchhoff immer wieder bemüht ist, diesem vom Betrieb verliehenen, pejorativ konnotierten ›Label‹ entgegenzuwirken, also den ›äußerlichen Schein‹ seiner Autorschaft zu verändern, verdeutlichen diverse InterviewÄußerungen, aber auch Inszenierungen wie die ›Haussmann‹-Aktion. Kaum etwas ist jedoch für die Nobilitierung eines Autors zumindest im feuilletonistischen Bereich hilfreicher als die Bestätigung der spezifischen Literarizität eines Textes durch die literarischen Experten selbst. Als eine solche symbolische Nobilitierung von literaturkritischer Seite, die Kirchhoffs Fokussierung auf den
56 B. Kirchhoff, u. U. Wittstock, S. 71. 57 Boris Tomaševskij: Literatur und Biographie. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2002, S. 49–61, hier S. 52. 58 Torsten Pätzold: Textstrukturen und narrative Welten. Narratologische Untersuchungen zur Multiperspektivität am Beispiel von Bodo Kirchhoffs Infanta und Helmut Kraussers Melodien. (Europäische Hochschulschriften 1779) Frankfurt a. M. 2000, S. 161. 59 Siehe nur pointiert die bereits zitierte Aufdeckung im Fall ›Haussmann‹. Kirchhoffs Rockrolle. 60 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 70. 61 Claude Foucart: Körper und Literatur. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte. Bern u. a. 1997, S. 655–671, hier S. 667. 62 Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Gegenwartsprosa seit 1970. Tübingen u. Basel 2001, S. 282.
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Körper als ›poetologische Metapher‹ 63 liest, kann die bereits 1988 erschienene Dissertation Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre des Literaturkritikers Hubert Winkels gelten. Winkels’ Text, der sich neben dem Abschnitt zu Kirchhoff unter anderen mit Rainald Goetz nobilitierend auseinandersetzt, ist dezidiert darum bemüht, die »forcierte Selbstbezüglichkeit der Texte« 64 Kirchhoffs als zentrales Element ihrer Literarizität herauszustellen. Am Beispiel von Geistige Übung und Dame und Schwein aus dem gleichnamigen, bei Suhrkamp erschienenen Band weist Winkels Kirchhoffs Texte als analytisch nicht auflösbare »Rätsel« 65 aus, ja als »geistige Übungen« 66 für »Tüftler«,67 nobilitiert die Erzählungen mithin über die von ihm ausgemachten selbstreflexiven Anteile. Stehe Kirchhoffs literarisches Programm im Dienste einer komplexen »Textmanie oder Textonanie«,68 gehe es dem Autor nicht um ›Macho‹-Verfahren, die auf Körperlichkeit abzielten, sondern »um Sprache. Nichts sonst.« 69 Diese Sprachreflexion verliert sich indes keineswegs in leerlaufenden Selbstreferenzschleifen, sondern ist mit dem »Streben[ ] nach Kompensation eines realen Mangels« 70 gekoppelt, wie ihn programmatische Selbstkommentare Kirchhoffs seit dem dritten, essayistischen Teil des bereits Anfang der 1980er Jahre erschienenen literarisch-programmatischen Bandes Body-Buildung explizit betonen. Dort stellt Kirchhoff ein Korrespondenzverhältnis her zwischen dem Body-Builder, der den ›entwendeten Körper‹ als eigenen beanspruche, und dem literarischen Autor, der sich »dem Unbewußten der Sprache als selbstmächtiges Subjekt unterlegt«.71 Den Hinweis auf den »Eindruck, daß das, was ich für meinen Körper halte, von jeher entwendet war«,72 findet sich auch in den Legenden, verstehen die Poetikvorlesungen literarische Produktion doch als »Schreiben infolge körperlichen Mangels« (LK 24). Dieses »Gefühl eines Mangels an Sein« (LK 15) setzt Kirchhoff zufolge bereits in der Kindheit
63 Vgl. speziell für die literaturgeschichtliche Einordnung der Körper-Metaphorik bei Kirchhoff die kurzen Hinweise von Katrin Kohl: Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur. Berlin u. New York 2007, S. 325. 64 Hubert Winkels: Text-Manie. Bodo Kirchhoffs knifflige Prosa. In: Hubert Winkels: Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre. Köln 1988, S. 98–112, hier S. 106. 65 H. Winkels, Text-Manie, S. 106. 66 H. Winkels, Text-Manie, S. 106. 67 H. Winkels, Text-Manie, S. 106. 68 H. Winkels, Text-Manie, S. 105. 69 H. Winkels, Text-Manie, S. 105. 70 Dominik Schmitt: Kirchhoff, Bodo. In: Monika Schmitz-Emans u. a. (Hg.): Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe. Unter Mitarbeit von Kai Fischer u. a. Berlin u. New York 2009, S. 229– 230, hier S. 229. 71 H. Winkels, Text-Manie, S. 99. 72 Bodo Kirchhoff: Body-Building. Erzählung, Schauspiel, Essay. Frankfurt a. M. 1980, S. 145.
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ein, insofern ihm als Kind »eingeschrieben« (LK 20) worden sei, dass ›sein‹ Körper und ›seine‹ Sprache »von außen« (LK 20) kämen. Kirchhoff veranschaulicht diese Zusammenhänge anhand der Betrachtung eines Fotoalbums, das seine Eltern über ihn angelegt hätten. Dieses Kinderalbum, mit elterlichen Kommentaren versehen, enthielt Antworten auf die Frage, wer ich, in diesem dort immer wieder abgelichteten Körperchen steckend, denn nun eigentlich sei – ja, es wurde zu einem ›Spieglein, Spieglein an der Wand‹, das ich dann später fast zerstört hätte. (LK 42)
Neben dem hier konnotierten, im Märchen-Modus realisierten Narziss-Motiv, das Kirchhoff an anderer Stelle auch ausführlich zitiert (vgl. LK 102–103), verweist diese Szene auf einen nicht zuletzt vom Feuilleton wiederholt hervorgehobenen »theoretischen Hintergrund« 73 des Kirchhoffschen Programms: das Denken Jacques Lacans.74 Folgt man dem Aufsatz Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion des französischen Psychoanalytikers, stellt das Erkennen des eigenen Spiegelbildes beim sechs bis acht Monate alten Kleinkind gleichsam die ›Urszene‹ der Identitätsbildung dar. Das Bild im Spiegel vermittelt dem Kind demnach erstmals einen vorsprachlichen Eindruck von Ganzheitlichkeit, so dass dieses fortan sein Ich in einem Akt der Entfremdung und Verkennung nach dem Bild dieses im Spiegel erblickten Anderen formt. Insofern die damit aufscheinenden illusionären Bilder personaler Einheit jedoch nur als eine »vorge-›spiegelt[e]‹« 75 Identität zu haben sind, handelt es sich bei der Szene um ein imaginäres, durch Wunschprojektionen gekennzeichnetes Erkennen. Kirchhoff beschreibt diesen Zusammenhang in einem frühen programmatischen Essay, der unter dem Titel Ich denke da, wo ich nicht bin. Unter dem Eindruck von Jacques Lacan in der Zeit erschienen ist. Unter dem Eindruck seiner körperlichen Zerrissenheit, des verlorenen Totalversorgtseins, sieht sich das Kleinkind plötzlich als »Ganzes«. Entzückt identifiziert es sich mit dieser Illusion und errichtet damit eine totale Einbildung von sich selbst – es verdreht, was tatsächlich der Fall ist, nämlich seine Uneinheitlichkeit.76
73 Wend Kässens: Sprache, was sonst. In: Die Zeit vom 11. Oktober 1985. 74 Vgl. speziell zur Bedeutung von Lacan für die Legenden um den eigenen Körper die Hinweise bei Weber, S. 376–378. Gleichwohl betont Kirchhoff an anderer Stelle, dass die Bedeutung von Lacan für sein Programm »von einigen Kritikern sehr überbewertet« werde. B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 71. 75 Hans H. Hiebel: Strukturale Psychoanalyse und Literatur (Jacques Lacan). In: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. 3. Auflage. Göttingen 2005, S. 57–83, hier S. 59. 76 Bodo Kirchhoff: Ich denke da, wo ich nicht bin. Unter dem Eindruck von Jacques Lacan. Die Kastration ist (k)ein Märchen. In: Die Zeit vom 28. November 1980.
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Gestört und irritiert wird diese imaginäre Einheit schließlich durch die Sprache. Als Zeichensystem trennt diese konstitutiv Signifikanten und Signifikate, ja erzeugt prinzipiell unabschließbare Signifikantenketten, die die in Aussicht gestellten Signifikate, nicht zuletzt das eigene Ich, immer wieder im Modus des ›Begehrens‹ aufschieben. In der Sprache bin ich eingeschlossen, und mit der Sprache kann ich mich über die Existenzform scheinbar hinwegsetzen. Mit der Sprache kann ich andere überreden und werde dabei selber getäuscht – die Sprache unterredet mich; was ich auch weiß über die Sprache, ich kann sie damit nicht beherrschen.77
Kirchhoff nutzt diese psychoanalytisch-poststrukturalistisch gefärbten Annahmen dazu, um »den biografischen Bildungsprozess seiner eigenen Subjektivität als interaktiven Konstruktionsprozess zu rekonstruieren«.78 So sehr das Fotoalbum ein »getreues Alphabet« (LK 43) seines Körpers sei, so sehr habe Kirchhoff versucht, dieser »unabänderlichen Prägung« (LK 43) auf »gewissermaßen privat-terroristischem Weg zu entkommen« (LK 43). Erst ab 1979, dem Jahr des Erscheinens seines literarischen Debüts Ohne Eifer, ohne Zorn, habe er das Album schließlich, »mit den gewaltlosen Mitteln der Literatur, selbst als ein Stück Fiktion« (LK 43) betrachten können. Ich ging daran, die Fotos und [...] Kommentare buchstäblich umzuschreiben. Dieses Kinderkörperlein, das ich nach wie vor in mir spürte, schien und scheint mir, ebenso übrigens wie der eigene Name, den ich von Anfang an in den Mund nahm, als habe er einen fremden, faulen Geschmack, nur annehmbar, wenn ich selbst sein Erzeuger bin [...]. (LK 43–47)
Das ›Umschreiben‹ der Fotos erweist sich als eine erste ›Legende‹, eine sprachliche Form, der eine Identität prägende, ja diese erst konstituierende Funktion zukommt. Die ›Legende‹ ist das Mittel einer »kreative[n] Neuschöpfung« 79 von Kirchhoffs Identität, mithin Behelf, um mittels eines »Sprach- und Erzählgewebe[s]« (LK 47) eine ›orthopädische Wahrheit‹ platzieren zu können (vgl. LK 87). Die ›Legende‹ kombiniert demnach das ›Begehren‹ nach Identität mit den sprachlichen Signifikanten-Ketten auf eine Weise, bei der das ›Umschreiben‹ der Kindheitsfotos für Kirchhoff die Funktion eines selbsterzeugten Spiegels übernimmt. Die Arbeit an den Kinderfotos, die erst die Einheit der sich spiegelnden Person Kirchhoffs garantierten, findet schließlich in seinen literari-
77 B. Kirchhoff, Ich denke da, wo ich nicht bin. 78 A. Weber, S. 363. 79 D. Schmitt, S. 229.
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schen Texten ihre konsequente, als »ästhetische Leistung« 80 ausgewiesene Fortsetzung. Die Literatur erzeugt und komplettiert Kirchhoffs Identität in einem Akt der »Selbsttäuschung« (LK 47), was das fehlende Possessivpronomen (›um meinen Körper‹), das den Körper mit dem schreibenden Ich identifizieren könnte,81 im Titel der Vorlesungen markiert. So heißt es konkret zum Ansager: Die Wahrheit über die Erfahrung als Körper – sie wird von dem Ansager einer Stripteasenummer, der nicht aufgibt, ständig umkreist und wohl nie ganz erreicht; denn all sein Reden produziert gleichzeitig Wahrheit und Unwahrheit über seine Erfahrung als Körper, also immer auch eine Legende zum eigenen Körper, eine Legende, die sich noch in der Anstrengung, sie zu zerstören, fortsetzt. (LK 97–99)
Als gleichsam ›zweite Haut‹, als »Schutz« (LK 47) umhüllt Literatur als ›Legende‹ ihren Autor nicht nur gleichsam physisch. Sie wird durch die mit ihr verbundene Konstruktionsleistung als »Sprach- und Erzählgewebe« (LK 47) zu einem schützenden Fetisch, bei dem sich Imaginäres und Symbolisches überlagern. In diesem Sinne geht es Kirchhoff als Autor darum, seinem literarischen Publikum den eigenen Namen »vorschreiben« (LK 47) zu können, das heißt »wie sie es und wie sie ihn zu buchstabieren haben: wenn ich als Schriftsteller mich in die Welt setze« (LK 47).82 Bildet sich nach Lacan im Zuge des Begehrens nach dem letzten Signifikat ein ›psychologischer Mechanismus‹ aus, der dazu dient, »vor der Erinnerung an die traumatischen Ohnmachtserlebnisse der frühen Kindheit zu schützen«,83 ermöglicht es die auf Beobachtung zweiter Ordnung umgestellte Selbstreflexion Kirchhoff, »sich vom Phantasma imaginärer Identität zu lösen und die Erkenntnis der Inauthentizität symbolisch generierter Identität« 84 auzubilden. So sehr die »Sehnsucht nach absoluter, kognitiv nicht dezentrierbarer Identität« 85 in dieser Perspektive auch real ist, die Reflexion individueller Identität kann nach Kirchhoff nicht mehr unhintergehbar abgefangen werden. In diesem Sinne ist Kirchhoffs Bemerkung zu verstehen, den ›Legenden um den eigenen Körper‹ hafte ein »gewisser Selbstbetrug« (LK 47), eine Invisibilisierung des eigenen Beobachterstandpunktes an: »denn ich bin nun einmal nicht mein Erzeuger« (LK 47).
80 D. Schmitt, S. 229. 81 Vgl. K. Kohl, Poetologische Metaphern, S. 325. 82 Vgl. dazu auch Raliza Ivanova: Der Ausstieg aus der heterosexuellen Matrix – Ein neuer kultureller Mythos? In: Germanica. Jahrbuch für deutschlandkundliche Studien 7 (2000), S. 255–262, hier S. 255–256. 83 A. Weber, S. 377. 84 A. Weber, S. 378. 85 A. Weber, S. 378.
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Das Verderben der Literatur durch die Medien: Bodo Kirchhoff
Mit Bezug auf Kirchhoffs Texte lasse sich demgegenüber feststellen, wie Winkels’ nobilitierende Einschnitte bemüht sind zu zeigen, dass der unhintergehbare Aufschub als das Strukturmerkmal von Sprache schlechthin literarisch umgesetzt werde. Es eröffnet sich eine Iteration, eine Folge von ›Kniffen‹, bei der der Autor am Ende immer der Dumme gewesen sein wird, der das Nachsehen hat: lose Phantasien. Solches Nachsehen bringt mit sich, was wir als Geschichten lesen. Geschichten von Menschen, Räumen, Erotik. Vom Entschwinden der Objekte, vom Aufschub des Begehrens, von der Ferne der Frauen. Wenn man den Stoff vieler Erzählungen im Bild eines gestärkten, kühlen Bettlakens faßt, dann gleicht Kirchhoffs Erzähltechnik einem komplizierten Faltvorgang, Kniff über Kniff im Stoff des Begehrens, bis es, im besten Fall, zu einem Wort zusammengelegt ist.86
Winkels zufolge stellen die Texte Kirchhoffs die Unmöglichkeit, eine ganzheitliche, geschlossene Identitätsordnung zu errichten, geradezu aus. Nicht zuletzt deshalb eigneten sie sich demnach nicht zur Interpretation, sondern müssten als Kopplung von Sprachoperationen, ja als »[i]ntegrierte Kreisläufe« 87 gelesen werden. In dieser Perspektive, und das ist die Pointe des Literaturkritikers, sei weniger die Thematisierung sexuell-körperlichen Begehrens interessant; bemerkenswert sei vielmehr, dass Kirchhoffs Texte den damit konnotierten, nicht zu befriedigenden Mangel, den ›Aufschub des Begehrens‹, als »Strukturprinzip« 88 verwendeten und damit an Literarizität gewännen. Für die vorliegende Studie ist nun weniger die damit angesprochene Paradoxie zwischen der »Verführung« 89 zur »imaginäre[n] Gestalt der Ganzheit« 90 und der Einsicht in die Unmöglichkeit, diese ›Verführung‹ zu erfüllen, relevant. Diese Konstellation mag zwar als Katalysator des literarischen Schreibens Kirchhoffs gelten, ja der »Schriftsteller spürt sie, wie er (immerzu) schreibt, am ›eigenen‹ Leib«.91 Gleichwohl ist für den hier interessierenden Zusammenhang ein anderer Gesichtspunkt signifikant. Wenn Winkels’ Studie die Nobilitierung Kirchhoffs über die Zuschreibung von Selbstreflexion betreibt, kann der Bezug des Autors auf die Rahmenbedingungen literarischen Schreibens nur als Auseinandersetzung mit bedrohenden Strukturen gelesen werden, im besten Fall als ›Veranschaulichung‹ der »Schwierigkeiten, einen reflexiven Modus der Identi-
86 87 88 89 90 91
H. H. H. H. H. H.
Winkels, Winkels, Winkels, Winkels, Winkels, Winkels,
Text-Manie, Text-Manie, Text-Manie, Text-Manie, Text-Manie, Text-Manie,
S. 110. S. 99. S. 106. S. 99. S. 106. S. 99.
Literatur, Literaturbetrieb und Legenden um den eigenen Körper
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tätssteigerung in der literarischen Lebenspraxis durchzuhalten«.92 Dieser Argumentation ist die Frage nach Form und Funktion der Legenden entgegenzustellen, um so deutlich werden zu lassen, dass das ›Sich-zur-Wehr-Setzen‹ Kirchhoffs gegen die von ihm diagnostizierten Betriebsbedingungen in seinen Paradoxien programmatisch bedingt ist.
3.1.2 Verdorren in Talkshows Als Literatur- oder »Kulturbetrieb« (LK 112) versteht Kirchhoff die Erwartungsstrukturen eines »marktwirtschaftlich organisierten Literatursystems«.93 Die Rahmenbedingungen literarischen Schreibens sind demnach durch soziale Formen geprägt, die gemäß funktionaler Differenzierung auf eine ökonomische und eine massenmediale Systemreferenz zurückbezogen werden können. Tatsächlich thematisiert und kritisiert Kirchhoff die sozialstrukturelle Einbettung von Literatur und Autoren jedoch weniger als durch das »Interesse an Gewinnmaximierung« 94 bestimmt. In erster Linie interessiert er sich vielmehr für die »Auswüchse der Mediengesellschaft« 95 und die damit einhergehenden »personen-zentrierte[n] Marketingstrategien«.96 In den Blick geraten Kirchhoffs Programm sekundäre Formen literarischer Kommunikation mithin vor allem als durch die »Medienallmacht« (LK 106) geprägte Strukturzusammenhänge, konkret als Printmedien und Vorgaben des »Fernsehen[s]« (LK 106). Kirchhoffs Darstellung der massenmedialen Strukturzusammenhänge als Rahmenbedingungen von Literatur um 2000 steht dabei unter einem negativen Vorzeichen, beschreibt sie doch ein Bloßstellen des Autors, insofern dessen auktoriale Tätigkeit einer tiefgreifenden, den Erwartungen des Betriebs angepassten Modifikation unterzogen würde. Dass der sozialstrukturelle Rahmen drohe, das »Grab« 97 der Literatur zu werden – Kirchhoff verwendet in diesem Zusammenhang die Metapher des ›Verdorrens‹ (vgl. LK 112) –, beruht dem Autor zufolge zunächst auf drei Entwicklungen: Es sind dies Beschleunigung, Banalisierung
92 A. Weber, S. 383. 93 A. Weber, S. 383. 94 A. Weber, S. 383. 95 A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview]. 96 A. Weber, S. 383. Die gelegentlich von Kirchhoff auch ins Spiel gebrachte ökonomische Systemreferenz, etwa unter Hinweis auf die geringe Bezahlung von Schriftstellern, spielt im Überblick nur am Rande eine Rolle. 97 Bodo Kirchhoff: Das Schreiben: ein Sturz. In: Die Zeit vom 6. November 1992. Wiederabgedruckt in: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig 1994, S. 211–219. Hier und im Folgenden zitiert nach der Erstpublikation in der Zeit.
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und Formlosigkeit. Allen drei Formen ist dabei gemeinsam, dass sie sich als Effekt oder Folge von Medialisierung ergeben. In der Zeitdimension versteht Kirchhoff das Verhältnis von primären und sekundären Formen des Literatursystems als durch Prozesse der Beschleunigung bestimmt. Mit der Orientierung an massenmedialen Strukturvorgaben halte das »atemlos Schnellebige« (LK 92) Einzug in Literatur und Literaturbetrieb. Dies habe zur Folge, »daß es der Mediengesellschaft gelingt, dem Autor ihre kurzlebige Zeitvorstellung aufzuzwingen.« 98 Sowohl Autoren als auch deren Texte würden gleichsam »in die Nachrichten-Maschine hineingerissen und beschleunigt«.99 Als problematisch erwiesen sich diese Entwicklungen insbesondere deshalb, weil Literatur einerseits tatsächlich dazu diene, die Wahrnehmung des Lesers zu »verlangsam[en]«.100 Andererseits sieht Kirchhoff mit Blick auf die medialisierten Sozialstrukturen »die Kraft der Literatur bedroht, ihre eigene Zeit für den Leser herzustellen.« 101 In dieser Hinsicht meint ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb also Verlust an literarischer Eigenzeit. Mit der Charakterisierung sekundärer Formen als »Deutschland delirierender Medien« (LK 51) knüpft Kirchhoff – zweitens – an der Beobachtungsdirektive eines sich an funktionaler Differenzierung orientierenden Wertungs- als Zugänglichkeitsdiskurses an.102 Der in ihrer sozialen Zugänglichkeit durch bestimmte Erwartungsstrukturen und »gewisse[ ] Regeln« (LK 120) ›begrenzten‹ Literatur steht in dieser Perspektive das entdifferenzierte »Delirium des Banalen« (LK 92) gegenüber. Literatur ist in dieser Vorstellung auf einen relativ geschlossenen sozialen Bereich angelegt, der durch massenmediale Formen drohe, um seine ›Exklusivität‹ gebracht zu werden. Als ›Banalität‹ gilt Kirchhoff in diesem Zusammenhang folgerichtig »alles Alltägliche, Abgedroschene, Flache, Schale, Fade, Geistlose« (LK 51). Massenmediale Formen repräsentierten das »Nichtssagende, das allen etwas sagt und so den Sturz ins Unterschiedslose provoziert« (LK 106). Das ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb versteht Kirchhoff in diesem Sinne als Verlust an literarischer oder sozialer Exklusivität. Schließlich bringt Kirchhoff das literaturbetriebliche ›Verderben‹ der Literatur als Verlust an Form ins Spiel. Er bezeichnet die medialisierten Zusammenhänge einer Gesellschaft, »die die Zerstreuung vergöttert«,103 als durch ein
98 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 78. 99 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 78. 100 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 78. 101 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 78. 102 Vgl. dazu allgemein Julia Genz: Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch. München 2001, hier insbesondere S. 66–67. 103 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 77.
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»formlose[s] Nebeneinander« 104 bestimmt. Die »Zeit der Formlosigkeit« (LK 120) betrifft demnach insbesondere den Umgang mit Sprache. So stehe das »Holzschnitthafte der Medien« 105 den »Zwischentöne[n]« 106 entgegen, wie sie literarische Texte ermöglichten. Um die Differenz zwischen der literarischen und der »zerrütteten Sprache« (LK 143) der Massenmedien zu verdeutlichen, knüpft Kirchhoff dabei nicht zuletzt an der Vorstellung an, derzufolge »Aufzählungen [...] die wahren Antipoden zu Literatur und Poesie« 107 zu sein scheinen. Analog der Unterscheidung, die dem Erzählen das massenmediale Aufzählen gegenüberstellt, ist Literatur nach Kirchhoff »der Sprung vom Zählen, im Sinne des Aufzählens – wie es in sämtlichen Medien geschieht –, zum Erzählen« (LK 84). Die ubiquitäre und elementare Form der Aufzählung erweist sich als »das ›Andere‹ zur Rede, zum Text, zum literarischen Werk.« 108 Literatur sei, so Kirchhoff, ein Sprung von der Gewalt, die allem Numerischen, keinerlei Spielraum Zulassenden innewohnt [...], zur Gewaltlosigkeit; und im Vergleich der Medien ist die Literatur ja auch am gewaltlosesten: nur bei ihr hat das Publikum für Bild und Ton selbst die Verantwortung [...]. (LK 85)
Der in diesem Abschnitt aus den Poetikvorlesungen benannte Aspekt der ›Gewaltlosigkeit‹ literarischer Sprache referiert auf die »Unterscheidung zwischen dem Erwähnen eines Worts und seinem Gebrauch« (LK 84). Literarische Sprache ist demnach auf »die Erzählweise, den Ton« (LK 84) verwiesen, so dass ein bestimmtes »Kraftwort« (LK 84), durchaus ein »brauchbare[s] Werkzeug[ ] des Erzählens« (LK 81) sein könne, indes nicht nur ›einfach hingeschrieben‹, ja aufgezählt werden dürfe (vgl. LK 85). Literatur sei demgegenüber »Rettung einer in Not geratenen oder schon zerrütteten Sprache« (LK 143). In der Sachdimension bedeutet ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb nach Kirchhoff mithin Verlust an Form.
104 B. Kirchhoff, Das Schreiben: ein Sturz. 105 A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview]. 106 A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview]. 107 Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 22) Berlin u. New York 2003, S. 1. »Beide sind wohlunterschiedene Tätigkeiten, doch beide stehen in der ganzen narrativen Tradition in vielfältiger Wechselbeziehung. Die meisten epischen Werke – der Roman in all seinen Möglichkeiten eingeschlossen – enthalten Listen verschiedener Art, könnte man konstatieren und sich nur noch fragen, wie sie im einzelnen gestaltet sind und welche Funktion sie erfüllen. Die Bewertung beider unter ästhetischen Gesichtspunkten aber klafft auseinander«, S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 235. 108 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 12.
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Im Zentrum der Kirchhoffschen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von primären und sekundären literarischen Formen der Jahrtausendwende steht die Differenz von Literatur und Literaturkritik. So wie im Fernsehen die Sprache »de[s] Geschwätzmeister[s] oder d[er] Geschwätzmeisterin« 109 dominiere, so setze sich im Feuilleton ein »Rezensionsgeplaudere« (LK 106) durch. Als in literarischen Hinsichten problematisch erweist sich die so ausgerichtete Literaturkritik nach Kirchhoff in zwei Hinsichten. Erstens sei Literaturkritik »unter dem Einfluss des Fernsehens zur reinen Selbstinszenierung mutiert[ ]«.110 Die Kritiker pflegten eine spezifische Form von Selbstreferenz, die ihre ›eigentliche‹ Funktion, die kritische Besprechung literarischer Texte, aus dem Blick verloren habe. »Diese Kritiker wollen ihren Lesern letztlich nicht dienen, ihre Rezensionen sind Mitteilungen an Kollegen. Sie verachten mitunter das Publikum.« 111 Zweitens koppelt Kirchhoff diesen Selbstbezug der Literaturkritik mit der Unterstellung, den Literaturkritikern gehe es als Literaturbetriebsakteuren letztlich nur darum, die besprochenen Autoren als Personen bloßzustellen. Den Kritikern sei demzufolge oftmals nur daran gelegen, »herabsetzende Informationen über die Person des Autors mit der eigentlichen Buchkritik« 112 zu vermischen, ja den Autor zum massenmedialen Abschuss freizugeben: »Ich empfinde solche Artikel als eine neue Form der Kopfgeldjägerei.« 113 Das von Kirchhoff programmatisch forcierte »Ineinandergreifen[ ] von Lebensgeschichte und dem Entstehen meiner Bücher« (LK 41) münde hier in einer Form von Literaturvermittlung, die sich in weiten Teilen für die »Lebenssituation des Autors« 114 interessiere und den besprochenen Bücher »nur eine geringe Rolle« 115 zukommen lasse. Schriftsteller, denke ich, setzen ihr ganzes Vermögen daran, dieses Körperchen in sich, das, als Gegenstand von Kritik, jederzeit der Hebel wäre, den Verriß, wortwörtlich, zu vollenden, mit einem Sprach- und Erzählgewebe zu verkleiden, dessen Schutz sogar wirksam bleibt, wenn es auf den Mangel verweist.« (LK 47)
So sehr Kirchhoff mit dieser ins Detail gehenden Betriebsschelte bekannte Partikel der Rede vom ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb aufgreift und
109 A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview]. 110 D. Schmitt, S. 229. 111 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 73. 112 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 74. 113 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 74. Konsequent plädiert Kirchhoff denn auch dafür, nicht von Kritikern zu sprechen, sondern von Rezensenten (vgl. LK 117). 114 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 76. 115 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 76.
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reformuliert,116 so sehr macht seine literaturprogrammatische Basis deutlich, wozu und wie er sich zu Betriebsfragen so eindringlich zu Wort meldet und nicht »nicht länger bereit [ist; DCA], das stumm hinzunehmen« (LK 126). Ein erstes Indiz dafür, dass seine programmatische Ausrichtung die Literaturbetriebskritik geradezu einfordert, ist der Umstand, dass Kirchhoff zur Beschreibung des aus seiner Sicht problematischen Verhältnisses zwischen primären und sekundären literarischen Formen dezidiert auf den Begriffsapparat seines literarischen Programms zurückgreift. Insofern die Literaturkritik darauf abziele, »das zu machen, was die Peepshow macht: in möglichst kurzer Zeit die vollständige Nacktheit herzustellen«,117 läuft sie nämlich gleichsam kategorial der Funktion von Literatur entgegen, wie sie Kirchhoff versteht. So wie die Kritik das »Körperchen« (LK 47) des Autors dazu verwende, um »den Verriß, wortwörtlich, zu vollenden« (LK 47), so setzten die Massenmedien insgesamt alles daran, das ›Legendenbilden‹ der Autoren zu ›zerstören‹. Insbesondere Talkshow-Formate sind es nach Kirchhoff, in denen der einzelne Schriftsteller im Modus einer massenmedialen Entblößung gleichsam »verliert, was ihn sonst bemerkenswert macht«:118 »Man sieht alles, aber es ist vollkommen uninteressant.« 119 Sich selbst als Talkshow-Gast imaginierend veranschaulicht Kirchhoff die »Gegnerschaft zwischen dem, der die Legenden um den eigenen Körper zu bilden versucht, und dem, der letztlich nur jemanden, kläglich wie er selbst, enttarnen möchte« (LK 49). So heißt es in einer Passage: Respekt erheischend und Respekt zollend, gäbe ich diese Figur ab; und wäre auch nicht mehr als dies: ein Signifikat; ich wäre, im Sinne Jacques Lacans, meines Signifikanten beraubt und damit nur noch erstaunlich (eine Sensation wie der Hungerkünstler), aber nicht mehr begehrenswert; denn das Begehren zielt ja, nach Lacan, immer auf etwas anderes, das seinerseits nie mit sich selbst als Objekt gleich sein kann – was doch jeder Talk-Show-Gast der Zuschauermasse einzureden versucht; es ist eben nicht allein auf den anderen gerichtetes Begehren – dann wäre ja das Fernsehen vergleichsweise harmlos –, sondern ›Begehren des Begehrens des anderen‹, wie Lacan sagt. Und diese Chance bleibt, in der Regel, nur dem Geschwätzmeister selbst: sein Begehren wird vom Publikum begehrt, und genau damit hat er jenen Einfluß auf das öffentliche Meinen und Denken, den Schriftsteller vor zwei Jahrzehnten noch hatten. (LK 114)
116 Das Kapitel Schreiben und Narzissmus erscheint auch in der Neuen Rundschau, mithin in eben jenem Organ, in dem auch die Debatte um den ›Zustand‹ der deutschsprachigen Literatur geführt wird. Vgl. Bodo Kirchhoff: Schreiben und Narzißmus. Was dem Schriftsteller seine Legende raubt – oder: Das Medienzeitalter ist wie für Rezensenten gemacht. In: Neue Rundschau 106 (1995), Nr. 2, S. 51–68. 117 A. Dürr u. W. Höbel [Kirchhoff-Interview]. 118 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 70. 119 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 70.
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Mit der Bemerkung, massenmediale Auftritte würden Kirchhoff »auf genau den Körper zurückwerfen, von dem mich meine Arbeit, das Legendenbilden um den eigenen Körper, ja entlastet« (LK 114), findet die Komplementarität von Literatur und Massenmedien schließlich ihre programmatische Kurzformel. Die im letzten Satz der zitierten Passage angedeutete narzisstische Kränkung würde bei vielen Autoren dazu führen, sich gezielt in die Medienkonkurrenz zu begeben, um die verlorene Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Um den Verlust an Relevanz zu kompensieren, griffen Autoren mehr und mehr selbst »zur Droge Öffentlichkeit« (LK 112), ohne die damit einhergehenden ›Gefahren‹ zu sehen. Ohnehin darauf angewiesen, »Tag für Tag etwas zu re-präsentieren, nämlich das Leben als Literat« (LK 120), mithin den Schriftsteller zu »spielen« (LK 120), seien die Autoren mit literaturbetrieblichen Rahmenbedingungen konfrontiert, in denen die »Schere zwischen Können und Einflußlosigkeit« (LK 111) immer weiter aufgehe, ja das eigene Können durch »Simulation« (LK 112) ersetzt werde. Sich diesem medialen Spiel auszusetzen, um wieder an Relevanz und Beachtung zu gewinnen, sei aber nur eine »scheinbare[ ] Versöhnung mit sich selbst« (LK 112), tatsächlich erweise sich die aufgezwungene Selbstinszenierung nämlich als eine »immer wiederkehrende große Kränkung« (LK 111). »Ungeschützter, ungelenker als jedes Schlagersternchen, das abends in seinen Glitzerfrack schlüpft und niemals vor dem Tusch die Bühne betritt, setzen wir zeitgenössischen Autoren uns in Szene« (LK 120). Die medialen Rollen seien ›aufgeblasen‹ (vgl. LK 113) und die Folge schließlich eine ›Körperlosigkeit‹ (vgl. LK 113) der Beteiligten. Insofern sich Kirchhoffs literarisches Programm als »exhibitionistische Darstellung seiner eigenen Autobiografie« 120 verstehen lässt, ordnet sich der Autor mit der Form seiner Legenden um den eigenen Körper in die Reihe von Frankfurter Poetikvorlesungen ein, wie sie nach der Wiederaufnahme der Poetdozentur 1979 vor allem »persönliche[ ] Schreib- und Entwicklungsproze[sse]« 121 entwickeln. Darüber hinaus stellen Kirchhoffs Vorlesungen aber auch selbst gleichsam performativ das her, was sie thematisieren, bemerkt der Autor doch in der ersten Vorlesung: Das so auszusprechen ist eine Kränkung; aber diese Vorlesung ist unter anderem der Versuch, über tiefe, in das körperliche Sein, das unser frühestes Sein ist, zurückreichende Kränkungen zu reden [...]. (LK 49)
120 D. Schmitt, S. 229. 121 U. Volk, S. 63. Volk weiß diese Entwicklung kritisch zu kommentieren, wenn er bedauert, »daß in manchen Fällen eine Verständigung über die Poetik eines Autors in die egoistische Selbstinszenierung des Vortragenden ausartet«, U. Volk, S. 261.
Literatur, Literaturbetrieb und Legenden um den eigenen Körper
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Mit dieser Bemerkung bemüht sich Kirchhoff um die Explikation seines Anspruchs, das von ihm programmatisch entfaltete »prozesslogische[ ] Denken radikal gegen das eigene Selbst« 122 zu richten und die Legenden um den eigenen Körper aus ihrem Status als »meta-literarische Gebrauchsgattung« 123 zu heben. Gleichwohl ist das Verhältnis zwischen primären und sekundären Formen in Kirchhoffs Programm paradox angelegt. Bereits die Analogisierung des ›Schmerzes‹, den das Schreiben verursache, mit dem ›Schmerz‹, der durch die Erfahrung entstehe, »dass Literatur keinen gesellschaftlichen Wert mehr hat«,124 deutet insofern in diese Richtung, als die Frage der Schmerzursache durchaus uneindeutig zu diagnostizieren ist. Daneben ist es erstens die Rolle der Literaturkritik, die Kirchhoff geradezu paradox bestimmt. Zerstöre diese die ›Legenden‹ der Autoren auch einerseits, ist sie jedoch andererseits gleichzeitig ein wesentliches Element des sprachlichen Gewebes, das der Autor entwirft. So heißt es bei Kirchhoff, die Literaturkritik steige »in meine Legenden um den eigenen Körper mitein[ ]« (LK 47). Zum einen ist sie eine Verlängerung der ›Legenden um den eigenen Körper‹; sie schreibt also gleichsam an den ›Legenden‹ mit. Zum anderen ›zerstört‹ die Literaturkritik die selbst erschaffene Identität des Schriftstellers mit ihren Verrissen. Zweitens betrifft die programmatische Paradoxie des Umgangs mit primären und sekundären Formen den angesprochenen Narzissmus des Autors (vgl. LK 102–103). Sei der Narzissmus bei ihm »immer blinder Passagier« (LK 99), setze sich Kirchhoff trotz der »eisige[n] Gegnerschaft zu den hurtigen Fernsehhöflingen, zur Idolatrie« (LK 112), den Massenmedien aus: »obwohl ich das Fernsehen nicht ausstehen kann, schmeichelt es mir« (LK 113). Doch nicht nur ist es das Fernsehen, das Kirchhoff »zur Verbreitung meiner Gedanken« (LK 113) nutzt; die Paradoxie ist programmatisch im Begriff der ›Legende‹ festgelegt: Das Paradoxe ist [...], daß dies [literarisches Schreiben; DCA] um so besser gelingt, je mehr die eigene Arbeit Beachtung findet, also respektiert wird, und zugleich auch um so mehr mißlingt. Das Schreiben macht mich einerseits unsichtbar, legte mit jedem Buch einen neuen Verband um jenen Körper in mir, zu dem ich kein Zutrauen hatte, zog aber andererseits auch den Körper des Autors ans Licht, ein Licht, das ich wollte und nicht wollte, für Schriftsteller gar nichts Ungewöhnliches [...]. (LK 48)
122 A. Weber, S. 371. 123 Johanna Bohley: Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung als »Form für Nichts«. In: Julia Schöll u. Johanna Bohley (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg 2012, S. 227–242, hier S. 230. 124 B. Kirchhoff, Doktor Perlenhändler, S. 142.
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Das Verderben der Literatur durch die Medien: Bodo Kirchhoff
Und so stellt sich – drittens – die Frage, wie die Funktionsweise der ›Legenden um den eigenen Körper‹ eigentlich zu denken ist. Folgt man Kirchhoff, »verschleier[t]« (LK 41) die Legende zum einen den Körper. Zum anderen erweist sie sich aber auch und gerade als Mittel der »Selbstentblößung«.125 So bestehe eine Schwierigkeit seines literarischen Schreibens gerade darin, »letztlich den eigenen Körper, weitgehend, verhüllt zu lassen« (LK 108). An einer anderen Stelle der Postikvorlesung schreibt Kirchhoff: Der Autor, die Autorin, sie können nicht zeigen, was sie eigentlich zeigen möchten, sich selbst, ihre Nacktheit; sie wissen oder spüren, daß diese Nacktheit unannehmbar ist, geben aber die Hoffnung nicht auf, daß wenigstens eine Legende darum auf Verstehen trifft. Die Rede ist hier nicht von der Nacktheit an der Kiesgrube, die Rede ist von namenlosen, aus einem Mangel an körperlichem Sein herrührenden Schmerz, Teil jener Wahrheit, die nur als ›orthopädische‹ nahegebracht werden kann [...]. (LK 97)
Hier ist es nicht die Talkshow als ›verdorbenes‹ literaturmedialisierendes Format, die die ›Nacktheit‹ des Autors erzeugt, sondern ganz offensichtlich die Legende selbst, die für die Entblößung sorgt. Kirchhoff entparadoxiert dies denn auch dadurch, dass er zwischen verschiedenen Formen der ›Nacktheit‹ unterscheidet (›Kiesgrube‹, ›Mangel an körperlichem Sein‹). Doch hinzu kommt, dass der Körper, gleichwohl er sich »zur Basis aller Versuche, sich selbst auszudrücken«,126 entwickelt, überhaupt nur über Legendenbildung greifbar ist und letzteres dem »sich schutzlos Machen« (LK 121) diene. Ausgehend von diesem paradoxen Effekt des ›Legendenbildens um den eigenen Körper‹ entwirft Kirchhoff eine durchaus ambivalente Funktion von Literatur, verstanden als Literatur in Betriebszusammenhängen, insgesamt. Setze er sein literarisches Talent »in einem Akt der narzisstischen Hybris« 127 der Kritik aus, sei der Autor mit seiner Vorstellung vom literarischen Schreiben bereits strukturell bedingt »zum Außenseitertum verdammt«.128 Andererseits sind die »Medien und deren Allgegenwart« (LK 106) aber auch gleichsam die Bedingung der Möglichkeit von Kirchhoffs literarischer Tätigkeit schlechthin. Mit der Konfrontation des unhintergehbaren, ja mitunter schicksalshaften ›Versinkens‹ im »Medienschlick« (LK 118) und dem ›Weitermachen‹ im »Zeichen der Banalität« (LK 116) findet Kirchhoffs Programm seinen Katalysator. Die »Gegenwartsentschlüsselung« 129 als Movens der Literatur ist nach dieser Logik
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D. Schmitt, S. 229. C. Foucart, S. 667. D. Schmitt, S. 229. B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 77. B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 69.
Kippfiguren: Schundromane zwischen Literatur und Betrieb
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nur »im Schatten der Banalität« 130 überhaupt möglich, ja der Autor müsse sich dem »Licht der Banalität aussetzen«, um einen ›Break zu schaffen‹ (vgl. LK 111). Das ›Versinken im massenmedialen Sumpf‹ wird zum aktiven Gang in die »Wüste des Banalen«,131 um literarische »Zeitgenossenschaft« (LK 111) zu realisieren, denn nur »in« (LK 51) ihrer sozialstrukturellen Einbettung, »oder davon angestoßen, ergibt sich [...] deutschsprachige Gegenwartsliteratur« (LK 51). Kirchhoff bemühe sich dabei darum, die »Balance« 132 zwischen seinem literarischen Schreiben und dessen sozialstruktureller Einbettung, zwischen Literatur und der ›Banalität der Medien‹ zu halten, ja nutzt letztere gleichsam dazu, für sein Programm ein »Gegengewicht [zu; DCA] schaffen«.133 Die Folgen dieses unbestimmten Vorhabens lassen sich auch und gerade an Kirchhoffs eigenen Texten ablesen.
3.2 Kippfiguren: Schundromane zwischen Literatur und Betrieb In Kapitel 45 von Bodo Kirchhoffs 2002 erschienenem Schundroman ist ein intertextueller Verweis eingebaut, der maßgeblich für die »Feedbackeffekte« 134 verantwortlich ist, die der Roman im Feuilleton auslöst. Man sprach jetzt von bestelltem Mord und suchte den Auftraggeber in Autorenkreisen mit Kontakt nach Polen etc., also eher unter älteren Schriftstellern, von Freytag gedemütigt wie auch in den Himmel und höchste Steuerklassen gehoben, Kreisen, in denen angeblich ein Manuskript zirkulierte, Tod eines Kritikers, vermutlich Krimi mit Ambition, ARD-verdächtig. Es gebe schon erste Verhöre, hieß es, Namen wie Kristlein und Mahlke fielen – Pech für euch, dachte Hold und sah dann auch schon die Frau, mit der er verabredet war.135
So gut wie keine Besprechung versäumt es, einen Zusammenhang zwischen Kirchhoffs Schundroman und Martin Walsers Tod eines Kritikers herzustellen. Die Plausibilität dieses Zusammenhangs gründet im Wesentlichen auf zwei As-
130 B. Kirchhoff, Das Schreiben: ein Sturz. 131 B. Kirchhoff, Das Schreiben: ein Sturz. 132 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 71. 133 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 71. 134 Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003, S. 201. 135 Bodo Kirchhoff: Schundroman. Frankfurt a. M. 2002. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle SR in runden Klammern im Text, hier S. 218.
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Das Verderben der Literatur durch die Medien: Bodo Kirchhoff
pekten.136 Zum einen betrifft sie mit Blick auf den Text den literarischen Kritikermord: Wie auch Walser arbeitet Kirchhoff mit der für Schlüsselliteratur typischen »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung«.137 In der zitierten Stelle finden diese leserlenkenden Strategien ihren Kristallisationspunkt. Die feuilletonistische »Bereitschaft zum doppelten Verständnis« 138 konzentriert sich insbesondere auf den Tod des Großkritikers Louis Freytag, »in dem das Publikum trotz allem fiktionalen Rankenwerk sofort den leibhaftigen und gottseidank lebendigen Marcel Reich-Ranicki erkennt«,139 und die »Spekulationen über die Identität des Kritiker-Mörders«,140 die auf Martin Walser zurückgerechnet werden. Zum anderen legt der Veröffentlichungstermin den Vergleich der beiden Romane nahe. Die Frankfurter Verlagsanstalt zieht das Erscheinen von Kirchhoffs Roman nämlich von Herbst auf Sommer vor,141 so dass der Schundroman nahezu zeitgleich mit Walsers ebenfalls vorgezogenem Tod eines Kritikers in den Buch-Filialen erhältlich ist. Als Grund für diese Entscheidung bestimmt das Feuilleton zwar grundsätzlich die Umstände des Skandals um Walser. Über die konkrete Motivation für das Vorziehen der Veröffentlichung werden indes durchaus unterschiedliche Mutmaßungen angestellt. So weist die Literaturkritik auf der einen Seite darauf hin, dass die WalserDebatte den »wohlkalkulierten Zeitplan« 142 nicht nur der Frankfurter Verlagsanstalt, sondern auch des Autors »durcheinander gebracht« 143 habe. In dieser Perspektive ist der Schundroman im Hinblick auf die Frankfurter Buchmesse
136 Vgl. Hans-Jörg Knobloch: Literarischer Kritikermord im Doppelpack: Martin Walsers Tod eines Kritikers und Bodo Kirchhoffs Schundroman. In: Hans-Jörg Knobloch: Endzeitvisionen. Studien zur Literatur seit dem Beginn der Moderne. Würzburg 2008, S. 213–224, hier S. 224. 137 Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. (Studien zur deutschen Literatur 170) Tübingen 2004, S. 7. 138 G. M. Rösch, S. 7. 139 Peter von Becker: o. T. In: Der Tagesspiegel vom 27. Juni 2002. 140 Roman Bucheli: Trash als Kunstform. In: Neue Zürcher Zeitung vom 18. Juli 2002. 141 Der Erscheinungstermin des Schundromans wird zunächst auf den 8. Juli und schließlich auf den 26. Juni 2002 vorgezogen. Siehe Eckhard Fuhr: Vergesst den Walser Skandal. In: Die Welt vom 26. Juni 2002. »Der Tod eines Kritikers erschien am 26. Juni 2002, der Schundroman am 8. Juli – auf Bestellung war er [...] bereits Ende Juni erhältlich –, aber gewiß wird sich Kirchhoff die E-mail-Fassung des Walser-Romans schon vorher besorgt haben, und überdies erschien sein eigener Roman in der Frankfurter Verlagsanstalt des Unseld-Sohnes Joachim, der trotz des Bruchs mit dem Vater noch über enge Beziehungen zum Suhrkamp Verlag verfügte und daher über Walsers Roman zweifellos gut informiert war«, H.-J. Knobloch, S. 221. 142 Claudia Schülke: Vom Ostend nach Sachsenhausen und zurück. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. August 2002. 143 C. Schülke.
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»knallhart kalkuliert« 144 gewesen und hätte in deren Rahmen selbst für Aufmerksamkeit sorgen sollen. Die Änderung des Auslieferungstermins solle nun dem Eindruck der »Trittbrettfahrerei« 145 entgegentreten, der sich mit dem eigentlich geplanten, späteren Erscheinungstermin im Herbst eingestellt hätte. Gegenüber steht dieser Auffassung die Annahme, gerade die schnelle Reaktion der Frankfurter Verlagsanstalt auf den Walser-Skandal lasse sich mit den im Hintergrund stehenden »kaufmännische[n] Gesichtspunkte[n]« 146 erklären. Der Verlag habe demnach das mehr oder weniger unverhoffte Zeitfenster der günstigen Aufmerksamkeitsverteilung im Literaturbetrieb nutzen wollen, um das Verkaufspotential von Kirchhoffs Roman gezielt steigern zu können. Und so habe die Branche denn auch dankbar reagiert: »Amazon bot die beiden Romane im Doppelpack zum Vorzugspreis an, und auch viele Buchhandlungen vermarkteten sie als literarische Zwillinge.« 147 Die Frage, welcher Vermarktungsstrategien sich Verlag und Autor mit Blick auf die Debatte um Tod eines Kritikers148 bedienen, soll hier nicht geklärt werden. Auch geht es nicht darum, ob und in welchen Hinsichten der Verkauf des Schundromans von den »Medien-Effekte[n]« 149 »profitiert« 150 hat, die dem »erfahrene[n] Medienschlachtross« 151 Walser und dem Suhrkamp-Verlag zugeschrieben werden. Das würde von der zitierten Stelle aus dem Schundroman
144 Helmut Böttiger: Eine Riesenbohrmaschine. In: Der Tagesspiegel vom 14. Juli 2002. 145 Steffen Martus: Schreiben als Verbrechen. In: Berliner Zeitung vom 8. Juli 2002. 146 E. Fuhr. 147 H.-J. Knobloch, S. 213. »Zeitgleich und aus dem Stand eroberten die Romane von Walser und Kirchhoff die »Spiegel«-Bestsellerliste: Am 28. Juni schon, die Bücher waren kaum auf dem Markt, stieg der »Tod eines Kritikers« ganz oben ein (und hielt sich vier Wochen lang an der Spitze), der »Schundroman« kam immerhin auf Platz 12 (und rückte, Mitte Juli, einmal bis auf Platz 9 vor) – eine Auflage von mehreren hunderttausend Exemplaren erreichte am Ende aber nur Walser.« Volker Hage: Letzte Tänze, erste Schritte. Deutsche Literatur der Gegenwart. München 2007, S. 51. 148 Siehe zum Skandal um Walsers Tod eines Kritikers Dieter Borchmeyer u. Helmuth Kiesel (Hg.): Der Ernstfall. Martin Walsers Tod eines Kritikers. Hamburg 2003; Matthias N. Lorenz: ›Auschwitz drängt uns auf einen Fleck‹. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Mit einem Vorwort von Wolfgang Benz. Stuttgart u. Weimar 2005, S. 80–112. 149 Michael Braun: Zur Rezeption von Martin Walsers Roman ›Tod eines Kritikers‹. In: Volker Wehdeking u. Anne-Marie Corbin (Hg.): Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europäischen Kontext. Interpretationen, Intertextualität, Rezeption. Trier 2003, S. 107–117, hier S. 107. 150 Ijoma Mangold: Wenn es zu groß wird, tut es weh. In: Süddeutsche Zeitung vom 6./7. Juli 2002. 151 Rainer Moritz: Wer treibt die Sau durchs Dorf? Literaturskandale als Marketinginstrument. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Mit drei Abbildungen. Göttingen 2007, S. 54–62, hier S. 59.
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wegführen.152 Zu kommentieren ist indes durchaus das mit der Kopplung an Walsers Roman verbundene Verhältnis, in das die literaturkritische Rezeption den Kritiker-Tod auf der histoire zu den paratextuellen Praktiken Kirchhoffs setzt. Die Vermutung, das Vorziehen des Erscheinungstermins sei nur allzu offensichtlich Ausdruck literaturbetrieblich ›verdorbener‹ Marketinginteressen, verknüpft das Feuilleton mit zwei Gesichtspunkten. Zunächst fällt auf, dass die Besprechungen immer wieder die Relevanz des Todes von Kritiker Louis Freytag (vgl. SR 34–35) für den Erzählverlauf thematisieren. Als Konsens erweist sich dabei, dass, betrachte man die Handlung im Überblick, dem mutmaßlichen »Rachemord an Louis Freytag« (SR 78) für den Schundroman insgesamt kein großer Stellenwert zukomme. Der Tod des Kritikers auf dem Flughafen ist nicht die Schlüsselszene des Romans und die Spekulationen über Täter aus der Literaturszene sind schnell ins Leere laufende Nebenstränge einer verwickelten, kunstvoll geflochtenen Erzählung [...].153
Was Eckhard Fuhr in seinem Beitrag für die Welt feststellt, gilt für nahezu jede Besprechung von Kirchhoffs Roman: Folgt man diesen, ist der Tod des »Bücherpapst[es]« (SR 78) und die sich anschließende Fahndung nach dem »gekränkte[n] Autor beim Amoklauf« (SR 65) im Schundroman im Unterschied zur narrativen Anlage von Walsers Roman lediglich ein »dekorativ-arabeskenhaftes Nebenmotiv« 154 oder ein »Nebenschauplatz«,155 der »keinerlei Belang für den Fortgang des erzählten Geschehens« 156 habe. Außer Frage steht demnach, dass der vermeintliche »Racheakt an Deutschlands berühmtesten Kritiker« (SR 43) für die Narration von untergeordneter Bedeutung sei, mithin auch durch funktionale Äquivalente wie den Tod einer anderen Figur oder eines Vertreters einer beliebigen anderen Berufsgruppe ersetzt 157 und im Prinzip sogar vollständig gestrichen werden könnte. Für die Beurteilung des Buches spielt der Totschlag mithin »überhaupt keine Rolle«.158 152 Es geht der vorliegenden Studie in diesem dann doch entscheidenden Sinne gerade nicht um die Frage, ›wer wie Skandale macht‹. Vgl. Stefan Neuhaus: Wie man Skandale macht. Akteure, Profiteure und Verlierer im Literaturbetrieb. In: Matthias Freise u. Claudia Stockinger (Hg.): Wertung und Kanon. (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 44) Heidelberg 2010, S. 29–41, hier S. 35–36. 153 E. Fuhr. 154 I. Mangold, Wenn es zu groß wird, tut es weh. 155 S. Martus, Schreiben als Verbrechen. 156 Andreas Platthaus: Hätte er die Liebe nicht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Juni 2002. 157 So etwa Andreas Platthaus in seiner Besprechung. 158 Michael Klein: Über den Zustand der gegenwärtigen Literaturkritik. Aus Anlass der Debatte um Martin Walsers Tod eines Kritikers und Bodo Kirchhoffs Schundroman. In: Informationen zur Deutschdidaktik 27 (2003), Nr. 1, S. 7–18, hier S. 10.
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Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Literaturkritik trotz dieser unterstellten narrativen Irrelevanz des Kritikertodes, der auch im Text selbst als »absurd« (SR 105) bezeichnet wird, dennoch durchgehend mit dem Tod des Kritikers, nicht zuletzt mit der zitierten Passage und deren Implikationen auseinandersetzt. Plausibel wird dies nur durch die Kopplung des Befundes mit der Ebene der Autorenpraktiken. Das Bemerkenswerte der Beziehung zwischen Walsers Roman-Projekt und Kirchhoffs Schundroman stellt sich nämlich nicht zuletzt in der angenommenen zeitlichen Parallelität der Schreibprozesse ein. »Schundroman« und Martin Walsers »Tod eines Kritikers« sind gleichzeitig erschienen; beide wussten seit längerem vom Buch des anderen. Doch wie viel wussten sie? Hat Kirchhoff die Passage in allerletzter Minute noch eingefügt, als er sicher sein konnte, dass Walsers Buch mit seinem erscheinen würde?159
Roman Bucheli versteht Walsers Roman-Projekt und die diesem nachfolgende Debatte als auslösende Momente des mehr oder weniger kurzfristigen Einfügens der zitierten intertextuellen ›Passage‹ in den Schundroman. Seine fragenden Vermutungen, die explizit auf die Ebene der literarischen Tätigkeiten und deren betriebliche Begleitumstände abzielen, sind an dieser Stelle deshalb aufschlussreich, weil sie erkennen lassen, wozu dem Feuilleton die Befunde zur Stellung des Kritikertodes auf der histoire so interessant sind: Unterstellt wird nämlich, dass es Kirchhoff mit der Anspielung auf Tod eines Kritikers und die Kontroverse um Walser und »Großkritiker« 160 Reich-Ranicki vor allem darum gehe, die kommunikative Anschlussfähigkeit seines Romans im Literaturbetrieb sicherzustellen. Insofern zur Sichtbarkeit eines Textes im Literaturbetrieb grundsätzlich Paratexte notwendig sind,161 könnte man von einer ›paratextuellen Funktionalisierung‹ der sich in der zitierten Stelle kristallisierenden Anspielungen sprechen. Ihre narrative Irrelevanz, ihr ›Nicht-Passen‹, ergibt sich demnach nicht zuletzt aus dem literaturprogrammatisch unmotivierten Einbau ›in allerletzter Minute‹, der lediglich im Zeichen eines »kuriose[n] PR-Coups« 162 stehe. Die geringe narrative Bedeutung des Todes von Louis Freytag für die histoire des Schundromans lässt sich vor diesem Hintergrund gerade mit dessen paratextueller Relevanz für die Erzeugung eines kommunikativen Anknüpfungspunktes in der Literaturvermittlung erklären – und in Verbindung mit
159 R. Bucheli. 160 Gregor Dotzauer: Literaturkritik. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 231–235, hier S. 232. 161 Vgl. allgemein G. Stanitzek, Texte, Paratexte, in Medien, S. 11–12. 162 H.-J. Knobloch, S. 221.
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dem Vorziehen des Erscheinungstermins aus Anlass der Walser-Debatte entsprechend kritisieren: »Bemerkenswert, dass Kirchhoff sich zunächst einmal den Gesetzen des mafiösen Betriebes beugt, dem er es doch eigentlich so richtig zeigen wollte«.163 Die im Modus des ›Prinzips Schlüssel‹ platzierte, literarisch-narrativ letztlich bedeutungslose Anspielung auf die dem Lesepublikum bekannte Konstellation zwischen Walser und Reich-Ranicki sei durch die »Indienstnahme der Literatur für einen außerliterarischen Zweck«,164 im Besonderen durch die vom Text selbst kritisierten ›Betriebsgesetze‹ der Aufmerksamkeitsverteilung und nicht durch die Form des ›eigentlichen‹ Textes motiviert. Den Widerspruch zwischen der auf der histoire des Schundromans vorgetragenen Kritik an den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur um 2000 und der Inanspruchnahme derselben für die Vermittlung des Romans löst die literaturkritische Rezeption mithin unter Verweis auf die Kirchhoff unterstellte Marketing- und Abrechnungsmotivation auf. Der Schundroman erweist sich ihr letztlich als »Ausdruck erlittener Unbill« 165 – ein Ergebnis, das es gilt, im Folgenden zu verkomplizieren.
3.2.1 Bodymotion und Turboperformance Sein dramatisches Ende verlegt Kirchhoffs Schundroman an den Gardasee. Die »frühere Hauptkommissarin« (SR 28) und Privatdetektivin Helene Stirius verfolgt mit ihrem »Mitarbeiter« (SR 31) Carl Feuerbach den Profikiller Willem Hold, von dem sie annimmt, er habe den »berühmten Kritiker« (SR 85) Louis Freytag umgebracht und sei auch sonst noch in den einen oder anderen undurchsichtigen Kriminalfall verwickelt. Hold wiederum hat es auf den »Anwalt und Geschäftsmann« (SR 235–236) Cornelius Zidona abgesehen, der unter dem Pseudonym ›Ollenbeck‹ als debütierender »Skandalautor« (SR 139) im Literaturbetrieb für Furore sorgt. Als die ›Edel-Prostituierte‹ Lou Schultz, ihrerseits kurzzeitig von Literaturkritiker Freytag als hochgelobte »Dichterin« (SR 68) gehandelt, aufdeckt, Zidona habe sich, um ungestört kriminellen Geschäften nachgehen zu können, »genialerweise, die Prominenz als Tarnung gewählt«
163 K. Mensing. 164 G. M. Rösch, S. 7. 165 Andrea Bartl: Erstochen, erschlagen, verleumdet. Über den Umgang mit Rezensenten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – am Beispiel von Martin Walsers »Tod eines Kritikers«, Bodo Kirchhoffs »Schundroman« und Franzobels »Shooting Star«. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 50 (2004), Nr. 4, S. 485–514, hier S. 495.
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(SR 236), lässt der Geschäftsmann Holds Flugbekanntschaft durch seinen Geschäftspartner Busche kurzerhand umbringen. Um »Gerechtigkeit« (SR 294) und »Ausgleich« (SR 294) bemüht, weiß Gangster Hold den Mord an seiner Liebe an Bord der Yacht der prominenten Autorin Vanilla Campus schließlich zu rächen. Bei dem »nach allen Regeln der Kunst bzw. des Schunds inszenierte[n] Showdown auf dem Gardasee« 166 kommt der kriminelle Geschäftsmann Zidona schließlich gleichwohl weniger durch physische Gewalt, denn allein durch das »Gewicht der Wörter« (SR 300) ums Leben. Neben diesem furiosen, »kinoreif[en]« (SR 59) Finale, das eine Verfolgungsjagd, Schusswaffengebrauch und damit einhergehende action mit einem Panorama »[w]ie die Kulisse einer Freilichtoper« (SR 309) samt Sternenhimmel und Mondlicht (vgl. SR 291) in Szene zu setzen weiß, komplettiert Kirchhoffs Roman die histoire schließlich durch einen nicht weniger filmreifen, die Einstiegsszene zu Romanbeginn aufnehmenden und spiegelnden (vgl. SR 9–14) Epilog: Auf dem »Flug nach Osten« (SR 313) entgleiten Hold und Vanilla den vom Text entfalteten Verwicklungen zwischen Frankfurt und der »Bucht von Salò« (SR 291) in Richtung einer offenen Zukunft. Dürfen also für das »Happy-End der kolportagehaften Handlung« 167 sämtliche, die histoire maßgeblich prägende Figuren im Modus einer conclusio des Romans noch einmal auftreten, ist es durchaus auffallend, dass der Text auf den letzten Seiten noch eine völlig neue Figur einführt. Hold verfolgend treffen Helen, Feuerbach und Vanilla – und mit diesen der Leser – am Gardasee auf einen »weißhaarige[n] Schlanke[n]« (SR 277). »Signore Franz« (SR 289) erweist sich als ein mittelmäßig erfolgreicher Schriftsteller, mithin als Autor von Büchern, »die nicht so gut laufen« (FR 281), wie Vanilla Campus treffend bemerkt. Und so ist Signore Franzens Kahn mit seinen lediglich vierzig PS denn auch keineswegs mit Zidonas Yacht »Vanilla’s Affair« (SR 246) vergleichbar, hilft den beiden Detektiven aber gleichwohl, dem Skandalautor und Hold auf den Fersen zu bleiben. Dass die Verfolgung durchaus auch im Interesse von Signore Franz zu liegen scheint, legt die »kalte Entschlossenheit« (SR 290) nahe, die sich zunehmend in dessen Gesicht zeigt. Entschieden bissig antwortet der Autor denn auch, als Feuerbach ihn direkt auf Ollenbeck anspricht:
166 Christian van Treeck: Tod eines Autors. Houellebecq-Satire und Literaturbetrieb in Bodo Kirchhoffs Schundroman. In: Marcel Krings u. Roman Luckscheiter (Hg.): Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Mit einem Geleitwort von Bernhard Böschenstein. Würzburg 2007, S. 239–256, hier S. 242. 167 H.-J. Knobloch, S. 221.
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»Kennen Sie ihn?«, fragte Feuerbach leise. »Ich kenne seine Füßeküsser, das genügt.« Die Campus mischte sich ein. »Sie sind voller Bitterkeit. Daher die grauen Haare.« »Meine Haare sind weiß – die Farbe der Verachtung. Wie kommt Ollenbeck überhaupt zu so einer Yacht? Das klappt nicht mal mit einer Titelgeschichte im Spiegel plus Bekenntnis von Louis Freytag: Ich habe geweint beim Lesen.« »Freytag kann nicht mehr weinen«, sagte Feuerbach. »Und dieser Ollenbeck kann nicht zu so einer Yacht kommen!« »Weil Sie nur diesen Kahn fahren? Pardon.« »Weil ich die Grenzen dieser Branche kenne«, flüsterte Signore Franz. »Selbst der hofierteste Autor ist ein Depp verglichen mit jedem Schundsänger, den seine Leibwächter begleiten.« (SR 290)
Für den Zusammenhang der vorliegenden Studie ist dieser Dialog zwischen Feuerbach, Vanilla und dem »Eigner der No Comment« (SR 277) zunächst deshalb relevant, weil er verdeutlicht, dass das Handeln literarischer Autoren, wie es der Schundroman entwirft, in soziale Zusammenhänge (›Branche‹) eingelassen ist, die durch das Handeln weiterer Akteure (›Füßeküsser‹) geprägt werden. Durch die pejorative Semantik, die ihnen Signore Franz ›flüsternd‹ verleiht, legt der Text nahe, dass die in den öffentlichen Umgang mit Ollenbeck verwickelten Literaturvermittlungsakteure in ein mehr als fragwürdiges Spiel um ›Aufmerksamkeit‹ eingebunden sind, ja der Text zeichnet die vermittelnden Rahmenbedingungen literarischen Schreibens als sozialstrukturelle Zusammenhänge »des persönlichen Reichtums an Beachtung«.168 Insofern sich Ollenbeck als geschickt inszenierter ›Skandalautor‹ darzustellen vermag, der Signore Franz »schon die Butter vom Brot nimmt, wenn er nur Zigarettenrauch ausbläst« (SR 289), richtet sich der weißhaarige Autor am Gardasee »gegen die unkritisch-enthusiastische Aufnahme von Ollenbecks Roman und gegen den Fankult um den Autor«.169 Auch wenn Franz kritisch bemerkt, Deutschland komme »seit dem Krieg mit zwei Schriftstellern aus« (SR 282), bemisst sich demnach der symbolische Wert literarischer Werke und Autoren weniger in Differenz zu anderen Werken. Der literarische Status beruht vielmehr auf spezifischen »Medialisierungsstrategien«,170 die sich in der Konkurrenz zu dezidiert 168 Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. 3. Auflage. München u. Wien 1998, S. 140. 169 C. v. Treeck, S. 247. 170 »Das entscheidend Neue an den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb ist, dass der Tauschwert nicht dem Geldwert gleichzusetzen ist. Auf den Märkten des direkten Tauschs von Informationen gegen Aufmerksamkeit hat die Aufmerksamkeit die Rolle der Währung übernommen. Die Einheiten der Währung heißen Auflage, Quote, Besucherzahl«, Georg Franck: Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit. Zu den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb. In: Markus Joch u. a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Ge-
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massenmedialen und mitunter als ›banal‹ abgewerteten Größen des massenmedialen Boulevards (›Titelgeschichte im Spiegel‹, ›Schundsänger‹) behaupten müssen. Vanillas aus eigener Erfahrung reiche Bemerkung, Signore Franz solle mit seinen Romanen schlichtweg »ins Fernsehen« (SR 281) gehen, um literarische Erfolge feiern zu können (»Dann läuft’s«, SR 281), deutet dabei im Modus eines konkret-pragmatischen Vermarktungsvorschlags diese Aussicht auf Umwandlung massenmedialer Beachtung in symbolisches Kapital an. Flankiert wird dieser Konvertierungsprozess schließlich durch eine von Franz als nichtliterarisch abgewertete, emotional-identifikatorische Lektürehaltung von Starkritiker Freytag (›Ich habe geweint beim Lesen‹). Analog zu Kirchhoffs literarischem Programm thematisiert und problematisiert der Schundroman mithin die Kontextbedingungen literarischen Schreibens als sozialstrukturelle Einbettung der Autoren in massenmediale Kontexte, insbesondere der in den Printmedien verorteten Literaturkritik und des Fernsehens. Die mitunter auch in der Forschung anzutreffende Annahme, dass das »ökonomisierte Literatursystem und sein Aufmerksamkeitsgetriebe [...] Literatur zum Verschwinden [brächten; DCA]«,171 transformiert Signore Franz nun keineswegs in resignative ›Bitterkeit‹, sondern in eine durchaus aktiv vertretene ›Verachtung‹. Von Bedeutung ist dies insofern, als die literaturwissenschaftluche Forschung zu Kirchhoff darauf hingewiesen hat, dass es sich bei Signore Franz erstens um den zunächst anonym bleibenden, heterodiegetischen Erzähler des Schundromans handele172 und dieser (zweitens) als das »alter ego des Autors« 173 Bodo Kirchhoff identifiziert werden könne, ja gleichsam dessen »fiktionale[r] Stellvertreter« 174 sei. Mit dieser Bestimmung Signore Franzens als »Sprachrohr« 175 des Autors bricht eine literarisierte, aber dennoch auktoriale Reaktion auf die oder Stellungnahme zu den als problematisch inszenierten Kontextbedingungen von Literatur durch, die sich in dem zitierten Abschnitt auch auf der Ebene des discours beobachten lässt. Nimmt man die Passage nämlich einmal als das, was sie ist, also als einen Dialog zwischen einem Privatdetektiv, einer Prominenten und einem Autor, erweist sie sich in ihrer fragend-asymmetrisch angelegten
meinsam mit Nina Birkner. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 118) Tübingen 2009, S. 11–21, hier S. 12. 171 Hannah Stegmayer: Literarische Ästhetik und Ökonomie. In: Sieglinde Klettenhammer (Hg.): Literatur und Ökonomie. (Angewandte Literaturwissenschaft 8) Innsbruck u. a. 2010, S. 221–236, hier S. 234. 172 Vgl. C. v. Treeck, S. 247. 173 H.-J. Knobloch, S. 221. 174 C. v. Treeck, S. 255. 175 C. v. Treeck, S. 247.
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Form als das literarisch in Szene gesetzte Literaturvermittlungsformat schlechthin: nämlich als Autoreninterview.176 In dieser Hinsicht erhält der Dialog mit Signore Franz mit Blick auf die im Roman zuvor entfaltete histoire und die in dieser kontinuierlich thematisierten sekundären Formen literarischer Kommunikation einerseits einen kommentierenden Status, der den Text mit einem selbstreflexiven Moment ausstattet und den Erzähler in eine homodiegetische Form entgleiten lässt. Zum anderen bindet der Text auf diese Weise die Thematisierung des Verhältnisses zwischen primären und sekundären Formen des literarischen Systems an den realen Autor Kirchhoff, der dann selbst wiederum in Interviews die kritischen Positionen Signore Franzens übernimmt und ausweitet. Nahegelegt wird die so in Anschlag gebrachte Kopplung zwischen »realer und fiktionaler Realität« 177 erstens durch den von der histoire her gesehen relativ unmotiviert platzierten Auftritt der Figur gegen Ende des Romans (vgl. SR 277); und zweitens durch den Rückgriff auf die für Schlüsselliteratur typische »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung« 178 und den damit einhergehenden Strategien der Figurenzeichnung, die Signore Franz über basale Merkmale (Alter, Haarfarbe, Größe, Beruf) an Bodo Kirchhoff zurückbinden (vgl. nur das Autorenfoto auf der Innenseite des Buchumschlags). In dieser Hinsicht greift der zitierte Abschnitt nicht lediglich die vom Schundroman zuvor wiederholt thematisierten Praktiken literaturvermittelnder Akteure und Organisationen kommentierend-zusammenfassend auf. Auf der »No Comment« (SR 283) des Autors/Erzählers transformiert sich der Text vielmehr in eine seiner Vermittlungsformen, liefert mithin die auktoriale Kommentierung und Kontextualisierung des Romans im ›eigentlichen‹ Text gleich mit. Ihre Verdichtung finden die Rahmenbedingungen literarischen Schreibens, wie sie der Schundroman immer wieder »nur am Rande« (SR 187) entfaltet, mit der Verlegung des Geschehens auf die Frankfurter Buchmesse, mithin an eben jenen literaturbetrieblichen Ort, der als das »größte[ ] Branchenereignis weltweit« 179 gilt. Ausgerichtet als »wichtige Handels- und Kommunikationsplatt-
176 Vgl. dazu allgemein Torsten Hoffmann: Das Interview als Kunstwerk. Plädoyer für die Analyse von Schriftstellerinterviews am Beispiel W. G. Sebalds. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 55 (2009), Nr. 2, S. 276– 292. 177 Niklas Luhmann: Literatur als fiktionale Realität. In: Niklas Luhmann: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. von Niels Werber. Frankfurt a. M. 2008, S. 276–291, hier S.281. 178 G. M. Rösch, S. 7. 179 Tobias Voss: Buchmesse. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 85–88, hier S. 87.
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form[ ]« 180 kommt auf der Buchmesse »der ganze Betrieb« 181 zusammen, um die jährliche ›Leistungsschau‹ in Sachen neueste Literaturproduktion zu präsentieren und zu diskutieren. Auch wenn oder gerade weil die Buchmesse als »Forum für die direkte Begegnung« 182 angelegt ist, steht sie nicht zuletzt in Verdacht, vom ›Eigentlichen‹, das heißt von der Literatur abzulenken. Der Text stellt indes weniger die durchaus auch mit Buchmessen-Kommunikation konnotierten »gesellige[n] Rituale« 183 der diversen Vermittlungsakteure ins Zentrum, wie sie etwa mit einem »berühmten Kritikerempfang« (SR 201) verbunden werden. Kirchhoffs Roman interessiert sich vielmehr für das Buhlen um Aufmerksamkeit, das heißt für die auf der Buchmesse konzentrierte »Preisbildung der Beachtlichkeit«.184 Man wartete vor allem auf Vanilla Campus, die hier jeden Moment eintreffen sollte, und vertrieb sich die Zeit mit dem Kolportieren von Gerüchten, darunter auch dem, daß der Skandalautor Ollenbeck nicht mehr im Verdacht stehe, Louis Freytag erschlagen zu haben, aufgrund eines Alibis durch die Campus; und dann ging noch die Nachricht um, daß der Kollege Kussler unter einem zusammengebrochenen Stapel von Bodymotion aufgefunden worden sei, man jedoch von einem Anschlag auf ihn als Kritiker spreche, mit der Folge, daß sich inzwischen die ganze Zunft bedroht fühlte und der berühmte Kritikerempfang beim Frankfurter Verleger Hesselbrecht erstmals unter Polizeischutz stattfand. (SR 186)
Dieser Abschnitt mag verdeutlichen, dass die textorganisierende Relevanz der Unterscheidung von primären und sekundären literarischen Formen, das heißt die Praktiken literaturvermittelnder Akteure und Organisationen auf der histoire-Ebene durch im Wesentlichen zwei Gesichtspunkte geleistet wird. Es ist dies erstens das als problematisch ausgewiesene, über eine Semantik des Kriminellen in Szene gesetzte Verhältnis zwischen Literaturkritik und Autoren (›Bedrohung‹, ›Erschlagen‹, ›Polizeischutz‹); und zweitens der Auftritt der Starautoren Ollenbeck und Campus, die in massenmedial-boulevardeske Strukturen eingelassen sind (›Kolportieren von Gerüchten‹, ›Nachrichten‹).
180 T. Voss, S. 85. 181 So die Formulierung von Hans Jürgen Balmes: Die Buchmesse. In: Andreas Breitenstein (Hg.): Der Kulturbetrieb. Dreißig Annäherungen. Frankfurt a. M. 1996, S. 110–113, hier S. 110. 182 T. Voss, S. 88. 183 Dies die Formulierung von Lothar Menne: Vom Salon an die Börse. Über den Handel mit Bestsellern und anderen Büchern. In: Kursbuch, 1998, Nr. 133, S. 41–47, hier S. 42. Menne führt dann aus: »Auf Familienfeiern, Betriebsfesten, Ärztekongressen genießen die Beteiligten ja auch das wohlige Gefühl, zu einer größeren, sinnhaften Einheit zu gehören, in deren Mitte man seine Sehnsucht nach Geborgenheit, Neid und Klatschlust ausleben sowie seine Wunden lecken kann«. 184 G. Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, S. 141.
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Zunächst inszeniert der Text das Verhältnis zwischen Autoren und Literaturkritikern als ein problematisches, ja als ein durch literaturkritische ›Ignoranz‹ (vgl. SR 139), ›gekränkte Autoren‹ (vgl. SR 65) und daraus resultierende »Racheakt[e]« (SR 144) geprägtes. In die Autor-Kritiker-Beziehung ist dabei eine deutliche Asymmetrie eingebaut, insofern es die Autoren sind, die unter der Bedeutung der Literaturkritik für die Bewertung und Relevanz von Literatur leiden.185 Feuerbachs Vermutung vom »gekränkte[n] Autor beim Amoklauf« (SR 65) konkretisiert in diesem Sinne einen vom Schundroman latent thematisierten sozialstrukturellen Zusammenhang, in dem das Streben nach ›dominierenden Positionen‹ des literarischen Feldes zum gewaltsamen Kampf ums körperliche Überleben umschlägt.186 Vom Urteil der Kritiker abhängig, ja zu deren Opfern degradiert, liegt die Vermutung, ein Autor habe den im Feld als »Bücherpapst« (SR 78) und »Gott« (SR 281) verehrten Starkritiker »um die Ecke gebracht« (SR 44), für die Massenmedien am nächsten: ein Autor als »Täter[ ]« (SR 288), der seinen Kampf um symbolisches Kapital als »Rachemord« (SR 78) realisiert. Zweitens kehrt der Schundroman das asymmetrische Verhältnis von ›eigentlichem‹ Text und ›vermittelndem‹ und deshalb lediglich ›sekundärem‹ Paratext um. Eingelassen sind die Rahmenbedingungen literarischen Schreibens, wie sie Kirchhoffs Roman literarisiert, in einen Kontext, der durch massenmediale Strukturvorgaben, ja eine durch Printmedien und Fernsehen organisierte Ökonomie der Aufmerksamkeit charakterisiert ist. So ist nicht nur immer wieder von diversen »Fernsehserien« (SR 91) wie »Traumschiff« (SR 39) oder dem »Vorabendprogramm« (SR 92), Talkshows (vgl. SR 242) und dem üblichen »Klatsch- und Sexprogramm« (SR 83) die Rede. Hinzu kommen Kommunikationsformen wie das »Kolportieren von Gerüchten« (SR 186), die Präsentation von »Berühmtheit[en]« (SR 106) sowie der dezidierte Hinweis, dass sich massenmediale Akteure wie »Fernsehgrößen« (SR 277) mit literarischen Autoren in einem sozialstrukturellen Kontext bewegen. Auf dem Bertelsmann-Empfang drängten sich, wie jedes Jahr, mehr Leute als geladen waren, die üblichen Prominentenschlecker und Parasiten des Ruhms, irgendwie eingedrungen, die einen mit Hilfe von Pressekärtchen, andere unter Einsatz ihres allgemein bekannten oder überhaupt allgemeinen Gesichts. (SR 207)
185 Vgl. die Selbstaussage eines, der es wissen muss, Denis Scheck: »Kritiker streben grundsätzlich nach Macht«. In: Promotionskolleg »Wertung und Kanon« der Universität Göttingen (Hg.): Bücher/Menschen. Der Literaturbetrieb im Gespräch. Salzhemmendorf 2010, S. 139–148. 186 Dies in der Terminologie von Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 2005, insbesondere S. 341–353.
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Das Eindringen massenmedialer und damit gleichsam literarisch ›unreiner‹ Strukturvorgaben und Akteure in literarische Kontexte (›Parasiten‹) konfrontiert Autoren nicht nur mit »Romanen von Showmastern und Nachrichtensprechern« (SR 34); tatsächlich ist die Unterscheidung zwischen literarischen Autoren und Prominenten nur noch schwer zu treffen (vgl. SR 187). Mit Vanillas Hinweis darauf, dass Signore Franz im Fernsehen auftreten müsse, um literarisch erfolgreich zu sein, begründet der Text die ›Beschädigung‹ der Literatur durch die unhintergehbare Abhängigkeit literarischen Schreibens von Literaturbetriebsanforderungen mit einer massenmedial ausgerichteten, an Zielgruppen orientierten und insbesondere auf Strategien der Personalisierung spezialisierten Literaturvermittlung, ja es sind eben diese Vorgaben aus Printmedien und Fernsehen, die in literarische Kontexte vordringen und denen damit eine »zentrale Bedeutung für die Schund-Produktion der Literaturbranche« 187 zukommt. Der Literaturbetrieb um 2000 fordere keine großen literarischen Genies, sondern vielmehr einen Typus von Autor, der sich selbst für sein und vor seinem Publikum in Szene zu setzen wisse.188 In diesem Verständnis einer an den Prämissen der Massenmedien ausgerichteten Literaturvermittlung sei die paratextuelle Vermarktung wichtiger als die literarisch-programmatische Auseinandersetzung mit dem ›eigentlichen‹ Text. Dieser erweise sich mehr und mehr als sekundäres Beiwerk der Medieninszenierung, die der Schundroman der »Suche nach Identität, Authentizität und Originalität« 189 entgegenstellt, wie sie seine Figuren betreiben. Und so bleibt schließlich nicht nur Feuerbach das »ganze Milieu [...] fremd« (SR 187). Skandalautor Ollenbeck und die »frühere Tagesschausprecherin und heutige Autorin« (SR 78) Vanilla Campus stehen exemplarisch für eben jenen Typus von Autor, der sich mittels Personalisierungs- und Medialisierungsstrategien »den Mechanismen eines zunehmend von den Medien beherrschten Literaturbetriebs perfekt angepasst hat«.190 Sowohl Ollenbeck als auch Campus wissen mittels einer spezifischen Kombination aus Autorinszenierung und Textgattung die massenmedial geprägten Rahmenbedingungen literarischen Schreibens für sich zu nutzen. Dass Hold zunächst aus den Medien von den
187 Anna Sophie Brasch: Eulenspiegelei um einen Picasso. Bodo Kirchhoffs Schundroman und das ironische Spiel mit dem Schund. In: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur (2012), Nr. 22, S. 24–27, hier S. 25. 188 Vgl. dazu kulturkritisch Stefan Neuhaus: Der Autor als Marke. Strategien der Personalisierung im Literaturbetrieb. In: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 61 (2011), Nr. 2, S. 313–328. 189 A. Bartl, Erstochen, erschlagen, verleumdet, S. 497. 190 C. v. Treeck, S. 253.
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beiden Bestsellerautoren erfährt, kann in diesem Zusammenhang mithin wenig überraschen: Hold überflog noch die Notizen über Shootingstars der Messe, allen voran ein gewisser Ollenbeck, Vertreter eines neuen Männerwunders, wie dort zitiert war, angeblich publikumsscheu, mit einem ersten, sogenannten Skandalroman, sowie eine Frau, von der er schon gehört hatte, Vanilla Campus, Verfasserin einer Sexfibel, Bodymotion. Von ihr gab es sogar ein Foto, als Diva mit wallendem Haar und leicht offenem Kußmund [...]. (SR 11–12)
Während »Shootingstar« (SR 11) Ollenbeck, immer wieder als das »neue Männerwunder« (SR 289) gepriesen, ein »Skandalwerk« (SR 70) vorgelegt hat, das »auf jeder Seite skandalöser [sei; DCA] als alles, was es an Skandalösem gebe« (SR 70), verdeutlicht insbesondere Vanilla Campus die Kopplung von Text- und Autorinszenierung. Die »früher[e] TV-Sprecherin, dann Prominente und seit neuestem Autorin« (SR 49) weiß nicht nur ihr in massenmedialen Kontexten akkumuliertes Kapital im Literaturbetrieb einzusetzen und steht damit für eben jene vom Erzähler als »Parasiten des Ruhms« (SR 207) bezeichneten Akteure, die, »flankiert von Leibwächtern« (SR 179), in vormals genuin literarische Bereiche ›eindringen‹. Mit Vanillas ›Sexfibel‹ thematisiert der Schundroman zudem ein Konglomerat aus Literaturgenres, die Teilen der Literaturkritik zufolge zu den besonders gefragten Textsorten im deutschen Literaturbetrieb der Jahrtausendwende zählen und gerade deshalb den unterstellten schlechten ›Zustand‹ von Literatur und Betrieb zum Ausdruck bringen würden. Sie zog es vor, sich allein zu vergnügen, das ließ sich ihrer Sexfibel entnehmen, man spürte die forcierte Leichtigkeit bei diesem Thema, dargestellt in einem eigenen Kapitel, auf das sich die seriöse Kritik besonders gestürzt hatte – man hielt es weder für kenntnisreich noch komisch (Frieda Mueller, Die Zeit) und weit entfernt von der Tiefe entsprechender Bücher oder Texte aus Frankreich, in denen der weibliche Schoß allemal als Metapher fungiere (Dietrich von Egahl, Der Spiegel). (SR 160–161)
So wenig die ›Sexfibel‹ das Feuilleton zu überzeugen vermag, so sehr ist ›Bodymotion‹ in produktionsästhetischer Hinsicht auf Vermarktungsinteressen und Konsumentengewohnheiten zugeschnitten. Vanilla, der tatsächlich »kein einziger neuer Aspekt zum Thema Sex eingefallen war« (SR 187), bringt nicht zuletzt in einem aufmerksamkeitswirksamen Talkshowauftritt (vgl. SR 118–121) ihren zwischen Ratgeberliteratur, autobiographisch gerahmter Ich-Erzählung und inszeniertem Tabubruch mit intimen Details oszillierenden Text in Stellung und verdeutlicht auf diese Weise exemplarisch die von Kirchhoffs Roman inszenierte Rückkopplung der literarischen Formen an ihre Betriebsanforderungen. Stellt der Schundroman mit Willem Hold einen Protagonisten ins Zentrum, der an seiner »Männlichkeit« (SR 131) verletzt ist und deshalb an einem
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»Schmerz« (SR 130 leidet – noch als Heimkind hatte Zidona Holds Geschlechtsteil mit »Spannlack« (SR 12) überzogen –, greift Kirchhoffs 2009 erschienener Roman Erinnerungen an meinen Porsche ebenfalls auf die Kastration als dem »ultimative[n] Symbol einer totalen Diskontinuität« 191 zurück. Der Roman zeichnet die körperlichen Schmerzen des Investment-Bankers Daniel Deserno nach, dessen ungehemmte Sex- und Geldvermehrung ein jähes Ende gefunden hat. Im Streit von seiner Freundin schwer an seinem »Porsche« 192 verletzt, findet sich der Ich-Erzähler, als bonusverwöhnter Banker nicht zuletzt an der Finanzkrise 2008 beteiligt, in einer Kurklinik wieder, wo er in einer »Stunde des Grübelns« (EP 28) über seine »donjuanesk supernormale[n] Performances« 193 nicht nur nachdenkt, sondern diese auch niederschreibt. Aufschwung war übrigens, neben Rendite, das Wort, das alle im Schweinedepartment wie ein Brett vorm Kopf hatten, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es nur so lange aufwärtsgeht, bis es abwärtsgeht, eins der simpelsten Dinge im Grunde, wahrscheinlich zu simpel. Die Finanzwelt konnte nicht nur aus Gewinn bestehen, irgendwo musste auch der Verlust stecken, und jahrelang hatte die Sprache darüber hinweggetäuscht, meine Wortschöpfungen taten das ihre dazu: die dunkle Seite des Schreibtalents. Nur heißt Risiko eben Risiko und nicht Wert, so wie verschleiern nicht verbriefen heißt oder Banker nicht Bankier und andererseits bumsen oder möbeln auch nicht lieben. Rules are for fools, sagten wir gern, und dabei hätte es schon gereicht, die Semantik zu beachten. (EP 91–92)
Für das im Zusammenhang der vorliegenden Studie relevante Verhältnis von primären und sekundären Formen literarischer Kommunikation ist diese Selbstbeobachtung insofern relevant, als der an dieser Passage von Deserno als ›Schweinedepartment‹ bezeichnete konkrete Ort von Finanztransaktionen an anderer Stelle zur Beschreibung des »sogenannten Kulturbetrieb[s]« (EP 167) dient. In einem Gespräch zwischen Desernos Ex-Freundin Selma, die bei einer Kulturstiftung arbeitet, und der Jungautorin Helen werden die Rahmenbedingungen literarischen Schreibens nämlich als »so etwas wie die Schweineabteilung, nur ohne Gewinn« (EP 167), bezeichnet. Die Analogie zwischen ›verdorbener‹ Finanzbranche und den Bedingungen literarischen Schreibens um 2000 setzt dabei zum einen auf die Charakterisierung der beteiligten Akteure – handele es sich doch jeweils um einen »einzige[n] Lotterhaufen« (EP 167) –;
191 Jürgen Link: Ein ›Ground zero‹ des Kapitals. Theoretische Überlegungen zur Krise. In: German Studies in India. Beiträge aus der Germanistik in Indien Neue Folge 2 (2010), S. 33– 49, hier S. 49. 192 Bodo Kirchhoff: Erinnerungen an meinen Porsche. Roman. Hamburg 2009. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle EP in runden Klammern im Text, hier S. 14. 193 J. Link, Ein ›Ground zero‹ des Kapitals, S. 49.
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zum anderen stellt der Text Parallelen zwischen den in beiden Bereichen typischen Verfahren an: Ausgehend von der Analogie mit der auf Finanzprodukte spezialisierten »Geldvermehrungsbranche« (EP 36) gehe es auch im Literaturbetrieb insbesondere darum, mittels einer spezifischen Semantik, die Regeln des Literarischen zu brechen, um auf diese Weise eine aufmerksamkeits- und nicht zuletzt finanzstarke ›Superperformance‹ zu erzeugen, die den ›eigentlichen‹ Werten der Literatur geradezu widerspreche. Die vermittelnden Rahmenbedingungen werden also als nicht-literarische, ja als literarische Prozesse gleichsam ›störend‹ thematisiert. Kirchhoffs Porche-Roman koppelt mithin die drei per Analogien entfalteten symbolischen Achsen ›Auto, Kapital, Sex‹ mit der Thematisierung der sekundären Formen des literarischen Systems.194 Letztere sind dabei ebenso wie im Schundroman durch solche sozialstrukturellen Kontexte gekennzeichnet, die durch massenmediale Anforderungen bestimmt werden: In Kirchhoffs ›neuem Schundroman‹ (vgl. EP Klappentext) sind die Medien gleichsam allgegenwärtig. Der Text knüpft an der Vorstellung einer Ökonomie der Aufmerksamkeit an, wie sie der Schundroman thematisiert, und setzt deren Effekte ins Verhältnis mit den Folgen der Finanzkrise. So hat es Deserno in der Kurklinik Waldhaus mit allerhand »Prominentenleichen« (EP 7) zu tun, ja die Narration des Porsche-Romans ist maßgeblich an der Differenz zwischen »abgetakelte[n]« (EP 48) »Exprominenten« (EP 48) einerseits und »Nichtprominenten« (EP 48) wie dem Ich-Erzähler andererseits orientiert. Die mehr oder weniger prominenten »Dauerpatienten« (EP 21), die eine kurios »schillernde Ansammlung« (EP 21) darstellen, leiden dabei insbesondere an einem »Leereschock, dem Nichts anstelle früherer Größe [...]« (EP 33). So heißt es gleich zu Beginn erläuternd: Denn die Mehrzahl der Patienten litt ja am NPK-Syndrom, einer noch kaum erforschten, erst mit Beginn des neuen Jahrhunderts vor allem in unseren Breiten aufgetauchten Krankheit – von den einen etwas leger Prominentenklimakterium oder Promiklatsche genannt und von anderen, wie der Schmauch, Narzisstische Persönlichkeitskrise oder eben NPK-Syndrom, auf jeden Fall verbunden mit manisch-depressiven Phasen und Wahnvorstellungen infolge verblassender Prominenz oder, bei Patienten wie mir, des verlorenen GT-Appeals. (EP 21)
So sehr sich Kirchhoffs Roman mit Abschnitten wie diesen als eine selbstreflexive Erkundung des ›NPK-Syndroms‹ lesen lässt, so sehr erweist sich die Krankheit als Symptom einer Entwicklung, die eben solche Akteure betrifft, die sich den Vorgaben der Ökonomie der Aufmerksamkeit unterstellen: »von
194 Siehe zu den drei symbolischen Achsen die Analyse von J. Link, Ein ›Ground zero‹ des Kapitals, S. 49.
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früheren Moderatorinnen, die immer noch Talkrunden suchten, über junge Models, die alles schon hinter sich hatten, bis hin zu Exfußballgrößen, die vor sich hin murmelten« (EP 21). Relevant ist dies insofern, als der Text auch und gerade literarische Autoren in die auf diese Weise personalisierten Strukturzusammenhänge einreiht. Spricht der Porsche-Roman Aspekte der Literaturförderung an, um so weniger auf die finanzielle Abhängigkeit der Autoren, als deren finanzielle Überförderung durch Literaturpreise und Stiftungen anzudeuten – so bestimmen die Autoren »alle naselang Preise und lebten noch dazu von der Kulturstiftung« (EP 20) –, treten die vermittelnden Rahmenbedingungen literarischer Tätigkeiten konkret mit den »regelmäßigen Lesungen im Kaminfoyer des Waldhauses« (EP 19) ins Blicksfeld. Die Lesungen fanden zweimal im Monat statt, immer an Sonntagen, wenn die allgemeine Bedrückung am spürbarsten war, ob im Speisesaal oder in dem kleinen eigenen Kurpark. Es waren Nachmittagsveranstaltungen, um die ärgsten Stunden des Sonntags aufzufangen, die zwischen drei und fünf, und folglich war jeder Platz im Kaminfoyer besetzt, und es wimmelte von bekannten Gesichtern, eine Situation, die für die Autoren recht schmeichelhaft war und dem Waldhaus sicher eine Handhabe bot, die Honorare zu drücken. (EP 19)
Von Relevanz ist diese Passage in zwei Hinsichten: Erstens deutet sie eine durchaus heteronome Funktionalisierung von Literatur an, insofern die Lesungen den Patienten als bloße Ablenkung, ja der Zerstreuung dienen; und zweitens spricht der Roman in dieser Passage das Aufmerksamkeitsbedürfnis der lesenden Autoren an (›recht schmeichelhaft‹), um auf diese Weise gleich zu Beginn eine Schneise in die dominierende Semantik der Finanzwelt zu legen, die sich in der Debütantin Helen kristallisiert. Schlägt die symbolische Kurve auf den drei Achsen ›Auto, Kapital, Sex‹ »zuerst ins schwindlig und exponentiell Supernormale nach oben aus«,195 um dann »den fürchterlichen Crash« 196 zu erleben – symbolisch zusammengeführt in der Kastration Desernos –, so appliziert der Text diese Normalisierungsbewegung auch auf das problematische Verhältnis von primären und sekundären Formen. Denn es ist die »blutjunge Autorin des Hämorrhoidenbestsellers« (EP 36), die ebenso zunächst eine »Turboperformance« (EP 36) hinlegt, um dann einen nicht weniger intensiven psychischen ›Crash‹ erleben zu müssen. Vom »Verkaufserfolg« (24) ihres skandalösen Romans so »verstört und erdrückt« (47), hat Helen, die durch ihren »Hämorrhoidenrenner« (EP 24) »breiteste Anerkennung« (EP 24) erfahren hat, in der Zwischenzeit mit »Depressionen« (118) zu kämpfen. Wie der Schundro-
195 J. Link: Ein ›Ground zero‹ des Kapitals, S. 49. 196 J. Link: Ein ›Ground zero‹ des Kapitals, S. 49.
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man begründet der Text dabei das Leiden der Autorin an der unhintergehbaren Abhängigkeit ihres Schreibens von Literaturbetriebsanforderungen mit einer massenmedial ausgerichteten, auf Strategien der Personalisierung, insbesondere der ›Enthüllung‹ ausgerichteten Medialisierung von Literatur. Und so fühlt sich Helen schließlich »wie ein Teil ihres Buches« (EP 104).
3.2.2 Literarische Reinigung Die Thematisierung des Verhältnisses von primären und sekundären Formen literarischer Kommunikation realisiert der Schundroman durch eine Reihe von discours-Elementen, von denen die wohl auffälligsten durch Realitätseffekte sowie die für Schlüsselverfahren typische »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung« 197 belegt werden. Neben dem vom Feuilleton nahezu durchgehend auf Marcel Reich-Ranicki zurückgerechneten Starkritiker Louis Freytag zählen zu diesen Rückkopplungen mit der realen Realität zum einen »Profi-Promis« (SR Buchumschlag) des öffentlich-massenmedialen Lebens wie »Uschi Glas« (SR 142), »Biolek« (SR 142), »der deutsche Bundeskanzler« (SR 180) oder »Freddy Quinn und Peter Krauss« (SR 282). Deuten bereits die Kontexte, aus denen diese Figuren stammen, an, dass ihre außertextuellen Entsprechungen keineswegs in der realen, sondern einer massenmedial geformten Realität zu finden sind, greift der Text denn auch explizit auf mediale Realitätspartikel zurück. Dazu zählen etwa die »Frankfurter Allgemeine[ ] Zeitung« (SR 10), »Hugendubel« (SR 170) oder ein »Bertelsmann-Empfang« (SR 207), insbesondere aber Elemente des deutschen Fernsehens wie die Sender »Sat. 1« (SR 242), »RTL« (SR 242) und »ARD« (SR 143), die Talkshow »Maischberger« (SR 242) oder auch eine »ZDF-Kulturredakteurin« (SR 209). Entscheidend ist dabei, dass der Text Literatur nicht nur durchweg in massenmediale Zusammenhänge einbindet. Hinzu kommt, dass die scheinbar eindeutige Unterscheidung zwischen ›eigentlicher‹ Literatur und ›verdorbenen‹ Massenmedien ins Wanken gerät – so etwa wenn der »Fernsehmensch und Buchautor Wickert in Begleitung von Dolly Buster und Christa Wolf« (SR 187) zur Buchmesse anreist. Insofern Kirchhoffs Roman »Bücherpapst« (SR 78) Louis Freytag als Fernsehkritiker in Szene setzt, wird die histoire zudem auf die Literatursendung im deutschen Fernsehen zwischen 1988 und 2001 schlechthin bezogen. So wie Freytag als im ZDF auftretender »Gott« (SR 281) an der Spitze der boulevardesk gerahmten Hierarchie der literarischen Sozialstruktur steht und so darüber bestimmt, wel-
197 G. M. Rösch, S. 7.
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chen feuilletonistischen Weg ein literarisches Werk einschlagen wird, so gilt die »Schreisendung ›Das literarische Quartett‹« 198 um Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler Teilen der deutschsprachigen Literaturkritik als Ort »referenzlose[n] Lärm[s]«,199 in dessen Zentrum Reich-Ranicki mit »unbegreifliche[r] Borniertheit, dumpfe[r] Reflexhaftigkeit und stumpfe[r] Unaufmerksamkeit auch für das Handgreiflichste« 200 über die Unterscheidung von Literatur und Nicht-Literatur bestimme. Das damit angesprochene Konglomerat aus Literaturkritik und Fernsehen gilt mithin nicht nur dem Schundroman als »das Grundproblem der Gegenwartsliteratur« 201 schlechthin, setzten diese Fernseh-Formate doch nicht die Literarizität der jeweiligen Texte, sondern die Person des Kritikers in Szene. Neben dem Einbezug von Randfiguren wie etwa einem Kritiker »in Freytags Schatten« (SR 208), der auf Karasek bezogen wird, »Verleger, Dr. Dr. Hesselbrecht« (SR 86), der mit Siegfried Unseld assoziiert werden kann, oder auch »Jan C. Bartels aus der Schule des ZDF-Sportstudios« (SR 118), ›hinter‹ dem sich Moderator Johannes B. Kerner verbergen mag, konzentriert sich das Schlüsselverfahren denn auch auf die beiden Starautoren Vanilla Campus und Ollenbeck. So hat die Forschung herausgestellt, dass ›hinter‹ dem »allgemein als publikumsscheu geltende[n] neue[n] Skandalautor Ollenbeck« (SR 196) der französische Autor Michel Houellebecq zu vermuten ist.202 Heißt es im Schundroman, Ollenbeck, der seit einem Spiegel-Artikel als das »Das neue Männerwunder« (SR 139) gilt, habe für »Riesen-Aufsehen mit einem [sic!] Erstling, Die
198 Jochen Hörisch: Die Vorzüge der Gegenwartsliteratur. In: Andrea Köhler u. Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998, S. 224–231, hier S. 231. 199 Jochen Hörisch: Die TV-Literaturkritik. In: Andreas Breitenstein (Hg.): Der Kulturbetrieb. Dreißig Annäherungen. Frankfurt a. M. 1996, S. 131–135, hier S. 133. 200 J. Hörisch, Die Vorzüge der Gegenwartsliteratur, S. 231. 201 J. Hörisch, Die Vorzüge der Gegenwartsliteratur, S. 231. 202 Ollenbeck als Anspielung auf Houellebecq wird zunächst durch das konventionelle Schlüsselverfahren des sprechenden Namens eingeleitet, der im Roman anders als in ders als in der realen Realität das banale Provinzialität suggeriert. Darüber hinaus wird mit der Pose des Zigaretten-Haltens zwischen Mittel- und Ringfinger auf ein Buchcover von Houellebecqs Elementarteilchen angespielt. Vgl. C. v. Treeck, S. 240. Hinzu kommt mit den auf den SkandalAutor wartenden Kamerateams »eine Anspielung auf einen realen Vorfall: Bei einem Houellebecq-Abend, der im Oktober 2000 an der Berliner Volksbühne stattfand, wartete man auf den Stargast des Abends vergebens. Denn dieser traf infolge eines Staus auf der Autobahn oder – wie andere Zeitungen später zu berichten wussten – wegen Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen erst mit mehrstündiger Verspätung in Berlin ein. Wie dem auch sei – es ist unverkennbar, dass die Figur des Skandalautors in Schundroman von Michel Houellebecq inspiriert ist.« C. v. Treeck, S. 241.
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traurige Haut« (SR 139), gesorgt, so ergibt sich aus dieser Beschreibung ein zumindest in zwei Richtungen aufgespaltener Referenzhorizont. Erstens kommt mit dem Titel ›Die traurige Haut‹ die Kirchhoff-Erzählung Die Einsamkeit der Haut von 1981 in den Blick. Bemerkenswert ist dies insofern, als Ollenbeck, von dem es heißt, er habe »den Sex ans Licht der Welt geholt wie keiner zuvor« (SR 207), auf einer Lesung von Helens Tochter Nola explizit als plagiierender Akteur entlarvt wird: »›Das ist doch alles nicht neu, was wir da hören, so hat längst einer vor ihm geschrieben‹« (SR 197). Dieser andere Autor ist Branzger, den nicht nur die Forschung als alter ego des Autors liest, sondern der auch sowohl als Person in den Legenden um den eigenen Körper als auch als Figur in diversen Texten Kirchhoffs anzutreffen ist.203 In dieser Hinsicht kommt in der Konstellation Branzger/Ollenbeck Kirchhoffs Anspruch zum Ausdruck, »in seinen Werken lange vor Houellebecq die betreffenden Themen literarisch behandelt zu haben«.204 Der Schundroman erweist sich in dieser Perspektive als Medium einer auf Houellebecq gerichteten literaturbetrieblichen Abrechnungsgeste, um so nicht zuletzt zu unterstellen, dass die am Medienphänomen des französischen Autors beteiligten Literaturbetriebsakteure, Autoren und Kritiker, stillschweigend darüber übereingekommen seien, die ›Wahrheit‹ über Ollenbecks/Houellebecqs Plagiat nicht zu benennen. Die Akteure ließen sich vielmehr von »sachfremden Motiven« 205 der öffentlichen Stimmung um einen medial gehypten Skandalautor leiten. Dass es sich bei Plagiaten um »falsche Aneignungen« 206 handelt, die »die Figur des Autors, dessen Werkherrschaft« 207 aufs Spiel setzen, hebt auch und gerade der andere mit Ollenbeck verbundene Referenzhorizont hervor. Zweitens spielt der Text mit der zitierten Figurenzeichnung nämlich auf das von Spiegel-Redakteur Volker Hage Mitte der 1990er Jahre eher beiläufig geprägte Etikett des ›literarischen Fräuleinwunders‹ an. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass dieses gerade nicht für ein bestimmtes literarisches Programm steht, sondern auf eine Literaturvermarktung fokussiert, »die vorzugs-
203 Siehe LK 39. Vgl. speziell dazu Carlo Brune u. Lena Kraemer: KirchHoffmanns Sandmänner. Identitäts- und Körperkonstruktionen in den gleichnamigen Texten Der Sandmann von E. T. A. Hoffmann und Bodo Kirchhoff. In: E. T. A. Hoffmann Jahrbuch 14 (2006), S. 107–123. Siehe darüber hinaus auch Bodo Kirchhoff: Wo das Meer beginnt. Roman. Frankfurt a. M. 2004. 204 C. v. Treeck, S. 254. 205 C. v. Treeck, S. 246. 206 Martin Doll: Plagiat und Fälschung: Filiationen von Originalität und Autorschaft. In: Jochen Bung u. a. (Hg.): Plagiate. Fälschungen, Imitate und andere Strategien aus zweiter Hand. (Beiträge zur Rechts-, Gesellschafts- und Kulturkritik 10) Berlin 2011, S. 35–51, hier S. 36. 207 Doll, S. 36.
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weise über die Person der Autorinnen vorgenommen wird«.208 Der Schundroman konvergiert dieses Etikett in gender-Perspektive und weist Ollenbeck/ Houellebecq als das Produkt geschickter Marketingstrategien aus, dem keine literarische Autorschaft korrespondiere. Konkretisiert der Text das von Kirchhoff vor allem in den Frankfurter Poetikvorlesungen diagnostizierte Dilemma eines jeden Autors, unweigerlich der literaturbetrieblichen Aufmerksamkeitsökonomie ausgesetzt zu sein, als innerfiktionale Ollenbeck/Branzger-Konstellation, um diese über den Text hinaus in eine Rückeroberung an auktorialer Handlungsfähigkeit zu transformieren, droht der Schundroman indes gleichzeitig in den Kontexten eines »außerliterarischen Zweck[s]« 209 aufzugehen, sich mithin als eben jener literaturbetrieblicher ›Schund‹ zu erweisen, den er thematisiert. Dem völligen Abdriften in die Form einer auktorialen ›Abrechnung‹ mit Rezeption und Inszenierung Houellebecqs steuert der Text denn auch dezidiert entgegen. So betont die Forschung, dass Kirchhoff mehr oder weniger souverän mit diversen Genre-Elementen zu spielen wisse, ja der Roman sich nicht nur als eine »Parodie« 210 des Kriminalromans erweise, sondern zudem insgesamt eine »kritische Brechung der Schund-Produktion« 211 vollziehe. Und so sind es zunächst nicht zuletzt die Figurenzeichnungen Ollenbecks und Campus’, die verdeutlichen, dass der Text darum bemüht ist, eine selbstreflexive Ebene in seinem discours zu etablieren. In die Charakterisierung des Skandalautors, hinter dem sich bereits innerfiktional der Kriminelle Zidona verbirgt, sind nämlich Verschiebungen von der französischen ›Vorlage‹ eingelassen, die die Figur in ihrem fiktiven Status ausstellen und deutlich machen, dass Ollenbeck »nicht einfach und ausschließlich als literarische Transposition Houellebecqs aufgefasst werden« 212 kann. So sehr sich die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischer Tätigkeiten als »Identität, Authentizität und Originalität« 213 zersetzend erweisen, so sehr setzt der Text collagenartig zusammengefügte Figuren in Szene – ein Verfahren, das vielleicht an Vanilla Campus am augenscheinlichsten wird. So lässt sich die Debütantin im literarischen Bereich nämlich keineswegs auf eine ein-
208 Katrin Blumenkamp: Das »Literarische Fräuleinwunder«. Die Funktionsweise eines Etiketts im literarischen Feld der Jahrtausendwende. (Literatur – Kultur – Medien 12) Berlin 2011, S. 386. 209 G. M. Rösch, S. 7. 210 C. v. Treeck, S. 240. 211 A. S. Brasch, S. 26. 212 C. v. Treeck, S. 249. Das wohl augenscheinlichste, von der Forschung hervorgehobene Element ist dabei der Umstand, dass es sich bei Ollenbeck um einen deutschen Schriftsteller handelt. 213 A. Bartl, Erstochen, erschlagen, verleumdet, S. 497.
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zige Person der massenmedial konstruierten, außertextuellen Realität referenzialisieren, wie sich an der durchaus heterogenen feuilletonistischen Rezeption ablesen lässt. Diese entdeckt hinter Campus nämlich wahlweise Verona Feldbusch, die ehemalige Tagesschau-Sprecherin Susan Stahnke oder gar die Französin Catherine Millets.214 Um die Spezifik des vom Schundroman betriebenen ›Spiels mit dem Schund‹, also des selbstreflexiv-souveränen Umgangs mit dem gegen die ›eigentliche‹ Literatur gesetzten sekundären Formen des Literatursystems näher beschreiben zu können, ist ein Blick in eine amazon-Kundenrenzension zu Kirchhoffs Roman aufschlussreich. Also mir hat dieses Buch im Großen und Ganzen sehr gefallen, der Schreibstil ist flüssig und die Geschichte macht einfach Spass. Als ausgewiesener Schund-Aficionado muss ich allerdings sagen, dass ich zuerst fast ein wenig enttäuscht war, denn der Roman hält in dieser Richtung nicht ganz, was das billige Groschenroman-Cover »verspricht«. Will sagen, die Figuren haben durchaus Tiefe und die Story ist geradezu vielschichtig, also es ist eher ein veritabler sarkastischer Thriller, der aber gekonnt mit Schund-Stereotypen spielt, wie in den vielfältigen Resumeés hier ja schon beschrieben wurde. Das FrankfurtFlair fand ich als Ortskundiger auch sehr schön rübergebracht. Allein etwas genervt hat mich die doch in diesem Umfang etwas fehl am Platz scheinende Passage auf der Buchmesse, die den zeitgenössischen Literaturbetrieb und dessen vermeintliche Lichtgestalten auf die Schippe nimmt, und die wirklich sichtlich mit Gewalt in die Story hineigezwängt wurde, weil Kirchhoff das wohl unbedingt loswerden wollte. Aber in einem Schundroman darf man das, finde ich, und andere abgedrehte Szenen entschädigen dicke dafür. Also man kann meiner Meinung nach mit dem Kauf dieses Buches nichts falsch machen.215
Durchaus pointierter als die feuilletonistische Rezeption des Romans benennt amazon-Kunde ›El Hongo‹ in seinem kurzen Online-Warentest – darin durchaus untypisch für gewöhnlich auf Figuren und Handlungsführung fokussierte Rezensionen auf amazon216 – eben jene Formelemente, die das Schreibverfahren von Kirchhoffs Schundromans kennzeichnen. Es sind dies erstens die Enttäuschung der Genre-Erwartung des Lesers; zweitens der auktorial-souveräne Umgang mit ›Schund-Stereotypen‹; und drittens das Verhältnis der Kriminalstory zu den Szenen im Literaturbetrieb (die ›mit Gewalt in die Story hineingezwängten‹ Literaturbetriebspassagen).
214 Vgl. H.-J. Knobloch, S. 220. 215 http://www.amazon.de/product-reviews/3627000951/ref=cm_cr_pr_hist_4?ie=UTF8& filterBy=addFourStar&showViewpoints=0 (05. 05. 2012). 216 Vgl. zu Form und Funktion von amazon-Kundenrenzension insbesondere Thomas Wegmann: Warentest und Selbstmanagement. Literaturkritik im Web 2.0 als Teil nachbürgerlicher Wissens- und Beurteilungskulturen. In: Matthias Beilein u. a. (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. Berlin u. Boston 2011, S. 279–291, hier S. 287.
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Zunächst ist die Beobachtung, die Passagen über den Literaturbetrieb seien ›unpassend‹, insofern hilfreich, als sie auf ein nicht zu unterschätzendes verfahrenstechnisches Formelement des Textes hinweist. Dass Kirchhoffs Roman, konzentriert man sich auf die Ebene der histoire, überhaupt die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens thematisieren muss, verdankt sich nämlich letztlich einem Zufall: Hold möchte seiner Flugbekanntschaft Lou helfen und am Frankfurter Flughafen für ein kleines Durcheinander sorgen, so dass Lou dem »Kerl, der mich beschatten soll« (SR 27), unentdeckt entfliehen kann. Dazu lässt er seinen Ellenbogen auf der Nase eines älteren Herrn »landen« (SR 35), ohne dabei zu wissen, dass es sich um Starkritiker Freytag handelt – und mehr: Als der Kritiker verstirbt, entwickelt sich eine massenmedial vorangetriebene, von Hold völlig losgelöste Suche nach dem Täter. Da hatte er also, weiß Gott ohne Absicht, diesen Kritiker um die Ecke gebracht, mit einem einzigen Rempler, der nur für Nasenbluten und Geschrei sorgen sollte, mehr nicht, und das Ganze wiederum nur, um Lou aus der Klemme zu helfen, mit der Folge, daß er viel zuviel an sie dachte, und jetzt auch noch das. Beruhigend war höchstens, daß es am Tatmotiv keinen Zweifel zu geben schien. Die Kriminalpolizei suchte nach Autoren, die der berühmte Mann in seiner Laufbahn, wie es hieß, niedergemacht habe, ein Mann immerhin, dessen Name und Profession, dank Deutscher Welle, bis nach Manila gedrungen war, auch wenn sich Hold unter diesem Beruf nichts Rechtes vorstellen konnte. (SR 44)
Und darüber hinaus weiß der Leser von Anfang an, dass es sich bei dem von den Massenmedien unterstellten Amoklauf eines Autors um einen dem Zufall geschuldeten Unfall handelt. Dadurch erhält die literaturbetriebliche Aufregung, wie sie der Roman thematisiert, nicht nur eine satirische Note; sie wird zudem in ihrer ganzen Absurdität und Irrelevanz ausgestellt, ja der »Rachemord an Louis Freytag« (SR 78), der sich zu einer »Nationale[n] Tragödie« (SR 78) ausweitet, als ›nichts‹ als eine massenmediale Konstruktion herausgestellt. Um das damit verknüpfte ›kurzweilige Roman/Schund-Gemisch‹ (so der Titel von ›El Hongos‹ amazon-Rezension) herzustellen, knüpft der Text mit seiner Selbstetikettierung als ›Schundroman‹ zunächst an einem Wertungsdiskurs als »Zugänglichkeitsdiskurs[ ]« 217 an, der über die Vorstellung einer »bewusst assoziierten und kommunizierten Allzu-Zugänglichkeit« 218 die Exklusivität eines sozialen Bereichs (im Falle Kirchhoffs der Literatur) bedroht sieht. Dem
217 J. Genz, S. 62. 218 J. Genz, S. 65. Siehe dazu auch in systemtheoretischer Perspektive Urs Stäheli: Das Populäre in der Systemtheorie. In: Günter Burkart u. Gunter Runkel (Hg.): Luhmann und die Kulturtheorie. Frankfurt a. M. 2004, S. 169–188.
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›Schunddiskurs‹ geht es dabei im Besonderen um »moralische und körperliche Reinheitsvorstellungen, die sich vor allem gegen Darstellungen von Sexualität und Erotik richten«.219 Insofern dieser Wertungsdiskurs der Bedrohung durch ›Schund‹ die Vorstellung von ›Reinheit‹ gegenüberstellt, lässt sich das von der Forschung betonte »spöttische[ ] Spiel mit dem Schund« 220 mit Elementen einer betrieblich ›verdorbenen‹ Literatur als ein Akt literarischer ›Reinigung‹ mittels »Zugänglichkeitsmarkierungen« 221 verstehen. Von besonderer Relevanz ist dabei, dass literaturbetrieblicher ›Schund‹ konventionell »nicht mit Autorschaft in Verbindung gebracht« 222 wird, sondern sich als ›Produkt ohne Produzent‹ präsentiert. Geht man mithin von der Differenzierung zwischen ›Heftchenroman eines anonymen Autorenkollektivs‹ einerseits und ›Hochliteratur eines exklusiven Autors‹ andererseits aus,223 so lässt sich vermuten, dass der Schundroman sich vor allem über die Explikation seiner Autorschaft zu ›reinigen‹ vermag. Und tatsächlich lassen sich mit Blick auf die Forschung zwei auktorial gerahmte Verfahren unterscheiden, mit denen sich der Text gegen die von ihm selbst als problematisch bestimmten sozialstrukturiellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens stämmt: Erstens koppelt der Schundroman die Frage nach der betrieblich bedrohten ›Identität‹ seiner Figuren mit einer »spielerische[n] Transtextualität«,224 die ihn in einem intertextuell entworfenen Strukturzusammenhang mit anderen, sowohl high als auch low codierten literarischen und filmischen Werken verortet;225 und zweitens trifft der Leser wiederholt auf solche Passagen, in denen sich der auktoriale Erzähler dezidiert als lenkender Kommentator des Geschehens zu erkennen gibt. Beide Elemente sorgen dafür, dass der Schundroman sich als Werk eines literarisch versierten Autors in Szene zu setzen bemüht. Mit Blick auf die intertextuelle Selbstverortung des Romans ist zunächst auffallend, dass bereits der Buchumschlag – ›El Hongo‹ weist mit seiner Erwar-
219 J. Genz, S. 83. Die Schmutz- und Schunddebatte konzentriert sich auf Darstellungen von Gewalt, Sexualität und Erotik und kreist um die Vorwürfe, den Wirklichkeitssinn zu zerstören, Autoritäten zu untergraben, Normen zu verletzen sowie Sinnlichkeit zu entfesseln. 220 A. S. Brasch, S. 26. 221 J. Genz, S. 107. 222 J. Genz, S. 102. 223 Vgl. J. Genz, S. 102. 224 A. Bartl, Erstochen, erschlagen, verleumdet, S. 496. 225 Zur Unterscheidung zwischen high und low codierten Kulturpartikeln siehe Thomas Hecken: Bestimmungsgrößen von high und low. In: Thomas Wegmann u. Norbert Christian Wolf (Hg.): »High« und »low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 130) Berlin u. Boston 2011, S. 11– 25.
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tungshaltung implizit darauf hin – an spezifischen, gewöhnlich low codierten Genre-Elementen anknüpft. So ist auf dem Buchumschlag des Romans nicht nur der Ladenpreis als Button aufgedruckt und mit der Exklamation »Ungekürzte Originalfassung!« (SR Buchcover) versehen. Das Cover ist zudem einem Titelbild des amerikanischen True Crime Magazine von 1949 nachempfunden, um auf diese Weise einen Bezug zur »amerikanische[n] Pulp Fiction der dreißiger und vierziger Jahre« 226 herzustellen. Während das mit »B. K., März 2002« (SR unpaginiert) unterzeichnete Vorwort darauf verweist, dass der Autor die »Lust auf eine Gangsterstory mit der Variante des zufälligen Anfangsopfers auf einem Flughafen« (SR unpaginiert) einem Buch von Charles Willeford (Miami Blues) verdanke, führt das auf dem Buchcover platzierte Zitat »›Warum tut lieben mehr weh als Töten?‹ (Willem Hold)« (SR Buchcover) in eine um den Protagonisten des Romans sich konzentrierende Selbstreferenzschleife, die den Roman gegen die Betriebsbedingungen, die er thematisiert, gleichsam verfahrenstechnisch abschließt. Denn gewöhnlich handelt es sich bei solchen Zitaten um Äußerungen von Kritikern oder Prominenten, mit denen ein Roman marketingstrategisch für sich wirbt. Das vom Schundroman in diesem Zusammenhang verwendete Verfahren lässt sich insbesondere an dem Preisschild »A 19,80« (SR Buchcover) verdeutlichen. Könnte man dieses wie die anderen Formelemente des Buchcovers als partiell zusammengesetzte ready mades verstehen, ist in dieser Lesart zunächst wichtig, dass die Preisangabe auf dem Umschlag keinem Aufkleber entstammt, der als Etikett von einem anderen, realen Bestseller entfernt, auf den Buchumschlag von Kirchhoffs Text wieder aufgeklebt und dann als Kirchhoffs Titel reproduziert worden ist. Das Preisschild ›A 19,80‹ ist vielmehr das »Ergebnis höheren Abschreibens«,227 das heißt ein computertechnischer Kopierakt, bei dem der Preis als peritextuelles Etikett nur als konzeptioneller Ausgangspunkt fungiert. Seine Form findet die so auf Kirchhoffs Roman platzierte Preisangabe darin, dass er die vermittelnde Preisangabe ›A 19,80‹ abschreibt, damit dekontextualisiert und dann als Formelement des Schundromans rekontextualisiert und für die Selbstprogrammierung des Textes umfunktionalisiert. Auf diese Weise verdeutlicht der Schundroman, dass ein ready made grundsätzlich nicht ohne Beobachter zu haben, sondern notwendigerweise das Ergebnis einer Zuschreibung ist, ja sich im vorliegenden Fall gar als Ergebnis eines intertextuel-
226 Vgl. H.-J. Knobloch, S. 222. 227 Thomas Wegmann: So oder so. Die Liste als ästhetische Kippfigur. In: Thomas Wegmann u. Norbert Christian Wolf (Hg.): »High« und »low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 130) Berlin u. Boston 2011, S. 217–231, hier S. 228.
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len Zitats erweist: Denn das Preisschild findet sich bereits auf dem Filmplakat des »wichtigste[n] Motivbruchstein[s]« 228 von Kirchhoffs Roman: Quentin Tarantinos Film Pulp Fiction. Und tatsächlich schreibt sich Kirchhoffs Schundroman »ganz direkt in Tarantinos Welt ein«,229 um auf diese Weise eine »Kontrafaktur des TarantinoKlassikers« 230 zu präsentieren. Dabei erscheint der Text, der sich die deutsche Übersetzung von Tarantinos Filmtitel als Buchtitel gibt, gleichsam als »Neumontage der im Film motierten Szenen, Zitat von Zitaten von Zitaten«,231 die sich im Überblick in Analogien die jeweilige discours-Ebene betreffend ergeben. So setzt zum einen sowohl Pulp Fiction als auch Kirchhoffs Roman eine Zentralfigur in Szene, »die mit allen anderen in Beziehung tritt«.232 Zum anderen ist in beiden Fällen die Narration auf die Interaktion zwischen Figurenpaaren reduziert (Hold/Lou, Feuerbach/Helen etc.). Und darüber hinaus korrespondiert nicht zuletzt die vom Schundroman erzeugte Doppelstruktur zwischen Oberfläche und unterliegender Bedeutung, wie sie für die Charakterisierung der thematisierten Literaturbetriebsakteure wesentlich ist, Tarantinos Verfahren, das Image der Schauspieler in den Film zu inkludieren.233 Während »John Travolta’s self-reflexive gangster version of his role in Saturday Night Fever« 234 im Zeichen der Enthierarchisierung des Gangster-Genres steht und verdeutlicht, dass »as the gangster genre has pervaded popular culture it has been pervaded in reverse«,235 kollabiert in Kirchhoffs Roman zum einen mit Blick auf die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur die Trennung zwischen realer und fiktionaler Realität. Zum anderen verwendet auch der Schundroman analog zu Pulp Fiction die Figur des Gangsters Hold »more as a style or a representation of a glamorised simulation of individuality«.236 Dass der Text sich auch auf der Mikro-Ebene zu Pulp Fiction in Bezug setzt, lässt sich mit Blick auf zwei Elemente verdeutlichen. Erstens ist das erste Aufei-
228 Oliver Jungen: Mea maxima pulpa. Bodo Kirchhoffs Schundroman. In: Gert Theile (Hg.): Das Schöne und das Triviale. (Weimarer Editionen) München 2003, S. 211–232, hier S. 226. 229 O. Jungen, S. 226. 230 O. Jungen, S. 226. 231 O. Jungen, S. 226. 232 O. Jungen, S. 227. 233 O. Jungen, S. 227. Jungen versteht diese Analogie dann als im Schundroman provozierte »Eindeutigkeit« der Bezugnahme des Textes auf seine sozialstrukturellen Rahmenbedingungen. 234 Fran Mason: American Gangster Cinema. From Little Caesar to Pulp Fiction. Basingstoke u. a. 2002, S. 16. 235 F. Mason, S. 161–162. 236 F. Mason, S. 162.
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nandertreffen zwischen Hold, Helen und Feuerbach in einem Restaurant interessant. Der Maskierte schien für eine Sekunde verwirrt, er sah zur Tür, die er fast erreicht hatte, dann auf sein Opfer, und dieses Hin und Her reichte Feuerbach, um sich die Flasche zu greifen. Alles Weitere ging so schnell, daß es jeden durchschnittlichen Filmregisseur zum Mittel der Zeitlupe verführt hätte. Willem Hold schoß nämlich auf Feuerbach und traf die Flasche, ein Zufall, aber kinoreif, während der nächste Shcuß, am Knie vorbei, sicher gesessen hätte, wäre da nicht schon die Flasche, am Boden scharfkantig abgerissen, auf ihn zugesaust. Sie traf sein verhülltes Gesicht, ihre längste Spitze drang durch die Wollmütze und die darunterliegende Wange, ehe die Flasche oder ihr Rest einfach herunterfiel und zerschellte, während sich Hold, reflexhaft, an die durchbohrte Wange griff, wofür nur die Hand mit der Beutetüte in Frage kam, nicht die Hand mit der Waffe. Die Tüte fiel also zu Boden, und Helen, geistesgegenwärtig, kickte sie unter den Tisch des Erschossenen. »Nicht schlecht«, flüsterte Feuerbach, ehe es still wurde in dem kleinen Lokal, totenstill. (SR 59–60)
Bedeutsam ist diese Szene nicht nur insofern, als ihr discours auf filmische Verfahren zurückgreift und diese auch explizit thematisiert (›kinoreif‹). Tatsächlich setzt Tarantinos Film einen ganz ähnlich strukturierten Überfall in einem Restaurant als Prolog des Films in Szene. Die Analogien ergeben sich dabei einerseits durch Details wie die ›Beutetüte‹, andererseits in dem unwissentlichen Aufeinandertreffen der Protagonisten (bei Tarantino sind dies Vincent, Jules, Pumpkin und Honey Bunny). Zweitens lässt sich die Bezugnahme des Schundromans auf Pulp Fiction über den im Film eingeführten Son Of A Preacher Man von Dusty Springfield verdeutlichen. Springfilds Song wird nämlich auch im Text an zwei Stellen explizit benannt. Neben einer Szene im ersten Drittel des Romans237 ist insbesondere eine Szene relevant, die sich als gleichsam literarisch-narrativer Nachbau der filmischen Vorlage verstehen lässt: [...] auf dem Sofa lag eine Zeitschrift, TV/Spielfilm, neben einer alten Single-Platte, Son Of A Preacher Man. Und auf dem Sofa lagen zwei Kleidungsstücke, das weiße Herrenhemd, das Lou im Flugzeug getragen hatte, zerrissen, sowie ihr glänzend roter Mantel. (SR 191)
Situiert sich Pulp Fiction nicht nur im Gangster-Genre, sondern ruft Bezüge »from a range of texts and popular cultural artefacts« 238 auf, so handelt es
237 Die erste Szene lautet wie folgt: »[...] und sie wollte gerade, zur Feier des Augenblicks, Musik anmachen, Dusty Springfield – beste Hinterlassenschaft eines GI-Vaters –, als ihr Handy tönte, ebenfalls Dusty, der Anfang von Son Of A Preacher Man, garaniert einmalig« (SR 72–73). 238 F. Mason, S. 161.
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sich beim Schundroman um eine Bezugnahme dritter Ordnung auf eben diese populärkulturellen Elemente. Der Text bezieht sich zum einen auf Springfields Song von 1968; zum anderen setzt er diese Referenzialisierung aber in einen szenischen Kontext, der die Bezugnahme Pulp Fictions auf ›denselben‹ Realitätspartikel der Popkultur immer auch mitdenken lässt. Dementsprechend setzt sich die zitierte Passage auch wie folgt fort: Dort trat er vor den Plattenspieler und versuchte sich zu erinnern, wie so ein Gerät funktionierte, wenn die Platte nicht groß war, keine LP, sondern klein, doch kam nur darauf, wie die alte Single begann. The only one who could ever reach me was the a [sic!] son of a preacher man, damm damm, sang er leise und griff dabei nach der Fernbedienung. (SR 193)
Einerseits inszeniert der Schundroman hier eine Szene, die sich in Analogie zu der um die Überdosis Heroin von Mia Wallace strukturierten Episode in Pulp Fiction setzt. Andererseits wird diese Bezugnahme (›weißes Herrenhemd‹, ›Plattenspieler‹; männlich-weibliches Figurenpaar: Hold/Lou) aber im Text insofern als Intertext markiert, als Kirchhoffs Roman Verschiebungen in die intertextuelle Anspielung einbaut, um sie für seine um Hold fokussierte Narration nutzen zu können. Repräsentiert Pulp Fiction sich als »a radical hybridisation of both film texts and culture«,239 so greift Kirchhoffs Roman auf eben diese Struktur zurück, um sie als Medium in einer weiteren Reflexionsschleife für seine eigene Formbildung zu verwenden: Es geht nicht nur um den Einbau von ›Schundelementen‹, sondern um den Rückgriff auf ein Verfahren, das selbst bereits selbstreflexiv-spielerisch mit ›Schund‹ umzugehen weiß. In diesem Sinne lässt sich Pulp Fiction als ein wesentlicher Baustein des vom Schundroman in Szene gesetzten »Gebäude[s] der Selbst- und Fremdzitate« 240 verstehen. Die Forschung hat darauf hingewiesen, dass Kirchhoff gleichsam ›Spuren über Spuren‹ »legt (und verwischt dadurch) [...], die harmlos beginnen, wenn der Kommissar Feuerbach oder der Kritiker Freytag heißen.« 241 So fordere Hold gegen Ende nicht nur im Kohlhaas-Ton »Gerechtigkeit« (SR 294), sondern erweise sich jenseits der Assoziation eines Groschenheft-Helden als durch Partikel von Werken unter anderen von Godard, Augustinus, Becket und Brecht zusammengesetzte Figur, die zum Frankfurter Franz Biberkopf aus Döblins Berlin Alexanderplatz mutiere.242 Dass der Leser mithin »trotz Schund-
239 F. Mason, S. 162. 240 A. Bartl, Erstochen, erschlagen, verleumdet, S. 495. Siehe dort auch für weitere intertextuelle Verweise im Schundroman. 241 O. Jungen, S. 224. 242 Vgl. O. Jungen, S. 224.
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grundierung und Textwucht der Intellektualität nicht [entkommt; DCA]«,243 ist mit Blick auf die Explikation der ›hinter‹ dem Text stehenden literarischen Autorschaft Kirchhoffs gleichwohl der entscheidende Punkt. Denn auf diese Weise wird den ohnehin souverän-selbstreflexiv zusammengestellten low codierten Verfahrenselementen des Textes ein dezidiert in high-Bereichen situierter Gegenpol forciert entgegengestellt. Auffallend ist deshalb nicht zuletzt die »literarische Interaktion« 244 des Schundromans mit anderen Texten des Autors. Neben dem aus einem ›Filmtagebuch‹ Kirchhoffs bekannten Manila-Komplex tritt dabei insbesondere Branzgers Novelle ›Salò‹ (vgl. SR 67) hervor. Während diese in der Forschung üblicherweise als intertextueller Verweis auf Kirchhoffs erste Novelle Ohne Eifer, ohne Zorn gelesen wird,245 stellt der Titel der innerfiktionalen Novelle gleichwohl auch einen Bezug zu einem ganz anderen Text her: nämlich zu Pasolinis letztem, im Jahr seines Todes (1975) fertiggestelltem und als skandallös rezipiertem Film Salò oder Die 120 Tage von Sodom, der – weil er die Grausamkeit und Perversion des Faschismus anprangert – in Italien auf den Index gesetzt wird. Der Titel des Films, wie ihn der Schundroman nutzt, bezieht sich dabei auf den alltestamentlichen Abfall von Gott, den der Film mit seiner durch Gewalt- und Sexualphantasien geprägten Bildersprache als das Zurückweisen von allen moralischen Wertmaßstäben inszeniert.246 Branzgers Novelle wird also nicht nur von Ollenbeck vermeintlich plagiiert, sondern steht zudem in einem hochkulturellen Zusammenhang künstlerischer Autonomie. Der Effekt dieses Schreibverfahrens, in dem sich neben dem Einbau von Genre-Elementen die breit angelegte »Höhenkammlinien« 247 durchkreuzen ist ein zweifacher: Mit Blick auf den Text inszenieren die Zitate und inner- wie intertextuellen Verweise erstens sowohl den Roman als auch die in ihm thematisierten Identitätsentwürfe als einen »Akt der Literatur, der Sprache«.248 Zweitens folgt aus dem Schreibverfahren, dass der Autor Kirchhoff sich als »oberster Ordner« 249 in Szene setzen kann, der über die Unterscheidung zwischen high und low hinweg sein literarisches Projekt souverän zu kontrollieren weiß.
243 O. Jungen, S. 224. 244 A. Bartl, Erstochen, erschlagen, verleumdet, S. 495. 245 Siehe C. v. Treeck, S. 245. 246 Vgl. speziell dazu Martina Wagner-Egelhaaf: Autorschaft als Skandal. Matthäus – Pasolini – Stadler. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85 (2011), Nr. 4, S. 585–615, hier S. 611. 247 O. Jungen, S. 224. 248 A. Bartl, Erstochen, erschlagen, verleumdet, S. 498. 249 O. Jungen, S. 223.
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Damit kommt das zweite Verfahrenselement in den Blick, mit dem der Roman die Explikation seiner literarischen Autorschaft sicherzustellen versucht. Betont die Forschung, dass für die »kritische Brechung der Schund-Produktion [...] der Erzähler [...] von zentraler Bedeutung« 250 ist, erweist sich in diesem Zusammenhang zunächst der Hinweis darauf als hilfreich, dass Skandalautor Ollenbeck »ein Künstler der ›Zerstreuung‹« 251 sei. In einem Interview mit Uwe Wittstock in der Neuen Rundschau von 1993 führt Kirchhoff mit Goethes Wahlverwandtschaften die Unterscheidung von ›Unterhaltung‹ und ›Zerstreuung‹ ein. Demnach dienen die typischen amerikanischen Action-Romane [...] der bloßen Zerstreuung. In diesen Büchern wird nie verweilt, diese Bücher haben, möglichst von Anfang an, ein hohes Erzähltempo, das den Leser auf nichts hinlenkt, sondern ihn nur von sich selbst entfernt, um ihn in eine Story zu schubsen. Deshalb betreiben diese Romane im wörtlichen Sinne Zerstreuung. Dagegen nimmt die unterhaltende Literatur, wie ich sie verstehe, den Leser an die Hand – nicht eisern, aber doch spürbar –, um ihn im Laufe der Lektüre auf etwas zu lenken, was nicht unbedingt von Anfang an seine Sache ist, was aber seine Sache durch das Buch werden kann.252
Während unterhaltsame Literatur für Goethe »eine auf das Menschliche hinlenkende Form der Darstellung« 253 sei, lasse sich in ›zerstreuender‹ Literatur eben diese lenkende Instanz nicht finden. Bemerkenswert ist dies insofern, als in der Tat im Schundroman ein »schnoddrig-auktoriale[s] Einsprechen des Erzählers« 254 zu finden ist, das neben kleineren, beinahe aphoristischen Kommentaren255 zumeist zu Kapitelbeginn platzierte längere Kommentare des Erzählers umfasst. So heißt es etwa zu Beginn von Kapitel 22 wie folgt: Schönheit sieht man in der Regel nicht, man spürt sie eher, wie man die Sympathie oder Wärme des anderen spürt, aber nach einem ersten Erwachen, wenn plötzlich Sonne ins Zimmer fällt, ein Streifen auf dem Gesicht neben einem, kann sie ins Auge springen, daß man kaum hinzuschauen wagt, als könnte man etwas kaputtmachen mit seinem Blick. (SR 107)
Hier wie an anderen Stellen (vgl. zum Beispiel auch SR 234, 247) dienen diese Passagen, die sich als »Kommentare des Erzählers zum Erzählverfahren« 256 250 A. S. Brasch, S. 26. 251 A. Bartl, Erstochen, erschlagen, verleumdet, S. 499. 252 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 75. 253 B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 74. 254 O. Jungen, S. 224–225. 255 »Liebe bedarf keiner Kulisse, außer im Fernsehen, sie bedarf nur der Beteiligten und der Zeit [...].« (SR 126) 256 A. S. Brasch, S. 26.
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verstehen lassen, dazu, den Text in eine Schiene der ›Unterhaltung‹ zu lenken, mithin den Leser aus der ›Zerstreuung‹ zu ziehen, denn »[n]ur der Narration entspringen ein Identitätskonzept, Gesetzmäßigkeit und Kontinuität«,257 die den Text mit literarischen Mitteln vor ›Schund‹ zu ›reinigen‹ verstünden.
3.2.3 Goethe-Roman und Hämorrhoidenrenner Auch der Ich-Erzähler in Kirchhoffs Roman Erinnerungen an meinen Porsche (2009) unterstreicht immer wieder sein verschlüsselndes Erzählen, ja zwingt gewissermaßen dazu, die von ihm angesprochenen »einstigen Lichtgestalten« (EP 33) als auf ›realen‹ Vorbildern basierend zu lesen.258 Der Text entnimmt massenmedialen Kontexten die Images von ›realen‹ öffentlichen Personen und verwendet diese im Modus der für Schlüsselliteratur typischen »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung« 259 für die Figurencharakterisierung der »Waldhauspatienten« (EP 148). Ich hatte mich für einen schwarzen Kaschmirpulli und sandfarbene Leinenhosen entschieden – in etwa auch die Geraderobe der Schmauch –, der Exvorstand, den sein Name verfolgte, dagegen für ein sommerliches Jackett mit Halstuch; keiner war korrekter gekleidet, bei jedem Anlass, und doch erinnerte er stets an den römischen Verschwörersenator im Hollywoodfilm. Und der falsche Senator, wie ich ihn nennen will, nahm auch noch neben mir Platz, an seiner anderen Seite der schwule Volkssängerstar, kurz: die Volksschwuchtel, auch wenn man mir den Ausdruck übel nehmen könnte. (EP 57)
Wie auch der Schundroman verdichten die Erinnerungen die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens mit einem discours, der auf einzelne Betriebsakteure – hier Bestsellerautorin Helen und Starautor Truchseß – sowie weitere, insbesondere massenmedial anschlussfähige Akteure setzt, die in einem relativ beschränkten Handlungsrahmen »interpersonal-interaktionistisch« 260 in Szene gesetzt werden. Und so hatte man es ständig mit irgendwie bekannten Gesichtern zu tun, von früheren Moderatorinnen, die immer noch Talkrunden suchten, über junge Models, die alles schon
257 A. Bartl, Erstochen, erschlagen, verleumdet, S. 498. 258 Das Kapitel nimmt Überlegungen wieder auf, die ich an anderer Stelle skizziert habe. Siehe Verf.: Extrinsisch oder was? Bodo Kirchhoff und Andreas Maier auf dem Markt der Aufmerksamkeit. In: Matthias Beilein u. a. (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 129) Berlin u. Boston 2011, S. 239–259. 259 G. M. Rösch, S. 7. 260 J. Link, Ein ›Ground zero‹ des Kapitals, hier S. 49.
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hinter sich hatten, bis hin zu Exfußballgrößen, die vor sich hin murmelten, oder eben der Sportlerin des Jahres sowieso, jetzt am Bademantelzipfel eines hochstaplerischen Mitpatienten und düsteren Autors. Es war eine schillernde Ansammlung, schillernd wie altes Fleisch, und ein normaler, nur vermögender, nicht aber prominenter Patient stand in der Versuchung, bei Angehörigen und Freunden mit all den Namen Eindruck zu schinden. (EP 21–22)
Und so lässt sich, folgt man dem Feuilleton, natürlich immer irgendwie erahnen, »wen Kirchhoff [...] im Blick hat«.261 Denn auch wenn nicht alles »leicht zu dechiffrieren« 262 sei, sei »[n]icht schwer zu erraten, wer die realen Vorbilder [der Prominentenleichen; DCA] sind«.263 Kirchhoffs Personal speise sich geradezu aus »hinlänglich bekannten, kaum fiktionalisierten Gestalten der bunten Seiten, VIP-Empfänge und Tagesschau-Meldungen«.264 Die Figur der »jungen Schwester Helen« (EP 24) sei etwa unschwer als Verweis auf Charlotte Roche und deren Roman Feuchtgebiete zu erkennen. Die Deutsche Welle bestückt die fiktionale Realität schließlich gänzlich mit den ›realen‹ Personen der massenmedialen Öffentlichkeit Deutschlands, treten demnach doch »etliche Promis in Bodo Kirchhoffs Porschebuch auf: die Literaturkritikerin Elke Heidenreich, die ehemalige Tagesthemen-Moderatorin Sabine Christiansen und ein gefeierter Autor, der einen Goetheroman geschrieben hat. Das könnte Martin Walser sein.« 265 Doch auch wenn der »Ton des Ganzen [...] das ironische Spiel mit populärtrivialen Narrativen« 266 ist, ja der Text sich als »expandierter Herrenwitz« 267 zu erkennen gibt, hält zumindest die damit einhergehende klare Referenzialisierung auf mediale Figuren dem Text nur bedingt stand, denn die Unterscheidung zwischen den erzählten und den ›realen‹ Personen legt einen ›Blick hinter die Kulissen‹ frei, der sich bereits durch das Erzählen konstituiert. Der Text handelt nicht nur von den Prominenten und dem Leiden des Ich-Erzählers, sondern auch und gerade davon, wie jene in der und durch die Narration verund entschlüsselt werden. Das ist etwa auf der Ebene der histoire der Fall, wenn die Mutter des Ich-Erzählers einige »Prominentenleichen erkannt und
261 Jeanette Stickler: Ohne Scham. In: Der Tagesspiegel vom 3. März 2009. 262 Thomas Klingebiel: Tote Hose im Feuchtgebiet. In: Neue Westfälische vom 21./22. Februar 2009. 263 Michael Kluger: Noch ein »Schundroman«. In: Frankfurter Neue Presse vom 19. Februar 2009. 264 H. Liebs. 265 Heide Soltau: Bodo Kirchhoff: Erinnerungen an meinen Porsche. In: Deutsche Welle. http://www.dw-world.de/dw/article/0,,4061927,00.html (01. 08. 2010). 266 J. Link, Ein ›Ground zero‹ des Kapitals, S. 49. 267 J. Link, Ein ›Ground zero‹ des Kapitals, S. 49.
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[...] schon die Namen aussprechen« (EP 147) will. Die Warnung ihres Sohnes, bloß »keine Namen« (EP 147) zu nennen, ist dabei auch das Prinzip des IchErzählers selbst, der es nach eigener Aussage bei »Andeutungen« (EP 20) belassen muss, um rechtlichen Auseinandersetzungen zu entgehen. So finden sich denn auch im Zusammenhang mit den prominenten Patienten häufig Varianten des Ausdrucks »wie ich ihn nenne« (zum Beispiel EP 20), mit denen der Ich-Erzähler markiert, dass er mit den von ihm verwendeten Charakterisierungen auf eine bekannte Person anspiele, diese aber nicht namentlich nenne. Kursivierungen dieser parodierenden Umschreibungen verweisen darüber hinaus auch im Schriftbild auf das uneigentliche Sprechen des Ich-Erzählers (etwa EP 57). Die dem Erzählen scheinbar vorgängigen ›realen‹ Personen konstituieren sich mithin in der Narration des Ich-Erzählers selbst, so dass die Unterscheidung zwischen erzählter und ›realer‹ Person gewissermaßen in die Fiktion hineingezogen wird. Der Text verwendet die für Schlüsselliteratur typischen »Strategien der Verhüllung« 268 insofern als Medium für sein Erzählen. Hinzu kommen solche Verfahrenselemente, die gerade in der Aussicht auf Referenzialisierbarkeit der vom Ich-Erzähler entfalteten fiktionalen Realität eben jene wiederum unterlaufen. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist in diesem Zusammenhang der Auftritt »ein[es] leibhaftige[n] äthiopische[n] Prinz[en]« (EP 20), der im Waldhaus »aus seinem Buch über Manieren« (EP 20) liest. Letzteres findet sein reales Gegenstück in einer Publikation der vom Eichborn-Verlag übernommenen, von Hans Magnus Enzensberger betreuten, sich bezeichnenderweise dezidiert am autonomen Pol des literarischen Feldes selbst positionierenden Anderen Bibliothek. Die Debatte um Asfa-Wossen Asserates Manieren entspannt sich um Zweifel an der alleinigen Autorschaft des afrikanischen Prinzen und Unternehmensberaters. Vermutet wird, Martin Mosebach habe Asserate beim Lektorat mehr als geholfen, ja es sei »von einer zumindest gemischten Autorschaft auszugehen«.269 Der entscheidende Gesichtspunkt in der Debatte ist dabei eine auf zweifelhafter Autorschaft basierende Rezeption, die Leben und Literatur einerseits biographisch-hermeneutisch miteinander verschränkt, daraus andererseits die Qualität des jeweiligen Werkes ableitet und beide Aspekte nicht zuletzt marketingstrategisch einsetzt. Die Aufregung ist denn auch groß, als mit dem Anmelden von Zweifeln an der Autorschaft das akkumulierte Kapital von Text und Autor in Frage gestellt wird. Ihre besondere Pointe erhält dieser intertextuelle Bezug in den Erinnerungen nicht nur dadurch, dass der Leser, der den Referenzialisierungsangeboten
268 G. M. Rösch, S. 8. 269 Ijoma Mangold: Märchenprinz und Nebelfürst. In: Süddeutsche Zeitung vom 2. Februar 2004.
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folgt, deren Fehlgehen geradezu vorgeführt bekommt. Von wesentlicher Relevanz ist darüber hinaus der Kommentar des Ich-Erzählers zum Buch des Prinzen. Die Dauerpatienten im hotelartigen Waldhaus, mich vielleicht ausgenommen, wussten natürlich genau, was Manieren sind; sie hatten sie mit der Muttermilch aufgesogen und klammerten sich, während der Mahlzeiten oder danach im Kaminfoyer, geradezu an Förmlichkeiten, als ließe sich der Krankheitsverlauf damit günstig beeinflussen: Purer Unsinn! (EP 21)
Die Unmöglichkeit, den Krankheitsverlauf des ›NPK-Syndroms‹ durch ›Manieren‹ einzudämmen, verweist weniger auf die in dem fraglichen Buch Asserates thematisierten Förmlichkeiten und Anstandsregeln als vielmehr auf ein über den intertextuellen Bezug aufgerufenes Strukturproblem einer massenmedial geformten Öffentlichkeit, die auf die authentische Person ›hinter‹ den im Gegenzug an Aufmerksamkeit interessierten Prominenten abzielt. Die ›Manieren‹ sind in dieser Hinsicht keineswegs eine Möglichkeit der ›Heilung‹, sondern geradezu selbst ›Krankheitssymptom‹. Ähnlich selbstreflexiv die Unterscheidung von realer und fiktionaler Realität irritierend ist das Verfahren zu werten, mit dem der Text sich in ein Verhältnis zu Kirchhoffs Schundroman stellt. Als symptomatischer Ausgangspunkt kann in diesem Zusammenhang wiederum eine amazon-Kundenrezension dienen: Wie in »Schundroman« geht es auch in »Erinnerungen an meinen Porsche« um einen Mann, dessen zentrales Körperteil verletzt ist – besser: Von jemand anderes verstümmelt wurde – und daher seiner für das Leben eben doch elementaren Funktion nicht mehr nachkommen kann. Aber es geht nicht nur wieder um das Bild eines beschädigten Mannes. Auch die Mediengesellschaft der Bundesrepublik wird erneut auf die Schippe genommen. Es hilft beim Lesen sehr, wenn man regelmäßig die Bunte oder zumindest Kulturmagazine liest, um alle hier karikierten Personen und Ereignisse wieder zu erkennen. Liest man dagegen wirklich Bücher oder geht ins Kino statt vor der Glotze zu hängen, wird man vielleicht sogar überfordert sein aufgrund der puren Anzahl der Anspielungen.270
›Top 500 Rezensent‹ ›Niclas Grabowski‹, der Kirchhoffs Erinnerungen schließlich ›3 Sterne‹ verleiht, hebt insbesondere auf die verfahrenstechnischen »Anknüpfungen an den Schundroman« 271 ab, um schließlich die damit einhergehenden Interferenzen zwischen high und low codierten Elementen zu betonen.
270 http://www.amazon.de/product-reviews/3455401848/ref=sr_cr_hist_all?ie=UTF8& showViewpoints=1 (07. 05. 2012). 271 http://www.amazon.de/product-reviews/3455401848/ref=sr_cr_hist_all?ie=UTF8& showViewpoints=1 (07. 05. 2012). Insgesamt ist die amazon-Bewertung durchaus positiv und legt eine Kaufempfehlung nahe. Von 20 Kundenrezensionen erhält Kirchhoffs Produkt schließlich ›3,5 Sterne‹ im Durchschnitt.
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Und tatsächlich steht neben Motiven wie der Verletzung des Genitals, der erneuten Thematisierung der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens als medialisierte sekundäre Formen oder dem kursivierten Zitat »Warum tut lieben mehr weh als töten« (EP 86) der Auftritt von Figuren aus dem Vorgänger der Erinnerungen. Nicht nur trägt Bestsellerautorin Helen den Namen der aus dem Schundroman bekannten »frühere[n] Hauptkommissarin Helene Stirius, stets bemüht, ihren Vornamen um ein kleines e zu erleichtern, Helen also« (SR 28), auch tritt Vanilla Campus (vgl. EP 61) auf und der Ich-Erzähler trifft gleich mehrmals auf einen »Patient[en] mit der Wangenblessur und der dunklen Vergangenheit« (EP 104), den das literarische Publikum als den Protagonisten des Schundromans identifizieren kann. Auf diese Weise, und das ist entscheidend, multiplizieren die Erinnerungen gleichsam das Verfahren ihres Vorgängers, indem sie das bereits dort angelegte Unterlaufen der Schlüsselstruktur in einer weiteren Referenzschleife nochmals ins Leere laufen lassen, das heißt in einer Geste der literarischen Selbstnobilitierung über Selbstreflexion aufheben. Entsprechend bahnt sich mit diesen intertextuellen Bezugnahmen auf das eigene Werk eine selbstreflexiv-programmatische Ebene ihren Weg in den Text, die im gesamten Roman immer wieder durch sprachtheoretische Reflexionen (vgl. EP 91–92, EP 222–223), die leitmotivisch eingesetzte Frage, was gute Literatur, gutes Erzählen (vgl. zum Beispiel EP 220) und literarisches Schreiben ›inspiriert‹ und ausmacht (vgl. EP 50, EP 171), sowie intertextuelle Verweise auf literarische und philosophische Texte durchbricht. So wird neben Bezugnahmen etwa auf den Religionsphilosophen Robert Spaemann (vgl. EP 16), Goethe (vgl. EP 17), Nietzsche (vgl. EP 177–178) und Rilke (vgl. EP 185) auch ein in Kirchhoffs Frankfurter Poetikvorlesungen genannter kurzer, Sexualität thematisierender Text von Marguerite Duras wiederholt eingebaut (vgl. etwa EP 75).272 Schließlich ist es der Ich-Erzähler und Investment-Banker Deserno selbst, der, inspiriert durch »Helens Erscheinen« (EP 50) und »ursprünglich in der Absicht, Material für einen kommenden Prozess zu sammeln« (EP 50), gesammelte »Notizen« (EP 50) sowie »lose[ ] Sätze und Gedanken« (EP 50) zu einer »Geschichte« (EP 50) zusammensetzt, die der Leser, gleichwohl das »Wörtervermehren lange nicht so viel Spaß machte wie Dollarsvermehren« (EP 171), als Roman in Händen hält. Dass der Text mit dieser selbstreferentiellen Anlage darüber hinaus kontinuierlich Regeln literarischen Schreibens in seine Narration einfließen lässt (vgl. EP 7, 8, 23, 49, 111, 144, 168, 198, 220), um einerseits sein Erzählen zu
272 Gemeint ist Der Mann im Flur von Marguerite Duras von 1982. Siehe entsprechend LK 62.
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reflektieren und dieses andererseits metafiktional auf seines Status als Erzählen gleichsam auszustellen, legt eine Schneise zu dem entscheidenden Element des Schreibverfahrens, wie es den Porsche-Roman prägt. Erstens verweisen die insgesamt zehn Schreibregeln auf das Bestseller-Genre im Sachbuchsegment des deutschsprachigen Literaturbetriebs der Jahrtausenwende schlechthin: nämlich fingiert autobiographisch gefärbte Ratgeberliteratur. Der Roman, dessen realer Autor dem literarischen Publikum im Übrigen tatsächlich dafür bekannt ist, Schreibkurse zu geben,273 stellt eine Regelpoetik zusammen, die im Schreibkurs-Modus den geneigten Leser zu literarischer Kreativität führen könnte. Deserno, der sich an einer Stelle auch selbst als »Buchautor« (EP 69) bezeichnet, ist es schließlich selbst, der die damit angesprochene, als ›verdorben‹ markierte multimedial vermarktete Bestseller-Literatur274 beschreibt, fragt er sich doch mit Blick auf sein eigenes Schreibprojekt, ob meine kleine Story auch eine große Zielgruppe hätte, schließlich fehlten da all die Dinge, die Selma – und Selma kennt sich mit Büchern wirklich aus – bei ihren Schäfchen so schätzt, Leuten, die immerhin laufend Preise kriegen. Es gab bei mir weder Gottsuche noch Selbstfindung, und es gab keine jüdische Großtante, die von ihrer Familie erzählt; überhaupt gab es keine Familie und auch keine bedrohte Natur und außer mir auch keinen Behinderten. Es gab nur mich und das, was von der Korkenzieherattacke buchstäblich an mir hängen geblieben war. (EP 50)
Der Lesart des verfahrenstechnischen ›Selbstverderbens‹ steht indes – zweitens – die Beobachtung gegenüber, dass die Regeln tatsächlich wesentliche Schlagworte des Kirchhoffschen Programms aufgreifen. Zwei dieser aphoristisch modulierten Regeln seien in diesem Zusammenhang deshalb zitiert. So notiert der Ich-Erzähler etwa als vierte Regel: »Schreiben ist Handwerk plus eigener Sumpf, das eine ohne das andere ist nichts.« (EP 49), um damit ein beinahe wörtliches Formulierung aus Kirchhoffs Programm zu zitieren;275 und an anderer Stelle bemerkt Deserno nicht minder intertextuell fundiert: »Regel Nummer sieben: Es gibt kein keusches Schreiben, außer man ist heilig, und dann hätte man es noch mit der Sehnsucht zu tun. Schreiben ist immer auch Sex, und Sex, wenn man ihn ernst nimmt, erfordert Mut: ohne Mut kein gutes Schreiben« (EP 144). Unabhängig von den einzelnen Programmkomponenten ist in diesem Zusammenhang wesentlich, dass der Text auf diese Weise ein
273 Vgl. die Homepage des Autors http://www.bodokirchhoff.de/news.html (01. 10. 2012). 274 Siehe dazu Steffen Martus: »Für alle meine Freundinnen«. Multimediales Marketing von Bestsellern am Beispiel von Susanne Fröhlich. In: Matthias Beilein u. a. (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 129) Berlin u. Boston 2011, S. 261–278. 275 Vgl. etwa B. Kirchhoff u. U. Wittstock, S. 71.
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Verfahren in seinem discours etabliert, das einzelne Elemente sowohl der histoire als auch des discours einerseits als low und andererseits als high codierte,276 einerseits als betrieblich ›beeinträchtigte‹ und andererseits als in ihrer Autonomie ›ausgestellte‹ Formen zur Rezeption anbietet. Bereits der Einbau ›populär-trivialer Narrative‹ legt sich zwar einerseits auf »Softporno, Prominentensatire, Schwarzwaldklinik« 277 fest, lässt sich aber andererseits auch durchaus mit hochliterarischen Konstellationen – also nicht nur als ›Schwarzwaldklinik‹, sondern auch etwa als Zauberberg-Sanatorium – anreichern. Und auch die Figur des Ich-Erzählers ist zwar einerseits der Aktualität des Themas geschuldet, steht aber als bonusverwöhnter Banker andererseits für die Invadierung »normierter Körpervorstellungen und -vorgaben« 278 des Männerbildes – und ist insofern für Kirchhoffs Programm anschlussfähig, das vielleicht in der Beschreibung eines »festlichen Samstagabenddinner[s]« (EP 166) mit Selma und Helen ihre prägnanteste Verdichtung erfäht: »Ich saß zwischen den beiden, im Blick den Patienten mit der Wangenblessur, der in den letzten Tagen etwas aufgeblüht war, wie mir schien.« (EP 166). Verdeutlichen lässt sich dieses Verfahren insbesondere an zwei Figuren: an Bestseller-Autorin Helen und Star-Autor Ludger Truchseß. Letzterer ist es nämlich, der gegen Ende des Romans als bereits zu Beginn angekündigter »ganz besonderer Autor« (EP 148) auftritt, um in der Kurklinik aus seinem neuen, ebenfalls mit »Anspielungen« (EP 183) durchsetzten »Goethe-Roman« (EP 20) zu lesen. Sind wirkliche Frauen natürliche Frauen? Was ist natürliche Sexualität? Ja, was ist überhaupt natürlich? Und die Antworten auf diese Frage, sagte Humbert, lägen in den Figuren des Romans: der Autor habe mit Amalia eine wirkliche Frau gezeigt, natürlich und zugleich ganz Sprache [...]. (EP 198)
Wenn Literaturkritiker Dr. Humbert, der bezeichnenderweise den Namen des Ich-Erzählers aus Vladimir Nabokovs skandalösem, weil Pädophilie thematisierendem Roman Lolita 279 trägt, mit diesen Worten Star-Autor Truchseß – »ein Mann mit hoher Babystirn und Fliege« (EP 20) – und dessen Roman vorstellt,
276 Dies im Sinne von T. Hecken. 277 J. Link, Ein ›Ground zero‹ des Kapitals, S. 49. 278 Evelyne Polt-Heinzl: Finanzblasen, Schwarzmärkte, fehlende Böden oder »Virtuelle« Geschäfte und ihre Akteure – jung, smart und dynamisch. In: Christine Künzel u. Dirk Hempel (Hg.): Finanzen und Fiktionen. Grenzgänge zwischen Literatur und Wirtschaft. Frankfurt a. M. u. New York 2011, S. 181–199, hier S. 187. 279 Vgl. dazu Markus Gasser: Kindesmissbrauch und Plagiatsverdacht. Der doppelte Skandal um Vladimir Nabokovs »Lolita«. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Mit drei Abbildungen. Göttingen 2007, S. 368–377.
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dann erzeugt sein Hinweis darauf, dass die »zentralen Fragen des Romans« (EP 198) in dessen Figuren angelegt seien, einen Referenzbezug in drei Richtungen. Zum einen stellt sich der Text damit erneut in seiner Selbstreferenz aus, ja verweist den Leser auf das auf der histoire-Ebene entfaltete ›NPK-Syndrom‹ und verknüpft dieses mit dem im discours eingebauten Schlüsselverfahren. Zweitens entwickelt der Roman einen Bezug auf Martin Walsers Roman Ein liebender Mann und nutzt diesen Bezug – drittens – dazu, sich selbst wiederum eine literarisch-programmatische Ebene zu verleihen. Denn die Anspielung auf einen der wohl noch immer medial präsentesten Autoren des deutschen Literaturbetriebs280 wird auch und gerade in den Erinnerungen an meinen Porsche einerseits intertextuell mit zentralen Programmkomponenten des Schreibens Kirchhoffs verschränkt und diese auf Walsers Medienpräsenz als Autor appliziert.281 Und so ist Humberts Feststellung, der Dichter würde durch seine Werke »Legenden um den eigenen überempfindlichen Körper« (EP 198) schaffen, schließlich das offensichtlichste Zeichen des Bemühens der Erinnerungen, ihre Narration mit einer dezidiert selbstreflexiven Rahmung zu versehen, um sich auf diese Weise gegen ihr literaturbetriebliches ›Verderben‹ zu wehren, wie sie es andererseits selbst thematisieren. Desernos Ex-Freundin Selma, die für den Klinikaufenthalt des Ich-Erzählers verantwortlich ist, skizziert in diesem Zusammenhang kurz das Thema von Truchseß’ Goethe-Roman: Ich schüttelte den Kopf, und da erzählte Selma von dem Roman, aus dem Truchseß am Nachmittag lesen würde, und soweit ich sie verstand, ging es darin um eine geheime Liebschaft zwischen Goethe und der Frau seines königlichen Sponsors. Sie hieß Anna Amalia, aber er nannte sie nur Amalia, und zum Dank oder weil er den Coup doch nicht ganz für sich behalten konnte – ich hatte Tobi auch von jeder Eroberung erzählt, tauchte sie in einigen Gedichten auf: in Anspielungen, so fein wie die von Truchseß. (EP 183)
Walsers Ein liebender Mann, auf den diese Passage von der feuilletonistischen Rezeption nahezu durchgehend appliziert wird, ist in zwei Teile strukturiert, von denen der zweite »die bisherige Erzählperspektive auf[bricht] und in eine dynamische Briefstruktur überführt.« 282 Jenseits des von der Forschung he280 Selbst die Bild-Zeitung titelt aus Anlass des Skandals um Tod eines Kritikers »Ein Krimi! Ein Skandal! Die Literaturwelt bebt!«. Zitiert nach V. Hage, Letzte Tänze, erste Schritte, S. 47. 281 Siehe zu Walsers paradoxer Medienästhetik in diesem Zusammenhang Rolf Parr: Paradoxe Medienästhetik. Martin Walsers ›Realismus‹ und sein literarischer Umgang mit Film und Fernsehen. In: Achim Geisenhanslüke u. a. (Hg.): Das Subjekt des Diskurses. Festschrift für Klaus-Michael Bogdal, Heidelberg 2008, S. 305–323. 282 Andrea Bartl: Goethe geht spazieren. Hanns-Josef Ortheils Faustinas Küsse, Martin Walsers Ein liebender Mann und ein mögliches Paradigma biographischen Erzählens. In: Peter Braun u. Bernd Stiegler (Hg.): Literatur als Lebensgeschichte. Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart. Bielefeld 2012, S. 41–60, hier S. 49, Fn. 31.
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rausgearbeiteten, bereits im Klappentext benannten Blick- und Bewegungsprogramms283 ist diese Konstellation für Kirchhoffs Erinnerungen an meinen Porsche zumindest in drei Hinsichten interessant. Erstens bedient sich Walsers Roman zur Formbildung die auch in den Erinnerungen grundlegende Struktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung, konvertiert diese jedoch in eine auf literarische Experten ausgerichtete, hochliterarische Suche nach »Ostereier[n]: die präzise rekonstruierten historischen Ereignisse, Personen und Lokalitäten, die offenen und heimlichen Goethe-Zitate.« 284 Neben dieser nicht zuletzt für biographische Texte idealtypischen Fixierung »durch historisch überprüfbare Zeit- und Ortsangaben« 285 thematisiert Walsers Roman – zweitens – das Alter seines Protagonisten, das sich insbesondere »physisch an ihm bemerkbar« 286 macht. Ein liebender Mann portraitiert den 73jährigen Goethe, der sich »der mit dem Alter zunehmenden Gebrechlichkeit, Versagensängste, Enttäuschungen und Einsicht in die (eigene) Endlichkeit« 287 konfrontiert sieht. Die Narration läuft immer wieder auf die mit der Figur des alten Liebhabers konnotierte »Diskrepanz von Verlangen und Vermögen« 288 zu, so dass wiederum ein wesentliches Element des Kirchhoffschen Programms aufgerufen wird. Und drittens ist bemerkenswert, dass Walsers Text nicht zuletzt Fragen der auktorialen Selbstpräsentation in sich einbaut, ja sich als eine historischkostümierte Literaturbetriebs-Szene erweist, in deren Zentrum zum einen »Goethes Selbstinszenierung«,289 zum anderen aber auch die inszenierende Vermarktung durch andere literarische Akteure steht.290 So inszeniert sich Goe-
283 Vgl. Evi Zemanek: Archivare der Augen-Blicke im Angesicht des Alters. Martin Walsers produktive Goethe-Rezeption. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 128 (2009), Nr. 4, S. 567– 589. 284 Dieter Borchmeyer u. Peter Gülke: »Die Leiden des alten Werther«. Martin Walsers Goethe-Roman »Ein liebender Mann«. Ein Dialog zwischen Dieter Borchmeyer und Peter Gülke. In: Goethe-Jahrbuch 126 (2009), S. 260–269, hier S. 262. 285 A. Bartl, Goethe geht spazieren, S. 48. 286 Martin Hellström: Der alte Liebhaber und die Kunst. Zu Martin Walsers Angstblüte und Ein liebender Mann. In: Martin Hellström u. Edgar Platen (Hg.): Alter und Altern. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur (VI). (Perspektiven 7) München 2010, S. 53–69, hier S. 65. 287 M. Hellström, S. 57. 288 M. Hellström, S. 57. Vgl. entsprechend Martin Walser: Ein liebender Mann. Roman. Reinbek bei Hamburg 2008. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle L in runden Klammern im Text, hier insbesondere S. 24, 160, 71. 289 A. Bartl, Goethe geht spazieren, S. 51. 290 Die Motivation, einen Goethe-Roman zu schreiben, sieht Roland Krebs in der Parallele zwischen Goethe und Walser als öffentliche Personen, die sich dem Urteil der Leser und Kritiker stellen müssten. So habe bereist Goethe angemerkt, dass die deutschen Leser und Kritiker nicht in der Lage seien, ein Buch als ein Kunstwerk zu verstehen, was mit Blick auf Walsers
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the nicht nur in seiner Körper-Haltung, in seinem öffentlichen Auftreten und in seinen gewählten Wortmeldungen; auch gilt er seinen Zeitgenossen bereits als »das lebendigste Denkmal, das je eine Zeit beherrschte« (L 64). Ihre besondere Pointe erhalten diese Formen der Fremdinszenierung mit einer Szene, in der Goethes Diener Stadelmann seine Inszenierungspraxis so weit treibt, dass er unter anderem die Haare des Dichters als ›Merchandise-Produkt‹ anbietet.291 Neben diese Präsentation des Autors als »durch und durch öffentliche Person« 292 treten darüber hinaus auktoriale Selbstbilder in Goethes eigenen Texten, wobei Die Leiden des jungen Werther deutlich im Zentrum stehen. So könnten nicht nur die im zweiten Teil platzierten, als »inneres Zwiegespräch« 293 angelegten Briefe Goethes an Ulrike den Untertitel »Die Leiden des alten Werther« (L 192) tragen. Darüber hinaus zitiert Ulrike aus dem Werther (vgl. L 161– 163) und zu einem »Kostümball, zu dem der König von Württemberg geladen hat« (L 98), tritt Goethe schließlich in »Werther-Kleidung« (L 100) und »Ulrike als Lotte« (L 101) auf. Dann also Werther und Lotte. Da war nicht viel zu sagen. Alle hatten die beiden als das erkannt, was sie waren. Allerings ging aus dem Kommentar des Maître hervor, dass er diese Paarung für eine Goethe-Idee hielt. Dass Ulrike und er unabhängig von einander diese Rollen gewählt hatten, wussten nur Ulrike und er. Das wurde ihr Erlebnis, dass sie einander ohne Verabredung gewählt hatten. Dass sie von sich aus Lotte und er von sich aus Werther gewählt hatte, machte aus ihnen jetzt mitten im Ballglanz und Musikgetobe ein glückliches Paar. [...] Und noch nie, seit sie sich kannten, waren sie gleich als gewesen, Jetzt waren sie’s. Er spürte es, sie legte sich zurück, er hielt sie, sie flogen. Sie führten vor, dass die ganze Welt nich imstande ist, zwei Liebende zu stören. Sie gingen deutlich aus ihren Persönlichkeiten heraus, wurden Rollen, wurden Kostüm, wurden Lotte und Werther. (L 102)
Dass die auf diese Weise mittels der Leiden des jungen Werther in Szene gesetzte innerfiktionale Irritation des Verhältnisses von Person und Figur nicht nur dazu beiträgt, dass Goethes Identität als Figur im liebenden Mann letztlich »unbestimmt« 294 bleibt, sondern schließlich im Nachspielen der Klopstock-Szene aus dem Werther verdichtet wird (vgl. L 107), ist auch für Kirchhoffs Erinnerun-
Rede in der Paulskirche und die Verwicklungen um Tod eines Kritikers auf den Literaturbetrieb um 2000 durchaus applizierbar sei. Vgl. Roland Krebs: L’Éternel Werther. À propos du roman de Martin Walser Ein liebender Mann. In: Karl Heinz Götze u. Katja Wimmer (Hg.): Liebe in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Festschrift für Ingrid Haag, Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 247–255, hier S. 253. 291 Vgl. A. Bartl, Goethe geht spazieren, S. 51, Fn. 41. 292 M. Hellström, S. 57. 293 A. Bartl, Goethe geht spazieren, S. 49, Fn. 31. 294 A. Bartl, Goethe geht spazieren, S. 57.
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gen von einiger Relevanz. Denn auch dort kommt es zu einer dem Bezugstext vergleichbaren Szene. Selma kannte die Stellen [aus Truchseß’ Roman; DCA] sogar auswendig und zitierte sie für mich, und immer wenn sie zwischendurch Goethe sagte, wurde ihr Mund so spitz wie bei den ersten Anläufen zum Blasen, als sie noch kein rechtes Vertrauen hatte zu meinem Porsche. (EP 183–184)
So wie Werther und Lotte sich mittels Klopstock in Goethes Briefroman verständigen, ja den Namen des Autors gleichsam als Label einsetzen, so ›verständigt‹ sich Deserno über den Autornamen Goethe mit Selma, ohne dabei jedoch den populär-trivialen Rezeptionshorizont eines Softpornos ablegen zu können. »Mit der Assoziationskette Gewitter, Frühlingsfeyer, Klopstock werden Reales und Imaginäres gesteuert und übereinandergeblendet, wird Erleben an die Rezeption des Artefakts gebunden – und umgekehrt.« 295 Der Autorname Klopstock stiftet als Label eine verbindliche Gemeinsamkeit zwischen den beteiligten Figuren. Als Effekt des intertextuellen Bezugs auf den liebenden Mann schreiben sich die Erinnerungen an meinen Porsche mithin in die von Walsers Roman angelegte »Spiegelgalerie innerer Monologe und erlebter Reden« 296 ein, ist es dort doch nicht zuletzt Goethe selbst, der schließlich in dem Roman auftritt, den er selbst schreibt: »Ein liebender Mann« (L 96). In den Blick kommt damit ein Schreibverfahren des Porsche-Romans, das sich als »sprachlich organisierte Kippfigur« 297 zu erkennen gibt; ein Verfahren mithin, das auf »abrupten Wahrnehmungswechseln« 298 basiert und im vorliegenden Fall je nach Kontext und Beobachterperspektive Text und Autor eine wenn auch satirisch abgefederte Abrechnungsgeste mit dem Medienphänomen Martin Walser zuschreiben oder sich auf »interesseloses Wohlgefallen« 299 konzentrieren kann. Deutlicher noch tritt dieses Verfahren mit der Platzierung der zweiten Autorin hervor, auf die der Ich-Erzähler in der Kurklinik trifft. So kommt Deserno gleich zu Beginn im Zusammenhang einer Beschreibung des »männlichen
295 Thomas Wegmann: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850– 2000. Göttingen 2011, S. 11. 296 D. Borchmeyer u. P. Gülke, S. 264. 297 T. Wegmann, So oder so, S. 220. »Eine Kippfigur wie den Hasen-Enten-Kopf können wir ›einmal als das eine, einmal als das andere Ding sehen. – Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten.‹« T. Wegmann, So oder so, S. 220, Fn. 13. Das Zitat im Zitat stammt aus Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophico. 298 T. Wegmann, So oder so, S. 220. 299 T. Wegmann, So oder so, S. 220.
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Part[s]« (EP 24) in Pornofilmen auf die »rückwärtige Nummer« (EP 24) zusprechen, die »kein Zuckerschlecken« (EP 24) sein dürfte, was ja auch der Hämorrhoidenrenner, der mir die Zeit in der Urologie verkürzt hatte, eindrucksvoll bestätigt – sicher einer der geheimen Gründe, warum diesem Buch, neben dem Verkaufserfolg, breiteste Anerkennung zuteilwurde, sogar auf den Kulturseiten meiner Leib- und Magenzeitung, zu denen ich normalerweise gar nicht vorstoße, wenn Wirtschafts- und Automobilteil gelesen sind. (EP 24)
Mit Passagen wie dieser verlegt der Text sich zum einen in den Modus eines Kommentars auf seine sozialstrukturellen Rahmenbedingungen und verspricht zum anderen, hinter dem ›Hämorrhoidenrenner‹ Charlotte Roches Feuchtgebiete zu erkennen zu geben. Diese wiederum können geradezu als Paradebeispiel sowohl für »kaum kalkulierbare Multiplikatoren-Effekte« 300 des Buchmarketings der Jahrtausendwende als auch für die erfolgreiche aufmerksamkeitsstrategische Kombination von Vermittlungsschemata wie Personalisierung, Etikettierung und Skandalisierung gelten.301 In der literaturkritisch-massenmedialen Rezeption von Roches Roman dominieren dabei die Thematisierung von Ekel und Peinlichkeit, autobiographische Bezüge zwischen Ich-Erzählerin und Autorin sowie die provozierenden Tabubrüche. Kirchhoffs Roman knüpft genau an diesen Schemata an, heißt es doch in einem Abschnitt: Auf jeden Fall war es für einen wie mich überraschend, ein solches Buch als Beitrag zum Feminismus gefeiert zu sehen, und aufgrund meiner hoffnungslosen Lage, zwischen den Beinen nichts als Mull, fühlte ich mich der nonnenhaften Autorin – ich sah sie im Fernsehen –, dieser jungen Schwester Helen, die für mich gleich eine fromme Helene war, zu Dank verpflichtet, war es doch jetzt möglich, über alles Mögliche auch noch möglichst offen zu reden, wenn man’s schon nicht mehr tun konnte. (EP 24–25)
Als Beschreibung von Helens Bestseller ist diese Passage unter drei Gesichtspunkten wesentlich. Erstens verweist der Ich-Erzähler auf die massenmediale Präsenz (›Fernsehen‹), die mit der Vermittlung des Buchs einhergeht. Zweitens ordnet die Rezeption den Roman nicht nur als Tabubruch ein, sondern liest ihn als feministisches Manifest (›Beitrag zum Feminismus‹). Dem steht – drittens – gegenüber, dass Helen keineswegs als Tabubrecherin charakterisiert wird, be-
300 David Oels: Bestseller. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 47–53, hier S. 51. 301 Roches Feuchtgebiete belegt auf amazon.de Platz 1 in der Liste der Jahresbestseller 2008 (Bücher und Hörbücher). Siehe http://www.amazon.de/gp/feature.html/ref=amb_link_ 20519565_3?ie=UTF8&docId=546211&pf_rd_m=A3JWKAKR8XB7XF&pf_rd_s=right-1&pf_rd_r= 04ADTSYP2NPW5GK2QHTQ&pf _rd_t=101&pf_rd_p=225955891&pf_rd_i=772358 (30. 12. 2011).
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schreibt der Ich-Erzähler sie doch verniedlichend nicht nur als ›Schwester Helen‹, sondern bezeichnenderweise als Wilhelm Buschs fromme Helene. Und tatsächlich konzentriert sich die literaturwissenschaftliche Rezeption auf das Wechselspiel zwischen den textuellen Schreibverfahren und der paratextuellen Inszenierungspraxis Roches, um die feuilletonistisch-massenmediale Aufmerksamkeit für den Roman zu erklären. Der Erfolg der Feuchtgebiete resultiert demnach zunächst aus der »spezifischen interdiskursiven und zugleich normalistischen Struktur des Textes«.302 Während der verfahrenstechnische Rekurs auf interdiskursive Elemente und normalistische Szenarien demzufolge »fortlaufend Tabubrüche gegenüber Alltagsvorstellungen über Hygiene, Sexualität und Familienleben« 303 erzeugt, kann auf Rezeptionsseite die Interdiskursivität des Textes für je spezifische Interessen in Anspruch genommen werden (›postfeministische‹, ›pop-literarische‹, ›intellektuell-akademische‹, ›naiv-trashige‹). Nicht zuletzt deshalb spricht Kirchhoffs Roman denn auch mit der Genre-Zuweisung ›Beitrag zum Feminismus‹ eine wesentliche Rezeptionslinie der Feuchtgebiete an, die diese als eine pop- oder postfeministische Programmschrift versteht. In dieser Perspektive erweist sich Roche als Mitglied der sogenannten ›Neuen Alpha-Mädchen‹, die sich gegen den Feminismus der 1970er und 1980er Jahre abgrenzen. Im Gestus einer »popkulturelle[n] Intelligenzia« 304 produzieren die Feuchtgebiete demnach einen ›popfeministischen Mehrwert‹, der das Buch auch und gerade für Intellektuelle anschlussfähig macht. Im Porsche-Roman ist es Desernos Exfreundin Selma, die als Leiterin einer Kulturstiftung Helens Bestseller als »Nobilitierung des Analen« (EP 24) verstanden wissen möchte und eben damit die intellektualisierende Rezeption personifiziert. Ebenso wie im Falle des intertextuellen Bezugs auf Walsers liebender Mann greift es aber auch hier deutlich zu kurz, die Erinnerungen lediglich als satirisch-verschlüsselte ›Entlarvung‹ Roches als bloß vermeintliches Mitglied einer Gruppe von feministischen »AlphaAutorinnen« (EP 103) zu lesen, mithin gleichsam als verlängerter Arm solcher feuilletonistischen Stimmen, die Roche deren Position im literarischen Bereich streitig machen. So sehr die Feuchtge-
302 Alexander Senner: Ein ganz normaler Blumenkohl? Zur interdiskursiven Struktur von Charlotte Roches Skandalroman »Feuchtgebiete«. In: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie (2008), Nr. 57, S. 65–69, hier S. 65. 303 A. Senner, S. 65. 304 Alexandra Pontzen: (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion in Scham-Fragen. In: Heribert Tommek u. Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Medien-Ökonomien – Autorpositionen. (Diskursivitäten 16) Heidelberg 2012, S. 209–228, hier S. 227.
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biete in diversen Diskursen anschlussfähig sind, so sehr führt die jeweils »höchst selektiv« 305 ausgerichtete massenmediale Rezeption dazu, dass Charlotte Roche mitunter eine Autorinnenposition im Literaturbetrieb verweigert wird. Insbesondere die Gattungszuweisung ›Pornographie‹, die eine männlich voyeuristische Lektüre unterstellt, grenzt den Text »gleich doppelt aus dem Bereich des ›anerkannten‹ Literarischen aus: einerseits durch die Gattungszuweisung Porno als heteronom, andererseits durch die ästhetische Qualifikation als misslungen.« 306 Auffallend ist nämlich, dass die Feuchtgebiete zunächst »in der Regel ostentativ freundlich behandelt« 307 werden, dies andererseits aber wiederum vom Feuilleton selbst in einem zweiten Schritt kritisiert wird. Nennt etwa Rainer Moritz explizit Roches Roman als Beispiel für »die niederen Beweggründe, Sensationsgier und Effekthascherei« 308 auch und gerade im deutschsprachigen Feuilleton der Jahrtausendwende, meldet auch Richard Wagner in einem Artikel für die FAZ Kritik an: Das Problem entsteht [...] nicht dadurch, dass die Leserschaft Charlotte Roche für eine Schriftstellerin hält, sondern, dass im Feuilleton der Eindruck erweckt wird, dass »Feuchtgebiete« etwas mit Literatur zu tun habe. Damit reagiert die Kritik auf den Marktwert und nicht auf den Text. Es wird ja auch nicht der Stil des Buches verhandelt, sondern seine tabubrechende Rolle. Tabubruch? In einer permissiven Gesellschaft?309
Wagners Bemerkungen mögen exemplarisch für eine zweite, weitgehend selbstreflexive Rezeptionswelle der Feuchtgebiete stehen, die nicht nur das Thema des Buches als bloß vermeintlich tabubrechend schamlos liest, sondern auch und gerade die Autorin in ihrer Schamlosigkeit ausstellt. Roche wird dabei zum einen vorgeworfen, als bürgerliche Person und Mutter ihr Intimleben naiv zu offenbaren, um diese Engführung von Autorin und Ich-Erzählerin zum
305 Rolf Parr: Normalistische Positionen und Transformationen im Feld der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Heribert Tommek u. Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Medien-Ökonomien – Autorpositionen. (Diskursivitäten 16) Heidelberg 2012, S. 189–208, hier S. 198. 306 A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion in Scham-Fragen, S. 215. Genau (systemtheoretisch) betrachtet, handelt es sich indes um eine inkludierende Exklusion Roches – andernfalls wäre sie im vorliegenden Fall literarisch irrelevant. 307 Albert Meier: Immer sehr unmädchenhaft. Charlotte Roche und ihre Feuchtgebiete. In: Hans-Edwin Friedrich (Hg.): Literaturskandale. Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 231–241, hier S. 231. 308 Rainer Moritz: Wenig Neues unter der Sonne. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 496–497, hier S. 496. 309 Richard Wagner: Gute Literatur wird schlecht gelesen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Mai 2008.
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anderen als gerade nicht ›authentisch‹ und damit literarisch verfehlt auszugeben: Das intendierte Verwirrspiel um Helen und Charlotte stünde im Zeichen einer geschickt marketingstrategisch platzierten Inszenierung. In dieser Hinsicht konkurrieren mithin »der Vorwurf sexueller Schamlosigkeit im Sinne der Indiskretion und der Vorwurf moralischer Schamlosigkeit im Sinne unaufrichtiger Indiskretion.« 310 Die Forschung arbeitet demgegenüber dieser literarischen Exklusion mitunter durch die Betonung des »literarischen Charakter[s] des Textes« 311 entgegen, indem sie etwa auf die Verarbeitung von »Freuds Hysterie-Diskurs und Foucaultsche[n] Hospitalisierungsthesen« 312 im Text hinweist und auf diese Weise die »Doppelbödigkeit von leichter Lesbarkeit und metadiskursiven Intertextualitätsangeboten« 313 herausstreicht. Denn gleichwohl die Feuchtgebiete ihren »Lesern kein Detail der weiblichen Anatomie vorenth[alten] und sämtliche Körperflüssigkeiten bzw. -ausscheidungen anspr[echen], die bei Frauen (und/oder Männern) anfallen«,314 erfolgt aus der genauen Beschreibung von Sexualpraktiken gerade kein Realismus der Sexualität. Das Schreibverfahren von Roches Roman setzt weniger auf die mimetische Abbildung außerliterarischer Realitäten, sondern konfrontiert diverse Emotionsebenen derart kontrastiv, dass sich unwillkürlich »Scham-Evokation[en]« 315 als innerfiktional erzeugte Effekte bei der Lektüre einstellen. In dieser Perspektive setzt der Text zum einen auf »Techniken der Karnevalisierung« 316 und des »Slapstick[s]«,317 um zum anderen eine selbstreflexive Ebene zu etablieren, die die Kopplung von Autorschaft und Werkattraktivität als intradiegetische Einsicht Helens »in die Voraussetzungen ihrer Rede« 318 präsentiert und damit gewissermaßen die Bedingungen der Vermarktung der Feuchtgebiete vorwegnimmt. Ein etwas längeres Zitat mag dies verdeutlichen. So erzählt Helen etwa Krankenpfleger Robin folgende Anekdote: »Weißt du, was ich immer mache, wenn ich in die Disco gehe?« Wenn ich mit einem Jungen verabredet bin und will, dass wir an dem Abend ficken, habe ich mir einen tollen Trick als Beweis ausgedacht. Als Beweis dafür, dass ich der
310 311 312 313 314 315 316 317 318
A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion R. Parr, Normalistische Positionen, S. 198. A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion A. Meier, Immer sehr unmädchenhaft, S. 231. A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion A. Meier, Immer sehr unmädchenhaft, hier S. 237. A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion
in Scham-Fragen, S. 214. in Scham-Fragen, S. 222. in Scham-Fragen, S. 222. in Scham-Fragen, S. 225. in Scham-Fragen, S. 220. in Scham-Fragen, S. 216.
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Fickurheber des Abends bin. Und es kein Zufall ist, was später passiert. So ein Abend fängt ja unsicher an. Kennt man ja. [...] Damit total klar ist, was ich von Anfang an wollte, schneide ich mir vorher ein großes Loch in die Unterhose, damit man die Haare und die ganzen Schamlippen und so sieht. Also, die ganze Pflaume soll rausgucken. Ich trage natürlich immer einen Rock. Wenn ich dann anfange, mit dem Jungen zu lecken und zu fummeln, und nachdem meine Brüste lange genug gestreichelt worden sind, wandert irgendwann sein Finger meine Oberschenkel hoch. [...] Ich habe selber einen leichten Schweißausbruch vom Erzählen. Warum mache ich so was eigentlich? Ich glaube, ich bin wegen seinem Kompliment am Anfang berauscht. Immer noch einen draufsetzen, Helen, was? Robin steht da mit leicht geöffnetem Mund, und meine Geschichte zeigt Wirkung. Ich kann seine Schwanzbeule durch die weiße Pflegerhose sehen. Während ich ihm das erzählt habe, hat es auf dem Flur ununterbrochen geklingelt. Andere Patienten, die was von Robin wollen. Aber nicht das Gleiche wie ich.319
Ist der Leser bei Passagen wie dieser pikiert, ›spürt‹ er zum einen, »wo die gesellschaftlichen oder auch individuellen Grenzen des Erlaubten im Augenblick gerade verlaufen.« 320 Auf der anderen Seite ziehen die Feuchtgebiete auf diese Wesie einen selbstreflexiven Kommentar in ihre Narration ein, die ihre Rezeptionseffekte geradezu ausstellt. Lebt der Text mithin nicht nur vom »dauerhaften Überschuss an Abwegigkeit«,321 um gleichzeitig seine ›Wirkung‹ zu reflektieren, so hält dieses Schreibverfahren ganz offensichtlich nicht davon ab, die Feuchtgebiete als ›realistisch-authentischen‹ Text zu lesen, ja als einen Roman, der wie auch immer Aufschluss gibt über das Leben seiner Autorin. Eine nicht unerhebliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang Roches Inszenierungspraxis als Autorin. Wichtig ist diese insbesondere deshalb, weil die Autorin sich als »optimale[r] Kontrapunkt zu ihrer provozierenden Protagonistin« 322 in Szene zu setzen weiß. Bereits die peritextuelle Umschlaggestaltung der ganz in pink gehaltenen Feuchtgebiete bereitet diese Inszenierung vor. Gleichsam »schüchtern und mit leicht nieder gesenktem Klein-Mädchen-Blick nach oben in Richtung des Betrachters« 323 schauend tritt Roche dem Leser dort als unscheinbares kleines Mädchen entgegen, das mit durchaus strenger Frisur ein eher konservatives, ja altmodisches Kleid trägt. Dem so inszenierten Habitus eines unbedarften Mädchens korrespondieren die Autorenangaben, ist doch im Klappentext von der durchaus bürgerlichen Biographie der Autorin zu lesen: ›verheirat, ein Kind‹. Das von Roche in Szene gesetzte Konstrukt jugend-
319 320 321 322 323
Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Roman. 16. Auflage. Köln 2008, S. 101–102. A. Meier, Immer sehr unmädchenhaft, S. 239. A. Meier, Immer sehr unmädchenhaft, S. 238. A. Meier, Immer sehr unmädchenhaft, S. 235. A. Senner, S. 68.
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licher Weiblichkeit eines »sympathische[n] kleine[n] Mädchen[s] von nebenan« 324 präsentiert mithin genau des Gegenteil von dem, was »zahlreiche Rezipienten beim Lesen im Kopf haben«.325 In Talkshow-Auftritten und Lesungen (sowie der entsprechenden printmedialen Berichterstattung, insbesondere über Fotos) setzt Roche diese Praxis fort, indem sie sich in ebenso dezidiert makelloser, keineswegs sexuell aufreizender Kleidung zeigt und stets entgegenkommend, gleichsam gehemmt und unsicher über die Thematik ihres Romans spricht. Die Funktion dieser auf »Mädchenhaftigkeit« 326 abzielenden Inszenierungspraxis liegt darin, ein Gegenbild zu der im Text angelegten erotischen Schamlosigkeit und Ekelevokation zu erzeugen. Führt dieser intrinsisch-programmatisch motivierte Text/Paratext-Zusammenhang auch einerseits zur »Desorientierung in Sachen ›Wirklichkeit‹«,327 kann auf diese Weise andererseits überhaupt das »Trompe-l’œil zwischen Roman und Realität« 328 durchgesetzt werden: die Zurücknahme dessen, was im Text scheinbar entblößt wird. Relevant ist dies nicht nur insofern, als Roche damit ihre persönliche Intimsphäre schützt und gleichzeitig einen autonomen Raum literarischer Kreativität eröffnet, in dem der vermeintliche oder tatsächliche Tabubruch ihrer »künstlerischen Intention« 329 entspricht. Hinzu kommt auch und gerade der Umstand, demzufolge nur die absichtsvolle Enthüllung als Provokation und damit als auktoriale Geste der Autorin als »handlungsmächtiges Subjekt« 330 die anvisierte Regelverletzung der Feuchtgebiete nicht als Blamage, ja als »unfreiwilliges Zeugnis biographischer Realität« 331 erscheinen lässt. Roches Inszenierungspraxis, die im Text wie in der Selbstinszenierung Normalität reproduziert wie unterläuft, beruht denn auch gerade auf der Präsentation eines kreativen Vermögens, »der Beherrschung des Peinlichen als Produkt künstlerischer Imagination«,332 die sich dagegen richtet, Opfer einer ungewollten Entblößung zu sein. Die Erinnerungen an meinen Porsche bedienen sich dieser Elemente der Inszenierung Charlotte Roches und ihres Romans als Medium zur Formbildung 324 A. Senner, S. 65. 325 A. Senner, S. 67. 326 A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion in Scham-Fragen, S. 216. 327 A. Meier, Immer sehr unmädchenhaft, S. 236. 328 A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion in Scham-Fragen, S. 217. 329 A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion in Scham-Fragen, S. 217. 330 A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion in Scham-Fragen, S. 217. 331 A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion in Scham-Fragen, S. 217. 332 A. Pontzen, (Poetisches) Rederecht und Gender-Konstruktion in Scham-Fragen, S. 225. Siehe speziell dazu darüber hinaus Alexandra Pontzen: Peinlichkeit und Imagination. In: Jörg Huber u. a. (Hg.): Archipele des Imaginären. Mit Beiträgen von Christina von Braun u. a. (Theorie:Gestaltung 7) Zürich 2009, S. 235–250, hier S. 240.
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zunächst insofern, als sie Helen als »nonnenhaften Autorin« (EP 24) präsentieren, die sich mit »eine[r] Art Kutte in schlammigem grau, aber mit einem ganz reizenden weißen Kragen« (EP 167) kleidet. Doch mehr noch: Kirchhoffs Roman unterstellt der Person hinter der medialen Figur, dass ihr die von Kritik und Medien vorgeworfene Anstößigkeit ihres Sujets keinesfalls, wie sie selbst behauptet, bewusst gewesen, sondern vielmehr unterlaufen sei. Deutlich wird dies insbesondere an den Stellen, an denen der Text die skizzierte Rezeptionshaltung gegenüber Roches Roman auf die Lektüre des Ich-Erzählers von Helens Bestseller appliziert: Natürlich konnte sie nicht sicher sein, ob ich ihr blasses Gesicht mit dem Hämorrhoidenhit in Verbindung brachte; sie konnte aber davon ausgehen, dass ich von dem Erfolg gehört hatte, wenn nicht einer jener zehn von hundert war, die alles über ihren Hintern wussten. Und doch war diese junge Heldin ihres eigenen Buches, wenn man sie so da sitzen sah – immer noch eine Hand unter dem Tisch, die andere an der Brosche –, für mich keine Helen, sondern eine Helene, auch wenn Wilhelm Busch und seine fromme Helene in meiner Kindheit verpönt waren (aber Doro hatte mir heimlich daraus vorgelesen, im Hintergrund Cat Stevens). (EP 46)
Haben sich schon »Eins Komma drei Millionen [...] schiefgelacht bei dem Buch« (EP 169), wie Helen Deserno wissen lässt, sind es die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen ihres literarischen Schreibens, die Helen auf ihren Körper zurückgestoßen haben. So wie die prominenten »Dauerpatienten im hotelartigen Waldhaus« (EP 21) insgesamt eine »schillernde Ansammlung, schillernd wie altes Fleisch« (21), darstellen, so weist die Autorin darauf hin, aus »Fleisch und Blut« (63) zu sein. Hebt Kirchhoffs Programm auf die »Gegnerschaft zwischen dem, der die Legenden um den eigenen Körper zu bilden versucht, und dem, der letztlich nur jemanden, kläglich wie er selbst, enttarnen möchte« (LK 49), ab, personifiziert Helen mit ihrem ›Hämorrhodienrenner‹ genau dieses Schicksal. Sie ist insofern auf ihren Körper zurückgestoßen, als der Ich-Erzähler sich als einer derjenigen wähnt, die »alles über ihren Hintern wussten« (46). Oberhalb des Tisches hatte sie beste Manieren, die verstörte Helene, wie ich sie nannte, verstört und erdrückt vom Erfolg, den auf sie herabgestürzten Sternen, nach denen andere vergeblich greifen, eine lebendig Begrabene, wie sie Selma – meine liebe, verfluchte Selma – schon beim Lesen des Porenners genannt hatte, eines Buches, das jetzt sogar im Bundestag auftauchen könnte, nach einem Antrag der Linken auf eine sogenannte Analdebatte, Ausgang ungewiss. (EP 47)
Spricht dieser Abschnitt zum einen die Interdiskursivität des ›Porenners‹ an, dessen Anschlussfähigkeit bis in politische Kommunikation anhält, setzen die Erinnerungen zum anderen die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen litera-
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rischen Schreibens als Identität zersetzend in Szene (›verstört und erdrückt vom Erfolg‹). Damit bahnt sich eine programmatische Ebene den Weg, die die intertextuelle Bezugnahme auf Roches Feuchtgebiete und deren Vermittlung in ein anderes Licht stellt, als es ihre Lektüre als ›satirische Entbößung‹ der Erfolgsautorin durch einen etablierten Autor es vermuten lässt. Bereits Selmas Bemerkung, sie habe bei ihrer Lektüre »nicht gelacht« (EP 169), ja »bei den letzten Seiten sogar geweint« (EP 169), unterstreicht diesen bias der programmatischen Anspielung, der bereits in den Feuchtgebieten angelegt ist. Sind die wesentlichen Motive für Helens Vorhaben der Familienzusammenführung »Bedürfnisse nach Gespräch, nach Offenheit, nach Vergangenheitsaufarbeitung, nach Wahrheit, und vor allem Sehnsucht nach Ernstgenommenwerden, nach Vertrauen« 333, ist es genau diese Lektüre, die Roches Roman für die Erinnerungen so interessant macht. Helens Schreiben liest sich aus dieser Perspektive nämlich als der Versuch, eine ›Legende um den eigenen Körper‹ zu legen. Die Feuchtgebiete werden als ein Monolog sichtbar, den ihre Protagonistin hält, »wenn sie sich langweilt oder von ihren Schmerzen ablenken will« 334 und der dazu dient, ihr Familientrauma zu verarbeiten. Als derart perspektivierte »psychiatrische Fallgeschichte« 335 ist Roches Text jenseits einer pornografischen, postfeministischen Kampfschrift und jenseits der Frage nach dessen literarischer Qualität als Versuch zu lesen, »die sexuelle Obsession der Protagonistin Teil ihrer Symptomatik« 336 werden zu lassen. Insofern ist es nicht so sehr der Sex, der zum Versuch wird, »das Trauma mit einer Schutzdichtung zu versehen«.337 Es ist vielmehr das Erzählen davon, dass sich als Medikament erweist, um »sich vor Persönlichkeitszerfall zu schützen.« 338 Die Erinnerungen an meinen Porsche nutzen mithin nicht zuletzt die von der Forschung als illegitim ausgewiesene, gleichwohl von Roche provozierte Rückkopplung zwischen Autorin und Ich-Erzählerin für ihre Narration, führen aber in dieser Bezugnahme gerade die Illegitimität dieses Kurzschlusses vor. Auf diese Weise entsteht eine zweifache, als Kippfigur organisierte Rezeptionsmöglichkeit, die der Text seinem Leser anbietet: Der als fingierter Blick ›hinter‹ die so überaus erfolgreiche Autorinszenierung modularisierten Entlarvung Ro-
333 Renate Ullrich: Feuchtgebiete und Neue deutsche Mädchen. In: Das Argument 51 (2009), Nr. 3, S. 447–457, hier S. 456. 334 R. Ullrich, S. 456. 335 Claudia Liebrand: Pornografische Pathografie. Charlotte Roches Feuchtgebiete. In: Literatur für Leser 11 (2011), Nr. 1, S. 13–22, hier S. 20. 336 C. Liebrand, Pornografische Pathografie, S. 21. 337 C. Liebrand, Pornografische Pathografie, S. 21. 338 C. Liebrand, Pornografische Pathografie, S. 21.
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ches als Privatperson und deren ›Seelenleben‹ steht eine programmatisch motivierte Bezugnahme, die der mitunter durch die Feuchtgebiete aktualisierten ›Verdorbenheit‹ des Literaturbetriebs um 2000 mit dezidiert literarischen Verfahren begegnet. Und so ist es gleich zu Beginn der Ich-Erzähler selbst, der, auf die Gefahr hinweisend, »Vernetzung mit Verbundensein zu verwechseln« (EP 95), das ausstehende intertextuelle Geflecht zwischen Walser, Goethe und Roche anspricht: Ich las Die Leiden des jungen Werthers, der Waldhausbibliothek entnommen, der Titel hatte mich angesprochen, und Goethe schien mir der richtige Mann für ein Buch, das es mit dem Hämorrhoidenbestseller aufnehmen konnte. (EP 17)
3.2.4 Unterscheidungsvermögen Doch so sehr sich der Schundroman und die Erinnerungen an meinen Porsche mit ihren Schreibverfahren auch bemühen, »dem Literaturbetrieb und seinen Mechanismen den Spiegel vor[zu]halten«,339 so sehr betont nicht zuletzt die Forschung, Kirchhoff mache sich mitunter »jene Mechanismen des Literaturbetriebs bzw. der Medienaufmerksamkeit zunutze«,340 die er in seinen Romanen ›anprangere‹. Entspreche etwa im Schundroman bereits die reale Position Kirchhoffs nicht derjenigen seiner fiktiven ›Stellvertreter‹ Branzger und Signore Franz, greife der Text durch sein Schlüsselverfahren sowie das Vorziehen des Erscheinungstermins dermaßen in die reale Realität der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens ein, dass »[d]ie Geschichte [...] in ihre eigene Vermarktung« 341 gleichsam ausfließe. Oliver Jungen verdichtet diesen Umschlag der fiktionalen in die reale Realität am Ende seines Artikels zu einer Literaturbetriebsszene: Kirchhoff inszeniert in Serie, tourt durch die Redaktionen, spricht vom Echten im Falschen. Am letzten Tag der 54. Frankfurter Buchmesse [...] trägt er schließlich, ausgerechnet in der Höhle der Blöden, seinen Schundroman zu Grabe: Hold is coming home. Gehüllt in trauerschwarzen Wollmantel, graues T-Shirt, blaumetallic leuchtende Luftpolster-Sneaker und am Handgelenk die gefeierte Uhr, erhebt er die Stimme des Gewitters gegen die Heilige Messe der Buchverschacherer: Zirkus und Gomorra herrsche dort, wenn etwa – nur ein Beispiel – ein Roman wie Parlando, in dem jahrelange Arbeit stecke, lediglich
339 A. S. Brasch, S. 26. 340 C. v. Treeck, S. 255. 341 O. Jungen, S. 229.
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gleichauf liege mit dem neuesten Schund von Verona Feldbusch. [...] Doch natürlich gehört auch diese Drehung noch zur Inszenierung.342
Nicht nur führe Kirchhoffs Versuch, sich mit allen literarischen Mitteln gegen die von ihm thematisierte literaturbetrieblich ›verdorbene‹ Literatur zu stämmen, mithin letztlich »zur Überhitzung des gesamten Systems«.343 Der betriebliche ›Schund‹ erweise sich zudem gleichsam als ›Parasit‹, der im Inneren wie im paratextuellen Außen des Romans wuchere und dazu führe, dass Kirchhoff, »obwohl kolportageerprobtes Frontschwein, [...] im Schundroman von der Gattung überwältigt« 344 werde. Unabhängig von der Frage, ob Jungen mit dieser Bewertung richtig liegt, verweist er doch auf einen Gesichtspunkt, der für die Selbstprogrammierung des Schundromans wie auch der Erinnerungen an meinen Porsche von nicht unerheblicher Relevanz ist. Deutlich wird durch seine Bemerkung nämlich, dass die Frage, ob ein Roman ›Literatur‹ oder ›Betrieb‹ ist, sich nicht am jeweiligen Text ›an sich‹ ablesen lässt, sondern auf einen Beobachter verwiesen bleibt, der den Roman als ›Literatur‹ oder als betrieblich ›verdorbenes‹ Sprachrohr des Autors ausweist – eine Zuordnung, die freilich auch selbst wiederum gegenbeobachtet werden kann. Literarische Texte, die wie der Schundroman oder die Erinnerungen Akteure und Organisationen ihrer sozialstrukturellen Rahmenbedingungen thematisieren, drohen also immer auch selbst als literaturbetrieblich ›verdorbene‹ Literatur gelesen zu werden. Setzt man die Gefahr dieses ›Umkippens‹ der Lektüre voraus, wird das wesentlich, was Kirchhoff selbst als ›Unterscheidungsvermögen‹ beschreibt. So tritt die Stimme hinter dem in den Erinnerungen wie im Schundroman angelegten kontinuierlich-selbstreflexiven Kommentar etwa in der SWR-Literatursendung Literatur im Foyer auf. Dort trifft Kirchhoff auf die Viva-Moderatorin Sarah Kuttner, deren Debütroman Mängelexemplar ebenso wie die Erinnerungen gerade erschienen ist. Dass diese Talk-Konstellation nicht zufällig ist, macht Moderatorin Felicitas von Lovenberg gleich zu Beginn deutlich, wenn sie Kuttner als ›neue Charlotte Roche‹ vorstellt, was diese natürlich von sich weist. Das offenbar erhoffte Streitgespräch zwischen dem etablierten und high codierten Kirchhoff und der literarisch low konnotierten Debütantin Kuttner bleibt denn auch weitestgehend aus. Aber Kirchhoff kommt immerhin auf die Frage nach dem literaturbetrieblichen Umgang mit aus seiner Sicht vermeintlich literarischen,
342 O. Jungen, S. 229. 343 O. Jungen, S. 230. 344 O. Jungen, S. 229–230.
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tatsächlich ›verdorbenen‹ Texte zu sprechen, um in diesem Zusammenhang Kritik an den Rezeptionsbedingungen seiner Literatur zu üben. Lovenberg: Aber gilt Ihre Kritik [...] eher dem Fernsehen oder dem Literaturbetrieb in dem Fall? Kirchhoff: Meine Kritik gilt dem Mangel an Unterscheidungsvermögen [...], letztlich gilt sie dem, dem Mangel an Unterscheidungsvermögen [...] weil ich glaube, dass es für die Menschen immer schwieriger wird, also man beobachtet Leute, die bei – ich nenne jetzt einen Büchernamen – Hugendubel hingehen – die gehen da fünf Minuten rum und dann gehen sie fluchtartig wieder raus, weil sie einfach nicht wissen, was sie machen sollen, ja. Und weil das ja auch in der Schule nicht gelehrt wird mit diesem ungeheuren Angebot umzugehen, es wird ja auch nicht mehr gelehrt, wie man Bücher liest [...], das wird den Leuten ausgetrieben.345
Kirchhoff qualifiziert im Gespräch mit Lovenberg die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen der Literatur zum einen als durch ein ›Übermaß‹ an Produkten bestimmt. Zum anderen sieht er die literarischen Kompetenzen der Leser insofern kritisch, als er diesen einen ›Mangel an Unterscheidungsvermögen‹ unterstellt, mithin annimmt, diese könnten nicht mehr zwischen high und low, zwischen Literatur und Betrieb unterscheiden. Im Umkehrschluss kommt Kirchhoff dann aber als Autor die Aufgabe zu, eben diese verloren gegangenen Differenzen auktorial wieder in die Literaturvermittlung und -medialisierung eizuführen. Während der Autor bei Literatur im Foyer auf die Folgen dieser Zusammenhänge für die Leser eingeht, stehen im Interview mit dem Spiegel die Auswirkungen auf den öffentlichen Umgang mit Autoren im Zentrum, wie etwa folgende Passage verdeutlichen mag: Ich bin noch so aufgewachsen, dass man erst einmal etwas leistet, dass man schreibt und schreibt und schreibt – und irgendwann lädt einen dann das Fernsehen ein. Die machen es heute genau andersherum. Erst kommt die Fernsehlaufbahn und dann der Bestseller.346
Kirchhoffs Insistieren auf die Differenz zwischen literarischen und literaturbetrieblich ›verdorbenen‹ Texten ist Symptom der unhintergehbaren Beobachterabhängigkeit der Unterscheidung und lässt sich als Element einer werkpoli-
345 Literatur im Foyer 09/09 mit Felicitas von Lovenverg vom 13. März 2009 (SWR). Min. 12:56 bis 13:39. Das Transkript stammt von mir. 346 Markus Brauck u. Volker Hage: Urchristliche Ideen sind gefragt«. Der Bestsellerautor Bodo Kirchhoff (»Schundroman«) über Banker und die Bankenkrise, den Erfolg von Charlotte Roches Roman »Feuchtgebiete«, das Schreiben über Sexualität und seinen neuen Roman »Erinnerungen an meinen Porsche«, in: Der Spiegel 8 (2009).
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tisch motivierten Autorinszenierung verstehen. Diese dient dazu, die in den Texten angelegte Kippfigur zwischen high und low codierten Verfahrenselementen und Realitätspartikeln, mithin zwischen ›Literatur‹ und ›Betrieb‹, gleichsam stillzustellen beziehungsweise den Leser in seiner Lektürehaltung richtig zu justieren. Mit anderen Worten, anders als Kuttner oder Roche, so ließe sich die zitierte Interview-Passage ergänzen, schreibe Kirchhoff seit 30 Jahren und »erwarte, dass diese Erfahrung in die Waagschale geworfen wird.« 347 Folgerichtig sieht sich Kirchhoff ganz offensichtlich nicht nur, aber auch und gerade mit seinem Schundroman und den Erinnerungen an meinen Porsche vor die Aufgabe gestellt, seinem »Werk auf möglichst vielfältige Weise Lektüreoder (allgemeiner) Rezeptionsregeln mit auf den Weg zu geben«,348 da im literarischen System nicht nur »Fehllektüren [...] wesentlich wahrscheinlicher sind als gelungene Werkhörigkeit«,349 sondern seine Texte diese ›Fehllektüren‹ geradezu provozieren. Insofern stellen Kirchhoffs paratextuelle Auftritte wie der bei Literatur im Foyer und das Interview mit dem Spiegel Techniken eines auktorialen »Krisenmanagements« 350 dar, die sich nicht nur der Literaturkritik, sondern den allgemeinen, von den Texten selbst thematisierten Rezeptionsbedingungen stellen. So hält Kirchhoff etwa im Gespräch mit Uwe Wittstock fest, er habe sein »Buch auch deshalb ›Schundroman‹ genannt, weil ich in einer Weise vom Schund oder von der Medienbanalität erzähle, die hoffentlich alles andere als Schund ist.« 351 Und es liegt nicht zuletzt am Autor selbst, auf eben diese Lektüreeinstellung aufmerksam zu machen. An zwei Beispielen aus der auktorial-paratextuellen Rahmung des Schundromans lässt sich dieses werkpolitische Verfahren Kirchhoffs verdeutlichen. Dass der Schundroman sich als literaturbetrieblich ›verdorbene‹ Literatur ausweist, beruht nämlich nicht nur auf dem Umstand, dass er mit Elementen durchsetzt ist, die ihn als »eine passable Schundgeschichte von Auftragsmorden, Liebe und Schmerz« 352 präsentieren. Tatsächlich korrespondieren organisierter Kriminalität, dem damit assoziierten Detektiv-Milieu sowie den mafiösen Strukturen auf der Handlungsebene der Typus der ›ewigen Hure Lulu‹ (hier
347 M. Brauck u. V. Hage [Kirchhoff-Interview]. 348 Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. (Historia Hermeneutica 3) Berlin u. New York 2007, S. 6. 349 S. Martus, Werkpolitik, S. 6. 350 S. Martus, Werkpolitik, S. 54. 351 U. Wittstock, Der unerträgliche Wahnsinn des Literaturbetriebs [Interview]. 352 O. Jungen, S. 223.
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Lou), des ›unverwundbaren Gesetzlosen‹ (Hold) und des ›erfolglosen Privatdetektivs‹ (Feuerbach) auf der Figurenebene. Liebe und Verbrechen erweisen sich als Elemente, die, »flankiert von Fehlern, Zufall und schicksalhafte[n] Fügungen«,353 die für ›Schundliteratur‹ typische Form bestimmen. Literaturbetrieblich ›verdorben‹ ist der Text gleichwohl noch in einer anderen, weniger offensichtlichen Hinsicht: nämlich in typographischer. Der Schundroman greift auf ein Verfahren zurück, in dem der Peritext sich als Element des discours herausstellt. So stellt sich Kirchhoff aus Anlass des Erscheinens seines Romans in der von Literaturkritikerin Sigrid Löffler betreuten Zeitschrift Literaturen einem Streitgespräch mit der Bestseller-Autorin Hera Lind. Neben der Diskussion der Unterscheidung von ›Schund-‹ und ›eigentlicher‹ Literatur thematisiert Kirchhoff dort erneut im Modus eines auktorialen Kommentars seine Motivation für das Schreiben des Schundromans. Der Impuls, den »Schundroman« zu schreiben, war nicht Reich-Ranicki, wie manche seit dem Streit um Martin Walsers »Tod eines Kritikers« glauben, sondern ein ganz anderer. Auf der Lesereise mit »Parlando« kamen immer wieder Leute auf mich zu, die sagten: Können Sie denn keine Absätze machen? Wissen Sie denn nicht, dass es Anführungszeichen gibt? Das konnte ich nicht mehr hören. Und dann habe ich mir gesagt, jetzt schreibe ich ein Buch mit Anführungszeichen und Absätzen!354
Bemerkenswert ist diese Passage, weil Kirchhoff in ihr darauf hinweist, mit seinem neuen Roman explizit Lesererwartungen bedient zu haben. Und tatsächlich ist der Schundroman durch zahlreiche Absätze strukturiert, die im Falle der Wiedergabe direkter, mit Anführungszeichen markierter Rede zum Teil nur wenige Wörter umfassen, ja der Text stellt sich in diesen Dialog-Abschnitten in die Nähe von Formelementen eines Filmdrehbuchs.355 Darüber hinaus ist der Text in 65 übersichtliche, jeweils nur wenige (bis zu zehn) Seiten lange Kapitel strukturiert und umfasst ebenso leserfreundliche 316 Seiten. Der von Kirchhoff in diesem Zusammenhang angesprochene Romanvorgänger Parlando ist mit 536 Seiten nicht nur deutlich länger, sondern verzichtet tatsächlich weitestgehend auf Absätze und Anführungszeichen. Was also zunächst durchaus
353 A. S. Brasch, S. 25. 354 Jan Bürger u. Frauke Meyer-Gosau: Schreiben ohne Qualen. Bodo Kirchhoff contra Hera Lind: Bekommt man bei 30.000 verkauften Büchern kalte Füße oder geht es dann erst richtig los? Deutschlands Seller-Königin trifft im LITERATUREN-Streitgespräch auf den »Schundroman«-Autor. In: Literaturen vom November 2002. 355 Der Schundroman ist auch als Hörbuch erschienen und im Juni 2003 zum Hörspiel des Monats im Deutschlandfunk gewählt worden. Vgl. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hoerspiel/ 178049/ (08. 08. 2012).
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konventionell erscheint, erweist sich in dieser, vom Autor angegebenen Perspektive als Zugeständnis an die Anforderungen oder Erwartungen der Leser, mithin des Literaturbetriebs. Bezeichnet Kirchhoff die in Parlando realisierte literarische Form als das abgerungene Resultat von »fast acht Jahren biografischer Arbeit«,356 führen Absätze und Anführungszeichen dem Leser gleichsam plastisch vor Augen, wie sich Betriebsanforderungen in der Literatur niederschlagen, ja wie sekundäre Formen literarischer Kommunikation den Schundroman »domestiziert« 357 haben. Was auf der Ebene der histoire als ›Beschädigung‹ der Literatur bestimmt wird, wird von Kirchhoff auf diese Weise zum literarischen Darstellungsverfahren der discours-Ebene geadelt, das unter anderem das Literaturen-Streitgespräch mit Lind expliziert. Der auktorial-werkpolitische Kommentar im Zeichen der Leserlenkung zeigt sich im Falle des Schundromans aber auch bereits deutlich früher. Dass Kirchhoff während der Arbeit an seinem Roman von Walsers ›Tod eines Kritikers‹-Projekt »wusste«,358 entnimmt das Feuilleton nämlich einem Artikel, den Kirchhoff im Juni 2002 bezeichnenderweise bereits vor Veröffentlichung seines Romans in einer Ausgabe des Spiegels unterbringt. Mit der Thematisierung des Schreibens am Schundroman von den ersten Ideen bis zur geplanten Veröffentlichung besitzt dieser gut vier Seiten einnehmende Essay eine doppelte werkpolitische Funktion. Erstens dient er dazu, den noch unveröffentlichten Schundroman zu kontextualisieren und in die literaturbetrieblichen Verhältnisse Deutschlands einzuordnen. Im Zentrum steht die betriebliche Konstellation um Martin Walser, Marcel Reich-Ranicki und Siegfried Unseld, die Kirchhoff als das Exempel schlechthin für die literaturbetriebliche »Gütergemeinschaft von Falschem oder Billigem mit Geschicktem oder Medienwirksamem« 359 bestimmt. Der Schundroman wird so bereits vor Erscheinen vom Autor selbst als Reaktion auf seine sozialstrukturellen Vermittlungsbedingungen in Stellung gebracht, das heißt als ein Buch, »das sich den Betrieb vorknöpft, statt ihn zu erdulden«.360
356 Bodo Kirchhoff: Letzte Schlacht vor dem Nachruhm. In: Der Spiegel 24 (2002). Bereits in den Legenden um den eigenen Körper liest Kirchhoff immer wieder aus dem Manuskript von Parlando. Vgl. etwa LK 129. 357 Christoph Bartmann: Dicht am Dichter. Die Lesung als Ritual und Routine. In: Anja HillZenk u. Karin Sousa (Hg.): To read or not to read. Von Leserinnen und Leseerfahrungen, Leseförderung und Lesemarketing, Leselust und Lesefrust. (Publications of the Institute of Germanic Studies 83) München 2004, S. 120–129, hier S. 127. 358 Petra Kohse: Tatoo am Bauchnabel vom Umriss des Gardasees. In: Frankfurter Rundschau vom 13. Juli 2002. 359 B. Kirchhoff, Letzte Schlacht vor dem Nachruhm. 360 B. Kirchhoff, Letzte Schlacht vor dem Nachruhm.
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Zweitens fungiert der Artikel als Legitimation. Kirchhoff kündigt an, dass der Erscheinungstermin seines neuen Romans gezielt mit Blick auf die Debatte um Walser vorgezogen werde: »Das Buch sollte im Herbst erscheinen, ganz normal, und nun erscheint es im Juli, bei einem engen Freund, dem Sohn von Unseld/Suhrkamp.« 361 Kirchhoff antizipiert die bei Erscheinen des Romans anlaufende Unterstellung, vor allem marketingstrategische Interessen zu verfolgen, und bemüht sich, die ›verblüffende Parallel-Aktion‹ – so die Formulierung im redaktionell hinzugesetzten Untertitel des Artikels – als literaturbetrieblichen Zufall zu plausibilisieren. Walser habe ihn schlicht unter »Zugzwang« 362 gesetzt. Im letzten Herbst begann ich, wie gesagt, mit dem Schreiben, und etwa um die Jahreswende bekam ich Wind von Walsers Projekt (und er, nach den Gesetzen der Spionage, vermutlich von meinem). Na und, dachte ich und schrieb weiter; endlich machte die Arbeit mal Spaß. Der Schreibfluss reißt alles Kleinliche mit sich, darum schreiben wir ja: um größer zu sein, als wir sind. Nein, ich hatte keine Angst davor, mir mit Martin Walser das Opfer zu teilen, denn erstens ist mein Roman eine Liebesgeschichte, und zweitens kenne ich Walsers Schwäche fürs Zündeln – habe seine wahre Stärke, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wie das Licht die Bodensee-Mücken, allerdings unterschätzt.363
Von Interesse an dieser Stelle ist nicht so sehr die Frage, ob sie dazu beitragen kann, Kirchhoffs Schreiben am Schundroman durch einen Blick in die schriftstellerische Werkstatt zu erhellen. Diese Frage kann durch sie nicht geklärt werden und der Versuch ihrer Beantwortung würde sich wiederum in den feuilletonistischen Mutmaßungen um die Frage verfangen, welche Akteure im Kontext des tatsächlichen oder vermeintlichen ›PR-Coups‹ welche Strategien verfolgen. Interessant ist vielmehr ihre Relevanz für die Bestimmung des Verhältnisses von primären und sekundären Formen literarischer Kommunikation. Zunächst ist in der zitierten Passage nämlich nicht von der Platzierung des Schundromans am Markt die Rede, sondern von der Tätigkeit Kirchhoffs als literarischer Autor. Die Relevanz von Tod eines Kritikers erweist sich dabei als durchaus ambivalent. Im ersten Teil wird geradezu bestritten, dass Walsers Roman-Projekt als Rahmenbedingung auf Kirchhoffs literarisches Schreiben einwirke. Die Stelle konzipiert das Verhältnis zwischen Walsers Projekt und Kirchhoffs Schreiben am Schundroman als ein indifferentes. Die Einleitung des zweiten Satzes (›Na und‹) weist darauf hin, dass Kirchoff Walsers Projekt zwar als potentielle Störung seines Schreibens versteht, diese Irritation aber für den
361 B. Kirchhoff, Letzte Schlacht vor dem Nachruhm. 362 B. Kirchhoff, Letzte Schlacht vor dem Nachruhm. 363 B. Kirchhoff, Letzte Schlacht vor dem Nachruhm.
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konkreten ›Schreibfluss‹ letztlich irrelevant sei. Unterstützt wird dies durch Kirchhoffs Bemerkung, ›keine Angst‹ vor Walsers Roman zu haben: Er verweist auf das Genre (›Liebesgeschichte‹) sowie seine souveräne Kenntnis von Walsers Inszenierungsstrategien (›kenne ich Walsers Schwäche‹). Hat in dieser Hinsicht das eine Schreibprojekt nichts mit dem anderen zu tun, stellt der darauffolgende Teil die beiden Texte dennoch in einen Bedingungszusammenhang. Der durch das Adverb ›allerdings‹ eingeleitete Einschub am Ende der zitierten Passage deutet an, dass das Walser-Projekt Kirchhoffs literarische Tätigkeit irritiert, das Verhältnis der beiden Texte zueinander also durchaus nicht indifferent ist – im Gegenteil: die Abwesenheit von ›Aufmerksamkeit‹ scheint ganz offensichtlich die literarische Tätigkeit Kirchhoffs als Autor zu beeinflussen. Wenn er in diesem Zusammenhang davon spricht, Walser gehe ihm »mit seinem Parallelbuch stark auf die Nerven«,364 dann setzt er sein eigenes literarisches Schreiben in ein spezifisches Verhältnis zu dessen sozialstrukturellem Kontext, wobei die Walser-Debatte dabei Symptom dieses Bedingungsrahmens ist. Die mit dem Vorziehen der Veröffentlichung einhergehende kurzfristige Reaktion auf Walsers Roman, das heißt die Störung des ›ganz normalen‹ Erscheinens im Herbst – der ›Zugzwang‹ – betrifft also nicht lediglich Fragen des Marketings, sondern bezieht sich auf den Autor Bodo Kirchhoff. Es ist Kirchhoff, der die ›Wirkung‹ der Konstellation zwischen Walser und Reich-Ranicki als literarischer Autor zu spüren bekommt. Diese Irritationen von Strategie, Zufall und Störung verweisen darauf, dass es spezifisch literarische Gründe sind, Walsers Tod eines Kritikers intertextuell in den Schundroman einzubauen – solche Gründe mithin, die gerade in der Nicht-Relevanz des Realitätspartikels für den Erzählverlauf zu finden sind. Kirchhoff wandelt die literaturbetriebliche Störung zu einer Geste literarischer Souveränität um, die nicht nur mit dem Vorziehen der Auslieferung des Romans abgeschlossen wird, sondern sich bereits mit dem Einbau der Vermittlungsbedingungen in den Text vollzieht. Der pejorativ konnotierten Ausrichtung der Thematisierung dieser Zusammenhänge im Schundroman legt Kirchhoff das Programm eines literarischen Schreibens als ›Legendenbilden‹ zugrunde, dem es zwar auch um Aufmerksamkeit geht, diese aber in den Dienst eines autobiographisch fundierten Identitätsprojekts stellt. Literatur als Ergebnis eines ›legendenbildenden‹ Autors steht hier den literaturbetrieblichen, insbesondere massenmedial ›verformten‹ Produktions-, Vermittlungs- und Rezeptionsmodi gegenüber, die im Schundroman, aber auch in den Erinnerungen an meinen Porsche durchaus kulturkonservativ abgelehnt,
364 B. Kirchhoff, Letzte Schlacht vor dem Nachruhm.
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paradoxerweise jedoch auch bedient werden. Und so ist es in beiden Romanen gerade die in Aussicht gestellte Aufhebung aller Unterschiede, in die die jeweilige histoire ihren Protagonisten entlässt. Denn so wie in Walsers liebender Mann nicht zuletzt literarisches Schreiben als »Welt- und Wirklichkeitsflucht« 365 präsentiert wird, so ziehen sich Hold und Deserno schließlich jeweils »in eskapistische Welten zurück«.366 In literarischer Kommunikation ist die Unterscheidung zwischen ›Literatur‹ und ›Betrieb‹ demgegnüber auch durch auktoriale Kommentare nicht stillzustellen.
365 M. Hellström, S. 66. 366 A. Bartl, Erstochen, erschlagen, verleumdet, S. 497.
4 Das Verderben der Literatur durch das Gerede: Andreas Maier In einem Essay, der im Januar 2003 in der Zeit erscheint, stellt Andreas Maier einige Vermutungen darüber an, »weshalb ›sei‹ und ›wäre‹ so oft verwechselt werden«.1 Die Gründe dafür, dass erstaunlich viele Sprecher bei der Redewiedergabe eher den Konjunktiv II als den Konjunktiv I verwendeten, erörtert er anhand einer ad hoc aufgestellten Sprechertypologie. Demnach werde der Konjuktiv II entweder aus Regelunkenntnis, aus Regelübergeneralisierung oder aus sprachästhetischen Gründen so häufig und zudem falsch gebraucht. Sprecher des ersten Typs seien der Annahme, dass der Konjunktiv II »mehr nach Konjunktiv klingt«.2 Die Regel, derzufolge zur Wiedergabe indirekter Rede grundsätzlich der Konjuniktiv I gesetzt werde, der Konjunktiv II indes immer nur dann, wenn Formgleichheit mit dem Indikativ bestehe, sei diesen Sprechern nicht bekannt. Der zweite Sprechertyp sei demgegenüber zwar mit dieser Regel vertraut, wende sie aber durch Übergeneralisierung falsch an. Er verwende den Konjunktiv II zur Redewiedergabe schlicht immer und mache damit die Ausnahme zur Regel. Der dritte, sprachbewusste Sprechertyp sei schließlich jenseits von Regelkonformität zu verorten. Ihm gehe es schlicht um den »Wohlklang der Sprache«.3 Im Gegensatz zum Konjunktiv I sei es demnach mit dem Konjunktiv II möglich, »alles möglichst zum Klingen [zu; DCA] bringen«.4 Dass es mit seinen Vermutungen trotz aller Plausibilität nicht so einfach ist, wie Maier meint, darauf weist ein Leserbrief hin, der in einer darauffolgenden Zeit-Ausgabe abgedruckt ist. Der Sprachwissenschaftler Lutz Götze stellt darin nicht nur die von Maier konstruierte Typologie in Frage, sondern führt auch einen zusätzlichen Grund an, der den bevorzugten Gebrauch des Konjunktiv II erklären soll. Nach Götze dient die Unterscheidung zwischen Konjunktiv I und II im Zusammenhang der Markierung indirekter Rede nämlich vor allem auch dazu, »die Aussage zu differenzieren«.5 Der Konjunktiv II zeige nicht lediglich ein Referieren an, sondern darüber hinaus ein Kommentieren. Der Sprecher bestreite in diesem Fall nämlich den Wahrheitswert der Aussage, die er wiedergebe.
1 2 3 4 5
Andreas Maier: Kümmelchen im Konjunktiv. In: Die Zeit vom 9. Januar 2003. A. Maier, Kümmelchen im Konjunktiv. A. Maier, Kümmelchen im Konjunktiv. A. Maier, Kümmelchen im Konjunktiv. Lutz Götze: Hat er, oder hat er nicht? [Leserbrief] In: Die Zeit vom 23. Januar 2003.
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Anders als es dieser Leserbrief nahelegt, ist an dem kurzen Text unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten gleichwohl nicht so sehr die Frage interessant, ob die von Maier aufgestellte Sprechertypologie die Verwendungsweise des Konjunktivs nachvollziehbar erklären kann oder um die Hinweise von Götze korrigiert werden müsste. Mit der Gebrauchsweise des Konjunktivs erörtert Maier nicht nur eine in soziolinguistischer Hinsicht relevante Fragestellung, sondern er thematisiert auch eben jenen Modus, den er selbst in seinen Texten »exzessiv[ ]« 6 als Medium zur Formbildung nutzt. Mit seinem Debüt Wäldchestag von 2000 sowie dem 2002 erschienenen Roman Klausen gilt Maier dem Feuilleton insbesondere als »Virtuose der Möglichkeitsform, der indirekten Rede, des verhüllenden Konjunktivs.« 7 Ein Indiz dafür, dass es Maier mithin weniger um Grammatik, als vielmehr um Kommentierung seines Schreibverfahrens geht, er sich also an ein literarisches Publikum wendet, ist die Form des Textes. Der Essay diskutiert nämlich nicht nur Modi der Redewiedergabe, er besteht auch selbst zu großen Teilen aus direkter oder indirekter Rede: Maiers Text schildert ein Gespräch, das der Autor mit einem Literaturkritiker geführt hat. Dass die dialogische Erörterung des »grundfalsche[n] Wärehätte-sei-Gemisch[s], das die Leute anrichten«,8 als Selbstreflexion angelegt ist, verdeutlichen insbesondere zwei Stellen, an denen das Gespräch ins Stocken gerät. Es heißt immer: sei, seiest, sei, seien, seit, seien; es heißt nie: wäre, wären et cetera. Ich, zum Kritiker: Wenn ich einen Satz schriebe wie: »Ich sagte, ich wäre unglücklich«, dann erwartete ich geradezu zwanghaft, dass ein Bedingungssatz folgte, etwa so: »Ich sagte, ich wäre unglücklich, wenn ich heute nicht das Kümmelchen sähe.« Nur dort wäre ein wäre möglich. Der Kritiker sagte, das sei zwar richtig, aber wen oder was ich denn bitte mit Kümmelchen meine. Das sagte ich ihm allerdings nicht. Der Kritiker schwieg und schaute mich an. Dann beugte er sich vor und sagte nach einer gewissen Pause fast vorwurfsvoll: Sie reden vom Konjunktiv, aber in Wahrheit reden Sie von sich. Das, sagte ich, ist vermutlich so, das ist vermutlich überhaupt immer so. Wir kehrten zurück zum eigentlichen Thema (ich trank ein weiteres Bier, der Kritiker ebenfalls).9
Spätestens mit dieser Passage verlegt Maier die Erörterung des Konjunktivgebrauchs in einen anderen Kontext als es der zitierte Leserbrief tut. Erstens wird
6 Hubert Spiegel: Die Wetterau-Fragen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. November 2000. 7 Michael Braun: Alles dauernd zerdenken: »Wäldchestag« von Andreas Maier. In: Basler Zeitung vom 8. September 2000. 8 A. Maier, Kümmelchen im Konjunktiv. 9 A. Maier, Kümmelchen im Konjunktiv.
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in ihr der Dialog über den Konjunktiv auf eine selbstreflexive Ebene geleitet. Der Literaturkritiker unterbricht das Gespräch mit Maier und macht anschließend, indem er eine Nachfrage stellt, Maiers Dialogäußerungen selbst zum Gesprächsthema. Zweitens verwendet die Stelle Verfahren der Dialogdarstellung, die das literarische Publikum aus Maiers Romanen kennt: Neben Nicht-Verstehen und Alkoholkonsum der Gesprächsbeteiligten als Elementen auf der histoire-Ebene greift der zentrale Teil der zitierten Passage im discours auf die Wiederholung zurück. Damit ist eine Stilform bezeichnet, die sich auch Maiers literarische Texte, nicht zuletzt das Debüt Wäldchestag,10 immer wieder zu Eigen machen. Maiers Reaktion auf die Feststellung des Kritikers, eigentlich gar nicht vom Konjunktiv, sondern tatsächlich ›von sich‹ zu reden, realisiert die Satz-Wiederholung als eine Paraphrase, die das zunächst Gesagte präzisiert beziehungsweise intensiviert (›überhaupt immer‹). Die Abkürzung ›etcetera‹, das offene Brüskieren des Gegenübers (›Das sagte ich ihm allerdings nicht.‹) sowie die dramatisierte Redewiedergabe durch Sprecher-Nennung in Kombination mit Doppelpunkt, Regie-Anweisung (›zum Kritiker‹) und elliptischer Auslassung des Prädikats verstärken den Eindruck, dass der Essay Verfahren aus den Romanen aufgreift. Gekoppelt ist Maiers Verweis auf sich selbst – und das heißt: auf seine Romane – schließlich mit dem Aufruf zentraler Schlagworte seines literarischen Programms. Die Thematisierung des Konjunktivs ist in einen Komplex von ›Ich‹, ›Wahrheit‹ und deren Verhältnis zur Sprache eingelassen, der in den Text insgesamt eine Differenzierung zwischen dem ›expliziten‹ Reden über den Konjunktiv und dem ›impliziten‹ Reden ›von sich‹ einzieht. Diesem Verfahren, das dem Essay nicht nur die Form der Gesprächswiedergabe gibt, sondern den geschilderten Dialog als eine Szene markiert, die so oder so ähnlich auch in einem von Maiers Romanen hätte platziert werden können, fügt die zweite Stelle, an der das Gespräch zwischen Autor und Kritiker ins Stocken gerät, ein weiteres programmatisches Element hinzu. Der Konjunktiv, sagte der Kritiker, ist einfach, allerdings sind die Köpfe der Menschen oft kompliziert. Ich, nachdenklich: In der Tat, die Menschen machen oft aus etwas sehr Einfachem etwas sehr Schwieriges, sie verwirren noch die leichtesten Dinge. Der Kritiker schaute mich erneut an. Sie reden schon wieder von sich, sagte er. Er ahnte es.11
Der Kritiker verlegt erneut das Gespräch vom ›eigentlichen Thema‹ Konjunktiv auf eine Reflexion über Maiers Redebeitrag und macht damit auch hier den 10 Vgl. speziell dazu Johannes Schwitalla: Sprach- und Dialoggestaltung in Andreas Maiers Roman Wäldchestag. In: Anne Betten u. Monika Dannerer (Hg.): Dialogue Analysis IX: Dialogue in Literature and the Media. Selected Papers from the 9th IADA Conference, Salzburg 2003. Part 1: Literature. Tübingen 2003, S. 183–195, hier S. 186. 11 A. Maier, Kümmelchen im Konjunktiv.
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Dialog selbst zum Thema. Das Ausstellen von Maiers impliziter Selbstbezogenheit, das auch an dieser Stelle wiederum auf eine paraphrasierende Wiederholung mit dramatisierter direkter Rede zurückgreift, führt dabei in diesem Fall den Konjunktivgebrauch mit dem ›Verwirren‹ eigentlich ›einfachster‹ Sachverhalte eng. Auch dies bezieht sich nicht nur auf die als grundsätzlich einfach angenommene Grammatik, sondern lässt sich auch wiederum als Kommentar auf Schreibverfahren in Maiers Romanen lesen. Diese werden nämlich als Texte beschrieben, die nicht zuletzt durch den Gebrauch des Konjunktivs und die spezifische Verschachtelung von ausschweifenden, inhaltlich aber letztlich immer unbestimmt bleibenden Gesprächen »selbst beim geneigtesten Leser Frustrationstoleranz voraus[setzen]«.12 Die ›Marke Maier‹ steht mithin geradezu für die ›Verwirrung‹ des Lesers. An beiden zitierten Stellen lässt der Essay die selbstreflexive Ebene des geschilderten Gesprächs mit der Selbstreflexion von Maiers Programm, wie es aus seinen Romanen bekannt ist und vom Feuilleton herausgestrichen wird, konvergieren. Wichtig für den Zusammenhang der vorliegenden Studie ist dabei, dass Maier seinen Selbstkommentar nicht nur als Gespräch mit einem Kritiker inszeniert, sondern den Artikel darüber hinaus explizit als Wiedergabe eines Gesprächs ›auf der Buchmesse‹ ausweist. Der Essay schließt mit einem ebenso prägnanten wie ernüchternden Resümee: Solche Gespräche werden auf der Buchmesse geführt, das ist die Wahrheit. Wir sprachen noch dies und das, dann gingen wir auseinander. Über das Kümmelchen sagte ich nichts mehr. Man muss ja nicht alles sagen. Man kann ja auch schweigen. Und das dann ganz ohne Konjunktiv.13
Wiederum ist es das Gespräch selbst, das zum Thema des Essays wird. Der Kommentar von »Maiers Konjunktiv« 14 befindet sich in diesem Fall jedoch nicht wie zuvor auf der Ebene des wiedergegebenen Gesprächs. Der Text etabliert vielmehr eine Sprecherposition, die sich jenseits des Buchmesse-Dialogs verortet, also nicht in das Geschehen des Gesprächs selbst eingelassen ist. In Kombination mit seiner literaturprogrammatisch begründeten Form erhält der Essay dadurch einen spezifischen bias, der sich nicht darin erschöpft, dass Maier seinen Kommentar auf die literaturbetrieblichen Vermittlungsbedingungen ausdehnt. Er koppelt zugleich die Differenz von sich vollziehender und
12 Katrin Hillgruber: Wäldchestag. In: Deutschlandfunk vom 6. Dezember 2000. http:// www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/164899 (30. 09. 2011). 13 A. Maier, Kümmelchen im Konjunktiv. 14 Dierk Wolters: Sie schwätzen und gieren nach dem Erbe. In: Frankfurter Neue Presse vom 2. November 2000.
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wiedergegebener Rede, wie sie für sein Programm typisch ist, mit der Unterscheidung von primären und sekundären Formen des literarischen Systems. Gelenkstelle dieser Kopplung sind die genannten, für Maiers literarisches Programm maßgeblichen Schlagworte ›Ich‹, ›Wahrheit‹ und ›Verwirrung‹. Bemerkenswert ist an dem Essay also nicht, dass hier sekundäre Formen mit Blick auf die Buchmesse als mehr oder weniger relevante und zudem in Alkohol getränkte und durch Fastfood gesättigte Gespräche zwischen literarischen Akteuren ausgewiesen werden – das ist ein durchaus geläufiges Bild. Entscheidend ist vielmehr, dass sich diese Vorstellung vom Betrieb durch Maiers spezifischen, programmatisch schematisierten Blick ergibt und dieser sich in einer Literaturbetriebs-Szene mit den Betriebsbedingungen selbst verkettet. Mit der Platzierung des Essays im Feuilleton der Zeit steht der sich am Ende des Artikels als souveräner Beobachter zu Wort meldende Maier nämlich keineswegs jenseits des betrieblichen Geredes, wie es sein Text schildert, sondern mittendrin. Es ist die damit angedeutete Verkettung der literarischen Inszenierung, insbesondere die Frage der Sprecherinstanz, mit ihren sozialstrukturellen Rahmenbedingungen, die im Folgenden interessiert. Dazu soll zunächst unter Bezug auf Maiers programmatische Texte herausgearbeitet werden, als in welcher Hinsicht ›problematisch‹ der Autor das Verhältnis zwischen primären und sekundären Formen literarischer Kommunikation entwirft. Bezeichnend ist dabei, dass die metatextuell-kommentierend ausgewiesenen Programmtexte die Struktur dessen vorwegnehmen, was sich dann im Zusammenhang mit dem 2009 erschienenen Roman Sanssouci als Maiers Literaturbetriebs-Szene erweist.
4.1 Verführung zum Gerede Andreas Maiers Romane werden seit seinem ersten Auftritt vor einer größeren literarischen Öffentlichkeit, der Teilnahme an dem ›Modellfall des Literaturbetriebs‹ 15 schlechthin – den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt 2000, bei denen er den Text Diagnosestunde16 vorträgt und den Ernst-Willner-
15 Vgl. Doris Moser: Über die Erhabenheit des Events. Der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb als Modellfall des Literaturbetriebs. In: Friedbert Aspetsberger u. Werner Wintersteiner (Hg.): Spielräume der Gegenwartsliteratur. Dichterstube – Messehalle – Klassenzimmer. (= Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 9) Innsbruck u. Wien 1999, S. 115–143. 16 Siehe Andreas Maier: Diagnosestunde. In: Robert Schindel (Hg.): Klagenfurter Text 2000. Die 24. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Mit den Texten der Preisträger Georg Klein, Susanne Riedel, Andreas Maier. München u. Zürich 2000, S. 46–58.
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Preis gewinnt –, insbesondere vor der Folie Thomas Bernhards gelesen. JuryMitglied Iris Radisch ist es, die in ihrem Diskussionsbeitrag als Erste auf die »Thomas Bernhardschen Kohlhaasen« 17 in Maiers Wettbewerbstext hinweist und damit ein wichtiges Schema für die weitere feuilletonistische Rezeption vorgibt. Seitdem und mindestens bis zum 2009 erschienenen Roman Sanssouci spricht die Literaturkritik nämlich von Maiers »Thomas-Bernhard-Nachfolge« 18 und stellt nahezu immer einen Zusammenhang zwischen den beiden Autoren her, ja ›hört‹ Bernhard in Maiers Texten ›durch‹.19 Und tatsächlich lässt sich diese Beobachtung auch literaturwissenschaftich bestätigen, finden sich doch zumindest in den ersten drei, wenn nicht vier Romanen »konkrete[ ] BernhardZitate« 20 und »typische Bernhard-Topoi«.21 »Maiers stilistische[ ] und poetologische[ ] Anleihen bei Bernhard« 22 beziehen sich dabei sowohl auf die im Modus einer Sprach- und Erkenntniskritik gerahmte Thematisierung mehr oder weniger absurder gesellschaftlicher Verhältnisse als auch auf die linguistisch bestimmbare Mikro-Ebene von Satz- und Wortstrukturen. Der Reduktion des Narrativen zugunsten direkter oder indirekter Wiedergabe monologisierender Figurenrede korrespondieren hier nicht nur der »exzessiv[ ]« 23 gebrauchte Konjunktiv und die Wiederholung von einzelnen Wörtern und Formulierungen im Textverlauf.24 Hinzu kommen Details wie die Abkürzung ›etcetera‹ und beispielsweise das häufige und grammatikalisch eigentlich unnötige Hinzusetzen von Namensappositionen zu Pronomen.25
17 Robert Schindel: Diskussionen der Jury in Auszügen zu den Preisträgern Georg Klein – Susanne Riedel – Andreas Maier. In: Robert Schindel (Hg.): Klagenfurter Text 2000. Die 24. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Mit den Texten der Preisträger Georg Klein, Susanne Riedel, Andreas Maier. München u. Zürich 2000, S. 161–193, hier S. 187. 18 Vgl. Wolfgang Schneider: Die Welt im Status des Blabla. In: Literaturen von April 2005. 19 Vgl. die Formulierung bei Wendelin Schmidt-Dengler: Klausen. Eine Verunsicherung. In: Literaturen von Juni 2002. 20 Jan Süselbeck: Das Missverständnis. Zu Andreas Maiers Rezeption der Prosa Thomas Bernhards. In: Martin Huber u. a. (Hg.): Thomas Bernhard Jahrbuch 2005/2006. Wien u. a. 2006, S. 191–201, hier S. 198. 21 J. Süselbeck, Das Missvertändnis, S. 198. 22 J. Süselbeck, Das Missvertändnis, S. 199. 23 H. Spiegel, Die Wetterau-Fragen. 24 Vgl. zu diesem Verfahren in den Texten Bernhards vor allem Oliver Jahraus: Das »monomanische« Werk. Eine strukturale Werkanalyse des Oeuvres von Thomas Bernhard. (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland 16) Frankfurt a. M. u. a. 1992. 25 Vgl. dazu die Hinweise bei J. Schwitalla, Sprach- und Dialoggestaltung in Andreas Maiers Roman Wäldchestag, S. 183, Fn. 1. Einen Unterschied zwischen den Autoren erkennt Schwitalla in linguistischer Hinsicht darin, dass Bernhard nicht so ›gesprochensprachlich‹ wie Maier schreibe.
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Doch auch wenn sich gerade in der Beobachtung, Maiers Schreibverfahren sei »nahe bei Thomas Bernhard« 26 zu verorten, Möglichkeiten für einen schematisierten Textzugang eröffnen, münden Teile der literaturkritischen Argumentationen selbst dann, wenn sie unter dem Vorzeichen des »an Thomas Bernhard geschulten Sound[s]« 27 stehen, um etwa auf die »Endlossuada Thomas Bernhardschen Zuschnitts« 28 verweisen zu können, häufig in der Beschreibung einer Absetzungs- oder Abrechnungsgeste Maiers, die mit intertextuellen Beziehungen nicht notwendigerweise assoziiert ist. So wie Bernhard eine »aggressive[ ] Selbstermächtigung zum Schreiben« 29 gegenüber literarischen Vorbildern betrieben hat, so liest die literaturkritische Rezeption das Verhältnis zwischen Maier und Bernhard als »intrapoetische[ ] Beziehung«,30 in der es Ersterem insbesondere darum gehe, der auktorial-dominierenden Stellung des österreichischen Autors das eigene literarische Programm konfrontativ entgegenzusetzen, ja die »hierarchischen Verhältnisse umzukehren«.31 Ihren literarischen Ort finden diese »revisionären Bewegungen oder Bearbeitungsweisen« 32 in Maiers 2004 erschienener Dissertation Die Verführung. Das dort betriebene ›Fehllesen‹ 33 Bernhards ist nämlich, folgt man der Literaturkritik, Symptom der ›Einflussangst‹ Maiers vor einem geradezu übermächtigen literarischen Vorbild, mithin Ausdruck des Versuchs, die eigenen literarischen Texte als möglichst selbständige zur Geltung zu bringen.34 Nicht nur wird
26 Michael Sprenger: Über das Hörensagen. In: Tiroler Tageszeitung vom 11./12. Mai 2002. 27 So die Formulierung bei Wolfgang Harms: Gruppenbild mit Russlanddeutschen. In: Frankfurter Neue Presse vom 24. Februar 2005. 28 Werner Jung: Etwas ist zu Ende gegangen. Abschiede, Abbrüche, Abgänge – eine Handvoll Romandebüts. In: neue deutsche literatur 49 (2001), Nr. 2, S. 177–180, hier S. 179. 29 Hans Höller: »Gewalt auch über ganz Große«. Thomas Bernhards Überwindung der ›Enflussangst‹. In: Martin Huber u. a. (Hg.): Thomas Bernhard Jahrbuch 2005/2006. Wien u. a. 2006, S. 65–74, hier S. 68. 30 Harold Bloom: Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung. Aus dem amerikanischen Englisch von Angelika Schweikhart. (Nexus 4) Basel u. Frankfurt a. M. 1995, S. 9. 31 Jost Eickmeyer: Rom, der ewige Text. Versuch über die Einflussangst in deutschen Prosatexten der Nachkriegszeit. In: Ralf Georg Czapla u. Anna Fattori (Hg.): Die verewigte Stadt. Rom in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. (Jahrbuch für Internationale Germanistik 92) Bern u. a. 2008, S. 87–125, hier S. 91. 32 H. Bloom, S. 13. 33 Vgl. H. Bloom, S. 9. 34 Nach Bloom ist das ›Fehllesen‹ geradezu das Movens literarischer Evolution schlechthin: »Dichtung ist die Einflußangst, ist Fehlverstehen, ist disziplinierte Perversität. Dichtung ist Mißverstehen, Fehlinterpretation, Mesalliance«, H. Bloom, S. 83. Einschränkend sei an dieser angemerkt, dass Bloom sein Modell auf Lyrik bezieht und sich zudem ausschließlich mit sogenannten ›starken Dichtern‹ auseinandersetzt, also etwa literarische Texte um 2000 ausblenden würde.
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Bernhard in dieser Studie von Maier im Wortsinn ›zum Objekt gemacht‹, gerät mithin in ein durchaus typisches Verfahren literarischen ›Fehllesens‹;35 er dient diesem zudem als die »Negativ-Referenz« 36 seines literarischen Programms schlechthin. Dass sich Die Verführung trotzdem (oder deshalb) mit dieser im engeren Sinne literaturprogrammatischen Ebene nicht zufrieden gibt, wird indes durch die Betonung, Maier setze sich mit Thomas Bernhard auseinander, allzu leicht verdeckt. Bei dem Text handelt es sich nämlich nicht nur um das Symptom einer speziellen, im Medium des ›Fehllesens‹ geformten intertextuellen Beziehung, die auf einen »Gegenentwurf zu Bernhards Ästhetik« 37 zielt. Die Verführung bereitet vielmehr eine Literaturbetriebs-Szene vor, wie sie Maiers Frankfurter Poetikvorlesungen von 2006 entfalten und zu deren Verkettung zwischen primären und sekundären Formen sie selbst schließlich einen maßgeblichen Teil beisteuert.
4.1.1 Einflussangst: Thomas Bernhards Rhetorik Jan Süselbeck hat bereits 2006 prognostiziert, Maiers Dissertation dürfte »in Zukunft weniger als wissenschaftlicher Beitrag denn als genuiner Teil seines produktiven ›Bernhard-Komplexes‹ gelesen werden«.38 Bei der Verführung handele es sich nicht um eine literaturwissenschaftliche Studie, sondern um den »burleske[n] poetologische[n] Versuch der ›Überwindung‹ Bernhards«,39 also um eine literaturprogrammatische Positionierung Maiers im Zeichen literarischer ›Einflussangst‹. Doch so naheliegend diese Lesart auch sein mag, ihre Plausibilität erhält sie nicht bereits aufgrund des Umstands, dass das Ausflaggen der Autorfunktion ›Andreas Maier‹ gewöhnlich Anschlüsse in literarischer Systemreferenz provoziert. Es gilt, die ausdifferenzierten kommunikativen Zusammenhänge zu berücksichtigen, denn es sind diese Zusammenhänge, die »das Sprechen bzw. Schreiben regulieren«.40 Während es in literaturwissenschaftlicher Referenz darum geht, im Medium Wahrheit einen Kommentar über den
35 Vgl. J. Eickmeyer, S. 100. 36 Yvonne Hütter: »Zu sein, eine Aufgabe.« Andreas Maier und die Philosophien Meister Eckharts und Carlo Michelstaedters. (Chironeia 7) Bielefeld 2011, S. 214. 37 Y. Hütter, S. 214. 38 J. Süselbeck, Das Missvertändnis, S. 199. 39 J. Süselbeck, Das Missvertändnis, S. 199. 40 Holger Dainat: Wo spielen die Musen? Medientheoretische Überlegungen zu Schillers ästhetischer Theorie. In: Georg Bollenbeck u. Lothar Ehrlich (Hg.): Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Köln u. a. 2007, S. 177–190, hier S. 179.
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Autor Thomas Bernhard und dessen Texte zu generieren und sich als Beobachter von der bisherigen Bernhard-Forschung abzuheben,41 gilt es in literarischen Hinsichten, die Unterscheidung ›Passen oder Nichtpassen‹ zur Prämisse des eigenen Operierens zu machen.42 Hier stehen die beobachtenden Texte mit denen Bernhards in einem kommunikativen, genauer: literarischen Zusammenhang. Vor diesem differenzierungstheoretischen Hintergrund ist es zunächst durchaus unwahrscheinlich, dass Maiers Studie als literarischer oder literaturprogrammatischer Text gelesen wird. Maßgeblich ist hier zunächst der Fachbereich ›Neuere Philologien‹ der Goethe-Universität Frankfurt, der Die Verführung 2002 als Dissertation annimmt und damit paratextuell sowie institutionell legitimiert als wissenschaftliche Arbeit markiert.43 Darüber hinaus bedienen sich Teile des Feuilletons einer Semantik, die den 2004 im Wallstein-Verlag erschienenen Text als literaturwissenschaftliche Studie klassifiziert. Demnach lege Maier »mit unendlich genauem, prüfendem Blick« 44 Bernhards Werk »unters philologische Mikroskop«.45 Die Verführung erweise sich als eine »analytischstrukturelle« 46 Untersuchung, die »philologisch beeindrucken[ ]« 47 könne, mehr noch: geradezu »ein Bravourstück textimmanenter Philologie« 48 darstelle. Dass zudem die literaturwissenschaftliche Rezeption Maiers Text als relevant behandelt, trägt ebenso wie die literaturkritische Qualitätszuschreibung zur Festigung der Markierung als wissenschaftliche Studie bei. So rezensiert etwa die Zeitschrift für deutsche Philologie Maiers Verführung49 und auch die Bernhard-
41 Siehe Jürgen Fohrmann: Der Kommentar als diskursive Einheit der Wissenschaft. In: Jürgen Fohrmann u. Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1988, S. 244–257. 42 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2002, S. 315– 316. 43 Vgl. den Eintrag im Katalag der Universität Frankfurt: http://lbsopac.rz.uni-frankfurt.de/ DB=30/SET=3/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=6015&DB=30&SRT=YOP&TRM=ppn:+123945097 (15. 06. 2012). Im Klappentext wird Maiers Studie neutral als »Buch« bezeichnet. Andreas Maier: Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa. Göttingen 2004. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle DV in runden Klammern im Text, hier Klappentext. Als Hinweis auf den Dissertationshintergrund mag die Angabe der Förderung gelten: »Die Arbeit wurde gefördert durch die Konrad Adenauer Stiftung« (DV unpaginiert). 44 Ralf Berhorst: Der Rat des Dirigenten Krips. In: Süddeutsche Zeitung vom 2. Februar 2005. 45 R. Berhorst. 46 Thomas Meißner: Auch ohne Wände steht das Haus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Dezember 2004. 47 Andreas Maier: Kirillow/Die Verführung. In: Applaus. Kultur-Magazin vom Mai 2005. 48 W. Schneider. 49 Vgl. Bernhard Fischer: Andreas Maier: Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa, Wallstein Verlag, Göttingen 2004. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 124 (2005), Nr. 4, S. 633–634.
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Forschung im engeren Sinne bezieht sich auf Erkenntnisse aus Maiers Untersuchung.50 Schließlich greift diese selbst durchaus auf Techniken wissenschaftlichen Schreibens zurück: Maier nutzt Fußnoten und Literaturverzeichnis, dokumentiert mithin die Auseinandersetzung mit literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zu Bernhard, und präsentiert zudem eine einleitende Explikation seines Forschungsvorhabens, die er im Verlauf der Studie immer wieder aufnimmt und jeweils zu kurzen Kapitelergebnissen zusammenfasst. Ganz im Zeichen des werkimmanenten Versprechens, das ›begreifen‹ zu können, ›was uns ergreift‹, stellt Maier zu Beginn der Verführung in Aussicht, einer Lektüreerfahrung auf den Grund gehen zu wollen, die die Auseinandersetzung mit dem Werk Thomas Bernhards auffallend bestimme. Stelle sich nämlich immer wieder der Eindruck ein, Bernhard oder dessen Texte »befänden sich geradezu an den Wurzeln des Seins« (DV 7), könne der Leser »diese ›Tiefe‹, diese ›Bedeutsamkeit‹ der Texte nicht wirklich fassen« (DV 7). Maier ist eben daran gelegen: Er will den Autor ›fassen‹. Um den »Wahrheitsanspruch der bernhardschen Prosa« 51 auflösen zu können, arbeitet die Untersuchung in überaus detaillierten, bis auf die Satz- und Wortebene abzielenden Argumentationen »einige[ ] Prinzipen« (DV 8) der Texte Bernhards heraus, die immer wieder eine spezifische Kommunikationsstruktur reproduzierten. Diese Struktur dient Maier zufolge dazu, den Bernhard-Leser erstens dazu anzuleiten, »den Texten zu glauben und bei bestimmten Punkten nicht nachzufragen« (DV 7), und zweitens »dem Autor einen bestimmten Rang zuzuschreiben« (DV 9). Als »stilistische[n] Kern« (DV 9), ja als den »Teig, aus dem der Autor alles knetet« (DV 269), präpariert Maier bestimmte, wiederkehrende Verfahren heraus: so etwa einen besonderen »Redegestus« (DV 102), der vor allem mit Superlativen arbeite, die Konfrontation des Lesers mit zahlreichen, letztlich als bloßes name-dropping gesetzten »Bildungszitaten« (DV 109), allerhand »motivische Austauschbarkeiten« (DV 218) sowie verstreute »Denksätze« (DV 35), die durch »eine kalkulierte Mischung aus Rätselhaftigkeit und gewöhnlichem Denotat, Absurdität und Alltagsvernunft« (DV 35) geformt seien. Maier geht es mithin um die gleichsam generativen Prinzipien und ›Grundsätze‹ (vgl. DV 42), mit denen Bernhard sein »Material erzeugen« (DV 42) könne. Verdeutlichen lässt sich seine Argumentation anhand der Auseinandersetzung mit Bernhards Kalkwerk. Wichtig ist demnach zunächst, dass der Roman
50 Siehe Natalie Binczek: Ein Netzwerk der Freundschaft. Thomas Bernhards Der Untergeher und die Unablässigkeit des Vergleichens. In: Natalie Binczek u. Georg Stanitzek (Hg.): Strong ties / Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. (Beihefte zum Euphorion 55) Heidelberg 2010, S. 211–231, hier S. 213, Fn. 16. 51 Y. Hütter, S. 213.
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mit Konrads Studie ein Objekt zum Gegenstand habe, »das selbst nicht erscheint« (DV 42). Das »epische Material – die Konradschen Behauptungen über seine Studie –« (DV 42) sei »nur an etwas Unüberprüfbares gebunden« (DV 42). Die Studie lasse sich mithin nur als »bloße Behauptung« (DV 42) verstehen, deren Inhalt »nicht zu überprüfen« (DV 40) sei. Da ihm »die zum sinnvollen Verständnis der Behauptung notwendigen Zusatzinformationen« (DV 40) fehlten, könne der Leser »nicht über Wahrheit oder Falschheit [...] urteilen« (DV 40) und müsse die über die Studie präsentierten Beschreibungen schlichtweg »hinnehmen« (DV 39). Dem dadurch erzeugten Effekt der ›Beliebigkeit‹ auf der histoire-Ebene, also dem Fehlen der »faktische[n] Grundlage aller dieser Aussagen« (DV 42), korrespondiert Maier zufolge »die völlige Abwesenheit von Begründungen« (DV 42) auf poetologischer Ebene.52 So erwecke der Text den Eindruck, seine »epische Verfahrensweise« (DV 42) sei wie auch immer philosophisch »begründe[t]« (DV 42), bediene sich tatsächlich aber lediglich eines »Vokabular[s] der Eigentlichkeit« (DV 42). Die in den Roman eingeflochtenen sprachreflexiven Elemente täuschten die reflektierte Auseinandersetzung mit den im Text angeführten Philosophen bloß vor, seien »allesamt axiomatisch« (DV 42), ja stünden gleichsam im Zeichen einer »taktischen Sprachkritik« (DV 42). Maier fasst seine Analyse des Kalkwerks wie folgt zusammen: Der Autor des Textes erscheint erstens vor seinen gutmeinenden Lesern als philosophischer Autor: Der Text suggeriert, er im ganzen und jeder Satz im einzelnen verhandle auf nicht mehr hintergehbare Weise, also »im Tiefsten«, Wahrheit und Existenz. Inhalt erscheint die totale Verhandlung von Sein, Wahrheit und Möglichkeit von Sinn bzw. die totale Abstreitung jeder sinnfälligen Möglichkeit von Gehalt. Zweitens ist der Autor mit der aufgezeigten Methode nahezu total gegen seine Kritiker gewappnet. Drittens hat er mit ihr sein Schreiben klaren und einfachen Prinzipien untergeordnet. (DV 50)
Die drei von Maier angeführten Gesichtspunkte des Kalkwerks (Autorinszenierung und manipulative Leserlenkung, auktoriale Absicherung gegen Kritik und Elemente des Schreibverfahrens) verdeutlichen exemplarisch, dass und wie zwei Unterscheidungen die Argumentation der Verführung maßgeblich organisieren: Es ist dies erstens die Differenz zwischen ›Wahrheit‹ und »rhetorische[m] Aufwand« (DV 119); und zweitens die Unterscheidung von Autor und Erzähler/Figur. Die Differenz zwischen ›Wahrheit‹ und ›Rhetorik‹ bildet die Beobachtungsdirektive für die Analyse von Bernhards »Methode der permanen-
52 Dass die von Maier diagnostizierte ›Beliebigkeit‹ tatsächlich als Effekt des Gerüchte generierenden Kalkwerks zu sehen ist, zeigt Natalie Binczek: ›Vom Hörensagen‹ – Gerüchte in Thomas Bernhards Das Kalkwerk. In: Jürgen Brokoff u. a. (Hg.): Die Kommunikation der Gerüchte. Göttingen 2008, S. 79–99.
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ten Wahrheitserzeugung« (DV 35) und dient dazu, die im Titel der Studie angesprochene ›Verführung‹ des Lesers zu benennen und als »eine Art Wahrheitslüge« 53 zu bestimmen. Bernhards Prosa will, daß ich ihre rhetorischen Strukturen übernehme, daß ich die Welt auf ihre Weise sehe, kurz, daß ich diese Strukturen reproduziere. Aber sie liefert mir in Wahrheit gar keine mögliche Sichtweise der Welt, sie liefert mir immer nur ein rhetorisches Konstrukt, dessen Lebensdauer allein davon abhängt, ob es von mir (und anderen) benutzt wird oder nicht. (DV 269)
Die Unterscheidung zwischen ›Wahrheit‹ und ›Rhetorik‹ ist mit Blick auf zwei Gesichtspunkte wichtig. Zum einen fungiert sie als Abwertungsmaßstab des Bernhardschen Programms. Maier bestimmt dessen Schreibprinzipien als »gering in ihrem Aufwand« (DV 35), ja Bernhards »pseudomimetische Erzählweise« (DV 22) fuße auf solchen rhetorischen Verfahren, »die etwas mit Vereinfachung und deutlicher Begrenzung des Materials zu tun haben« (DV 8). Diese erkennt Maier nicht nur in dem von ihm unterschiedenen literarischen Frühund Spätwerk Bernhards, sondern zudem in der »Reihe von autobiographischen Büchern« (DV 70) des Autors. Mit Blick auf letztere zeigt Maier, dass Bernhards »biographische Welt« (DV 131) denselben Darstellungsverfahren wie seine »fiktionale Prosa« (DV 131) unterliege. Zum anderen und vor allem ist Maier dann wiederum darum bemüht, »textimmanent« (DV 158), aber auch mit Bezug auf paratextuelles Material (vgl. zum Beispiel DV 200–206) Widersprüche in Bernhards Autobiographien aufzuzeigen, um so die von ihm unterstellte Stilisierung des Autors entlarven zu können.54 Durchziehe die autobiographischen Texte demnach »ein totaler Widerspruch« (DV 140), bemerkt Maier insgesamt, Bernhards Autobiographien seien »rhetorisch« (DV 156) gebaut, ja erzeugten eine »künstliche Konstruktion von Situationen« (DV 158), die »der Verschleierung der Tatsachen« (DV 158) diene. Bernhards Autobiographien sind rhetorisch. Situationen oder Sachverhalte werden als pathetisierende Effekte verwendet und geraten dadurch in Widerspruch zu anderen Text-
53 Y. Hütter, S. 213. 54 In einem kürzeren Artikel beschreibt Maier seine These wie folgt: »Wären Bernhards Autobiographien ein Haus, würde es sofort in sich zusammenstürzen. Ich will damit nicht sagen: Bernhard schreibt in seinen Autobiographien Unwahres. Nein, ich möchte etwas anderes sagen: Auch bei bloßer textimmanenter Betrachtung stürzt das Gebäude in sich zusammen. Bernhards Wille war m. E. nie der zur Wahrheit, sondern der zum Effekt.« Andreas Maier: Es gab eine Zeit, da habe ich Thomas Bernhard gemocht. Über Bernhards Willen zum rhetorischen Effekt. In: Joachim Knape u. Olaf Kramer (Hg.): Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Würzburg 2011, S. 143–147, hier S. 147.
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passagen. Das geht bis in die Mikroebene einzelner Sätze. Der Effekt ist wichtiger als der Wahrheitswille, letzterer ist vielmehr nirgendwo erkennbar. (DV 156)
Die damit in den Blick genommene These von der nicht unerheblichen Selbstinszenierung Thomas Bernhards, die auch die Bernhard-Forschung thematisiert,55 macht deutlich, dass Maier gleichsam ›hinter‹ den von ihm entlarvten ›rhetorischen Konstrukten‹ Bernhards ein »taktisches Manöver« (DV 117) erkennt, das im Modus eines »nahezu perfekten Suggestionsversuch[s]« (DV 267) vorgebe, beim »Nicht-mehr-Hintergehbaren angekommen zu sein« (DV Klappentext). Bernhards »Wahrheitswille« (DV 117) ziele jedoch gar nicht auf ›Wahrheit‹, der Autor inszeniere vielmehr geradezu gezielt »auf Kosten der Wahrheit« (DV 179), ja sei lediglich »auf den Effekt aus« (DV 129). Durch Verfahren der »Stilisierung und Verfälschung« (DV 203) arbeite Bernhard in und zwischen Texten und Paratexten strategisch und »öffentlich an einer Legende« (DV 202). Stattet Maier durch diese Beobachtung autobiographisches Schreiben mit einem »referenziellen Diskurs« 56 aus, der den Texten aus literaturwissenschaftlicher Perspektive einen nicht einlösbaren Wahrheits- und Authentizitätsanspruch aufbürdet, kombiniert er im selben Zug die Unterscheidung von ›Wahrheit‹ und ›Rhetorik‹ mit der Differenz von Autor und Erzähler/Figur und »nivelliert« 57 auf diese Weise die Unterscheidung zwischen Figurenäußerungen in der jeweils entfalteten fiktionalen Realität und Aussagen des Autors in der realen Realität. Maier bringt dies auf den Begriff der »taktische[n] Natur« (DV 207) der Bernhardschen Texte. So wird der reale Autor Thomas Bernhard zu einem »Aussagesubjekt, das seine ›wahren Ansichten‹ über andere Künstler und Denker im Rahmen des fiktionalen Diskurses äußert« 58 und sich auf diese
55 So wird Thomas Bernhard etwa ein »ausgeprägter Wille zur Selbstinszenierung« zugeschrieben. Michael Billenkamp: Provokation und posture. Thomas Bernhard und die Medienkarriere der Figur Bernhard. In: Markus Joch u. a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Gemeinsam mit Nina Birkner. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 118) Tübingen 2009, S. 23–43, hier S. 33. 56 Claudia Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction – Nouvelle Autobiographie – Double Autobiographie – Aventure du texte. (Passagen 1) Hildesheim u. a. 2002, S. 48. Siehe darüber hinaus Martina Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe – Barthes – Özdamar. In: Ulrich Breuer u. Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1 Grenzen der Identität und der Fiktionalität. München 2006, S. 353–368. 57 Uwe Wirth: Herr Maier wird Schriftsteller (und Schreiber). Oder: Die ›Literaturwissenschaft‹ der Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik Neue Folge XVII (2007), Nr. 1, S. 128–138, hier S. 134. 58 U. Wirth, Herr Maier wird Schriftsteller (und Schreiber), S. 134.
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Weise, das heißt jenseits der wie auch immer beschaffenen ›tatsächlichen‹ Umstände stilisiert.59 Wenn nun Süselbeck in seiner bereits im Juni 2005 erschienenen Besprechung der Verführung mit Blick auf die Konvergenz von Autor und Erzähler/ Figur und deren Applikation auf die Differenz von ›Wahrheit‹ und ›Rhetorik‹ an der »literaturwissenschaftlichen Zurechnungsfähigkeit Maiers« 60 zweifelt, spricht er genau damit eben jenes, eingangs erwähnte Problem der Einordnung der Studie »in die disziplinäre Matrix der institutionalisierten Literaturwissenschaft« 61 an. Die Vermutung, Maiers Text verfolge möglicherweise überhaupt kein literaturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse, ja wende sich eher an ein literarisches Publikum, ergibt sich indes weniger aus der wiederholt und gegen die zitierten feuilletonistischen Lobeshymnen vorgebrachten Beobachtung, Maier präsentiere aus literaturwissenschaftlicher Hinsicht »wenig überraschende Erkenntnis[se]«,62 ja arbeite gar mitunter theoretisch-methodisch unsauber. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die Negation in das Wissenschaftssystem miteingebaut ist, die Literaturwissenschaft also mit trivialen oder disziplinär illegitimen Arbeiten umgehen muss und dies auch ohne Probleme kann. Wichtig ist nur, dass die Relevanz des »Wahrheits/Unwahrheitsbezug[s]« 63 nicht zur Disposition steht. Symptomatisch ist demgegenüber, wie bereits die literaturkritische Rezeption bei der Zuordnung der Verführung ins Schwimmen gerät. So hält etwa Wolfgang Schneider in seiner Rezension für die Literaturen zwar einerseits fest, dass es sich bei Maiers Text um eine Untersuchung handele, die der »meist affirmativen Bernhard-Forschung [...] einen
59 Deutlich wird diese Überlappung von Autor und Erzähler insbesondere an den Stellen DV 214, 229, 231 und 239. Gleichwohl weist Maier an anderer Stelle nicht nur auf den Unterschied zwischen Autobiographie und Fiktion hin (vgl. DV 209), sondern hält zudem fest, es gehe ihm »hier natürlich nicht um Thomas Bernhards reale Krankheit, es geht darum, die Inkonsistenz gewisser Szenen aufzuzeigen und die Frage zu erörtern, warum diese so brüchig sind« (DV 119). 60 Jan Süselbeck: Der Billigkritisierer. In: Die Tageszeitung vom 25. Juni 2005. 61 U. Wirth, Herr Maier wird Schriftsteller (und Schreiber), S. 134. 62 J. Süselbeck, Das Missvertändnis, S. 194. Gemeint ist damit vor allem die Beobachtung, Bernhards Texte mündeten letztlich in »totale[r] Beliebigkeit« (DV 280). So stellt Maier gleich zu Beginn fest: »Man kann diese ›Tiefe‹, diese ›Bedeutsamkeit‹ der Texte nicht wirklich fassen. Wo auch immer man genauer hinschaut, löst sich jede Bedeutung sofort in ein Meer verschiedenster Verstehensmöglichkeiten auf. Bernhards Prosa ist nämlich eine der Bedeutungsvermeidung« (DV 7). Die Beobachtung, dass sich Bernhards Texte einer Bedeutungsfestlegung und dem damit assoziierten ›Sinn‹ immer wieder entziehen, ist indes »nachgerade so etwas wie die Signatur der Moderne«, U. Wirth, Herr Maier wird Schriftsteller (und Schreiber), S. 133. 63 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2002, S. 309.
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massiven Stein des Anstoßes in den Weg« 64 lege. Andererseits verortet er den Text jedoch dezidiert in literarischen Kontexten, wenn er Die Verführung als »das fulminante Dokument einer schriftstellerischen Abgrenzung« 65 liest. In dieser Hinsicht spricht Maier also nicht mehr als Literaturwissenschaftler, sondern tritt »sozusagen als Kollege« 66 Bernhards auf, ja mehr noch: »Maiers akribische Lektüre« 67 steht nun im Zeichen eines literaturwissenschaftlich gleichsam irrelevanten Projektes, gehe es doch um nichts Geringeres als um die »Demontage« 68 von Maiers literarischem Vorbild. Dass in dieser Hinsicht »weniger der Germanist als der Schriftsteller Maier spricht, der in eigener Sache handelt«,69 verdeutlicht tatsächlich bereits die peritextuelle Rahmung der Untersuchung. Der Autor Andreas Maier wird dort nicht nur unter Verweis auf seine bisherigen Romane Wäldchestag (2000) und Klausen (2002) sowie den für das Frühjahr 2005 im Wallstein-Verlag angekündigten Kirillow dezidiert in literarischen Kontexten verortet. Hinzu kommt die explizite Markierung der ›intrapoetischen Beziehung‹ zwischen Maier und Bernhard als ›(Fehl-)Lesen‹, heißt es doch im Klappentext: Ein Treffen der besonderen Art findet in diesem Buch statt: Der Schriftsteller Andreas Maier liest den Schriftsteller Thomas Bernhard. Andreas Maier unterzieht das Prosawerk Bernhards einer radikalen Kritik und mißt es an seinen eigenen Ansprüchen. (DV Klappentext)
Zum einen die Markierung ›Schriftsteller‹, zum anderen die Bezeichnung ›Treffen der besonderen Art‹ ordnet den Autor Andreas Maier und dessen Text – hier neutral als ›Buch‹ bezeichnet – in literarische Zusammenhänge ein und stellt Beobachter und Beobachtetes auf die Ebene eines kommunikativen Zusammenhangs. Bezeichnet Maier denn auch selbst Die Verführung an anderer Stelle als »pseudowissenschaftliche Studie« 70 scheinen sich in dem Text »die literarische und die literaturwissenschaftliche Perspektive auf Bernhards Werk
64 W. Schneider. 65 W. Schneider. 66 Alfred Pfabigan: Andreas Maier: Thomas Bernhards Prosa. In: Literaturhaus Wien. http:// mail.literaturhaus.at/index.php?id=3945&L=0 (15. 08. 2011). 67 W. Schneider. 68 T. Meißner. 69 Die verkappte Referenz. Andreas Maier setzt sich mit seiner Untersuchung Die Verführung gegen Thomas Bernhard zur Wehr. In: Volltext vom 14. Dezember 2004. 70 Andreas Maier: Ich. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2006. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle I in runden Klammern im Text, hier, S. 87.
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zu vereinigen«.71 Der Text wird zum Medium einer literaturprogrammatischen Konfrontation mit Thomas Bernhard, die »[d]ieses ›etwas-anders-machen‹ im Verhältnis zu Bernhard« 72 über das gezielte Ausblenden der »Literarizität der untersuchten Texte« 73 in Szene setzt. Versteht man Die Verführung in diesem Sinne als einen lediglich »wissenschaftlich auftretenden Text«,74 liegt es nahe, die Verfahren zu beschreiben, die die Studie für literarische Kommunikation anschlussfähig machen. Es geht mithin nicht um die Erkenntnis, dass auch wissenschaftliche Texte im Sinne Hayden Whites auf Darstellungsverfahren angewiesen sind. Im Zentrum stehen vielmehr Formen, die auf literarische Adressabilität abzielen. Als Ausgangspunkt kann in diesem Zusammenhang die Beobachtung dienen, dass Die Verführung die Unterscheidung zwischen ›Wahrheit‹ und ›Rhetorik‹ asymmetrisch verwendet. Der Unterscheidung zugrunde liegt eine Vorstellung des Verhältnisses zwischen Realität als ›letzter Wahrheit‹ und deren literarischer (oder auch autobiographischer) Darstellung durch ›rhetorische‹ Mittel. Ihre Spezifik erhält die ›Wahrheit‹/›Rhetorik‹-Unterscheidung dadurch, dass Maier vorgibt, Kriterien angeben zu können, die es erlaubten, Abweichungen der ›rhetorischen‹ Darstellung von der ›Wahrheit‹ festzustellen, um gleichzeitig zu invisibilisieren, dass jeder kommunikativen Form ein Informations- und ein Mitteilungsaspekt innewohnt.75 Wenn Maier von Bernhards ›rhetorischen Konstrukten‹ spricht, so bewegt er sich mithin keineswegs in einer Linie zu Annahmen etwa eines radikalen Konstruktivismus. Die Bemerkung, Bernhard produziere »ziemlich schiefe[ ] rhetorische[ ] Gebilde« (DV 125), steht vielmehr im Zeichen der Abweichung einer von Maier vorausgesetzten, nicht weiter begründeten ›Wahrheit‹. Doch gleichwohl Maier etwa in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem Titel Ich festhält, was den Umgang mit ›Wahrheit‹ angehe, seien er und Bernhard, »einander entgegengesetzte Autoren« (I 114), arbeitet er mitunter mit eben jenen Verfahren, die er bei Bernhard feststellt.76 Neben der sowohl
71 So die Formulierung von Markus Steinmayr: Brutalstmögliche Lektüre. Andreas Maier zernichtet Thomas Bernhards Prosa. In: literaturkritik.de, Nr. 8, August 2005. http://www. literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=8380 (22. 07. 2011). 72 Michael Humboldt: Im Gespräch – mit Andreas Maier. Mündlichkeit führt immer ins Chaos. In: Wetterauer Zeitung vom 2. Mai 2002. 73 J. Süselbeck, Das Missvertändnis, S. 197. 74 J. Süselbeck, Das Missvertändnis, S. 199. 75 Siehe Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 10. Auflage. Frankfurt a. M. 2002, hier insbesondere S. 193–197. 76 Tatsächlich finden sich durchaus solche Stellen, an denen Maier sein Untersuchungsobjekt lobt. So heißt es etwa: »Allein schon diese strategisch glänzende Verschränkung aus Redundanz (Beliebigkeit) und scheinbar märtyrerhafter Wahrhaftigkeit verleiht dem Autor Bernhard
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bei Maier als auch bei Bernhard anzutreffenden Abkürzung ›etcetera‹, die nicht nur ausgeschrieben, sondern – wie in Maiers literarischen Texten – kursiv gesetzt ist (vgl. DV 10, 16, 94, 151) und der beinahe wörtlichen Wiederholung ganzer Abschnitte (vgl. etwa DV 39 und 40),77 so dass dasselbe Argument in immer neuen Varianten immer gleich durch die Studie durchläuft, macht sich Maier insbesondere den von ihm diagnostizierten Appellcharakter Bernhards zu eigen. So wie dieser auf eine »suggestive Form« (DV 208) setze, so »suggeriert« 78 Maier in und mittels seiner Studie, »Bernhards Literatur intendiere eine durch kalkuliert erzeugte Affekte und Emotionen generierte Vorstellung ›letzter‹ Wahrheit.« 79 Denn tatsächlich bemüht sich Die Verführung selbst darum, ein »Affirmationsverhalten beim Leser zu erzeugen« (DV 65), ja generiert gleichsam die Kommunikationssituation, die ihr Autor als für Bernhards Texte spezifisch beschreibt. Dass Maiers Studie in diesem Sinne weniger einem literaturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse verpflichtet ist, sondern sich in literarischen Kontexten verortet, dafür gibt es zumindest drei Indizien. Erstens grenzt sich Die Verführung nicht nur gegen die etablierte Bernhard-Forschung ab, sondern negiert literaturwissenschaftliche Zugriffsweisen auf Literatur insgesamt. Zweitens zeichnet sich Maiers Studie durch einen bestimmten Redegestus aus, der – drittens – einen spezifischen (performativen) Effekt zur Folge hat. Auffallend ist zunächst, dass die Argumentation der Verführung wiederholt durch Passagen unterbrochen wird, in denen Maier darüber berichtet, wie er seine Studie schreibt. Der Fall ist dies unter anderem in einem Abschnitt im Kapitel über die Erzählung Beton. Kommentierend, wie sich Ich-Erzähler Rudolf aus Bernhards Text Notizen über Felix Mendelssohn Bartholdy macht, bemerkt Maier: Alles das klingt soweit aus dem Arbeitsleben gegriffen und trifft beispielsweise auch auf mich zu, während ich diese Arbeit hier schreibe. Ich bin zwar nicht über Jahre an viele Orte gereist, aber doch immerhin nach Innsbruck und Amras, nach Salzburg und Wien, ich habe mir aus verschiedenen Bibliotheken die verschiedensten Bücher kommen lassen, ich habe zwar keine Bernharddokumente gesichtet, aber mit einigen Personen gesprochen, die ihn kannten, ich habe mir immer wieder Notizen gemacht und bei diesem und jenem gehofft, daß es mir nicht entfalle, bevor ich es aufnotiert habe. Und wie auf dem Tisch Rudolfs Moscheles, Schubring und Nadson liegen, so auf meinem Huguet, SchmidtDengler und Fleischmann. (DV 249–250)
m. E. geniale Züge« (DV 66, Fn. 19). Bereits auf dem Klappentext ist denn auch von »Bernhards Genialität« (DV Klappentext) zu lesen. 77 Siehe dazu mit Bezug auf Bernhard die Studie von O. Jahraus. 78 J. Süselbeck, Das Missvertändnis, S. 197. 79 J. Süselbeck, Das Missvertändnis, S. 197.
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Von Relevanz sind Stellen wie diese zum einen, weil es in (literatur-)wissenschaftlichen Texten alles andere als üblich ist, den eigenen Schreibprozess im Modus eines Einblicks in die Arbeitswerkstatt (etwa einer Dissertation) zu thematisieren.80 Dabei geht es keineswegs nur um die ohnehin unproblematische, mitunter aus Gründen der Leserfreundlichkeit sogar eingeforderte Benennung des Forschungsergebnisse präsentierenden Subjekts (›ich‹). Die zitierte Stelle zielt nämlich darüber hinaus auf eben jene Ebene ›letzter‹ Wahrheit, die von Bernhards Texten zwar behauptet, tatsächlich aber systematisch verfehlt werde, und dient damit – zum anderen – als Beglaubigung der argumentativ entfalteten These Maiers. Insofern dieser damit für seine Darstellungsform in Anspruch nimmt, alles andere als ›rhetorische‹ Verfahren einzusetzen, erzeugt die Studie gleichwohl mit eben diesen Einschüben wenig mehr als einen ›Wahrheitseffekt‹. Die Einschübe erlauben es Maier nämlich, die ›Abweichung‹ der Bernhardschen Darstellung von den ›tatsächlichen‹ Begebenheiten zu plausibilisieren. So heißt es in einer Fußnote an anderer Stelle ebenfalls mit Blick auf Rudolfs »konradesk[e]« (DV 258) Probleme der Niederschrift seiner Arbeit zu Mendelssohn Bartholdy: »Ich [das ist Andreas Maier; DCA] habe in meinem Leben nie mehr als maximal fünf Seiten geschrieben, ohne daß ›etwas dazwischengekommen‹ wäre« (DV 259, Fn. 20). Zweitens sind jene Stellen relevant, an denen sich Maiers Studie auf dezidiert literaturwissenschaftliche Kontexte bezieht. Kommt in wissenschaftlichen Texten gewöhnlich Fuß- oder Endnoten diese Funktion der Bezugnahme zu, fällt mit Blick auf Die Verführung nicht nur auf, dass Maiers Text ausgesprochen wenige Fußnoten einsetzt. Hinzu kommt, dass die wenigen, verstreuten Fußnoten, auf die die Studie zurückgreift, zumeist eine spezifisch signifikante Form haben. Insbesondere die Fußnote 7 im Kapitel ›Alte Meister. Bernhards Stil‹ sticht in diesem Zusammenhang hervor. Bemerkenswert ist diese Fußnote zum einen aufgrund ihrer Länge: Während Maier gewöhnlich mit wenigen bis gar keinen Anmerkungen auskommt, breitet sich diese Fußnote gleich über zwei Seiten aus, ja nimmt mehr als drei Viertel der aufgeschlagenen Fläche der Seiten 284 und 285 zusammen ein. Neben dem Umfang, der der Anmerkung in Kombination mit ihrer Platzierung gegen Ende der Studie einen gleichsam
80 Eine ähnlich konzentrierte Dissertations-Szene in der Verführung ist die Folgende: »ich [das ist wiederum Maier; DCA] muß sogar sagen, auf den ersten Blick ist Rudolf in seiner Kenntnis des Gegenstandes und in der Struktur, die er im Umgang mit seinem Gegenstand gewonnen hat, viel, viel weiter fortgeschritten als etwa ich in der Kenntnis Thomas Bernhards und in den Strukturen, in denen ich über den Autor denke. Denn weder habe ich mich über zehn Jahre darum bemüht, diese Arbeit, die ich gerade schreibe, vorzubereiten, noch habe ich jemals so umfassend die Möglichkeit gehabt, persönliche Dokumente einzusehen« (DV 260).
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summarischen Charakter verleiht, ist zum anderen das Zitationsverfahren innerhalb der Fußnote auffallend. Motiviert wird das Einfügen der Anmerkung durch Maiers Beobachtung, Bernhard führe in seinen Texten immer wieder ›große Namen‹ an (hier konkret Goethe, Kant, Schopenhauer), fülle diese intertextuellen Verweise aber nie mit einem »spezifischen Inhalt« (DV 284). Diese fehlende Plausibilisierung habe auch die Bernhard-Forschung festgestellt, wie Maier dann in der Fußnote ausführt: »Huber stellt (...) fest, daß wir aus Bernhards Büchern nie erfahren, was eigentlich der Inhalt der Schopenhauerschen Philosophie sei, ja nicht einmal warum seine Protagonisten Schopenhauers Werke schätzen (...) Daraus ergibt sich für ihn (sc. Martin Huber: Thomas Bernhards philosophisches Lachkabinett, Wien 1993) eine zweifache Fragestellung: erstens, warum gerade Schopenhauer in dieser Häufigkeit im Werk Bernhards vorkommt, und zweitens, was mit den Inhalten, der eigentlichen Philosophie geschieht. Huber führt aus, daß es nicht nur das Phänomen der Namensnennung Schopenhauers ohne augenscheinlich korrelierende Verarbeitung philosophischer Inhalte gebe, sondern auch das Vorkommen philosophischen Inhalts ohne Namensnennung Schopenhauers, daß also die Themen der Schopenhauerschen Philosophie auch bei Bernhard vorhanden seien.« Stephan Atzert: Schopenhauer und Thomas Bernhard. Zur literarischen Verwendung von Philosophie, Freiburg im Breisgau 1999, S. 55. Aber: Wenn man nach philosophischen Inhalten Schopenhauers sucht, dann wird man sie finden, egal wo, auch bei Gottfried, Wolfram, Vergil und Hesiod. Stephan Atzert findet sie auf über zweihundert Seiten bei Bernhard. (DV 284, Fn. 7)
Maiers in dieser Fußnote komprimierter Forschungsbericht interessiert sich für das Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft, von Bernhards »Stilwille bzw. Personalstil des Autors« (DV 27, Fn. 1) und Bernhard-Forschung. Im Zentrum steht dabei der Status intertextueller Verweise, insbesondere der Umgang mit Autoren des bildungsbürgerlichen Kanons in Bernhards Texten. Maiers Vorwurf zielt in diesem Zusammenhang auf die Unterstellung, die literaturwissenschaftliche Rezeption sei der in den Texten ohnehin angelegten »Beliebigkeit« (DV 284, Fn. 7) gleichsam forschungspraktisch erlegen. Nota bene: Klinkert, das sei nicht verschwiegen, ist natürlich insofern ein Erfüllungsgehilfe Bernhards, als er nolens volens durch den »Nachweis« einer Proustrezeption Bernhard zu einem Proustkundigen macht. Die Rolle des poeta doctus, die Bernhard noch in den sechziger Jahren gerne eingenommen hat, bekommt er seit den siebziegern durch solche Forschungsbeiträge ohne weiteres Zutun zugeschoben. Hundert Forscherleben reichen nicht aus, um zu rezipieren, was Bernhard in einem Leben studiert hat. (DV 284, Fn. 7)
Maier wirft der Bernhard-Forschung in dieser Fußnote konkret vor, an den Selbstbeschreibungen des Autors anzuknüpfen, ja gleichsam Teil der Autorinszenierung zu sein.81 Um die literaturwissenschaftliche Rezeption der Texte Bern81 Auch in Ich heißt es analog: »Die Wissenschaft macht Autoren und Texte gerne intelligent, damit möchte sie sich selbst begründen, ein sinnloses Unterfangen, aber man schweigt darüber lieber« (I 50).
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hards als ›Erfüllungsgehilfe‹ der Selbstbeschreibungen Bernhards darzustellen, greift Die Verführung auf zwei Verfahren zurück. Erstens setzt sie einen Intertextualitätsbegriff ein, der intertextuelle Verweise innerhalb literarischer Texte dezidiert an den Autor zurückbindet. Maier nimmt zum einen Bernhard, zum anderen aber auch die Literaturwissenschaftler gleichsam als ›Abkürzung‹ 82 innerhalb des intertextuellen Signifikanten-Netzes. Dies betrifft mithin auch und gerade die Literaturwissenschaftler als ›Subjekte‹, deren »Einfällen [...] keine Grenze gesetzt [sind; DCA]« (DV 284, Fn. 7). Mit anderen Worten: Die Literaturwissenschaft verstricke sich gleichsam in dem von Bernhard gelegten Netz. In dieser Hinsicht inszeniert Maier denn auch Literaturwissenschaft als ein intertextuelles, genauer: intersubjektives Geflecht. Maier zitiert in der Fußnote, wie Literaturwissenschaftler Literaturwissenschaftler zitieren. Verknüpft ist dies – zweitens – mit einer Semantik, die Literaturwissenschaft, zumindest aber die Bernhard-Forschung als ein prinzipiell ›beliebiges‹ Unternehmen ausweist. Als Beispiel nennt Maier eine Studie Thomas Klinkerts. Sei durch dessen Arbeit über eine »angebliche produktive Proust-Rezeption (S. 245) durch Bernhard« (DV 284, Fn. 7) der souveräne Umgang Bernhards mit dem französischen Klassiker hergestellt, mithin »das Thema einmal in der Welt« (DV 284, Fn. 7), werde es durch andere Arbeiten unreflektiert »weiter traktiert« (DV 284, Fn. 7). »Wer den Wind sät wie Klinkert, der schlägt Literaturwissenschaftlern eine freundliche Brise in die Segel für bestimmt ein paar Jahrzehnte« (DV 284, Fn. 7). »[V]erkündet« (DV 284, Fn. 7) die Literaturwissenschaft auf diese Weise den Status Bernhards, führe sie tatsächlich »natürlich versteckte[ ], also nicht explizite[ ] Zitate« (DV 284, Fn. 7) an. Man ahnt, was folgen muß: »Die Kindheit inkorporiert in einem, wenn auch nicht sonderlich angenehmem, Geruch – das spielt unzweideutig auf Prousts Madeleine-Szene an« (S. 54). Ja, wirklich unzweideutig! Was wäre die vergleichende Literaturwissenschaft ohne die Madeleine-Szene! (DV 284, Fn. 7).
Was in dieser Fußnote komprimiert zusammenkommt ist eine spezifische Semantik, die einen »trotzig-apodiktischen Aussagegestus« 83 erzeugt, mit der 82 Vgl. Moritz Baßler: Das Subjekt als Abkürzung. In: Stefan Deines u. a. (Hg.): Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte. Berlin u. New York 2003, S. 93–103. 83 U. Wirth, Herr Maier wird Schriftsteller (und Schreiber), S. 137. Auffallend ist im Übrigen, dass literaturwissenschaftliche Texte, die sich mit Andreas Maier auseinandersetzen, immer wieder dessen Schreibgestus übernehmen. So arbeitet etwa Süselbeck mit Formulierungen wie »allen Ernstes« und »ulkiger Vorwurf«. J. Süselbeck, Das Missvertändnis, S. 196 u. 197; und Hütter knüpft mit Ausdrücken wie »Ominös, ominös«, »kurios!« oder »Komisch« und »naturgemäß« (Bernhard) an Maiers trotzigem Sprachduktus an. Y. Hütter, S. 171, 106, 102 bzw. 150, Fn. 190.
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Maier sich betont und »[e]benso polemisch wie exakt« (DV Klappentext) von literaturwissenschaftlichen Argumentationsweisen der »Germanist[en]« (DV 209) abzugrenzen versucht. Nicht nur lehnt er es mitunter ab, sich näher mit bestimmten Phänomenen auseinanderzusetzen – »Ich begreife vieles nämlich gar nicht« (DV 253) – oder verweist in gönnerischer Geste darauf, sich tatsächlich »die Mühe des Verstehens machen« (DV 19) zu wollen. Formulierungen wie »Aha, denken wir« (DV 238), »größte Spaßfrage der gesamten Bernhardforschung« (DV 227), »Fragen wir lieber nicht, was man sich darunter vorzustellen hat« (DV 154) oder auch »Das ist nun fast dreist« (DV 153) korrespondieren dabei dem »wütend und erbittert und darin wieder fast hilflos possierlich« 84 in Szene gesetzten Abgrenzungsgestus gegenüber den Bernhardschen Inszenierungsstrategien – eine »unbeirrte[ ] und völlig humorlose[ ] Verfolgung des Autors«.85 Mit all dem steht Die Verführung im Zeichen eines performativen Verfahrens, das dafür sorgt, dass die Unterscheidung zwischen ›Wahrheit‹ und ›Rhetorik‹, wie sie Maier als Beobachtungsdirektive verwendet, auf den Beobachter selbst zurückfällt. Maiers Studie führt sich selbst »schon im Ansatz ad absurdum«.86 Das Scheitern der logischen Sinnsuche, wie sie Maiers Studie betreibt, führt geradezu vor, dass eben ein solcher, ›feststehender Sinn‹, eine beim Autor zu findende ›Absicht‹, ›Intention‹ oder ›Strategie‹, das Produkt einer Zuschreibung ist und sich immer wieder in den diversen Signifikanten-Ketten der analysierten Texte verflüchtigt. Der Einsatz des »naive[n] realistische[n] Erzählmodell[s]« 87 in der Verführung steht in dieser Hinsicht im Zeichen einer Verführung zur vergeblichen Suche nach einer letzten Wahrheit, ja die Studie legt geradezu die Vielfalt möglicher Sinnbezüge offen. Es ist eben Maiers »Intention auf Sinn, Ernst und Wahrhaftigkeit«,88 die Bernhards Texte gleichsam zersetzen. In dieser Hinsicht realisiert die Studie mit und gegen den Autor eben das, was als Maiers Programm der »Wahrheitsvermeidung« 89 im Zeichen der »Verunsicherung des Lesers« 90 zu bestimmen ist. Verlegt man Die Verführung in die literarische Systemreferenz, demonstriert die Studie nämlich im Modus eines »essentialistische[n] Vexierspiel[s]« 91 geradezu die Beobachterabhängigkeit
84 85 86 87 88 89 90 91
B. Fischer, S. 634. B. Fischer, S. 634. J. Süselbeck, Das Missvertändnis, S. 196. B. Fischer, S. 633. B. Fischer, S. 634. Y. Hütter, S. S. 217. Y. Hütter, S. 216. B. Fischer, S. 634.
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der Rede von ›Wahrheit‹ und exponiert »den destruktiven Umgang mit all’ den guten Suggestionskonventionen und dem ihnen inhärierenden moralischen Wahrhaftigkeitsanspruch des realistischen Erzählens«.92 Während oder indem Die Verführung zunehmend auf ›Wahrheit‹ abhebt, arbeitet sie zum einen die Fiktionalität der untersuchten Texte heraus, die somit »ihren überkommenen Anspruch auf welthaltige Sinnhaftigkeit persiflieren.« 93 Und zum anderen dokumentiert und vollzieht sie das Verfahren ihres eigenen Programms. Die Abgrenzungsbewegung beziehungsweise die Form der literarischen ›Einflussangst‹ realisiert sich in dieser Perspektive gleichsam in einer Konvergenzbewegung: Maier wirft der literaturwissenschaftlichen Bernhard-Forschung vor, sich an den Selbstbeschreibungen Bernhards zu nahe aufzuhalten, gerade dadurch gerät die Studie aber selbst in den Status literarischer Kommunikation, die als Abgrenzungsgeste gerade nicht literaturwissenschaftlich, sondern literaturprogrammatisch argumentiert. Maier hat den Anspruch, den Selbstbeschreibungen Bernhards eine Fremdbeschreibung entgegenzusetzen, stellt sich aber genau damit in einen kommunikativen Zusammenhang mit seinem literarischen Kollegen.
4.1.2 Zur Grundstruktur des Maierschen Programms Dass die Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard, wie sie Die Verführung betreibt, einer ›intrapoetischen Beziehung‹ geschuldet ist, wird mithin noch durch einen weiteren Umstand nahegelegt. Die in der Studie profilierte Applikation der ›Wahrheit‹/›Rhetorik‹-Unterscheidung auf diejenige zwischen Autor und Erzähler/Figur bestimmt nämlich in spezifischer Hinsicht auch Maiers literarisches Programm, wie es insbesondere die unter dem Titel Ich erschienenen Frankfurter Poetikvorlesungen von 2006 explizieren. Wie Bodo Kirchhoff nutzt Maier die institutionell motivierte, fünfgliedrige Kapitelstruktur, um im Modus einer autobiographisch flankierten Reflexion »alle[ ] Stufen meines Seins« (I 145) von groben Kindheitserinnerungen aus zweiter Hand über Momente der Lesesozialisation und literarische »Leseerlebnisse[ ]«,94 persönliche Schreiber-
92 B. Fischer, S. 634. 93 B. Fischer, S. 634. 94 Herrmann Korte: ›Meine Leserei war maßlos‹. Literaturkanon und Lebenswelt in Autobiographien seit 1800. Göttingen 2007, S. 26. Die autobiographisch ausgerichtete Poetikvorlesung gerät in diesem Sinne zum Medium der Selbstdeutung einer »Aneignung von Literatur – insbesondere von klassischen Kanonwerken – als ein Schlüsselimpuls zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit«, H. Korte, ›Meine Leserei war maßlos‹, S. 26.
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fahrungen und Probleme der eigenen literarischen Form bis hin zu seiner aktuellen »Stellung zum Literaturbetrieb« (I 17) zu durchschreiten. Durch die Beschreibung seiner »persönliche[n] und schriftstellerische[n] Entwicklung« 95 thematisiert Ich mithin gleichsam den Einstieg Maiers in die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischer Arbeit. Es geht dem Text darum, die Inklusion der (privaten) Person Andreas Maier als (öffentliche) Autorfunktion in das literarische System nachzuvollziehen. Dazu realisiert Ich eine sozio-biographische Bewegung, die im »Kindergarten« (I 14) einsetzt und durch die Schilderung eines »kleinen Ausflug[s] in den Betrieb« (I 122) endet. ›Der Betrieb‹ lautet denn auch der Titel der letzten Vorlesung, mit der Maiers literarische Autobiographie zum einen ihren narrativen wie programmatischen Kulminationspunkt findet. Zum anderen kontrastiert Ich damit die Kontextbedingungen literarischen Schreibens mit der Vorstellung eines gleichsam ›reinen‹, ›unverdorbenen‹ oder durchaus auch ›autonomen‹ Zugangs, mit dem sich der Autor literarischen Werken zu Beginn seiner literarischen Sozialisation genähert habe. Noch die Formulierung ›Stellung zum Literaturbetrieb‹ (anstatt ›Stellung im Literaturbetrieb‹) realisiert diese Distanznahme Maiers gegenüber allem ›Betrieblichen‹, setzt sie doch voraus, dass der Autor sich prinzipiell einerseits immer auch zurückziehen könnte und andererseits selbstredend ›eigentlich‹ gar nicht Teil des thematisierten Betriebs ist. In jeder der von ihm benannten literarisch-biographischen Stationen zwischen ›Kindergarten‹ und ›Literaturbetrieb‹ erkennt Maier eine bestimmte, sich immer wiederholende »Differenz« (I 8). Diese bestimmt er nicht nur als grundlegend für seine Sicht auf die »Welt« (I 19), also auf »jedes Problem, welches ich mit den Menschen und mir habe« (I 148), sondern insbesondere auch für die ›Struktur‹ (vgl. I 149) seiner »literarische[n] Form« (I 88). Es ist egal, ob ich von meinen Büchern, vom lieben Gott, von den Menschen, dem Kindergarten oder dem Literaturbetrieb rede, denn in all dem entdecke ich immer wieder dieselbe Logik, das Ich, die Welt und Gott, die Wahrheit einerseits und die Menschen andererseits, das Ich in der Mitte, die Menschen drumherum, und um alles Gott. (I 149)
Um die »Grundstruktur« (I 149) seines Programms zu beschreiben, bedient sich Maier der Differenz von Objekt und Stelle,96 die die Unterscheidung zwischen
95 Ulrich Volk: Der poetologische Diskurs der Gegenwart. Untersuchungen zum zeitgenössischen Verständnis von Poetik, dargestellt an ausgewählten Beispielen der Frankfurter Stiftungsgastdozentur Poetik. (Frankfurter Hochschulschriften zur Sprachtheorie und Literaturästhetik 13) Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 263. 96 Siehe zu dieser, die Raumdimension konstituierenden Unterscheidung N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 179–186.
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›Ich‹, ›Menschen‹ und ›Gott‹ in ein räumliches, kreisförmig-gestaffeltes (›drumherum‹, ›um alles‹) Verhältnis von Zentrum und Peripherie setzt. Sei demzufolge die an anderer Stelle der Vorlesungen als ›die Dinge‹ (vgl. I 48) oder auch »Gott« (I 98) spezifizierte ›Wahrheit‹ nur »in mir« (I 98), das heißt ›in der Mitte‹, zu finden, könnten die in peripheren Zusammenhängen verorteten ›Menschen‹ nur zum ›Unwahren‹, zum »Unechten« (I 15) gelangen. »[Z]wischen Ich und Welt klafft eine unüberbrückbare Kluft«.97 Maier veranschaulicht diese räumliche Struktur unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass die »drei Buchstaben« (I 124) des Pronomens ›Ich‹ in linguistischen Hinsichten, aber nicht zuletzt auch schriftbildlich den »Mittelteil des Wortes Nichts« (I 124, vgl. auch den Text auf dem Buchrücken) bildeten. So wie Maier den »Problemkreis beschreib[t], in dem sich meine eigene Literatur bewegt« (I 98), so »umschließt« (I 124) gleichsam das von ihm substantivisch gebrauchte Attribut ›nichts‹ räumlich das ›Ich‹; »und darum herum ist der liebe Gott, deshalb ist er ja so lieb, weil er um das Nichts herum ist« (I 124). Die Forschung setzt an dieser Grundstruktur von ›Ich‹ und ›den anderen‹ 98 an, um zunächst darauf hinzuweisen, dass die von Maier als grundlegend erachtete ›Logik‹ im Zeichen einer sprachphilosophischen Tradition steht. Mit diesem, vor allem von Meister Eckhart und Carlo Michelstaedter dominierten intertextuellen Bezug geht Maiers »Seinsethik« 99 demnach davon aus, dass Sprache als ein rhetorisches Werkzeug zu verstehen sei, das »mit Wahrheit nichts zu tun« (I 109) habe. Doch auch wenn es in Ich heißt, sprachliche Äußerungen gingen »immer an den Dingen vorbei« (I 48), zielt Maier gleichwohl weniger auf die grundsätzliche (Un-)Möglichkeit der Referenzialisierung zeichenbasierter Kommunikation ab. Sein sprachkritisches Programm hat vielmehr einen stark ethischen bias, der betont, dass Sprache als »Lüge« (I 31) nie »der Aufrichtigkeit, der Ehrlichkeit, der Wahrheit« (I 120) diene, sondern durch individuelle Interessen motiviert sei. »Die Wahrheit ist, daß wir uns alle als moralische Wesen darstellen, aber faul sind, roh, verschlagen und brutal noch in den unbeachtetsten Momenten« (I 92). Das Symptom dieser unmoralischen
97 Gerhard Sauder: Maier, Andreas. In: Monika Schmitz-Emans u. a. (Hg.): Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe. Unter Mitarbeit von Kai Fischer u. a. Berlin u. New York 2009, S. 266– 267, hier S. 266. 98 Siehe auch explizit Andreas Maier: Das ist der Stoff, aus dem die Welt ist. In: Franz-Heinrich Hackel (Hg.), Die schwere Kunst der leichten Unterhaltung. Die Podiumsgespräche des Symposiums vom 28. April 2004 im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Mit Beiträgen der Symposiumsteilnehmer. Bergisch Gladbach 2004, S. 219–224, hier S. 220. 99 Y. Hütter, S. 23. Demnach hat Maier »von Michelstaedter vor allem die Sprach- und Gesellschaftskritik, von Eckhart die Ethik übernommen«, Y. Hütter, S. 89.
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»Trägheit« (I 92) ist demnach ein sprachliches: dass nämlich die »Menschenwelt« (I 115) so ausgerichtet sei, mit verschiedenen »Jargons« (I 56) »alles zu zerquatschen« (I 88). Und so lässt sich, folgt man der literaturwissenschaftlichen Rezeption, letztlich ein selbstreflexiv-kritisches Potential in Maiers Programm feststellen. Die mit »kritischen Spuren« 100 durchsetzten Romane bewerten demzufolge die von ihnen thematisierten sprachlich-gesellschaftlichen Zusammenhänge als ein »sinnlos schwadronierendes und konsumierendes Nichts«,101 das ein ›wahres‹, ›moralisch-richtiges‹ Leben nicht zur Entfaltung kommen lasse. In dieser Hinsicht geht Maier über die relativ abstrakte sprachtheoretische Dimension seines Programms hinaus, ja erzeugt gleichsam eine literarische Form, die – durchaus den empirischen Leser im Blick – dazu diene, »etwas zu transportieren«.102 Maiers Texte oszillieren mithin zwischen zwei Bewegungen. Einerseits bleiben die in den Romanen in Aussicht gestellten, vor allem auf Michelstaedter zurückverweisenden Möglichkeiten der Realisierung eines ›wahren Seins‹ jenseits sprachlich-gesellschaftlicher Kontexte letztlich kontingent. Indem Figuren wie Erzähler immer auch selbst in die »chaotische[n], schlimme[n] Dialoge« 103 der fiktionalen Realitäten eingelassen sind, sich also nicht als über den Dingen positionierte »Sprecher von außen« (I 110) einrichten können, geht Maier demzufolge einen Schritt weiter als etwa der »performative[ ] Selbstwiderspruch« (I 87) des »tragischen Schreiben[s] Michelstaedters«.104 Anders als in dessen theoretisch-philosophischen Texten, die vergeblich versuchten, die Verhängnisse der Selbstreferenz zu invisibilisieren, würden sich Maiers Erzähler gerade »nicht über die eigenen Prämissen« 105 erheben, so dass in den spezifisch geformten Romanen »Wahrheit de facto nicht zu finden« 106 sei. Maiers »Vorliebe für den Konjunktiv«,107 mitunter als »Konjunktiv-Overkill« 108 be-
100 Y. Hütter, S. 252. 101 Henk Harbers: »Reden könne jeder«. Nihilistische Thematik im Werk von Andreas Maier. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 56 (2010), Nr. 2, S. 193–212, hier S. 208. 102 Y. Hütter, S. 252. 103 G. Sauder, Maier, Andreas, S. 266. 104 Y. Hütter, S. 141. 105 Y. Hütter, S. 141. 106 Y. Hütter, S. 461. 107 Adolf Fink: Testamentseröffnung am Wäldchestag. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24. September 2000. 108 Ulrich Rüdenauer: Der Konjunktiv, als Daseinszustand betrachtet. In: Saarbrücker Zeitung vom 15. März 2002. An anderer Stelle wird darauf aufmerksam gemacht, das Maier »den im übrigen Deutschland vom akuten Aussterben bedrohten Konjunktiv« gar rette. Bettina Schulte: Die Wetterauer Gerüchteküche, in: Badische Zeitung vom 7. November 2000.
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schrieben, ist Ausdruck dieses Programms und weist den Autor in feuilletonistischer Perspektive als »gewitzte[n], sprachbegabte[n] Stimmenimitator« 109 aus, ja mehr noch: »Was wir hören, ist [...] nie das Autorisierte und Authentische, sondern immer nur das konjunktivisch vom Hörensagen Weitergegebene, das Gehörte, Gedachte, Gereimte aus zweiter und dritter Hand.« 110 So wenig der Leser aufgrund der vielfach verschachtelten Erzählperspektiven einen »unvermittelten (direkten, ›informationskonservierenden‹) Zugang zur fiktiven Wirklichkeit hat« 111, mithin die »Authentizität des ›Ich habe es selbst erlebt‹ [...] hinfällig« 112 wird, so sehr weisen die Texte die Möglichkeit eines unvoreingenommenen Durchgriffs auf Wirklichkeit als grundsätzlich unmöglich aus. Andererseits beobachtet Maier indes die konventionellen, von sozialen »Gesetzen« (I 21) geprägten und als »furchtbar« (I 124) charakterisierten gesellschaftlichen Abläufe als »Bestätigung einer konsumierenden Lebensweise, die letzten Endes die Erde zugrunde richtet«.113 Das damit einhergehende konventionelle und »beruhigende[ ] Weltbild«,114 an dem sich ›die Menschen‹ orientierten, wolle Maier demzufolge durch literarische Mittel aufbrechen, ja den Leser »mit einem Gift impfen« (I 92), das ihm das Fatale des gesellschaftlichen Seins vor Augen führe.115 So ›vergiftet‹, ließen sich die Romane gleichsam als Effekte eines auktorialen, zivilisations- und machtkritisch grundierten Anliegens verstehen, das den Leser dafür sensibilisieren wolle, sich als ›Ich‹ nicht
109 Ulrich Greiner: Was war da? War da was? In: Die Zeit vom 2. Mai 2002. 110 Ulrich Greiner: Vom großen Hörensagen. In: Die Zeit vom 19. Oktober 2000. 111 Tilmann Köppe: Der Konjunktiv in Andreas Maiers Roman Wäldchestag und die Theorie der Metafiktionalität. In: J. Alexander Bareis u. Frank Thomas Grub (Hg.): Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Kaleidogramme 57) Berlin 2010, S. 115–133, hier S. 130. 112 T. Köppe, S. 129. Im Band Bullau führt dieser Mangel an Authentizität in gesellschaftlichen Zusammenhang zum Plädoyer für eine Rückbindung von Wahrnehmung an einen »konkreten Ort«. Friedmar Apel: Augenschein und Abglanz. Laudatio auf Andreas Maier. In: Hubert Winkels (Hg.): Andreas Maier trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2010. Sonderdruck. Berlin 2011, S. 27–34, hier S. 31. 113 H. Harbers, »Reden könne jeder«, S. 196. In dieser Perspektive ist Maiers Programm gesellschaftspolitisch-ökologisch motiviert, was insbesondere die histoire des Romans Kirillow verdeutlicht. Siehe dazu die vom Suhrkamp-Verlag eingerichtete Internet-Präsenz zum Roman http://www.kirillow.de/ (08. 08. 2012). Dort findet sich unter anderem ein Link zur ›Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e. V.‹. 114 H. Harbers, »Reden könne jeder«, S. 196. 115 Die vollständige Stelle lautet wie folgt: »Sie müssen da eine Methode finden, die den Leser ganz und gar an der Nase herumführt, die die ganze Auseinandersetzung in die Tiefe des Lesers selbst hineinverlagert. Sie müssen den Leser mit einem Gift impfen, mit einem Gegengift gegen ihn, den Leser, selbst, und wenn dieses Gift, oder nennen wir es ein Remedium, in ihm, dem Leser, zu wirken beginnt, dann ist das zumindest ein Etappenerfolg« (I 92).
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vollständig ›den Menschen‹ auszuliefern, ja sich gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen immer wieder gezielt zu entziehen, um die Fähigkeit zu »fundamental wahrer Einsicht« 116 nicht zu verlieren. In dieser Lesart lassen Maiers Texte also immer auch Momente von »utopische[n] Gegenmodelle[n]« 117 aufscheinen, die den Verfahren der konsequenten »Wahrheitsvermeidung« 118 konträr gegenüberstehen, ja mehr noch: ›Wahrheit‹ und ›Sein‹ in einem »Wesenskern« (I 92) jenseits von sprachlichen und gesellschaftlichen Strukturen »nicht explizit«,119 aber dennoch dezidiert in Aussicht stellen. So gerät ein literaturprogrammatisches Anliegen in den Blick, das in den Romanen konkret einerseits durch jenseits gesellschaftlicher Zusammenhänge platzierte Figuren umgesetzt wird – solche Gestalten mithin, denen es möglich ist, »kritisch zu bleiben und dennoch eine Lebensmöglichkeit innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu finden«.120 Andererseits tritt immer wieder ein auktorialer Erzähler auf, der das Geschehen einzuordnen und zu kommentieren weiß. Das Medium dieser gleichsam ›gegendiskursiven‹, kritischen Entwürfe, wie sie in Sanssouci mit der Figur des russisch-orthodoxen Mönches Alexej vielleicht ihren Höhepunkt finden, ist seit einem Zeit-Gespräch mit Ulrich Greiner unter dem Titel Ich gönne mir das Wort Gott,121 spätestens aber mit den Frankfurter Poetikvorlesungen eine religiöse oder, pejorativ konnotiert, eine fundamentalistisch, das heißt vor- oder antimoderne Semantik. Maier bezieht sich in den Poetikvorlesungen nicht nur immer wieder auf das »Matthäusevangelium« (I 88), das er als einen »Urtext« (I 94) bezeichnet: als »das genaueste Abbild dessen, was an Wahrheit in mir [...] vorhanden ist« (I 98). Auch die räumlich imaginierte ›Grundstruktur‹ des »Ich im großen Nichts« (I 149) ist an die Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz gekoppelt, wie sie religiöse Kommunikation strukturiert. Führt diese Semantik sowohl in der literaturwissenschaftlichen Forschung als auch in der allgemeinen öffentlichen Rezeption mitunter dazu, Maier (zumeist neben Arnold Stadler) als das Beispiel schlechthin für eine ›Rückkehr der Religion‹ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur um 2000 zu lesen,122 mithin als einen wichtigen literarischen Impuls für 116 H. Harbers, »Reden könne jeder«, S. 196. 117 Y. Hütter, S. 252. 118 Y. Hütter, S. 217. 119 G. Sauder, Maier, Andreas, S. 266. 120 H. Harbers, »Reden könne jeder«, S. 208. 121 Siehe Ulrich Greiner: Ich gönne mir das Wort Gott. Ein ZEIT-Gespräch mit dem Schriftsteller Andreas Maier über Dostojewskij, die Wahrhaftigkeit und seinen neuen Roman »Kirillow«. In: Die Zeit vom 17. März 2005. 122 Siehe Martina Wagner-Egelhaaf: Autorschaft als Skandal. Matthäus – Pasolini – Stadler. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85 (2011), Nr. 4, S. 585–615, hier S. 586–587.
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eine ›neue Sprache des Glaubens‹,123 betont diese Rezeptionslinie indes die Dimension des »Gläubige[n]« (I 110) und des »Glaube[ns] an Gott« (I 97) derart stark, dass ein ganz wesentlicher Aspekt des Maierschen Programms droht, aus dem Blick zu geraten. Bereits in Ich erklärt der Autor nämlich, lediglich aus Komplexitätsgründen, ja gleichsam aus einer pragmatischen Motivation heraus auf die religiöse Semantik zurückzugreifen. Die damit in Anschlag gebrachte Vermutung, Maiers Programm interessiere sich gar nicht (oder nicht nur) für wie auch immer, zumindest aber gegen die Institutionen der katholischen Kirche zu verstehende Glaubenszusammenhänge (vgl. I 95), stützt sich also weniger auf die auktoriale Versicherung, den Leser im Allgemeinen, sein Frankfurter Publikum im Besonderen keineswegs »bekehren« (I 98) zu wollen. Relevanter ist vielmehr Maiers Bemerkung, er könne die von ihm beschriebenen Sachverhalte »vielleicht auch genausogut in nichtreligiöser Sprache ausdrücken« (I 149), »der liebe Gott« (I 149) mache es ihm sprachlich aber schlichtweg »einfacher« (I 149). Um die Funktion der religiösen Semantik näher bestimmen zu können, ist ein Interview mit Listen von 2000 aufschlussreich. Maier kommt dort auf eine spezifische ›Verdopplung‹ der Welt zu sprechen. Die ganze Welt entsteht aus diesem Gerede. Man kommt ja ins Vorsprachliche dieser Welt überhaupt nicht zurück. Die Welt ist zugedeckt von dem, was die Menschen reden und reden und reden und sich als Meinung und Gerüchte bildet etc. Es gibt sofort die sprachliche Verbalisierung der Dinge. Insofern ist die Welt für uns sozusagen doppelt vorhanden. Wir können sie zum einen greifen, aber zum anderen ist sie dieses ständige Gerede. Das, was ich hier gerade auch mache.124
Maier unterscheidet in dieser Interview-Passage zwischen zwei Weltzugängen. Dem (verzerrenden oder auch verdeckenden) Zugriff mittels des über ›Meinungen und Gerüchte‹ geformten ›Geredes‹ steht die Aussicht auf einen ›vorsprachlichen‹ Weltzugang gegenüber, der ›die Dinge‹ zu ›greifen‹ wisse. Das ›Gerede‹ gibt demzufolge lediglich vor, einen Zugang zur ›Welt‹ zu erzeugen, tatsächlich wird durch die mitlaufende, von Maier als mehr oder weniger unhintergehbar markierte Selbstreferenz-Kette des ›Redens und Redens und Redens‹ ein Durchgriff auf jene geradezu verstellt. Einer gleichsam falschen, weil lediglich kommunikativ erzeugten ›Welt‹, steht so die ›eigentliche‹, durch das
123 Vgl. Christoph Gellner: Heute eine Sprache des Glaubens finden. Impulse aus der Gegenwartsliteratur. In: Christoph Gellner (Hg.): »... biographischer und spiritueller werden«. Anstösse für ein zukunftsfähiges Christentum. Zürich 2009, S. 141–173, hier S. 153–154. 124 Ferdinand Schmokel u. Bruno Piberhofer: Testamentseröffnung am Wäldchestag. In: Listen 59 vom 4. Oktober 2000.
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›Gerede‹ nicht greifbare, aber dennoch (irgendwie) vorhandene ›Welt‹ gegenüber, um die es Maier erklärtermaßen geht. Maiers Problem besteht vor dem Hintergrund dessen, dass ›Wahrheit‹ in dieser Konzeption »immer nur individuell und außerhalb der anerkannten gesellschaftlichen Sprache erfahrbar« 125 ist, mithin darin, »in der Sprache ein Nichtsprachliches durchschein[en]« 126 lassen zu können. Um dies möglich zu machen, also die ›Welt‹ jenseits des ›Geredes‹ zu thematisieren, benötigt der Autor spezifische Verfahren, die den Wahrheitsbezug als Effekt haben. Die religiöse Semantik, insbesondere die Rede von ›Gott‹ hat genau diese Funktion der Invisibilisierung des ›Geredes‹ im und durch das ›Gerede‹. Folgt man biblischen Schöpfungsberichten, »liegt die Urheberschaft für die Erschaffung der Welt bei einem Namen, der eigentlich kein Name ist, sondern schlicht das Sein selbst konjugiert«.127 Der Name ›Jahwe‹ bedeutete demnach vermutlich ›Ich bin‹, was insofern von Bedeutung ist, als damit eine selbstreferentielle Form realisiert wird, in und mit der die erste Person Singular nur ihr eigenes Dasein markiert – und damit genauso unmöglich wie absolut, weil differenzlos ist. Der Name Gottes verweigert sich gleichsam sprachlichen Differenzvorgaben: Anders als beim ›Unterschiedswesen‹ Mensch besteht zwischen »dem Eigennamen und seinem Träger, zwischen Sein und Heißen, [...] tendenziell kein Unterschied«.128 Genau dieses Einstreichen von Differenz, diese Möglichkeit zur Invisibilisierung sprachlicher Differenzketten ist es, die Maier die religiöse Semantik, insbesondere der Verweis auf ›Gott‹ im Rahmen seines literarischen Programms so interessant macht. Der Signifkant ›Gott‹, aber auch das Pronomen ›ich‹ wird in eine privilegierte Position gebracht, die es erlaubt, durch Differenzen organisierte Signifikanten-Ketten mit der Aussicht auf ein letztes, außerhalb der Kette verortetes Signifikat zu koppeln. Maier setzt diese Differenz auch schriftbildlich um, wenn er zwischen dem kleingeschriebenen Personalpronomen und grammatikalischen Subjekt ›ich‹ einerseits und andererseits dem emphatisch aufgeladenen ›Ich‹, das auf »wahre Menschen« ( I 123) verweise, unterscheidet. Durch die Rede von ›Gott‹ und dem ›Ich‹ holt Maier scheinbar die ›Welt‹ jenseits des ›Geredes‹ in eben dieses hinein oder lässt sie zumin-
125 H. Harbers, »Reden könne jeder«, S. 196. 126 H. Harbers, »Reden könne jeder«, S. 197. 127 Thomas Wegmann: Zwischen Maske und Marke. Zu einigen Motiven des literarischen Inkognito. In: Jörg Döring u. a. (Hg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Opladen 1996, S. 128–140, hier S. 128. 128 T. Wegmann, Zwischen Maske und Marke, S. 128. Wegmanns Referenz ist Exodus 13,3–4 u. 20,7.
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dest durchscheinen. Die religiöse Semantik dient Maier also dazu, eine »Rückbindung des Unbezeichenbaren an das Bezeichenbare« 129 zu realisieren, um so dem Problem, eine souveräne Beobachterperspektive etablieren zu können, aus dem Weg zu gehen. Als einzigen souveränen Sprecher lässt Maier denn auch nur den »lieben Gott« 130 gelten. Ist die ›religiöse Sprache‹ in dieser Hinsicht nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Medium des Maierschen Programms, legt diese Funktionsbestimmung den Blick frei auf das, was Maier gleichsam ›unter‹ oder ›hinter‹ der religiösen Oberfläche programmatisch entfaltet und in seinen Romanen umzusetzen versucht. Das ›Unbezeichenbare‹ verweist nämlich keineswegs lediglich auf ein religiös konnotiertes Phänomen. Bei dem in Ich thematisierten »Leiden an der Differenz« (I 34) zwischen ›Ich‹ und ›den Menschen‹ handelt es sich vielmehr zunächst und vor allem um eine soziologische Perspektivierung, die konventionell zwischen Individuum und Gesellschaft unterscheidet. Insofern das ›Ich‹ »Personen mit einem wirklich individuellen Seelenleben« 131 bezeichne, expliziert Maiers Programm eben diese Unterscheidung, wobei seine Ausführungen gleichsam als Symptom dafür gelten können, das die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft keine ›ganzen‹ Individuen mehr inkludieren kann. Die Funktionssysteme greifen jeweils hochgradig selektiv auf Individuen zu, so dass zum einen vom ›Exklusionsindividuum‹ gesprochen wird und zum anderen das daraus resultierende Identitätsproblem psychologisiert wird.132 Bereits die Semantik, mit der die Poetikvorlesungen die ›Menschen‹ bezeichnen, deutet in diese soziologische Richtung. Der Rede von »der Gesellschaft« (I 22) auf der sozialen Makro-Ebene und »Institutionen« (I 56) und »Bezugsrahmen« (I 56) auf der Meso-Ebene korrespondiert dabei auf Interaktionsoder Mikro-Ebene die Beobachtung von »Gruppenverhalten« (I 15). Und auch die Markierung der Menschen als »ihr« (I 22) lässt vermuten, dass es bei der ›Logik‹ von Maiers literarischem Programm weniger um religiöse Zusammenhänge im engeren Sinne geht, als vielmehr um eine dezidiert soziologische Blickrichtung. Auch im Kapitel ›Die Verwirrung‹ kommt Maier auf diese Perspektive zu sprechen. Verstehen ist Sache einer Fiktion binnen dem Gespräch. Ich glaube, wenn man in einem Gespräch sagt, man verstehe sich, dann hätschelt man sich, dann will man zärtlich sein.
129 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 2001, S. 232. 130 Manfred Stuber: Wie Öffentlichkeit entsteht – und wohin sie dann führt [Interview]. In: Mittelbayerische Zeitung vom 25. August 2008. 131 H. Harbers, »Reden könne jeder«, S. 196. 132 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 618–634.
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Einige Minuten später sind sowieso beide Unterredner schon wieder woanders. Wahrheit hat mit Sprache nichts zu tun, und Menschen können einander nicht verstehen, denn das wäre ja bereits Gottes Reich auf Erden [...]. (I 109)
Auch wenn oder gerade weil sich Maier gegen »kommunikationstheoretische Fundamente« (I 117) explizit richtet, zielen sowohl die Vorlesungen als auch die Romane letztlich auf eine spezifisch strukturierte »Kommunikation unter Menschen« (I 117). Der zentrale Begriff in der zitierten Passage ist denn auch der des ›Verstehens‹. Mit und gegen den Autor ist ›Verstehen‹ dabei gleichwohl weniger hermeneutisch als vielmehr konsequent kommunikationstheoretisch perspektiviert, insofern Maier eine soziale Situation beschreibt, in der die basale Selbstreferenz für kommunikative Anschlussfähigkeit sorgt. In systemtheoretischer Perspektive handelt es sich beim Verstehen tatsächlich lediglich um eine Beobachtung, die zwischen Information und Mitteilung unterscheidet; wird diese Unterscheidung nicht getroffen, kommt Kommunikation zum Erliegen. ›Vollständiges‹ Verstehen setzt in dieser Hinsicht die Unmöglichkeit voraus, dass psychische Systeme ihre Operationen untereinander gleichsam austauschen könnten – eine Vorstellung, die tatsächlich nur ›Gottes Reich‹ vorbehalten bleibt.133 Dass es sich beim kommunikativen Verstehen, um mit Maier zu sprechen, um eine ›Fiktion‹ handelt, referiert mithin schlicht auf den Umstand, dass Kommunikationsprozesse eben keine Übertragungsvorgänge (von ›Wahrheit‹) zwischen den Beteiligten darstellen. In dieser Hinsicht wird Maiers Programm durch zwei komplementäre, sich gleichwohl widersprechende Aspekte bestimmt. Zum einen betont Maier die Unmöglichkeit, Gespräche kontrollieren zu können; Kommunikation entziehe sich immer den an ihr beteiligten Akteuren. Zum anderen thematisiert Maier jedoch auch immer wieder solche Akteure, die Gesprächszusammenhänge gezielt zu steuern wüssten, um bestimmte Interessen durchzusetzen. Integriert werden beide Gesichtspunkte durch eine Form, die in der Literaturkritik wiederholt als Maiers »Poetik des Geredes« 134 bezeichnet wird. Mit Blick auf die Unmöglichkeit einer akteursbasierten Steuerung von Kommunikationsprozessen ist der Abschnitt eines Interviews aufschlussreich, das Maier aus Anlass des Erscheinens von Klausen 2002 der Mittelbayerischen Zeitung gegeben hat. Angesprochen auf eben jenes öffentliche ›Gerede‹, das Klausen literarisch entfalte, bringt Maier die zum Zeitpunkt des Interviews aktuelle Debatte um Martin Walsers Tod eines Kritikers ins Spiel.135 Sein Roman wirke demnach gleich-
133 Siehe grundsätzlich N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 193–201. 134 W. Schneider. 135 Vgl. dazu Dieter Borchmeyer u. Helmuth Kiesel (Hg.): Der Ernstfall. Martin Walsers Tod eines Kritikers. Hamburg 2003; Matthias N. Lorenz: ›Auschwitz drängt uns auf einen Fleck‹.
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sam »wie eine Illustration« 136 der Strukturzusammenhänge um Walser, insofern dort wie in der fiktionalen Realität seines Romans die Beteiligten zu keinem Konsens kommen könnten, ja in beiden Fällen die Aufregungen am Ende einmal mehr »im Chaotischen« 137 verblieben. [Interviewer; DCA] Walser hat neulich im Fernsehen gesagt, in unseren Kulturdebatten würden nur noch die Schlagwörter der Saison an einem Objekt ausprobiert, um die Substanz, um das Finden der Wahrheit gehe es keinem mehr. In Ihrem Roman weiß man ja am Schluss auch nicht mehr, was wirklich passiert ist. In Gerüchteküchen verliert sich die Wirklichkeit. Maier: Wobei das jetzt eine von Walser vorgetragene Position ist, die von anderen sofort wieder aufgenommen und widerlegt wird. Dadurch kommt der Prozess zu keinem Abschluss. Man muss wieder beachten, wie die Leute das verstehen, was der Walser sagt und wie der Walser das versteht, was die Leute sagen.138
Mit der ›Gerüchteküche‹ ist zunächst eine spezifische, Maiers Romane prägende Kommunikationsform angesprochen. Die Literaturkritik bezeichnet Maier als den »begabteste[n] Schwadroneur unter den jüngeren Autoren«,139 der in seinen Romanen auf »Gerede, Getratsche, [...] Mutmaßungen, Gerüchte, Meinungen« 140 zurückgreife, ja eine »unablässig brodelnde Gerüchteküche« 141 entfalte. Kommunikation im Medium des Gerüchts wird dabei sowohl mit Blick auf die literarischen Texte als auch mit Blick auf die Walser-Debatte wie im Allgemeinen als widriger Ausnahmezustand ausgewiesen und »unter ein pejoratives Vorzeichen« 142 gestellt. In ›Gerüchteküchen‹ verliere sich demnach die ›eigentliche‹ Botschaft, so dass die als grundsätzlich unsicher geltenden Kommunikationswege des Gerüchts als ein Medium verstanden werden, das der Lüge näher stünde als der Wahrheit. Insofern ist Walsers Vermutung, wie sie durch den Journalisten zitiert wird, ohne Frage für Maiers Programm anschlussfähig.
Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Mit einem Vorwort von Wolfgang Benz. Stuttgart u. Weimar 2005, S. 80–112. 136 M. Stuber [Interview]. 137 M. Stuber [Interview]. 138 M. Stuber [Interview]. 139 U. Greiner, Was war da? War da was? 140 Siehe mit Bezug auf Wäldchestag die Formulierung bei Silvia Hess: Wetterleuchten in Wetterau. In: Aargauer Zeitung vom 22. November 2000. 141 So mit Blick auf Klausen Eva Leipprand: Reden ist eine Form des Wahnsinns. In: Der Tagesspiegel vom 17. März 2002. 142 N. Binczek, ›Vom Hörensagen‹, S. 82.
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Von Relevanz ist indes Maiers Bemerkung am Ende der zitierten InterviewPassage. Dort weist der Autor darauf hin, dass der Prozess der Kommunikation um Walser zu keinem Abschluss komme, ja die beschriebenen Zusammenhänge wiederum der Beobachtung ausgesetzt seien: ›Man muss wieder beachten, wie die Leute das verstehen, was der Walser sagt und wie der Walser das versteht, was die Leute sagen.‹ Interessant ist dieser Abschnitt insofern, als Maier in ihm einen Umstand beschreibt, der grundsätzlich auf Kommunikation zutrifft. Die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Gerüchten, wie sie den Skandal um Walsers Tod eines Kritikers, aber auch die histoire von Klausen strukturiert, steigt, je mehr kommunikative Einzelakte aneinander anschließen und sich zu Kommunikationsketten verbinden. Das ›Gerede‹ um Walsers Roman lässt sich als ein ›Emergenzphänomen‹ kommunikativer Zusammenhänge verstehen, das weder auf einzelne Akteure zurückgerechnet, noch von einzelnen dieser Akteure gesteuert werden kann.143 Der ›Fall Walser‹ stellt in diesem Sinne das Produkt einer kontinuierlichen kommunikativen Transformation dar, bei der die ›Wirklichkeit‹ ebenso wie die vermeintlich ›eigentliche‹, vom Sender abgesandte Botschaft durch einen selbstreferentiell organisierten Prozess überhaupt erst hervorgebracht werden.144 Mit anderen Worten: Prägend für Kommunikation ist nicht die Übertragung, die »suggeriert, daß der Absender etwas übergibt, was der Empfänger erhält«,145 sondern der Zusammenhang von Selbstreferenz, Selektion und Attribution. Die dreifache Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen, aus der sich Kommunikation in systemtheoretischer Perspektive zusammensetzt, setzt einen rekursiven Kommunikationsprozess in Gang, dessen basale Selbstreferenz sich gänzlich unabhängig von den Strategien der beteiligten Akteure vollzieht, ja diese lediglich adressiert. »Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert. Sie kommen dadurch zustande, daß Selektionen, aus welchen Gründen, in welchen Kontexten und mit Hilfe welcher Semantiken (›Absicht‹, ›Motiv‹, ›Interesse‹) immer, auf Systeme zugerechnet werden.« 146 Was damit mithin außen vor bleibt, sind Kausalerklärungen des Handelns; Selektionen werden ausschließlich auf das System, nicht auf dessen (psychische) Umwelt bezogen.
143 Vgl. zu diesem Argument auch Dirk Frank: Zwischen Deliteralisierung und Polykontextualität. Günter Grass’ Ein weites Feld im Literaturbetrieb. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Unter Mitarbeit von Hannes Krauss und Jochen Vogt. Opladen u. Wiesbaden 1998, S. 72–96, hier S. 75. 144 Siehe Georg Stanitzek: Fama/Musenkette. Zwei klassische Probleme der Literaturwissenschaft mit »den Medien«. In: Georg Stanitzek u. Wilhelm Voßkamp (Hg.): Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften. (Mediologie 1) Köln 2001, S. 135–150, hier S. 137–138. 145 N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 193. 146 N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 228.
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Vor diesem kommunikationstheoretischen Hintergrund lässt sich die gewöhnlich auf Gerüchte beschränkte Annahme des Fehlens einer übergeordneten Position, die die Kommunikation ›vom Hörensagen‹ in einem intentionalen Sinne steuern und kontrollieren könnte, für Kommunikation generalisieren, führen Gerüchte die Basisstruktur von Kommunikation doch »gleichsam empirisch vor«.147 Die Abwertung von Gerüchten als der Lüge nahestehend lässt sich dabei nur vor dem Hintergrund der Annahme plausibilisieren, Gerüchte würden durch einen von Missverständnissen geprägten Prozess »von einer Person auf eine andere übertragen«.148 So wenig es jedoch in kommunikativen Kontexten um Übertragung einer Information von einem Kommunikationsteilnehmer auf einen anderen geht, so wenig geht es bei Kommunikation im Medium des Gerüchts um einen Übertragungsprozess. Tatsächlich verhält sich Kommunikation auch und gerade im Medium des Gerüchts »der wahr/falsch-Unterscheidung gegenüber operativ gänzlich indifferent«.149 Sind kommunikative Prozesse, wie sie Maiers Romane sowohl auf der histoire- als auch auf der discours-Ebene entfalten, in dieser Perspektive geradezu der Normalfall der Kommunikation, knüpft die literaturwissenschaftliche Forschung mitunter an den Selbstbeschreibungen des Autors an. Besteht demnach die spezifische Literarizität der Maierschen Texte gerade darin, dass sie »qua ihres Status als sprachliches Kunstwerk die Bewegung des Zerredens mit[gehen]«,150 ja sei in Wäldchestag, Klausen und Kirillow das Gerücht gleichsam der »Protagonist«,151 basiert diese Nobilitierung des Autors nämlich wiederum auf der Vorstellung, Gerüchte stünden der Lüge näher als der Wahrheit. Deutlich wird dies nicht nur an der Feststellung, die Texten bestünden »nur aus reinen Lügen«,152 ja bestimmte Aussagen würden durch Maiers Textverfahren gleichsam »verfälscht«.153 Hinzu kommt die rezeptionstheoretische Annahme, der Leser würde durch die spezifische, Leerstellen generierende Form der Ro-
147 N. Binczek, ›Vom Hörensagen‹, S. 81. 148 Manfred Bruhn: Gerüchte als Gegenstand der theoretischen und empirischen Forschung. In: Manfred Bruhn u. Werner Wunderlich (Hg.): Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform. (Facetten der Medienkultur 5) Bern u. a. 2004, S. 11–39, hier S. 13. 149 N. Binczek, ›Vom Hörensagen‹, S. 82. Die Unterscheidung zwischen Nachrichten und Gerüchten lässt sich vor diesem Hintergrund nicht aufrechterhalten. Vgl. Irmela Schneider: Das »Quasi-Zuhause« des Gerüchts. Zur Theorie des Nachrichtenwerts im 20. Jahrhundert. In: Jürgen Brokoff u. a. (Hg.): Die Kommunikation der Gerüchte. Göttingen 2008, S. 166–190. 150 Y. Hütter, S. 168–169. 151 Y. Hütter, S. 151. 152 Y. Hütter, S. 108. 153 Y. Hütter, S. 152.
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mane »zum Spießgesellen, denn die Lücken eignen sich hervorragend [sic!] um eigene Überlegungen – und damit auch nichts anderes als Gerüchte – zu produzieren.« 154 Dass es solche ›Leerstellen‹ geben soll, setzt nämlich voraus, dass es auch Texte ohne Leerstellen gibt; und dass so etwas wie eine kommunikativunverzerrte ›Originalaussage‹ jenseits der narrativ entfalteten Gerüchte übertragen werden könnte. Genau damit unterläuft die Forschung indes nicht nur literaturtheoretische Annahmen zum Textbegriff. Sie knüpft zudem am zweiten Aspekt von Maiers Kommunikationstheorie an und schreibt somit dessen Selbstbeschreibungen fort. Neben der Beobachtung, kommunikative Zusammenhänge seien durch unkontrollierbare Selbstreferenz charakterisiert, hebt Maier nämlich einen weiteren, dem ersten geradezu entgegenlaufenden Aspekt hervor. Denn trotz oder gerade wegen der nicht steuerbaren Selbstreferenz der Kommunikationsprozesse hängt das pejorative Vorzeichen, unter das Maier Kommunikation stellt, dann doch letztlich von einzelnen Akteuren ab: »Kommunikation ist unter den Menschen als eine, die gelingt, nicht möglich, weil sie gar keiner will (I 117). Als Ausgangspunkt kann in diesem Zusammenhang Maiers Schilderung der Fernsehserie Die Hesselbachs von Wolf Schmidt dienen. Wolf Schmidts Grundthese ist für mich immer gewesen, daß Kommunikation unter Menschen nicht gelingen kann. Diese These stützt sich bei Wolf Schmidt allerdings nicht auf irgendwelche kommunikationstheoretische Fundamente, nicht auf eine Analyse dessen, wie Kommunikation sich theoretisch fassen ließe, sondern Wolf Schmidt geht schlicht davon aus, daß die Menschen grundlegend einfach nicht verstehen wollen. (I 117)
Wichtig ist hier nicht, dass Maier sich gegen ›kommunikationstheoretische Fundamente‹ richtet. Von Bedeutung ist der Abschnitt vielmehr, weil er verdeutlicht, dass Maier sein Argument dezidiert auf die Handlungsebene verlegt und seine Beobachtung kommunikativer Selbstreferenz mit Annahmen zu Strategien oder Motiven der beteiligten Akteure koppelt. Dass Kommunikation nicht gelinge – oder besser: nicht im Zeichen der Wahrheit stehe –, liege demnach auch und gerade an den Kommunikationsbeteiligten. In dieser Perspektive ist das pejorative Vorzeichen, unter das Maier Kommunikation insgesamt stellt, nicht so sehr an Selbstreferenz gebunden, sondern mit der Tatsache verknüpft, dass sich Kommunikation grundsätzlich als Handlung ausflaggen muss. Genau dies wertet Maier als eine Personalisierungsstrategie, die gezielt »auf recht unverantwortliche Weise vermeintliche Wirklichkeiten konstruiert [...], ohne dass jemand von sich behaupten könnte, der Wahrheit nahe genug zu kommen«.155
154 Y. Hütter, S. 168–169. 155 T. Köppe, S. 130.
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Die damit in Anschlag gebrachte Kombination aus kommunikativer Selbstreferenz und ›unverantwortlichen‹, das heißt moralisch abgewerteten Akteursstrategien zur Beschreibung des »normale[n] gesellschaftliche[n] Verkehr[s]« 156 bezeichnet Maier als ›Gerede‹ oder – wie in seiner Mainzer Poetikvorlesung Die Verfestigung der Eitelkeit beim Schreiben von 2003 – als »Popanzgespräch«.157 Während es in einem »echte[n] Gespräch« (VES 7) keinen »Platz für Eitelkeiten« (VES 7) gebe, ja die Beteiligten »tatsächlich« (VES 7) etwas von ihrem jeweiligen Gegenüber »wissen« (VES 7) wollten, also an einem ›echten‹ Informationsaustausch interessiert seien, gehe es in ›Popanzgesprächen‹ in erster Linie um »Eitelkeiten« (VES 7). In diesem Fall etabliere sich eine Gesprächsebene »unter der Oberfläche« (VES 7), die der jeweiligen Person dazu diene, sich zu »schmücken« (VES 7): »Sie will sich moralisch erheben, sie will Macht ausüben mit ihrer Sprache, sie will die Welt kontrollieren« (VES 7). In dieser speziellen Hinsicht gehe es in sprachlichen Zusammenhängen immer darum, »eine Machtposition durchzubringen, den anderen an den Rand oder weg zu drücken.« 158 Kennzeichnend für Maiers Programm ist mithin eine Operation, die die Unterscheidung zwischen ›normaler‹ Kommunikation und ›abweichender‹ Kommunikation im Medium des Gerüchts insofern einglättet, als sie den in der kulturgeschichtlichen Tradierung des Gerüchts dominierenden, pejorativ konnotierten Ausnahmefall zum Normalfall erhebt.159 Kann eine »Gerüchte Nicht-Gerüchten gegenüberstellende Differenzierungsleistung in vielen Fällen überhaupt nicht erbracht werden«,160 führt diese Erkenntnis bei Maier mithin nicht dazu, Gerüchte als ›normale‹ Kommunikation aufzufassen. Nicht Gerüchte weist er als pathologische Kommunikation aus, sondern Kommunikation
156 H. Harbers, »Reden könne jeder«, S. 196. 157 Andreas Maier: Die Verfestigung der Eitelkeit beim Schreiben. In: Andreas Maier u. Anne Weber: Mainzer Poetik-Dozentur 2003. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Klasse der Literatur 1) Stuttgart 2004, S. 5–13. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle VES in runden Klammern im Text, hier S. 7. 158 M. Stuber [Interview]. 159 Die Kulturgeschichte des Gerüchts geht zurück auf die antike Figur der fama, wie sie in Ovids Metamorphosen und Vergils Aeneis zu finden ist Vgl. dazu den Überblick in Dorothee Gall: Monstrum horrendum ingens – Konzeptionen der fama in der griechischen und römischen Literatur. In: Jürgen Brokoff u. a. (Hg.): Die Kommunikation der Gerüchte. Göttingen 2008, S. 24–43. Siehe darüber hinaus Hans-Joachim Neubauer: Fama. Eine Geschichte des Gerüchts. Aktualisierte Neuausgabe. Berlin 2009; Werner Wunderlich: Gerücht – Figuren, Prozesse, Begriffe. In: Manfred Bruhn u. Werner Wunderlich (Hg.): Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform. (Facetten der Medienkultur 5) Bern u. a. 2004, S. 41–65. 160 N. Binczek, ›Vom Hörensagen‹, S. 84.
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insgesamt.161 Es ergebe sich ganz grundsätzlich ein »ständige[r] Verlust von Wahrheit in der Kommunikation« 162
4.1.3 Intentionslosigkeit Dass Ich durch eine soziologische Perspektive schematisiert ist, verdeutlichen nicht zuletzt jene Passagen – insbesondere das letzte Kapitel –, die sich mit den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens auseinandersetzen. Um ›den Betrieb‹ zu charakterisieren, analogisiert Maiers Poetikvorlesung die Struktur der sekundären Formen literarischer Kommunikation zunächst mit dem »Besuch eines Kindergartens« (I 123). Das Motiv des Kindergartens dient dabei als narrative Klammer und schließt den Bogen vom ersten (›Die Verweigerung‹) zum letzten Kapitel der Vorlesung. Legt die Analogie zwischen Betrieb und Kindergarten die Assoziation eines organisatorisch gerahmten, gleichwohl infantilen Zusammenseins nahe, geht es Ich tatsächlich wiederum um das Verhältnis von Ich und Gruppe, Individuum und Gesellschaft. So wie der Text den Eintritt Maiers in den Kindergarten als durch eine soziale Differenzerfahrung bestimmt beschreibt, so zeigt er nicht weniger autofiktional den Einstieg des ›Ich‹ in den Literaturbetrieb als wichtigen biographischen Einschnitt. Am Anfang machte ich im Literaturbetrieb denselben Fehler, den ich immer mache. Ich dachte, ich sei jetzt endlich dahin gekommen, wo alle mich verstehen und alle so sind wie ich, vielleicht habe ich das auch im ersten Moment im Kindergarten geglaubt, bis das Erschrecken kam, das Erschrecken über die Menschen, das mich bis heute nicht losgelassen hat. (I 123–124)
Handelt es sich bei gesellschaftlichen Zusammenhängen Ich zufolge grundsätzlich um nichts anderes als ein ›schwadronierendes Nichts‹, so trifft diese Beschreibung auch auf die Rahmenbedingungen literarischer Arbeit zu. Der Literaturbetrieb ist für die Poetikvorlesungen der Ort, an dem »sich einfach alles wiederholte, was ich vorher auch schon [...] erlebt hatte« (I 145). Die Inklusion der Person Maiers als Autor in betriebliche Sozialkontexte geht denn auch wiederum mit »einer grandiosen Verwechslung« (I 123) einher, die die
161 Vgl. Brigitte Weingart: »Rumoritis«: Zur Modellierung von Massenkommunikation als Epidemie. In: Jürgen Brokoff u. a. (Hg.): Die Kommunikation der Gerüchte. Göttingen 2008, S. 278–299. 162 F. Schmokel u. B. Piberhofer.
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Bedingungen, wie sie der Autor vorfindet, mit dessen Vorstellungen von literarischer Autonomie kontrastiert. Vielleicht hatte ich mir im Literaturbetrieb sogar eine Art von Paradies ausgemalt, weil ich in der Literatur, also in den Büchern, also in den Menschen, die die Bücher schrieben, Ichs angetroffen hatte, Menschen wie mich oder wie Menschen, die noch mehr Ich waren als ich, und die heute alle Teil meines Ichs sind. (I 124)
Der Literaturbetrieb tritt dem ›Ich‹ als eine kommunikative Struktur gegenüber, in der es eben gerade nicht wie im ›Paradies‹ zugehe. Die Differenz wird dabei zwischen den Figuren »in den Büchern« (I 123), die Ich als »wahre Menschen« (I 123) bezeichnet, und dem Literaturbetrieb aufgestellt, ja man könnte sagen, Maier erwartet, dass der Betrieb ebenfalls als primäre Formen literarischer Kommunikation strukturiert ist: Sei er »unter die Bücher gegangen« (I 123), um ›wahre Menschen‹ zu finden, finde er sich schließlich als Autor im Betrieb wieder. Dessen »Mitglieder« (I 122) verfolgten bestimmte, personalisierte Strategien, wie sie Maier zufolge in gesellschaftlichen Zusammenhängen typisch sind und gerade damit bestimmten Strukturzusammenhängen im Literatursystem den Status sekundärer Formen zuschreiben. Dass die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen in einem problematischen Verhältnis zur ›eigentlichen‹ Literatur stünden, bringen zwei Begriffe auf den Punkt, die Ich zur konkreten Beschreibung der literaturbetrieblichen ›Beeinträchtigung‹ von Literatur einsetzt. Benannt ist die betriebliche ›Störung‹ primärer Formen mit den Neologismen ›Vergruppung‹ und ›Ent-ichung‹. Heben beide Begriffe die soziologische Perspektivierung des Maierschen Programms hervor, verdeutlichen sie zudem wiederum das pejorative Vorzeichen, unter das Maier Kommunikation grundsätzlich stellt. So grenzt sich das ›Ich‹ der Poetikvorlesungen explizit von solchen Betriebsakteuren ab, die ständig vergruppen und sich ent-ichen und vom Betrieb vergruppt und ent-icht werden, denn sie zahlen Geld, und das sollen sie tun, denn das wollen die Verleger, und ich lebe sogar davon, ich hier mal nicht im emphatischen Sinn gebraucht. (I 128)
In dieser Passage beschreiben die Vorlesungen den Literaturbetrieb erstens als einen Kommunikationszusammenhang, der durch das symbolisch-generalisierte Medium Geld strukturiert wird. Dieses kann dabei durchaus für diverse Motive oder Interessen der beteiligten Betriebsakteure stehen, die alle zumindest eines gemeinsam haben: Sie seien nicht am Medium ›Wahrheit‹ ausgerichtet, für die sich Literatur nach Maier eigentlich interessiere. Insofern beobachtet Ich gleichsam eine ›Verunreinigung‹ der literarischen Autopoiesis durch die Strukturvorgaben sekundärer Formen. Zweitens sei der Literaturbetrieb als Kommunikationszusammenhang denn auch »eine permanente Vergruppung«
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(I 126), die den Weg »zum lieben Gott« (I 126) verstelle. Vom und im Betrieb derart »[v]ergruppt« (I 126) stellten sich die Akteure der ›Wahrheit‹, wie sie Literatur entfalte, geradezu konträr entgegen, wobei das Ableitungsverhältnis zwischen primären und sekundären Formen über die Präfixe ›ver-‹ und ›ent-‹ veranschaulicht wird. Vor diesem Hintergrund bestimmt sich Maier in den Frankfurter Poetikvorlesungen auch selbst als Betriebsakteur, der sich zudem in und mit Ich im Betrieb positioniere. Relevant sind diese Abschnitte weniger mit Blick auf ihren explizierend-kommentierenden oder selbstreflexiven Status. Sie sind vielmehr selbst Teil eben jener »Techniken und Aktivitäten« 163, in oder mit denen Maier als Autor öffentlich in Szene gesetzt wird. Ich kam also in den Betrieb, und wäre ich nicht in ihm, stünde ich jetzt nicht vor Ihnen und Sie kennten mich nicht. Ich müßte oder dürfte diese Vorlesungen nicht halten, ich würde übermorgen nicht wieder nach Rom fahren, denn auch nach Rom mußte oder durfte ich nur, weil ich in den Betrieb gekommen bin. Meine Damen und Herren, stellen Sie sich einmal vor, ich wäre nicht in den Betrieb gekommen. Dann wäre ich heute ganz derselbe, der ich bin, aber keiner von Ihnen würde mir zuhören, und jetzt hören Sie mir alle zu. Dabei hätte ich dasselbe zu sagen wie jetzt, nämlich nichts. (I 124)
Dieser nahezu durchgehend im Konjunktiv gehaltene Abschnitt konfrontiert zunächst wiederum das ›Ich‹ mit dem ›Betrieb‹ in Analogie zur Unterscheidung ›Individuum/Gesellschaft‹. Den Betrieb versteht Ich dabei als Voraussetzung der Möglichkeit der öffentlichen Sichtbarkeit des Autors, mithin als Bedingung der Anschlussfähigkeit im literarischen System und benennt damit in nuce die Funktion sekundärer Formen. So eindeutig diese Funktionszuweisung jedoch auch sein mag, die Poetikvorlesungen geben ihr gleichzeitig einen argumentativen Rahmen, der sich als Medium einer Autonomie-Geste erweist. Indem sie beschreiben, Maiers Ich wäre ›dasselbe‹ auch ohne ›den Betrieb‹, ja hätte gar als nicht-öffentliche Person ›dasselbe‹ zu sagen, betont der Text, dass die betrieblichen Zusammenhänge dem ›Ich‹ und seinem Programm eben gerade nichts anhaben könnten. Dieses Programm ist in eine Autorinszenierung eingegliedert, die auf eine wiederholt betonte auktoriale »Intentionslosigkeit« 164 setzt. Besonders deutlich wird diese »Inszenierungspraktik[ ]« 165 Maiers in der Schilderung seines
163 Christoph Jürgensen u. Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese. In: Christoph Jürgensen u. Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. (Beihefte zum Euphorion 62) Heidelberg 2011, S. 9–30, hier S. 10. 164 Dieser Begriff mit Bezug auf Meister Eckhart bei Y. Hütter, S. 48. 165 C. Jürgensen u. G. Kaiser, S. 10.
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eingangs erwähnten Auftritts bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur. Ist es dort üblich, dem Publikum die Wettbewerbsteilnehmer zum einen mit einer Informationsbroschüre, die bio-bibliographische Angaben sowie ein Autorenfoto enthält, und zum anderen mit einem kurzen Einspielfilm prägnant vorzustellen, verweigert sich Maier dem damit nur angedeuteten Klagenfurter Konglomerat aus ›Börse, Show und Event‹.166 In dem Klagenfurtheftchen stand bei mir gar nichts außer dem einzigen Text, den ich bis dato veröffentlicht hatte, man muß das eher im Passiv sagen, der bis dato von mir veröffentlicht worden war. Er hieß: Aus einem Bericht des Bauern Seidel. Bei allen standen zehn oder fünfzehn oder zwanzig Punkte auf der Erfolgsliste, bei mir stand immerhin nicht nichts, aber nur eins. Ich also völlig unbekannt, ein leeres Blatt, dazu nur ein Punkt auf der Erfolgsliste, und da auch noch ein Bauer Seidel. Das hielten nicht wenige für durchinszeniert, zumindest anschließend, nach dem Preis, den ich da bekam, da fiel dann auch plötzlich ins Gewicht, daß ich nicht aus Berlin kam, wie fast alle anderen. Ich, ein Bauer vom Land, der über Bauern schreibt und verweigert, sich vor einen Stall zu stellen daheim in der Wetterau, von der sie nie etas gehört hatten. (I 130)
Am Beispiel der »kleinstädtischen Metapher für den Literaturbetrieb« 167 veranschaulicht Maier seine ›Verweigerung‹ gegenüber den Anforderungen und Erwartungen, die die Klagenfurter Öffentlichkeit an ihn stelle. Die Anekdote »Klagenfurt ohne Film« (I 130) ist dabei insofern symptomatisch für Maiers Selbstinszenierung, als sie einerseits verdeutlicht, dass Maier im Modus der Selbstreflexion auf einen Inszenierungsbegriff zurückgreift, der als »kulturkritischer, pejorativer Gegenbegriff zu diversen ›Authentizitäts‹-Vorstellungen im Sinne von ›Täuschung‹« 168 fungiert; und sie andererseits Maiers dezidierte Passivität hervorhebt, ein Ausgeliefertsein an die Betriebsbedingungen, das bis in die syntaktische Passiv-Struktur der Schilderung eines Publikationsakts – und damit des Einstiegs in den Literaturbetrieb – hineinreicht.169 Noch im eigens
166 Vgl. Doris Moser: Der Ingeborg-Bachmann-Preis. Börse, Show, Event. (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 9) Wien u. a. 2004. 167 Doris Moser: Du sollst dir kein Bildnis machen, sondern fernsehen. Eine sehr kleine Ikonologie des Ingeborg-Bachmann-Preises 2001. In: Michael Ritter (Hg.): praesent 2002. Das literarische Geschehen in Österreich von Jänner 2000 bis Juni 2001. Wien 2002, S. 122–132, hier S. 122. 168 C. Jürgensen u. G. Kaiser, S. 10. 169 Maier ist nicht der einzige Autor, der den Anspruch erhebt, die Vorgaben aus Klagenfurt unter Verweis auf literarische Interessen zu unterlaufen. Vgl. dazu, insbesondere mit Blick auf PeterLicht, Doris Moser: Feldspieler und Spielfelder. Vom Gewinnen und Verlieren beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. In: Markus Joch u. a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Gemeinsam mit Nina Birkner. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 118) Tübingen 2009, S. 189–203, insbesondere S. 196–200. Den wohl bekanntesten Klagenfurt-Skandal stellt Rainald Goetzens
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betonten understatement der eigenen Erfolgsliste bringt Maier das Nicht-Gewollte zum Ausdruck, ist seine erste Veröffentlichung doch immerhin in der mit nicht wenig symbolischem Kapital ausgestatteten Zeitschrift Sinn und Form erschienen.170 Und so setzt sich die um Maiers erfolgreiche Teilnahme bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur konzentrierte Literaturbetriebs-Szene denn auch nicht weniger durchnarrativiert fort, wenn Maier slapstik-artige Situationen beschreibt, in denen er nach der Preisvergabe von diversen »ORFLeuten« (I 132), »Kameraleute[n]« (I 132) und anderen Journalisten geradezu verfolgt worden sei. Am Abend dieses Tages war ich völlig fertig und hatte einen Nervenkollaps, nicht wegen der Lesung im Fernsehen, sondern wegen der Tischrunde danach, ich war ja nicht gewohnt, daß wer etwas von mir wollte. Das hatte mir dieser Mensch, der ein Lektor war, zugemutet. Der Einstand in den Betrieb war gleich ein Zusammenbruch. (I 132)
So wie der öffentlichkeitswirksame Einstieg Maiers in den Literaturbetrieb im totalen Kollaps des Autors endet, so steht diese Szene weniger im Zeichen der Abhängigkeit Maiers von den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen seines literarischen Schreibens. Im Zentrum steht vielmehr eine Inszenierung, die auf das erklärte Ausgeliefertsein des Autors an den Literaturbetrieb und seine Akteure aufgrund oder trotz auktorialer ›Intentionslosigkeit‹ abhebt. Verdichtet auf das Geschehen und die Erwartungen in Klagenfurt erweisen sich die sekundären Formen literarischer Kommunikation als fatal für den Autor Maier, setzen aber mit dem Gewinn des Literaturpreises erst richtig ein. Am nächsten Tag lag ich im Bett im Hotel in Klagenfurt, denn mein Kreislauf war am Ende, und jener Lektor brachte mir Tabletten, als sei das das Normalste der Welt. Der Autor als Rennpferd. Das hätte mir zu denken geben sollen. Kaum zu Hause, begannen die Lesereisen, als hätt sich eine Welt eröffnet. Dann kamen die Kritiken. Plötzlich hatten alle etwas zu mir zu sagen oder nicht. Ich war in eine Welt hineingeboren worden, mit zweiunddreißig, wie damals mit drei. (I 132–133)
Die hier erneut aufgerufene Analogie zu Maiers ›Verweigerung‹ im Kindergarten setzt im Modus einer »autofiktionale[n] Erfindung« 171 eine auktoriale PassiRasierklinge dar. Siehe insbesondere Thomas Wegmann: Stigma und Skandal. oder ›The making of‹ Rainald Goetz. In: Markus Joch u. a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Gemeinsam mit Nina Birkner. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 118) Tübingen 2009, S. 205–219. 170 Siehe Andreas Maier: Aus einem Bericht des Bauern Seidel. In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 51 (1999), Nr. 6, S. 947–961. 171 Johanna Bohley: Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung als »Form für Nichts«. In: Julia Schöll u. Johanna Bohley (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg 2012, S. 227–242, hier S. 239.
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vität in Szene, die den Autor als einen dem literaturbetrieblichen ›Gerede‹ ausgesetzten Beteiligten präsentiert. Auf diese Weise schreibt Maiers ›Nicht-Handeln‹ sämtlichen Ereignissen, die ihm als Akteur in sozialstrukturellen Zusammenhängen wiederfahren, den Status des ›Nicht-Intendierten‹ zu – eine Zuschreibung, die auch und gerade seine literarische Karriere betrifft: »Ich kam in den Betrieb, aber nicht unter die Räder. Es wurden gute Sätze über mich gesagt, die ich meistens nicht verstand, und was folgte, waren Preise, Stipendien, Einladungen, Auftritte, Vorträge und zum Beispiel auch Poetikdozenturen« (I 137). Maiers Betriebskarriere wird auf diese Weise, das heißt als subjektlose, lediglich durch Kommata abgetrennte Kette von Betriebsereignissen172 nicht nur der Status eines im Nachhinein konstruierten Sinn- und Entscheidungszusammenhangs zugeschrieben; Maiers literar-biographischer Weg ist demnach zudem gleichsam das Produkt des Zusammenwirkens von Strategien anderer, zum einen unbestimmter (›man‹), zum anderen dezidiert personalisierter (›ein Lektor‹) Betriebsakteure. Der somit in Szene gesetzten kommunikativen ›Intentionslosigkeit‹ Maiers korrespondiert ein spezifischer, sich in produktionsästhetischer Hinsicht gegen jegliche ›Intention‹ abgrenzender Literaturbegriff. An Form gewinnt dieser zunächst im Modus eines negativen literarischen Programms durch die Abrenzung gegenüber einer Konzeption von Literatur, wie sie 2005 kurzzeitig die feuilletonistischen Debatten um die Funktion von Gegenwartsliteratur bestimmt.173 In einer Stellungnahme zu dem von Matthias Politycki und anderen in der Zeit veröffentlichten Plädoyee für einen ›relevanten Realismus‹ wendet sich Maier gegen einen Literaturbegriff, der im Zeichen eines Brückenschlags zwischen Realität und Fiktion, Moral und Ästhetik steht.174 Während die Verfasser des Manifests mit dem Titel Was soll der Roman? eine Literatur einfordern, die sich als eine »an der Wirklichkeit ausrichtende Kunst« 175 versteht,
172 Karriere hier verstanden als »Ereignisse, die weitere Ereignisse ermöglichen«, Niklas Luhmann: Copierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung von Individualität. In: Ulrich Beck u. Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1994, S. 191–200, hier S. 196. 173 Siehe dazu Christoph Steier: Ausgeplaudert? Feuilletonistische Funktionsbestimmungen von Literatur in der Popliteratur-Debatte um 2000. In: Daniel M. Feige u. a. (Hg.): Funktionen von Kunst. Frankfurt a. M. 2009, S. 195–209, insbesondere S. 200. 174 Matthias Politycki u. a.: Was soll der Roman? In: Die Zeit vom 23. Juni 2005. In dem Manifest heißt es: »Das Problem ist immer, wie man von einem Ort zum anderen kommt. Die Aufgabe ist deshalb, Brücken zu bauen, in diesem Falle nicht nur zwischen Realität und Fiktion, sondern auch zwischen Moral und Ästhetik.« 175 Ingo Irsigler: »Der Gewinner ist in jedem Fall die Literatur«. Das Verhältnis von Text und Öffentlichkeit, betrachtet am Beispiel zweier Buchpreisträger. In: Ole Petras u. Kai Sina (Hg.):
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plädiert Maier für eine selbstbestimmte Literatur. Seine Betonung der »Autonomie des Literarischen« 176 verknüpft er dabei mit dem Verzicht auf ›Absichten‹ oder ›abstrakte Willensentschlüsse‹. Nicht nur finde er »Literatur grauenhaft, die vorsätzlich geschieht, also weil man dies und das will«,177 tatsächlich entwickelten seine Texte eine von ihm als Autor nicht steuerbare Eigenbewegung: »[M]eine Literatur macht beim Schreiben [...] nur allzu oft, was sie will.« 178 In Ich fasst Maier die hier angesprochene literarische Form, gegen die er seinen Literaturbegriff abgrenzt, mit der Konvergenz der Begriffe des Interessanten und des Interesses: Wenn ich heute die Literatur um mich herum lese, lese ich interessante Gespräche intelligenter Leute über ausgefallene Dinge. Das ist, was die Leute interessiert, aber für mich ist es eine Verschönerung. Ich sehe die Welt so nicht, aber ich sehe, daß diese Kunst einen Bezug zur Realität hat, und zwar den der Verschönerung. (I 119)
Während an dieser Stelle der im Zeichen der Verschönerung stehende Realitätsbezug von Literatur als »Kitsch« (I 120) qualifiziert wird, geht Maier in seiner Mainzer Poetikvorlesung konkret auf solche literarischen Formen ein, die seine Literatur nicht bedienen wolle. Stünden demnach diverse literarische Texte im Zeichen einer »kanonisierte[n] Interessantheits-Gültigkeit« (VES 8), beginne Literatur Maier zufolge indes gerade dort, »wo etwas nicht mehr interessant ist« (VES 8). Das Attribut des Interessanten koppelt er dabei mit zwei Gesichtspunkten: Erstens bezieht sich Maier auf die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe, um festzustellen, dass sich Interessantheit lediglich »an der bloßen Oberfläche abspielt« (VES 8). Zweitens koppelt er Interessantheit mit den Unterscheidungen von ›außen/innen‹ und ›organisch/unorganisch‹. Demnach realisiere die von Maier abgelehnte Literatur ihr Formelement spezifisch: sie »übernimmt es von außen, sie übernimmt es nicht organisch« (VES 8). Nicht der Bezug auf ein ›außen‹, sondern das ›Nicht-Organische‹ dieses Realitätsbezugs steht demnach Maiers Literaturkonzeption entgegen. Mich erinnert diese Literatur durch die Vor-Ausgewähltheit dessen, was darin erscheint, an die höfische Literatur der Zeit Hartmanns und Wolframs oder besser noch an eigentli-
Kulturen der Kritik. Mediale Gegenwartsbeschreibungen zwischen Pop und Protest. Dresden 2011, S. 237–259, hier S. 240. Siehe dort S. 240, Fn. 12. 176 I. Irsigler, S. 240, Fn. 12. 177 Andreas Maier: Meine Literatur macht, was sie will. In: Die Zeit vom 23. Juni 2005. 178 A. Maier, Meine Literatur macht, was sie will. Maiers Text setzt ein mit einer emphatischen Proklamation: »Nein, ich möchte als Romanschreiber nicht den höheren Weihen dieser Gesellschaft oder überhaupt einer Gesellschaft dienen. Ich möchte nicht zur Diskursausrede taugen. Mit mir ist da nichts anzufangen.«
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che Minnedichtung. Ich will natürlich hier nicht Qualitäten vergleichen, aber die VorAusgewähltheit und Künstlichkeit dessen, was in solchen literarischen Werken vorkommt, das will ich vergleichen. (VES 8)
Die sich an ›Interessantheit‹ ausrichtende Literatur wertet Maier schließlich insofern als gleichsam vormodern ab, als diese sich an einer normativ ausgerichteten ›Regelpoetik‹ orientiere. Die Form dieser Literatur basiere nämlich auf vorgegebenen und damit auf geradezu Erwartbares abzielenden Schablonen, die »immer nur das immergleiche Eine, nämlich daß es interessant sei« (VES 9), wiederholten. Es gebe jedoch »nichts Uninteressanteres als das Interessante« (VES 9), sei das literarische Resultat doch schließlich nichts weniger als eine »leblos« (VES 12) und »rhetorisch« (VES 12) erscheinende Sprache. Vor dieser Negativfolie kann nun Maiers Literaturbegriff deutlich werden, wie er sie in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen entfaltet. Ausgehend von dem Anspruch, Literatur müsse eine »Form« (I 11) haben »und vor allem ein Geheimnis jenseits der Sprache und der Form« (I 11), lassen sich grundsätzlich vier Formelemente unterscheiden, die Maier größtenteils und vor allem mit Dostojewskij entwickelt.179 Das »Hauptkriterium« (I 108) eines gelungenen literarischen Textes sei das der Redundanz (vgl. auch I 105). Dass jeder gelungene literarische Texte »immense redundante Felder« (I 108) aufweise, sei demzufolge dem Umstand geschuldet, dass Literatur – zweitens – zur »Mimesis von Alltagssprache« (I 106) dezidiert auf Dialoge setze. Drittens müsse ein Roman »großzügig, großflächig erzählt sein« (I 108), ja in ihm müsse (viertens) die Sprecherinstanz aufgehoben werden. So habe Dostojewskij »das Objektive, den Sprecher von außen, weitgehend getilgt. Alles Reden ist schwammig bei ihm, auch die einzelnen Personen zeigen Kohärenz eher dadurch, daß sie dauernd zerfallen in die verschiedensten Richtungen« (I 110). Schließlich führe bei Dostojewskij »[j]edes Gespräch [...] immer ins totale Abseits« (I 110), ja bei Dostojewskij gebe es »nie ein gelingendes Gespräch« (I 109); die Gesprächsteilnehmer würden sich immer »verwirren« (I 113). Dementsprechend bestünden die »Sprechsituationen« (I 113) in Maiers eigenen Romanen auch weniger aus »Situationen einer Rede, sondern des Gesprächs« (I 113). Mag sich Maier durch die Beschreibung dieser Definitionspartikel gelungener Literatur auch von seinem Programm der ›Intentionslosigkeit‹ zu entfernen scheinen, ist auffallend, dass er in Ich – darin durchaus anderen Poetikvorlesungen vergleichbar – die Genese seiner literarischen Form nicht nur be-
179 Damit stellt sich Maier in die Reihe der Poetikvorlesungen, die größtenteils sich auf die »Ahnengalerie großer französischer, russischer und amerikanischer Erzähler« bezieht. J. Bohley, S. 236.
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schreibt, sondern zudem als »Nichtform« (I 74) bezeichnet. Relevant ist dies insofern, als auf diese Weise Maiers Beschreibung seines Schreibverfahrens an seine Autorinszenierung zurückgebunden wird. So basiere die »Zelle« (I 68), aus der seine literarische Form entstanden sei, aus zwei Elementen: Erstens seien seine ersten literarische Versuche immer in Form der Ich-Erzählung strukturiert gewesen, »aber es gelang an keiner Stelle, den Ich-Erzähler irgendwie in die Handlung einzubinden« (I 68). Zweitens bestehe jeder seiner Texte indes aus »erzählter Erzählung« (I 69) – einer Form, in der der Erzähler im Wortsinne »sehr wenig zu sagen« (I 70) habe, ja gleichsam hinter dem Erzählten zurücktrete. Dies sei die Basis dafür, dass »meine Texte irgendwie funktionieren« (I 70). Während Maiers Texte, folgt man den Selbstbeschreibungen des Autors, »über erzählendes Erzählen, über Berichte, die im Text gegeben werden« (I 73), funktionieren, etabliert er nicht nur eine »Nichtform als Form« (I 74). Der Effekt ist darüber hinaus, dass die Beschreibung der Formgenese in eine Produktionsästhetik mündet, die Maiers Inszenierungslogik als ›intentionsloser‹ und passiver Akteur der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens ein kompatibles literarisches Autorbild zur Seite stellt. Die Einsicht, »gar nichts zum Erzählen« (I 49) zu haben, korrespondiert die Einsicht, »nie eine Form gefunden [zu haben; DCA]« (I 64). Meine Form ist ein Umgang mit meinem Nichtkönnen, und deshalb kann ich sie nicht Form nennen und bleibe daher dabei, daß ich keine Form habe, sondern eine Behinderung, auch wenn es nach außen natürlich so wirkt, als hätte ich eine Form und hätte diese auch so geplant. (I 66)
Spätestens mit dem in diesem Zusammenhang erneut explizierten understatement Maiers im Zeichen der literarisch-programmatischen Selbstverkleinerung und -beschreibung als Nichtskönner, gar literarischer Amateur bricht eine spezifische Form »›affektierte[r]‹ Bescheidenheit« 180 durch, die Maiers Programm wie seine Autorinszenierung entscheidend prägt. Dadurch dass der Autor die Frage literarischer Kompetenz und Inkompetenz mit auktorialer Intentionslosigkeit koppelt, stehen seine programmatischen Texte im Zeichen einer »herabwürdigenden Selbstbezeichnung«,181 die sich die Semantik des Dilettantismus zu nutze macht. Bedeutsam ist dies zunächst insofern, als die Semantik des Dilettanten seit der Sattelzeit um 1800 bis heute eine pejorativ konnotierte Ka-
180 Georg Stanitzek: Poetologien des Dilettantismus – ironisch? In: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes. Frankfurt a. M. 2000, S. 404–414, hier S. 404. Vgl. auch Safia Azzouni u. Uwe Wirth (Hg.): Dilettantismus als Beruf. Mit Beiträgen von Safia Azzouni u. a. (= Kaleidogramme 43) Berlin 2010, S. 11–29. 181 G. Stanitzek, Poetologien des Dilettantismus, S. 404.
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tegorie der Fremdbeschreibung ist, ja sich zu »herabwürdigenden, zu Schimpfworten« 182 entwickelt hat, die im Rahmen funktionaler Differenzierung gewöhnlich dazu dient, Exklusion aus einem bestimmten Funktionskontext zu markieren. Nicht zuletzt im literarischen System entwickelt sich der Dilettant zu einem »ästhetischen Kampfbegriff«,183 mit dem literarische Kommunikation um 1800 ein Negativbild zum Genie entwirft. Der Dilettant transformiert sich dabei im Zuge der Anpassung der gesellschaftlichen Semantik an die Sozialstruktur zu einer »Projektionsfläche für Nicht-Kunst«,184 der alles zugeschrieben werden kann, was aus der Perspektive eines bestimmten literarischen Programms als defizitär erscheint und somit exkludiert werden kann. Maier greift auf diese Semantik der Fremdbeschreibung zu und refunktionalisiert sie als Selbstbeschreibung, um gleichsam unter der Hand sein spezifisches Programm platzieren zu können.185 Damit knüpft er nicht nur an die alteuropäische Stratifikationsordnung an, in der der Begriff des Dilettanten noch Mitte des 18. Jahrhunderts »frei von negativen Konnotationen« 186 gewesen ist. Maier tritt mit dieser Selbstbezeichnung zudem in eine Linie der literarisch-programmatischen Distinktion. Seine Selbstbeschreibung steht im Zeichen einer Form, mit der er sich einerseits als literarischer Dilettant beschreibt, eben damit aber andererseits an literarischem Profil gewinnt.187 Und so wendet der Autor diese Form denn auch schließlich produktionsästhetisch, wenn er festhält, wie er etwa die dem Leser beziehungsweise Zuhörer vorliegenden Poetikvorlesungen geschrieben habe: [...] und je weniger ich darüber nachdenke, desto besser geht es, kommt es mir vor. Wenn man schnell schreibt, schreibt man auf eine gewisse Weise. Die Sätze werden automatisch länger, rhythmischer, man macht dauernd Einschübe, die hypotaktisch daherkommen, aber in Wahrheit parataktisch sind, man setzt weniger Punkte als normal, man macht
182 G. Stanitzek, Poetologien des Dilettantismus, S. 406. 183 Matthias Plumpe: Dilettant/Genie. Zur Entstehung einer ästhetischen Unterscheidung. In: Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41 (2011), Nr. 164, S. 150–175, hier S. 156. 184 M. Plumpe, S. 166. 185 Vgl. zu dieser durchaus nicht ungewöhnlichen, sich gegen den Vorwurf, eine Regelpoetik platzieren zu wollen, richtenden Vorgehensweise in Poetikvorlesungen J. Bohley, S. 237–239. 186 G. Stanitzek, Poetologien des Dilettantismus, S. 406. 187 »Tatsächlich ist – paradoxerweise – Dilettantismus im Kontext von Kunst oder Literatur als Kategorie nicht der Exklusion, sondern der Inklusion zu verstehen. So wird man den Dilettantismus allenfalls als ›Sollbruchstelle der Moderne‹ zu begreifen haben. Aber das bleibt ein fragwürdiges Programm. Der Dilettant kann nicht ausgeschlossen werden, sondern ist als eingeschlossener ausgeschlossener Dritter zu verstehen und als solcher keine marginale Figur«, G. Stanitzek, Poetologien des Dilettantismus, S. 411.
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kaum oder keine Absätze. Oder die Sätze werden sehr kurz und exklamatorisch. All das ist das Produkt des Nicht-Nachdenkens beim Schreiben. (I 112–113)
Resultat seines ›Nicht-Nachdenkens‹, das diese Passage auch selbst wiederum mit hypotaktischen Einschüben beziehungsweise parataktischer Reihung am Ende selbst umsetzt, ist Maiers dilettantisch generierte ›Nicht-Form‹: »was meine Form sei, nämlich daß ich keine habe« (I 123). Sind generell »das alle Konventionen sprengende Genie, der Novize und der schlechte Künstler immer nur ex post trennscharf zu unterscheiden, nämlich in einer Beobachtung zweiter Ordnung«,188 setzt Maier die Unhintergehbarkeit dieses Zuschreibungsprozesses voraus und kann sich deshalb die Seite des Dilettanten zuschreiben, der mit Zurückweisen »ein[es] literarische[n] Anspruch[s]« 189 operiert. Im Rahmen dieser Selbstbezeichnung geht Maier im Übrigen soweit, sich zu weigern, noch sein Verfehlen als ›gängig‹ qualifizierte literarischer Standards als Innovation zu verstehen. So stellt er im Kontext eines Podiumsgesprächs zur schweren Kunst der leichten Unterhaltung zwar einerseits fest: »Ich liebe technisch Schlechtes. Nur im Schlechten kann das Gute stecken. Im Gekonnten kann nichts Gutes stecken. Im Gekonnten steckt nur das Erwartete.« 190 Andererseits blendet er dieses Urteil aber auf Dostojewskij und »seiner totalen, mir so gut vertrauten Unübersichtlichkeit«,191 und schreibt der gewöhnlich als low codierten Jerry Cotton-Reihe Perfektion zu.192 In diesem Sinne wird Maiers Autonomie-Geste durch die Dilettanten-Semantik überhaupt erst realisiert: eben weil sie es ermöglicht, auf ›Intentionslosigkeit‹ abzuzielen. Diese Inszenierungsstrategie lässt sich als eine Geste des Zurückweisens von Verantwortung oder Autorität über das Geschilderte lesen, ein Rückzug auf die eigene Position, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit stellen kann und will. Man könnte sagen, Maier inszeniert Nicht-Kommunikation – gerade das gelingt aber nur
188 M. Plumpe, S. 173. 189 Thomas Böhm: Podium I: Groschenromane und die Wissenschaft. Podium mit Heinz J. Galle, Klaus Göbel, Andreas Maier, Helmut Rellergerd, Jürgen Wertheimer. In: Franz-Heinrich Hackel (Hg.): Die schwere Kunst der leichten Unterhaltung. Die Podiumsgespräche des Symposiums vom 28. April 2004 im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Mit Beiträgen der Symposiumsteilnehmer, Bergisch Gladbach 2004, S. 16–43, hier S. 37. 190 A. Maier, Das ist der Stoff, aus dem die Welt ist, S. 222. 191 A. Maier, Das ist der Stoff, aus dem die Welt ist. 192 Zur Differenzierung zwischen high und low siehe Thomas Hecken: Bestimmungsgrößen von high und low. In: Thomas Wegmann u. Norbert Christian Wolf (Hg.): »High« und »low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 130) Berlin u. Boston 2011, S. 11–25.
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durch Kommunikation: »Kommunikation als Weltvollzug kennt keinen Konjunktiv, sie findet statt oder nicht«.193 Die derart semantisch grundierte ›Intentionslosigkeit‹ Maiers appliziert Ich dezidiert auf Anekdoten aus dem Literaturbetrieb, um den Autor als einen Akteur in Szene zu setzen, der nicht nur den Betreibsabläufen ausgesetzt sei, sondern diesen zudem mit völliger Verständnislosigkeit gegenübertrete. Dazu zählt in einer selbstreflexiven Schleife immer wieder die Frankfurter Poetikvorlesung als Gattung selbst (etwa in Form der Thematisierung des »Text-Ich[s]«, I 112, oder der Anforderungen Suhrkamps an die konkrete Publikation; vgl. I 126), allgemeine Strukturzusammenhänge seines Verlags, der nicht für die Autoren da sei, sondern »für sich selbst« (I 128), Beschreibungen der Funktionsweise des literarischen Quartetts (vgl. I 128–129), die bereits genannten Szenen beim Literaturwettbewerb in Klagenfurt (vgl. I 129–133), die feuilletonistische Konstruktion von Etiketten wie »Frankfurtroman« (I 136), die Maier zugeschrieben würden, sowie die Umstände des Potsdamer Literaturstipendiums (vgl. I 140). Hinzu kommt auch eine relativ ausführliche Passage, in der sich Maier auf seine Bernhard-Dissertation bezieht (vgl. I 139–142). Von Relevanz für die vorliegende Studie ist dabei zum einen, dass er sich weniger inhaltlich mit seiner Studie auseinandersetzt, sondern diese vielmehr in die Reihe der genannten Betriebsanekdoten einordnet. Zum anderen ist die so platzierte Literaturbetriebs-Szene interessant, weil sich in ihr literarische und literaturprogrammatische Formelemente derart überlagern und sich auf das Verhältnis von primären und sekundären Formen beziehen, dass die Form von Ich selbst gleichsam in Mitleidenschaft gezogen wird. Als Ausgangspunkt der Literaturbetriebs-Szene um Die Verführung dient in der Frankfurter Poetikvorlesung die Frage der Veröffentlichung von Kirillow. Heute gelte ich teilweise als unsauberer, unsolider Autor, der Leute im Literaturbetrieb absichtlich geschädigt hat, zum Beispiel jenen Lektor aus Klagenfurt, und viel Geld abgezockt hat, mit dem letzten Roman angeblich sogar fünfzigtausend Euro. Mein letzter Roman wurde, heißt es, darüber hinaus von einem Verlag zurückgewiesen, von einem kleinen Verlag, der ein literarisches Startprogramm vorlegen wollte, aber mein Roman war für sie zu schlecht, oder wollte ihn nicht überarbeiten, oder er hat ihnen politisch nicht gepaßt, je nachdem. Zumindest war das alles so in der Zeitung zu lesen. (I 138)
Maier bezieht sich hier auf die Publikation von Kirillow, die in einem sozialstrukturellen Zusammenhang den deutschen Literaturbetrieb betreffend steht, der vom Feuilleton immer wieder thematisiert wird. Aus Anlass der Übernahme
193 Hedwig Pompe: Nachrichten über Gerüchte. Einleitung. In: Jürgen Brokoff u. a. (Hg.): Die Kommunikation der Gerüchte. Göttingen 2008, S. 131–143, hier S. 133.
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des Vorsitzes der Geschäftsführung des Suhrkamp-Verlags durch Ulla Berkéwicz kündigt der für ›Neue deutsche Literatur‹ zuständige Lektor Thorsten Ahrend Anfang 2004 aus »persönlichen Gründen« 194 seine Stelle. Ahrends Kündigung fällt in den Zeitraum des Abschieds von Suhrkamp-Geschäftsführer Günter Berg, der zu Hoffmann und Campe wechselt, und den Rücktritt des Suhrkamp-Stiftungsrates um Hans Magnus Enzensberger. Es gibt mithin Spekulationen, Ahrends Abschied sei Folge eines verlagsinternen ›Machtkampfes‹ und der damit einhergehenden »Zerwürfnisse« 195 unter den Beteiligten. Spekulationen, der Lektor würde ebenfalls zu Hoffmann und Campe wechseln, bestätigen sich jedoch nicht. Ahrend betreut schließlich das literarische Programm des Wallstein-Verlags um Verleger Thedel von Wallmoden. Weiß das Feuilleton in diesem Zusammenhang, dass auch Maier für Suhrkamp »verloren« 196 sei, wird der Autor als ein »regelrechter Suhrkamp-Abtrünniger« 197 beschrieben. Die Vermutung, Maier wolle seinen Verlag verlassen, ist dabei insofern symptomatisch, als sie einerseits auf eine spezifische »Unruhe« 198 bei Suhrkamp hinweist, verlassen doch unter anderen Martin Walser, Daniel Kehlmann, Imre Kertész und Katharina Hacker den Verlag; und andererseits ist Maiers angenommener Verlagswechsel insofern symptomatisch, als dem deutschen Literaturbetrieb um 2000 generell ein »munteres Treiben« 199 unterstellt wird. Im Zentrum stünden immer weniger Fragen des ›Eigentlichen‹, also der Literatur, sondern Sekundäres wie »Vertragsverhandlungen und Reiseaktivitäten« 200 als Folge einer neu gewonnenen »Freiheit des Autors«,201 der sich in vertraglichen Aushandelungen mittlerweile geschickt zu verhalten wisse. Die besondere Pointe im Fall Maiers ist indes, so die feuilletonistische Berichterstattung, dass der Autor »dann aber in letzter Minute zu Suhrkamp zurück[kehrt]«,202 weil das Manuskript seines Romans Kirillow von Wallstein abgelehnt worden sei: »Maier, zuletzt vom Lektor Thorsten Ahrend betreut, der von Suhrkamp zu Wallstein wechselte, war schon kurz davor, seinem literarischen Betreuer zu folgen. Doch der verlangte, er solle seinen ›Kirillow‹ überarbeiten, andernfalls
194 So die dpa-Meldung. Hier zitiert nach Lektor Ahrend verlässt Suhrkamp – »Persönliche Gründe«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Januar 2004. 195 Tilman Krause: Suhrkamp zu Wallstein. In: Die Welt vom 11. Juni 2004. 196 T. Krause: Suhrkamp zu Wallstein. 197 T. Krause: Suhrkamp zu Wallstein. 198 Ijoma Mangold: Was steckt in Suhrkamps Umzugskartons? In: Die Zeit vom 26. November 2009. 199 Hubert Spiegel: Sie sind so frei. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Februar 2005. 200 H. Spiegel, Sie sind so frei. 201 H. Spiegel, Sie sind so frei. 202 H. Spiegel, Sie sind so frei.
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dürfe er bleiben, wo er sei.« 203 In diesem strukturellen Zusammenhang ist nun auch die Publikation der Verführung zu verorten, die Maier in seiner Poetikvorlesung wie folgt kommentiert: Dieser eigenartige Verleger hat dann übrigens auch noch ein Buch von mir gedruckt, das ist jetzt zwei Jahre her, und nie etwas dafür gezahlt, er hat es einfach gedruckt und nie abgerechnet. Sie sehen das Buch vorne auf dem Büchertisch liegen, es ist ein Buch über Thomas Bernhard, ich weiß nicht einmal, wie viele Exemplare dieser eigenartige Verleger gedruckt hat und wie viele verkauft, und ich bitte Sie, kaufen Sie dieses Buch nicht, ich verdiene daran nichts, nur der Verleger, der jetzt wahrscheinlich auf einen Prozeß gegen sich wartet, weil so seine Welt funktioniert. (I 139)
Maier bezieht sich in dieser Passage auf die Frage der Veröffentlichung seiner Studie und stellt deren Erscheinen als ungewollt dar. Dass Maier »seinen ehemaligen Suhrkamp-Lektor mit Hohn und Spott« 204 bedenkt, werten Teile der literaturkritischen Rezeption der Poetikvorlesungen als »Eklat«.205 Breite Maier demzufolge in der Vorlesung den Streit, der ihn mit seinem ehemaligen Lektor und dem Wallstein-Verlag verbinde, als eine Art ›Ehedrama‹ in der literarischen Öffentlichkeit aus, verfehle der Autor indes die Funktion einer Poetikvorlesung. Die Frage, wer an dem Skandälchen mehr und wer weniger Schuld trägt, wer wen schlimmer und übler verraten, verkauft, verlassen und verletzt hat, ist für die Öffentlichkeit von begrenzter Wichtigkeit und hat in einer Poetik-Vorlesung nichts verloren.206
Maiers Dissertation ist tatsächlich bei Wallstein erschienen, mittlerweile jedoch nicht mehr lieferbar. Bemerkenswert ist Letzteres insofern, als die Studie zum einen von Suhrkamp-Cheflektor Raimund Fellinger (und nicht von Ahrend) lektoriert worden ist (vgl. DV unpaginiert), der Lektor unüblicherweise im Peritext explizit genannt wird und der Band zum anderen auch für die rennomierte Reihe edition suhrkamp im Suhrkamp-Verlag angekündigt gewesen ist.207 Hinzu
203 Tilman Krause: Jetzt geht auch Kertész. In: Die Welt vom 22. Februar 2005. Krause schreibt weiter: »Suhrkamp, ein Verlag, dem nicht nur die besten Leute davonlaufen, sondern dem in der allgemeinen Verwirrung offenbar auch die literarischen Qualitätsmaßstäbe mehr und mehr abhanden kommen, druckte Maiers unausgegorenes Opus anscheinend, wie es der Autor wollte – und hat damit nicht nur seinem eigenen, sondern auch dem noch ungefestigten Ruf seines Jungtalents erheblich geschadet.« 204 Stefan Müller: »Ich«. In: Gießener Allgemeine vom 26. August 2006. 205 Hubert Spiegel: Ein öffentliches Ehedrama. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Juni 2006. 206 H. Spiegel, Ein öffentliches Ehedrama. 207 Vgl. die Ankündigung auf amazon. http://www.amazon.de/Die-Verf%C3 %BChrungAndreas-Maier/dp/3518123629/ref=sr_1_2?s=books&ie=UTF8&qid=1350725850&sr=1–2 (01. 10. 2012).
Verführung zum Gerede
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kommt, dass in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Essay Maiers erscheint, der der Dissertation entnommen ist, und peritextuell unter anderem mit folgendem Hinweis versehen ist: »Der Band ›Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa‹ ist vor kurzem beim Wallstein Verlag erschienen.« 208 Die sich mit all dem einstellende Vermutung, Maier sei vor allem darum bemüht, mit der Anekdote von der eigenen Beteiligung abzulenken, lässt sich denn auch an Ich ablesen. Sei eine Poetikvorlesung grundsätzlich eine Einladung an den Autor, »öffentlich über Literatur zu sprechen«,209 wiege Maiers Entgleisung umso schwerer, als der Suhrkamp-Verlag von Maiers öffentlicher Abrechnung gewusst haben müsse, schließlich liege die Publikation von Ich bereits zur letzten Vorlesung vor. Nicht zuletzt der Umstand, dass Suhrkamp prinzipiell auch selbst in den Fokus des Autors hätte rücken können – wäre Maier schließlich zu Wallstein gewechselt –, lässt dem Feuilleton zufolge das literaturbetrieblich ›Verdorbene‹ von Maiers Bemerkungen und der Publikationspolitik des Verlags zutage treten. Der Poetik-Dozent jedenfalls hat emsig demonstriert, was er doch nur beschreiben wollte. Was ist der Literaturbetrieb? Ein Räderwerk, das keine Vorlesungen hält, aber ab und an Lektionen erteilt.210
Besonders scharf fallen die literaturkritischen Reaktionen aus, weil das Feuilleton ganz offensichtlich davon ausgeht, die Poetikvorlesung Maiers diene dem unbeschränkten Einblick hinter die Kulissen von Autorinszenierung und Betrieb. Dass dies so angenommen wird, davon zeugt ein Artikel Christoph Schröders, der zu Maiers erster Vorlesung in Frankfurt erschienen ist: Andreas Maiers Eröffnung war mutig, weil offen autobiografisch und frei von jeder Selbststilisierung, angefangen beim ersten (und letzten) Besuch bei einem Psychologen bis hin zur Zeit als Referendar an einer Frankfurter Schule.211
Auch Stefan Müller lobt Maiers Offenheit in der Poetikvorlesung: »Die Offenheit, mit der Maier sein bisheriges Leben nun als eine Art Autobiografie ausgebreitet hat, macht ihn sympathisch«,212 um gleichwohl festzuhalten, dass Mai208 Andreas Maier: Sie wollen singen? Werden S’ besser ein Fleischer. Der Übertreibungskünstler als Märtyrerdarsteller: Wie Thomas Bernhard erzeugte, nur die Krankheit habe seine Karriere als Opernsänger verhindert. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. November 2004. 209 H. Spiegel, Ein öffentliches Ehedrama. 210 H. Spiegel, Ein öffentliches Ehedrama. 211 Christoph Schröder: Der Verweigerer. In: Die Tageszeitung vom 26. Mai 2006. 212 S. Müller. Zum Erscheinen von Wäldchestag zeigt sich das Verhältnis Maiers zur Öffentlichkeit noch anders. So weiß Michael Humboldt zu berichten, Maier verhalte sich »in punkto Öffentlichkeits-Arbeit eher zurückhaltend«. Michael Humboldt: Wetterauer Shooting-Star. In: Wetterauer Zeitung vom 6. Juli 2000.
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er sich ganz offensichtlich als Heimatdichter »stilisiert«.213 Ganz ähnlich äußert sich Steffen Martus in seiner Besprechung der Poetikvorlesung, wenn er Maier für seine »krakeelende Offenheit, so viel Wut gegen die normale Verlogenheit« 214 lobt.215 Was damit indes gleichzeitig angedeutet wird, ist eine Engführung primärer und sekundärer Formen, die sich zunächst noch mit den Mitteln der Selbstreflexion gegen die völlige literaturbetriebliche Vereinnahmung zu wehren versucht, ja die Poetikvorlesung als »ein[en] Beitrag zur fortschreitenden Selbstenthypung« (I 128) versteht. So stellt Maier in seiner Mainzer Poetikvorlesung eine zunehmende »Verfestigung der Eitelkeit« (VES 12) nicht nur beim Schreiben, sondern auch bei Auftritten als Autor im Betrieb fest. Indem ich meine Motive habe, steigt der Grad der Verfestigung der Eitelkeit. Professionelles Verkünden der eigenen Poetik wird zur Regierungserklärung, sie wird leblos, rhetorisch, und sie findet nur Anklang bei denen, die sprachlich ebenso leblos und rhetorisch sind. Ich sage Sätze, an die ich schon jetzt nicht mehr glaube. Und ich bin Mitglied des Literaturbetriebs. Alle zwei, drei Jahre ein Roman, alle zwei, drei Jahre ein Wahrheitsentwurf, der Aufrichtigkeit und Tiefe bedeuten wird – suggerieren wird, das ist die professionelle Oberfläche. (VES 12–13)
Den in dieser Passage aufgerufenen Merkmalen ›verdorbener‹ Literatur (›leblos‹, ›rhetorisch‹) korrespondiert das intrinsische ›Verderben‹ der Autorinszenierung als durchinszenierte »Pose[n]« (VES 13). Indem sich aber Ich gleichwohl in eben jenes literaturbetriebliche ›Gerede‹ transformiert, von dem die Poetikvorlesungen selbst handeln, stellt sich tatsächlich die Frage, wozu Maier so ausführlich und dezidiert auf die Editionsgeschichte der Verführung eingeht. Die Funktion dieser literaturbetrieblichen Anekdote besteht in der literarischen
213 S. Müller. 214 Steffen Martus: Kehret um! In: Süddeutsche Zeitung vom 11. August 2006. Martus hält die Vorlesungen indes für alles andere als originell: Maiers Ich sei von »so vielen vergleichbaren Ichs der Revolte gegen das reibungslose Funktionieren und die umstandslose Betriebsseligkeit umgeben, dass man es mit Maier mindestens ›vergruppt‹ nennen muss [...].« 215 In einer Besprechung zu Maiers Wäldchestag von 2000 findet sich ein Hinweis auf Maiers Umgang mit seinem Privatleben und zum Gegenstand der Dissertation: »Im Gespräch verweigert Andreas Maier fast alle biographischen Details: Authentisch soll, wie er sagt, der Text, nicht die Übereinstimmung mit privaten Fakten sein. Immerhin gibt er preis, daß er auf der Friedberger Burg Abitur gemacht und an der Frankfurter Goethe-Universität Musik, Philosophie und Altphilologie studiert habe. Dem Magister Artium soll in Kürze die Doktorprüfung folgen, den Gegenstand seiner Dissertation im Fach Latein verschweigt er.« A. Fink. Allerdings weiß 2000 bereits Michael Braun (Adenauer-Stiftung), dass Maier über Bernhard promoviert hat. Siehe M. Braun, Alles dauernd zerdenken. Gleiches gilt für Edo Reents: Großes Gerede nach dem Tod des alten Adomeit. In: Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2000.
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De- und Rekontextualisierung der Studie, die sich im Rückblick als literaturprogrammatischer Text und nicht als Dissertation erweisen soll. Das Medium dieser auktorialen Umdeutung ist das literaturbetriebliche ›Gerede‹, das selbst wiederum anschlussfähig für Maiers Programm ist, wie es seine Romane versuchen zu realisieren. Im selben Zug wird damit die Poetikvorlesung aus ihrer Funktion einer »metaliterarische[n] Gebrauchsgattung« 216 gehoben und als literarische Inszenierung sichtbar, die eben jenes ›Gerede‹, das sie expliziert, auch selbst performativ umsetzt. Setzt man dies voraus, dann ist die Erzähler/Autor-Unterscheidung in der Verführung nicht als Ausdruck literaturwissenschaftlicher Naivität zu verstehen, sondern als entscheidendes Element eines literarischen Programms des ›Fehllesens‹. Deutlich wird dies etwa in Maiers Auseinandersetzung mit Glenn Gould in Bernhards Untergeher. Dort kommt er nämlich explizit auf das Verhältnis zwischen Autor, Erzähler und Figuren zu sprechen: Am Ende ist alles austauschbar: Selbst der fiktive Glenn ist hier mit dem realen Gould austauschbar, denn daß Glenn Gould der Bachspieler der Zeit und gerade Anfang der achtziger Jahre wegen seiner neuen Einspielungen der Goldbergvariationen überal en vogue war, weiß jeder, der mit dem Namen Gould etwas anfangen kann. Wenn man all die Austauschbarkeiten nebeneinanderschreibt und wie in einer Gleichung mit einem Gleichheitszeichen versieht, dann befindet sich der autobiographische Bernhard ebenso in einer Zeile mit dem Erzähler wie mit dem fiktiven und realen Glenn Gould. Von der Textgestalt ist somit der Bernhard der Autobiographie (für die meisten also schlicht: Thomas Bernhard selbst) mit Figuren wie dem Erzähler und also auch dem literarischen Glenn oder dem echten Glenn Gould geradezu identisch, alle befinden sich sich in der gleichen Welt der Kunst, alle reden gleich über Kunst, zwischen allen herrscht für den Leser höchstes Einverständnis (DV 214).
Im Folgenden gilt es, Maiers Beobachtung den Untergeher betreffend für die Analyse seiner Inszenierung einer Literaturbetriebs-Szene fruchtbar zu machen. Die prinzipielle ›Austauschbarkeit‹, die er bei Bernhard feststellt, nutzt Maier nämlich auch selbst dazu, sich »die Statur seiner erfundenen Figuren« (DV 268) zu geben, sich mithin in die ›gleiche Welt der Kunst‹ zu begeben.
4.2 Sanssouci und die Potsdamer Posse Anfang 2009 nimmt Iris Radisch eine Reihe von Autoreninterviews zum Anlass, um nach der Funktion von Literaturkritik zu fragen. Wozu Kritik? lautet der Titel ihres in der Zeit erschienenen Artikels, der von einer Prämisse interpreta-
216 J. Bohley, S. 230.
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torischer Praxis ausgeht. Auch wenn (oder gerade weil) Literaturkritik sich in einer Tradition »jahrhundertelange[r] Bemühungen um die Auslegung von Texten« 217 verorten lasse, sehe sie sich immer wieder mit einem Umstand konfrontiert: Jede Interpretation sei kontingent, müsse also grundsätzlich mit Widerspruch rechnen. Um dieser für sie konstitutiven »Ungewissheit« 218 dennoch begegnen zu können, suche die zeitgenössische Literaturkritik »zunehmend Obdach beim allwissenden Autor«.219 Gerade dessen Wissen sei es nämlich, so Radisch, das den Kritikern die Möglichkeit verspreche, die Gültigkeit der eigenen Interpretation gegenüber Einwänden von Dritten scheinbar unverrückbar befestigen zu können. Und so sähen Teile der Literaturkritik ihre Aufgabe gegenwärtig nicht zuletzt darin, sich mithilfe von Autoreninterviews, Homestorys oder ähnlichen Literaturvermittlungsformaten immer auch »um ein paar Interpretationsbrosamen vom Tisch des Herrn« 220 zu bemühen. Radischs als Glosse markierter Text versteht sich vor diesem Hintergrund als ein an ihre Kollegen gerichteter Weckruf. Mit dem Rückgriff auf autorzentrierte Formate unterlaufe die Literaturkritik nämlich gleichsam die ihr zugeschriebene »Macht über das Buch«.221 Es stelle sich die Frage, so Radisch, wozu Literaturkritik überhaupt noch benötigt werde, wenn letztlich Autorenäußerungen für die Auslegung und Bewertung eines literarischen Textes ausschlaggebend seien. Radisch warnt also nicht nur davor, durch die starke Autororientierung hinter die Einsichten dessen zurückzufallen, was im Zuge poststrukturalistischer Einsichten grob mit dem Begriff der ›Autorfunktion‹ 222 bezeichnet wird. Auch geht es ihr weniger um die verschiedentlich angemerkten Tendenzen zur aufmerksamkeitsstrategischen Personalisierung von Literaturvermittlung und damit einhergehender Befürchtungen um das ›Eigentliche‹ der Literatur.223 Vor allem vermutet Radisch hinter dem Rückgriff auf Interviews und ähnliche
217 Iris Radisch: Wozu Kritik? In: Die Zeit vom 26. Februar 2009. 218 I. Radisch, Wozu Kritik? 219 I. Radisch, Wozu Kritik? 220 I. Radisch, Wozu Kritik? 221 Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Mit 8 Abbildungen. Göttingen 2004, S. 167. Vgl. darüber hinaus allgemein Thomas Anz: Theorien und Analysen zur Literaturkritik und zur Wertung. In: Thomas Anz u. Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. Mit Beiträgen von Thomas Anz u. a. München 2004, S. 194–219. 222 Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Hg. von Daniel Defert u. Francois Ewald. Unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Übersetzt von Michael Bischoff u. a. Auswahl und Nachwort von Martin Stingelin. Frankfurt a. M. 2003, S. 234–270. 223 Vgl. Stefan Neuhaus: Strategien der Aufmerksamkeitserregung in der Literaturkritik. In: Stefan Neuhaus u. Oliver Ruf (Hg.): Perspektiven der Literaturvermittlung. (Angewandte Literaturwissenschaft 13) Innsbruck u. a. 2011, S. 149–162.
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Vermittlungsformate einen mehr oder weniger verdeckten Angriff der Autoren auf den Berufsstand des Literaturkritikers. Sie weist den Literaturbetrieb als Raum eines »Woche für Woche« 224 ausgetragenen ›sozialen Kampfes‹ um Legitimität aus und nutzt die Gelegenheit ihrer Glosse, sich selbst in eben diesen Auseinandersetzungen gegen die Ansprüche der Autoren zu ›positionieren‹.225 Ihre Beobachtungen macht Radisch an vier Autoren fest, denen Anfang 2009 aus Anlass von Neuerscheinungen einige Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Feuilleton zukommt: Neben Interviews mit Daniel Kehlmann (zu Ruhm), Bodo Kirchhoff (zu Erinnerungen an meinen Porsche) und Sibylle Lewitscharoff (zu Apostoloff ) führt sie ein Gespräch Christoph Schröders an, das dieser mit Andreas Maier über dessen neuen Roman Sanssouci geführt hat.226 Folgt man den zitierten Interviewpassagen bei Radisch, sind Lewitscharoff, Kehlmann und Kirchhoff insbesondere darum bemüht, in ihren Interviews mehr oder weniger prägnante Schlagworte unterzubringen, die ihre Romane auf den interpretatorischen Punkt bringen. Es gehe den Autoren darum, ihrer Neuerscheinung möglichst konkrete »Lektüre- oder (allgemeiner) Rezeptionsregeln mit auf den Weg zu geben«.227 Die ›Werkpolitik‹ Maiers scheint hingegen etwas anders gelagert zu sein. Zu diesem heißt es in Radischs Glosse nämlich: Andreas Maier enthüllt (exklusiv in der Zeitschrift Volltext) nur ihm bekannte bisher unveröffentlichte Schlüsselszenen seines Romans Sanssouci (»Grigorij, der Bulgare, wird, indem er seine Kapelle und den ganzen unterirdischen Gang abschließt, Merle dort unten einschließen, sie erstickt«).228
224 I. Radisch, Wozu Kritik? 225 Dies in der Terminologie der soziologischen Feldtheorie. Insofern ist das Verhältnis zwischen Autoren und Kritikern, wie es Radisch als spezifisch für den deutschen Literaturbetrieb nach 2000 ausmacht, gleichwohl ein geradezu konstitutives Strukturmerkmal des literarischen Feldes. Bleibt man einen Moment in dieser Perspektive, lassen sich Radischs Beobachtungen als teilnehmende Beobachtungen verstehen, die selbst in die literarischen Positionskämpfe und damit einhergehende Distinktionsgewinne gegenüber Kritikern und Autoren verwickelt sind. Um ihre Position herauszustellen, unterschlägt die Kritikerin aus strategischen Gründen nicht nur, dass sie selbst in Kritiken dazu neigt, literarische Texte auf den Autor zurückzurechnen. Auch unterschlägt sie, dass das von ihr skizzierte Autor/Kritiker-Verhältnis durchaus normal ist. Vgl. entsprechend aus praktischer Perspektive, verbunden mit dem Plädoyer, die eigene Position im Literaturbetrieb selbstbewusst zu vertreten, Denis Scheck: »Kritiker streben grundsätzlich nach Macht«. In: Promotionskolleg »Wertung und Kanon« der Universität Göttingen (Hg.): Bücher/Menschen. Der Literaturbetrieb im Gespräch. Salzhemmendorf 2010, S. 139–148. 226 Vgl. C. Schröder, »Wir sind die offenen Formen nicht mehr gewohnt«. 227 Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. (Historia Hermeneutica 3) Berlin u. New York 2007, S. 6. 228 I. Radisch, Wozu Kritik?
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Während etwa »Deutschlands literarischer Superstar«,229 Daniel Kehlmann, seinen in sich verschachtelten Episodenroman Ruhm als einen Text verstanden wissen wolle, der auf »höchste[m] Reflexionsniveau« 230 zu verorten sei, führt Radisch im Falle Maiers keine prägnante Formulierung des Autors an, die der Literaturkritik als interpretatorischer Anknüpfungspunkt dienen könnte. Sie zitiert und kommentiert vielmehr eine Stelle, in der Maier ein Wissen präsentiert, das sich auf ›Schlüsselszenen‹ bezieht, die offensichtlich nicht im Roman selbst zu finden sind, das literarische Publikum also gar nicht kennen kann. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass es sich bei Radischs Artikel um eine Glosse handelt, ihr Kommentar also spezifisch zugespitzt sein mag, erhält die zitierte Interview-Stelle und ihre Verwendung durch Radisch damit eine spezifische Relevanz, die für die vorliegende Studie von einigem Erkenntniswert ist. Diese Relevanz ergibt sich zunächst vor dem Hintergrund, dass Sanssouci erklärtermaßen der letzte Text einer Reihe von insgesamt vier Romanen ist, die 2000 mit Wäldchestag einsetzt und durch Klausen (2002) und Kirillow (2005) weitergeführt wird. Der werkgeschichtliche Zusammenhang der vier Texte wird zum einen durch den 2010 erschienenen Band Onkel J. Heimatkunde paratextuell hervorgehoben. Dieser beinhaltet nicht nur einige der ›Neulich‹-Kolumnen Maiers, die, wie das von Radisch zitierte Interview mit dem Autor, in der österreichischen Literaturzeitung Volltext veröffentlicht worden sind, sondern ist selbst im Paratext als programmatischer »Übergang« 231 zu Maiers immer wieder angekündigtem Zyklus ›Ortsumgehung‹ 232 markiert. Zum anderen versteht auch der Autor selbst in verschiedenen Interviews seine ersten vier Romane explizit als zusammenhängende Werkphase: Die vier Texte setzten ein spezifisches Programm des »Maier-Roman[s]« 233 um, das mit dem 2009 erschienenen Sanssouci zum Abschluss gekommen sei.234 229 Vgl. Wilhelm Haefs: »Deutschlands literarischer Superstar«? Daniel Kehlmann und sein Erfolgsroman Die Vermessung der Welt im literarischen Feld. In: Markus Joch u. a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 118) Tübingen 2009, S. 233–251, hier S. 233. 230 Hier zitiert nach I. Radisch, Wozu Kritik? 231 Andreas Maier: Onkel J. Heimatkunde. Frankfurt a. M. 2010, Klappentext. 232 Die Romane Das Zimmer und Das Haus leiten dieses auf insgesamt elf Teile angelegte Projekt ein. Der retrospektiv hergestellte Zusammenhang der ersten vier Romane wird hier gleichsam in die Zukunft projiziert. Vgl. Andreas Maier: Das Zimmer. Roman. Frankfurt a. M. 2010. Der ›zweite Teil‹ trägt den Titel Das Haus. 233 Lisa-Maria Seydlitz: Einen Maier-Roman schreibe ich nie mehr! In: Subpool. Kulturmagazin für Freistilisten. http://www.subpool.de/data/m_artikel.php?id=84 (12. 09. 2011). 234 Vgl. auch Alexander Jürgs: Ein Mittagessen mit ... Andreas Maier. In: Prinz Frankfurt (undatiert). http://frankfurt.prinz.de/stadt/menschen/ein-mittagessen-mit-andreas-maier,555030, 1,Article.html (28. 10. 2011).
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Setzt man diese retrospektiv hergestellte Kontinuität zwischen den vier Romanen voraus, fällt auf, dass der durch Sanssouci ›abgeschlossenen‹ 235 Reihe eine spezifische Linie literaturkritischer Bewertungen korrespondiert. Demnach setze Maiers Programm nämlich mit dem Debüt Wäldchestag zwar überaus ›vielversprechend‹ ein, verliere mit den folgenden Romanen jedoch bereits an literarischem Reiz und erreiche mit dem »Endpunkt« 236 Sanssouci schließlich seinen ästhetischen Tiefpunkt. Im Zentrum der Beobachtungen dieses Qualitätsabfalls stehen Maiers Schreibverfahren. Kritisiert wird nämlich, dass anders als in Wäldchestag bereits in Klausen und Kirillow, vor allem aber in Sanssouci immer wieder eine ›auktoriale‹ Erzählinstanz in das Geschehen eingreife, die auf einen »Ort außerhalb des Geredes« 237 verweise, ja dieses mitunter kontrolliere. Zum »Problem des Erzählens« 238 werde, dass der Autor sein Programm, demzufolge die Welt »nichts als ein rhetorisches Gebilde« 239 darstelle, literarisch nicht mehr konsequent umsetze, ja sich eine spezifische Diskrepanz zwischen Maiers literarischem Programm und dessen Umsetzung einstelle. Auch auf literaturwissenschaftlicher Seite ist diese Entwicklungslinie nicht unbemerkt geblieben. So spricht etwa Henk Harbers in einer Fußnote seines Aufsatzes zum Nihilismus bei Maier mit Blick auf Klausen und Kirillow davon, dass die Nachfolger des Wäldchestags »in der literarischen Qualität gegen Maiers Erstling ab[fallen]: erstens weil die Handlung weniger dicht und zusammenhängend ist als in Wäldchestag und zweitens (was auch einige Kritiker moniert haben) weil sich nun regelmäßig ein auktorialer, manchmal allwissender Erzähler in die Berichterstattung einmischt«.240 Als literarisch fatal erweise sich diese Veränderung insofern, als sie »tendenziell im Widerspruch zu der impliziten These aller drei Romane steht, daß alles nur subjektives Gerede sei.« 241 Besonders folgenreich sind solche Wertungen für die Literaturwissenschaft dann, wenn sie aus den Fußnoten in das Forschungsprogramm verlegt werden. So schließt Yvonne Hütter in ihrer groß angelegten Studie Sanssouci explizit aus ihrer Untersuchung aus. Auch wenn sich demnach in Sanssouci viele Verfahren aus den ersten drei Texten finden ließen, gehöre der Roman Hütter zu-
235 Folgt man Christoph Schröder, besteht der Abschluss darin, dass sämtliche Themen durchgespielt sind, die Maiers Programm vorsieht. Siehe Christoph Schröder: Die argreligiösen Gefühle der Leute verletzen. In: Die Tageszeitung vom 12. Januar 2009. 236 C. Schröder, Die argreligiösen Gefühle der Leute verletzen. 237 Nico Bleutge: Tagebuch eines Tatenlosen. In: Der Tagesspiegel vom 16. März 2005. 238 N. Bleutge. 239 N. Bleutge. 240 H. Harbers, S. 206, Anm. 53. 241 H. Harbers, S. 206, Anm. 53.
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folge nämlich nicht in diese Reihe, weil er »leidlich übermotiviert« 242 und »in seiner Form zu bestimmt« 243 sei. »Die Wahrheit wird postuliert, keiner sucht, auch der Text nicht.« 244 In Sanssouci gebe es, »anders als in den Vorgängerromanen, die Wahrheit! – Damit bricht Maiers Glaubwürdigkeit«.245 Jenseits der Frage, was an dieser Stelle unter ›Glaubwürdigkeit‹ zu verstehen ist, und ob diese literarisch höher zu bewerten ist als wie auch immer zu bestimmende ›Unglaubwürdigkeit‹, überrascht die analytische Ausblendung von Sanssouci doch nicht zuletzt vor dem Hintergrund der skizzierten Selbstbeschreibung Maiers die Werkeinheit der ersten vier Romane betreffend. Die in Radischs Artikel zitierte ›Enthüllung‹ Maiers kann als Hinweis darauf dienen, wie an dieser Stelle korrigierend eingegriffen werden könnte. Appliziert man Maiers programmatisches Autor/Erzähler-Verständnis auf Radischs Glosse, wird das Interview mit dem Autor anders perspektiviert und als Realisierung einer spezifischen Kopplung zwischen Autor und Text, zwischen Maier und Sanssouci sichtbar, die im Zusammenhang der als Qualitätsabfall gewerteten Schreibverfahren des Textes nicht unwesentlich ist. Dabei sollen Radischs Beobachtungen keineswegs als gleichsam empirischer Beleg für eine vollzogene oder wünschenswerte ›Rückkehr des Autors‹,246 gar der Autorintention gelesen werden. Ob die ästhetische Kalkulation der Verkettung zwischen Autor und Erzähler in der Absicht Maiers gelegen hat oder nicht, kann nicht beurteilt werden und interessiert daher auch nicht. Was indes beurteilt werden kann, ist der Umstand, dass der von Maier benannte Zusammenhang zwischen Grigorij und Merle in Sanssouci tatsächlich nicht zu finden ist.247 Hier einsetzt-
242 Y. Hütter, S. 456. 243 Y. Hütter, S. 456. 244 Y. Hütter, S. 457. 245 Y. Hütter, S. 452. 246 Vgl. Fotis Jannidis u. a.: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71) Tübingen 1999, S. 3–35. 247 Gegen Ende unterhalten sich Nils, Arnold und Maja über die Ermordung Merle Johannsons; der Mord ›laut Drehbuch‹ wird indes nicht weiterverfolgt. Wenige Seiten später tritt Grigorij Natchev demgegenüber zuletzt ›schwer atmend‹ auf. Vgl. Andreas Maier: Sanssouci. Roman. Frankfurt a. M. 2009. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle S in runden Klammern im Text, hier S. 287 u. 291. Im Übrigen weist Maier in dem von Radisch zitierten Interview selbst seine Aussagen als ›Lesart‹ aus und reflektiert deren Kontingenz, wenn er auf die ›Offenheit‹ des Romans hinweist: »Die Geschichte bietet diese Geschichte an. Ich sage: man kann es so lesen und man kann diesen Plan erkennen. Aber ob er wirklich existiert oder nicht, ist doch völlig egal. Darum geht es doch gar nicht.« Christoph Schröder: »Wir sind die offenen Formen nicht mehr gewohnt«. Ein Gespräch beim Verfertigen einer Brat-
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end soll im Folgenden – gleichsam mit und gegen Radisch – der Vorschlag erprobt werden, Maiers ›Enthüllung‹ als literaturbetriebliche (Interview-)Äußerung unter den Bedingungen der Selbstprogrammierung des Romans aufzufassen. Im Gestus einer Sprecherposition, die einerseits die ›Offenheit‹ des Romans nahelegt, um gleichzeitig »penibel an[zu]führ[en], wie jeder noch so kleine Teil zu deuten sei«,248 stellt sich der Autor Maier in dem von Radisch zitieren Interview in eine Reihe des letztlich nicht überprüfbaren ›Geredes‹, das seine literarische Inszenierung entfaltet. Sanssouci entfaltet sich, soll das heißen, als spezifische Literaturbetriebs-Szene, die nicht nur den Autor in die Inszenierung einbezieht, sondern konstitutiv auf literaturvermittelnden, genauer: literaturfördernden Formen beruht. Ihre spezifische Verkettung der vermittelnden Rahmenbedingungen von Sanssouci mit deren Literarisierung findet der Roman in der gescheiterten Vergabe der Position des Potsdamer Stadtschreibers von 2004.
4.2.1 Angemessener Wohnraum Im Sommer 2004 schreibt die Stadt Potsdam erstmals die Position eines Stadtschreibers aus. Die Bekanntmachung der Ausschreibung findet sich in der 15. Ausgabe des ›Amtsblatts der Landeshauptstadt‹, in dessen Informationsteil 15 auch auf die mit dem Stipendium verbundene Absicht hingewiesen wird: Mit dem Stipendium soll die Möglichkeit eröffnet werden, ein konkretes literarisches Vorhaben vorzubereiten und umzusetzen, das die Stellung Potsdams im Kontext der europäischen Kultur-, Kunst- und Geistesgeschichte in Vergangenheit und Gegenwart reflektiert bzw. Visionen darstellt. Damit verbunden ist die Schaffung eines Potsdam relevanten literarischen Werkes.249
Die inhaltlichen und formalen Kriterien, nach denen der Stipendiat ausgewählt wird, sind im »Vergabeverfahren« 250 durch formalisierte Statuten festgelegt. Das Stipendium versteht sich als »Residenzstipendium« 251 und soll die Rahmenbedingungen zur Produktion eines literarischen Textes bereitstellen, weist
wurst: Andreas Maier über seinen neuen Roman Sanssouci. In: Volltext 40 (2009), Heft 1, S. 6– 7, hier S. 7. 248 Y. Hütter, S. 172. 249 Amtsblatt für die Landeshauptstadt Potsdam. Amtliche Bekanntmachungen mit Informationsteil 15, Ausgabe 15 (2004), S. 13–14, hier S. 13. Online einsehbar unter http://www. potsdam.de/cms/dokumente/10001583_27395/ce914 f.c1/abl15_04.pdf (01. 08. 2010). 250 Amtsblatt für die Landeshauptstadt Potsdam. 251 Amtsblatt für die Landeshauptstadt Potsdam.
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sich mithin selbst die literaturbetriebliche Funktion der »Förderung und Bewahrung von Literatur« 252 zu. »Der/die Stipendiat/in soll für vier Monate in die Lage versetzt werden, sich ohne wirtschaftlich-materiellen Zwang auf die literarische Arbeit konzentrieren zu können.« 253 Gekoppelt ist dies mit den für Literaturstipendien üblichen »Auflagen zur Verwendung der Mittel«.254 Zum einen soll das zu schaffende ›literarische Werk‹ mit einem geographischen Horizont versehen werden, der jenes an den Raum der brandenburgischen Landeshauptstadt zurückbindet. Zum anderen ist der Stipendiat »verpflichtet, während der Dauer des Stipendiums seinen Wohnsitz nach Potsdam zu verlagern und mindestens 2/3 des Zeitraums in Potsdam zu verbringen«.255 Mit diesen, sowohl den Autor als auch den Text betreffenden Zielvorgaben verortet sich das Stadtschreiber-Stipendium auf der Grenze zwischen den literarischen Interessen des Stipendiaten und denjenigen der stiftenden Institution.256 Expliziert wird diese, für Literaturförderung typische ›Schnittstellenposition‹ in diesem Fall darüber hinaus durch einen weiteren Umstand: Die Einrichtung des Literaturstipendiums und die erwünschte Verortung Potsdams in der ›europäischen Kultur-, Kunst- und Geistesgeschichte‹ stehen im Kontext der Potsdamer Bewerbung um den Titel der ›Europäischen Kulturhauptstadt 2010‹, dienen der Stadt also nicht zuletzt dazu, sich mit Blick auf symbolisches Kapital in literarisch-kulturellen Hinsichten zu profilieren und überregional sichtbar zu positionieren. Es geht den Beteiligten um einen »Zugewinn an Image für die Kommune« 257 – und dies auf europäischer Ebene. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist gibt die ins Leben gerufene und mit dem Stipendium betraute GmbH ›Kulturhauptstadt Potsdam2010‹ im September 2004 eine Pressemitteilung heraus, in der sie über den Stand der Dinge informiert und kurz das weitere Verfahren erläutert. Demnach haben sich insgesamt 32 Autorinnen und Autoren aus ganz Deutschland auf die Ausschreibung beworben.
252 Matthias Beilein: Literaturbetrieb. In: Gerhard Lauer u. Christine Ruhrberg (Hg.): Lexikon Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2011, S. 181–183, S. 182. 253 Amtsblatt für die Landeshauptstadt Potsdam. 254 Lutz Hagestedt: Autorenpräsentation und -förderung: Lesungen, Ausstellungen, Preise. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Bd. 1. Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart u. Weimar 2007, S. 296–306, hier S. 303. 255 Amtsblatt für die Landeshauptstadt Potsdam. 256 Siehe allgemein Burckhard Dücker: Literaturpreise. In: Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (2009), Nr. 154, S. 54–76, hier S. 66. 257 Michael Angele: Stipendium. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 335–337, hier S. 336.
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Die Jury wird nun bis Ende September die Bewerbungen sichten und eine Entscheidung treffen. Offiziell wird das Stipendium dann im Rahmen einer Veranstaltung der Kulturhauptstadt GmbH übergeben. Das dreimonatige Literaturstipendium in Höhe von 6000 Euro beginnt am 1. November.258
Die Pressemitteilung betont den programmatischen Zusammenhang mit der ›Kulturhauptstadt‹-Bewerbung und verweist auf das in diesem Rahmen geplante, für Autorenförderung konstitutive »Ehrungsritual[ ]«.259 Die von der Stadtverwaltung eingesetzte, von dieser aber unabhängig agierende Jury, die sich aus sieben Akteuren des lokalen Kultur- und Literaturbetriebs zusammensetzt – dazu zählen neben Schriftstellern und Journalisten die Leiter des Brandenburgischen Literaturbüros und der Landesbibliothek Potsdam sowie ein Buchhändler –, entscheidet sich schließlich für Andreas Maier. Doch bevor der Autor das Stipendium antreten kann, »wehen ihm die Schlagzeilen entgegen [...]. Was die Gemüter erhitzt, ist seine künftige Unterkunft.« 260 Sind Aufenthaltsstipendien üblicherweise mit »mietfreie[m] Wohnen, oft in historischen (Schloss, Mühle) oder spezifisch artgerechten Orten (Gartenhaus)« 261 verbunden, kann die Stadt Potsdam diese Bedingung nämlich offensichtlich nicht einhalten. Der vom Kulturamt beauftragte »Arbeitskreis ›Stadtspuren‹« 262 habe versäumt, sich um eine Wohnung für den Autor zu kümmern und wolle diesen nun aus Mangel an Zeit, Alternativen und finanziellen Mitteln »in die Platte stecken: in die Waldstadt II«.263 Maier ist damit offenbar nicht einverstanden, wie die begleitende Berichterstattung in der regionalen und schließlich auch überregionalen Presse nahelegt: »Stipendiat Maier fordert Schloss statt Platte« 264 meldet die Deutsche Presseagentur und die Bild-Zeitung erklärt Maier 258 Kulturhauptstadt Potsdam2010: 32 Autoren bewerben sich um Potsdamer Literaturstipendium. Pressemitteilung. http://www.potsdam2010.com/content/presse/pmitteilungen/ documents/Lit.stipendium.pdf (01. 08. 2010). 259 B. Dücker, S. 73. Dücker bezieht sich hier auf Literaturpreise. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen Literaturpreisen und Arbeits- bzw. Aufenthaltsstipendien als Formen der ›mittelbar wirkenden Literaturförderung‹. Während Stipendien zumeist mit Auflagen zur Mittelverwendung verknüpft sind, gilt dies für Preise in der Regel nicht. Vgl. L. Hagestedt, Autorenpräsentation und -förderung, S. 303. Siehe darüber hinaus zu Literaturpreisen allgemein die Überblicksdarstellung von Sonja Vandenrath: Literaturpreise. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 236–240. 260 Stipendiat soll in die Platte. In: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 29. Oktober 2004. 261 M. Angele, S. 335. 262 Andreas Maier wird Literaturstipendiat. In: Märkische Allgemeine vom 29. September 2004. 263 Stipendiat soll in die Platte. 264 Hier zitiert nach Katrin Hillgruber: Die Oststadtneurotiker. In: Der Tagesspiegel vom 12. Januar 2009.
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aufgrund seiner kolportierten und letztlich nicht erfüllten Forderung, eine für Künstler ›angemessene‹ Unterbringung zu erhalten, zum »Verlierer des Tages«.265 Über die Öffentlichkeitsarbeit der Potsdamer Kulturbürokratie und die damit einhergehenden medialen Aufregungen verärgert, »verzichtet« 266 Maier schlussendlich auf das Stadtschreiber-Stipendium und kommt erst 2005 auf Einladung einer »verwaltungsfernen Bürgerinitiative namens ›Kultur & Kommerz‹«,267 die sich als Reaktion auf das Scheitern der Stipendienvergabe gegründet hat, als Literaturstipendiat in die brandenburgische Landeshauptstadt. In den feuilletonistischen Verwicklungen um den Potsdamer Stadtschreiber lassen sich eine regionale und eine überregionale Ebene der Berichterstattung unterscheiden. Während die überregionale Ebene im Wesentlichen durch einige mehr oder weniger verstreute Artikel und kleinere Meldungen insbesondere in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie durch die zwei zitierten Kurzmeldungen der dpa und der Bild-Zeitung bestimmt wird, treten auf regionaler Bühne vor allem zwei Zeitungen mit einer relativ umfangreichen und konzentrierten Berichterstattung in Erscheinung: die Potsdamer Neuesten Nachrichten und die Märkische Allgemeine. In beiden Lokalzeitungen erscheinen zwischen September und November 2004 nicht nur eine Vielzahl an Artikeln über den Versuch der Potsdamer Stadtverwaltung, eine für die Bewerbung um den Titel der ›Europäischen Kulturhauptstadt‹ hilfreiche Institution der Literaturförderung einzurichten. Beide Zeitungen sind auch ganz maßgeblich daran beteiligt, die durch die Kulturbürokratie tatsächlich oder bloß vermeintlich ausgelöste Diskussion um Maier voranzutreiben. Zum einen holen sie immer wieder Stellungnahmen der beteiligten Literaturbetriebsakteure ein; zum anderen geben sie die maßgeblichen Schemata vor, anhand derer der ›Streit um die Stipendiatenwohnung‹ schließlich auch im überregionalen Feuilleton beobachtet wird. Auch wenn sich diese massenmedialen Verwicklungen nicht als literaturkritische Debatte ausdifferenzieren, werden sie doch durch einige Merkmale strukturiert, die sie mit solchen Auseinandersetzungen vergleichbar machen, wie sie nicht zuletzt für das deutschsprachige Feuilleton der Jahrtausendwende durchaus typisch sind.268 Vor allem die »gewisse Entliterarisierung« 269 der 265 Hier zitiert nach Karim Saab: Laboratorium der Beliebigkeit. In: Märkische Allgemeine vom 10. Januar 2009. 266 Volker Oelschläger: Stipendiat Maier geht im Zorn. In: Märkische Allgemeine vom 24. November 2004. 267 Brandenburgisches Literaturbüro: literatur-im-land-brandenburg – veranstaltungen. (Jahresarchiv 2005), S. 3. http://www.literaturlandschaft.de/archiv2005.pdf (30. 09. 2011). 268 Siehe dazu Sabine Buck: Literatur als moralfreier Raum? Zur zeitgenössischen Wertungspraxis deutschsprachiger Literaturkritik. Paderborn 2011, S. 120–123. 269 Dies ist eine Formulierung von Robert Weninger: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. München 2004, S. 11.
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Berichterstattung scheint die Aufregungen um Maier einmal mehr als – wenn auch regional begrenztes – Symptom dafür auszuweisen, dass »das deutsche Feuilleton zunehmend von den Aufmerksamkeitsmechanismen der Massenmedien geprägt wird«.270 Bereits der Diskussionsauslöser deutet in diese Richtung, konzentriert sich das Feuilleton doch gerade nicht auf die Ankündigung der Stipendienvergabe. Die Bekanntgabe der Jury-Entscheidung Ende September wird ohne großen Aufwand und lediglich in den beiden lokalen Zeitungen abgehandelt.271 Erst als sich Maier gut einen Monat später, kurz vor dem eigentlich vorgesehenen Stipendienantritt Anfang November zu Wort meldet, gerät das Stadtschreiber-Stipendium kurzzeitig verstärkt in den massenmedialen Fokus. Stein des Anstoßes ist der Artikel »Stipendiat soll in die Platte«, der in den Potsdamer Neuesten Nachrichten erscheint und in dem der Autor ausführlich zum Plan der Stadtverwaltung zitiert wird, ihn in einer durch zwei Wohnungsgesellschaften bereitgestellten Unterkunft im Potsdamer Stadtteil Waldtstadt II unterzubringen: »Ich bin über diese Entscheidung natürlich schon erstaunt. Bei anderen Stipendien wohnte ich im Schloss Wiepersdorf, in einer Villa an der Ostsee oder in fein aufgearbeiteten Bauernhäusern. Nun muss ein Schloss nicht immer das Ideale sein, denn gerade in Wiepersdorf lenkte mich das Ambiente eher ab. Bislang war ein Stipendium aber auch noch nie ein soziologisches Experiment. Das jetzige klingt allerdings ein bisschen danach.« 272
In der kurzen Stellungnahme verleiht Maier seinem ›Erstaunen‹ über das Potsdamer »Absurd-Stipendium« 273 vor allem dadurch an Nachdruck, dass er auf Unterkünfte in vergleichbaren Residenzstipendien verweist. Und genau die dadurch hergestellte, als gleichsam binär konstruierte Opposition zwischen ›Schloss‹ und ›Platte‹ ist es, die die regionale und schließlich auch überregionale Presse aufgreift. Dieser geht es mithin gerade nicht um im engeren Sinne literarisch-kulturelle Fragen: Nicht Maiers bisheriges literarisches Werk, sein ausstehendes Romanprojekt mit dem »Arbeitstitel ›Amseln‹« 274 oder die im Rahmen von Potsdams ›Kulturhauptstadt‹-Bewerbung geplanten Kulturveranstaltungen stehen im Zentrum der feuilletonistischen Aufmerksamkeit, son-
270 Sabine Buck: Der Kritikerstreit als Betriebsphänomen? In: Heinz Ludwig Arnold u. Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3., völlig veränderte Auflage. Neufassung. München 2009, S. 358–371, hier S. 369. 271 Vgl. Andreas Maier wird Literaturstipendiat; Stipendium vergeben. In: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 29. September 2004. 272 Stipendiat soll in die Platte. 273 Stipendiat soll in die Platte. 274 Andreas Maier wird Literaturstipendiat.
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dern die »[e]rzürnte[n] Reaktionen« 275 auf Maiers wenig diplomatische Feststellung. Indem die lokalen Akteure aus Maiers Stellungnahme einen vom Autor eingeforderten Anspruch auf eine für Künstler »adäquate Wohnung« 276 ableiten, transformieren sie seine Beschreibung der Plattenbaugebiete als »absurde Orte« 277 in eine »Diskriminierung« 278 der dort wohnenden Potsdamer. Auf diese Weise gerät das Stadtschreiber-Stipendium zum Katalysator für einen mehr oder weniger moralisch und gesellschaftspolitisch grundierten »Glaubenskrieg um die Lebensqualität von Neubaugebieten«,279 der den ›eigentlichen‹, literarisch-kulturellen Anlass nicht nur in den Hintergrund treten lässt, sondern mit Blick auf die ›Lebensbedingungen‹ in Ost- und Westdeutschland zu einem »gesamtdeutsche[n] Mißverständnis« 280 ausweitet. Dabei gerät schließlich selbst der zunächst noch behauptete Unterschied zwischen ›Künstlern‹ und ›Nicht-Künstlern‹ zur Nebensache und wird durch die Unterscheidung zwischen ›Ost-‹ und ›Westdeutschen‹ ersetzt. Stipendiat Maier ist den Beteiligten in dieser Hinsicht nicht länger literarischer Autor, sondern entpuppt sich als »arrogante[r] Wessi-Typ[ ]«,281 »der sich zu fein ist, in einem Plattenbau zu wohnen«.282 Wie für literaturkritische Debatten seit 1990 durchaus typisch, spielen mithin in den Aufregungen um Maiers Literaturstipendium nicht zuletzt »moralische Fragestellungen eine zentrale Bedeutung für die Entstehung und den Verlauf« 283 der Berichterstattung. Diagnostiziert werden auch in Potsdam vor allem »moralische[ ] Grenzüberschreitungen«.284 Auch wenn die Artikel in den Potsdamer Neuesten Nachrichten und der Märkischen Allgemeinen selbst immer wieder auf ein »bundesweites Presseecho« 285 verweisen, lässt sich ein deutliches Gefälle zwischen der regionalen und der überregionalen oder nationalen Ebene der massenmedialen Aufmerksamkeit feststellen.286 Das geringe Echo in der überregionalen Presse ist zum
275 Diskriminierung von Zehntausenden. In: Märkische Allgemeine vom 5. November 2004. 276 Zitiert nach Stipendiat soll in die Platte. 277 Stipendiat soll in die Platte. 278 Diskriminierung von Zehntausenden. 279 Diskriminierung von Zehntausenden. 280 Uwe Sauerwein: Eine Suche in Potsdam. In: Die Welt vom 8. November 2004. 281 Mark Siemons: Nach dem Skandal: Potsdam lacht mit dem Hessen Andreas Maier. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. November 2004. 282 Sandra Daßler: Wie Potsdam einen Schriftsteller in die Platte schickte. In: Der Tagesspiegel vom 27. November 2004. 283 S. Buck, Literatur als moralfreier Raum, S. 118. 284 S. Buck, Literatur als moralfreier Raum, S. 125. 285 Andreas Maier verzichtet. In: Märkische Allgemeine vom 24. November 2004. 286 Den insgesamt gut 30 Meldungen in den Potsdamer Neuesten Nachrichten und der Märkischen Allgemeinen stehen nur wenige Artikel im überregionalen Feuilleton gegenüber. Die Zeit
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einen sicherlich der immer wieder monierten, geradezu ›inflationär wuchernden‹ »Preisschwemme« 287 im deutschen Literaturbetrieb der Jahrtausendwende geschuldet.288 Die Fülle der Preise, Stipendien und vergleichbaren Auszeichnungen zwingt das Feuilleton zur Selektion. Folgerichtig konzentriert es seine Aufmerksamkeit insbesondere auf diejenigen Auszeichnungen, die das meiste symbolische (oder ökonomische) Kapital konsekrieren, auf Preise, die an diejenigen Autoren gehen, die bereits einiges an symbolischem Kapital akkumuliert haben, oder – wie schließlich im vorliegenden Fall – auf solche Auszeichnungen, die den Anlass bieten, über anderes als die ›eigentliche‹ Preisvergabe zu berichten. Das größere lokale Presseecho ist darüber hinaus aber auch ein Indiz dafür, dass sich der Kampf um die Verteilung symbolischen Kapitals in erster Linie gemäß der Eigenlogik eines lokalen Feldes abspielt. In dieser Hinsicht erweist sich nicht nur die Einrichtung des Literaturstipendiums selbst, sondern auch der sich einstellende, massenmedial ausgetragene Streit als sozialer ›Positionierungskampf‹.289 Die Vergabe des Stipendiums an den überrregional bekannten Autor Andreas Maier stellt allen Potsdamer Verantwortlichen zunächst in Aussicht, an dessen akkumuliertem symbolischen Kapital zu partizipieren und dieses für das – immerhin erstmals vergebene und damit alles andere als etablierte – Literaturstipendium sowie für die ›Kulturhauptstadt‹-Bewerbung insgesamt zu
berichtet in einer Kurzmeldung und druckt einen etwas ausführlicheren Artikel von Ulrich Greiner, in dem auch Maier exklusiv zitiert wird. Siehe Madle Ottenschläger: Geschichten, die das Leben schrieb. In: Die Zeit vom 16. Dezember 2004; Ulrich Greiner: Dichtung und Wohnung. In: Die Zeit vom 11. November 2004. In der Frankfurter Rundschau wird eine dpa-Meldung sowie ein Artikel von Christoph Schröder abgedruckt. Vgl. Stipendiat Maier will Schloss statt »Platte«. In: Frankfurter Rundschau vom 4. November 2004; Christoph Schröder: Potsdamer Posse. In: Frankfurter Rundschau vom 25. November 2004. Während die Süddeutsche Zeitung demgegenüber keine einzige Meldung bringt, druckt die Welt unter anderen ein Interview mit dem Potsdamer Bürgermeister. 287 So die kulturkritische und deshalb hier nur als Symptom zitierte Formulierung von Oliver Jungen: Autorenförderung? Hungert sie aus! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. April 2008. Jungens Diagnose ist denn auch eindeutig: »Kurz: Es gibt in Deutschland mehr Preise als Schriftsteller«. 288 Die Angaben zur genauen Anzahl von Literaturpreisen in Deutschland schwanken erheblich. So zählt Dücker rund 1500 Literaturpreise, während Vandenrath 120 ›Preiseinheiten‹ nennt und das Portal www.kulturpreise.de in der Kategorie ›Literatur‹ wiederum rund 800 Preise anführt. 289 Dies im Sinne von Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 2005, S. 365–371.
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nutzen.290 Mit der unvorhergesehenen Verfahrensstörung durch die ungeklärte Unterkunftsfrage und der damit einhergehenden Berichterstattung differenzieren sich indes verschiedene Positionen aus, die eine Demarkationslinie zwischen Autor und Jury einerseits und Stadtverwaltung andererseits ziehen. In den massenmedialen Fokus treten zu Maier die Akteure des lokalen kulturellen Feldes: Neben Kulturdezernentin Gabriele Fischer und den Wohnungsgesellschaften Gewoba und Karl Marx sind dies die Jury-Mitglieder Hendrik Röder vom Brandenburger Literaturbüro und Hanne Landbeck, Kulturamtsleiter Gerhard Meck, Oberbürgermeister Jann Jakobs sowie nicht zuletzt Kultursachbearbeiterin Rosemarie Spatz. Deren Stellungnahmen (von Seiten Maiers, der Kulturdezernentin und der Jury), Pressemitteilungen (der Wohnungsgesellschaften) und kurze Aussagen im Rahmen von Presseanfragen (etwa durch Sachbearbeiterin Spatz) einerseits, wie auch öffentlichkeitswirksame Handlungen wie Rücktritte (von Jury-Mitglied Landbeck) oder verwaltungsinterne, gleichwohl gezielt öffentlich bekanntgegebene Verwaltungsumstrukturierungen (Versetzung von Kulturamtsleiter Meck und Spatz, angeordnet durch Kulturdezernentin Fischer und abgesegnet von Bürgermeister Jakobs) andererseits lassen sich in dieser Perspektive als Distinktionsstrategien lesen und werden von den Beteiligten auch selbst als solche beobachtet. Durchaus im Erwartbaren liegt dabei, dass schließlich gerade denjenigen Akteuren die Verantwortung nicht nur für die fehlende Wohnung, sondern auch für das nachfolgende ›Krisen-Management‹ zugeschrieben wird, die selbst üblicherweise nicht im Fokus des Feldes stehen: nämlich Sachbearbeiterin Spatz und Amtsleiter Meck. Die Konzentration auf Verwaltungsakteure ist insofern strategisch geschickt, als so alle übrigen Beteiligten, nicht zuletzt Oberbürgermeister Jakobs, ihre Feldpositionen behaupten können. So hält sich letzterer, gleichwohl er für die ›Kulturhauptstadt‹-Bewerbung verantwortlich zeichnet, aus den Diskussionen bis zuletzt heraus und stellt erst am Ende in einem Interview in der überregionalen Welt fest, dass mit einer »Neustrukturierung des Dezernats und der Projektförderung« 291 zukünftig Missverständnisse wie im Fall Maier vermieden werden sollen.
290 Auch die beteiligten Jury-Mitglieder besitzen natürlich symbolisches Kapital, an dem mitunter – sofern es sich um prominente Kritiker handelt – auch der Autor und der Preis partizipieren können. Vgl. dazu mit kritischem Unterton Christa Gürtler: Wechselwirkungen: Literaturkritik, Literaturpreise und Literaturwissenschaft. Drei Thesen. In: Primus Heinz Kucher u. Doris Moser (Hg.): Germanistik und Literaturkritik. Zwischenbericht zu einer wunderbaren Freundschaft. (Stimulus 2006) Wien 2007, S. 179–190, hier S. 187. 291 Dieter Salzmann: »Das kann sich keine Stadt leisten«. Interview mit Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) über das geplatzte Literaturstipendium. In: Die Welt vom 7. Dezember 2004.
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Die Jury hingegen positioniert sich von Beginn an gezielt mit »Vorwürfe[n] gegen die Stadtverwaltung« 292 im Feld, ja sie bringt mit einem Beschwerdebrief an den Oberbürgermeister die massenmediale Berichterstattung überhaupt erst ins Rollen. In diesem Brief warnt sie einerseits davor, die Unterbringung könne der Stadt zur ›Unehre‹ 293 gereichen; andererseits sieht sie die künstlerische Autonomie des Autors bedroht.294 Demnach dürfe der Stipandiat nicht an den Standrand abgeschoben werden, sondern müsse im Stadtzentrum wohnen, schließlich »wolle sich Potsdam ja mit dem Stadtschreiber schmücken«.295 Auf der anderen Seite bezeichnet die Stadtverwaltung die Ansprüche des Autors zunächst als illegitim, um im weiteren Verlauf der Meldungen auf massenmedial bedingte ›Missverständnisse‹ hinzuweisen. Wird dabei immer wieder betont, bestimmte Äußerungen der Kulturdezernentin Fischer seien durch die Presse »sinnentstellt wiedergegeben« 296 worden, setzen die Beteiligten gleichzeitig ihr Wissen über vermeintliche oder tatsächliche Tatsachen strategisch ein. Bezeichnenderweise stammt nämlich die im Zentrum der Aufregungen stehende Formulierung »adäquate Wohnung« 297 gerade nicht von Maier selbst, sondern ist dem Beschwerdebrief der Jury entnommen. Das hindert die Wohnungsgesellschaften, die zunächst noch bereit gewesen waren, »dem Potsdamer Stadtschreiber eine Wohnung für vier Monate kostenlos zur Verfügung zu stellen«,298 gleichwohl nicht daran, die Formulierung Maier zu unterstellen – und daraus in einer Pressemitteilung ihre Schlüsse zu ziehen: »Da weder die Gewoba noch die Wohnungsbaugesellschaft ›Karl Marx‹ für Schlösser zuständig sind, tut es ihnen leid, Herrn Maier nicht beherbergen zu können.« 299 Exemplarisch verdeutlichen lässt sich das Interesse der Beteiligten, ihre eigene Position im Feld möglichst öffentlichkeitswirksam zu behaupten, an den Umständen der Absage Maiers Ende November. Nachdem ein von der Jury initiierter Vorschlag, Maier ein »mietfreies Alternativquartier in der Stadtmitte« 300 bereitzustellen, aus finanziellen Gründen gescheitert ist, die Wohnungs292 »Ein schöner Anfang für Maiers neuen Roman«. In: Märkische Allgemeine vom 6. November 2004. 293 Vgl. Sturm im Plattenbau. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. November 2004. 294 Ebenso wie den Wohnungsbaugesellschaften setzt der Eintritt der Bürgerinitiative hingegen durchaus auf die Konvertierbarkeit von symbolischem in ökonomisches Kapital, handelt es sich bei der Bürgerinitiative doch überwiegend um Gewerbetreibende. 295 Katrin Bischoff: Schloss oder Platte. In: Berliner Zeitung vom 8. November 2004. 296 S. Daßler. 297 Zitiert nach Stipendiat soll in die Platte. 298 Perspektive Platte. In: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 5. November 2004. 299 Hier zitiert nach Diskriminierung von Zehntausenden. 300 Literatenquartier. In: Märkische Allgemeine vom 10. November 2004. Vgl. auch Wohnung am Nauener Tor? In: Märkische Allgemeine vom 9. November 2004. Die Lösung scheitert an den anfallenden Betriebskosten, die die Verwaltung nicht tragen möchte.
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gesellschaften ihrerseits das Angebot, die Wohnung zu stellen, gleichwohl wieder hergestellt haben, teilt die Kulturdezernentin der Presse zunächst mit, die Missverständnisse zwischen Jury, Autor und Stadtverwaltung seien ausgeräumt. »[N]ach einem Telefonat« 301 mit Kulturamtsmitarbeiterin Spatz sei Maier nun bereit, am 22. November eine Wohnung im Stadtteil Waldtstadt II zu beziehen. Die Verwicklungen sind damit indes keineswegs ausgeräumt, was spätestens dann deutlich wird, als Maier an einem angekündigten Pressegespräch nicht teilnimmt.302 Nicht nur tritt Jury-Mitglied Landbeck mehr oder weniger überraschend von ihrer Funktion zurück, sondern auch Maier verzichtet auf das Stipendium und begründet dies mit geänderten Auflagen zur Mittelverwendung. Demzufolge müsse der Potsdamer Stadtschreiber nämlich nun, da er sich bereiterklärt habe, an den Stadtrand zu ziehen, die spezifische Lebenssituation am Standrand literarisch würdigen. Während Kulturdezernentin Fischer bestreitet, Maier habe aufgrund einer angeblichen Vertragsänderung schließlich seinen Verzicht auf das Stipendium erklärt, widerspricht der Autor dieser Ansicht. Gegenüber MAZ bekräftigte Maier gestern, dass der geänderte Vertrag sehr wohl den letzten Ausschlag zur Rückgabe des »nie erhaltenen Stipendiums« gab, wie er im ersten Fax an Jakobs geschrieben hatte. Im Paragraph 1 der neuen und von Maier als nicht akzeptabel abgelehnten Fassung hieß es, die Förderung werde mit dem Ziel gewährt, »sich mit dem Alltag der Menschen auseinanderzusetzen und ihre Visionen eines würdigen, humanen und kulturvollen Lebens künstlerisch aufzugreifen«.303
Dass der Autor gleichwohl auch selbst an den massenmedialen Aufregungen beteiligt ist und die Gelegenheit nutzt, sich als literarischer Akteur gegen die als ›literaturfern‹ präsentierte Kulturbürokratie zu positionieren, verdeutlicht zum einen die Tatsache, dass Maier in den beteiligten Lokalmedien immer wieder zitiert wird, ja der Märkischen Allgemeinen und der PNN durchaus großzügig internes Korrespondenz-Material zur Verfügung zu stellen scheint. So titelt etwa der in der MAZ abgedruckte Artikel »Bitte unterbinden Sie das Tun dieser Frau« nicht nur mit einem Maier-Zitat. Er zitiert auch aus einem Fax Maiers an Oberbürgermeister Jakobs:
301 Stipendiat wohnt in der Waldstadt II. In: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 10. November 2004. 302 Vgl. Volker Oelschläger: Stipendiatenrunde ohne Stipendiat. In: Märkische Allgemeine vom 23. November 2004. 303 Volker Oelschläger: »Bitte unterbinden Sie das Tun dieser Frau«. Der Autor Andreas Maier bittet den Oberbürgermeister im Streit mit Kulturdezernentin Gabriele Fischer um Hilfe. In: Märkische Allgemeine vom 26. November 2004.
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Wörtlich schrieb Maier gestern: »... möchte ich Sie als Oberbürgermeister von Potsdam noch einmal schriftlich bitten, weitere von Ihrer Kulturdezernentin gegen mich initiierte ›Öffentlichkeitsarbeit‹ zu verhindern. Frau Fischer erzählt wissentlich öffentlich Unwahrheiten über mich. Ich habe mit Frau Fischer und ihren [sic!] Amt nichts zu tun.« Das Schreiben gipfelt in dem Satz: »Bitte unterbinden Sie das Tun dieser Frau.« 304
Zum anderen nutzt Maier die überregionalen, mit einigem symbolischen Kapital ausgestatteten Printmedien der Zeit und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um sich gegen die Stadtverwaltung und die Wohnungsgesellschaften ausführlich zu positionieren. Neben einem Artikel des an der literaturbetrieblichen Durchsetzung Maiers nicht unbeteiligten Ulrich Greiner,305 in dem auch der Autor zu Wort kommt, räumt die FAZ dem Autor aus Anlass der Verwicklungen in Potsdam und Maiers Rücktritt vom Stipendium Ende November 2004 nahezu die komplette erste Seite ihres Feuilletons für eine Stellungnahme mit dem Titel Warum ich nicht im Plattenbau leben möchte ein. Dadurch unterläuft Maier operativ seine immer wieder betonte Selbstbeschreibung der ›Intentionslosigkeit‹, kommt die Diskussion durch seine Stellungnahmen doch gerade nicht zum Erliegen, sondern wird umgekehrt aufmerksamkeitsstrategisch weitergeführt. Im Hinblick auf die sich auf diese Weise ausdifferenzierende »peinliche Posse« 306 in Potsdam vom Herbst 2004 lassen sich in der literaturkritischen Rezeption des gut fünf Jahre später erschienenen Romans Sanssouci grundsätzlich zwei Lesarten unterscheiden. Während einige Besprechungen den »Glaubenskrieg um die Lebensqualität von Neubaugebieten« 307 überhaupt nicht erwähnen, den Roman mithin implizit als einen von den »Querelen« 308 um das Stadtschreiber-Stipendium losgelösten Text lesen,309 weist eine zweite Lesart die Aufregungen in der brandenburgischen Landeshauptstadt als gleichsam epitextuelle Vorgeschichte des Romans aus.310 Diese Besprechungen verstehen die lokale ›Posse‹ nicht nur als Auslöser für Maiers Romanprojekt, sondern
304 V. Oelschläger, »Bitte unterbinden Sie das Tun dieser Frau«. Auch veröffentlicht Maier 2010 einen Artikel zur Buchmesse in den Potsdamer Neuesten Nachrichten. Siehe Andreas Maier: Das Argument und das Ich. Thilo Sarrazin liest auf der Buchmesse. In: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 9. Oktober 2010. 305 Vgl. U. Greiner, Dichtung und Wohnung. 306 V. Oelschläger, Stipendiatenrunde ohne Stipendiat. 307 Diskriminierung von Zehntausenden. 308 Vision im Plattenbau. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. November 2004. 309 Hier sind insbesondere die Besprechungen von Osterkamp und Radisch zu nennen. 310 Vgl. zu dem hier relevanten Begriff des ›frühen Epitextes‹ Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. 3. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 13.
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unterstellen jenem darüber hinaus, er realisiere eine gleichsam literarisch geformte »Rache« 311 an der Potsdamer Kulturbürokratie. Insofern diese den Autor in massenmediale Unannehmlichkeiten verwickelt und in peinliche Erklärungsnot versetzt habe, habe Maier mit Sanssouci, der »rachsüße[n] Frucht« 312 der vier Jahre zurückliegenden ›Querelen‹, nun »zurückgeschrieben«.313 Umso mehr mag es überraschen, dass auch diese Rezensionen die Potsdamer Aufregungen als für die Selbstprogrammierung des Romans letztlich unbedeutend ausweisen. Ganz gleich ob die Literaturkritik Maiers Roman als »bunte Abfolge kulturkritischer Glossen« 314 versteht, davon ausgeht, sein Projekt könne »zwischen misogynen Fantasien und der Karikatur städtischer Behörden und bräsiger Ökomilieus« 315 nicht zur Entfaltung kommen, der Text also »literarisch freilich unbefriedigend« 316 sei, oder sie umgekehrt Sanssouci als »spannendes ästhetisches Experiment« 317 ausweist: So unterschiedlich die Bewertungen des Romans auch ausfallen, auf der von ihr selbst angezeigten Potsdamer Kontextualisierung des Romans baut die Literaturkritik ihre »interpretatorische Praxis« 318 gerade nicht auf. Dass der 2009 erschienene Text sich zu dem Potsdamer »Sturm im Plattenbau« 319 in ein spezifisches Verhältnis setzt, verdeutlichen indes bereits Realitätseffekte, die der Roman selbst auf der discours-Ebene erzeugt. Mit dem geographischen Horizont »Potsdam« (S 21) und den Handlungsräumen des »Park[s] von Sanssouci« (S 50) samt »Luisenbrunnen« (S 271) wird ein geographisch markierter Rahmen aufgespannt,320 innerhalb dessen der Text verschiedene Figurenzeichnungen und Handlungsanlagen gezielt auf die ›Potsdamer
311 Bettina Schulte: Sorglose Tage. In: Badische Zeitung vom 24. Januar 2009. 312 K. Hillgruber, Die Oststadtneurotiker. Hillgruber macht die Rache am Peritext fest: »Die rachsüße Frucht all dieser Aufregungen liegt nun mit ›Sanssouci‹ vor – im Anhang erwähnt der 1967 geborene Maier eine stattliche Anzahl von Stipendienorten mit Ausnahme von Potsdam.« 313 Volker Weidermann: Ich will die Eskalation! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Januar 2009. 314 Gustav Seibt: Parklandschaft mit Punks. In: Süddeutsche Zeitung vom 13. Januar 2009. 315 K. Hillgruber, Die Oststadtneurotiker. 316 Roman Bucheli: Ästhetik der Anspruchslosigkeit. In: Neue Zürcher Zeitung vom 19. Oktober 2009. 317 B. Schulte. 318 Roger Lüdeke u. a.: Interpretieren nach Babel. Versuche zum literaturwissenschaftlichen Kontext-Begriff. In: Phöbe Annabel Häcker u. a. (Hg.): textern. Beiträge zur literaturwissenschaftlichen Kontext-Diskussion. München 2008, S. 5–35, hier S. 19. 319 Sturm im Plattenbau. 320 Vgl. dazu allgemein Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen 2008, S. 128–129.
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Posse‹ bezieht. Im Modus der für Schlüsselliteratur typischen »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung« 321 provoziert Sanssouci Rückkopplungen, die die histoire mit Partikeln des Stadtschreiber-Stipendiums gut fünf Jahre zuvor durchsetzt. So ist nicht nur von einer »Kulturhauptstadtbewerbung« (S 95) die Rede. Gleich zu Beginn werden zudem »Artikel in der Märkischen Allgemeinen oder den Potsdamer Neuesten Nachrichten« (S 12) zitiert und als wenig lesenswert, weil auf Klatsch abzielend ausgewiesen. Der Text nutzt die Verwicklungen um Maiers Stipendium dabei indes nicht nur als Referenzhorizont, sondern baut deren massenmediale Schematisierungen in sich ein, wie die Differenzierung zwischen »Westvorstellungen und Ostvorstellungen« (S 16) und der Hinweis auf ein »Plattenbaugebiet« (S 211) verdeutlichen. Ihren Kristallisationspunkt findet dieses ›Ost/West‹-Schema in der Figur Max Hornung, ein »Regisseur, oder was er war, aus dem Westen« (S 96), dessen »Vorabendserie« (S 65) ›Oststadt‹ sich vor allem als »Westscheiße« (S 16) erwiesen habe. So wenig der mittlerweile verstorbene Hornung »klatschsüchtig« (S 12) gewesen sei, so sehr ist seine Serie nicht nur immer wieder Anlass von kontroversen Gesprächen unter den Potsdamern (vgl. S 212), sie hat darüber hinaus auch in der Potsdamer Lokalpolitik zu einigem Unmut geführt. Der Regisseur, von der Stadtverwaltung aus Marketingzwecken eingeladen, einen »Potsdamfilm« (S 96) zu drehen, der »Investoren« (S 96) anlocken sollte, gerät gleich in mehrfacher Hinsicht in den Fokus. Zum einen inszeniere Hornungs, anstelle des versprochenen »großen Potsdamfilm[s]« (S 96) gedrehte Serie die Potsdamer Lokalrealität gleichsam nur verzerrt (vgl. S 16), ja die Öffentlichkeit rezipiert die Serie als zwischen »Unverschämtheit« (S 266) und »Wahrheit« (S 266) oszillierende »Lächerlichmachung der Stadt« (S 266) im Modus einer »realsatirische[n] Darlegung« (S 266). Zum anderen befürchtet die Stadtverwaltung – obwohl oder gerade weil sie bloß »Vermutungen« (S 265) nachgehen kann – einen »Skandal um Oststadt« (S 95), in dessen Zentrum Hornungs »Doppelleben« (S 53) steht und der die beteiligten Politiker mit Blick auf die »Boulevardpresse« (S 265) in mediale Erklärungsnot bringen könnte. So wenig Hornung den Film »nie gedreht« (S 96), im Vorhinein aber Geld dafür bekommen habe, so sehr halte sich das Gerücht, er habe eine Tochter (vgl. S 225 u. 262), die er mit den illegitimerweise erhaltenen Stipendiengeldern nun versorgt habe. In die auf diese Weise entfaltete »Hornungsache« (S 219) platziert der Text nun im Modus des Schlüsselverfahrens eine Reihe von Figuren, bei denen be-
321 Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. (Studien zur deutschen Literatur 170) Tübingen 2004, S. 7.
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reits die Berufsrollen dazu ausreichen, dass sie zumindest das lokale Potsdamer Publikum aus der Berichterstattung über die Verwicklungen um das Literaturstipendium ›wiedererkennt‹. Dazu zählen vor allem »Oberbürgermeister Friedrichsen« (S 256), »Dr. Dorothee Kupski, die Kulturdezernentin (SPD)« (S 216), und »Herr Meckel, Kulturamtsleiter« (S 216). Hinzu kommt »Buchhändler Wenk (AG Hornung)« (S 231). Mit Blick auf den Oberbürgermeister lässt sich dabei etwa das Handeln der ›realen‹ Person ohne Weiteres mit dem der Figur in der fiktionalen Realität analogisieren: Oberbürgermeister Friedrichsen gehörte zu den klügeren Personen in der Stadt, aber auch er war gegenüber den stadtinternen Prozessen machtlos. Daher hatte er sich das Dasein eines Moderators angewöhnt, der zu den Dingen zwar eine Ansicht hat, sie aber nicht äußert, und wenn doch, dann nur in vertrauten Zirkeln. (S 256)
Differenzieren Schlüsselverfahren das literarische Publikum nach denen, die die Doppelstruktur erkennen, »und denen, die darüber hinweg lesen«,322 provoziert Sanssouci mit den Referenzialisierungen der fiktionalen Realität jenseits von »ein paar wiedererkennbaren Orten und Figuren als Kulisse« 323 eine Rezeptionshaltung, die sich aufgrund der erzeugten Form von Exklusivität auf Seiten des Publikums besonders gut an den Feedbackeffekten beobachten lässt, die der Roman in der lokalen Potsdamer Presse erzeugt. Die Besprechungen in den Potsdamer Neuesten Nachrichten und in der Märkischen Allgemeinen stellen nämlich schon insofern einen bemerkenswerten Sonderfall dar, als sie selbst maßgeblich in den Eklat involviert gewesen sind, so dass sich vermuten lässt, sie würden, ausgestattet mit der für Schlüsselverfahren notwendigen »Bereitschaft zum doppelten Verständnis«,324 das von Maier gebrauchte »Potsdamer Lokalkolorit« 325 spezifisch an sich selbst zurückbinden. Bezeichnenderweise ein Eintrag in einem Potsdam-Reiseführer von 2010 weist auf den Zusammenhang zwischen den Lokalzeitungen und dem Roman hin und verdeutlicht damit, dass die Potsdamer Lokalpresse zum exklusiven Rezipientenkreis von Sanssouci zählt. 2009 veröffentlichte Andreas Maier nach einem Stipendien-Aufenthalt seinen PotsdamRoman »Sanssouci«, der freilich für die Märkische Allgemeine ein Laboratorium der Beliebigkeit ist, und für den die Potsdamer Neuesten Nachrichten nur ein Schulterzucken übrig hat.326
322 G. M. Rösch, S. 268. 323 G. Seibt. 324 G. M. Rösch, S. 7. 325 K. Saab. 326 Manuela Blisse u. a.: Potsdam. Unsere besten Touren. Unsere Top 12 Tipps. Aktualisierte Neuauflage. München 2010, S. 51.
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Der Reiseführer gibt in der hier vollständig zitierten Stelle keineswegs den Inhalt des Romans wieder. Er interessiert sich nicht für den ›eigentlichen‹ Text, sondern vielmehr für die literaturkritischen Epitexte, um damit eine Verbinung herzustellen zwischen der schlechten Bewertung des Romans in den Lokalzeitungen und der Stellung, die diese in den Aufregungen um das StadtschreiberStipendium eingenommen haben. Und tatsächlich hält Karim Saab in der Märkischen Allgemeinen fest, Sanssouci sei »langweilig, dramaturgisch unausgereift und sprachlich misslungen«,327 um gleichzeitig ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass es sich bei Maiers Roman um keinen Schlüsselroman handele: »Dieses harte Urteil hat überhaupt nichts damit zu tun, dass Andreas Maier keinen Schlüsselroman über Potsdam geschrieben hat. Obwohl er sich auch darin gefällt, Andeutungen in diese Richtung zu machen.« 328 Doch gerade in dem Hinweis darauf, es nicht mit Schlüsselliteratur zu tun zu haben, erweist sich ex negativo die Wirkung in Form der negativen Bewertung. Auch Dirk Becker erinnert in seiner relativ ausführlichen Besprechung für die Potsdamer Neuesten Nachrichten an die Potsdamer Vorgeschichte, um darauf hinzuweisen, dass die Anspielungen auf die Potsdamer Kulturbürokratie »arg plump« 329 ausgefallen seien, ja dem Leser sich insgesamt ein »dramaturgische[s] Elend« 330 biete. Dass die beiden Lokalzeitungen den Roman ›freilich‹ abwerten, wie der Reiseführer hervorhebt, liegt demnach in der spezifischen Position von PNN und MAZ begründet: Der (lokale) Literaturbetrieb wird als sozialer Kampf um Legitimität und Positionen verstanden, in denen es um die strategische Durchsetzung von Distinktionsgewinnen geht. Beide Zeitungen verschweigen in dieser Perspektive gleichsam aus taktischen Gründen, dass sie selbst in den Lokalskandal maßgeblich involviert gewesen sind, ja als Realitätseffekte im Roman sogar selbst auftreten. Noch 2011 lassen sich Ausläufer zumindest der Möglichkeit der Voreingenommenheit erkennen, stellt doch die Märkische Allgemeine noch aus Anlass von Maiers Roman Das Zimmer einen Bezug zur ›Potsdamer Posse‹ her: Als Stipendiat in Potsdam hat Andreas Maier jede Menge Mist produziert. Angefangen mit der unsagbaren Diskussion, ob ein Schriftsteller wirklich im Plattenbau untergebracht
327 K. Saab. 328 K. Saab. 329 Dirk Becker: Am Ende bleibt ein Schulterzucken. In: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 13. Januar 2009. 330 D. Becker.
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werden dürfe. Bis hin zu dem erbärmlich zusammengedichteten Roman »Sanssouci« (2009).331
Gerade mit der Beobachtung dieses ›Mists‹, den Maier in Potsdam produziert habe, werden Roman und Vermittlungsbedingungen zueinander ins Verhältnis gesetzt. Die Literaturbetriebs-Szene von Sanssouci macht die lokale Presse »zum Komplizen« 332 des ihr zugrundeliegenden literarischen Programms. Auffallend ist in diesem Zusammenhang die Zeichnung einer Figur, die sich als fiktionale Referenz eines der Protagonisten in den Potsdamer Verwicklungen verstehen lässt. Zu Meckel hatte Friedrichsen eine klare Ansicht. Meckel war ein kompletter Vollidiot, der an keinem Tag verstand, was er zu tun hatte, und über nichts angemessen referieren konnte. Durch kaum einen Menschen hatte Friedrichsen mehr Mißverständnisse entstehen sehen als durch seinen jetzigen Kulturamtsleiter. Meckel war einer der Hauptschuldigen an dem Vertrag, den die Stadt mit Hornung geschlossen hatte und der dazu führte, daß die Stadt die Serie bis heute mitfinanzieren mußte. Er galt als ständiges Betriebsrisiko. Andererseits stellte Meckel eine Idealbesetzung nicht nur für sein gegenwärtiges, sondern für jedwedes Amt dar, insofern er völlig unfähig war, eigene Positionen zu entwickeln. Er erinnerte Friedrichsen an einen alten, blinden, unbeholfenen Schoßhund. In Oststadt kam Meckel nicht vor, das galt in eingeschworenen Kreisen als Höchststrafe. (S 257–258)
Gerade die Figur Meckel in Kombination mit den präzisen Orts-, Figuren- und Handlungsangaben dürften lokale Sanssouci-Leser mindestens aus der lokalen Berichterstattung kennen. Als durchaus typische Elemente des Schlüsselverfahrens dienen dabei die Verfremdung des Namens (Meck/›Meckel‹), die Funktionsbezeichnung (Kultur-Fachbereichsleiter/›Kulturamtsleiter‹), der Hinweis auf Probleme der Vertragsgestaltung (›Hauptschuldiger‹, ›Betriebsrisiko‹) sowie pointiert gesetzte Charakterisierungen (›unbeholfener Schoßhund‹). Der Text ruft mithin bekannte Personen und Schemata der lokalen Berichterstattung auf und arrangiert sie so, dass derjenige Leser, der die Hintergründe um die ›Potsdamer Querelen‹ um Maier kennt, den Text wenig anders denn als auktorialer Sprechakt der Abrechnung mit den lokalen Akteuren in Potsdam lesen kann (hier: Meckel als ›kompletter Vollidiot‹). Gleichwohl steuert der Text diesen Referentialisierungen entgegen, ja bricht die provozierte Lesart der auktorialen Abrechnung spezifisch auf. Im vorliegenden Fall ist zunächst wichtig, dass es sich bei der zitierten Passage
331 Welf Grombacher: Der Muff der alten Bundesrepublik. In: Märkische Allgemeine vom 24. Januar 2011. 332 Y. Hütter, S. 160.
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um die Wiedergabe der Innensicht des Oberbürgermeisters handelt, die negative Charakterisierung Meckels also an eine Figur der innerfiktionalen Welt zurückgebunden ist. Zweitens ist Meckel an anderen Stellen durchaus ›positiv‹ gezeichnet, werden dem Amtsleiter doch etwa theoretische Reflexionen das Verhältnis von Kunst und Lebenswelt in den Mund gelegt (vgl. S 221–222). Und drittens ist die Beobachtung, Meckel komme als einer der wenigen Potsdamer nicht in ›Oststadt‹ vor, keineswegs unbedingt als ›Höchststrafe‹ zu lesen, wie das lokale Feuilleton nahelegt.333 Angedeutet ist damit ein Verfahren, mit dem sich der Text einerseits von der realen Realität abkoppelt, sich genau damit indes mit dieser verkettet. Dass mit »Michael Schwarz, Dramaturg am Potsdamer Theater« (S 216), und »Herr[n] Streubel, Magistratsvorsitzender« (S 216), zudem im Bereich der Kulturbürokratie Figuren hinzu kommen, die nicht mehr ohne Weiteres auf ›reale‹ Personen, wie sie in der Berichterstattung auftauchen, bezogen werden können, erzeugt leichte Verschiebungen, die eine strikte Abgrenzung zu solchen Figuren, die – ›gänzlich fiktiv‹ – in keinem Zusammenhang mit den Verwicklungen in Potsdam 2004 stehen, zumindest irritiert. Diese Irritation der Rückbindung der fiktionalen an die reale Realität setzt dabei bezeichnenderweise bereits mit dem Einbau ganz realer Elemente ein: Die einzigen, von Sanssouci beim Klarnamen genannten Personen, Joop und Jauch (vgl. S 208), sind auch und gerade in der realen Realität vor allem eines: massenmedial erzeugte Figuren, die keineswegs einen Blick auf die ›realen‹ Personen erlauben – ja mehr noch: Während Moderator Jauch dafür bekannt ist, sein Privatleben vor der medialen Öffentlichkeit zu schützen, zeichnet sich Modezar Joop dadurch aus, dieses umgekehrt als Inszenierung exzessiv in Szene zu setzen.334 Ähnliches trifft auf die beiden anderen in den Text eingebauten Realitätspartikel zu: Die beiden Lokalzeitungen Potsdamer Neueste Nachrichten und Märkische Allgemeine stellen als Massenmedien alles andere als einen Durchgriff in die reale Realität in Aussicht, sondern erzeugen diese im Gegenteil selbst. In diesem Sinne bindet sich der Text weniger an eine außertextuelle Realität, sondern nutzt die zurückliegende Berichterstattung vielmehr als einen ›frühen‹ Epitext, ja stellt sich zu diesem in ein durch Schlüsselelemente moduliertes intertextuelles Verhältnis.335 Was mit der Untersuchung der sich auf diese Weise abzeichnenden Literaturbetriebs-Szene noch einmal betont wird, ist die grundsätzliche Ausrichtung
333 Vgl. D. Becker. 334 Siehe etwa Marcus Luft: Wolfgang Joop: Glanz & Glorie. In: Gala.de vom 9. Juli 2009. http:// www.gala.de/beauty_fashion/fashion/66488/Wolfgang-Joop-Glanz-und-Glorie.html (01. 10. 2012); Hajo Schumacher: Das Prinzip Jauch. In: manager magazin online vom 10. Juli 2007. http:// www.manager-magazin.de/magazin/artikel/0,2828,478034–8,00.html (01. 10. 2012). 335 Vgl. entsprechend allgemein G. M. Rösch, S. 22–23.
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der vorliegenden Studie: Es kann nicht darum gehen, die Frage zu klären, welche Akteure – Maier oder Mitarbeiter der Kulturbürokratie – letztlich für eben jenen lokalen Potsdamer ›Mist‹ verantwortlich sind, der den Eindruck erzeugt habe, Potsdam fehle schlichtweg der »Charme« 336 zur Kulturhauptstadt. Wichtiger als die feldtheoretisch durchaus beschreibbare, hier nur angedeutete Dimension der vorgesehenen, aber bereits im Ansatz gestörten »szeneriellen Handlungskonfigurationen« 337 der Stipendienvergabe und der »Stipendiatenbehausung« 338 und damit die Klärung der Verantwortung für die Verwicklungen um Maiers Literaturstipendium, ist die Selbstbeschreibung der massenmedialen Berichterstattung. Auffallend ist nämlich, dass die Beteiligten den »kulturellen, teilweise unverdaulichen Brei« 339 um Maiers Stipendienvergabe wiederholt mit spezifischen Schlagworten belegen. Neben Attributen wie »Eklat«,340 »Querelen«,341 »Glaubenskrieg« 342 oder »unrühmliche Geschichte« 343 wird dabei nicht nur einmal die Bezeichnung »peinliche Posse« 344 verwendet, ja es ist nicht zuletzt Maier selbst, der dieses Schlagwort aufgreift. So zitiert der Klappentext von Sanssouci mit dem ›Possenhaften‹ beinahe wörtlich die Stellungnahme des Autors in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem »Maier die absurde Dynamik einer bürokratischen Posse« 345 beschreibt, in die er durch das Stipendium geraten sei. Die literaturwissenschaftliche Definition legt die Posse, die grob zwischen 1810 und 1880 ihre Blütezeit erlebt, auf ein »heiteres Bühnenstück im kleinbürgerlichen Milieu« 346 fest. Thematisiert sie das »einmalig Charakteristische des kleinbürgerlichen lokalen Alltags« 347, ist die wesentliche Struktureigenschaft 336 Werner von Bebber: Üben. In: Der Tagesspiegel vom 27. November 2004. 337 B. Dücker, S. 73. 338 Der Stipendiat soll nicht im Regen stehen. In: Märkische Allgemeine vom 28. Oktober 2004. 339 Provinzschatten. In: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 5. November 2004. 340 V. Oelschläger, Stipendiat Maier geht im Zorn. 341 Vision im Plattenbau. 342 Diskriminierung von Zehntausenden. 343 S. Daßler. 344 V. Oelschläger, Stipendiatenrunde ohne Stipendiat. Siehe darüber hinaus C. Schörder, Potsdamer Posse; Sturm im Plattenbau. 345 So wird Maiers Stellungnahme auf der Titelseite angekündigt. Siehe Andreas Maier: Warum ich nicht in die Platte ziehe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. November 2004. 346 Volker Klotz: Bürgerliches Lachtheater. Komödie · Posse · Schwank · Operette. Vierte Auflage, aktualisiert und erweitert. (Beihefte zur neueren Literaturgeschichte 239) Heidelberg 2007, S. 135. Auf die durchaus vorhandenen selbstreflektiven und insbesondere sozialkritischen Aspekte der Posse, wie sie Klotz hervorhebt, kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. 347 V. Klotz, S. 355.
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der Gattung ihr Lokalbezug: Die Posse handelt »vom Alltagsleben der Stadt, in der sie spielt und deren Sprache sie verlauten läßt«.348 Im Zentrum steht dabei nicht selten ein Störenfried, der von außen in den kleinbürgerlichen Ablauf eindringt und diesen irritiert. Lässt sich bereits hier die Analogie zum Stadtschreiber-Stipendium ersehen, sind für den vorliegenden Zusammenhang daneben zwei Aspekte von Bedeutung. Erstens zeichnet sich die Posse durch die Gewöhnlichkeit des in ihr verhandelten Konflikts aus, ja dieser wird vom Publikum als lächerlich beobachtet. Ist der dramatische Konflikt, der im Zentrum der Posse steht, gewöhnlich »nicht besonders erheblich oder spannend«,349 wird die Handlung lediglich dazu genutzt, »das heraufbeschworene lokale Alltagsgetriebe in einen zusammenhängenden, überschaubaren Bühnenhergang zu überführen.« 350 Verbunden ist damit – zweitens – die Beobachtung, dass die Posse anders als Tragödie oder Komödie wenig ästhetisch durchgeformt ist, dies aber geradezu in Kauf genommen wird. Als Posse lassen sich demnach solche Bühnenstücke mit Lokalbezug fassen, »die weder ästhetisch einhellig noch reibungslos schlüssig geraten« 351 sind. Das im Zentrum stehende dramatische Geschehen ist oft »lückenhaft begründet, der Ablauf holprig, das Tempo der Ereignisfolge schwankend, der Aufbau mißproportioniert.« 352 Sieht man von der naheliegenden Alliteration – ›Potsdamer Posse‹ – als Stilform einmal ab, ist die Markierung der Verwicklungen um Maier als ›Posse‹ in zwei Hinsichten relevant. Einerseits erhält die Berichterstattung dadurch nahezu von Beginn an eine selbstreflexive Ebene, die unter Rückgriff auf die mit der literarischen Gattung Posse verbundenen Konnotationen Gegenstand und Form der Berichterstattung zum einen als gleichsam »läppisch« 353 mit »Alltagstreiben der einfachen Leute im unmittelbaren lokalen Umkreis«,354 also überregional irrelevant und als »nicht besonders originell« 355 bewertet. Gleichwohl wird die Diskussion damit gleichzeitig immer auch operativ weitergeführt, indem nämlich eine weitere Meldung an den vorherigen Meldungen anschließt und somit die Operationsweise (massenmedialer) Kommunikation durchgesetzt wird. Der entscheidende Grund dafür, dass es sich bei der Posse nicht um eine Debatte handelt, liegt denn auch in dem Umstand begründet,
348 349 350 351 352 353 354 355
V. V. V. V. V. V. V. V.
Klotz, Klotz, Klotz, Klotz, Klotz, Klotz, Klotz, Klotz,
S. 135. S. 108. S. 108. S. 142. S. 142. S. 108. S. 103. S. 108.
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dass an ihr keine »Kritiker der wichtigsten deutschsprachigen Publikationsorgane« 356 beteiligt sind. Mit Ausnahme von Maier selbst spielen die Autoren der Artikel selbst keine, zumindest überregional sichtbar hervorgehobene Rolle. Die Berichterstattung setzt sich vielmehr aus der Wiedergabe von Pressemitteilungen und kurzen Stellungnahmen der Beteiligten zusammen, um diese wechselseitig zueinander in Bezug zu stellen. Als zentrale Darstellungsform fungiert dabei – was journalistisch nicht ungewöhnlich ist – die Wiedergabe direkter und indirekter Rede. Exemplarisch verdeutlichen lässt sich dies an folgendem Ausschnitt. Die dpa zitierend meldet die Märkische Allgemeine Stellungnahmen der zuständigen Kulturdezernentin Gabriele Fischer. DPA schrieb: »Maier fühle sich von der öffentlichen Diskussion um angemessenen Wohnraum für Stipendiaten beschädigt, sagte die Kulturbeigeordnete Gabriele Fischer (parteilos) am Donnerstag.« Und Maier las, dass seine Absage »anders als in manchen Medien zu lesen sei – nichts mit den Vertragsinhalten zu tun« habe – auch dieses schrieb DPA nach Auskunft von Fischer. Diese behauptete laut DPA außerdem, es sei »nicht Bestandteil des Vertrages, dass der Stipendiat die ›Visionen eines würdigen, humanen und kulturvollen Lebens‹ der Potsdamer Plattenbaubewohner künstlerisch aufgreifen müsse, wie es in der Presse hieß.« 357
Dieser Abschnitt aus einem Lokalartikel verdeutlicht in nuce, wie sich die Aufregungen um Maier operativ vollziehen. Zunächst handelt es sich um eine Paraphrase von bereits erschienenen Meldungen. In einem zweiten Schritt folgen dann Äußerungen von Beteiligten, die sich auf Maiers Äußerungen beziehen, wobei der Artikel durchgehend seine Berichterstattung als Beobachtung zweiter Ordnung ausflaggt und auf massenmediale beziehungsweise kommunikative Selbstreferenz umstellt: Zitiert wird dpa, die Fischer zitiert, wie diese dpa zitiert, die Maier zitiert. Es geht bei der ›Potsdamer Posse‹ also vor allem um eines: um die Wiedergabe aneinander gekoppelter Kommunikationseinheiten, die immer wieder paraphrasiert werden. Dadurch gerät die Überprüfung der ›tatsächlichen‹ Vorgänge und Äußerungen zunehmend in den Hintergrund, weil sich alles operativ im Status der Paraphrase, der Wiedergabe von unverbürgtem ›Gerede‹ vollzieht. Maiers Bemerkung, bestimmte Vorwürfe »wisse er nur aus der Zeitung«,358 ist hier durchaus symptomatisch. Dass die Beteiligten selbst wiederholt die Unterscheidung zwischen kommunikativ-massenmedial bedingten Missverständnissen und den ›eigentlichen‹ Abläufen in die Debatte
356 S. Buck, Der Kritikerstreit als Betriebsphänomen, S. 358. Nach Buck zeichnen sich Debatten dadurch aus, dass bedeutende Literaturkritiker an ihr innerhalb eines kurzen Zeitraums teilnehmen. 357 V. Oelschläger, »Bitte unterbinden Sie das Tun dieser Frau«. 358 K. Bischoff.
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einziehen und darüber hinaus immer wieder Verantwortliche für die Aufregungen gesucht werden (Maier, Jury, Kulturamtsleiter), kann über die grundsätzliche Unbestimmtheit der Zusammenhänge auch nicht mehr hinwegtäuschen, sondern verstärkt eher noch den Status der Paraphrase selbst, weil eben diese Beobachtung auch selbst das thematisierte ›Gerede‹ noch operativ fortsetzt. Zweitens deutet die Selbstbeschreibung der Berichterstattung als ›Posse‹ mithin an, dass die Form der Diskussionen von einiger Relevanz ist. So ist in der Berichterstattung um das Potsdamer Stadtschreiber-Stipendium nahezu von Beginn an eine selbstreflexive Ebene angelegt, von der die Zuspitzung im Schlagwort ›Potsdamer Posse‹ nur das signifikanteste Symptom ist. Insbesondere das überregionale Feuilleton erweist sich als eine Instanz, die die lokalen Meldungen spezifisch beobachtet und damit durchaus die Funktion einer Metaebene einnimmt, wie sie sich in literaturkritischen Debatten typischerweise ausdifferenziert. Indizien dafür sind die bereits zitierten Charakterisierungen der Entwicklungen als »Glaubenskrieg« 359 und die Beobachtung der Aushandlung von »Ost-West-Klischees«.360 Und auch die Feststellung, die fragliche Äußerung Maiers zur »adäquate[n] Wohnung in der Innenstadt« 361 werde diesem immer wieder und zudem fälschlicherweise »zugeschrieben«,362 lässt darauf schließen, dass hier Medien Medien beobachten. Ein prägnantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang etwa die Bemerkung, Maier habe sich gegen »Vorwürfe wehren müssen, er sei ein ›eingebildeter Wessi, der sich zu fein ist, in einem Plattenbau zu wohnen‹.« 363 Nicht nur bezieht sich dieser Artikel im überregionalen Tagesspiegel auf die massenmediale Berichterstattung in den lokalen Zeitungen, fasst die Aufregungen mithin zusammen. Auch lässt seine Darstellungsform keine Zuschreibung des Vorwurfs zu. Die Vorwürfe werden vielmehr im Status des ›Hörensagens‹ wiedergegeben, das wenig mehr als unverbürgtes ›Gerede‹ präsentiert. Im Zentrum (auch) der vorliegenden Studie kann deshalb nicht so sehr die Aufklärung der Frage stehen, wer welche Strategien verfolgt hat. Auch wenn die Presse selbst unterschiedliche Versionen präsentiert, aus deren Zusammenschau sich in etwa ergibt, wie welche Missverständnisse entstanden sein könnten, entkommt der Kommentar dieser Verhältnisse – auch der vorliegende – nicht den Bedingungen von Beobachtungen zweiter Ordnung. Berücksichtigt werden muss mithin, dass die Beobachtung von solchen Strategien immer nur
359 360 361 362 363
Diskriminierung von Zehntausenden. W. von Bebber, Üben. Zitiert nach Stipendiat soll in die Platte. S. Daßler. S. Daßler.
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Zuschreibungen sind, die nur auf die durch massenmediale Berichterstattung erzeugte Realität zurückgreifen kann und sich damit selbst in eine weitere Paraphrase transformiert.364 Die Verwicklungen und die in ihnen zugeschriebenen Strategien und Unterstellungen selbst sind vielmehr als ein »Emergenzphänomen« 365 einzustufen, das sich nicht auf einen strategischen Plot eines oder mehrerer Akteure (oder deren Verfehlungen) zurückrechnen lässt und im vorliegenden Zusammenhang als Form literarischer Kommunikation, genauer: als Literaturbetriebs-Szene untersucht wird.
4.2.2 Wimmelbild und Thesenroman Die feuilletonistische Rezeption von Sanssouci macht im Überblick zwei, auf den ersten Blick einander widersprechende Beobachtungen. Auf der einen Seite wird der Roman als ein »nachlässig gearbeitete[s] Gewebe« 366 und »Wimmelbild« 367 bezeichnet, ja Maiers Projekt ›verpuffe‹ 368 auf gewisse Weise in den nicht in Form gebrachten, weil lediglich unmotiviert ›aneinandergereihten‹ 369 Romanszenen. Auf der anderen Seite kritisieren Teile der Literaturkritik, dass Sanssouci ein geradezu provokativ auktorial und letztlich naiv fundamentalistisch ausgerichtetes Programm umsetze. Insofern Maier nichts weniger als einen »schönen, schlichten, christlichen Thesenroman geschrieben« 370 habe, erweise sich der Text gleichsam als Sprachrohr des Autors. Unabhängig von der Frage, wie diese Ambivalenz zwischen mehr oder weniger lockerem ›Gewebe‹ einerseits und festgeschriebenen ›Thesen‹ andererseits zu bewerten ist, thematisiert das Feuilleton mit diesen Beobachtungen ein wichtiges, wenn nicht das entscheidende Formelement von Sanssouci. Bereits der Paratext gibt einen programmatischen Hinweis auf die Funktionsweise dieses Verfahrens. Bevor der Leser in das ›nachlässig gearbeitete Gewebe‹ des ›eigentlichen‹ Textes einsteigt, bekommt er es nämlich im Peritext schon mit einer ›schlichten These‹ zu tun.
364 Siehe dazu mit Blick auf das Verhältnis von politischem und massenmedialem System Klaus P. Japp u. Isabel Kusche: Die Kommunikation des politischen Systems: Zur Differenz von Herstellung und Darstellung im politischen System. In: Zeitschrift für Soziologie 33 (2004), Nr. 6, S. 511–531. 365 D. Frank, S. 75. 366 B. Schulte. Siehe ähnlich R. Bucheli. 367 Elmar Krekeler: Und hinter tausend Nebeln keine Welt. In: Die Welt vom 10. Januar 2009. 368 Vgl. die Formulierung bei K. Hillgruber, Die Oststadtneurotiker. 369 Siehe die Formulierung von G. Seibt. 370 V. Weidermann, Ich will die Eskalation.
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Dort schrien die einen dies, die anderen das; denn in der Versammlung herrschte ein großes Durcheinander, und die meisten wußten gar nicht, weshalb man überhaupt zusammengekommen war. Apostelgeschichte (19,32) (S unpaginiert)
Die Apostelgeschichte zitierend präzisiert das Motto im Modus einer peritextuellen ›Hilfestellung‹ das Romanprogramm. Dabei steht es nicht lediglich als kommentierender Meta-Text »im Dienst einer besseren Rezeption des Textes«.371 Das Motto ist vielmehr selbst Vollzug des Schreibverfahrens, das den Widerspruch von ›Wimmelbild‹ und ›Ordnung‹ erzeugt. Um von einem ›großen Durcheinander‹ überhaupt sprechen zu können, ist eine Instanz notwendig, die dieses thematisiert oder in peritextuelle Form bringt, zumindest aber beobachtet. Indem das Motto gleichsam performativ eben diese Position eines außerhalb der ›Versammlung‹ stehenden Sprechers realisiert, konfrontiert es das thematisierte ›Durcheinander‹ also mit einer ›These‹. Der in der Literaturkritik implizit bemerkte Widerspruch wird auf diese Weise als ausstehendes Programm des Romans expliziert: Sanssouci bedient sich eines Verfahrens, das einerseits eine näher zu bestimmende Form von ›lockerem Gewebe‹ erzeugt, dieses andererseits aber immer wieder an eine offenbar außerhalb des ungeordneten ›Wimmelbildes‹ positionierte Erzählinstanz zurückbindet. Die Beobachtung des formlosen Durcheinanders ist mithin nicht nur Ausdruck von Maiers literarischem Unvermögen, also des Umstands, dass der Autor sich offensichtlich »verquatscht und vertändelt«.372 Es ist vielmehr auch und gerade ein Hinweis auf die spezifisch in Form gebrachte Selbstprogrammierung des Textes. Bereits die peritextuelle Binnenstrukturierung von Sanssouci führt dem Leser die Konfrontation von Durcheinander und Ordnung, von Vorläufigkeit und Strukturiertheit schriftbildlich vor Augen. Den auffallend häufigen, auf der Mehrzahl der Seiten zu findenden drei Auslassungspunkten steht der konsequente Einsatz von Absätzen und die dreistufige Kapiteleinteilung gegenüber. Der Roman ist in drei ›Bücher‹ gegliedert, die jeweils in nummerierte Unterkapitel unterteilt sind. Mit Zwischentiteln versehene und selbst wiederum durch Absätze organisierte Abschnitte bilden die dritte, unterste Strukturebene.373 Ist
371 G. Genette, S. 10. Zur paratextuellen Form und Funktion des Mottos vgl. G. Genette, S. 141–156. 372 Buchpreiskandidaten I. In: Die Welt vom 7. März 2009. 373 Während das erste und dritte ›Buch‹ jeweils aus drei Unterkapiteln mit zwei bis vier Abschnitten, ist das zweite ›Buch‹ in zwei Unterkapitel mit jeweils drei bzw. sechs Abschnitte gegliedert.
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eine stringente Kapitelgliederung für deutschsprachige Romane der Jahrtausendwende alles andere als ungewöhnlich, gewinnt die Strukturierung in Sanssouci in auktorial-werkgeschichtlicher Perspektive an Relevanz. Das Label ›Andreas Maier‹ ist im deutschsprachigen Literaturbetrieb nämlich nicht zuletzt dafür bekannt, dem Leser innertextuell nur spärliche Strukturvorgaben an die Hand zu geben.374 So setzen Wäldchestag und Klausen paratextuelle Mittel zur Textstrukturierung eher sparsam ein, ja präsentieren mitunter einen einzigen Textblock, der mit dem weitgehenden Verzicht auf Abschnitte und Absätze die Unübersichtlichkeit der entfalteten, »unablässig brodelnde[n] Gerüchteküche« 375 auch peritextuell umsetzt. Interessant ist die Binnenstrukturierung in Sanssouci aber insbesondere deshalb, weil der Text ihr eine Form gibt, die der ihr gewöhnlich zugedachten Funktion widerspricht, ja mehr noch: der Text lässt die konventionellen Funktionen von Kapiteln und Auslassungspunkten geradezu konvergieren. Während nämlich die über den Text verstreuten Auslassungspunkte mitunter als peritextuelle Ordnungshilfen und Lektüreanweisungen für den Leser fungieren, stehen Kapitel und Abschnitte des Romans keineswegs lediglich im Zeichen paratextueller Leserlenkung, sondern werden auf spezifische Weise in die erzählte Welt integriert. Den Eindruck, Sanssouci entwerfe ein sprachliches ›Wimmelbild‹, erzeugt der Text nicht zuletzt dadurch, dass er sich selbst immer wieder unterbricht, ja gleichsam ins Stocken gerät. Steht bereits die lateinische Abkürzung ›etcetera‹, die seit Wäldchestag mit intertextuellem Bezug auf Thomas Bernhard häufig als prägnantes Element des Autorenlabels ›Andreas Maier‹ hervorgehoben wird,376 durchaus im Zeichen des »pausenlose[n] Reden[s]«,377 wird dieser Ef374 Siehe zum Label-Begriff allgemein Dirk Niefanger: Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer). In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. (Germanistische Symposien 24) Stuttgart u. Weimar 2002, S. 521–539. 375 So die Formulierung von E. Leipprand. Während Wäldchestag in drei Teile untergliedert ist, dabei aber bis auf drei signifikante Ausnahmen – das Motto und zwei Absätze – vollständig auf Absätze verzichtet, finden sich in Klausen zwei signifikante Absätze. Vgl. Andreas Maier: Wäldchestag. Roman. 8. Auflage. Frankfurt a. M. 2001, S. 315; Andreas Maier: Klausen. Roman. Frankfurt a. M. 2002, S. 173 u. 190. Kirillow setzt mit Motto und Prolog ein, wobei der ›eigentliche‹ Text selbst zwar in drei Kapitel gegliedert ist und (wenn auch wenige) Absätze verwendet, allerdings nicht auf Zwischentitel zurückgreift. Auslassungspunkte finden sich hier gleichwohl bereits häufig. Vgl. Andreas Maier: Kirillow. Roman. Frankfurt a. M. 2005. 376 Das bei Maier typischerweise kursiv gesetzte, immer ausgeschriebene »etcetera« findet sich auch in Sanssouci (vgl. S 10, 150, 209, 210, 237 und 271). Siehe zum Gebrauch der Abkürzung ›etcetera‹ bei Maier die kurzen Hinweise bei Y. Hütter, S. 225. 377 Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 22) Berlin u. New York 2003, S. 247.
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fekt in Sanssouci zudem und vor allem durch den exzessiven Einsatz von Auslassungspunkten flankiert. Auslassungspunkte markieren gewöhnlich Anakoluthe, das heißt »Konstruktionsabbrüche und Konstruktionswechsel« 378 und realisieren damit im Medium der Schrift ein typisches syntaktisches Phänomen gesprochener Sprache. Sie verweisen auf ausgelassene Wörter, was sowohl abgebrochene Gedankengänge, Pausen und Andeutungen sowie Korrekturen oder Neuanfänge, als auch das Offenlassen nicht verbalisierter oder verbalisierbarer Zusammenhänge markieren kann.379 Insofern sie Schwierigkeiten bei der Satzkonstruktion gesprochener Sprache anzeigen können, handelt es sich bei Auslassungspunkten mithin um eine »Simulation von Mündlichkeit als Effekt in der Schrift«.380 Sanssouci setzt Auslassungspunkte auf mehreren Ebenen ein. Dienen sie auf der Ebene des Erzählerberichts dazu, unvollständige Aufzählungen (etwa »Der Zug fuhr dahin, Göttingen, Hildeheim ...«, S 61), Pausen (zum Beispiel »Es war Frau Schmidts erste Reise ... ins Ausland«, S 10) und immer wieder auch eher diffuse Andeutungen (vgl. S 56) zu markieren, entfaltet das Verfahren hingegen vor allem in der Figurenrede sein Potential. Dabei greift Sanssouci auf nahezu alle genannten Funktionen von Auslassungspunkten zurück, um auf diese Weise die Abbrüche zur Markierung von (Selbst-)Korrekturen der Sprecher (wie »Ja ... das heiße ... nein.«, S 262) und damit verbundene Andeutungen (etwa »Das ist doch nicht gut, die Tochter ... so allein ... hier oben, da wird doch geredet, das wissen Sie doch.«, S 164) in eine Reihe mit schriftsprachlichen Mitteln zur Erzeugung ›sekundärer Oralität‹ zu stellen.381 Neben der grundsätzlichen Dialogorientierung des Romans zählen dazu eine verkürzte, wenig komplexe (zum Beispiel »Ja, ich weiß, sagte Alexej«, S 64) und mitunter elliptische Syntax (etwa »Beide ... offenbar«, S 262), die häufige Adressierung des Gegenübers (wie »Weißt du«, S 122) sowie kolloquiale Einschränkungspartikel (etwa »Ich habe mal, einen Augenblick, warten Sie, hier ist ein Zettel ...«, S 264). Hinzu kommen syntaktische Parallelismen und Redundan-
378 Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. 3., neu bearbeitete Auflage. (Grundlagen der Germanistik 33) Berlin 2006, S. 118. 379 Vgl. J. Schwitalla, Gesprochenes Deutsch, S. 118–128. 380 Jörg Döring: »Redesprache, trotzdem Schrift«. Sekundäre Oralität bei Peter Kurzeck und Christian Kracht. In: Jörg Döring u. a. (Hg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Opladen 1996, S. 226–233, hier S. 227. 381 Vgl. dazu allgemein J. Döring, insbesondere S. 229–231. Döring bezieht sich hier auf den in Walter Ongs Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes eingeführten Begriff der ›Sekundären Oralität‹: »Sekundär oral deshalb, weil die heutige Kultur sich nicht künstlich naiv als schriftunkundige hinstellen kann«, J. Döring, S. 227.
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zen (vgl. S 122), Verschleifungsvorgänge im Redefluss (vgl. S 262–263), Interjektionen (etwa »äh«, S 260) und Kontaminationen des jeweiligen Hauptgesprächsgegenstands durch mehr oder weniger abschweifende Assoziationen (siehe S 263). Gleichwohl baut der Text Auslassungspunkte nicht lediglich in Figurenrede ein, sondern weiß sie auch für die Figureninnensicht zu nutzen, wie etwa folgendes Beispiel verdeutlicht. Du hast immer noch kein Gleichgewicht gefunden ... vielleicht hast du ohnehin nie eines besessen ... deshalb bist du ja in all das hineingeraten ... fahr also nicht dorthin ... nein, fahr nicht hin! (S 108)
Dieser Abschnitt aus einer Figureninnensicht Christoph Mais, die der Text zuvor explizit als solche markiert (»Was in seinem Kopf vorhanden war, hätte man schwerlich als Gedanken bezeichnen können.«, S 107), greift auf Anakoluthe zurück, die einerseits den Abbruch von Mais Gedankengang markieren, zum anderen in Kombination mit dem Modus eines Du-Erzählers dennoch erstens den Effekt einer Gesprächssituation und der damit verbundenen Mündlichkeit erzeugen. Zweitens ist »der Sprecher der Äußerung nicht eindeutig zu lokalisieren«,382 da die Äußerung sowohl Mai als auch dem Erzähler zugeordnet werden könnte – ein Irritationseffekt der Erzählinstanz, den ebenso eine Passage im Abschnitt ›Ein Tag im Leben Merle Johanssons‹ erzeugt: Man kann nicht sagen, daß sie ihren Sohn dabei unterstützte, aufzustehen ... sie hatte auch eigentlich kein größeres Interesse daran ... sie fand es ja eigentlich blöd, daß er in den Kindergarten mußte ... andererseits fand sie es auch wieder gut ... es hatte Vor- und Nachteile ... es war schön, mit ihm zusammenzusein ... andererseits konnte man einige Sachen nicht oder nicht so gut machen, wenn er da war ... einige Sachen konnte man nur allein machen ... (S 180)
Auch dieser Abschnitt widerspricht dem »Vorstellungsbild von Geschlossenheit einer von schriftlichen Texten herkommenden Grammatik« 383 und erzeugt mittels Auslassungspunkten die für gesprochene Sprache typischen Konstruktionsschwierigkeiten im Zeichen von Vorläufigkeit und Unverbindlichkeit. Dabei spielt der syntaktische Konstruktionsabbruch am Ende der zitierten Passage auf nicht näher genannte Zusammenhänge an, lässt diese aber in Kombination mit der wenig präzisen, gleichwohl wiederholten Semantik (›einige Sachen‹) gezielt offen. Die durch die Auslassungspunkte markierten Anakoluthe signali-
382 Barbara Korte: Das Du im Erzähltext. Kommunikationsorientierte Betrachtungen zu einer vielgebrauchten Form. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 19 (1987), S. 169–189, hier S. 180. 383 J. Schwitalla, Gesprochenes Deutsch, S. 118.
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sieren dabei, dass Merle die vermutlich ›heiklen Dinge‹, die sie (sich selbst) sagen will, »nur mühsam hervorbringt«.384 Die damit konnotierte ›Wahrung des eigenen Gesichts‹ lässt mithin vermuten, dass die elliptische Satzkonstruktion mit einer Verschränkung von Figureninnensicht als Dialog und Erzählerbericht einhergeht. Dem Wechsel des Personalpronomons ›sie‹ in das allgemeine, unpersönliche ›man‹ korrespondiert das Aufbrechen von Merles Selbstgespräch, das dieses in einen Dialog zwischen Erzähler und Leser transformiert. Das Medium dieser Verschränkung der Dialog- oder literarischen Kommunikationsebenen385 sind die Auslassungspunkte, denn sie erzeugen jene Leerstelle, der sich schließlich der Leser schriftbildlich gegenüber konfrontiert sieht. So wie das in Aufzählungen eingesetzte ›etcetera‹ »verschiedene Arten von Unabgeschlossenheit und Fortsetzbarkeit« 386 anzeigen kann, so stehen Auslassungspunkte in Sanssouci mithin nicht nur im Zeichen eines »semi-oralen Stiles«.387 Insofern sie an das Medium Schrift gebunden sind, sich mithin gerade nicht erzählen lassen, »jedenfalls nicht mündlich«,388 erhalten Auslassungspunkte in Maiers Roman auch und gerade eine Funktion jenseits des Erzeugens von Mündlichkeitseffekten. So sehr Auslassungspunkte auch auf Leerstellen hinweisen, in medialer Hinsicht sind sie zunächst und vor allem eines: typographische Formen. In peritextueller Perspektive erweisen sie sich in Sanssouci als organisierende, durchaus textstrukturierende Elemente, die einzelne Szenen voneinander abgrenzen, ja mitunter die Funktion von Absätzen übernehmen (vgl. etwa besonders prägnant S 180) oder mit diesen kombiniert werden können (siehe zum Beispiel S 105). Hinzu kommt, dass die im Medium Schrift markierten Anakoluthe nicht nur auf Konstruktionsschwierigkeiten hinweisen, sondern umgekehrt bestimmte Aspekte der jeweiligen Figurenrede (oder des Erzählerberichts) geradezu betonen und hervorheben. Wenn etwa Christoph Mai in einem Gespräch mit Maja bemerkt, »in solchen Augenblicken läßt man lieber anderen den Vortritt, all denen, die ein bestimmtes ... wie soll ich sagen ... die ein bestimmtes Interesse an Beerdigungen haben« (S 122), dann heben die Auslassungspunkte die Passage insofern auf eine selbstreflexive Ebene, als es sich bei dem von
384 J. Schwitalla, Gesprochenes Deutsch, S. 128. 385 Vgl. allgemein Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. (Narratologia 3) Berlin u. New York 2004, S. 14. 386 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 10. 387 J. Döring, S. 227. 388 Thomas Wegmann: Metafiktionen oder Über das Erzählen erzählen. In: Alf Mentzer u. Ulrich Sonnenschein (Hg.): 22 Arten, eine Welt zu schaffen. Erzählen als Universalkompetenz. Frankfurt a. M. 2008, S. 152–165, hier S. 156.
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Mai thematisierten, durch die Anakoluthe betonten ›Interesse‹ um einen Aspekt handelt, den Maier selbst in seinen literaturprogrammatischen Kommentaren immer wieder betont und als wesentlichen Gesichtspunkt seiner pejorativ konnotierten Konzeption von Kommunikation versteht. Besonders auffallend ist in diesem Zusammenhang die Wiedergabe der direkten Rede von Kulturamtsleiter Meckel während der Versammlung im Potsdamer Rathaus. Dort heißt es in einer Passage: Und gerade um uns von dieser oft subjektiven, manchmal sogar eitlen Sicht zu befreien, muß man ... also ... kann man ... er wolle sagen ... wünschen wir uns ja gerade diese Widerstände in der Kunst. Ohne Widerstände keine Kunst. (S 221–222)
Die Auslassungspunkte markieren hier zunächst wiederum die für Mündlichkeit typischen Anakoluthe, also mehrfache Konstruktionsabbrüche und -wechsel: Meckel unterbricht und korrigiert sich, um die richtige Formulierung zu finden. Bemerkenswert ist gleichwohl, dass die Konstruktionsschwierigkeiten mit der Thematisierung künstlerischer Schwierigkeiten zusammenfallen, ja es scheint, als ob sich in Meckels direkter Rede und damit im Text selbst ein solcher ›Widerstand in der Kunst‹ realisieren würde. Die direkte Rede des Kulturamtsleiters erzeugt gleichsam – als Teil eines Kunstwerks – den Widerstand, den sie selbst anspricht. Wichtig ist mithin, dass Meckel keineswegs von einem ›Widerstand der Kunst‹ redet, sondern von einem ›Widerstand in der Kunst‹, den er genau dadurch gleichsam performativ erzeugt. Die drei Auslassungspunkte ›sind‹ dieser Widerstand von außen, der den Abbruch im und durch das Kunstwerk (Sanssouci) literarisch im Medium der Schrift peritextuell erzeugt. Sie stehen damit nicht nur im Dienste der Vorläufigkeit, sondern vollziehen zugleich das thematisch Verhandelte. Neben den Auslassungspunkten als Elementen der vermeintlich schriftbildlichen Umsetzung eines narrativen ›Wimmelbildes‹ finden sich in Sanssouci vereinzelt Passagen, die gerade durch ihr zerstückeltes Umfeld in ihrer syntaktischen wie semantischen Dichte auffallen. Von Bedeutung sind diese Passagen deshalb, weil sie in einem Zusammenhang mit einem Verfahren stehen, das dafür verantwortlich ist, dass sich die Funktion von Kapiteln und Abschnitten nicht nur auf die peritextuelle Ebene beschränken lässt. Von besonderer Relevanz ist dabei die Erzählinstanz von Maiers Roman. Mit deren Position hat sich die Forschung eingehend beschäftigt, wobei im vorliegenden Zusammenhang insbesondere Wäldchestag und Klausen aufschlussreich sind, stellt sich doch im Vergleich mit diesen beiden Romanen der Kontrast zu Sanssouci besonders deutlich ein. Erzählt Maiers Debüt Wäldchestag davon, »wie im Raum der dörflichen Gemeinschaft ein Gerücht nach dem anderen über den verstor-
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benen Adomeit entsteht, weitergesponnen und verworfen wird«,389 setzt sich der Roman aus Vermutungen zusammen, die im Zeichen der »Verwirrung des Lesers« 390 stehen. Dass von der durchaus eingespielten »neutrale[n] Ordnungsinstanz« 391 demnach »nicht plausibel gemacht werden kann, wer sie sei«,392 bindet die thematisch entfaltetete Gerüchtestruktur durch die kontinuierliche Auflösung der verschiedenen, sich als unzuverlässig erweisenden Erzählerkonstruktionen an den discours des Textes zurück: »Der Roman funktioniert [...] selbst als Gerücht«.393 Analog löst sich in Klausen die um Aufhellung bemühte, scheinbar auktoriale Erzählinstanz auf, insofern der zwischen Figur und Stimme oszillierende Erzähler auch hier gerade nicht ›über‹ dem GerüchteGeschehen positioniert ist. Er reproduziert nicht lediglich die Gerüchte, »die ordnende Quelle ist selbst ein Gerüchteverbreiter«,394 ja der Erzähler »gibt auch nur eine der möglichen Meinungen wieder«.395 Während sich die Erzähler in Wäldchestag und Klausen »nicht über die eigenen Prämissen [erheben; DCA]«,396 sie also dem entfalteten Gerede auch selbst nicht entgehen, ist mit Blick auf Sanssouci auffallend, dass der Text bereits von Beginn an immer wieder mit entschiedener Vehemenz versucht, eine auktoriale Erzählinstanz durchzusetzen – ohne deren Beobachterposition an anderen Stellen zu relativieren und zu unterlaufen. Besonders markant ist neben der Markierung einer narrativen Wiederholung – »Wie gesagt hatte sie Hornung sehr gemocht.« (S 11) –, eines Zeitsprungs – »Wenn wir nun die nächste Stunde an diesem Tag überspringen« (S 181) – und dem Hinweis auf eine Figur »aus dem letzten Kapitel« (S 235) die folgende Stelle: Verschiedene Stimmungen sind bei solchen Zusammenkünften denkbar. Man erwartet von dem Geschehen im Saal, daß es einen unterhält oder interessiert. Vielleicht kommt man, um andere zu treffen. Oder man wünscht sich einfach, daß etwas möglichst Unvorhergesehenes passiert, ein Zwischenfall, vielleicht sogar etwas Unerhörtes und am Ende gar ein richtiger Skandal. Gerade die alteingesessenen Potsdamer gingen fast notwendigerweise von letzterem aus. Hornung wurde in der Stadt zu unterschiedlich bewertet, als daß es nicht zu Streitereien kommen mußte. Im Grunde erwartete man von dem heutigen Tag, daß die ganze Hornungsache binnen einer Stunde mit großem Getöse an die Wand gefahren würde. (S 219)
389 390 391 392 393 394 395 396
T. Köppe, S. 129. Y. Hütter, S. 108. Y. Hütter, S. 106. Y. Hütter, S. 106. Y. Hütter, S. 108. Y. Hütter, S. 123. Y. Hütter, S. 123. Y. Hütter, S. 141.
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Von Bedeutung ist diese Passage zunächst deshalb, weil sie die vom Text entfalteten Kommunikationszusammenhänge explizit thematisiert, diese als spezifische Sozialform einordnet, mit Publikumserwartungen konfrontiert und die Situation insgesamt schließlich bewertet, um auf diese Weise gleichzeitig die Position des Erzählers sichtbar werden zu lassen. So sehr dieser außerhalb der ›Zusammenkunft‹ positioniert zu sein scheint, so sehr stellt sich dabei die Frage, auf wen das Personalpronomen ›man‹ hier referiert. Im ersten Teil der zitierten Passage hat es den Anschein, als ob es sich im Modus eines inkludierenden ›wir‹ an den Leser richtet. Im weiteren Verlauf wird die Inklusion indes zurückgenommen und das Pronomen auf das Potsdamer Publikum in der fiktionalen Realität projiziert, so dass die Passage reale und fiktionale Realität ineinander blendet. Auch das Kapitel ›Oststadt (Fortsetzung)‹ setzt mit einer Reflexion über die Struktur (öffentlicher) Kommunikation ein. Zum Wesen des öffentlichen Gesprächs gehört, daß es nie abreißt. Das eine oder andere Thema (die eine oder andere Person) kann zwar für eine Weile aus den Schlagzeilen verschwinden, führt aber ein Untergrundleben weiter, in diesem Raum, in jener Redaktion, in jener Wirtschaft ... So kann einer wie Max Hornung wochenlang aus den öffentlichen Blättern und dem Fernsehen verschwunden sein, und doch taucht er nach einiger Zeit wieder aus dem Untergrund auf, weil das Gespräch über ihn so kulminiert, daß es mit aller Gewalt die Oberfläche durchstößt, wie Moby Dick im letzten Kapitel des gleichnamigen Buches. (S 256)
Der Erzähler, der hier spricht, ist offensichtlich nicht in die Kommunikationsstruktur des Romans selbst einbezogen, sondern befindet sich als Beobachter zweiter Ordnung auf einer Ebene jenseits des ›öffentlichen Gesprächs‹. Das Wuchern der kommunikativen Einheiten wird dadurch zwar nicht durch eine übergeordnete Instanz in seine Schranken verwiesen, aber es wird beobachtet und reflektiert. Mit der Beschreibung des Prozesses öffentlicher Kommunikation anhand der Raum-Semantik von ›Oberfläche‹ und ›Untergrund‹ assoziiert der Text dabei zum einen die für Lektüren im Modus des Schlüsselverfahrens notwendige Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung. So wie Schlüsselliteratur auf »Strategien der Verhüllung« 397 zurückgreift, so ›verhüllt‹ der Roman eine gleichwohl immer wieder thematisierte histoire-Ebene mit den präsentierten Kommunikationszusammenhängen. Zum anderen inszeniert der Text mit der zitierten Passage nämlich einen Selbstkommentar auf seine Form, die nicht zuletzt ebenen jene symmetrisch angelegte räumliche Struktur von ›oben und unten‹ textorganisierend einsetzt. So heißt es nicht nur von Hornung und Malkowski, sie hätten beziehungsweise würden jeweils ein
397 G. M. Rösch, S. 8.
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»Doppelleben« (S 53 bzw. 141) führen, auch kreisen die in Potsdam geführten Gespräche wiederholt um ein »weitverzweigtes, geheimnisvolles Gangsystem unterhalb der Parkanlage« (S 169) von Sanssouci, ja die Rede ist gar von einem unbestimmten »Unglückspark« (S 109). Und entsprechend mag das »Gestrüpp« (S 169), das den Zugang zu den »unterirdischen Gängen« (S 273) verstellt, als allegorisch für die »eigenartig miteinander verwoben[e]« (S 277) Struktur des Textes verstanden werden.398 In dieser Hinsicht expliziert die Passage die Erzähler- oder Beobachterinstanz, die zwischen den beiden Ebenen unterscheiden kann, ja eine Asymmetrie in die Unterscheidung einführt und somit die in »Gesprächen« (S 18) thematisierten »Sache[n]« (S 33) und »Dinge« (S 45) und die ›tatsächlichen‹ Begebenheiten auseinanderzuhalten vermag. Muss sich die Differenzierung von öffentlich verbreiteten »Vermutung[en]« (S 144) und »Wahrheit« (S 43), wie sie Sanssouci in Szene setzt, mithin in der Beobachtung der vom Erzähler erzeugten Unterschiede zwischen beidem »auf die Konstruktionen von Rahmenbedingungen und deren autoritative Ansprüche konzentrieren«,399 gerät die Form der Kapitel und Abschnitte des Romans in den Blick. So rückt die unterste, dritte Strukturebene der Abschnitte neben deskriptive Orts- und Zeitangaben wie »Hornungs Haus« (S 50) und »Jene Nacht« (S 41) solche immer kursiv gesetzten thematischen Zwischentitel, die den Inhalt des jeweiligen Abschnitts spezifisch kommentieren. Dazu zählt etwa »Eine neue Bekanntschaft« (S 61), »Ein russischer Esel« (S 141) oder »Geisterstunde« (S 136). Insofern grundsätzlich alles andere als eindeutig ist, auf welcher diegetischen Ebene Zwischentitel angelegt sind, wem sie also zugerechnet werden können, irritieren die so in Form gesetzten Abschnitte nicht unerheblich die Unterscheidung von Autor und Erzähler. In (homodiegetischen) Erzählungen in der ersten Person werfen Zwischentitel die Frage auf, »von wem sie geäußert werden«.400 Sind die Titel demnach in der dritten Person verfasst, werden sie eher dem Autor zugeschrieben; Titel, die auf die erste Person zurückgreifen, werden demgegenüber gewöhnlich dem Ich-Erzähler zugeordnet, der damit gleichsam zum Autor wird – und den ›tatsächlichen‹ Autor in die Rolle des Herausgebers drängt.401 Ist im Falle Sanssoucis bereits dadurch einer
398 Dass in diesem Zusammenhang genannte »Gestrüpp« (S 169), das vor dem Eingang des Gangsystems wuchert, lässt sich lesen als intertextueller Verweis auf das Kalkwerk. Vgl. N. Binczek, ›Vom Hörensagen‹, S. 87–88. 399 H. Pompe, S. 133. 400 G. Genette, S. 288. 401 Vgl. G. Genette, S. 288–289. Vgl. zum Zusammenhang von Autor- und Herausgeberschaft Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. (Trajekte) München 2008, insbesondere S. 186–189.
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eindeutigen Zuordnung der Weg versperrt, weil die Zwischentitel ohne finite Verben auskommen, steht deren Funktion nicht nur im Zeichen der paratextuellen Leserlenkung, sondern durchaus auch im Dienste des vom Text entfalteten ›Wimmelbildes‹ – eines ›Durcheinanders‹ mithin, das die Unterscheidung zwischen Erzähler und Autor spezifisch ins Schwimmen bringt. Dringt mit der bereits zitierten Benennung einer sich verselbständigenden »Person aus dem letzten Kapitel« (S 235) gleichsam der peritextuelle, außerdiegetische Rahmen des Romans in die von diesem entworfene fiktionale Realität ein, um so die Unterscheidung der diegetischen Ebenen zu unterlaufen, sind vor allem solche Zwischentitel aufschlussreich, die rhematische Elemente enthalten.402 Titel wie »Ein Tag im Leben Merle Johanssons (Ende)« (S 197) und »Oststadt (Fortsetzung)« (S 256) stehen zwar einerseits im Zeichen der strukturierenden Ordnung und Leserlenkung. Andererseits zieht ihre Position als Zwischentitel, von denen nicht sicher ist, wem sie zuzuschreiben sind, sie in die fiktionale Realität und die sich dort entwickelnden Kommunikationsprozesse. Die rhematischen Elemente – ›(Ende)‹ und ›(Fortsetzung)‹ – bezeichnen dabei nicht nur die Kapitelfolge Sanssoucis. Sie stehen zudem im Zeichen der mit Hornungs Lokalserie auf der histoire-Ebene des Romans verbundenen, innerfiktionalen Überblendungen realer und fiktionaler Realität. So erklärt Christoph Mai dem orthodoxen Mönch Alexej die Potsdamer Serie wie folgt: Ja, das ist die Vorabendserie, die er hier gemacht hat. Sie ist in der Stadt sehr umstritten, hat aber viele Fans. Wir kommen alle darin vor, ich auch. Ich weiß, wie Max gearbeitet hat. Er brauchte immer Vorbilder, die hat er eins zu eins in seine Serie hineingeschnitten. Es gibt eine Figur, Eduard von Mayerlingk [sic!], die trägt eindeutig Züge von mir. (S 65)
Gleichsam symmetrisch angelegt, korrespondiert jeder in der Serie entworfenen Figur ein »Vorbild« (S 65) in der realen Realität Potsdams, ja mehr noch: Die ›realen‹ Personen fungieren als Laiendarsteller, die ›fiktionale‹ Figuren darstellen, so dass sie gleichsam »eins zu eins in [...] [die; DCA] Serie hineingeschnitten« (S 65) werden. Zudem weist der Text auf Konvergenzen zwischen Potsdam und Oststadt hin: »Beide Namen klangen ähnlich, hatten gleiche Vokale: Potsdam, Oststadt, und auch die Konsonanten ähnelten sich stark: ein scharfer ts- bzw. st-Laut.« (S 212). Dass diese symmetrische Konstellation nicht nur ein erhebliches »Identifikationspotential« (S 212) birgt, sondern mitunter zu Irritationen führen kann, liegt auf der Hand, wie etwa folgender Dialog zwischen Heike, Wenk und Overbeck verdeutlicht.
402 Vgl. zur Unterscheidung von thematischen und rhematischen Titeln G. Genette, S. 82–89. Siehe zu Zwischentiteln allgemein G. Genette, S. 281–303.
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Wenk: Kennen Sie nicht Herrn Eisenmann? Also, er meine, Herrn Overbeck? Aus Oststadt, der aus dem Schlaatz. Sie, zu Overbeck: Sie sind aus der Serie? Ich bin auch aus der Serie. Overbeck, interessiert: Aha. Und wer sind Sie? Sie: Richter. Ich bin die eine Richter. Sie wissen doch, die Zwillinge. Overbeck: Von den Zwillingen blieb ich bislang gottseidank verschont. (S 213)
Das Unterlaufen der Unterscheidung zwischen realer und fiktionaler Realität führt zum Aufspalten und Kollabieren der entworfenen Identitäten, so dass das im letzten Satz dieser Passage bezeichnete ›ich‹ nicht mehr eindeutig einer der beiden Seiten der Unterscheidung zugeschrieben werden kann. Ihren Kulminationspunkt finden die so angelegten fiktionalen Irritationen durch »szenische Lesung[en] von frühen Oststadtfolgen« (S 231), wie sie eine Protestbewegung des ›subversiven‹ Potsdamer Kulturbetriebs gegen die Potsdamer Garnisonkirche durchaus mit dem Ziel einer Aufwertung der in die Kritik geratenen Serie veranstaltet: »Man wollte dem offiziellen Kulturbetrieb in der Stadt nicht die Deutungshoheit über die Serie überlassen« (S 210). In diesem Kontext heißt es: Die Veranstaltung begeisterte die zumeist jungen Zuschauer, auch wenn miserabel vorgelesen wurde. Oststadt war unter ihnen schon längere Zeit Kult. Man las die Dialoge wie Schlüsseltexte, wobei jeder Satz eine zweite Bedeutung bekam. Im Publikum wurde alles verstanden, viele Sätze bekamen Applaus. In Folge zwei zum Beispiel sagt die Figur Lutz Beinow bei ihrem allerersten Auftritt in der Serie: »Ich komme hier eigentlich nie her.« Der Satz wurde stürmisch bejubelt. Man sah darin einen grandiosen Ausdruck für die absolute Provinzialität Potsdams. »Ich komme hier eigentlich nie her« beinhaltete aber noch mehr. Spott darüber, wie die Stadt, der Magistrat und Teile der Bürgerschaft durch Projekte wie Wiederaufbau des Schlosses oder der Garnisonkirche Anschluß an frühere Berühmtheit zu finden versuchten. (S 232)
In dieser Passage konfrontiert der Text zum einen sein eigenes Schlüsselverfahren mit der innerfiktionalen Thematisierung nicht nur des Verhältnisses von realer und fiktionaler Realität, sondern auch und gerade mit dem Modus einer Schlüssellektüre, die zwischen Inklusivität und Exklusivität differenziert und dem eingeweihten Publikum ein Verstehen jenseits des Expliziten ermöglicht. Die Lesart der ›realen‹ Abrechnung des Autors mit den Umständen und Akteuren der gescheiterten Vergabe des Literaturstipendiums wird auf diese Weise in einen innerfiktional aufgespannten selbstreflexiven Rahmen zurückgebunden, mithin literarisch relativiert. Zum anderen handelt es sich um die Vorführung einer pragmatischen Funktionalisierung eines Kunstwerks. Nicht ›interesseloses Wohlgefallen‹ steht im Zentrum der Lesungen, sondern die Strategien und Motive der Protestbewegung, die Hornungs Serie für ihre spezifisch ›subversiven‹ Interessen gleichsam korrumpiert. Zusammengeführt wird die so entfaltete re-entry-Figur der innerfiktionalen Unterscheidung von realer und fiktiona-
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ler Realität in den Rathaussitzungen. Dort kommt es wiederholt zu intensiven Dialogen: Friedrichsen: Sie [Hornungs ›Oststadt‹; DCA] wird, soweit ich weiß, als Lächerlichmachung der Stadt aufgenommen bzw. als realsatirische Darlegung dessen, was in unserer Stadt, wie wir ja alle wissen, der Fall ist. Der Magistratsvorsitzende: Für die einen ist Oststadt eine Unverschämtheit, für die anderen die Wahrheit. Der Oberbürgermeister: Die Wahrheit ist in den allermeisten Fällen die schlimmste aller Unverschämtheiten. Aber ich konnte stets damit leben. Die Öffentlichkeit ist eine Form des Wahnsinns, das ist uns allen klar, das ist der erste Satz, den man als Politiker lern, und der letzte, der je diese vier Wände hier verlassen darf. Kommen Sie bitte zum Punkt. Was ist das eigentliche Skandalon? Frau Kupski: Ich sage noch einmal, es geht nur darum, welche Geschichte erzählt werden wird. Welche Zusammenstellung der Motive klingt am spektakulärsten? Der OB: Und? Welche? Frau Kupski: Potsdamer Künstler läßt Kind durch Stadt finanzieren. Der OB: Wie denn das? Kupski: ... indem er sich über die Stadt lustig macht. Der OB: Oje. Oje, ich beginne zu verstehen. Kupski: Ich vermute sogar, daß er damals nur deshalb nach Potsdam gekommen ist. Und daß die Serie von Anfang an dafür erfunden war, das Geld für die Frau zusammenzubekommen. Der OB: Um diesen Mai zu entlasten? Sie: Könnte man sagen. Der OB: Das macht doch kein vernünftiger Mensch! Das ist doch keine Oststadtfolge hier! Die Kupski: Tja, Wer weiß das? (S 266–267)
Der hier nur als Ausschnitt zitierte Kommunikationsprozess im Rathaus greift mit der Unterscheidung von ›Wahrheit‹ und ›Gerede‹ einen zentralen Aspekt von Maiers Programm auf und transformiert sich damit in einen gleichsam performativ realisierten selbstreflexiven Kommentar. Dabei trägt indes nicht nur die Thematisierung dieser Programmpartikel zum innerfiktionalen Kollabieren der Unterscheidung bei. Es ist vielmehr die für eine szenische Lesung typische Darstellungsform, die eine Zirkularität zwischen histoire und discours erzeugt. In dramatisierter Wiedergabe direkter Rede, die in ihrer Form auch als Drehbuch der ›Oststadt‹-Serie funktionieren könnte, thematisiert die Passage einerseits wiederum den Unterschied zwischen Realität und Fiktion, lässt eben diesen aber gleichwohl andererseits selbst performativ kollabieren. Die in dieser Hinsicht mittels Auslassungspunkten und peritextueller Kapitelstruktur angedeutete Konfrontation von ›Durcheinander‹ und ›Strukturiertheit‹ zieht Sanssouci sowohl auf der discours- als auch auf der histoire-Ebene konsequent durch. Dabei greift der Text auf Verfahren zurück, die zum einen seine Makro- und zum anderen seine Mikro-Ebene betreffen. So wird mit Blick
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auf die Gesamtanlage des Romans das ›Wimmelbild‹ mittels einer spezifischen Form von Episoden-Bildung erzeugt. Im Zentrum der Abschnitte steht gewöhnlich jeweils eine Figur, was dazu führt, dass die histoire im Überblick kontinuierlich alterniert. Je nach Zählung entfaltet Sanssouci auf diese Weise bis zu acht verschiedene Perspektiven, die auch in der Zusammenschau nur ein angedeutetes einheitliches Bild zulassen.403 Dennoch finden sich durchaus auch wiederum strukturierende Formelemente. So wird der jeweilige Protagonist eines Abschnitts zu Beginn explizit benannt. Häufig setzen die Abschnitte dazu nicht nur mit der Nennung der Figur ein, der Text platziert auch immer wieder den Namen derjenigen Figur, die das Unterkapitel dominiert, als syntaktisches Subjekt oder sogar als erstes Wort: zum Beispiel im Unterkapitel »Auf eine Bionade«, das durch »Maja Pospischil« eingeleitet wird (S 116), im Unterkapitel »Wieder in Sanssouci«, das mit »Christoph Mai« beginnt (S 106), oder im Unterkapitel »Ein Tag im Leben Merle Johanssons«, das mit »Merle Johansson[ ]« (S 175) einsetzt. Von Relevanz sind in diesem Zusammenhang die Abschnitte der Rathaussitzungen; dies nicht so sehr deshalb, weil dort keine Figurenperspektive dominiert, sondern weil das ansatzweise Zusammenführen der Erzählstränge nicht etwa das ›Wimmelbild‹ auflöst. Gerade hier erweist sich die Frage, »[w]ovon [...] dieser Roman eigentlich [handelt; DCA]«,404 als besonders relevant. Durchaus in Kontinuität zum Wäldchestag lässt sich auch mit Blick auf die Dialoggestaltung Sanssoucis feststellen, dass die meisten, von »monologische[n] [...] Sprecher[n]« 405 dominierten Gespräche zu heftigem Streit führen oder in verbittertem Schweigen enden, jedenfalls am wechselseitigen Nicht-Verstehen scheitern.406 Wir, die fröhliche Klitsche, rief begeistert der kleine Michael Schwarz mit seiner Baßstimme und traf damit die Meinung nicht weniger im Saal. Mähähä, machte Pöhland. Overbeck drehte sich empört um, weil jemand aus der Gruppe seiner jungen Anhänger wie eine Ziege meckerte. Er entzog ihm innerlich sein Patronat.
403 Dazu zählen Hornung, Anni Schmidt, Alexej, Merle Johansson, Arnold und Heike, Maja Pospischil, Christoph Mai, Nils, Grigorij, Ludwig Hofmann, Anastasia Hofmann und Heiko Malkowski. 404 So die Formulierung von Buch der Woche. Sanssouci. In: Die Welt vom 10. Januar 2009. Der Roman stelle den Leser auf eine Probe, »dass man am Ende verzweifelt sein Hirn an die Wand zu werfen geneigt ist.« 405 J. Schwitalla, Sprach- und Dialoggestaltung in Andreas Maiers Roman Wäldchestag, S. 188. 406 Vgl. J. Schwitalla, Sprach- und Dialoggestaltung in Andreas Maiers Roman Wäldchestag, S. 188. Allerdings gilt es hier zu berücksichtigen, dass das Scheitern sich nur auf der Ebene der Selbstbeschreibung der Gespräche vollzieht, denn operativ läuft die Kommunikation weiter.
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Buchhändler Wenk hielt sich mit wachsender Verzweiflung die Hände vor das Gesicht. (S 222–223)
Zunächst fokussiert der Text in dieser Passage im Modus eines short-cut-Verfahrens mit jedem neuen Satz auf eine andere Figur (Schwarz – Pöhland – Overbeck – Wenk). Dem schnellen Wechsel des Fokus’ korrespondiert eine auditive Semantik (›rufen‹, ›Baßstimme‹, ›meckern‹), die gegen Overbecks Perspektive gesetzt ist. Die Passage mündet in Wenks wachsender Verzeiflung über die schließlich nur noch als ent-semantisierte ›Stimmen‹ oder ›Laute‹ (Pöhlands ›Mähähä‹) sich generierende Versammlung, in der die einzelnen Wortbeiträge vom Erzähler nicht mehr zugeordnet werden können. So heißt es immer wieder unbestimmt: »rief es aus dem Saal« (S 222), »rief eine andere Stimme« (S 222) oder »Manche sprangen auf und riefen« (S 222). Mit Blick auf die Mikro-Ebene der einzelnen Szenen lassen sich mithin zwei Verfahren des Erzeugens und Darstellens von ›Durcheinander‹ unterscheiden. Das erste Verfahren ist eine Variante des »Foregrounding«,407 bei dem der Text sich aus dem ›Wimmelbild‹ einer Szene einzelne Akteure herausgreift, um diese dabei zu zeigen, wie sie sich entweder an dem ›Gerede‹ selbst durch Beiträge beteiligen (Schwarz) oder dieses von einer »isolierte[n] Bühne« 408 aus beobachten (Overbeck). Dabei werden die beteiligten Personen mitunter so schnell gewechselt, ja der Text beschränkt sich auf die elliptische Nennung des Personalpronomens, »dass daraus der massendynamische Effekt eines Gewimmels oder Tumults von kaum noch wirklich unterscheidbaren Parteiungen und Interessen entsteht«.409 Das zweite Verfahren steht dieser zum Teil auch paratextuell erzeugten, dramatisierten Zerstückelung der Szenen in direkte Rede konträr gegenüber. Durch die Raffung des Geschehens und des Geredes, zum Teil verbunden mit Konjunktiv und einer spezifischen Semantik der Quantitäten, tritt eine souverän ordnende Erzählinstanz auf. Verdeutlichen lassen sich beide Verfahren auch an folgendem Abschnitt: Immer mehr Stimmen wurden hörbar. Man nahm die Beiträge amüsiert zur Kenntnis, manch einem trieben sie allerdings auch Scham und Schweiß ins Gesicht. Für viele ent-
407 Jürgen Link: Schiller und die Revolution. Über die Aporien der interaktionistischen Einbildungskraft. In: Friedrich Balke u. a. (Hg.): Zeit des Ereignisses – Ende der Geschichte? (Materialität der Zeichen 9) München 1992, S. 69–88, hier S. 72. 408 Rolf Parr: »Die Welt fleußt gleich dem Strome her«. Modelle von Massendynamik bei Wilhelm Raabe. In: Søren R. Fauth u. a. (Hg.): »Die besten Bissen vom Kuchen«. Wilhelm Raabes Erzählwerk: Kontexte, Subtexte, Anschlüsse. Unter Mitwirkung von Andreas Hjort Møller. Göttingen 2009, S. 43–62, hier S. 47. 409 R. Parr, »Die Welt fleußt gleich dem Strome her«, S. 45.
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sprach das, was sie hier gerade erlebten, ihren Erwartungen. Es erhoben sich allerdings auch andere Stimmen, die völlig unerwartet waren. Heiße man, rief jemand (wer es rief, war nicht auszumachen), neuerdings Prostitution von Minderjährigen gut? Protegiere die Stadt solche Dinge? Wir wollen wissen, was Hornung wirklich für einer war! Das stieß auf allgemeine Verwunderung. Hier und da wurde sogleich die Frage laut, was denn der Magistrat bzw. Hornung oder wer auch immer mit Prostitution und mit Minderjährigen zu tun habe. Viele lachten, die meisten äußerten, man müsse da etwas mißverstanden haben, einige aber forderten sofortige Aufklärung, und all das geschah so rasch, daß Meckel vorn an seinem Tisch gar nicht begriff, was gerade erörtert wurde. Er dachte fieberhaft nach. Ihm war unverständlich, wieso das Wort Prostitution im Saal zu hören war. (S 223–224)
Der Abschnitt lässt sich in vier Teile gliedern. Im ersten Teil rafft ein Erzähler das Geschehen im Modus quantitativer Steigerung zusammen. Der unbestimmten Sprechaktzuweisung korrespondiert dabei die auf die Anzahl der Anwesenden abhebende Semantik. Der zweite Teil nach dem ersten Absatz gibt im Modus dramatisierter direkter Rede die Beiträge einiger Beteiligter wieder, so dass der dritte Teil wieder zurück auf die Ebene der quantifizierenden Raffung gehen kann. Gleichwohl im zweiten Teil zwischen einzelnen Sprechern unterschieden wird, sieht der Text hier eine Individualisierung der Figuren nicht vor. Die Parataxe setzt auf kurze Sätze, die im elliptischen short-cut-Verfahren aufeinander folgen. Während dort Absätze zur Markierung der unterschiedlichen Sprecher gesetzt werden, handelt es sich demgegenüber sowohl beim ersten als auch beim dritten Teil um einen Textblock, in dem indirekte Rede und Hypotaxe zum Einsatz kommt. Das unpersönliche ›man‹ ermöglicht auch hier keine Zuordnung der Sprechakte zu einem Beobachtersubjekt, was durch die Semantik der Quantität (›viele‹, ›einige‹) und die diffus im Raum verorteten Stimmen (›hier‹, ›da‹) unterstützt wird. Der vierte und letzte Teil bindet die Szene schließlich zurück an die Figur des Kulturamtsleiters Meckel, ja verlegt sich auf die in kommunikativer Systemreferenz weder relevante noch zugängliche Innenperspektive der Figur. Dem auf der discours-Ebene Sanssoucis erzeugten, wiederholt an eine auktoriale Erzählinstanz zurückgebundenen ›Wimmelbild‹ entspricht auf der Ebene der histoire die Konfrontation der kontinuierlichen Thematisierung unterschiedlicher kommunikativer Formen mit einer vom Erzähler bestimmten Ebene der ›Wahrheit‹. So ist der Text mit einer Semantik der »Sprache« (S 134) durchsetzt, zu der neben ›Gesprächen‹ (vgl. S 11, 14, 18, 48, 62, 87, 201, 229, 256), »Konversation[en]« (S 217), »Unterhaltung[en]« (S 87) und dem »Reden« (S 45, 46, vgl. auch 33, 245) der Akteure auch das schlichte Benennen von »Sprechen« (S 82, vgl. auch 143), »Worte[n]« (S 99) oder des »Gesprächs-
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stoff[s]« (S 212, 228) zählen. Hinzu kommen spezifische Formen wie das pejorativ konnotierte »Geschwätz« (S 73), »Gerücht« (S 167, 271) oder »Gefasel« (S 254), aber auch zum Teil semantisch leere Sprechakte wie »Kindersprache« (S 179), »Singsang« (S 179, 184) oder »Lallen« (S 194), die auf das »Sprachniveau« (S 131) der Beteiligten hinweisen. Abgesetzt wird diese Sprachsemantik vom Erzähler gegen ein vor allem im ersten und letzten Drittel des Romans platziertes Wortfeld ›Wahrheit‹ (vgl. S 28, 31, 37, 43, 46, 54, 55, 89, 90, 222, 248, 252, 266, 269, 271, 275). Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang Nils, von dem Maja sagt, er sei »ein absolutes Rätsel« (S 120), ja »jemand, den man nicht verstehen kann, er lebt in einer völlig eigenen Welt« (S 120). Die so markierte innerfiktionale Distinktion zu den übrigen Figuren basiert nicht zuletzt auf dem Umstand, dass Nils an mehreren Stellen des Textes Partikel einer Kommunikationstheorie präsentiert, die sich als einordnender und erläuternder Kommentar der kontinuierlich thematisierten Kommunikationsakte zu verstehen gibt. Nils wird, so könnte man sagen, vom Text gleichsam als Medium eines form-programmatischen Kommentars in Szene setzt. So führt er etwa an einer Stelle aus: Übrigens habe ich eine Theorie. Diese Theorie läßt sich am besten an dem demonstrieren, was ich die letzten drei Tage gemacht habe, als ihr in Frankfurt wart. Am Sonntag waren wir (du, Heike, ich) noch gemeinsam am Havelufer, dann saß ich eine Zeitlang auf einer Bank, und zwar in der Lindenstraße, ich hatte mir diese Bank vorher ausgesucht, sie war mir schon seit Tagen aufgefallen. Auf dieser Bank saß ich eine Weile, ich tat, genau gesagt, gar nichts. Ich beobachtete nicht einmal die Menschen, oder doch, ich beobachtete sie, aber weniger ihr Aussehen, sondern vielmehr den Rhythmus ihres Erscheinens, es hatte etwas von Ballett oder von einer inszenierten Filmszene mit Fußgängern, vorbeifahrenden Autos und so weiter. (S 44)
Bedeutsam ist diese Passage zunächst deshalb, weil sie eine Differenz zwischen Beobachter und Beobachtetem etabliert, die von Einzelheiten des Sozialen absieht und einen bestimmten kommunikativen ›Rhythmus‹ ausmacht. Zweitens handelt es sich im letzten Teil der Passage um eine Parallelstelle zu Maiers Ich. Anders als in der Forschung angenommen, stellt diese Konversion von Roman und Poetikvorlesung in diesem Fall indes keineswegs eine Fiktionalisierung letzterer dar410 – ganz im Gegenteil: Man könnte von einer punktuellen ›Faktualisierung‹ oder zumindest auktorialen Rahmung Sanssoucis sprechen, insofern der Text eine als dezidiert biographisch markierte Szene des Autors in sich einbaut und auf eine Figur appliziert. So bringt Nils zunächst die durch die Sprachsemantik thematisierten kontinuierlichen Kommunikati-
410 Vgl. Y. Hütter, S. 18, Fn. 19. Siehe entsprechend I 33.
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onsakte in einer an unterschiedlichen Stellen des Romans platzierten ›Theorie‹ auf den Punkt. Mein Kopf formulierte Regieanweisungen, und in der Tat, sie wurden befolgt. Potsdam befolgte sie. Oder zumindest wurden sie in der Lindenstraße befolgt, direkt vor meiner Bank. Wie bei einem unsichtbaren Theaterregisseur. Ich glaube, daß alles, auch wenn die Menschen einzeln handeln (aus ihrer eigenen Perspektive) ... daß alles dennoch nach einem bestimmten Rhythmus vonstatten geht, der unpersönlich ist. Das stützt übrigens meinen Gedanken, daß es ganz egal, ist, was man tut ... (S 44–45)
Jenseits des Hinweises darauf, dass es »[t]atsächlich [...] keinen gültigen Grund für all jene nachlässigen und auch die interessanten Gespräche« 411 gibt, die tagtäglich geführt werden, ist diese Passage insofern relevant, als sie sich als auktorial-kontrollierte Rückbindung zum einen der ausstehenden feuilletonistischen Rezeption von Sanssocui, zum anderen aber auch der zurückliegenden Verwicklungen um das Literaturstipendium in die Selbstprogrammierung des Textes lesen lässt. Es ist der Autor oder zumindest das Werk, das, so die Suggestion, als ›Theaterregisseur‹ vorgebe, wie ›Potsdam‹ zu reagieren habe. Gleichwohl ist diese selbstkommentierende Ebene des Textes nicht auf Nils beschränkt, sondern wird darüber hinaus durch weitere Figuren abgedeckt. Neben den zitierten Passagen, in denen sich der Erzähler zu erkennen gibt, sowie den Sitzungen im Rathaus zählen zu diesen Figuren insbesondere der Mönch Alexej und Arnold. Letzterer gibt sich etwa in der folgenden Passage als nicht weniger reflektierter Gesprächsteilnehmer zu erkennen: Man kann nämlich mit den Menschen machen, was man will, es ist wie Magie. Man kann sie tanzen lassen wie Marionetten. Weißt du, wie man das macht? Nein, sagte Alexej. Er: Du mußt sie nur behandeln wie kleine Kinder. [...] Die Worte interessieren nie jemanden. Du brauchst nur ein wenig Distanz zu allem, und du wirst ... ein Puppenspieler. (S 99)
Ist der Regisseur Hornung genau dies gewesen – ein ›Puppenspieler‹ –, erweist sich Arnolds Kommentar ebenso wie Nils’ Bemerkungen als Reflexion nicht nur auf ›Oststadt‹, sondern damit auch auf die von Sanssouci entfalteten Irritationen von fiktionaler und realer Realität, die die Beteiligten als von einem souveränen Spielleiter Abhängige (›Marionetten‹) präsentiert. Damit steht der zitierte Abschnitt in einer Reihe mit über den gesamten Text verteilten »Interpretamenten«,412 mittels derer Maiers Roman ganz offensichtlich darum
411 Y. Hütter, S. 205. 412 Eva Geulen: Schwierigkeiten mit Raabes Frau Salome. In: Michael Neumann u. Kerstin Stüssel (Hg.): Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Konstanz 2011, S. 417–428, hier S. 420.
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bemüht ist, den Leser deutungstechnisch zu lenken. Zu diesen kontinuierlich eingestreuten »Deutungsanweisung[en]« 413 zählen neben gleichsam aphoristischen Einlagen414 und in die histoire eingebauten Fingerzeigen auf interpretationsrelevante Symbole oder Metaphern415 die Nennung von Autoren, die dem literarischen Publikum spätestens seit den Frankfurter Poetikvorlesungen als Vorbilder des Autors bekannt sind. So wird etwa »Tolstoj« (S 85) mit seinem »Roman Auferstehung« (S 85) genauso genannt wie »Dostojewskij« (S 137). Der Hinweis, das Unübersehbare dieser deutungstechnischen Lenkung würde aus Gründen »hermeneutischer Redlichkeit« 416 das analytische Verfolgen der vom Autor gelegten Fährten gleichsam verbieten, greift in diesem Zusammenhang gleichwohl nicht – und dies aus zwei Gründen. Erstens bricht diese Argumentation semantisch aus der institutionellen Matrix der Literaturwissenschaft aus, um eine strukturelle Paradoxie zu invisibilisieren: Die autorkitische Missachtung allzu offensichtlicher Deutungsanweisungen basiert nämlich auf einer nicht notwendigen Gleichsetzung von ›Interpretament‹ und ›Autorintention‹, blendet mithin, bezogen auf die Literarizität des Textes dessen strukturelle Eigenständigkeit aus, ja betreibt »im Manen der Autorkritik eine unnötige Aufwertung des Autors.« 417 Dem autorkritischen Vorbehalt gegenüber Interpretamenten liegt, mit anderen Worten, genau der Kurzschluss zugrunde, den die poststrukturalistisch gefärbte Autorkritik gerade vermeiden will. In diesem Sinne gilt es, Form und Funktion der Paradoxie einer auktorialen Deutungsanweisung näher zu bestimmen. Denn – zweitens – liegt das offensichtlich Explizite der Platzierung der vom Autor gelegten Fährten auf einer Linie mit der Selbstprogrammierung Sanssoucis als zwischen ›Wimmelbild‹ und ›Thesenroman‹ angelegtem Text. An zwei der vom Roman ›am offensichtlichsten‹ ins Spiel gebrachten Interpretamenten soll dieses Verfahren erläutert werden: an dem intertextuellen Verweis auf Wilhelm Raabes Stopfkuchen sowie an dem Motiv der Amsel.
413 E. Geulen, Schwierigkeiten mit Raabes Frau Salome, S. 420. 414 So etwa die folgende Bemerkung Majas: »Maja: Das sagt Nils auch immer. Sein Wort dafür ist ›Antispießertum‹. ›Das Gesetz der Antispießigkeit ist‹, sagt Nils, ›daß der Antispießer der größte Spießer überhaupt ist.‹« (S 120). 415 Dazu zählen etwa das auf dem Buchcover abgedruckte »Andreaskreuz« (S 172) sowie die Thematisierung des Romantitels. So bemerkt an einer Stelle Grigorij: »Wußtest du, daß ich erst nach Jahren begriff, was das heißt, Sanssouci. (Vor sich hin starrend:) Ich kann ja kein Französisch« (S 251). 416 E. Geulen, Schwierigkeiten mit Raabes Frau Salome, S. 420. 417 Torsten Hoffmann: Das Interview als Kunstwerk. Plädoyer für die Analyse von Schriftstellerinterviews am Beispiel W. G. Sebalds. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 55 (2009), Nr. 2, S. 276–292, hier S. 279.
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Stopfkuchen wird in Sanssouci an zwei Stellen explizit in der histoire benannt. In beiden Fällen ist es Nils, der sich mit Raabes Roman beschäftigt, so zunächst im Kontext der bereits zitierten Szene im Park. Dort heißt es: (Arnold nahm die zwei Bücher in die Hand, die Nils neben sich auf der Bank liegen hatte. In beiden steckten Zettel, auf dem einen Stand Angelologia S. Thomae Aquinati, das andere war ein gelbes Reclambuch, Wilhelm Raabe, Stopfkuchen.) (S 44)
Von Relevanz ist dieser Abschnitt in drei Hinsichten. Erstens ist er in die von Nils präsentierte Kommunikationstheorie eingelassen, die den Text programmatisch an den ›realen‹ Autor Andreas Maier der Frankfurter Poetikvorlesungen zurückbindet. Zweitens handelt es sich bei dem Abschnitt um eine Parenthese, also um einen Zusatz, der – durchaus als Regieanweisung des im Modus direkter Rede dramatisierten Dialogs – auch hätte wegfallen können, ohne die Handlung als solche groß zu verändern. Gerade auch in dieser prinzipiellen, ja geradezu ›ausgestellten‹ Irrelevanz für die histoire presst der Text den Einschub und mit diesem die genannten Angelologia S. Thomae Aquinati und Stopfkuchen in eine besonders hervorgehobene Relevanz. Bemerkenswert ist dabei – drittens –, dass die paratextuelle Ausgabe von Raabes Roman benannt wird. Mit dem Verweis auf Reclams ›Universalbibliothek‹ erzeugt der Text einen Realitätseffekt, in dessen Zentrum eine buchverlagshistorische Einmaligkeit steht. Für den literarischen ›Höhenkamm‹, die ›Klassiker‹ der Literaturgeschichte in den deutschen Schulcurricula ist geradezu traditionell Reclam zuständig, ja im Bereich der Klassiker-Taschenbücher besitzt der Verlag mit seiner gelbkartonierten ›Universalbibliothek‹ auch noch um die Jahrtausendwende das »Monopol auf die Versorgung der Schulen und Universitäten«.418 Bedeutsam ist diese Markierung Stopfkuchens in zwei Hinsichten. Erstens liegt dem Roman in der Reclam-Ausgabe ein Nachwort bei, in dem Alexander Ritter die im Kontrast zwischen »unmittelbar einsichtige[m] Geschehen und [...] hintergründige[r] Bedeutung« 419 angelegte Form von Raabes Roman als »so etwas wie Belehrung und Vergeltung« 420 liest. »Stopfkuchen zahlt in dem eintägigen Zusammentreffen erzählerisch zurück, was Eduard und seine Mitschüler und letztlich alle Menschen ihm früher an Spott und Verachtung haben angedeihen
418 Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag. Zur Kanonisierungspraxis des Deutschen Taschenbuch Verlags. (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 5) Berlin 2011, S. 212, siehe auch S. 272. 419 Alexander Ritter: Nachwort. In: Raabe, Wilhelm, Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. Nachwort von Alexander Ritter. Stuttgart 1987, S. 226–245, hier S. 240. 420 A. Ritter, S. 240.
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lassen.« 421 Darüber hinaus skizziert Ritter gegen Ende seines Kommentars die zeitgenössische Rezeption des Romans. Der Roman bleibt nahezu unbekannt, will man ihn in oberflächlicher Art gleich den anderen Romanen Raabes als »eine freudige Botschaft für die große Gemeinde« versteht, »welche in diesem Dichter den phantasievollsten und gemütsreichsten lebenden Humoristen verehrt« und verständnislos die besondere Kunstform als Argument der Leser-Langeweile abwertet und vorwirft, daß man das in der Titelaussage sensationell angedeutete Thema der Mordgeschichte, die sich dann als eine im Grunde weniger aufregende Notwehrhandlung offenbart, mit zuviel »Schnörkelwerk« vertan habe.422
Das zeitgenössische Unterschätzen Stopfkuchens, wie es Ritter hier skizziert und seiner zuvor präsentierten Nobilitierung von Raabes Roman entgegenstellt, aber auch und gerade die auf ›Belehrung und Vergeltung‹ abhebende Lektüre setzen einen intertextuellen Kommentar zu Sanssouci in Szene, der nicht nur Maiers Roman, sondern auch und gerade die mit diesem vom Autor vermeintlich verfolgten ›Absichten‹ innerfiktional rezeptionssteuernd festlegt. Und tatsächlich wird Sanssouci von der literaturkritischen Rezeption durchaus in diesem Sinne schematisiert. Mit dem Verweis auf Stopfkuchen nimmt der Text mithin eben diese Rezeptionshaltung literarisch vorweg und schreibt sich damit selbst wiederum den Status eines ›autonomen Kunstwerks‹ zu, das vorgibt, seine Lektüre steuern zu können. Zweitens ist die innerfiktionale Markierung Stopfkuchens als Reclam-Band relevant, weil mit ihr ein schulischer Kontext aufgerufen wird, den Sanssouci an der zweiten Stelle, an der Raabes Roman genannt wird, expliziert: Den Sinn von Referaten hatte Anastasia vollkommen begriffen. Referate dienten dazu, daß der Lehrer nicht stun mußte. Seit zwei Wochen hielt im Deutschkurs reihum jeder ein Referat. Das Thema von Nils lag ihr vollkommen fern: es ging um ein Buch namens Stopfkuchen. Nils erklärte, in dem Buch werde das, was erzählt wird, gar nicht erzählt, und gerade dadurch werde es erzählt. Darunter konnte sich der Kurs nicht gerade viel vorstellen. Ultramodern, rief jemand. Einige im Raum kicherten. (S 158)
In diesem Abschnitt verlegt der Text zunächst die von Ritter vorgelegte Analyse Stopfkuchens sowie die damit einhergehenden Rezeptionsschwierigkeiten explizit in die Narration Sanssoucis. Gleichwohl geht dies insofern mit einer spezifischen Irritation des Realitätseffekts einher, als Raabes Roman tatsächlich seit den 1980er Jahren nicht mehr zum Kanon an deutschen Schulen zählt.
421 A. Ritter, S. 240. 422 A. Ritter, S. 243. Die Zitate aus stammen aus zeitgenössischen Rezensionen zu Stopfkuchen.
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Begründet wird diese curriculare Exklusion zum einen damit, dass Raabe vor allem gegenüber Theodor Fontane und Gottfried Keller und zumindest in schulischen, auf Epochen bezogenen Kontexten als Autor immer noch ›unterschätzt‹ werde. »Zum anderen scheinen sowohl Duktus als auch Inhalt deutlich veraltet, dem heutigen Zeitgeist gänzlich entgegenstehend.« 423 Gilt Stopfkuchen mithin als »für schulische Zusammenhänge schwer vermittelbar«,424 wird der Roman andererseits mittlerweile wiederum in ›avancierten‹ Unterrichtsentwürfen gerade deshalb wiederentdeckt, weil er sich dazu anbiete, »die Beschäftigung mit Literatur als ein Hinter-den-Zeilen-Lesen zu begreifen, als ein Aufdecken von Tiefenschichten, die sich bei einer ersten Lektüre noch verbergen.« 425 Und in der Tat ist dem Erzähler im Stopfkuchen von der Forschung nicht nur eine »falsche Einschätzung von Fakten« 426 nachgewiesen worden. Die Literaturwissenschaft streicht auch und gerade heraus, dass es in Raabes Roman nicht um das Finden von ›Wahrheit‹ geht, »sondern darum, daß Wahrheit als Effekt von Sprach- und Machtspielen erst generiert wird.« 427 Seinen programmatischen Anknüpfungspunkt findet Sanssouci mithin in der Erkenntnis, dass ›Wahrheit‹ nicht schlicht gegeben ist, sondern kommunikativ, in diesem konkreten Fall durch das Schaumannsche Erzählen überhaupt erst generiert wird und für dieses dann in der ›Überlagerung‹ 428 des unmittelbaren Geschehens durch das Vermittelte eine bestimmte Funktion einnimmt. Gleichzeitig kommt damit indes ein Verfahren in den Blick, das Sanssouci nicht nur auf sein Schlüsselverfahren appliziert, sondern in der Expliziertheit der Deutungsanweisung gleichsam ad absurdum führt. Wenn Sanssouci im Sinne Stopfkuchens gerade ›nicht von dem handelt, von dem es erzählt‹, so gilt dies
423 Marion Bönnighausen: Appetit auf Stopfkuchen? Wilhelm Raabe im Unterricht. In: Sigrid Thielking (Hg.): Raabe-Rapporte. Literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Zugänge zum Werk Wilhelm Raabes. (DUV Literaturwissenschaft) Wiesbaden 2002, S. 140–166, hier S. 140. 424 M. Bönninghausen, S. 140. 425 M. Bönninghausen, S. 140–141. Jens Heiderich hebt in seinem Unterrichtsentwurf die Diskrepanz zwischen Titel und Text hervor. Verweise der Untertitel auf die Sensationslust des zeitgenössischen Lesers, drehe der Text diesen Erwartungshorizont ironisch um. Vgl. Jens F. Heiderich: Wilhelm Raabes »Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte.« Titelgeleitetes Textverstehen als fachmethodisches Verfahren. in: Der Deutschunterricht 62 (2010), Nr. 3, S. 90– 96, hier S. 94. 426 Johannes Graf u. Gunnar Kwisinski: Heinrich Schaumann, ein Lügenbaron? Zur Erzählstruktur in Raabes »Stopfkuchen«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1992), S. 194–213, S. 212. 427 Claudia Liebrand: Wohltätige Gewalttaten? Zu einem Paradigma in Raabes »Stopfkuchen«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1997), S. 84–102, hier S. 85. 428 Vgl. J. Graf u. G. Kwisinski, S. 213.
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auch für dieses Interpretament selbst, das sich damit in einem performativen, gleichwohl programmatisch wesentlichen Selbstwiderspruch verfängt. Denn so wenig in Stopfkuchen die »artistisch vorgetragene und durch die Niederschrift bewahrte Geschichte der Aufdeckung als das eigentlich Bedeutsame das letzte – und dauernde – Wort« 429 gegenüber der Lösung des lediglich als fama kursierenden Kriminalfalls behält, so wenig verliert sich Sanssouci in dem von ihm thematisierten lockeren Kommunikationsakten. Hilfreich ist in diesem intertextuellen Zusammenhang nicht zuletzt der Umstand, dass sich die Literaturwissenschaft mit dem Aufsatz von Graf und Kwisinski, aber auch von Liebrand und Mein von einer Raabe-Rezeption distanziert, die die ›Rote Schanze‹ in der Regel »als eine Insel des Friedens und des Glücks mitten im Ozean der Bosheit und der Sinnlosigkeit« 430 liest – hilfreich insofern, als auch Maiers Roman dem Leser eine ganz ähnliche Konstellation präsentiert. So hebt etwa Gustav Seibt in seiner Besprechung von Sanssouci die symmetrische Anlage des Romans hervor. Damit sind wir beim doppelten Boden und den Russen. Eine Höhlenwelt von Theologie und also auch Satanismus liegt dumpftönend unter der munteren Fußgängerzonen- und Parklandschaft mit ihren Punks und Pennern, Schülern und Rentnern, neben Karstadt und Kulturamt. Die jungen Leute haben ein Labyrinth von stillgelegten Versorgungsgängen unter den Potsdamer Parkauen entdeckt, wo man wunderbar Andreaskreuze oder Kapellen mit verdorbenen Sexbildchen errichten kann. So viel Unreinheit verlangt nach dem Gegenpol. Er wird verkörpert von dem Mönch Alexei, einem Russlanddeutschen, der zum Liebling der orthodoxen Gemeinde am Kappellenberg aufsteigt. Russische Frömmigkeit und Sadomaso-Untergrund nehemn die geschwätzige links-alternative Mitte in ihre Mitte.431
Ähnlich der Zeit-Rezension von Iris Radisch hebt Seibt auf die »kunstvolle[ ] Architektur des Buches« 432 ab, ist Sanssouci doch »wie ein[ ] barocke[r] Garten mit seinen Spiegelachsen und Verdopplungen« 433 angelegt. Dieses Verfahren betrifft nicht nur das innerfiktionale Verhältnis zwischen ›Oststadt‹ und Potsdam. Im Zentrum steht vielmehr die Analogie zur ›Roten Schanze‹, wie sie sich
429 Ulf Eisele: Der Dichter und sein Detektiv. Raabes »Stopfkuchen« und die Frage des Realismus. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 22) Tübingen 1979, S. 68. 430 Georg Mein: »... beim letzten Droppen Dinte angekommen?« Raabes Stopfkuchen als Projekt einer poetologischen Selbstvergewisserung. In: Søren R. Fauth u. a. (Hg.): »Die besten Bissen vom Kuchen«. Wilhelm Raabes Erzählwerk: Kontexte, Subtexte, Anschlüsse. Unter Mitwirkung von Andreas Hjort Møller. Göttingen 2009, S. 117–131, hier S. 120. 431 G. Seibt. 432 Iris Radisch: Die Engel von Potsdam. In: Die Zeit vom 29. Januar 2009. 433 I. Radisch, Die Engel von Potsdam.
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in der Differenz zwischen den auf interessengeleitete Verwertbarkeit ausgerichteten Sozialstrukturen Potsdams und dem Ort des Luisenbrunnens auftut. So saßen sie am Luisenbrunnen. Sie saßen bis in die Nacht. Und am nächsten Morgen saßen sie wieder. Sie sahen die Sonne untergehen und aufgehen und wieder untergehen und sahen die Menschen vorbeilaufen und hörten die Vögel singen. Aus ihrer Sprache folgte nichts mehr. Keine Handlung, kein Vertrag, kein Bürgerliches Gesetzbuch, nichts. Reiner Gesang. So können Menschen in Potsdam leben. (S 278)
Im »paradiesischen Zustand am Brunnen« (S 271) scheint mit der Aufhebung von »Zeit und Raum« (S 272), aber auch der Unterscheidung von ›Wahrheit‹ und ›Unwahrheit‹ und der Ausrichtung auf diskursive Unverwertbarkeit eine Alternative zum Potsdamer Sozialzusammenhang auf. Durchaus in Analogie zu Wäldchestag entwirft Sanssouci mit dem Luisenbrunnen die »sprachlose Vision einer einfachen, bodenständigen Welt, in der die gefestigte Liebe den Gegensatz bildet zu der Welt der Erotikheftchen, des Fliegens, des Redens.« 434 Und ähnlich Adomeit verkörpert der Mönch Alexej »so etwas wie eine positive Antwort auf die Frage, die Maier in seinen Poetikvorlesungen fortwährend umkreist: ob es denn ein gutes – bei Maier: ›wahres‹ – Leben im falschen geben könne.« 435 Dementsprechend scheint mit dem »Luisenplatzdasein« (S 270) eine solche Möglichkeit angedeutet zu sein, denn dort »war Sprache, was sie von jeher bloß war: Sprache« (272). Der »[r]eine[ ] Gesang« (S 278), das »allgemeine Gezwitscher« (S 272) steht in seiner Unbegründheit, Schwerelosigkeit und Unschuldigkeit, so könnte man sagen, dem letztlich verdorbenen ›Gerede‹ der Potsdamer gegenüber. So kommt etwa der obdachlose »alte Baron« (S 50), »der ständig irgendwelche Geschichten erfand« (S 53), mithin als »Schwätzer (S 53) bekannt sei, in einem Gespräch mit Arnold und Heike auf den Tod Hornung zu sprechen. Der alte Baron wurde melancholisch und meinte nach einer Weile, er habe Max gemocht, er sei ein feiner Mensch gewesen, und daß es idiotisch sei, wie er habe sterben müssen. So blöd! Ein Unfall! Jetzt heiße es, daß er das mit den Frauen nicht unter Kontrolle hatte und daß das vielleicht der Kern des Verderbens gewesen sei. (S 52)
Dieser ›Kern des Verderbens‹, an dem Max Hornung zugrundegegangen sein soll, ist nicht unmittelbar zugänglich, sondern nur über die Umleitung des Gesprächs, der Vermutungen, ja des ›Geredes‹ zu fassen. Der ›Kern des Verderbens‹ ist, mit anderen Worten, an Kommunikation zurückgebunden, nur im Konjunktiv greifbar. Das auf diese Weise thematisierte sprachliche ›Verderben‹
434 H. Harbers, S. 204. 435 H. Harbers, S. 205.
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betrifft etwa auch Aussiedler Hofmann, der sich als russischer Muttersprachler in Deutsch als Fremdsprache mittlerweile an »ein bestimmtes Sprachniveau gewöhnt« (S 131) habe. In der hiesigen Sprache konnte er sich bestenfalls auf Stammtischniveau äußern. Sprach er Russisch, dann führte er seine Gespräche entweder im Ton vollkommener Angekotztheit, oder er führte sie mit einem gewissen Trotz auch noch auf Stammtischniveau. (S 134).
Neben diese Fragen der Sprachkompetenz tritt zum einen eine Semantik, die auf sprachliche Störungen hinweist (etwa »Herumdrucksen«, S 143), die Irrelevanz von Gesprächen betont (zum Beispiel »Plauderton«, S 119) oder eine völlige Ent-Semantisierung hervorhebt (etwa Pöhlands »Mähähä«, S 216; Merles ›Summen‹, vgl. S 193). In diesen sprachreflexiven Kontext gehört darüber hinaus aber auch eine Passage zu Merle Johanssons »Kindersprache« (S 179), spricht die Mutter von »Jesus Johansson« (S 179) doch mit ihrem Sohn ausschließlich in einem »Singsang« (S 179). Wesentlich ist in diesem Zusammenhang der Effekt dieser Spracherziehung. So heißt es an einer anderen Stelle nämlich: Jesus versuchte zu erzählen, was sie gemacht und gespielt hätten und was überhaupt so vorgefallen sei, scheiterte ab er damit, denn es kam nur ein Lallen aus seinem Mund. Seine Mutter gab zu erkennen, daß sie alles verstehe, obgleich sie natürlich kein Wort verstand und sich auch nicht dafür interessierte. Sie betrachtete Jesus, er war ein schönes Kind. (S 194)
So sehr Merle auch auf Jesus mit ihrem Singsang ›einredet‹ (vgl. S 184), der Effekt ihres semantischen Reinhaltungsgebots führt zu einem kommunikativen ›Verderben‹, das nur noch scheinbare Verständigung zulässt. Kommunikationsentzug kann also auch nicht die Lösung sein. Weist Literaturkritiker Seibt in seiner Besprechung darauf hin, dass die von Sanssouci entfalteten »Pole der Reinheit und der Verdorbenheit [...] auch miteinander [korrespondieren; DCA]«,436 so lässt sich Merles Handeln sicherlich hier einordnen. Wesentlicher ist indes die ›reine‹ Position des Luisenbrunnens und nicht zuletzt die Rolle von Mönch Alexej, wird letzterer doch nicht nur als Antipode »inmitten der aus schierem Geschwätz bestehenden gottesfernen Gegenwartsgesellschaft« 437 gelesen, sondern auch als alter ego des Autors platziert wird. Doch so sehr die Raabe-Forschung darauf hinweist, dass die ›Rote Schanze‹ eben kein »Ort der Behaglichkeit und Beschaulichkeit« 438 dar-
436 G. Seibt. 437 C. Gellner, S. 153. 438 M. Bönnighausen, S. 142.
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stelle, sondern in seinem Erzählen das »Bild einer lebensweltlichen Idylle, eines erstrebenswerten Lebensentwurfs« 439 unterlaufe, so wenig stellt der Luisenbrunnen und mit ihm Alexej einen unhintergehbaren Gegenentwurf zum Potsdamer Gerede dar. Bei Sanssouci handelt es sich ebensowenig um ein »didaktisches Denk-Bild«,440 das vorführen soll, »wie sich innerhalb einer absurden inhumanen Welt noch ›human‹ leben läßt«.441 Diese Lektüren können nämlich nicht plausibilisieren, wozu Maiers Roman wiederholt die auktorialen, scheinbar jenseits der histoire platzierten Passagen in sich einbaut, stehen diese doch vermeintlich der Selbstprogrammierung des Textes entgegen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das zweite vom Text platzierte ›Interpretament‹: das Motiv der Amsel. So heißt es in der bereits in Auszügen zitierten Passage zum »allgemeine[n] Gezwitscher am Brunnen« (S 272), das sich zu einer »Daseinsmelodie« (272) entwickelt habe, wie folgt: So versammelte sich die ganze Welt im Singsang auf dem Luisenplatz, alles wurde verhandelt, und nichts geschah, und von außen sah es genauso aus, wie wenn sich am Frühabend die Amseln auf dem Platz versammelten und mit ihrem Gesang und ihrem Ticksen eine, zivilisatorisch gesprochen, ebensolche Epoché übten wie die Männer mit ihren Flaschen dort. Alles war nichts und umgekehrt, und der einarmige Horst konnte darüber stundenlang und sehr erschöpfend dozieren, denn er war ein Philosoph, der nur selten schwieg und dessen Lehre genauso einfach und wahr und unter diskursiven Gesichtspunkten völlig unverwertbar war wie das Deklamieren der Amseln. (S 272)
Interessant ist die Kopplung des Luisenbrunnens mit dem Motiv des »Amselkonzerts« (S 275) in zumindest zwei Hinsichten. Erstens weist die Forschung darauf hin, dass »Vögel [...] für Maier der Inbegriff der Bedürfnislosigkeit« 442 sind, so dass die programmatische Relevanz der zitierten Passage hervorgehoben wird. Nicht zuletzt lautete der Arbeitstitel von Sanssouci, also jenes Textes, den Maier während seines Potsdamer Stadtschreiber-Stipendiums realisieren wollte, tatsächlich »›Amseln‹«.443 Und zweitens ist mit den ›Amseln‹ ein »wiederkehrendes Leitmotiv« 444 in Arnold Stadlers Salvatore (2008) benannt, was insofern von Relevanz ist, als Maier zu dem Roman eine »begeisterte Bespre-
439 M. Bönnighausen, S. 142. 440 G. Mein, »... beim letzten Droppen Dinte angekommen?«, S. 120. 441 Claude David: Über Wilhelm Raabes Stopfkuchen. In: Jeffrey Sammons u. Ernst Schürer (Hg.): Lebendige Form. Interpretationen zur Deutschen Literatur. München 1970, S. 259–275, hier S. 273. 442 Y. Hütter, S. 441. 443 Andreas Maier wird Literaturstipendiat. Vgl. entsprechend Stipendium vergeben. 444 M. Wagner-Egelhaaf, Autorschaft als Skandal, S. 592.
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chung« 445 geschrieben hat. In der im Mai 2009 in der Zeit erschienenen Rezension schreibt der Autor: Das Buch ist ergreifend disparat und liebevoll hilflos in seiner Anlage, und vielleicht wäre es sonst weniger gelungen. Es wirkt auf mich fast kaputt, macht sich geradezu mit Absicht angreifbar und spricht doch gerade vom Salvatore, vom Retter. Wer dieses Buch zur Hand nimmt und glaubt, könnte auf den Gedanken kommen, hier finde gerade ein Pfingsterlebnis statt.446
Wie Maier steht Stadler für die wieder hergestellte Zulässigkeit religiöser Themen in der deutschsprachigen Literatur um 2000, wie nicht zuletzt die Debatten um Martin Mosebach verdeutlichen.447 So beende Stadlers Salvatore, folgt man Maiers Rezension, »den Diskurs und wird selbst zum Funken.« 448 Und tatsächlich kommt der Autor schließlich auch explizit auf die Amseln in Stadlers im Peritext keiner Gattung zugerechnetem Text zu sprechen: Die Amseln, sagt Stadler, sangen, als blühten sie. Stadlers Sprache ist auch so ein stetes Blühen, und nun hat er das Evangelium nach Matthäus in sein Blühen hineingenommen. Stadlers Buch blüht wie der Film von Pasolini.449
Unter Rückgriff auf Pier Paolo Pasolinis Verfahren der »freie[n] indirekte[n] Rede« 450, das Autorschaft als im Text sich abspielenden performativen Akt versteht, profiliert Salvatore eine Form, die Autor, Erzähler und Figur »nicht in einem ontologischen Sinn miteinander identifiziert, sondern in Prozessen [...] der Reflexion und des fiktionalen Spiels« 451 perspektivisch ineinander verschiebt. Auf Basis dieser perspektivischen ›Verwechslung‹ verweisen die im Roman auftretenden Figuren sowie der Erzähler letztlich auf Stadler als Autor, ohne mit diesem identifiziert werden können. Über das Motiv der Amsel bindet sich Sanssouci an eben dieses Verfahren. Denn nicht nur sind in Maiers wie in Stadlers Roman die Amseln »ganz unverdorbene Zuhörerinnen und Sänger«.452
445 M. Wagner-Egelhaaf, Autorschaft als Skandal, S. 587. 446 Andreas Maier: Lieber Gott, lies das mal. Arnold Stadler hat ein riskantes, ein furioses Buch geschrieben. Über Jesus, Pasolini und das Leben, das so wehtut. In: Die Zeit vom 7. Mai 2009. 447 Vgl. zu Stadler und Maier in diesem Zusammenhang als Symptom der Freude über diese ›neue Sprache des Glaubens‹ auch C. Gellner, S. 141–173. 448 A. Maier, Lieber Gott, lies das mal. Siehe Stadlers Roman, der bezeichnenderweise keiner Gattung peritextuell zugeordnet ist. Vgl. Arnold Stadler: Salvatore. Frankfurt a. M. 2008. 449 A. Maier, Lieber Gott, lies das mal. 450 M. Wagner-Egelhaaf, Autorschaft als Skandal, S. 596. 451 M. Wagner-Egelhaaf, Autorschaft als Skandal, S. 595. 452 M. Wagner-Egelhaaf, Autorschaft als Skandal, S. 593, Fn. 27.
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Neben dieser intertextuellen Motivreihe, die in Salvatore den mit dem Bild der singenden Nachtigall verbundenen romantischen Horizont »konterkariert«,453 macht sich Sanssouci nämlich auch und gerade das mit Stadlers Text verbundene ›Verschleifen‹ von Erzähler, Figuren und Autor zu eigen. Es ist diese analogisierende Kopplung, die die auktorialen ›Deutungsanweisungen‹ in die Selbstprogrammierung Sanssoucis einpassen und die Annahme, die Verwicklungen um reale und filmische Realität in ›Oststadt‹, aber auch die Frage des selbstreflexiven Stellenwerts Stopfkuchens erwiesen sich durch die mit ihnen verbundene narrative Explikation als Ausdruck einer gescheiterten Selbstprogrammierung, innerfiktional bereits unterlaufen. Die Bemerkung, dass Maier sich in seinem Erzählvorhaben letztlich »verheddert«,454 trifft dabei durchaus den Punkt, allerdings muss die Metapher anders platziert und als Verkettung von Erzähler und Autor, von primären und sekundären literarischen Formen in den Blick genommen werden. Denn hierin findet sich die Form der Literaturbetriebs-Szene, wie sie Sanssouci entfaltet.
4.2.3 Literaturbetriebsgerede Der durch das ›Verschleifen‹ des Autors mit der literarischen Form Sanssoucis zu einer Literaturbetriebs-Szene provozierte ›Identifikationskurzschluss‹ ist bereits in der ›Potsdamer Posse‹ angelegt. Dass Maiers in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienene ›Verteidigung‹ am darauffolgenden Tag von der Märkischen Allgemeinen als die »jüngste[ ] Erzählung« 455 des Autors bezeichnet wird, ist nämlich keineswegs so leicht schwebend formuliert, wie es auf den ersten Blick scheint, legt Maiers Artikel diese Lesart doch auch selbst nahe. So greift die Stellungnahme auf Schreibverfahren zurück, die das literarische Publikum aus Maiers Romanen kennt, koppelt diesen Rückgriff jedoch mit einer spezifischen Veränderung, die die Erzählerposition betrifft. Der Text stellt mithin nicht nur eine literaturbetriebliche ›Abrechnung‹ mit den Potsdamer
453 M. Wagner-Egelhaaf, Autorschaft als Skandal, S. 592. Wagner-Egelhaaf weist darauf hin, dass die Amseln, die auch in Stadlers Roman Sehnsucht zu finden sind, »einen intertextuellen Bezug auf Robert Musils Erzählung Die Amsel aus dem Nachlass zu Lebzeiten (1936)« darstellen. In Wäldchestag ist es der stets abwesende Protagonist, der mit dem Vogel-Motiv assoziiert ist. »Sein Leben erscheint so wortlos, so unbegründet, so schwerelos und so unschuldig wie das Leben der Wesen, um die er sich als Ornithologe so liebevoll kümmert: der Vögel.« H. Harbers, S. 205. 454 Buchpreiskandidaten I. 455 Volker Oelschläger: Wie ein Fast-Stipendiat zum Platten- und Schlossmaier wurde. In: Märkische Allgemeine vom 27. November 2004.
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Verantwortlichen dar, wie es weite Teile der feuilletonistischen Rezeption vermuten, sondern ist das zentrale Element der um Literaturförderung verdichteten Literaturbetriebs-Szene Maiers, bemerkt doch der Leiter des brandenburgischen Literaturbüros, Hendrik Röder, mit Blick auf die Verwicklungen um die Stipendienvergabe treffend: »Ein denkbar schlechter Auftakt für das erste Stadtschreiberstipendium von Potsdam, aber ein schöner Anfang für Maiers neuen Roman.« 456 Röders Fazit kann als ein weiteres Indiz dafür gelten, dass die Aufregungen um den Potsdamer Stadtschreiber alles andere als irrelevant für Maiers, gut fünf Jahre später erschienenen Roman Sanssouci sind. Insofern der »Glaubenskrieg um die Lebensqualität von Neubaugebieten« 457 mit Maiers literarischem Programm korreliert, sind der Potsdamer Eklat und der Roman Elemente ein und desselben literarisch-betrieblichen ›Mists‹. Dass die Posse um den Potsdamer Stadtschreiber als Element von Maiers Literaturbetriebs-Szene verstanden werden kann, legen darüber hinaus weitere massenmedial dokumentiere Realitätspartikel nahe. Ein erstes dieser Indizien sind bestimmte feuilletonistische Formulierungen in der Debatte um den Posten des Stadtschreibers selbst. Im Modus der Selbstreflexion wird in einigen Beiträgen der literaturkritischen Berichterstattung nämlich ein Zusammenhang zwischen Maiers bisher erschienenen Romanen und den Aufregungen in Potsdam hergestellt. So will etwa Werner von Bebber in der ›Potsdamer Posse‹ Struktureigenschaften erkennen, die Maier selbst in Klausen beschrieben habe. In seinem Artikel für den Tagesspiegel hält er fest: »Der zweite Roman des hessischen Schriftstellers Andreas Maier handelt von der Macht der Gerüchte. Wie diskriminierend miese Nachrede sein kann, hat er nun erlebt, leider in Potsdam.« 458 Ganz ähnlich argumentiert Christoph Schröder in einem Artikel für die Frankfurter Rundschau. Auch er parallelisiert die Ereignisse in Potsdam mit Maiers Romanen, wenn er einen Zusammenhang erzählter und massenmedialer Realität herstellt: »Der Schriftsteller Andreas Maier (Wäldchestag) hat in seinen Romanen frei umhergeisterndes Gerede und Gerüchte zu einer beunruhigenden Wirklichkeit verdichtet. Jetzt ist er selbst von der Literatur eingeholt worden.« 459 Die Narrationsstruktur der Artikel Bebbers und Schröders koppelt jeweils die Differenz von realer und fiktionaler Realität mit der Zeitdimension (markiert durch die Temporalpartikel ›nun‹ und ›jetzt‹), um die beiden Seiten der Unterscheidung in ein Verhältnis der ›Verwirklichung‹ zu setzen. Ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung findet sich schließlich ein Kolumnen-
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Zitiert nach »Ein schöner Anfang für Maiers neuen Roman«. Diskriminierung von Zehntausenden. W. v. Bebber. Schröder, Potsdamer Posse.
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Artikel, der ebenso eine unmittelbare Korrelation zwischen Maiers Programm und der Potsdamer Posse herstellt, diese jedoch spezifisch perspektiviert: Als wollte Potsdam den thematischen Vorlieben des Autors entgegenkommen, hat diese Stadt, die Andreas Maier eigentlich Anfang November als ersten Literaturstipendiaten am Ort hatte begrüßen wollen, jetzt eine Situation erzeugt und eine mediale Reaktion begünstigt, wie sie sich der Autor kaum besser hätte ausdenken können.460
Bezeichnend ist dieser in der Rubrik ›Wellenreiter‹ erschienene Artikel insbesondere deshalb, weil er sich nicht zuletzt als produktionsästhetische Warnung an den Autor versteht: Gerade weil der Eklat in Potsdam thematisch so offensichtlich nahe an Maiers Programm liege, müsse der Autor gemäß des ästhetischen Innovationsgebots gleichsam der Versuchung widerstehen, den ›Stoff‹ literarisch aufzugreifen. Es steht kaum zu befürchten, daß Andreas Maier die absurde Geschichte, die ihm gerade widerfährt, in seinem neuen Roman verarbeiten wird. So sehr sie sich auch wie ein Stoff des Autors ausnimmt. Das wäre ihm aber wohl doch etwas zu einfach.461
Wie sich herausstellt, ist Maier das Aufgreifen des ›Stoffes‹ gerade nicht ›zu einfach‹, ganz im Gegenteil: Maier liest den lokalen Literaturskandal im Hinblick auf dessen Form und reichert die Selbstprogrammierung Sanssoucis auf diese Weise mit nicht unerheblicher Komplexität an – oder anders: Es ist gerade das vermeintlich ›Naheliegende‹, das die ›Posse‹ zwar einerseits als sekundäres Literaturbetriebsphänomen ausweist, diese andererseits aber gerade deshalb für Maiers Roman so interessant zu machen scheint. Denn tatsächlich lassen sich auch auf auktorialer Seite Indizien dafür finden, dass der lokale Skandal alles andere als irrelevant für Sanssouci ist. Ohne der Autorintention des Wort reden zu wollen, lassen sich dabei zumindest vier Aspekte unterscheiden. Insofern Maier dem Feuilleton als derjenige Autor gilt, »der einen ganzen Roman im Konjunktiv erzählt«,462 ist zunächst wichtig, wie Maier die Verwendung dieses Modus programmatisch-auktorial motiviert. Üblicherweise wird in diesem Kontext Thomas Bernhard genannt, unter anderem in einem Interview aber führt Maier demgegenüber aus, seine literarische Form der Lokalpresse zu verdanken.
460 Wellenreiter: Schlichte Platte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (faz.net) vom 5. November 2004. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/wellenreiter-schlichte-platte1191448.html (30. 09. 2011). 461 Wellenreiter. 462 H. Spiegel, Die Wetterau-Fragen.
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Das mit dem Konjunktiv habe vielleicht so begonnen, sagt Maier: Gemocht habe er schon damals die Artikel der ›Wetterauer Zeitung‹, in denen so gewissenhaft berichtet wurde, absatzlos und in indirekter Rede. Über Geflügelschauen etwa. Da habe dann gestanden: ›Henne A erhält den ersten Preis, weil dem Juror zufolge die Federn besonders auffällig gemustert seien.‹ Das klänge doch wie Poesie, groteske Poesie, sagt Maier. Sein Roman [Wäldchestag; DCA] habe diesen Ton bloß zu treffen versucht.463
Solche und ähnliche464 Äußerungen Maiers – hier gleichsam performativ wiederum im Konjunktiv realisiert – sind insofern zunächst signifikant, als sie einerseits das Label des ›Wetterauer Heimat-Dichters‹ aktualisieren, somit tradieren und andererseits der in Forschung und Literaturkritik vorherrschenden Auffassung widersprechen, Maier knüpfe an Bernhards Konjunktiv an. Bemerkenswert sind die auktorialen Bemerkungen im Zusammenhang der vorliegenden Studie darüber hinaus jedoch insbesondere deshalb, weil sie Maiers literarisches Programm mit journalistischen Schreibverfahren in Lokalzeitungen ins Verhältnis setzen. Was damit nahegelegt wird, ist die Hypothese, dass die ›Potsdamer Posse‹ für Maier nicht nur, aber auch unter Gesichtspunkten der Kommunikationsform relevant ist. Und so ist es mithin nicht das literarische Kunstwerk, das einen feuilletonistischen Lokalskandal provoziert, sondern gerade umgekehrt: Die sekundären Formen produzieren gleichsam den literarischen Text, bemerkt Maier doch nicht zuletzt selbst bei einer Lesung Ende November 2004 resümierend: »Die ganze Sache hat durch den Text, den ich dadurch geschrieben habe, doch ein gutes Ende gefunden«.465 Ein zweiter Hinweis darauf, dass Maier die ›Posse‹ in Potsdam im Hinblick auf ihre Form liest, liegt in dem Umstand begründet, dass auf einer Potsdamer Lesung ein Pressespiegel der zurückliegenden feuilletonistischen Verwicklungen um das Literaturstipendium verteilt wird. So heißt es in der Märkischen Allgemeinen Zeitung, das Publikum sei bestens über die Hintergründe der Lesung informiert, »denn im Foyer verkaufte Buchhhändler Carsten Witt [sic!] für
463 Fiona Ehlers: Andreas Maier. In: Spiegel Kultur 12 vom Dezember 2000. 464 Ganz ähnliche Bemerkungen finden sich in einem Interview mit Katrin Hillgruber für den Deutschlandfunk: »Die sagen dann auch, das hat einen gewissen Charme, und das, was sie über diesen Charme sagen, erinnert mich ein bisschen an den Charme, den für mich Konjunktivpassagen aus meiner Lokalzeitung haben. Immer wenn ich zum Beispiel Berichte lese über Geflügelzuchtvereine oder die Rede eines Vorsitzenden, die wiedergegeben wird, bekommt diese Rede für mich ein ganz großes Gewicht und eine Tonlage dadurch, dass sie im Konjunktiv wiedergegeben wird. Das hat irgendwie so einen Klick, den kann ich nicht genau beschreiben.« Zitiert nach K. Hillgruber, Wäldchestag. Ähnliches findet sich auch in der Poetikvorlesung. Siehe I 114. 465 Zitiert nach Ullrich Crüwell: »Das Absurd-Stipendium«. Beinahe-Stipendiat Maier mit Potsdam-Text bei der 5. Literaturnacht. In: Märkische Allgemeine vom 27. November 2004.
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zwei Euro selbstkopierte Pressespiegel mit allen Veröffentlichungen zum Fall Andreas Maier.« 466 Und tatsächlich liest Maier nicht das letzte Mal in der Buchhandlung Wist. Einem Auftritt am 25. Februar 2005 folgt zum »Abschluß« 467 seines von der »verwaltungsfernen Bürgerinitiative namens ›Kultur & Kommerz‹« 468 gesponserten Potsdamstipendiums eine Lesung am 5. Juli 2005.469 Drittens liegt im Juli 2005 ein schließlich Text vor, der sich als Rahmenhandlung oder Vorgeschichte von Sanssouci verstehen lässt und den Maier in der angeführten Lesung nach Beendigung seines Stipendiums dem Potsdamer Publikum exklusiv präsentiert. Maier zitiert aus einer kurzen Geschichte, die er über Potsdam geschrieben hat, »unfertig«, »halbfiktiv« und »alles gelogen«, versichert der Jungautor. Maiers Geschichte beginnt mit Potsdams Bewerbung als Kulturhauptstadt, anders als in seinem Fall wird aber statt einem Literaten ein Filmemacher als Stipendiat gesucht. Just zu diesem Zeitpunkt zecht der recht bekannte Regisseur Christoph Buderius mit einem russischen Kollegen, gemeinsam gehen sie auf die Potsdamer Internetseite. Nach mehreren Wodkas ist die Bewerbung fertig und gleich dazu noch der Entwurf für eine auf Potsdam zugeschnittene Seifenoper namens »Sanssouci«. Am nächsten Tag hat Buderius seine nächtliche Aktion im Vollrausch vergessen. Nur die Potsdamer Jury ist begeistert, wählt ihn bald aus. Buderius weiß von nichts – bis die ersten Anrufe von der Presse kommen. Ob Maier selbst seine Bewerbung im Suff geschrieben hat, lässt er am Dienstagabend offen. Während der Lesung samt Diskussion steht dennoch weniger sein literarisches Können im Mittelpunkt, sondern wieder jene nach Oberbürgermeister Jann Jakobs Worten »ausgesprochen peinliche« Angelegenheit vom vergangenen Herbst.470
Von Bedeutung ist dieser Lokalartikel im vorliegenden Zusammenhang gleich in mehreren Hinsichten: Zunächst erzeugt Maiers vorgetragener Text einen Prolog oder eine Vorgeschichte zu Sanssouci, die dann aber keine Verwendung mehr im ›eigentlichen‹, das heißt veröffentlichten Text findet. Liest man den Lesungstext als Vorgeschichte, kann dieser sich auch schon deshalb nicht von seinem Status als Vortext emanzipieren, weil Maier die Figuren nicht nur umbenennt, sondern auch austauscht. Zweitens ist signifikant, dass es sich bei dem Prolog, wie er hier dokumentiert ist, um keinen schriftlich vorliegenden Text handelt, ja die Geschichte verbleibt im Medium der flüchtig-unbestimmten Mündlichkeit und nähert sich damit dem an, was Maier in seinen Romanen
466 U. Crüwell. 467 Brandenburgisches Literaturbüro, S. 10. 468 Brandenburgisches Literaturbüro, S. 10. 469 Zum Literaturladen Wist mit Bildern von Maier bei der Lesung siehe http://www.wistderliteraturladen.de (30. 09. 2011). 470 Henri Kramer: Im Vollrausch zum Stipendium. In: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 7. Juli 2005.
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Das Verderben der Literatur durch das Gerede: Andreas Maier
als ›Gerede‹ umsetzt. Was in der Vorgeschichte ›tatsächlich‹ steht, ist denn auch nur über Beobachtung zweiter Ordnung zu erfahren, wie sie der zitierte Lokalartikel darstellt. Und drittens stellt der Text durch seinen Status des Unveröffentlichten einen besonders starken Lokalbezug her. Maier wendet sich an ein hochgradig exklusives Publikum, das der im Text platzierten ›unterliegenden Bedeutung‹ vermutlich mit einer ausgeprägten »Bereitschaft zum doppelten Verständnis« 471 begegnet. Als conclusio hält der zitierte PNN-Artikel in diesem Sinne fest: »Ob Maiers Text über Potsdam aus dem Rohstadium noch herauskommt, ist ungewiss. Im Literaturladen lässt er seine Hauptfigur Buderius nach etlichen Anfeindungen Selbstmord begehen.« 472 Das vielleicht offensichtlichste Indiz dafür, dass Maier die Verwicklungen um das Potsdamer Stadtschreiberstipendium als Literaturbetriebs-Szene umgedeutet wissen möchte, ist aber die in der FAZ erschienene Stellungnahme des Autors von Ende November 2004.473 Der Artikel Warum ich nicht im Plattenbau leben möchte skizziert aus der Sicht eines ›Ich‹, wie es schließlich zur Ablehnung des Stipendiums von Seiten des Autors gekommen ist. Einen Schwerpunkt der Stellungnahme, die fast eine Feuilleton-Seite umfasst, bildet die Schilderung der Telefonate, die Maier mit ›Frau Rosemarie Spatz‹, der Sekretärin der Potsdamer Kulturdezernentin, offenbar geführt hat. Einen Tag später erneut Anruf Frau Spatz: Es gebe eine Wohnung. Ich: Ja und? Sie: Aber es gebe auch, wie solle sie sagen, eine kleine Posse um diese Wohnung. Ich: Welche Posse denn? Sie: Ach, damit wolle sie mich gar nicht belasten. Aber es habe gestern so ein komischer Artikel hier in der Zeitung gestanden. Ich: Was denn für ein Artikel? Sie: Nun, Herr Maier, Sie dürfen sich das nicht so vorstellen, daß das jetzt eine Altbauwohnung in der Innenstadt ... aber wissen Sie, man ist doch auch im Plattenbau kein Mensch zweiter Klasse, man kann da auch leben. Sie, Frau Spatz, lebe da auch, schon seit Jahren.474
Der Beitrag präsentiert hier ein ›Ich‹, das nach eigenen Angaben unverschuldet »ins Gerede« (I 144) gekommen ist. Dem ›Ich‹ des Autors stehen dabei einer-
471 G. M. Rösch, S. 7. 472 H. Kramer. 473 Hier nehme ich Überlegungen wieder auf, die ich an anderer Stelle skizziert habe. Siehe Verf.: Extrinsisch oder was? Bodo Kirchhoff und Andreas Maier auf dem Markt der Aufmerksamkeit. In: Matthias Beilein u. a. (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 129) Berlin u. Boston 2011, S. 239–259. 474 Andreas Maier: Warum ich nicht im Plattenbau leben möchte. Chronologie eines Skandals: Potsdam schenkte mir vier Monate Platte. Die Presse behauptete, ich wolle ein Schloß. Meine Verteidigung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom vom 26. November 2004.
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seits die Potsdamer Kulturbürokratie und andererseits die massenmediale Berichterstattung gegenüber. Beidem ist das ›Ich‹ intentionslos ausgeliefert, ja es stellt dieses Ausgeliefertsein geradezu aus, indem es den übrigen Beteiligten unterstellt, jeweils »mit Absicht« 475 gegen den Autor zu intrigieren. Maier selbst habe sich indes nicht gegen die Unterbringung ›im Plattenbau‹ ausgesprochen, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass er bei anderen Gelegenheiten in anderen Unterkünften untergebracht worden sei. Daraus einen Vorwurf zu lesen, sei eine Konstruktionsleistung der Medien, der Stadtbürokratie und der beteiligten Wohnungsgenossenschaften. Bedeutsam ist in diesem Kontext nun, dass die zitierte Stelle wie der Artikel insgesamt dezidiert auf solche Verfahren zurückgreift, mit denen das literarische Publikum durch Maiers literarische Texte vertraut ist. Neben dem NichtVerstehen der Gesprächsbeteiligten als zentralem Formelement auf der histoireEbene zählen dazu insbesondere die dramatisierte direkte Rede durch Sprecher-Nennung in Kombination mit Doppelpunkt und elliptischer Auslassung des Prädikats sowie der Einsatz des Konjunktivs. Konfrontiert werden diese Abschnitte, in denen der Text über syntaktisch wenig komplexe Konstruktionen, Namensanreden (›Herr Maier‹), Auslassungspunkte sowie Interjektionen (›ach‹) und Anfangspartikel (›nun‹) sich wiederum gesprochener Sprache annähert, mit solchen Passagen, die das Geschehen resümierend raffen und spezifisch steuern. Die beiden Wohnungsgenossenschaften behaupten, ich hätte gesagt, man lasse Stipendiaten in der Regel in einem Schloß wohnen. Dann lassen sie sich darüber aus, welche Maßstäbe für Literaturstipendiaten herrschen sollen. Da weder GEWOBA noch Karl Marx »für Schlösser verantwortlich sind, tut es ihnen leid, Herrn Maier nicht beherbergen zu können. Für Schlösser sind andere Orte in Potsdam verantwortlich ... «. Datiert vom 4. November. Noch am Nachmittag desselben Tages war die dpa-Meldung erschienen, am nächsten Tag folgte »Bild« und so weiter.476
Diese gegen die gesprochensprachlichen Effekte gesetzte Passage dient dazu, eine Ebene der ›tatsächlichen‹ Gegenbenheiten zu entwerfen. Nicht zuletzt deshalb greift Maiers Stellungnahme wie in der zitierten Passage auf datierbare Dokumente und Korrespondenzmaterial zurück, die der Text nicht nur benennt, sondern aus denen er zudem, durch An- und Abführungszeichen markiert, zitiert. Die damit verbundenen Realitätseffekte bahnen dem Leser den Weg durch die medialen und bürokratischen Verwicklungen, in deren Zuge die Potsdamer Verantwortlichen Maier schließlich einen Kompromiss vorgeschla-
475 A. Maier, Warum ich nicht im Plattenbau leben möchte. 476 A. Maier, Warum ich nicht im Plattenbau leben möchte.
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gen hätten. Auf diesen, Maier zufolge völlig modifizierten Ausschreibungstext beziehungsweise Vertrag kommt das ›Ich‹ des Textes schließlich auch zu sprechen: Dann blättere ich den Vertrag durch, eingedenk der ursprünglichen Ausschreibung (»Potsdams Stellung im Rahmen der europäischen Kultur-, Kunst- und Geistesgeschichte«). Plötzlich steht da in diesem Vertrag, den ich nach Willen des Kulturamts erst nach meinem Einzug in die Marx/GEWOBA-Wohnung zu sehen bekommen hätte: Das Stipendium sei eine neue Kooperation zwischen den Wohnungsunternehmen, ich solle mich mit dem Alltag der Menschen in den Randgebieten auseinandersetzen und ihre »Visionen eines ... humanen und kulturvollen Lebens künstlerisch aufgreifen«.477
Wenn Maier darüber hinaus angiebt, er solle die »geforderten geplanten Stadtrandsiedlungsmenschentexte über die von Marx/GEWOBA untergebrachten Nichtzweiteklassemenschen« 478 nach erfolgreicher Beendigung des Stipendiums und des Aufenthalts in Potsdam der Stadt zur Verfügung stellen, wird deutlich, dass die Stellungnahme die Kulturverwaltung und die Wohnungsbaugesellschaften als das strukturell ›Störende‹ im literarischen Produktionsprozess in Form bringt. Verdeutlichen lässt sich dies auch anhand eines Leserbriefs, der aus Anlass von Maiers Stellungnahme ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheint. Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit setzt der empörte Leser dort primäre und sekundäre Formen literarischer Kommunikation, wie sie sich in Potsdam zu erkennen geben, ins Verhältnis zueinander. Der rhetorischen Frage »Wie soll in diesem Mief Literatur wachsen, die für die Hauptstadt des preußischen Toleranzkönigs der Aufklärung als moderne Visitenkarte hätte taugen sollen?« 479 folgt die literarische Resignation: Maiers Artikel »offenbart Potsdams peinliche Kubatur: Im Dunst von Bohnenwachs, Küchenmief und geistiger Enge präsentiert sich die brandenburgische Landeshauptstadt.« 480 Im Sinne der von Jens Jessen angeführten Metapher des literaturbetrieblichen ›Verderbens‹ der Literatur481 setzt der Leserbrief also die beiden Seiten der Unterscheidung von primären und sekundären literarischen Formen in ein spezifisch asymmetrisches Verhältnis zueinander. Auf den Punkt gebracht wird dieses, den Diskurs um Maier organisierende Verhältnis auch durch den Mode-
477 A. Maier, Warum ich nicht im Plattenbau leben möchte. 478 A. Maier, Warum ich nicht im Plattenbau leben möchte. 479 Harald M. Bock: Potsdamer Posse [Leserbrief]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Dezember 2009. 480 H. M. Bock. 481 Vgl. Jens Jessen: Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur? In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 11–14.
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rator von Maiers Potsdamer Lesung am 26. November 2004. Jener geht ebenso von der Distinktionslinie zwischen »Künstler und Bürokratie« 482 aus, um dann die Stadtverwaltung daran zu erinnern, möglichst günstige Rahmenbedingungen künstlerischer Produktivität bereitzustellen: Denn nur so »können wir Künstler auch produktiv sein.« 483 Der Gegensatz zwischen ›Künstler und Bürokratie‹ wird dabei derart asymmetrisiert und zur Konkretisierung literarischer Formen eingesetzt, dass dem sozialstrukturellen Rahmen literarischen Schreibens wenig mehr als eine ›störende‹ Funktion bleibt. Maiers literarische Profilierung, sein Distinktionsgewinn arbeitet denn auch völlig analog mit der Unterscheidung von ›Literatur und Bürokratie‹, in deren Zusammenhang die Änderung des Ausschreibungstextes vielleicht am deutlichsten betont, dass der Autor die Potsdamer lokalspezifischen Rahmenbedingungen als sein literarisches Programm ›irritierend‹ versteht. So zitiert die Märkische Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 24. November 2004 ausführlich aus einer Einladung des Kultur-Fachbereichsleiters Meck an den Autor: In dem mit »Sehr geehrter Herr Dr. Meyer« (Maier hat über Thomas Bernhard promoviert) eröffneten Schreiben wird »die Alltagskultur« als »eines der fünf Leitprojekte in der Bewerbung Potsdams als Kulturhauptstadt 2010« bezeichnet: »die ›Alltagskultur‹, mit der gerade in den Neubaugebieten lebende Einwohner in den kulturellen Gesamtprozess als zur europäischen Stadt gehörende ›Grundversorgung‹ einbezogen werden sollen.« Warum das vom Kultur-Fachbereichsleiter Gerhard Meck unterzeichnete Papier so überraschend auf die Alltagskultur abhebt, wird dann mit handfesten Defiziten vor Ort begründet: »Es gibt nicht sehr viele Kulturprojekte, die in den sozial zum Teil belasteten Stadträumen allgemeine Anerkennung finden. Wir wünschen uns, das Schreiben über die ›Menschen in der Stadt‹ gehört dazu.484
Von einiger Signifikanz sind an diesem Artikel drei Gesichtspunkte. Erstens hat es der Leser wiederum mit Bedingungen der Beobachtung zweiter Ordnung zu tun, die durch die schlichte Faktizität des Mediums organisiert wird. Bei dem zitierten Dokument handelt es sich um ein vermutlich von der Kulturdezernentin nicht autorisiertes Schreiben des Kulturamtsleiters an Maier. Doch gleichwohl sich das damit einhergehende Missverständnis offensichtlich auflösen lässt – »Die Fixierung auf die ›Platte‹ findet sich tatsächlich nicht im Vertragstext, sondern in schriftlich vorliegenden ergänzenden Erläuterungen von Fi-
482 M. Siemons. 483 M. Siemons. 484 Volker Oelschläger: Kulturamt auf dem Bitterfelder Weg. In: Märkische Allgemeine vom 24. November 2004.
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schers Kultur-Fachbereichsleiter Gerhard Meck (MAZ berichtete)« 485 –, stößt der Leser eben gerade nicht auf die Potsdamer Realität durch, sondern muss sich mit einem Artikel seiner Lokalzeitung zufriedengeben. Zweitens lässt sich die Änderung des Ausschreibungstextes als Eingriff der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen in das literarische Schreiben verstehen. Nicht nur die durch das Zitieren der falschen Schreibweise von Maiers Namen vorgeführte Unkenntnis des Kultur-Fachbereichsleiters und die damit einhergehende Zuschreibung der Verantwortlichkeit auf Meck ist dabei interessant. Relevant ist gerade auch die Änderung des Ausschreibungstextes, sehen Teile des Feuilletons doch eben damit das Programm des »Bitterfelder Weg[es]« 486 und mit diesem die »Sackgasse des sozialistischen Realismus« 487 in Potsdam angekommen. Das Potsdamer Literaturstipendium wird mithin in eine Reihe mit Autorenförderungen totalitär organisierter Staaten gestellt, in denen Literaturförderung »der herrschenden Kunstideologie und politischen Programmatik« 488 dient. Und drittens – und das ist entscheidend – regt die sich in der Vertragsänderung kristallisierende ›Potsdamer Posse‹ Maier zum Verfassen seiner literarischbetrieblichen Stellungnahme sowie letztlich zur spezifischen, zwischen lockerem ›Wimmelbild‹ und auktorial gesteuertem ›Thesenroman‹ angelegten Formbildungen in Sanssouci an. Ihre Verdichtung findet dieses Verfahren im Einsatz des Konjunktivs in direkter Rede, wie ihn Maiers FAZ-Artikel profiliert. So sei nochmals ein Auszug aus der bereits zitierten Passage mit Frau Spatz zitiert: »Sie: Ach, damit wolle sie mich gar nicht belasten. Aber es habe gestern so ein komischer Artikel hier in der Zeitung gestanden. Ich: Was denn für ein Artikel?« 489 Signifikant ist dieses Zitat deshalb, weil es in der dramatisierten direkten Rede von Frau Spatz den Konjunktiv einsetzt, was grammatikalisch aber gar nicht notwendig, ja geradezu regelwidrig ist. Eben deshalb kommt in diesem Verfahren aber jene Kopplung von Direktheit und auktorialer Steuerung in nuce zum Ausdruck, wie es für die Literaturbetriebs-Szene Sanssoucis strukturbildend ist. Denn in der Paradoxie des Konjunktivs in direkter Rede werden Figuren- und Erzählerrede miteinander ›verschliffen‹. Und so gibt sich im letzten Teil des Artikels der zuvor geschilderte, literaturbetrieblich »wabernde[ ] Sprachkosmos« 490 denn auch als ›Erzählung‹ zu erkennen.
485 486 487 488 489 490
V. Oelschläger, »Bitte unterbinden Sie das Tun dieser Frau«. Vision im Plattenbau. Vision im Plattenbau. L. Hagestedt, Autorenpräsentation und -förderung, S. 304. A. Maier, Warum ich nicht im Plattenbau leben möchte. A. Maier, Die Verfestigung der Eitelkeit beim Schreiben, S. 6.
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Liebes Potsdamer Kulturamt, ich habe doch die Auflagen schon längst erfüllt! Eine ganze Erzählung über Frau Spatz, die doch bestimmt nie das Glück geahnt hätte, mal in einer Erzählung wie dieser hier vorzukommen ... einer Erzählung, die darüber hinaus auch noch die Stellung Potsdams in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte gleich mitreflektiert.491
Unter Rückgriff auf die für offene Briefe typische direkte Ansprache des Adressaten492 erklärt dieser letzte Teil, der bemerkenswerterweise nicht als eigener Absatz vom Übrigen abgetrennt ist, im Modus einer subscriptio das zuvor Geschilderte zur ›Erzählung‹ und ordnet es in die auktoriale Intention ein. Der damit einhergehende Wechsel der Erzählebene – der homodiegetische Erzähler transformiert sich in eine heterodiegetische Position – ist in zwei Hinsichten wichtig. Zunächst wird auf diese Weise das ›Ich‹ des vorherigen Teils explizit als Figur einer ›Erzählung‹ markiert. Geht man davon aus, dass das ›Ich‹ des letzten Absatzes mit der Autorfunktion Maier zusammenfällt, könnte man sagen, dass Maier die Handlungen (also vor allem das Ablehnen der Wohnung), die ihm im Rahmen der ›Potsdamer Posse‹ zugeschrieben werden, als das Handeln einer Figur in einer ›Erzählung‹ in Szene setzt. Genau damit integriert Maier aber letztlich das Bild, das von ihm in den Medien vorherrscht, in das ›Gerede‹, das seine Texte ausgebreitet haben beziehungsweise mit Sanssouci noch ausbreiten werden.493 Zum anderen wird durch den Wechsel der diegetischen Ebene eine Erzählinstanz eingeführt, die für sich in Anspruch nimmt, als Beobachter zweiter Ordnung jenseits des ›Geredes‹ zu stehen. Vorausgesetzt ist dabei der Umstand, dass die Frage, ob eine Kommunikationseinheit ein Gerücht ist, sich nicht an der Kommunikation ›an sich‹ ablesen lässt, sondern auf einen Erzähler, einen Beobachter angewiesen ist, der die jeweilige kommunikative Operation als ›unbestimmtes Gerede‹ ausweist. Dieser Erzähler ist aber auch selbst wiederum in seinem Status insofern unbestimmt, als er im Hinblick auf sein Beobachten beobachtet werden kann.494
491 A. Maier, Warum ich nicht im Plattenbau leben möchte. »Frau Spatz arbeitet nun im Naturkundemuseum.« H. Kramer. 492 Siehe dazu allgemein und mit Blick auf den deutschsprachigen Literaturbetrieb um 2000 Michael Braun: ›J’accuse‹. Literarische Skandalisierung in Offenen Briefen am Beispiel der Grass- und der Walser-Debatte. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Mit drei Abbildungen. Göttingen 2007, S. 588–597. 493 Ein Leserbrief hält fest: »Mit der »Laudatio« auf das Potsdamer Kulturamt hat sich Andreas Maier sein viermonatiges Stipendium bereits verdient [...].« Helga Scheidemantel: Einfach köstlich [Leserbrief]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Dezember 2009. 494 Vgl. Jürgen Fohrmann: Kommunikation und Gerücht. Einleitung. In: Jürgen Brokoff u. a. (Hg.): Die Kommunikation der Gerüchte. Göttingen 2008, S. 7–13, hier insbesondere S. 12.
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Das ›Verschleifen‹ des Autors mit der literarischen Form Sanssoucis zu einer Literaturbetriebs-Szene setzt dabei nicht zuletzt auf Interviews sowie Autorenlesungen und deren feuilletonistische Besprechungen. Was während Lesungen durch die Anwesenheit des Autors ermöglicht wird, transportiert die literaturkritische Berichterstattung, aber auch der mediale Rahmen des abgedruckten Interviews in der Zeitung im Medium der Fotografie. Die Form der dort realisierten Inszenierungspraxen Maiers ist in Sanssouci angelegt und dient dazu, den Autor mit dem im Roman wiederholt anzutreffenden auktorialen Erzähler zu ›verschleifen‹. So sind Fotos als Medien der Literatur- oder auch Autorvermittlung495 im Zusammenhang mit Sanssouci insofern ein wichtiger Bestandteil von Maiers Inszenierung seiner Person als Autor, als er sich auf diese Weise in Kontinuität zur erzählten Welt des Romans stellt. Es handelt sich mithin nicht um Kommentierungen, sondern um gleichsam paratextuelle Visualisierungen, die als Literaturvermittlungsmedien nicht nur die Rezeption steuern und beeinflussen, sondern selbst als Elemente der literarischen Selbstprogrammierung verstanden werden müssen. Im Zentrum dieser visualisierenden Inszenierungspraxen steht das stark gewandelte Äußere des Autors bei Erscheinen von Sanssouci: »Extremkurzfrisur, modisch leicht unrasiert, freundlich-kühler Blick – ein deutsches Schriftsteller-Modell.« 496 Volker Weidermann, der mit diesen Schlagworten Maier beschreibt, wie er bis zur Veröffentlichung von Sanssouci dem literarischen Publikum bekannt gewesen sei, betont das veränderte Erscheinungsbild des Autors: 2009 trägt Maier nämlich Vollbart und längere, nur unwesentlich gekämmte, lockige Haare und kleidet sich mit Wollpullover geradezu provokativ konträr zur zeitgenössischen Mode. Auch wenn der Klappentext von Sanssouci ebenso wie die entsprechenden Rezensionen im Feuilleton mehrheitlich auf eine nicht mehr aktuelle Fotografie zurückgreifen, die den Autor »[v]or dem Bart« 497 zeigt, ist Maiers gewandeltes Äußeres doch auffallend, ja gerade der Kontrast zwischen den Erwartungen, die das Autorfoto im Buchumschlag schürt, und dem ›tatsächlichen‹ Auftreten auf Lesungen legt es dem Publikum nahe, nach der Lesung oder der Lektüre den Autor mit seinem Erzähler, aber auch etwa mit der Figur des Mönchs Alexej, wenn nicht zu identifizieren, so doch aber zu ›verschleifen‹. Der Autor lässt, so heißt es kommentierend zu einer Lesung Maiers, sein altes ego hinter sich »zugunsten einer Frisur, die ausieht wie aus einer
495 Siehe speziell zum Komplex visualisierter Autorschaft Martina Wagner-Egelhaaf: Ikonoklasmus. Autorschaft und Bilderstreit. In: Christel Meier u. Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen. Berlin 2011, S. 347–363. 496 V. Weidermann, Ich will die Eskalation. 497 V. Weidermann, Ich will die Eskalation. Die Hervorhebungen sind weggelassen.
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Altgläubigensiedlung am Jenissej, zugunsten auch vom Glauben an bestimmte feststehende Werte, dem man dort vermutlich ebenfalls begegnen dürfte«.498 In Balkes Artikel, dem dieses Zitat entnommen ist und der den Untertitel ›Seine Frisur ist neu, aber er selbst ist ganz der Alte‹ trägt, ist denn auch ein Foto eingelassen, das Maier bei der von Hubert Winkels moderierten Lesung im Frankfurter Literaturhaus zeigt. Und auch die Ankündigung der Lesung im Internet durch das Literaturhaus verwendet ein Foto, das Maier mit ungewöhnlichem Vollbart zeigt.499 Jener komplettiert mithin nicht nur sein Label des kauzigen, abgeschieden lebenden, naturverbundenen Autors der Wetterau. Er inszeniert sich darüber hinaus auch und gerade als potentielle Figur seiner Romane, die gleichsam verfolgt, »wie der kleine Stammtisch restverwertet[ ], was der große Stammtisch, die Medien, ihm an Material überantwortet« (S 237) – damit andererseits aber auch selbst zum Akteur des ›Geredes‹ wird, das sein Roman entfaltet. In diesem Sinne kann es schließlich auch nicht überraschen, dass Maier sich etwa für die Frankfurter Allgemeine Zeitung sowie für die Zeitschrift PRINZ in einer als provinziell markierten Wirtschaft Hausmannskost speisend und Apfelwein trinkend ablichten lässt. In jenem Lokal, durch das die öffentliche Kommunikation läuft und die Sanssouci prägt, könnte also der Autor selbst stehen und dort wie Nils über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft reflektieren. Die auf diese Weise in Szene gesetzte ›Verschleifung‹ von Autorinszenierung und erzählter Welt, bringt vielleicht Rainald Goetz, für Irritationen von realer und fiktionaler Realität nicht weniger bekannt,500 am prägnantesten auf den Punkt. In seinem Bericht. Herbst 2008, der selbst nicht wenig von Realitätseffekten lebt, findet sich folgende Literaturbetriebsanekdote: Das Taxi fuhr durch die Frankfurter Nacht, die anderen redeten, ich hatte eben diesen Erkenntnismoment gehabt, die Klarheit freute mich kurz, aber zugleich war mir auch der Knast, das Knasthafte dieser Literaturkonzeption vor Augen getreten, mir fiel der Andreas Maier ein, der vorhin mit seinem herrlichen neuen Apostelbart einmal an der Bar vorbeigeweht war, wie so eine Erscheinung, sein neuer Roman Sanssouci, vielleicht würde sich ja doch auch für mich dieser Identifikationskurzschluss meiner all-in-one-Literatur irgendwann auf irgendetwas anderes, ich weiß gar nicht was denn genau hin, auftun501
498 Florian Balke: Der Russe kommt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Januar 2009. 499 Siehe Literaturhaus Frankfurt: Andreas Maier liest aus seinem neuen Roman »Sanssouci«. www.literaturhaus-frankfurt.de/01_programm/pr_jan_detail.html (17. 10. 2009). 500 Siehe nur Remigius Bunia: Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien. (Philologische Studien und Quellen 202) Berlin 2007, S. 19–29. 501 Rainald Goetz: loslabern. Bericht. Herbst 2008. (Schlucht 2) Frankfurt a. M. 2009, S. 30. Vgl. dazu auch Stefan Greif: loslabern. Rainald Goetz’ maximale Ethik der Schrift und die Genesis der Popkultur. In: Thomas Wegmann u. Norbert Christian Wolf (Hg.): »High« und »low«.
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So sehr loslabern die Vision einer Literatur als »text + kritik«,502 des Ineinanderblendens von Buch und Autoreninterview, sowohl als Werk als auch als Paratext, ja sowohl als primäres als auch als sekundäres literarisches Formenkonglomerat als »das ultimative Buchideal« 503 in Aussicht stellt, weil in dieser Form »alles in allem kurz gesagt so miteinander vermengt [wäre; DCA], dass am Ende [...] jeder Satz des Buches auf jede nur erdenkliche Interviewfrage eine mögliche und nicht falsche Antwort wäre«,504 so sehr appliziert Goetzens Bericht in der zitierten Passage das Modell seines Schreibverfahrens einer ›allin-one-Literatur‹ auf Maiers Auftreten und dessen Bezug zu Sanssouci. Mit all dem wird der Autor Maier als ein »Textkonstrukt« 505 in Szene gesetzt, das von den den ›eigentlichen‹ Text rahmenden und vermittelnden Paratexten konstruiert wird, gleichwohl nicht auf einer explizierenden Ebene platziert ist, sondern sich in der Diegese befindet, die die Texte entwerfen. Sanssouci und die FAZStellungnahme ›wirken‹ als literaturbetriebliches ›Gerede‹, wie es Maier als Literatur ›verderbend‹ programmatisch versteht. In dieser Hinsicht vollzieht der Autor die paradoxe, weil zwischen kommunikativer Selbstreferenz, die sich einzelnen Akteuren entzieht, und gezielt platzierten Intrigen des ›Nicht-Verstehen-Wollens‹ verortete Struktur literaturbetrieblichen ›Geredes‹, um dabei die unterstellte Verantwortlichkeit im Rahmen der ›Potsdamer Posse‹ als bloßes ›Gerede‹ auszuweisen, damit die eigene ›Intentionslosigkeit‹ zu betonen, mit diesem Akt der Ablenkung von der eigenen Personen sich jedoch gleichzeitig wiederum die Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs zu sichern.506 Die Literaturbetriebs-Szene Sanssoucis oszilliert zwischen einer auf abrechnende Kommentierung fokussierte Form im Medium des ›Betriebsgeredes‹ um Literaturförderung und deren Literarisierung.
Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 130) Berlin u. Boston 2011, S. 183–198. 502 R. Goetz, S. 29. 503 R. Goetz, S. 29. 504 R. Goetz, S. 29. 505 T. Hoffmann, S. 285. 506 Vgl. H. Pompe, S. 131.
5 Das Verderben der Literatur durch die Wahrheit: Norbert Gstrein Seinem damals 23-jährigen Tiroler Schriftstellerkollegen Norbert Gstrein gibt Johannes Trojer im April 1985 in einem Brief Ratschläge in Sachen literarischer Karriereplanung. wenn Du ernsthaft weiterschreibst, Dich freischreibst von allen guten und schlechten vorbildern und vor allem vom laufenden literaturbetrieb Dich nicht verderben laßt, haben wir leser von dir gute und wichtige texte und bücher zu erwarten.1
Der Brief des 1935 geborenen Trojer setzt pointiert primäre und sekundäre Formen der Literatur in ein problematisches Bedingungsverhältnis zueinander, um dabei drei zu unterscheidende, als Klimax angeordnete Gesichtspunkte anzusprechen: Sei es erstens wichtig, die Arbeit am konkreten Manuskript mit einer gewissen ›Seriosität‹ zu betreiben, solle der junge Gstrein sich – zweitens – um eine Abgrenzungsbewegung, einen Distinktionsgewinn gegenüber seinen literarischen ›Vorbildern‹ bemühen. Der Konditionalsatz kulminiert schließlich in einem Ratschlag den sozialstrukturellen Kontext literarischen Schreibens betreffend. Trojer warnt Gstrein, der seit 1983 als Tiroler Schriftstellerhoffnung literarische Texte veröffentlicht, vor dem ›Verderben‹ im ›laufenden Literaturbetrieb‹. Die Frage, was diesen ›laufenden Betrieb‹ strukturell bestimmt und wie das ›Verderben‹ zu fassen sei, bleibt offen. Doch gleichwohl ist bemerkenswert, dass die wie auch immer zu bestimmenden betrieblichen Rahmenbedingungen der wesentliche Bedingungsanker literarischer Formen zu sein scheinen, ja die Folie darstellen, vor deren Hintergrund ›gute und wichtige‹ Literatur nicht nur erkennbar, sondern ex negativo offenbar überhaupt erst möglich wird. Dass Gstrein Trojers Ratschläge vermutlich berücksichtigt hat, wird 1988, also gut drei Jahre später, deutlich, als bei Suhrkamp, mithin in jenem Verlag, der seit der Nachkriegszeit wie kein zweiter für ›gute und wichtige Bücher‹ im deutschsprachigen Raum steht, Gstreins Einer erscheint. Gleichwohl das Debüt von der Kritik gut aufgenommen wird, scheint indes die Gefahr des literaturbe-
1 Brief von Johannes E. Trojer an Norbert Gstrein vom 17. April 1985. Nachlass Trojer im Forschungsinstitut Brenner Archiv. Zitiert nach Johann Holzner: Attacken gegen die Ästhetik der Erfahrungsprosa. In: Kurt Bartsch u. Gerhard Fuchs (Hg.): Norbert Gstrein. (Dossier 26) Graz 2006, S. 47–56, hier S. 53.
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trieblichen ›Verderbens‹ nicht ausgestanden. In einem der »Auftakt[e]«2 der Debatten um die ›Verfassung‹ deutschsprachiger Literatur seit den 1990er Jahren, in Frank Schirrmachers Artikel Idyllen in der Wüste oder Das Versagen vor der Metropole, fungieren nämlich ausgerechnet die Texte Gstreins als Paradebeispiel für eine literaturbetrieblich ›beeiträchtigte‹ Literatur. Folgt man Schirrmacher, lassen sich nicht zuletzt an den Texten der österreichischen Schriftstellerhoffnung »die Stilformen, die Gemeinplätze, die rhetorischen Rituale« 3 der deutschsprachigen Gegenwartliteratur ablesen. Besonders tragisch sei dies deshalb, weil Gstrein ohne Frage literarisches Talent besitze: Gerade weil Gstrein zu den begabteren Autoren gehört, zeigen seine Mißgriffe die Achsenpunkte des allgemeinen Desasters. Was sofort ins Auge fällt, ist die Unfähigkeit zu erzählen. Er glaubt dem Dilemma zu entkommen, indem er sich der Theorie in die Arme wirft.4
Die bei Gstrein konsequent durchgezogene Durchbrechung des Erzählens durch dessen Reflexion »wäre vor achtzig, neunzig Jahren immerhin erstaunlich gewesen. Jetzt wirkt sie nur noch staubig, unsouverän, nachgeahmt, kurz: epigonal«.5 Gstreins Rückgriff auf »die abgegriffenen, unproduktiv gewordenen Denkbilder einer veralteten Avantgarde« 6 lasse sich nicht nur als Ausdruck eines misslungenen ›Sich-Freischreibens‹ von literarischen Vorbildern im Sinne Trojers verstehen, sondern sei, so Schirrmacher, Symptom eines an den Vorgaben der literaturbetrieblichen Gatekeeper (Literaturkritiker, Lektoren) geschulten Programms. Mit seiner hochgradig selbstreflexiven Literatur scheint Gstrein mithin, folgt man dem FAZ-Herausgeber, gleichsam den von Trojer angesprochenen ›Gefahren des Betriebs‹ schlussendlich doch erlegen zu sein. Nun mag ein einzelner Brief und ein polemisch zugespitzter Artikel nicht geeignet sein, um als Ankerpunkt für die literaturprogrammatische Relevanz der Unterscheidung von primären und sekundären literarischen Formen bei Norbert Gstrein zu dienen. Die Betonung einerseits der ›Gefahren des Betriebs‹ und andererseits der nicht minder fatalen ›Anbiederung‹ an betriebliche Gate-
2 Andrea Köhler u. Rainer Moritz: Einleitung. In: Andrea Köhler u. Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998, S. 7–14, hier S. 8. 3 Frank Schirrmacher: Idyllen in der Wüste oder Das Versagen vor der Metropole. Überlebenstechniken der jungen deutschen Literatur am Ende der achtziger Jahre. In: Andrea Köhler u. Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998, S. 15–27, hier S. 23. 4 F. Schirrmacher, Idyllen in der Wüste, S. 22. 5 F. Schirrmacher, Idyllen in der Wüste, S. 23. 6 F. Schirrmacher, Idyllen in der Wüste, S. 24.
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keeper verdeckt denn auch eher die Form, um die es im Folgenden gehen soll, als sie zu erhellen. Und doch sind beide Betriebsanekdoten, so unterschiedlich sie auch sein mögen, zumindest insofern aufschlussreich, als sie darauf aufmerksam machen, dass selbst ein Autor wie Gstrein, dem man auf den ersten Blick vielleicht eine gewisse ›Literaturbetriebsferne‹ zugestehen würde, mit eben diesem Betrieb in Berührung kommt, ja sich zu diesem verhalten muss. Und so sind es tatsächlich nicht nur die schriftstellerische Freundschaft zwischen einem erfahrenen Autor und einem Debütanten und ein aufmerksamkeitsstarker Debattenauslöser, die andeuten, wie groß auch im Falle Gstreins der Bedarf an sekundären Formen ist, in denen das, was ein literarisches Programm bestimmt, überhaupt beobachtbar wird. Im Zusammenhang mit seinem 2010 erschienen Roman Die ganze Wahrheit spricht er gar von einer literaturbetrieblichen ›Beeinträchtigung‹ seines literarischen Schreibens. »Ich dachte, man könnte dem Betrieb entkommen«, sagt Norbert Gstrein [...], »aber das gelingt nicht.« Das ist auch eine Art Scheitern, dem vermutlich ein Roman wie »Die ganze Wahrheit« entspringt.7
Relevant an diesem Selbstkommentar ist, dass Gstrein einerseits das Verhältnis zwischen primären und sekundären Formen als ein problematisches bestimmt, ja als einen Zusammenhang, dem er sich vergeblich versucht habe zu entziehen. Andererseits scheint er aber eben diese Störung oder Irritation produktionsästhetisch für Die ganze Wahrheit genutzt zu haben. Im Folgenden soll es um die Frage gehen, wie das von Gstrein angedeutete ›Scheitern‹ im Betrieb, dem sein Roman ›entsprungen‹ sei, zu verstehen ist. Die ganze Wahrheit, so die zu entwickelnde These, inszeniert eine im literarischen Programm Gstreins angelegte Literaturbetriebs-Szene, die Literaturbetriebspraxis und Literaturbetriebsreflexion insofern miteinander verkettet, als Gstreins betriebliche Autorinszenierung weniger kommentierend ausgerichtet ist, sondern ähnlich Andreas Maiers Sanssouci als »Ausdehnung« 8 seines literarischen Programms zu lesen ist. Wenn man Gstreins Texte als durch ›selbstreflexives Erzählen‹ gekennzeichnet beschreibt, kommt den diversen auktorialen Paratexten (auch dem soeben zitierten) also nur sehr eingeschränkt die Funktion zu, eben diese ›Selbstreflexion‹ zu explizieren; vielmehr knüpfen sie an dieser an. Die Literarisierung von Literaturvermittlung ist dabei keine Inszenierung, die an die Stelle sekundärer Formen tritt, sondern gleichzeitig ein
7 Gerrit Bartels: Ora et Ira. In: Der Tagesspiegel vom 17. Juni 2010. 8 Torsten Hoffmann: Das Interview als Kunstwerk. Plädoyer für die Analyse von Schriftstellerinterviews am Beispiel W. G. Sebalds. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 55 (2009), Nr. 2, S. 276–292, hier S. 287.
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Moment literaturbetrieblicher Praxis, die gerade dadurch, dass die Möglichkeiten und Grenzen der entworfenen fiktionalen Realität im Kontrast zu ihrem realen Gegenstück markiert werden, kontinuierlich herausgefordert wird.
5.1 Fakten, Fiktion und Literaturbetriebskalkül Um seiner Funktion als Literaturvermittler einmal mehr gerecht zu werden, setzt das 1963 von Walter Höllerer gegründete Literarische Colloquium Berlin, die »Urmutter aller Literaturhäuser«,9 Mitte Juni 2010 auf die »Unmittelbarkeit des Autors« 10 und begrüßt Norbert Gstrein zu einer Buchvorstellung. Moderiert von Literaturkritiker Hubert Winkels präsentiert und diskutiert der Autor mit »zwei exzellente[n] Kenner[n] des literarischen Lebens« 11 – es sind dies Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses in Hamburg, und die Literaturkritikerin Kristina Maidt-Zinke – seinen neuen Roman Die ganze Wahrheit. So konventionell die Buchpräsentation mit anwesendem Autor als Veranstaltungsform in Literaturhäusern auch sein mag,12 zwei Gesichtspunkte des »literarischen Auftritts« 13 Gstreins sind doch durchaus ungewöhnlich und mit Blick auf die weitere Rezeption des Romans von nicht unerheblicher Bedeutung. Erstens liegt
9 Anja K. Johannsen: (Un)sichtbare Handschriften. Zur problematischen Funktion von Literaturhäusern in Kanonisierungsprozessen. In: Matthias Beilein u. a. (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 129) Berlin u. Boston 2011, S. 179–192, hier S. 181. Gleichwohl, darauf weist Johannsen hin, handelt es sich beim LCB um kein Literaturhaus »im engeren Sinn, weil es außer dem Veranstaltungsbetrieb zugleich ein Stipendiatenhaus für Autoren und [...] Übersetzer unter seinem Dach birgt«. 10 Matthias Beilein: Literaturbetrieb. In: Gerhard Lauer u. Christine Ruhrberg (Hg.): Lexikon Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2011, S. 181–183, hier S. 183. 11 LCB – Literarisches Colloquium Berlin: Programmarchiv 06/2010. http://www.lcb.de/ archiv/index.htm?jahr=10&monat=06 (10. 07. 2011). 12 Vgl. für einen Überblick über Formen und Funktion von Literaturhäusern als Literaturvermittler Thomas Böhm: Literaturhaus. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 228–230; Rainer Moritz: Ein Forum für die Literatur. In: Heinz Ludwig Arnold u. Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3., völlig veränderte Auflage. Neufassung. München 2009, S. 123–129; Sonja Vandenrath: Zwischen LitClubbing und Roundtable. Strategien von Literaturhäusern. In: Erhard Schütz u. Thomas Wegmann (Hg.): literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing. Berlin 2002, S. 172–188. 13 Christoph Bartmann: Dicht am Dichter. Die Lesung als Ritual und Routine. In: Anja HillZenk u. Karin Sousa (Hg.): To read or not to read. Von Leserinnen und Leseerfahrungen, Leseförderung und Lesemarketing, Leselust und Lesefrust. (Publications of the Institute of Germanic Studies 83) München 2004, S. 120–129, hier S. 124.
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Gstreins Roman zum Zeitpunkt der Buchpräsentation, die in der Reihe ›Studio LCB‹ vom Deutschlandfunk organisiert wird, noch gar nicht vor.14 Das Erscheinen der ganzen Wahrheit ist erst für Mitte August, also gut zwei Monate später angekündigt, so dass das interessierte Publikum im LCB (und die Hörer am Radio) anders als die Gesprächsbeteiligten den ›eigentlichen‹ Text noch gar nicht kennen kann. Der ohnehin für Buchvorstellungen und Lesungen typisch asymmetrisch angelegte, weil auf den Monolog eines Sprechers (des Autors) fokussierte »interaktive Rezeptionsprozess[ ]« 15 hat sowohl für einen Großteil der Anwesenden als auch für das übrige Publikum gleichsam eine Leerstelle im Zentrum. Wird davon ausgegangen, dass bei Lesungen das Werk oftmals hinter seinem Autor geradezu ›verschwinde‹,16 weil sich die Veranstalter nicht zuletzt darum bemühten, den Bedürfnissen eines Publikums gerecht zu werden, das »an ›Botschaften‹, politischen Aussagen, Lebensweisheiten und den autobiographischen Elementen des Schreibens interessiert ist«,17 wird eben dieser Effekt im LCB durch das ›fehlende‹ Referenzobjekt noch zusätzlich ver-
14 Das Gespräch wird am 26. Juni im Deutschlandfunk gesendet. Vgl. http://www.dradio.de/ dlf/programmtipp/vorschau_dlf/1176952/ (10. 07. 2011). 15 Katrin Kohl: Festival, Performance, Wettstreit: deutsche Gegenwartsliteratur als Ereignis. In: Nicholas Saul u. Ricarda Schmidt (Hg.): Literarische Wertung und Kanonbildung. Würzburg 2007, S. 173–190, hier S. 186. Severin Perrig spricht in diesem Zusammenhang von »Einwegkommunikation«. Severin Perrig: Stimmen, Slams und Schachtel-Bücher. Eine Geschichte des Vorlesens. Von den Rhapsoden bis zum Hörbuch. Bielefeld 2009, S. 105. 16 Vgl. die Formulierung bei Thomas Wegmann: Zwischen Gottesdienst und Rummelplatz. Das Literaturfestival als Teil der Eventkultur. In: Erhard Schütz u. Thomas Wegmann (Hg.): literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing. Berlin 2002, S. 121–136, hier S. 127. 17 Thomas Böhm: Lesung. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 203–206, hier S. 205. Was von Lesungen und Buchpräsentationen zu halten ist, ist – und dies jenseits der Diskussion um ›Eventisierung‹ der Literaturvermittlung – gleichwohl umstritten. So wird zum einen daraf hingewiesen, Lesungen hätten »[m]it literarischer Qualität [...] wenig zu tun«, Gunter E. Grimm: ›Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.‹ Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation. In: Gunter E. Grimm u. Christian Schärf (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen. Bielefeld 2008, S. 141–167, hier S. 166. Es gibt auch Stimmen, denen bereits die Buchpräsentation in Form der Diskussionsrunde mit Autor als mehr oder weniger betrieblich ›verdorbene‹ Vermittlungsform gilt, weil sie Literatur nicht mehr ›an sich‹ vollziehe, sondern nur noch als zu diskutierendes Thema behandele. Siehe Doris Moser: Du sollst dir kein Bildnis machen, sondern fernsehen. Eine sehr kleine Ikonologie des Ingeborg-Bachmann-Preises 2001. In: Michael Ritter (Hg.): praesent 2002. Das literarische Geschehen in Österreich von Jänner 2000 bis Juni 2001. Wien 2002, S. 122–132, hier S. 123. Auf der anderen Seite gibt es Anstrengungen, die Literarizität der Lesung herauszustreichen. Vgl. dazu Thomas Böhm: Für ein literarisches Verständnis von Lesungen. In: Thomas Böhm (Hg.): Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: OTöne, Geschichten, Ideen. Köln 2003, S. 170–185.
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stärkt. Gstreins im Rahmen der Buchvorstellung realisierte auktoriale »Steuerungsstrategie[ ]« 18 kann mithin besonders gut zur Entfaltung kommen, weil sie bereits vor dem Erscheinen des Romans wesentliche Schemata der sich bis dato gleichsam im luftleeren Raum bewegenden Rezeption strukturiert. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass – zweitens – die Gesprächsrunde um Gstrein, Moritz und Maidt-Zinke durch einen spezifischen bias geprägt ist. So sehr sich die Diskussionsteilnehmer auch um eine »Intellektualisierung des literarischen Textes durch das Gespräch über ihn« 19 bemühen, scheint die Diskussion doch immer wieder vom ›Eigentlichen‹ der Fiktion in die reale Realität abzugleiten. Ist der Moderator bei Lesungen üblicherweise darum bemüht, »im Gespräch mit den Autoren dem Publikum das vorgestellte literarische Projekt auf seine ästhetische, literarische und gesellschaftliche Relevanz zu befragen«,20 erliegen die literarischen Experten im LCB gleichsam einer »Bereitschaft zum doppelten Verständnis«.21 Als fatal erweist sich dies insofern, als dieser für Schlüsselliteratur konstitutiven ›Sensibilität‹ für eine unter der Textoberfläche vermutete Ebene des ›eigentlich Gemeinten‹ gewöhnlich unterstellt wird, einen der Literarizität der Literatur nicht angemessenen, weil auf außertextuelle Referenzialisierung abhebenden ›Lektürefehler‹ zu begehen. Nicht nur das Label ›Gstrein‹ ist dem Feuilleton insbesondere für Schreibverfahren der »Überfeinerung und Überkomplexität« 22 bekannt, das heißt für ein Programm »des immer wieder sich selbst reflektierenden Erzählens«.23 Auch der Autor selbst hat sich an verschiedenen Stellen explizit von »professionellen Entschlüsseler[n] und dilettantischen Schnüffler[n]« 24 distanziert: »Bei einem fiktionalen Roman zu fragen: Was steckt hinter der fiktionalen Wahrheit? Da muß es ja noch etwas geben! Das machen doch sonst wirklich nur die ungeübtesten und die ungeschultesten Leser.« 25 In dieser Hinsicht
18 G. E. Grimm, S. 167. 19 Stephan Ditschke: »Das Publikum hat getobt!«. In: Heinz Ludwig Arnold u. Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3., völlig veränderte Auflage. Neufassung. München 2009, S. 307–321, hier S. 307. 20 T. Böhm, Lesung, S. 205. 21 Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. (Studien zur deutschen Literatur 170) Tübingen 2004 , S. 7. 22 Hubert Winkels: Voodoo-Dagmar. In: Die Zeit vom 12. August 2010. 23 Gerrit Bartels: Die Dauerfälscher. In: Die Tageszeitung vom 9. August 2003. 24 Norbert Gstrein: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Frankfurt a. M. 2004, Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle WG in runden Klammern im Text, hier S. 58. 25 Axel Helbig: Der obszöne Blick. Zwischen Fakten und Fiktion. Gespräch mit Norbert Gstrein am 16. Januar 2005. In: Kurt Bartsch u. Gerhard Fuchs (Hg.): Norbert Gstrein. (Dossier 26) Graz 2006, S. 9–29, hier S. 25.
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droht die Struktur des Experten-Gesprächs, das Werk für »außerliterarische[ ] Zweck[e]«,26 im engeren Sinne für eine auf Kosten der ›literarischen Relevanz‹ ausgetragene Skandalisierung zu korrumpieren. Und so sieht sich der Autor schließlich selbst genötigt, in die Diskussion korrigierend einzugreifen und den Beteiligten, insbesondere aber dem Publikum durch einen für Lesungen typischen Blick »hinter den Rücken des Textes« 27 die Relevanz des Verhältnisses von Realität und Fiktion, Oberfläche und unterliegender Bedeutung für die angekündigte ganze Wahrheit zu erläutern. »Dann müssen wir wohl doch darüber sprechen, worum es geht«, sagt Norbert Gstrein irgendwann, nachdem die Sparringspartner seiner Buchvorstellung in der Reihe »Studio LCB« etwa eine halbe Stunde lang um die Namen »Suhrkamp« oder »Ulla Berkéwicz« herumgeredet hatten wie um einen sehr, sehr heißen Brei, an dem sich keiner die Zunge verbrennen wollte. Sein neuer Roman, der ironisch-provokativ »Die ganze Wahrheit« heißt, schildere eine »Konstellation«, die »an eine Konstellation im Suhrkamp Verlag erinnert«. Da habe es keinen Sinn, »Versteck zu spielen« oder zu sagen: »Das ist mir unterlaufen.« Also Klartext bitte!28
Mit seinem kommentierenden »Text zum Text« 29 überrascht Gstrein sowohl seine Gesprächspartner auf dem Podium als auch das anwesende beziehungsweise am Radio zuhörende Publikum. Gemäß Richard Kämmerlings’ Protokoll weist der Autor nämlich die von Maidt-Zinke, Moritz und Winkels mehr oder weniger implizit und eher ungewollt ausgegebene »Anleitung zum Fehllesen« (WG 52) keineswegs zurück. Gstrein manifestiert vielmehr kraft auktorialer Legitimation die latent vorhandenen Vermutungen, die das Kritikergespräch im LCB strukturieren, ja er bedient offen das Bedürfnis nach den Spuren der Wirklichkeit im Roman, indem er die vermutete Rückkopplung der fiktionalen an die reale Realität ausdrücklich bestätigt. Den ›heißen Brei‹, um den es dabei in der Gesprächsrunde geht, rührt Die ganze Wahrheit durch eine spezifische Figurenzeichnung und Handlungsanlage an. Der Roman stellt die zu »Ausflüge[n] ins Übernatürliche« 30 neigende Schriftstellerin und Verleger-Witwe Dagmar ins Zentrum, die nicht nur ihren Mann, den »Verleger Heinrich Glück« (GW 179), immer wieder in die »Klatschspalten« (GW 56) der »bunten Blätter[ ]« (GW 11) zieht. Nach dessen Tod baut sie zudem als selbsternannte »Verlegerin«
26 G. M. Rösch, S. 7. 27 C. Bartmann, Dicht am Dichter, S. 126. 28 Richard Kämmerlings: Die ganze Wahrheit über Suhrkamp. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Juni 2010. 29 C. Bartmann, Dicht am Dichter, S. 126. 30 Norbert Gstrein: Die ganze Wahrheit. Roman. München 2010. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle GW in runden Klammern im Text, hier S. 29.
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(GW 122) den in Wien ansässigen Verlag nach ihren Vorstellungen um und ›bereinigt‹ (vgl. GW 21) dabei ihre eigene Biographie sowie die ihres verstorbenen Mannes. Mit der so konturierten Beziehung zwischen der schönen Schriftstellerin und dem älteren Verleger, die nach Auskunft des Ich-Erzählers »von Anfang bis Ende [...] etwas Schmierenkomödiantisches« (GW 10–11) gehabt habe, aber insbesondere auch mit dem »Theater, das Dagmar [...] um Heinrich Glücks Sterben inszeniert[ ]« (GW 118), thematisiert der Roman eine Konstellation, die, so die von Gstrein abgesegnete Annahme der Diskutanten im LCB, mit der Beziehung zwischen dem Ende 2002 verstorbenen Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld und dessen Frau Ulla Unseld-Berkéwicz ihre Entsprechung in der realen Realität findet. Indem Gstrein durch seinen Kommentar in dieser Hinsicht für ›Klartext‹ sorgt, wirft seine auf die Romanrezeption zielende ›Steuerungsstrategie‹ gleichwohl in einer anderen Hinsicht ein neues Problem auf: »Welches Kalkül steckt dahinter, wenn Norbert Gstrein sein Buch vorab als ›Prosa mit schwerem Wirklichkeitsgewicht‹ selbst in die Debatte bringt?« 31 Kämmerlings zufolge ist weniger von Bedeutung, dass Gstreins ganze Wahrheit ganz offensichtlich Realitätseffekte erzeugt, die der in Literaturbetriebsfragen informierte Leser auf die Unseld/Berkéwicz-Konstellation der realen Realität applizieren kann. Vor dem Hintergrund, dass Autoren gewöhnlich eher darum bemüht sind, die Differenz zwischen realer und fiktionaler Realität zugunsten der Selbstprogrammierung des jeweiligen Kunstwerks hervorzuheben, sei vielmehr zu betonen, dass Gstrein eben jenes Verfahren, das die Literarizität seines Textes durch Schlüsseleffekte aufs Spiel setze, im Rahmen der Buchpräsentation offensiv vertrete, ja beinahe ungefragt selbst ›in die Debatte‹ bringe und damit vorgebe, »Literatur in Leben zu verwandeln.« 32 Gstreins ganze Wahrheit ist ganz offensichtlich, so Kämmerlings’ Kurzformel, in einen »Skandal mit Ansage« 33 eingelassen.
5.1.1 Reflexionsstufen Dabei mag es zunächst durchaus überraschen, dass Gstrein im Literarischen Colloquium so offensiv zur ganzen Wahrheit Stellung nimmt, unterscheidet er doch an anderer Stelle nicht nur strikt zwischen Text und Paratext, sondern wertet zudem explizit das sekundäre ›Drumherum‹ zugunsten des ›eigentlichen‹ Werks in grundsätzlicher Hinsicht ab. Gstrein bezeichnet die Möglich-
31 R. Kämmerlings, Die ganze Wahrheit über Suhrkamp. 32 C. Bartmann, Dicht am Dichter, S. 126. 33 R. Kämmerlings, Die ganze Wahrheit über Suhrkamp.
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keit, mittels seiner literarischen Texte gerade nicht immer wieder paratextuell »Stellung« 34 beziehen zu müssen, sich also auf die ›eigentliche‹ Literatur zurückziehen zu können, als Stimulus seines literarischen Schreibens und weist den auktorialen Selbstkommentar, den viele seiner Kollegen betrieben, darüber hinaus als die »Berufskrankheit unter Schriftstellern« (WG 36) schlechthin aus. Zum anderen steht die mehr oder weniger ungefragte Selbstkommentierung der ganzen Wahrheit jedoch durchaus in werkgeschichtlicher Kontinuität. Sowohl Gstreins 1999 erschienener Roman Die englischen Jahre als auch Das Handwerk des Tötens von 2003 werden nicht nur durch die üblichen Autoreninterviews flankiert. Gstrein veröffentlicht zudem jeweils zeitnah Texte, die einen ungewöhnlich umfangreichen, auktorialen Epitext zu den ihnen jeweils zugeordneten ›Haupttexten‹ bilden: Die Reden Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema und Über Wahrheit und Falschheit einer Tautologie setzen sich mit den englischen Jahren auseinander; Wem gehört eine Geschichte? stellt einen über hundert Seiten umfassenden Kommentar zum Handwerk des Tötens dar. Und so mündet etwa die im Reflexionsmodus gehaltene Abgrenzungsgeste, wie sie Fakten, Fiktionen und Kitsch gegenüber eben jenem Schriftstellertyp entfaltet, »der reden will, einer, der meint, etwas zu sagen zu haben oder, noch schlimmer, vielleicht sogar loswerden zu müssen« (FFK 7), schließlich selbst in einem längeren Kommentar zum ›eigentlichen‹ Text. Dem relativ ausführlichen, selbstlegitimierenden ersten Teil, in dem Gstrein im Modus einer Distanzierungsgeste das Feld seiner sich auf dem »Meinungsmarkt« (FFK 7) positionierenden Kollegen absteckt, folgt ein zweiter Teil, der einen Einblick in die schriftstellerische Werkstatt Gstreins bietet und sich auf die Arbeit am Text bezieht (ab FFK 19). Im Zentrum nicht nur dieser Rede, die Gstrein im November 1999 zur Eröffnung der ErichFried-Tage zum Thema ›Exil‹ im Literaturhaus Wien hält, sondern auch im übrigen auktorialen Beiwerk steht »das Verhältnis zwischen Fakten und Fiktion« (WG 9). Gstreins Programm geht von der Annahme der »Konstruiertheit aller Realität« (WG 10) aus und grundiert von hier aus das »Konstruktionsprinzip« (FFK 25) sowohl der englischen Jahre als auch des Handwerks des Tötens. Folgt man seinen Selbstbeschreibungen, erfüllen ›Fakten‹ bei Gstrein zwei produktionsästhetische Funktionen: Sie fungieren »als Katalysatoren« (FFK 32) und als ›Rahmung‹. Insofern ›Fakten‹ als »Ausgangs-
34 Norbert Gstrein: Die englischen Jahre 1–3. Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema. Wiener Rede. Frankfurt a. M. 2003. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle FFK in runden Klammern im Text, hier S. 7.
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punkt für Fiktionalisierung« 35 dienen, stellen sie erstens einen »Antrieb« (WG 28) literarischen Schreibens dar. ›Fakten‹ sorgen Gstrein zufolge dafür, dass sein »Schreiben in Gang gesetzt« (WG 31) werde, wobei vorausgesetzt sei, dass die Aufgabe des Schriftstellers nicht darin bestehen könne, bestehende ›Lücken‹ zwischen den ›Fakten‹ durch eigene ›Recherche‹ gleichsam auszufüllen. Es gehe nicht um die »Erforschung der letzten Details« (FFK 11), seien die ›Fakten‹ doch üblicherweise ohnehin »weitgehend bekannt« (FFK 11). Es gehe vielmehr darum, so Gstrein, im literarischen Schreiben aus den »zufällige[n] Funde[n]« (FFK 32), »ein Destillat [...] zu gewinnen« (FFK 29), ja die ›Fakten‹ gleichsam zu ›beleben‹ und dafür zu sorgen, dass diese ›nicht einfach hingenommen‹ würden.36 Dass gleichwohl jeweils die »historischen Hintergründe exakt recherchiert sein« (FFK 32) müssten, verweist dabei bereits auf die zweite Funktion von ›Fakten‹ für Gstreins literarisches Programm. In dieser Hinsicht gehe es darum, das »Erzählgebäude« (FFK 32) auf einen ›sicheren Boden‹ zu bauen. Sei »Erzählen eine Frage der Auswahl« (WG 91), müsse »Beliebigkeit« (FFK 32), ja die »bloße Spielerei« (FFK 32) vermieden werden. ›Fakten‹ stehen mithin produktionsästhetisch im Zeichen von Freiheitsgraden und Einschränkung, insofern sie als rahmende Elemente zum Abbau von Kontingenzen im Schreibprozess beitragen.37 ›Fakten‹ dienen Gstrein der »Absicherung der Ränder« (FFK 32), so dass die immer auch »etwas ziellose[ ] Suche nach einem Rahmen« (FFK 27) strukturiert und nicht zuletzt dem Erzählen eine bestimmte »Richtung« (FFK 27) vorgegeben werde. Ermöglichten ›Fakten‹ in diesem Sinne überhaupt erst das Erzählen, schränkten sie auf der anderen Seite Gstreins »formale[ ] Freiheit ein[ ]« (FFK 29), bestehe doch immer auch die Gefahr, »daß [...] bestimmte Kenntnisse der Gestaltung abträglich« 38 sein könnten. Die so in Anschlag gebrachte Funktion von ›Fakten‹ ist entscheidend für Gstreins Literaturbegriff. Gelungenes literarisches Schreiben zeichnet sich demnach nämlich durch einen »richtigen literarischen Umgang[ ] mit der Rea-
35 Robert Leucht: Die Gestalt der Abwesenheit. Emigrantenfiguren in Norbert Gstreins Die englischen Jahre und Nachwelt von Marlene Streeruwitz. In: Kurt Bartsch u. Gerhard Fuchs (Hg.): Norbert Gstrein. (Dossier 26) Graz 2006, S. 93–107, hier S. 101. 36 Vgl. Norbert Gstrein: Über Wahrheit und Falschheit einer Tautologie. Dankrede. In: Günther Rüther (Hg.): Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. an Norbert Gstrein. Weimar, 13. Mai 2001. Dokumenation. Im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Bornheim 2001, S. 15–24, hier S. 19. 37 So spricht Gstrein etwa davon, dass bestimmte Themen oder Konstruktionsprinzipien von Geschichten zu unwahrscheinlich, zu konstruiert – oder kitschig – seien, »würde nicht ein historischer Hintergrund dafür existieren« (FFK 26). 38 R. Leucht, S. 102.
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lität« 39 aus. An Profil gewinnt diese ›richtige‹ ›Verwendung‹ (vgl. WG 84) von ›Fakten‹ vor dem Hintergrund solcher Verfahren, die Gstrein als ›nicht-literarische‹ oder zumindest literarisch ›nicht gelungene‹ ausweist. Diese Umgangsweisen mit dem Verhältnis zwischen realer und fiktionaler Realität sind auf Produktionsseite mit den Schlagworten »Kitsch« (WG 61) und »angebliche Authentizität« (WG 43) sowie auf Rezeptionsseite mit den Stichworten »Entschlüsselungsfuror« (WG 48) und »Kitschbedürfnis von Leserinnen von – sagen wir – Frauenzeitschriften« (WG 63) benannt. Dabei geht es weniger um das Kollabieren der Unterscheidung von ›Fakten und Fiktion‹. Im Zentrum steht vielmehr erstens der Rückgriff auf »verkitscht[e]« (FFK 16), ja »verbrauchte[ ] Wörter« (FFK 30) und zweitens die emphatische Selbstzuschreibung einer »moralische[n] Überlegenheit« (FFK 12). Gemeinsam sei beiden Elementen zum einen, dass sie »konsumierbare Geschichtchen« (FFK 11) mit einem spezifischen »Jargon« (FFK 16) zur Folge hätten; und zum anderen die von Gstrein als ›unreflektiert‹ unterstellte Aussicht auf die grundsätzliche Möglichkeit, Realität in literarischen Texten authentisch abbilden zu können, sowie der damit verbundene Wahrheits- oder Authentizitätsanspruch. Sieht Gstrein sich nach eigener Auskunft bereits nach Erscheinen der englischen Jahren mit dem Vorwurf konfrontiert, sich illegitimer Weise eines Themas angenommen zu haben, »weil das unter anderem eine jüdische Geschichte und damit nicht meine war« (WG 52), droht der »Wirklichkeitstest« (WG 36) des Handwerks des Tötens sich zu einer literaturbetrieblichen »Schlammschlacht« 40 auszuweiten. So wird dem Autor nicht nur von verschiedenen Seiten vorgeworfen, sich auf Kosten des im Kosovo ermordeten Stern-Reporters Gabriel Grüner literarisch profilieren zu wollen. Auch Wem gehört eine Geschichte? lesen Teile der Literaturkritik als »unerfreuliche Depesche aus dem nicht weniger unerfreulichen Literaturmilieu«.41 Beteiligt an diesem betrieblich-literarischen Schlagabtausch sind neben dem Autor vor allem Grüners Freundin – die Journalistin und Redakteurin der Zeitschrift Brigitte, Beatrix Gerstberger – sowie eine Bekannte Grüners – die Autorin Sabine Gruber. Ihren Ausgangspunkt nehmen die Auseinandersetzungen, wie sie Gstrein in und mit Wem gehört eine Geschichte? thematisiert und damit vorantreibt, am Rande einer Veranstaltung im Hamburger Literaturhaus im Januar 2003. Demnach habe Gstrein dort ein »freundlicher älterer Herr aus Wien« (WG 36) angesprochen, um zunächst zu bemerken, er, also Gstrein, hätte Das Handwerk
39 Marie Gunreben: »… der Literatur mit ihren eigenen Mitteln entkommen«. Norbert Gstreins Poetik der Skepsis. (Bamberger Studien zu Literatur, Kultur und Medien 2) Bamberg 2011, S. 84. 40 Julia Encke: Das unerfreuliche Milieu. In: Süddeutsche Zeitung vom 4. Oktober 2004. 41 J. Encke, Das unerfreuliche Milieu.
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des Tötens aus Pietätsgründen »nicht schreiben dürfen« (WG 36). Doch damit nicht genug: Der nicht namentlich genannte Wiener Herr weist Gstrein darüber hinaus darauf hin, er, also Gstrein, käme als Figur »im neuen, in wenigen Wochen veröffentlichten Roman seiner Freundin vor« (WG 39). Bei diesem Text handelt es sich um den Roman Die Zumutung der österreichischen Autorin Sabine Gruber. Und tatsächlich findet sich dort mit dem Autor Holztaler eine Figur, die unter Rückgriff auf die für Schlüsselliteratur typische Strategie einer spezifisch an der realen Realität ausgerichteten »Figurenkonzeption« 42 dezidiert an das Label Gstrein zurückgebunden wird, um dieses in spezifischer Weise zu verunglimpfen. So zeichnet sich Holztaler nicht nur durch eine besondere »Lust am Fabulieren« 43 aus. Seine ausgeprägte »Gier nach Geschichten« 44 ist zudem mit einem besonderen Interesse an den »Biographien anderer Leute« 45 gekoppelt, ja Holztaler müsse gleichsam »seine Freunde aussaugen [...] [,] weil sein Leben nichts hergibt«.46 Ihren Kristallisationspunkt finden die Schlüsseleffekte in der Beschreibung von Holztalers literarischen Texten. Habe der Autor »einen Roman über den Literaturbetrieb voller Ressentimets gegenüber seinen Kollegen« 47 geschrieben und schrecke nicht davor zurück, »uns Juden um unsere Geschichte zu beneiden« 48, so legt dies nämlich mehr oder weniger deutlich eine Referenzialisierung der im Text entfalteten fiktionalen Realität auf Gstreins Selbstportrait mit einer Toten und Die englischen Jahre nahe. Die Provokation des Kollapses der Unterscheidung zwischen ›Fakten‹ und ›Fiktion‹, der zudem die Differenz zwischen Ich-Erzählerin und Autorin betrifft, wird gleich zu Beginn in Szene setzt: Als ich fünfunddreißig war, holte er sich meinen besten Freund im ausgebrochenen Frieden, als wollte er sich nicht länger von ihm beschreiben lassen. Mein Lebensfreund war Journalist. Jetzt schreibe ich dem Tod hinterher. Jetzt rede ich. Er ist überall, pfuscht ins Handwerk, hämmert, mißt.49
Wenn Holztaler gegen Ende schließlich bemerkt, er schreibe an einem Roman über einen gemeinsamen Freund mit der Ich-Erzählerin, der den Titel »›Die
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G. M. Rösch, S. 32. Sabine Gruber: Die Zumutung. Roman. 3. Auflage. München 2003, S. 79. S. Gruber, S. 76. S. Gruber, S. 30–31. S. Gruber, S. 31. S. Gruber, S. 31. S. Gruber, S. 31. S. Gruber, S. 9.
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bosnischen Jahre‹« 50 trägt, gibt sich Grubers Zumutung schließlich vollends als persönlich motivierter Kommentar auf Gstreins Schreibverfahren zu erkennen. Auch Gstrein bleibt diese Korrelation nicht unbemerkt, nimmt er doch in Wem gehört eine Geschichte? ausführlich Stellung zu dem in Grubers Roman gezeichneten »nicht gerade sympathischen Schriftsteller« (WG 40), um einen »wohlfeilen Bezichtigungsgestus« (WG 40) hinter dem Schreibverfahren der Autorin auszumachen. Gstrein liest Die Zumutung als einen Text, der sich dezidiert zu einer »Indienstnahme der Literatur für einen außerliterarischen Zweck« 51 bekenne, ja im Zeichen einer literarisch getarnten Abrechnung mit dem Autor Norbert Gstrein stehe. Die »denunzieren[de]« (WG 42) Darstellung Holztalers als »Informationssauger«,52 der seine Freunde und Bekannten in literarischen Texten »entblößt[ ]« 53 und darüber hinaus für »funktionslose[ ] Obszönitäten und [...] marktgerechte[s] ›Fotzengeflüster‹« 54 bekannt sei, finde mit Blick auf Die englischen Jahre im Vorwurf, Holztaler (und also: Gstrein) sei ein »Antisemit[ ] oder einen Philosemit[ ]« (WG 40), seinen boulevardesken Höhepunkt. Jenseits der von ihm bemerkten, den Schlüsselverfahren geschuldeten »anachronistischen Brüche« 55 in Handlungsanlage und Figurencharakterisierung – die Figur des Autors wirke geradezu »brav und wie nachträglich in den Text montiert« (WG 40) – interessiert sich Gstrein insbesondere für das Grubers Text zugrundeliegende literarische Programm. So bezieht sich seine Kritik auf den im Klappentext explizierten Anspruch der Zumutung, »gegen den Tod an[zuerzählen], auch mit der Beschwörung des eigentlich Unvorstellbaren – des eigenen Endes«.56 Inszeniert Grubers »schönes, poetisches und auch humorvolles Buch über die tiefe, gebrochene Liebe zum Leben« 57 ein ganzes »Ensemble von Antworten, die das Universum einer existentiellen Bedrohung ausmachen, in welchem sich die großen und kleinen Dinge neu formieren«,58 so erweist sich ihr Roman als einem Literaturbegriff verpflichtet, der demjenigen Gstreins geradezu konträr entgegen steht. So wie es der Ich-Erzählerin darum
50 S. Gruber, S. 212. 51 G. M. Rösch, S. 7. 52 S. Gruber, S. 141. 53 S. Gruber, S. 43. 54 S. Gruber, S. 44. 55 G. M. Rösch, S. 32. 56 Volker Hage: Letzte Tänze, erste Schritte. Deutsche Literatur der Gegenwart. München 2007, S. 187. 57 S. Gruber, Klappentext. 58 S. Gruber, Klappentext.
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geht, den Tod als einen »in meinem Inneren [arbeitenden; DCA]« 59 auszuweisen, so verfolge Grubers Roman das Programm einer »pathetischen Selbstermächtigung« (WG 41), die im Modus eines »fast ausschließlich auf sich selbst fokussierten Blick[es] der Erzählerin« (WG 43) ein ›Ich‹ in Szene setze, »das ganz und gar aus seiner Leidensgeschichte besteht« (WG 43), ja aus dieser ihr Erzählen motiviere und legitimiere. Analog platziert Gstrein seine Kritik am Umgang mit der Unterscheidung von ›Fakten und Fiktion‹, wie ihn Beatrix Gerstbergers Keine Zeit zum Abschiednehmen. Weiterleben nach seinem Tod profiliert. Gerstberger ist schwanger, als ihr Freund Gabriel Grüner am 13. Juni 1999 zusammen mit dem Fotografen Volker Krömer und dem Dolmetscher Senol Alit im Kosovo erschossen wird. Als sie von Gstreins Handwerk des Tötens erfährt, sieht sie die Intimsphäre Grüners in Misskredit gezogen und beschwert sich bei Gstreins Verlag. Der Autor selbst spricht diese Beschwerde in Wem gehört eine Geschichte? an (vgl. WG 44), um sich gleichzeitig mit Gerstbergers Band auseinanderzusetzen. Der im Medium autobiographisch-authentischer Ratgeberliteratur geformte Text richtet sich dezidiert an Frauen, die ihren Lebenspartner verloren haben60 und reiht sich eben damit in jenes Genre ein, das Gstrein als ein Betriebsphänomen beschreibt, das es schon lange gibt, mit Regalen voller Bekenntnis- und Selbsthilfe-Bücher, und das in den toten Stunden des Nachmittagsfernsehens immer neue Talkshow-Blüten treibt, personifiziert in Leuten, denen nichts Menschliches und zusehends auch nichts Unmenschliches fremd ist. (WG 43).
In sieben Fallbeispielen versucht denn auch Gerstberger, »eine Ahnung von dem [zu; DCA] vermitteln, was uns fast zerstört hätte. Es ist unsere Wahrnehmung, aber vielleicht eine, die denen weiterhelfen kann, die Gleiches erleben müssen.« 61 Mit dem Anspruch, »den Kampf ums Überleben zu beschreiben« 62 thematisiert der Band dabei etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, den Umgang der Hinterbliebenen von Personen, die am 11. September 2001 beim Angriff auf das World Trade Center ums Leben gekommen sind. Wie im Falle Grubers kritisiert Gstrein denn auch das auf eine authentische Erfahrung abhebende und deshalb aus seiner Sicht unreflektierte Programm des Bandes.
59 S Gruber, S. 8. 60 Dass es sich um Ratgeberliteratur handelt, verdeutlicht nicht zuletzt die im Anhang aufgeführte Adressenliste. Aufgeführt sind dort Anlaufstellen und Selbsthilfegruppen. Vgl. Beatrix Gerstberger: Keine Zeit zum Abschiednehmen. Weiterleben nach seinem Tod. München 2003, S. 191–192. 61 B. Gerstberger, S. 14. 62 B. Gerstberger, S. 10.
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Es ist das Selbsterlebte oder, besser noch, Selbsterlittene, ob es nun im Vordergrund oder so deutlich im Hintergrund steht, daß es unübersehbar ist, verbunden mit einem daraus sich ergebenden Wahrheits- und Absolutheitsanspruch [...]. (WG 43)
Werde in diesem Sinne der Tod des Freundes auch bei Gerstberger unmittelbar mit einem »Schreibauftrag verbunden« (WG 42), kritisiert Gstrein das Fehlen einer selbstreflexiven Ebene, ja der Text Kreise um ein »Du, das sich verschlossen gibt, wenn es zur Sprache kommen könnte« (WG 42).63 Literarisches Schreiben ist für Gstrein selbstreflexives Schreiben. Die Vorwürfe gegenüber Gstreins Handwerk des Tötens, wie sie Gruber und Gerstberger formulieren, bringt vielleicht Iris Radischs Besprechung des Romans am besten auf den Punkt, bezieht sich die Literaturkritikerin doch dezidiert auf das selbstreflexive Moment des Romans. Dabei stellt sie indes bezeichnenderweise fest, dass »der Reflexion des Werks auf sein vielfach gebrochenes Verhältnis zur Wirklichkeit allerdings die Virtuosität« 64 fehle. Und genau in diesem Mangel sei auch ein spezifischer »Konstruktionsfehler« 65 von Gstreins Text zu verorten. Während der selbstreflektierende Roman idealerweise seinen Stoff aus sich selbst bildet, liegt diesem Roman ein »echter«, zumal weitgehend bekannter Lebensstoff zugrunde, vor dem er durch seine erzählstrategischen Bemühungen jedoch ständig auf der Flucht ist, ohne einen eigenen, literarischen Stoff hervorzubringen. Deswegen bleibt dieses Buch im Herzen leer.66
Bemerkenswert ist Radischs Zeit-Rezension nicht so sehr deshalb, weil sie zwischen einer aus sich selbst schöpfenden Literatur und letztlich ›verdorbenen‹, weil am ›Leben‹ orientieren Texten unterscheidet. Bedeutsam ist die Bespre-
63 Gemeint sind damit etwa Formulierungen wie »Ich wache früh auf in diesen Tagen danach. Das Begreifen sickert langsam in mich, ich drehe mich um und akzeptiere nicht. Bin erfüllt von Liebe zu dir.« B. Gerstberger, S. 18. Darüber hinaus nennt Gstrein in diesem Zusammenhang sowohl Bestseller-Autoren – »Paul Coelho, Susanna Tamaro, Eric-Emmanuel Schmitt und Konsorten« (WG 65) – als auch literarische Größen wie »Peter Handke, Susan Sontag und Juli Zeh« ab. Katja Stopka: ›Beobachtete Beobachter‹. Literarische Derealisierungstendenzen von Kriegsperspektiven. Am Beispiel der Journalistenromane Die Fälschung von Nicolas Born und Das Handwerk des Tötens von Norbert Gstrein. In: Carsten Gansel u. Heinrich Kaulen (Hg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Mit 40 Abbildungen. (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 8) Göttingen 2011, S. 119–136, hier S. 135, Fn. 59. Gemeinsam ist diese Autoren »das übliche Gerede vom wirklichen Leben und folglich auch der wirklichen Literatur« (WG 79). 64 Iris Radisch: Tonlos und banal. In: Die Zeit vom 22. Dezember 2003. 65 I. Radisch, Tonlos und banal. 66 I. Radisch, Tonlos und banal.
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chung, weil sie die bei Gruber und Gerstberger formulierte Kritik auf das Schreibverfahren der Texte Gstreins zurückführt. Sie benennt die selbstreflexiven Elemente in Gstreins Roman, bindet diese aber gleichzeitig an die Intention des Autors zurück, um das Verfahren als solches abwerten zu können. So werde die erzähltechnische Reflexion von Gstrein lediglich »[p]flichtmäßig und mechanisch« 67 durchgeführt, ja führe dazu, dass niemand für das Erzählte »Verantwortung übernimmt«.68 Das Resultat sei ein Schlüsselroman voller »Missgunst und übler Nachrede«.69 Interessant ist Radischs Besprechung jedoch nicht zuletzt deshalb, da auch die Literaturwissenschaft sich vor allem deshalb für Gstreins Texte interessiert, weil sie diesen eine hochgradig reflektierte Form zuschreiben kann. So kann die Beobachtung, dass Das Handwerk des Tötens und Die englischen Jahre die konstruktivistische Annahme über die Verfasstheit von Realität mittels einer kontinuierlichen »Reflexion des Vermittlungsvorganges« 70 umsetzen, ja es Gstrein letztlich immer auch darum geht, »das Erzählen einer Geschichte zu erzählen«,71 sich auf Schreibverfahren berufen, die sowohl die histoire als auch den discours der jeweiligen Texte betreffen: Der über die Romane verteilten, kontinuierlichen Erzählreflexion korrespondieren auf der Ebene der histoire erzählperspektivische Verschachtelungen im discours. Die englischen Jahre werden durch ›erzähltechnische Verkehrungen‹ 72 strukturiert und im Handwerk des Tötens ergibt sich im Überblick ein »vielschichtige[s] und multiperspektivische[s] Gefüge«,73 das »die Erzähl- bzw. Beobachtungsperspektiven ineinander
67 I. Radisch, Tonlos und banal. 68 I. Radisch, Tonlos und banal. 69 I. Radisch, Tonlos und banal. 70 R. Leucht, S. 103. 71 Wouter Dehairs: »Die Distanz kann zu groß und zu gering sein, aber es gibt eine mittlere Distanz, aus der man die Dinge am besten sieht«. Zu Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens. In: Germanistische Mitteilungen. Zeitschrift für deutsche Sprache, Literatur und Kultur (2005), Nr. 62, S. 65–78, hier S. 65. 72 Vgl. die Formulierung von Jan Ceuppens: Falsche Geschichten: Recherchen bei Sebald und Gstrein. In: Arne de Winde u. Anke Gilleir (Hg.): Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 64) Amsterdam u. New York 2008, S. 299–317, hier S. 308. 73 Goran Lovrić: Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens. Zeichen der Unsicherheit oder geteilte Erzählerpersönlichkeit? In: Marijan Bobinac u. Wolfgang Müller-Funk (Hg.): Gedächtnis – Identität – Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext. Beiträge des gleichnamigen Symposiums in Lovran/Kroatien, 4.–7. Oktober 2007. In Zusammenarbeit mit Gerald Lind und Rikard Puh. (Kultur – Herrschaft – Differenz 12) Tübingen u. Basel 2008, S. 217–230, hier S. 223.
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verschachtelt und über mehrere Ebenen vermittelt«.74 Dabei wird die Beobachtungsperspektive selbst Teil einer Beobachtungskrise, »die mit traditionellen Entgegensetzungen, wie die von Beteiligtsein und Unbeteiligtsein, von Realem und Vermitteltem [...] nicht mehr zu begreifen ist«.75 So sehr Gstrein immer wieder darauf hinweist, die »Risse zwischen Fiktion und Wirklichkeit« (FFK 11) in seinen Romanen »sichtbar« (FFK 11) machen zu wollen, ja diese »offenzulegen« (WG 9), so sehr unterlaufen die Texte durch die »ästhetische Markierung von Distanz« 76 gleichzeitig gleichsam performativ die ihnen zugrundeliegende »Differenz zwischen Fakten und Fiktionen« (FFK 28–29). Der Anspruch, »das Erzählen als (scheiternden) Abbildungsprozess« 77 jeweils ins Romanzentrum zu stellen, hat den Effekt, dass nicht mehr trennscharf zwischen ›Fiktion‹ und ›Wirklichkeit‹ unterschieden werden kann, ja »diese Unterscheidung keine Rolle mehr spielt« (WG 84). Als ›literaturwissenschaftsfähig‹ erweisen sich die Texte Gstreins mithin gerade deshalb, weil sie »standardisierte Wahrnehmungsweisen« 78 thematisierten, ja deren »von Emotionalisierung und Fiktionalisierung geprägte Gemachtheit« 79 bloßlegten und somit »feste Einsichten zum Kippen« 80 brächten. Geht damit eine Nobilitierung der ›hinter‹ den Texten angenommenen Reflexionsinstanz »des Erzählens unter den Bedingungen medialer Unhintergehbarkeit« 81 einher, arbeitet die literaturwissenschaftliche Rezeption den feuilletonistischen Einwänden wie jenen von Radisch gleichsam entgegen. Während die Literaturwissenschaft bereits seit dem Debüt Einer die »Virtuosität des Erzählens« 82 bei Gstrein hervorhebt und die unterstellte Selbstreflexivität zum Anlass nimmt, sich einerseits mit »der einzigartigen, durchdachten Verfloch-
74 K. Stopka, S. 130. 75 K. Stopka, S. 120. 76 K. Stopka, S. 133. 77 M. Gunreben, S. 80. 78 Veronika Leiner: Fakten und Fiktionen bei der »Herstellung« von Lebensgeschichten. In: Kurt Bartsch u. Gerhard Fuchs (Hg.): Norbert Gstrein. (Dossier 26) Graz: 2006, S. 108–133, hier S. 129. 79 V. Leiner, S. 129. 80 Joanna Drynda: Der Krieg aus der geschichtlichen Ferne betrachtet. Norbert Gstreins Suche nach der richtigen Sprache. In: Carsten Gansel u. Pawel Zimniak (Hg.): Reden und Schweigen in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Fallstudien. (Beihefte zum Orbis linguarum 49) Dresden 2006, S. 234–245, hier S. 241. 81 K. Stopka, S. 133. 82 Konrad Paul Liessmann: Konstruktion und Erfahrung. Anmerkungen zur Prosa von Robert Menasse, Norbert Gstrein und Alois Hotschnig. In: Walter Delabar u. a. (Hg.): Neue Generation – Neues erzählen. Deutsche Prosa-Literatur der achtziger Jahre. Opladen 1993, S. 195–206, hier S. 200.
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tenheit von Erzählreflexion und eigener Erzählung« 83 auseinanderzusetzen, wertet Radisch eben diesen Befund ab. Es geht also weniger um die in der deutschsprachigen Literaturvermittlung der Jahrtausendwende durchaus nicht unübliche und auch im Zusammenhang mit Gstrein anzutreffende Lesart des »Ich-Erzähler[s] als wahres Alter Ego des Autors«.84 Die englischen Jahre und Das Handwerk des Tötens betonen den Konstruktcharakter von ›Wirklichkeit‹ vielmehr derart stark, dass hinter der über das reflektierte Erzählen perspektivierten histoire immer wieder die reale Realität und mit ihr der Autor als souveräner Konstrukteur auftaucht. So ist der Effekt der »komplizierten Verschachtelung[en]« 85 nicht nur, dass »unterschiedliche Perspektiven auf dieselbe Person bzw. Situation [...] ermöglicht werden«.86 Die Kehrseite der literarisch durch »Ineinanderverwicklung der Erzählebenen« 87 vorgeführten und interpretatorisch nachgezeichneten Dekonstruktion von Wirklichkeit ist die Wiederkehr eines mehr oder weniger souveränen Autors – im Falle Gstreins mitunter durch die in der Parenthese »(der Autor ist Mathematiker)« 88 verdichtete Vermutung, der »formal präzise[ ] Aufbau[ ]« 89 der Texte sei auf die »Bildung des Autors in der Logik« 90 zurückzuführen. Es scheint mithin so zu sein, dass, gerade weil die »explizit konstruierten Romane[ ] [...] die[ ] De-Konstruktion eingefahrener gesellschaftlich, medial, literarisch vermittelter Wahrnehmungsmuster« 91 betreiben, eines zumindest nicht verkomplizierend und reflektierend dekonstruiert wird: die Autorposition Gstreins. Auch und gerade der Fall des österreichischen Autors verdeutlicht einmal mehr – und Radischs Besprechung wie Teile der literaturwissenschaftlichen Rezeption sind Symptome dieser Erkenntnis –, dass »Relativierung [...] offenbar gerade nicht der Effekt relativierender Verfahren [ist; DCA].« 92
83 Milan Tvrdík: »Die Kälte herrscht vor«. Bruch und Kontinuität im Werk Norbert Gstreins. In: Renata Cornejo u. Ekkehard W. Haring (Hg.): Wende, Bruch, Kontinuum. Die moderne österreichische Literatur und ihre Paradigmen des Wandels. Wien 2006, S. 211–226, hier S. 219. 84 G. Lovrić, S. 223. 85 K. Stopka, S. 131. 86 K. Stopka, S. 131. 87 M. Tvrdík, S. 218. 88 M. Tvrdík, S. 219. 89 M. Tvrdík, S. 219. 90 M. Tvrdík, S. 223. 91 V. Leiner, S. 109. 92 Eva Geulen: Und weiter. Anmerkungen zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit deutscher Popliteratur. In: Christoph Menke u. Juliane Rebentisch (Hg.): Kunst Fortschritt Geschichte. Mit Beiträgen von Theodor W. Adorno u. a. (Kaleidogramme 5) Berlin 2006, S. 133– 147, hier S. 140.
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Dass die Forschung also an einem bestimmten, auf Selbstreflexivität abhebenden Literaturbegriff mitarbeitet, mag unvermeidbar sein, sind Literaturbegriffe doch vor allem eines: Konstrukte. Vermeidbar hingegen ist, sich literaturwissenschaftlich in eben jenes Fahrwasser zu begeben, in denen sich bereits der Autor und mit diesem die literaturkritische Rezeption befindet. So wie die Literaturkritik die Gstrein zugeschriebene Selbstreflexion in den Dienst einer verschlüsselten üblen Nachrede stellt, so fokussiert sich die Literaturwissenschaft auf die als reflektiert angenommenen Verfahrenselemente, so dass in beiden Fällen die Folge die ›Rückkehr des Autors‹ 93 als, wenn nicht souveräner, so doch zumindest aber reflektierter Lenker ist – und eben dieser Verweis auf »eine Reflexionsstufe mehr« (FFK 11), wie Gstrein selbst schreibt, als Kriterium der Zuschreibung (oder Verweigerung) von Literarizität fungiert. Doch so sehr das Herausarbeiten der selbstreflexiven Elemente in den Texten Gstreins auch auf fruchtbaren Boden stoßen mag, eines müssen diese Lektüren – seien sie literaturkritischer oder literaturwissenschaftlicher Provenienz – gleichwohl ausblenden: Die Frage, was Gstrein als literarischen Umgang mit Fakten und was als boulevardesken Kitsch bestimmt, führt zu einem Zirkel, der auch den Autor selbst involviert. Ist erst »Gstreins distanzierte Schreibweise« 94 als »konsequenter Ausdruck des unhintergehbaren Mangels direkter Erfahrung« 95 ausgewiesen, ja Gstreins Anliegen betont, die »manipulative Verstellung der realen Geschehnisse« 96 aufzudecken, schleicht sich gleichsam durch die Hintertür eine Argumentation ein, die in der Fokussierung auf die als anderen Autoren gegenüber überlegen nobilitierte oder als gleichsam zu ausgestellt abgelehnte Selbstreflexion Gstreins den Blick darauf verstellt, dass ›Literatur‹ und ›üble Nachrede‹ beobachterunabhängig voneinander unterschieden werden könnten. Tatsächlich aber muss der Autor Gstrein – nicht nur sein Name, sondern auch die von ihm als Faktenrecherche beschriebene Arbeit, seine ›Wirklichkeitsnähe‹ und seine ›Selbstreflexion‹ – auch wiederum als die zu bestimmenden und kontrovers diskutierten faktualen Größen behandelt werden. Hilfreicher ist an dieser Stelle mithin eine differenztheoretisch-redeskriptive Herangehensweise, genauer: die Umstellung auf eine funktionale Bestimmung von ›Literatur‹ und ›übler Nachrede‹. Der Vorteil liegt dann darin,
93 Siehe dazu allgemein Fotis Jannidis u. a.: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71) Tübingen 1999, S. 3–35. 94 W. Dehairs, S. 68. 95 W. Dehairs, S. 68. 96 W. Dehairs, S. 68.
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dass die Frage, was ›üble Nachrede‹ von Gstreins ›Literatur‹ unterscheidet, nicht immer bereits im Vorhinein – mit Referenz auf die ›Selbstreflexion‹ des Autors – beantwortet wird, sondern strikt relational gebaut ist.
5.1.2 Literaturskandale zwischen Störung und Strategie Hilfreich ist an dieser Stelle noch einmal der Rekurs auf Richard Kämmerlings’ Formulierung ›Skandal mit Ansage‹. Auch wenn Skandale im Bereich literarischer Kommunikation keineswegs ein neues oder ungewöhnliches Phänomen sind,97 beobachten sowohl Literaturkritik als auch Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Literaturbetrieb um 2000 eine auffällige Häufung an skandalschematisierter Kommunikation. Die Ursache für diese Zunahme liegt demnach insbesondere in der Eigenschaft skandalisierter Ereignisse, Aufmerksamkeit zu generieren und sich damit in besonderer Weise als Marketinginstrumente zu eignen.98 In diesem Sinne lassen sich Literaturskandale in eine Reihe mit jenen ›Betriebsphänomenen‹ der Jahrtausendwende stellen, die vor allem an massenmedialen Erwartungssstrukturen ausgerichtet sind.99 Nicht zuletzt deshalb jedoch bewerten Teile der Literaturkritik, aber auch der Literaturwissenschaft Skandale im literarisch-künstlerischen Bereich »als periphere Phänomene, als Fälle von Fehlrezeption, Literaturfeindlichkeit oder Missbrauch«.100 Zugrunde liegt dieser Abwertung die Vermutung, durch Skandalkommunikation gerate Kunst gleichsam »ins Hintertreffen«,101 ja mit Blick auf Literatur könne gar von einer Tendenz zur ›Entliterarisierung‹ 102 gesprochen werden. Stellen Literaturskandale in dieser Perspektive weniger das jeweils ›eigentliche‹
97 Siehe die Beiträge in Hans-Edwin Friedrich (Hg.): Literaturskandale. Frankfurt a. M. u. a. 2009; Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Mit drei Abbildungen. Göttingen 2007. 98 Siehe etwa Claudia Dürr u. Tasos Zembylas: Konfliktherde und Streithähne. Grenzzonen und Strategien im Literaturbetrieb. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Mit drei Abbildungen. Göttingen 2007, S. 75–88, hier S. 86. 99 Vgl. Sabine Buck: Der Kritikerstreit als Betriebsphänomen? In: Heinz Ludwig Arnold u. Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3., völlig veränderte Auflage. Neufassung. München 2009, S. 358–371. 100 Hans-Edwin Friedrich: Literaturskandale. Ein Problemaufriss. In: Hans-Edwin Friedrich (Hg.): Literaturskandale. Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 7–27, hier S. 18. 101 Peter Zimmermann: Die Kunst des Skandals. In: Peter Zimmermann u. Sabine Schaschl (Hg.): Skandal: Kunst. Wien u. New York 2000, S. 3–14, hier S. 12. 102 Vgl. die Formulierung bei Robert Weninger: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. München 2004, S. 11.
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literarische Kunstwerk als vielmehr das vermeintlich bloß sekundäre ›Beiwerk‹ ins Zentrum,103 stehen sie in genau dieser Hinsicht unter Verdacht, einen nicht unerheblichen Beitrag zum ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb zu leisten. Skandale erzeugen demzufolge eine ›Störung‹ künstlerischer Autonomie, da sie auf ein »nicht-kunstimmanentes Ereignis« 104 zurückzuführen seien, das keinen »ästhetischen Nutzen« 105 habe. Peter Zimmermann bringt diese Annahme in der Einleitung zu dem von ihm mitherausgegebenen Band Skandal: Kunst auf den Punkt, wenn er festhält, durch Skandalisierung werde das Kunstwerk entkontextualisiert, das heißt, es wird ihm das Prädikat Kunst genommen und als Gegenstand, als Ding betrachtet, das, weil es dadurch nicht mehr autonom ist, sich auf ein Ärgernis reduzieren läßt, das wie ein Geschwür aus dem Fleisch der Gesellschaft entfernt werden muß.106
Gleichwohl das Verhältnis zwischen Kunst und Skandal somit als ein weitgehend konfrontatives bestimmt wird, stellt demgegenüber die sozialwissenschaftliche Forschung zur meta-kommunikativen Beschreibung von Skandalen immer wieder einen Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen her. Folgt man etwa Steffen Burkhardts Studie zu Medienskandalen, durchlaufen Skandale unterscheidbare Entwicklungsschritte »[w]ie bei einer dramatischen Inszenierung im Theater«.107 Mit Bezug auf das »von Aristoteles für die Tragödie geforderte[ ] pyramidale[ ] Aufbauprinzip einer dreiteiligen Dramenstruktur« 108 lassen sich Skandale demzufolge in unterschiedliche, von ›Aufschwung‹ bis ›Rehabilitation‹ differenzierte Phasen strukturieren. Doch damit nicht genug: Die Konvergenz zwischen Kunst und Skandal zeigt sich nach Burckhardt auch darin, dass jener keineswegs eine wie auch immer beschaffene Wirklichkeit lediglich reproduziere. Es handele sich vielmehr um »erzählerische Konstrukte«,109 die in einem ›main plot‹ und mehreren ›subplots‹ bestimmte Aktanten mit Aktionen, Prozessen oder Situationen korrelierten.
103 Siehe dazu Marc Reichwein: Diesseits und jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Inszenierung von Paratexten. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Mit drei Abbildungen. Göttingen 2007, S. 89–99. 104 P. Zimmermann, S. 5. 105 P. Zimmermann, S. 5. 106 P. Zimmermann, S. 8. 107 Steffen Burkhardt: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln 2006, S. 178. 108 S. Burkhardt, S. 178. 109 S. Burkhardt, S. 138.
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Die lexikalische Definition bestimmt Skandale als ein »Anstoß, Ärgernis«,110 das heißt als ein »Verhalten, das sich in aufsehenerregener Weise als anstößig, tabuverletzend, unmoralisch, sittenwidrig, obszön, schändlich, unerhört, empörend, unverschämt oder schamlos zeigt«.111 Im Zentrum eines Skandals steht ein Ereignis, das von einem Beobachter als nicht normkonform bestimmt und damit als Skandal etikettiert wird.112 Skandale beruhen mithin nicht grundsätzlich auf Normkonflikten, aber Normkonflikte können zur Entstehung von Skandalen beitragen. Unter Bedingungen polykontexturaler Beobachtungsverhältnisse, wie sie für die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft typisch sind, wird die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Skandalen sowohl größer als auch geringer. Sie wird größer, weil differenziertere soziale Kontexte, Gruppen oder Konstellationen zur Verfügung stehen, die Ereignisse als skandalös bewerten können; sie wird geringer, weil jede Skandalisierung gegenbeobachtet und damit als kontingent bewertet werden kann. Von einem Literaturskandal lässt sich vor diesem differenzierungstheoretischen Hintergrund folglich immer dann sprechen, »wenn Akteure oder Medien des literarischen bzw. künstlerischen Feldes an Normkonflikten beteiligt sind, die zu einem Skandal führen.« 113 Auch dass Grimmsche Wörterbuch legt Skandale auf einen »ärgernisz, schmachvolles aufsehen erregende[n] vorgang« 114 fest, betont jedoch darüber hinaus mit dem Hinweis auf eine »active vorstellung« 115 einen Gesichtspunkt, der im Zusammenhang mit Gstreins LCB-Auftritt von einiger Relevanz ist. Ist demnach mit Skandalen »die vorstellung des mit niedrigem wohlgefallen geübten hervorziehens und ausbreitens ärgerlicher dinge« 116 verbunden, wird damit nicht nur die »Triade der Skandalakteure« 117 angesprochen, wie sie etwa Burkhardt anführt. In den Blick kommt damit auch ein Schema, das nicht nur,
110 Skandal. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Mitbegründet von Walter Jens. In Verbindung mit Wilfried Barner u. a. Tübingen 2007. 111 Skandal. In: G. Ueding (Hg.). 112 Vgl. Ronald Hitzler: Skandal ist Ansichtssache. Zur Inszenierungslogik ritueller Spektakel in der Politik. In: Rolf Ebbighausen u. Sighard Neckel (Hg.): Anatomie des politischen Skandals. Frankfurt a. M. 1989, S. 334–354, hier S. 334. 113 H.-E. Friedrich, S. 16. »Skandale lassen sich danach unterscheiden, ob sie primär autonom sind, also innerhalb des Literatursystems auftreten, oder ob sie primär heteronom sind, also einen Konflikt zwischen dem Literatursystem und seiner Umwelt zurückgeben.« 114 Skandal. In: Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Zwölfter Band. I. Abteilung. Bearbeitet von E. Wülcker, R. Meiszner, M. Leopold, C. Wesle und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches zu Berlin. Leipzig 1956. 115 Skandal. In: J. Grimm u. W. Grimm. 116 Skandal. In: J. Grimm u. W. Grimm. 117 S. Burkhardt, S. 138. Siehe dazu auch S. 139–145.
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aber auch in der Beobachtung von Kunst- und Literaturskandalen dominant ist: die Unterscheidung von ›Störung‹ und ›Strategie‹. So wird einerseits immer wieder hervorgehoben, Skandalisierungen führten dazu, dass die jeweiligen Kunstwerke »unvermittelt in den Mittelpunkt eines Diskurses geraten, den weder der Künstler noch der Auftraggeber angestrebt haben«,118 ja Skandale seien Ausdruck »unvorhersehbarer Abweichungen von den Spielregeln«.119 Andererseits stelle sich im Kontext von Literaturskandalen jedoch immer auch die Frage nach den »Motivationen und Ziele[n]« 120 der beteiligten Akteure, so dass das Problem des Unvorhersehbaren gleichsam konterkariert wird. Als Die ganze Wahrheit schließlich im August 2010 erscheint, interessiert sich das Feuilleton denn auch vor allem für das mit ihr verbundene ›Kalkül‹ Gstreins. Unterstellt wird dabei, letzteres sei Ausdruck eines gleich in mehreren Hinsichten gescheiterten Programms. Erstens verstehen Teile der literaturkritischen Rezeption den Roman als die einer »narzisstischen Kränkung« 121 entsprungene »Vergangenheitsbewältigung im Diminutiv«.122 Die ganze Wahrheit ist der erste Text Gstreins, der nicht bei Suhrkamp, sondern im Münchner Hanser-Verlag erscheint, so dass niemand, der mit der ›Konstellation‹ im Suhrkamp-Verlag auch nur in Ansätzen vertraut sei, den Roman »anders denn als Schlüsselroman« 123 lesen könne. Gstrein gehe es demnach vor allem darum, mit Blick auf seinen ehemaligen Arbeitgeber »schmutzige Wäsche zu waschen«,124 ja Die ganze Wahrheit werde durch Gstreins persönlich-heteronome Motivation in ihrer Selbstprogrammierung gleichsam beeinträchtigt, so dass das vom Text durchaus initiierte »Vexierspiel zur Nebensache« 125 gerate, wie etwa Hubert Winkels in seiner Besprechung bemerkt: »Der Roman hinkt. Er ist zu eng angelegt, konzentriert sich einseitig, trotzig-störrisch auf eine Person, die nach und nach, statt als Täter sichtbar zu werden, als Opfer dieses Romans erkennbar wird.« 126 Doch nicht nur wird die Suhrkamp-Verlegerin Berkéwicz
118 P. Zimmermann, S. 5. 119 P. Zimmermann, S. 8. 120 Stefan Neuhaus u. Johann Holzner: Literatur als Skandal. Vorwort der Herausgeber. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Mit drei Abbildungen. Göttingen 2007, S. 11–15, hier S. 12. 121 Roland Mischke: Sex, Intrigen, Hexerei. In: Sächsische Zeitung vom 16. August 2010. 122 Gerald Heidegger: Der Suhrkrampf: Roman sucht Skandal. In: orf.at vom 18. August 2010. http://news.orf.at/stories/2009415/2009345 (26. 09. 2011). 123 R. Kämmerlings, Die ganze Wahrheit über Suhrkamp. 124 Julia Encke: Denk nicht an Suhrkamp! In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 15. August 2010. 125 J. Encke, Denk nicht an Suhrkamp. 126 H. Winkels, Voodoo-Dagmar.
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als ›Opfer‹ sichtbar; die Romanform setzt in dieser Lesart auf die für Schlüsselverfahren typische Differenzierung des Publikums in Inkludierte und Exkludierte,127 was auf Rezeptionsseite indes gleich zwei komplementäre Erwartungshaltungen enttäusche: Während Die ganze Wahrheit nämlich einerseits für ›Nicht-Betriebsinsider‹ aus Mangel an »literarische[m] Mehrwert« 128 schlichtweg uninteressant sei, erhielten andererseits die ›Insider‹ der betrieblichen Verhältnisse erstaunlicherweise gerade »keine neuen Einblicke« 129 in die mit der ›Suhrkamp-Konstellation‹ verbundenen Strukturen. Um dennoch eben jenen, von Roland Mischke angesprochenen ›literarischen Mehrwert‹ eruieren zu können, betonen jene Besprechungen, die Gstreins Roman eher wohlgesonnen sind, denn auch, dass der Text »unabhängig von der ihm anhaftenden Skandalisierung« 130 zu lesen sei. Die ganze Wahrheit ist in dieser Perspektive ähnlich der Rezeption von Andreas Maiers Sanssouci gerade »kein Schlüsselroman und schon gar nicht eine Satire auf den Literaturbetrieb«,131 ja für die Selbstprogrammierung des Textes als literarisches Kunstwerk seien die im Feuilleton diskutierten Zusammenhänge der realen Realität letztlich irrelevant. Die Frage, was Gstreins Buch tauge, »wenn man es nicht als Schlüsselroman liest (was nach all dem Vorgeplänkel schwer genug, wenn nicht gar unmöglich ist)«,132 markiert Die ganze Wahrheit schließlich als Einblick »ins innere Regelwerk des Schreibens, wie Gstrein es versteht«.133 Sehe man von den feuilletonistisch aufbereiteten Schlüsseleffekten ab, erweise sich der Autor nicht zuletzt einmal mehr als »Meister der Charakterisierung von Menschen und des Ausleuchtens von Beziehungsgeflechten«.134 Zweitens spielt der Aspekt des ›Scheiterns‹ von Gstreins Programm mit Blick auf die mit dem Roman verbundenen Rahmenbedingungen der Romanvermarktung eine Rolle. Insofern der Lancierung einer Neuerscheinung im marketingstrategischen Idealfall »gezielt provozierte Pressemeldungen« 135 be-
127 Vgl. allgemein G. M. Rösch, S. 268. 128 R. Mischke. 129 Sigrid Löffler: Gestus gehässiger Abrechnung. In: Deutschlandfunk vom 16. August 2010 http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1249049 (23. 07. 2011). 130 Alexandra Plank: Wie wirklich ist die Fiktion? In: Tiroler Tageszeitung vom 16. August 2010. 131 Arno Widmann: Ein Genre entsteht. In: Frankfurter Rundschau vom 13. August 2010. 132 Andreas Wirthensohn: Die »Fallgruben der Fiktion«. In: Wiener Zeitung vom 3. September 2010. 133 Wilhelm Hindemith: Über eine Verlegerswitwe. In: Badische Zeitung vom 17. August 2010. 134 A. Plank. 135 Evelyne Polt-Heinzl: Der Kampf gegen/um den Bestseller. Mit Fallbeispielen aus der jüngsten österreichischen Literatur. In: Friedbert Aspetsberger u. Werner Wintersteiner (Hg.): Spielräume der Gegenwartsliteratur. Dichterstube – Messehalle – Klassenzimmer. (Schriften-
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gleiten, die »über einen möglichst langen Zeitraum für mediale Präsenz des betreffenden Autors/Buches sorgen«,136 lesen Teile der Literaturkritik Gstreins Buchpräsentation im Literarischen Colloquium Berlin als auktorialen Auftakt eines »steuerbaren profitablen Werbefeldzug[s] in eigener Sache«.137 Podiumsgespräch und auktorialer Selbstkommentar stehen demnach im Zeichen einer Marketingsstrategie, die »dem Buch seinen Absatzmarkt schaffen und sichern« 138 soll. Und so habe sich Gstrein schlicht die Einsicht zu nutze gemacht, dass mit literarischen Auftritten »ein noch ungedruckter Text bereits einmal unters Publikum und ein Autor und sein Werk in aller Ohr und Munde« 139 gebracht werden kann. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass weite Teile des Feuilletons beobachten, wie die Gstrein zugeschriebene Vermittlungsstrategie des mit »[r]eichlich Literaturbetriebs-Häme« 140 ausgestatteten, auf Skandalisierung angelegten Romans keineswegs aufgehe. Ausgehend von der Annahme, die in der ganzen Wahrheit geschalteten Rückkopplungen mit der realen Realität seien, »im Sinne der Verkaufszahlen, [...] offenbar nicht zufällig, sondern erwünscht«,141 stelle sich nämlich zunächst tatsächlich die Frage, »ob man mit einer Abrechnung mit dem Hause Suhrkamp heute noch große Lesergruppen in den Bann ziehen kann.« 142 Die Beobachtung, dass den Roman eine »höchst kuriose PR-Politik« 143 begleite, nutzt diese Lesart dazu, um im Modus auftrumpfenden Durchschauens das Scheitern der vom Autor vermeintlich intendierten Effekte zu konstatieren: »Taugt das alles zum ersehnten Herbstskandal? Wohl kaum.« 144 Abgesehen von den Meldungen zu Gstreins LCB-Auftritt und den üblichen Besprechungen differenziert sich um Die ganze Wahrheit denn auch tatsächlich keine längere literaturbetriebliche Debatte aus – was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass die Betroffenen die im Skandal-Schema verortete Rückbindung von Gstreins Roman an die reale
reihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 9) Innsbruck u. Wien 1999, S. 81–113, hier S. 90. 136 Ev. Polt-Heinzl, Der Kampf gegen/um den Bestseller, S. 90. 137 S. Perrig, S. 119. 138 S. Perrig, S. 117. 139 S. Perrig, S. 117. 140 Britta Heidemann: Norbert Gstrein – »Man hat mir abgeraten ...«. In: Der Westen vom 16. August 2010. http://www.derwesten.de/kultur/literatur/Norbert-Gstrein-Man-hat-mirabgeraten-id3562923.html (26. 09. 2011). 141 A. Plank. 142 G. Heidegger. Heidegger fährt fort: »Für den Verkauf der Startauflage von 10.000 Stück mag die im Vorfeld geschürte Aufregung allemal reichen«. 143 Elmar Krekeler: Durch Suhrkamps Schlüsselloch. In: Die Welt vom 18. Juni 2010. 144 Rainer Moritz: Trockener als Feuchtgebiete. In: Die Welt vom 20. Juni 2010.
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Realität via Pressemitteilungen beziehungsweise beredetes Schweigen demonstrativ, aber gelassen zurückweisen.145 Der Widerspruch zwischen der dem Autor zugeschriebenen Intention, einen Skandal provozieren zu wollen, und der ›Ankündigung‹ desselben während der LCB-Buchvorstellung erweist sich in dieser Perspektive als Ausdruck gescheiterter Marketingkalküle. Die als skandalisierend, weil enthüllend schematisierte ganze Wahrheit wird als spezifischer Fall literaturbetrieblich ›verdorbener‹ Literatur gelesen, der – analog zu Bodo Kirchhoffs Schundroman – von den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen, die er thematisch aufgreife, in besonderem Maße selbst lebe – oder diesen umgekehrt zum ›Opfer‹ falle: Eine alternative, gleichwohl im selben Akteursschema verortete Lesart vermutet nämlich, Gstrein seien die Folgen seiner »Berkéwicz-Pornografie« 146 gar nicht bewusst gewesen, ja die skandalisierende Bemerkung im Literarischen Colloquium sei ihm mehr oder weniger ungewollt unterlaufen; der ungeschickte Autor habe sich schlicht im öffentlichen Umgang mit seinem Text »verheddert«.147 In dieser Hinsicht bedient das auktoriale ›Kalkül‹ weniger marketingstrategisch ausgerichtete Interessen. Die ›Suhrkamp-Konstellation‹ im Blick habe Gstrein vielmehr ungeschickt und durchaus naiv, jedenfalls wenig reflektiert zunächst »selbst die Kritiker mit der Nase drauf gestoßen«,148 um dann im Nachhinein »die Worte wieder einzufangen, mit denen er sonst so sorgsam umzugehen weiß«.149 Der Autor erweist sich in dieser Perspektive gleichsam als ›Betriebsopfer‹, wenn nicht einer gezielt gesteuerten literaturkritischen Kampagne, so doch aber der maßgeblich massenmedial bestimmten Bedingungen seiner sozialstrukturellen Einbettung – ein Umstand, den auch der HanserVerlag in einer Pressemitteilung kurz nach Erscheinen des Romans betont: Im Hanser Verlag, der das Buch mit einer Erstauflage von 10 000 Exemplaren auf den Markt brachte, ruft das Kritikerecho Erstaunen hervor. »Wir wundern uns über die Vehemenz und die Aggressivität, mit der das Thema in den Medien zum Teil behandelt wird«,
145 »Der inzwischen nach Berlin umgezogene Suhrkamp Verlag war am Montag demonstrativ gelassen. Es gebe keine Reaktion, sagte Pressechefin Tanja Postpischil. ›Das ist ein Roman, der bei Hanser erscheint.‹« Kein Skandal um Gstreins Skandalroman. In: Online Focus vom 16. August 2010. http://www.focus.de/kultur/buecher/literatur-kein-skandal-um-gstreinsskandalroman_aid_541869.html (26. 09. 2011). Dass der Skandal um Die ganze Wahrheit marketingstrategisch scheitert, liegt nicht zuletzt daran, folgt man Teilen des Feuilletons, dass Ulla Berkéwicz ›so klug‹ gewesen sei, keine rechtlichen Schritte gegen Gstreins Roman einzuleiten. 146 R. Mischke. 147 Gerrit Bartels: Besessen von der Causa Suhrkamp. In: Die Zeit vom 27. August 2010. 148 Kein Skandal. In: Augsburger Allgemeine vom 1. September 2010. 149 Kein Skandal.
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sagt Verlagssprecherin Christina Knecht. »Es ist doch Aufgabe der Kritik, das Buch erst einmal als solches wahrzunehmen und nicht das Drumherum.« 150
Aufschlussreich ist dieser Abschnitt eines kurzen Focus-Artikels nicht deshalb, weil der redaktionell hinzugesetzte Kommentar das von Hanser zum Ausdruck gebrachte ›Erstaunen‹ gleichsam mit einem Streich und unter Verweis auf quantifizierbare Daten (›Erstauflage von 10 000 Exemplaren‹) in Abrede stellt. Relevant ist die zitierte Pressemitteilung vielmehr insofern, als sie einerseits darauf hinweist, der Verlag habe die feuilletonistische Debatte keineswegs marketingstrategisch im Blick gehabt (›wir wundern uns‹), und andererseits zwischen dem ›eigentlichen Buch‹ und dem ›Drumherum‹ unterscheidet und letzteres semantisch als in literarischen Hinsichten ›sekundär‹ abwertet. Expliziert ist damit die für Literaturbetriebs-Szenen konstitutive Unterscheidung von primären und sekundären Formen literarischer Kommunikation, mittels derer die vorliegende Studie Die ganze Wahrheit beschreibt. Dass es im Folgenden nicht darum gehen kann, für Licht in den skizzierten Zusammenhängen zu sorgen und die Rolle einzelner Akteure oder Organisationen (Autor, Verlegerin, Verlage, Printmedien, Journalisten) zu klären, versteht sich eigentlich von selbst. Mögen Strategiezuschreibungen, wie sie von der Rezeption der ganzen Wahrheit vorgenommen werden, auch die »höchste Stufe« 151 der Selbstreflexion feuilletonistischer Debatten bilden, immer handelt es sich bei ihnen um Kommunikationsformen, die den Status von (literaturkritischen) Selbstbeschreibungen des literarischen Systems haben. Die Zuschreibungen knüpfen an Semantiken und Unterscheidungen an, wie sie in literarischer Kommunikation (hier in der ganzen Wahrheit) strukturbildend sind. Eine literaturwissenschaftliche Fremdbeschreibung bestimmt sich hingegen dadurch, dass sie eben diese Zusammenhänge noch mitbeobachtet.152 Dabei kann sie zunächst darauf aufmerksam machen, dass die vom Feuilleton nahezu durchgehend beobachteten Strukturzusammenhänge eben gerade nicht auf einen wie auch immer strategisch geplanten, gleichsam a priori geschnürten ›Plot‹ zurückzuführen sind: Mit Blick auf die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen der ganzen Wahrheit kann die Literaturkritik Kontingenz nur schwer denken, ja sie versucht sich vor allem darin, den von ihr beobachteten Ereignisketten im Zusammenhang mit Gstreins Roman eine bestimmte Ordnung zu
150 Kein Skandal. 151 Sabine Buck: Literatur als moralfreier Raum? Zur zeitgenössischen Wertungspraxis deutschsprachiger Literaturkritik. Paderborn 2011, S. 122. 152 Dies im Sinne von André Kieserling: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens. Frankfurt a. M. 2004.
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unterstellen. Der Verweis auf die damit verbundenen (und als gescheitert unterstellten) Inszenierungsstrategien der diversen Beteiligten greift jedoch zu kurz, da die unterschiedlichen Faktoren auf derart komplexe Weise ineinander spielen, »daß viel eher von einem ›Emergenzphänomen‹ die Rede sein sollte«.153 In dieser Perspektive hat literarische Kommunikation als System die literaturbetriebliche Relevanz und den literaturkritischen Wert der ganzen Wahrheit überhaupt erst erzeugt, für dessen Zustandekommen dann im Nachhinein ›kühl kalkulierende‹ Akteure oder ›Opfer‹ adressiert werden müssen. Literaturskandale lediglich im Schema ›Störung/Strategie‹ zu beschreiben, verfehlt eben genau dies. Geht die Forschung davon aus, als literarische Skandale seien nur als solche Ereignisse zu fassen, in denen literarische Texte oder Autoren »wirklich unerwartet und unvorhersehbar zum großen medialen Streitfall« 154 werden, setzt sie voraus, zwischen ›echten‹ und lediglich ›inszenierten‹ Skandalen unterscheiden zu können.155 Genau diese Unterscheidung ist jedoch in literarischer Kommunikation strukturbildend – und kann auch nur dort beantwortet werden, verweigert sich doch nicht selten das literarische Publikum Skandal, Autor oder Text, wenn es (wie im Falle Gstreins) meint, »dass mit einem Text ein Skandal ausgelöst werden soll.« 156 Dahinter steht die bereits angesprochene Annahme, Skandale zeichneten sich insbesondere dadurch aus, für die literarische Öffentlichkeit »unberechenbar« 157 zu sein. Insofern Autorinszenierungen gewöhnlich so eingesetzt werden müssen, »daß sie als authentischer Ausdruck und nicht als inszenatorische Marktstrategie ernst genommen w[erden]«,158 geht es um solche literarischen Ereignisse, von denen angenommen wird, sie seien gerade nicht ›inszeniert‹. Noch die auf lite-
153 Dirk Frank: Zwischen Deliteralisierung und Polykontextualität. Günter Grass’ Ein weites Feld im Literaturbetrieb. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Unter Mitarbeit von Hannes Krauss und Jochen Vogt. Opladen u. Wiesbaden 1998, S. 72– 96, hier S. 75. 154 R. Weninger, S. 10. 155 Vgl. als besonders anschauliches Beispiel für dieses Schema den literaturkritisch gefärbten Beitrag von Rainer Moritz: Wer treibt die Sau durchs Dorf? Literaturskandale als Marketinginstrument. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Mit drei Abbildungen. Göttingen 2007, S. 54–62. 156 Volker Ladenthin: Literatur als Skandal. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Mit drei Abbildungen. Göttingen 2007, S. 19– 28, hier S. 27. 157 H.-E. Friedrich, S. 10. 158 Thomas Wegmann: Zwischen Maske und Marke. Zu einigen Motiven des literarischen Inkognito. In: Jörg Döring u. a. (Hg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Opladen 1996, S. 128–140, hier S. 132.
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raturwissenschaftlicher Seite anzutreffende, mitunter durch eine merkwürdig triumphierende Entlarvungssemantik gerahmte Einsicht in die Strategien, ›wie man Skandale macht‹,159 knüpft an eben diesem Schema an. Sie ist an Akteuren und deren vermeintlichen Intentionen orientiert und schreibt damit das fort, was in literarischer Kommunikation ohnehin schon vollzogen wird. Eine systemtheoretisch informierte, literaturwissenschaftliche Untersuchung von Gstreins ganzer Wahrheit ersetzt demgegenüber Intention und Handlung durch Kommunikation, Attribution und Form. Insofern verweisen ›Marketingstrategien‹ oder ›Opferrollen‹ auf keine kommunikative Sonderformen, sondern stehen vielmehr für den kommunikativen Normalfall. Gleichwohl fällt der Begriff des Skandals in dieser Perspektive nicht weg, sondern wird in Kommunikation eingelassen und von dort aus über das Konzept der Attribution rekonstruiert. Literaturskandale unterliegen einer spezifischen Semantik, die sie grundsätzlich als Abweichung zumeist von einem literarischen Programm oder anderen Erwartungsstrukturen versteht, die außerhalb des Literatursystems zu verorten sind, und damit als kommunikativen Ausnahmefall beschreibt. In diesen Sinne interessiert weniger das Eruieren von Inszenierungs- und Marketingsstrategien. Im Zentrum steht vielmehr eine Redeskription der sich in der Verkettung zwischen Gstreins LCB-Auftritt und der ganzen Wahrheit aktualisierten literarischen Form. Gstreins Geste der »Vorwärtsverteidigung« 160 im Literarischen Colloquium irritiert eben deshalb, weil sie einen Roman in Schutz nimmt, »der erst in zwei Monaten erscheint« 161 – und damit die konventionelle Semantik, wie sie zur Beobachtung von Literaturskandalen verwendet wird (Störung/Strategie), unterläuft. Irritiert wird damit die konventionelle Kopplung von Zeit- und Sozialdimension von Skandalkommunikation, wie sie im Literatursystem strukturbildend ist. Denn ein literarischer ›Skandal mit Ansage‹, wie ihn Kämmerlings diagnostiziert, ist gleich in zwei Hinsichten selbstreflexiv angelegt. Indem er seine Rezeption innerfiktional thematisiert und vorwegnimmt, reflektiert er als provozierter Skandal erstens die Wirkung von Literatur in der realen Realität; und zweitens beschreibt die Form des ›Skandals mit Ansage‹ den Effekt eines Literaturskandals oder die sich an diesen anschließende feuilletonistisch-massenmediale Rezeption sowie die dort dem jeweiligen Skandalierer unterstellten Strategien. Der ›Skandal mit Ansage‹ bleibt hier aber nicht stehen, sondern
159 Vgl. Stefan Neuhaus: Wie man Skandale macht. Akteure, Profiteure und Verlierer im Literaturbetrieb. In: Matthias Freise u. Claudia Stockinger (Hg.): Wertung und Kanon. (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 44) Heidelberg 2010, S. 29–41. 160 E. Krekeler, Durch Suhrkamps Schlüsselloch. 161 E. Krekeler, Durch Suhrkamps Schlüsselloch.
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durchbricht diesen literaturkritischen Automatismus, indem die Strategie nicht erst mühsam ›entlarvt‹ werden muss, sondern die in Szene gesetzte Form sich quer zu diesen Zuschreibungen stellt. Die damit angedeutete LiteraturbetriebsSzene macht sich zwar selbstreflexive Elemente dezidiert und forciert zu nutze, lässt diese jedoch in und mit Text und Paratext gleichsam zu vermeintlich unhinterfragbaren Realitätspartikeln verklumpen. Um diesem Verfahren auf die Spur zu kommen, lohnt ein Blick in Gstreins Bibliographie.
5.1.3 Fiktive Verteidigungsschriften Neben Fakten, Fiktionen und Kitsch »korrespondieren[ ]« 162 Die englischen Jahre nämlich noch mit einem weiteren Text: mit dem rund hundert Seiten umfassenden Selbstportrait mit einer Toten. Dessen Funktion ist mit derjenigen von Wem gehört eine Geschichte? und Fakten, Fiktionen und Kitsch insofern vergleichbar, als das Selbstportrait Gstrein zufolge eine »fiktive Verteidigungsschrift« (WG 50) zu den englischen Jahren darstellt. Aber auch der Umstand, dass es sich bei Wem gehört eine Geschichte? und Fakten, Fiktionen und Kitsch keineswegs um eindeutig faktuale Texte handelt, erlaubt es, das ›fiktive‹ Selbstportrait, das im Peritext keiner Gattung zugeordnet wird, mit den beiden Selbstkommentaren in eine Reihe zu stellen. Sowohl Wem gehört eine Geschichte?, paratextuell als »Essay und autobiographische Erzählung« (WG ›Klappentext‹)163 ausgewiesen, als auch die Wiener Rede irritieren die »Unterscheidung von realer und fiktionaler Realität« 164 nämlich nicht unerheblich. Wenn Gstrein beschreibt – jeweils in Analogie zur Erzählerin bzw. zum Erzähler seiner Romane –, wie er sich nach Beendigung der Arbeit am Text »ein weiteres Mal« (WG 70) beziehungsweise »noch einmal« (FFK 30) an die historischen Orte seiner literarischen Texte begibt, stellt er im Modus einer »palimpsestuöse[n] Überschreibung« 165 der jeweiligen ›Haupttexte‹ den Status der von ihm beschriebenen und den Romanen zugrundeliegenden Fakten in einer weiteren re-entry-Schleife erneut in Frage. Die Bemerkung, er habe bei seiner nachgeschalteten Spurensuche das Gefühl gehabt, »mehr und mehr eine Figur wie aus einem Buch« (WG 73) geworden zu sein, oder der Eindruck, »aus der Wirk-
162 J. Drynda, S. 241. 163 Waschzettel des Suhrkamp-Verlags, der als epitextuell realisierter Klappentext dem Buch beigelegt ist. 164 Niklas Luhmann: Literatur als fiktionale Realität. In: Niklas Luhmann: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. von Niels Werber. Frankfurt a. M. 2008, S. 276–291, hier S. 281. 165 M. Gunreben, S. 87.
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lichkeit direkt in eine Fiktion geraten zu sein« (WG 100) und nur »verbrauchte[ ] Wörter« (FFK 30) verwenden zu können, stehen ebenso im Zeichen des von den Romanen angeleiteten Spiels um die problematische Abbildbarkeit ›realer‹ Begebenheiten, wie auch die immer wieder eingestreuten Hinweise, sein Faktenwissen sei von »literarische[n] Vorstellungen« (WG 17) und »Zeitungsmeldungen« (WG 32) bestimmt. Angelegt ist dieses Kollabieren der Unterscheidung zwischen ›Fakten und Fiktion‹ im Falle Wem gehört eine Geschichte? im Übrigen bereits in der Widmung ›für Helena‹, die dem Text seinen metakommentierenden und -fiktionalen Status nimmt und den Autor Gstrein mit dem Ich-Erzähler des Romans verschränkt.166 In dieser Hinsicht sind Wem gehört eine Geschichte? und Fakten, Fiktionen und Kitsch nicht nur als kommentierende Sekundär- oder Metakommunikation des literarischen Programms zu lesen. Mag es Gstrein auch um die auktoriale »Deutungshoheit« 167 über Die englischen Jahre bzw. Das Handwerk des Tötens gehen, nicht zuletzt in ihrem paratextuellen Status verankern sich beide Texte in einer »Übergangszone« 168 zwischen ›Fakten und Fiktionen‹, die zwischen Autor und Leser bestimmte »Verstehensbedingungen aushandel[t]«.169 Insofern Wem gehört eine Geschichte? und Fakten, Fiktionen und Kitsch mithin das Kollabieren der Unterscheidung von ›Fakten und Fiktion‹ weiterführen, ja sich als spezifisch programmierte ›Ausdehnungen des literarischen Kosmos’‹ 170 erweisen, gilt es für das Selbstportrait zu fragen, wie dieses an Die englischen Jahre gekoppelt ist. Das 2000 erschienene Selbstportrait stellt einen Schriftsteller ins Zentrum, der bei einem Literaturwettbewerb in Wien leer ausgeht, »weil nicht einmal er selbst für sich gewesen sei«.171 In einer in fünf Episoden strukturierten und
166 Wenn die sich auf die reale Realität beziehende »Widmung im Roman an Gabriel Grüner bezeichnend für den Stoff und Inhalt des Textes ist, dann kann auch diese zweite Widmung mit dem Inhalt verbunden werden (nicht nur Helena = Suzana, sondern folglich auch IchErzähler = Gstrein)«, G. Lovrić, S. 226. 167 J. Encke, Das unerfreuliche Milieu. 168 Uwe Wirth: Paratext und Text als Übergangszone. In: Wolfgang Hallet u. Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 167–177, hier S. 171. 169 U. Wirth, Paratext und Text als Übergangszone, S. 171. 170 Vgl. die Formulierung bei T. Hoffmann, S. 287. Als Vorbilder für diese Art der Kopplung zwischen Paratext und Haupttext sind, folgt man Gstrein, Danilo Kiš’ Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch und die damit »korrespondierende[ ]« (WG 50) Anatomiestunde sowie Imre Kertészs Roman eines Schicksallosen und Fiasko. 171 Norbert Gstrein: Selbstportrait mit einer Toten. Frankfurt a. M. 2000. Hier und im Folgenden zitiert nach dieser Ausgabe mit Seitenzahlen unter Angabe der Sigle ST in runden Klammern im Text, hier S. 10.
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über die Wochentage Montag bis Freitag gestreckten »Erregung« (ST 32) ›lamentiert‹ (vgl. ST 73) der namentlich nicht näher bezeichnete Autor gegenüber seiner Frau, der ebenso namenlosen Ich-Erzählerin und Ärztin, über die »tagtägliche[n] Demütigung[en]« (ST 18) des Literaturbetriebs im Allgemeinen und die »Schmierenkomödie« (ST 19) beim »Wettlesen des Konsuls« (ST 10) im Besonderen. Der Text lässt sich mithin nicht nur als »eine gestörte Mann-FrauBeziehung« 172 lesen; er erweist sich vielmehr auch und gerade als »eine ironische Studie über die Obsession des Schreibens«,173 die die »radikale Beurteilung schriftstellerischen Tuns«,174 die Instabilität der Kontextbedingungen literarischen Schreibens, konsequent an die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur zurückbindet. Dass der Text den unter literarischen Gesichtspunkten problematischen Kontext literarischer Produktivität um 2000 als die Begleiterscheinungen der literaturbetrieblichen Einbettung des Autors versteht, zeigt sich sowohl im Neid auf Autorin Annette Wernicke, die beim fraglichen Literaturwettbewerb »die Auszeichnung abgeräumt hatte« (ST 10), und dem vermutlich im Vorhinein abgesprochenen Abstimmungsverhalten (vgl. ST 23–24) der als »Heuchler« (ST 84) charakterisierten Jurymitglieder als auch im vernichtenden Kritiker-Urteil über den eigenen Wettbewerbstext, dessen Thema doch wohl »eine Nummer zu groß« (ST 75) gewesen sei. Erweist sich das Handeln der an Literaturvermittlung beteiligten Akteure somit als mehr oder weniger störende, gleichwohl unhintergehbare Rahmenbedingung literarischer Arbeit, die das Autoren-Dasein des Protagonisten in erheblichem Maße beeinträchtigt, nutzt der Text die Differenz von primären und sekundären Formen sowohl für die histoire- als auch für die discours-Ebene des Selbstportraits und stellt die beiden Seiten der Unterscheidung in ein als problematisch markiertes Bedingungsverhältnis. Auf der Ebene der histoire knüpft der Text mit dem Fokus auf den Wiener Wettbewerb an der Rede vom Literaturbetrieb als »Mischung von Salon, Tafelrunde und Funktionärsbüro« 175 an. Zwei Gesichtspunkte sind dabei von Bedeutung. Erstens greift das Selbstportrait die in der Literaturkritik kursierende Vermutung auf, spätestens seit den 1990er Jahren stünden Prozesse der Litera-
172 Armin A. Wallas: Das Verschwinden im Exil. Zu Norbert Gstreins Erzähltexten »Die englischen Jahre« und »Selbstportrait mit einer Toten«. In: Mnemosyne. Zeitschrift für jüdische Kultur (2001), Nr. 27, S. 215–224, hier S. 219. 173 Werbebroschüre »Norbert Gstrein«. Suhrkamp Verlag (90668) 5/2003. 174 Werbebroschüre »Norbert Gstrein«. 175 Klaus Zeyringer: Ehrenrunden im Salon. Kultur – Literatur – Betrieb. Essay. Innsbruck u. a. 2007, S. 10.
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turvermittlung im Zeichen des »Boulevard[s]«.176 Beteiligt an dem damit einhergehenden »Gequatsche« (ST 12) vor und hinter den Betriebskulissen sind nicht nur im engeren Sinne massenmediale Organisationen und Akteure – also die »Tritsch-Tratsch-Tante vom Fernsehen« (ST 53) und der an Gerüchten interessierte »Klatschreporter« (ST 61). Zu den »Plaudertaschen aus der Szene« (ST 69) gesellen sich darüber hinaus eine Vielzahl weiterer nicht-literarischer Akteure wie »verkrachte[ ] Journalisten, Redenschreiber[ ] und Gewerkschafter[ ]« (ST 54) und »Vorstandsmitglieder[ ], Sekretärinnen und Vizepräsidenten von allen Ehren verstaubten Vereinen« (ST 54–55). Am Exempel des ›Wettlesens‹ in der »Hietzinger Villa« (ST 93) präsentiert das Selbstportrait den Literaturbetrieb mit seinen Veranstaltungen als Ort »geselliger Rituale«,177 die einerseits dazu dienen, eine wie auch immer beschaffene soziale Einheit der aus diversen Funktionskontexten stammenden Akteure zu imaginieren, und andererseits Literatur und Autoren in den Dienst einer »Fassade der Repräsentation« 178 zu stellen. Dass auch Autoren und Kritiker in diese boulevardesken Strukturen eingelassen sind, ja an diesen in entscheidender Hinsicht selbst partizipieren, mag auf der Hand liegen, der Protagonist des Selbstportraits interessiert sich indes für einen anderen, zweiten Gesichtspunkt. Ihm geht es weniger um Autorinszenierung – Wernicke weiß sich immerhin als »Diva« (ST 11) in Szene zu setzen – als vielmehr um die hinter dem ›Wettlesen‹ stehenden Interessen der Literatur fördernden Akteure. Betont wird dabei einerseits die schriftstellerische Abhängigkeit von ideeller und materieller Unterstützung, um andererseits hervorheben zu können, dass der Wert eines literarischen Werkes nicht vom einzelnen Autor, sondern von den Konsekrationsinstanzen eines sozialen »Kräftefeldes« 179 bestimmt wird. Insofern Literaturpreise und -wettbewerbe »Steuerungs- und Selektionsinstrument[e] der politischen und kulturellen Institutionen« 180 sind, die Verfahren bereitstellen, in denen die beteiligten Autoren mit
176 Thomas Kraft: The show must go on. Zur literarischen Situation der neunziger Jahre. In: Thomas Kraft (Hg.): aufgerissen. Zur Literatur der 90er. München u. Zürich 2000, S. 9–22, hier S. 12. 177 Lothar Menne: Vom Salon an die Börse. Über den Handel mit Bestsellern und anderen Büchern. In: Kursbuch (1998), Nr. 133. Das Buch, S. 41–47, hier S. 42. 178 K. Zeyringer, S. 11. 179 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 2005, S. 368. 180 Vgl. Lutz Hagestedt: Autorenpräsentation und -förderung: Lesungen, Ausstellungen, Preise. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Bd. 1. Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart u. Weimar 2007, S. 296–306, hier S. 304.
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ihren Wettbewerbstexten um ökonomisches und symbolisches Kapital »konkurrieren«,181 erweist sich die »Katastrophe« (ST 88) beim ›Wettlesen des Konsuls‹ als Ausdruck des »generierende[n] und vereinheitlichende[n] Prinzip[s]« 182 des literarischen Feldes schlechthin – und ist in dieser, feldtheoretischen Perspektive kein ungewöhnlicher Vorgang. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die »Klage« (ST 32) des Schriftstellers über das Handeln der »Wiener Bande« (ST 64). Der Protagonist unterstellt diesen im Feld dominierenden Akteuren nicht nur weitgehend, die jeweils eigenen Interessen über pejorativ konnotierte Strategien der Intrige und der üblen Nachrede durchzusetzen (vgl. etwa ST 17). Die Mitglieder dieser Gruppe von Betriebsakteuren erwiesen sich zudem als jene Jammergestalten, die [...] das Geld verteilten, einen Batzen hier, für einen schlampig zusammengeschmierten Gedichtband, wir können das arme Schwein doch nicht verrecken lassen, war die Devise, einen Batzen da, für die Mitgliedschaft bei der richtigen Partei, eine dauerhafte Demutsgeste und ein paar im Rausch gezeugte Kinder, einen Batzen in die eigene Tasche (ST 54).
Insofern der Kampf um das Monopol der Definition legitimer literarischer Produktionsweisen dazu beiträgt, »den Glauben an das Spiel, das Interesse an ihm und an dem, was dabei auf dem Spiel steht, fortwährend zu reproduzieren«,183 setzt »die Wiener Bande und ihre Marionetten« (ST 58) eben diesen literarischen Reproduktionsprozess dem Schriftsteller zufolge geradezu selbst aufs Spiel. Gehe es ihrer als »gönnerhaftes Gebaren« (ST 75) realisierten Literaturförderung ganz offensichtlich nicht um literarische Maßstäbe (›schlampig zusammengeschmiert‹), ja werde »hinter vorgehaltener Hand« (ST 11) die Prämierung von »Stumpfsinn« (ST 11) bewusst in Kauf genommen, eröffne die Förderung von Seiten der mitunter korrupten ›Wiener Bande‹ eben gerade keinen »im Interesse der literarischen Entwicklung wünschenswerten Spielraum«.184 Die »größte Bedrohung für die kulturelle Produktion« 185 stellt damit nicht so sehr die Unterwanderung derselben durch massenmediale oder ökonomische Prämissen im engeren Sinne dar; literaturbetrieblich ›bedroht‹ wird die Litera-
181 BMB: Literaturwettbewerb. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 240–243, hier S. 240. 182 P. Bourdieu, S. 368. 183 P. Bourdieu, S. 360. 184 Frauke Meyer-Gosau: Literaturförderung. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 226–228, hier S. 228. 185 P. Bourdieu, S. 533.
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tur demnach durch ganz banale, mitunter auf Interaktionsebene zu verortende Gründe, wie dem Kampf um die Aufmerksamkeit »eine[r] wunderbare[n] Frau« (ST 14), der die Beteiligten »Abend für Abend nachgeschaut hätten, hinter ihr hergegafft« (ST 14). Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund liegt es nahe, den aus der Niederlage des Schriftstellers im Kampf um Positionen und symbolisches Kapital resultierenden »Abgesang« (ST 83) auch selbst als ›Selbstpositionierung‹ zu lesen. Dass der Schriftsteller dabei durchaus mit den Mitteln der von ihm beschimpften Betriebsbedingungen arbeitet, verdeutlicht nicht nur die im fünften Kapitel platzierte Szene mit einer Journalistin. Während er dort seine zuvor und nachher beschimpfte Konkurrentin Wernicke, »deren Bücher er ostentativ auf der Toilette stapelte, ohne sie auch nur anzublättern« (ST 10), aus nicht minder amourös-strategischen Gründen als »würdige Preisträgerin« (ST 95) lobt, schlägt sich die thematisierte literaturbetriebliche »Vernichtung« (ST 46) der Literatur darüber hinaus auch und gerade in spezifischer Form auf der discours-Ebene der »verzweifelten Literaturbetriebssatire« 186 nieder. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass das Selbstportrait zur Formbildung die für Schlüsselliteratur typische »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung« 187 als Medium nutzt. So lässt sich ›hinter‹ der Veranstaltung beim Konsul, dem ›Wettlesen‹ um den »Mitteleuropäischen Literaturpreis« (ST 10), »[d]er zentrale Literaturwettbewerb der deutschsprachigen Literaturszene« 188 vermuten: Die jährlich stattfindenden Tage der deutschsprachigen Literatur im österreichischen Klagenfurt gelten nicht nur der Literaturwissenschaft als »kleinstädtische[ ] Metapher für den Literaturbetrieb«,189 in der ›Börse, Show und Event‹ 190 zusammenfinden und sich im so entfalteten literaturbetrieblichen Schnittfeld zwischen Literatur und Medien ›reine Kunst‹ und ›Massenkunst‹ »überlagern«.191 Wird durch den damit einhergehenden
186 Werbebroschüre »Norbert Gstrein«. 187 G. M. Rösch, S. 7. 188 BMB, S. 242. 189 D. Moser, Du sollst dir kein Bildnis machen, sondern fernsehen, hier S. 122. Vgl. auch Doris Moser: Über die Erhabenheit des Events. Der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb als Modellfall des Literaturbetriebs. In: Friedbert Aspetsberger u. Werner Wintersteiner (Hg.): Spielräume der Gegenwartsliteratur. Dichterstube – Messehalle – Klassenzimmer. (Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 9) Innsbruck u. Wien 1999, S. 115–143. 190 Vgl. Doris Moser: Der Ingeborg-Bachmann-Preis. Börse, Show, Event. (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 9) Wien u. a. 2004. 191 Doris Moser: Feldspieler und Spielfelder. Vom Gewinnen und Verlieren beim IngeborgBachmann-Wettbewerb. In: Markus Joch u. a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur und Kulturbetrieb der Gegenwart. Gemeinsam mit Nina Birkner. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 118) Tübingen 2009, S. 189–203, hier S. 203.
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Realitätseffekt einmal mehr das Boulevardeske des vom Selbstportrait beschriebenen Betriebs hervorgehoben und der Leser gleichzeitig dazu aufgefordert, die auftretenden Figuren mit ›Vorlagen‹ aus der realen Realität abzugleichen,192 konzentriert sich die »Schlüsselerzählung« 193 gleichwohl auf das Verhältnis zwischen Autor und Protagonist. Wenn das Feuilleton annimmt, Gstrein kenne die Lage seiner zentralen Figur »wahrscheinlich gut«,194 und vor diesem Hintergrund fragt, was den Schriftsteller im Selbstportrait mit dem Autor Norbert Gstrein der realen Realität ›verbinde‹,195 wird der Text nicht nur als »Tirade« (ST Klappentext) eines namenlosen Schriftstellers gelesen, sondern auch und gerade seines Autors, der seinem »Unmut über die österreichische Literaturszene Luft macht« 196 und gegen die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens ›zurückschlage‹.197 In dem Protagonisten einen »Doppelgänger« 198 Gstreins zu entdecken, scheint in diesem Zusammenhang nicht zuletzt durch die Beobachtung legitimiert zu werden, dass auch Gstrein selbst inner- wie paratextuelle Elemente dazu nutzt, Konvergenzen zwischen sich und dem Protagonisten seines literarischen Textes implizit, aber dennoch dezidiert zu provozieren. Bereits im Urteil, der namenlose Schriftsteller habe sich mit seinem Wettbewerbsbeitrag »Hommage à Hirschfelder« (ST 32) übernommen, ja hätte besser bei seinen »Dorfgeschichten« (ST 75) bleiben sollen, kann das literarische Publikum einen Vorwurf an den Autor Gstrein erkennen. Denn mit eben solchen thematisch eng mit seiner Heimat verbundenen Texten ist der aus dem »weltabgewandten Ötztal« 199 stammende Autor Ende der 1980er Jahre in den Literaturbetrieb eingestiegen, um dann mit dem Exil-Thema des Romans Die englischen Jahre scheinbar radikal das Programm zu ändern.200 192 Folgt man Jan Ceuppens, lassen sich etwa »leicht Zeitgenossen wie Peter Handke oder Elfriede Jelinek als Schießscheiben wiedererkennen«. J. Ceuppens, S. 310. 193 A. A. Wallas, S. 220. 194 Manuela Reichart: Ich wünsche Ihnen viel Glück mit Ihrem neuen Roman. In: Süddeutsche Zeitung vom 16. März 2000. 195 Vgl. Gunther Nickel: Ein Selbstporträt. Aber von wem? In: Die Welt vom 18. März 2000. 196 J. Ceuppens, S. 310. 197 Vgl. die Formulierung bei M. Reichart. 198 Jorge Semprúm: Wunder und Geheimnisse des Alltags. Laudatio auf Norbert Gstrein. In: Günther Rüther (Hg.): Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. an Norbert Gstrein. Weimar, 13. Mai 2001. Dokumenation. Im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Bornheim 2001, S. 8–11, hier S. 11. 199 Anna Valerius: Zwischen Fakten und Fiktionen. Norbert Gstrein auf der Suche nach der Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. In: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur (2005), Nr. 1, S. 58–60, hier S. 59. 200 Die in diesem Zusammenhang aufgerufene literaturkritische Rezeption der englischen Jahre ist hingegen alles andere als ablehnend ausgefallen, wenn auch nicht durchgehend so en-
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Die Bemerkung, der Schriftsteller des Selbstportraits habe als »Hinterwäldler keine Ahnung« (ST 45) von der Schriftsteller-Ikone Gabriel Hirschfelder und seine ›Hommage‹ sei eben deshalb misslungen, trifft dabei ein Kritiker, der sich ebenso als Zentrum der ›Wiener Bande‹ wie als Knotenpunkt intertextueller Verknüpfungen erweist. Unter »Wilhelms Regie« (ST 54) wird dem bedeutenden jüdischen Exil-Schriftsteller Hirschfelder der Staatspreis als österreichische ›Wiedergutmachung‹ für erlittenes Unrecht zugesprochen (vgl. ST 52), was der Text wiederum vor allem mit dem Positionierungskampf engführt, der das literarische Feld reproduziert. Hirschfelder nimmt in der vertikalen Achse des vom Text in Szene gesetzten sozialen Raumes eine dominierende Position ein, so dass die Mitglieder der ›Wiener Bande‹ die Möglichkeit erkennen, an Hirschfelders symbolischem Kapital zu partizipieren. Darüber hinaus nutzt der Protagonist den Umgang mit Hirschfelder dazu, sich von Kritiker Wilhelm programmatisch zu distanzieren. Dieser beanspruche als Experte insbesondere deshalb die Deutungshoheit über den Exil-Schriftsteller, weil er selbst alle paar Monate einen Ausgewanderten entdeckte, einen vergessenen Schriftsteller, den er dann so lange verkitschte, bis ein Heiliger herauskam, der keine menschlichen Züge mehr hatte, ein Gerechter der Literatur und des Lebens, stieß er hervor, was für ein Schwachsinn, aber das ist seine Bezeichnung dafür, ein Gerechter der Literatur und des Lebens (ST 32).
Die im Zentrum dieser Passage stehende Formulierung ›Gerechter der Literatur und des Lebens‹ ist uneigentliche Rede mit Blick auf gleich drei Referenzen. Innerfiktional zitiert der Protagonist – erstens – Kritiker Wilhelm, um sich von diesem abzugrenzen. Zweitens ist die Formulierung einem Artikel des österreichischen Kritikers und Schriftstellers Karl-Markus Gauß in der Neuen Zürcher Zeitung von Anfang 1999 entnommen. Gauß wirbt dort dafür, den Schriftsteller H. G. Adler als »einen Gerechten der Literatur und des Lebens« 201 zu entdecken. Und drittens baut der Text mit dieser Formulierung eine Argumentation in sich ein, die Gstrein aus Anlass der Wiener Tagung zum Thema Exil ausführt. In der Rede Fakten, Fiktionen und Kitsch, von der eine gekürzte Fassung im Januar 2000 zunächst in der Neuen Zürcher Zeitung erscheint,202 nutzt er
thusiastisch wie Eberhard Rathgeb: »Norbert Gstrein hat mit diesem Roman bravourös gezeigt, dass man noch eine Geschichte erzählen kann«, Eberhard Rathgeb: Nach der Stunde der wahren Empfindungen. Norbert Gstreins schicksalsferner Roman »Die englischen Jahre«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. August 1999. 201 Karl-Markus Gauß: Ein Unbeirrbarer. In: Neue Zürcher Zeitung vom 2. Februar 1999. 202 Vgl. Norbert Gstrein: Die Differenz. Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema. In: Neue Zürcher Zeitung vom 15./16. Januar 2000. Um bei der Entschlüsselung auf Nummer sicher zu gehen, zitiert Gstrein einen weiteren Artikel Gauß’ (vgl. FFK 15),
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die Gelegenheit, »ein oder zwei Kostbarkeiten aus dem reichen Blütenschatz eines österreichischen Kritikers« (FFK 14) anzuführen, um an diesen das unreflektierte Bearbeiten des Verhältnisses von ›Fakten und Fiktionen‹ vorzuführen. Demnach sei es wenig hilfreich, den Emigranten H. G. Adler »in allem Pathos einen Gerechten der Literatur und des Lebens« (FFK 15) zu nennen, weil dies lediglich pädagogisch motivierte, »verkitscht[e]« (FFK 16) »Klischeevorstellungen« (FFK 15) vom Exil bediene. Mit diesem Verfahren der Überblendung von Positionen des Protagonisten mit denjenigen des Autors nimmt Gstreins Rede also die innerfiktionale Distinktionsstrategie vorweg beziehungsweise führt sie in die reale Realität. So wie der Protagonist im Selbstportrait davon spricht, »Wilhelm könne ihm mit seiner Folklore und seinem verkappten Patriotismus gestohlen bleiben« (ST 39), so grenzt sich Gstrein in der Rede von »Heiligsprechung[en]« (FFK 15) ab. Der Effekt ist dabei, dass sich das Selbstportrait, darin Wem gehört eine Geschichte? vergleichbar, in die Position eines »grotesken Rundumschlag[s]« 203 bringt, der gleichwohl als ›fiktive Verteidigungsschrift‹ zwischen realer und fiktionaler Realität oszilliert. Die Abrechnungsgeste in der fiktionalen Realität richtet sich insbesondere gegen die »zweit- und drittklassige[n] Hinterherläufer« (ST 18), die nur deshalb in der Preisjury hätten Platz nehmen dürfen, »weil sich sonst niemand bereitfand, für das Wettlesen des Konsuls den Kasper zu machen« (ST 18). Tanner, Schweizer Fernsehen, Karg, Universität München, und Wilhelm von der Presse, die Crème de la Crème, hatte er in der Kasernenstraße noch gespottet, in der Militärstraße waren sie schon Allerweltsopportunisten gewesen, öffentlichkeitssüchtige Arschkriecher auf Höhe der Reitergasse, auf Höhe der Freischützgasse Karrieristen, sie haben wunderbar zusammengepaßt, Ochsner und Tanner, Ladurner und Karg, meinte er, als wir an der Jägergasse und an der Eisgasse vorbeikamen, Ochsner, der Weltverbesserer, Ladurner, der Schwergewichtspathetiker, und ich bog in die Kanonengasse ein, als er sich fragte, was Wilhelm mit ihm zu tun haben könne, und ohne zu zögern nichts schrie, nichts, nichts, nichts. (ST 18–19)
Zwei Aspekte sind mit Blick auf diesen Abschnitt relevant. Zum einen vollzieht der Text hier die Auseinandersetzung mit den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur mittels syntaktisch als Aufzählung realisierter »Beschimpfungen« (ST 59). Eingelassen sind diese »Anwürfe« (ST 76), die nicht zuletzt im österreichischen Kontext an den ›Übertreibungskünstler‹ 204 Thomas in dem dieser Fred Wander als ›Außenseiter‹ bestimmt. Vgl. Karl-Markus Gauß: Ein Außenseiter. In: Die Zeit vom 8. November 1996. 203 J. Holzner, S. 55. 204 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Der Übertreibungskünstler. Studien zu Thomas Bernhard. 3., erweiterte Auflage. Wien 1997. Die in der Auslöschung vorgestellte Konzeption des ›Geistesmenschen‹, die die »Übertreibung zum konstitutiven Ausdrucksmittel jeder Kategorie
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Bernhard erinnern, wiederum in überwiegend hypotaktische Satztrukturen, die im Überblick nicht selten über mehrere Seiten ausgebreitet sind. Zum anderen bringt die vierfache Selbstdistinktion des Protagonisten am Ende der zitierten Passage das entscheidende Verfahrenselement des Selbstportraits auf den Punkt. So wie hier das ›nichts‹ auf der Satzebene wiederholt wird und das Pronomen damit die syntaktische Struktur der Passage noch einmal aufnimmt (und semantisch im ›nichts‹ enden lässt), so finden sich im »Monolog« (ST 64) des Schriftstellers immer wieder zusammenhängende Beschimpfungsbrocken, die in Variationen repetiert werden. es kamen immer neue Attacken, Wilhelm sei dies, Wilhelm sei das, bis er wieder dabei anlangte, zu sagen, was für ein Heuchler, eine Wiener Schießbudenfigur, wie sie im Buch steht, in Eisenstadt und Sankt Pölten eine Berühmtheit, in Zürich oder Frankfurt ein umtriebiger, österreichischer Ignorant, ein unverwüstlicher Popanz mit seinem lächerlichen Professorentitel, und mir blieb das Lachen im Hals stecken. (ST 84)
Nicht nur markiert die Ich-Erzählerin in dieser Passage die Wiederholungen ihres Mannes; die Passage stellt tatsächlich die zum Teil wortwörtliche und syntaktisch genaue Wiederholung eines wenige Seiten zuvor platzierten, dort ebenfalls mit Kursivierungen durchsetzten und asyndotisch strukturierten Abschnitts dar (vgl. ST 76). Wie an vergleichbaren Stellen205 ist dabei bezeichnend, dass selbst innerhalb des Wiederholten die als angedeutete Akkumulation zu verstehende Subjektwiederholung (›was für ein Heuchler, eine Wiener Schießbudenfigur, wie sie im Buch steht‹) als strukturbestimmendes Verfahren Verwendung findet – es also zu einer dreifach ineinander verschachtelten Wiederholungsstruktur kommt: Neben Sprache als das auf Wiederholungsstrukturen angewiesene Medium schlechthin tritt die Wiederholung der Passage als solcher und innerhalb derer die als Synonymhäufung semantisch in Szene gesetzte Wiederholung des Satzsubjektes. Mit ihrer wiederum an Bernhard erinnernden »syntagmatisch-repetierende[n] Sprachproduktion« 206 steht die Passage damit exemplarisch für ein Verfahren der »bohrenden Kreisbewegungen«,207 das das Schimpfen auf den »verblödeten Kulturbetrieb« 208 in immer
eins sprachlichen Ausdrucks hochstilisiert«, dient als Wiederholung dazu, »Unaussprechliches auszusprechen«. Oliver Jahraus: Das »monomanische« Werk. Eine strukturale Werkanalyse des Oeuvres von Thomas Bernhard. (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland 16) Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 186. 205 Siehe dazu als markantes anderes Beispiel ST 80 u. 85. 206 O. Jahraus, S. 182. 207 So die Formulierung in der Besprechung von Lothar Müller: Zwischen Krieg und Plot. In: Süddeutsche Zeitung vom 26. Juli 2003. 208 Siehe die Formulierung von M. Reichart.
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neuen Varianten, Anläufen und Steigerungen, letztlich aber immer gleich thematisiert, ja man könnte sagen, dass sich das Erzählen des Selbstportraits gleichsam als ein Akt des Wiederholens realisiert.209 So sehr der Schriftsteller jedoch auch seine Beschimpfungen »herunterbetet[ ]« (ST 59), eines vermag seine »Litanei« (ST 59) gerade nicht: die Rahmenbedingungen literarischen Schreibens wie auch immer zu greifen oder zu bewältigen, ja mehr noch: Die wiederholten Übertreibungen rücken den so immer wieder umkreisten, als Boulevard und soziales Feld bestimmten, letztlich aber nicht fassbaren sozialstrukturellen Bedingungsrahmen von Literatur nicht nur in den Fokus literarischer Darstellung. Das Selbstportrait realisiert eine Form, die als »semantischsyntagmatische Klimax ins Extreme« 210 den immer wieder neu durchgespielten »Abgesang« (ST 83) des Schriftstellers über den »Fauxpas« (ST 54) beim ›Wettlesen‹ unterläuft und ihn auf der histoire-Ebene mit einer ganz anderen lebensweltlichen Tragödie konfrontiert. Genau genommen hat es der Leser nämlich gar nicht mit einem Schriftsteller-Monolg über die ›verdorbenen‹ Vermittlungsbedingungen von Literatur zu tun: Das Selbstportrait präsentiert tatsächlich ein von der ehemaligen Lebensgefährtin des Protagonisten verfasstes Protokoll schriftstellerischen »Gerede[s]« (103). In dieser Hinsicht führt die immer und immer wieder erfolgende Thematisierung der verdorbenen Vermittlungsbedingungen von Literatur vor allem dazu, dass die Ich-Erzählerin, die als Ärtztin einen tragischen Todesfall zu verarbeiten hat und ihrem Mann davon berichten möchte, nicht zu Wort kommt, ja mehr noch: das Schimpfen auf die Betriebsbedingungen hat zur Folge, dass die Ich-Erzählerin das Gefühl hat, »an seiner Seite ersticken zu müssen« (ST 63), und sich »unter seinen Worten begraben« (ST 60) lässt. Dass dem so sein mag, das so in Szene gesetzte Drama gleichwohl fraglich ist, ergibt sich nicht nur aus dem Umstand, dass die Ich-Erzählerin durchaus daran beteiligt ist, nicht zu Wort zu kommen.211 Die Fragwürdigkeit ergibt sich vielmehr aus einer Irritation der Erzählinstanz, die der engen Verknüpfung des Selbstportraits mit den englischen Jahren geschuldet ist. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang zunächst die durchaus komplexe Editionsgeschichte des Selbstportraits. Sieht man von der Taschenbuchausgabe ab,212 ist der Text gut zehn Jahre nach der erstmaligen Veröffentlichung in drei unterschiedlichen Editionen erhältlich. Der Einzelpublikation
209 Vgl. mit Blick auf Bernhards Verfahren O. Jahraus, S. 90. 210 O. Jahraus, S. 181. 211 Angedeutet wird dieser durchaus aktive Part der Ich-Erzählerin dadurch, dass diese unter anderem bemerkt, den Schriftsteller »nicht unterbrechen« (ST 54) zu wollen. 212 Bei Suhrkamp ist eine Taschenbuch-Einzelausgabe erhältlich, die 2003 erscheint.
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von 2000 folgt 2003 eine Ausgabe als Kassetten-Edition und 2011 die Aufnahme in den Band In der Luft. Dort steht das Selbstportrait neben dem in der edition suhrkamp veröffentlichten Einer von 1988 und der 1993 erschienenen Novelle O2. Bezieht sich diese Zusammenstellung auch extrinsisch auf die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen des Bandes, das heißt ist Anforderungen des Buchmarkts und Gstreins Verlagswechsel von Suhrkamp nach Hanser geschuldet, interessieren im Zusammenhang der vorliegenden Studie indes die Folgen der geänderten »peritextuellen Formen« 213 für das Selbstportrait. Der Wechsel der Buchform durch die Aufnahme des Textes in den Band geht nämlich mit Veränderungen einher, die die Lektüre des Selbstportraits und dessen Funktion als »Nachspiel« 214 der englischen Jahre in nicht unproblematischer Weise betreffen. Der Vergleich mit der Kassetten-Edition, wie sie gut acht Jahre zuvor bei Suhrkamp erscheint, verdeutlicht diese Veränderungen. Die Kassette platziert das Selbstportrait neben Die englischen Jahre und den bereits genannten Essay Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema.215 Die Relevanz der englischen Jahre für die Form des Erzählens, wie sie nicht nur der Autor,216 sondern auch die literaturkritische Rezeption des Selbstportraits bemerkt 217, wird durch diesen ersten »Medientransfer« 218 von der Einzelpublikation als Klappbroschur zum Taschenbuch in Kassetten-Form expliziert. Der Transfer in die Taschenbuchform lässt sich mithin nicht lediglich als Popularisierungsstrategie, geschweige denn als Abwertung des Textes im Sinne einer heteronom-ökonomischen ›De-Nobilitierung‹ verstehen219 – ganz im Gegenteil: Zusammen mit dem Roman und der Rede bildet das Selbstportrait nun vielmehr eine explizierte auktoriale Werkeinheit. Dabei leistet nicht erst eine dem
213 Georg Stanitzek: Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive. In: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Bd. 1: Theorie und Forschung. Berlin u. New York 2010, S. 157–200, hier S. 189. 214 J. Ceuppens, S. 310. 215 Norbert Gstrein: Die englischen Jahre 1–3. Frankfurt a. M. 2003. 216 In der Rede Über Wahrheit und Falschheit einer Tautologie spricht von einem »eng[en]« Zusammenhang zwischen dem Selbstportrait und den englischen Jahren. N. Gstrein, Über Wahrheit und Falschheit einer Tautologie, S. 18. 217 Vgl. G. Nickel, Ein Selbstporträt; M. Reichart. 218 Natalie Binczek: Medium/Form – Robert Walser. In: Niels Werber (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Unter Mitarbeit von Maren Lickhardt. Berlin u. New York 2011, S. 271–283, hier S. 272. 219 Taschenbuch-Ausgaben stehen gewöhnlich im Zeichen von Popularisierungsmechanismen, die die Grenzen zwischen Literatur und Nicht-Literatur verschieben. Siehe speziell dazu Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag. Zur Kanonisierungspraxis des Deutschen Taschenbuch Verlags. (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 5) Berlin 2011, insbesondere S. 74–117.
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Band beigefügte Werbebroschüre des Suhrkamp-Verlags, die auf »die zusammengehörenden Bücher ›Die englischen Jahre‹ und ›Selbstportrait mit einer Toten‹« 220 hinweist, die »einheitsstiftende« 221 Wirkung der paratextuell realisierten Buchform. Allein die Form »Zwei Bände und ein Beiheft in Kassette« 222 stellt bereits gleichsam materiell die enge Verknüpfung zwischen den zuvor getrennt publizierten Texten her. Diese werden dazu erstens auf dem Kassetten-Umschlag als ›Die englischen Jahre 1–3‹ ausgewiesen, der Roman Die englischen Jahre (nun gleichzeitig Band 1) mithin als ›Haupttext‹ bestimmt. Hinzu kommt die von Hermann Michels besorgte Gestaltung des Kassetten-Schubers, die derjenigen des Einbands der englischen Jahre als Einzelpublikation von 1999 nachempfunden ist; und zudem ist der Roman Die englischen Jahre der einzige der drei Texte, die der Reihe suhrkamp taschenbuch zugeordneten sind, der tatsächlich als Klappbroschur im Wortsinne vorliegt. Zweitens erhält das Selbstportrait ein auf die anderen Bände abgestimmtes, am ›Haupttext‹ der englischen Jahre orientiertes Layout: Während die von Hermann Michels und Regina Göllner gestaltete Klappbroschur der Einzelpublikation von 2000 auf die Fotografie Kanalspringer von Hendrik Rauch zurückgreift, ist das KartonCover des Selbstportraits in der Kassette unter Verwendung von Eadweard Muybridges Animal Locomotion an das Einband-Layout der englischen Jahre angepasst.223 Schließlich weist ein Zitat des Literaturwissenschaftlers Christof Laumont auf dem Buchrücken der Kassetten-Ausgabe des Selbstportraits auf die Werkeinheit ein: Die englischen Jahre werden durch ein kongeniales Seitenstück ergänzt, indem Norbert Gstrein seinem meisterhaft vielschichtigen Roman eine nicht minder gelungene poetologische Nachschrift hinterherschickt.224
Die Herstellung des Zusammenhangs zwischen den englischen Jahren und dem Selbstportrait gemäß des Programms der Kassetten-Edition verbindet Laumont zum einen mit dem Hinweis auf den besonderen Stellenwert ds Selbstportraits (›kongenial‹); zum anderen ordnet er den Text in spezifischer Weise gattungstypologisch ein. Die Markierung als ›poetologische Nachschrift‹ ist dabei durchaus erstaunlich, handelt es sich doch beim Selbstportrait um einen Text,
220 Werbebroschüre »Norbert Gstrein«. 221 Vgl. G. Stanitzek, Texte, Paratexte, in Medien, S. 10. 222 So die Formulierung in Werbebroschüre »Norbert Gstrein«. 223 Die Taschenbuchausgabe des Selbstportraits als Einzelpublikation verwendet hingegen das (verkleinerte) Umschlagfoto der ›ursprünglichen‹ Edition in Klappbroschur. 224 Norbert Gstrein: Die englischen Jahre 1–3. Selbstportrait mit einer Toten. Frankfurt a. M. 2003, Buchrücken.
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der eine fiktionale Realität entwirft und sich insofern keineswegs als sekundärer Kommentar ausflaggt. Mit diesen paratextuellen Buchformelementen »behauptet und ermöglicht« 225 die Kassetten-Edition einen Zusammenhang zwischen den drei Texten – und stellt das Selbstportrait damit in eine gänzlich andere Ordnung, als dies der Band In der Luft vornimmt. Denn dort erhält der Text eine durchaus invisibilisierte Form: Mit dem Transfer in die Hanser-Edition kommt dem zuvor hergestellten Bezug des Selbstportraits zu den englischen Jahren eine deutlich abgeschwächte Relevanz zu. Nicht nur nimmt die Ausgabe über die Einordnung des Selbstportraits in Drei lange Erzählungen – so der Untertitel des Bandes – eine eindeutige Gattungszuordnung vor226 und generiert das Gemeinsame der drei Texte über den im Klappentext zu findenden Hinweis, Gstrein erzähle »von drei Außenseitern«.227 Beeinträchtigt wird darüber hinaus die in der Kassetten-Edition explizierte, auf Selbstreferentialität angelegte Form der im Selbstportrait als »prequel« 228 geschalteten Auseinandersetzung mit dem Bezugstext Die englischen Jahre. Die Form des »Zusammenhang[s]« (WG 50) zwischen dem Selbstportrait und den englischen Jahren basiert nämlich nicht nur auf solchen Elementen, die den Paratext betreffen. Hinzu kommen innertextuelle Verknüpfungen. Das Selbstportrait aktualisiert eine Figurenkonstellation, die es »treuen Leser[n] von Norbert Gstrein« 229 erlaubt, den Text als »Epilog« 230 zu dem »Buch der Mystifikationen« 231 zu lesen. Dieses erzählt von den Recherchen einer namenlosen Ich-Erzählerin und Ärztin zu den biographischen Hintergründen der jüdischen »Schriftsteller-Ikone« 232 Gabriel Hirschfelder, der in der Öffentlichkeit
225 N. Binczek, Medium/Form, S. 278. 226 Gstrein selbst nimmt an anderer Stelle allerdings auch eben diese Zuordnung vor. Siehe N. Gstrein, Über Wahrheit und Falschheit einer Tautologie, S. 18. 227 Vgl. Norbert Gstrein: In der Luft. Drei lange Erzählungen. München 2011, Klappentext. Die Veränderungen betreffen auch den Text O2 . Dieser verliert im Hanser-Band nicht nur seinen Status als Novelle, sondern erhält darüber hinaus auch einen anderen Titel (In der Luft). Vgl. zur Novelle Michael Braun: Luftschiffer, Aeronauten, Höhenflieger. Norbert Gstreins postutopische Novelle O2 . In: Kurt Bartsch u. Gerhard Fuchs (Hg.): Norbert Gstrein. Graz 2006, S. 76–92. 228 J. Ceuppens, S. 310. 229 M. Reichart. 230 J. Ceuppens, S. 306. 231 Claus-Ulrich Bielefeld: Hirschfelders Geheimnis. Norbert Gstreins Roman »Die englischen Jahre«. In: Süddeutsche Zeitung vom 7. August 1999. 232 Norbert Gstrein: Die englischen Jahre 1–3. Die englischen Jahre. Frankfurt a. M. 2003. Hier und im Folgenden zitiert nach dieser Ausgabe mit Seitenzahlen unter Angabe der Sigle EJ in runden Klammern im Text, hier S. 9.
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vor allem als »Mythos« (EJ 9) gilt. Das über »Gespräche[ ], Tagebuchaufzeichnungen und Mythen« 233 perspektivierte Erzählen über den im gesamten Roman nur als »abwesende Figur« 234 präsenten »Monolith[en]« (EJ 9) führt dabei dazu, die »verschwommene Identität« 235 des angeblichen Exil-Opfers am Ende als »hochstilisierte[s] Heiligenbild der Erinnerung« 236 entlarven zu können. Eingelassen ist das Erzählen von den Recherchen zu Hirschfelder in einen Rahmen, der zu Beginn und am Ende des Romans die Beziehung der Ich-Erzählerin zu ihrem ehemaligen Lebensgefährten und Schriftsteller Max thematisiert. Nicht nur hat dieser die Ich-Erzählerin nach eigenen Angaben »überhaupt erst auf Hirschfelder aufmerksam gemacht« (EJ 9). Hirschfelders Geschichte ist für sie auch erst dann »ausgestanden« (EJ 383), wenn sie dem Schriftsteller am Ende von ihren Recherche-Ergebnissen berichtet. Die durch diese Figurenkonstellation initiierte, »thematisch eng[e]« 237 Kopplung zwischen dem Selbstportrait und den englischen Jahren bauen letztere insofern aus, als die Ich-Erzählerin gleichsam eine Paraphrasierung des Selbstportraits vornimmt und sich auf Max’ »Monologisieren« (EJ 10) explizit bezieht. Wenn ich mich richtig erinnere, war Max gerade aus Wien zurückgekehrt, wo er seine verunglückte Huldigung auf ihn vorgetragen hatte, seine Hommage à Hirschfelder, für die er sich nur Ablehnung eingehandelt hat. Der Anlaß tut nichts zur Sache, aber vielleicht lag es am Titel, den ich ihm vergeblich auzureden versucht habe, weil mir das Parfümierte daran von Anfang an mißfallen hat, und ich weiß noch, wie sehr ihn die Vorwürfe trafen, er hätte sich nur an eine Mode angehängt, es gäbe keinen anderen Grund für ihn, sich mit einem Vertriebenen zu beschäftigen, um so weniger, als es ein Jude war, er wisse nichts vom Exil und hätte bei seinen Dorfgeschichten bleiben sollen, statt sich auf ein Abenteuer zu versteifen, das für ihn nur schiefgehen kann. (EJ 10)
Die Ich-Erzählerin nimmt in diesem Abschnitt wesentliche Schlagworte und Ankerpunkte des Selbstportraits auf und präsentiert, durchaus unter Hinweis darauf, sich nicht mehr an alle Details erinnern zu können, gleichsam eine Inhaltsangabe des ›Epilogs‹, der eben damit überhaupt erst diese Funktion erhält. Mit Blick auf die histoire der beiden Texte platziert sie das Geschehen des Selbstportraits, das auch hier wiederum als »Tiraden« (EJ 387) und »monotoner Singsang« (EJ 387) bezeichnet wird, zeitlich vor die erzählte Zeit der englischen Jahre.
233 234 235 236 237
V. Leiner, S. 115. R. Leucht, S. 94. V. Leiner, S. 115. J. Drynda, S. 238. J. Drynda, S. 241.
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Bemerkenswert ist dabei, dass im innerfiktionalen Rahmen der englischen Jahre dem thematisierten »Identitätstausch« 238 Hirschfelders Irritationen auf der discours-Ebene korrespondieren, die durch den um Max zentrierten Rahmen bedingt sind. Lehnt die Ich-Erzählerin es ab, einen Roman über ihre Recherchen zu schreiben, will sich schließlich Max des Stoffes annehmen und diesen literarisch verarbeiten (vgl. EJ 386–388). Der in diesem Zusammenhang naheliegende Schluss, im Rückblick erzähle nicht die Ich-Erzählerin die Geschichte, die dem Leser vorliegt, »sondern ihr ehemaliger Lebensgefährte«,239 ist allerdings zu kurz gegriffen. Im Zusammenspiel mit dem Selbstportrait wird nicht nur die Ärztin als Ich-Erzählerin »am Ende des Romans […] in Frage gestellt«,240 so dass es gleichsam zum »Identitätstausch auch auf der Ebene der Metafiktion« 241 kommt. Der Sachverhalt ist »noch komplizierter«.242 Max’ Ankündigung, »Ich würde aus deiner Sicht schreiben« (EJ 388), hebt die histoire nicht nur in einer innerfiktionalen Selbstreferenzschleife auf (denn tatsächlich sind Die englischen Jahre ja zunächst aus der Perspektive seiner ehemaligen Lebensgefährtin erzählt). Seine Bemerkung bezieht darüber hinaus auch und gerade den Autor Gstrein und dessen Selbstportrait mit in das Schreibverfahren ein. So ergeben sich zunächst wiederum »Anspielung[en]« (EJ 386) auf den realen Autor Gstrein. Max erwägt, sich einen anderen Autornamen zulegen, um es »der Wiener Bande nicht so leicht« (EJ 388) zu machen. Er befürchtet nämlich, dass bei einer weiblichen Erzählperspektive »›[...] irgendein Idiot wieder besonders schlau sein will und behauptet, eine Frau hätte einen ganz anderen Blick auf die Dinge, und ich müßte mich am Ende selbst zum Erzähler machen.‹« (EJ 388). Die hier im Modus einer souverän-kontrollierenden Geste antizipierte Kritik an der Erzählperspektive der englischen Jahre bindet den Text einerseits an paratextuelle Aussagen des Autors Gstrein zurück, setzt ihn aber gleichzeitig in ein intertextuelles Verhältnis zum Selbstportrait, wäre es doch »interessant [...], einmal zu erzählen, was die Frau eines Schriftstellers alles mitmacht« (EJ 10). Interessant ist in diesem Zusammenhang der Buchrücken der Einzelausgabe des Selbstportraits von 2000. Dort ist nämlich lediglich der Satz »Ich wünsche Ihnen viel Glück mit Ihrem neuen Roman« (ST Buchrücken) abgedruckt –
238 J. Drynda, S. 237. 239 M. Gunreben, S. 9. 240 V. Leiner, S. 115. 241 So die Formulierung in der Besprechung von Hubert Winkels: Original und Fälschung. In: Die Zeit vom 14. Oktober 1999. 242 G. Nickel, Ein Selbstporträt.
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ein Selbstzitat des Textes, handelt es sich doch um eben jene Formulierung, mit der die Autorin Wernicke dem Schriftsteller des Selbstportraits beim ›Wettlesen‹ des Konsuls begegnet. So heißt es, sie habe ihm nach der Abstimmung, bei der er leer ausgegangen war, […] mit einem maliziösen Lächeln, gönnerhaft und von oben herab ihr Beileid bekundet, ich wünsche Ihnen viel Glück mir Ihrem neuen Roman, ob Sie mir das glauben oder nicht, ich wünsche Ihnen viel Glück mit Ihrem neuen Roman. (ST 10)
Gleichzeitig findet sich der Satz indes auch in den englischen Jahren. Dort ist er zum einen Teil der paraphrasierenden Passagen der Ich-Erzählerin, die sich an den »gehässige[n] Wunsch« (EJ 387) erinnert, den der Schriftsteller in seinem Monolog »immer wiederholt hatte« (EJ 387). Zum anderen spielt der Satz aber auch und gerade bei den Irritationen auf der discours-Ebene eine Rolle, ja die Formulierung ist entscheidend daran beteiligt, die spezifische Kopplung zwischen dem Selbstportrait und den englischen Jahren herzustellen, wenn Max seine Idee für den Romananfang präsentiert: »Ich weiß auch schon, wie ich beginnen würde.« Ich sah die Anspannung in seinem Gesicht. »Ich wünsche Ihnen viel Glück mit ihrem neuen Roman.« (EJ 387)
Gibt die Ich-Erzählerin auch die »Geschichte« (EJ 388) in die »Hände« (EJ 388) von Max, bringt die Ankündigung des »unzuverlässige[n] Zeitgenosse[ns]« (EJ 389) die unvermittelte Vermutung, Die englischen Jahre seien selbst das Resultat der »›übergeordneten‹ Erzählerfigur Max«,243 ganz erheblich ins Wanken, ja mehr noch: Es ist das als ›Epilog‹ in Anschlag gebrachte, zeitlich den englischen Jahren vorhergehende, gleichwohl später als diese erschienene Selbstportrait, das mit eben jenem ›gehässigen Wunsch‹ einsetzt (vgl. ST 9) und damit die selbstreferentielle, über Metaisierung vollzogene Schließung der englischen Jahre zugleich wieder aufbricht. Findet die Form der englischen Jahre in der Unklarheit, »ob letzten Endes nicht auch die Figur der Ich-Erzählerin lediglich eine Fiktionalisierung der ebenfalls fiktionalen Gestalt des Schriftstellers Max darstellt«,244 ihren Ausdruck, ist ihr zentrales Verfahren keines der Metaisierung, sondern der spezifisch-paratextuellen Kopplung mit dem Selbstportrait – und das Medium dieser so in Form gebrachten Kopplung ist der Satz »Ich wünsche Ihnen viel Glück mit ihrem neuen Roman.« (EJ 387; ST Buchrü-
243 V. Leiner, S. 115. 244 A. A. Wallas, S. 218.
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cken; ST 9; die Hervorhebungen sind weggelassen). Damit werden die beiden Texte und die beiden Perspektiven gegeneinander geblendet: Die Ich-Erzählerin taucht in der Fiktion des Schriftstellers auf; der Schriftsteller ist eine Fiktion der Ich-Erzählerin. So wie sich der Monolog des Protagonisten im Selbstportrait durch die immer wieder neu ein- und ansetzenden Beschimpfungen in »ein einziges Durcheinander« (ST 85) transformiert, das der Schriftsteller immer wieder »von neuem wiederzukäuen begann« (ST 85), so eröffnet sich im Zusammenspiel zwischen den englischen Jahren und ihrem ›Epilog‹ eine Selbstreferenzschleife, von der gegen Ende – analog dem Nahrungsbrei des verdauenden Wiederkäuens – nichts weiter als das »übliche[ ] Blabla« (ST 110), ein »brabbeln« (ST 87) übrig zu bleiben scheint. Was sich der literarisch initiierten Verdauung widersetzt, sind allein die im Selbstportrait kursiv gesetzten Beschimpfungs- und Zitatbrocken des Schriftstellers – und in deren Zentrum der Satz ›Ich wünsche Ihnen viel Glück mit Ihrem neuen Roman‹. So wie diese die Narration der IchErzählerin im Selbstportrait durchziehen, ja durch die Kursiv-Setzung bereits optisch den Text, den Schriftsteller-Monolog wie den Erzählbericht der Ärztin, gleichsam zerpflücken, so erweisen sie sich sowohl in den immer und immer wieder durchgespielten Variationen auf das ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb als auch in den erzählperspektivischen Verschachtelungen in und zwischen den beiden Texten als narrativ erzeugte und in den diversen Metaisierungen gleichsam abgeschliffene ›harte Fakten‹ der Realität. Sind sie damit eben jenem »Bruchstück« (EJ 388) vergleichbar, das die Ich-Erzählerin benötigt, um ihr Erzählen abschließen zu können,245 findet die literaturbetriebliche ›Störung‹ der Literatur eben dort, in der literarisch erzeugten Realität ihren Ausdruck und erweist sich dabei vor allem als eines: nämlich als Rede, die in der und durch die Selbstbeschreibung sich selbst ›beschädigt‹, aber eben das nur mit literarischen Mitteln kann. Die ins Extreme gesteigerten Wiederholungen sind dabei in einen selbstreferentiellen Verdauungsvorgang eingelassen, denn so wie Max sich in seine eigenen Bücher einbaut (vgl. ST 73–75), so
245 Den mit dem ›Bruchstück‹ angesprochenen Skandal um den »Fall Wilkomirski« (FFK 11) spricht Gsrein in einem längeren Interview selbst an: »Wäre mein Roman nicht nachweisbar kurz zuvor abgeschlossen gewesen, könnte er auch als eine Reaktion auf die WilkomirskiDebatte gelesen werden. Denn bei dieser Debatte ging es um eine vergleichbare Identitätsvertauschung. Ich bin nervös geworden, weil ich den falschen Vorwurf gefürchtet habe, den Vorwurf, mich beim Schreiben an tagesaktuellen Themen zu orientieren und den Spuren einer kleiner Sensation zu folgen.« A. Helbig, S. 17. Zum Skandal um Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke siehe insbesondere David Oels: »A real-life Grimm’s fairy tale«. Korrekturen, Nachträge, Ergänzungen zum Fall Wilkomirski. In: Zeitschrift für Germanistik Neue Folge 24 (2004), Nr. 2, S. 373–390.
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schreibt sich sein Monolog über die Betriebsbedingungen in die Rede der IchErzählerin ein. Und in genau dieser Hinsicht verstrickt sich der Text in eben jene ›verdorbenen‹ Prozesse, gegen die er anschreibt. So wie sich Wem gehört eine Geschichte? einer Gattungszuweisung entzieht, ja sich weigert, Meta-Kommentar zu sein, so ist das Selbstportrait im Peritext keiner Gattung zugeordnet und setzt auf innerfiktionale Selbstbezeichungen. Die komplexe Differenzierung zwischen Figur und Erzähler bleibt mithin genauso konstitutiv für Gstreins Text wie die Paradoxie einer ›fiktiven Verteidigungsschrift‹. Mit einem fiktionalen Gestus erteilt er jener Sprache eine Absage, die auf Authentizität und Abbildbarkeit setzt. Doch die Verteidigungsschrift belässt es nicht bei einer selbstreflexiven Kritik an Betriebszusammenhängen. Der Text entwickelt vielmehr eine »self-fulfilling prophecy« (WG 52), die in ihrer verfahrenstechnischen Form ›Fakten und Fiktion‹ zu einer fiktiven und dann programmatischen Literaturbetriebs-Szene zusammensetzt. Das Lamentieren des Schriftstellers ist literarischer Text, literaturbetriebliche Abrechungsgeste und literarisches Programm in einem. Dieses Ergebnis gilt es für die Analyse der ganzen Wahrheit fruchtbar zu machen.
5.2 Skandal mit Ansage und Die ganze Wahrheit In ihrer Besprechung von Norbert Gstreins ganzer Wahrheit, die Mitte August 2010 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erscheint, kommt Julia Encke auch auf ein Interview zu sprechen, das sie mit dem Autor nach dessen Buchpräsentation im Literarischen Colloquium Berlin geführt habe. Während des Gesprächs mit Gstrein sei ihr aufgefallen, dass es der Autor mit Blick auf die feuilletonistischen Reaktionen, die seinen Berliner Bemerkungen gefolgt seien, zwar einerseits ausdrücklich bedauert habe, die ›Suhrkamp-Konstellation‹ selbst ins Spiel gebracht zu haben. Andererseits habe er jedoch auf spezifische Weise an seinem literarischen LCB-Auftritt angeknüpft. So sei Gstreins Rechtfertigung, er habe mit dem Hinweis auf Siegfried Unseld und Ulla Berkéwicz »einer möglichen Skandalisierung entgegenwirken wollen« 246, durch andere Äußerungen immer wieder geradezu konterkariert worden. Es war ein Interview, in dem Gstrein nicht nur bereitwillig Auskunft gab über die Frage, ob sein Roman nicht doch eine Suhrkamp-Abrechnung sei, und über die Verleger Witwe Ulla Berkéwicz. Er hörte während dieses Gesprächs gar nicht auf, unaufgefordert neue Suhrkamp-Gerüchte zu erzählen, von denen einige unter uns bleiben müssten. Dann fiel ihm offenbar ein, dass es im Roman um Suhrkamp ja gar nicht gehen soll. Als ich es
246 J. Encke, Denk nicht an Suhrkamp.
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transkribiert hatte, zog er das Interview deshalb wieder zurück. Sein Unbehagen sei groß.247
Enckes Besprechung gibt sich den Gestus einer anekdotischen Entlarvung der Autorstrategien, um diese nicht zuletzt für die ›kritische Bewertung‹ 248 des Romans einzusetzen. Dabei verfolgt sie eine zweistufige Argumentation. Erstens meint die Literaturkritikerin die Fragen nach der Inszenierungsstrategie Gstreins nun abschließend, gleichsam aus eigener Anschauung heraus beantworten zu können. Der Umstand, dass der Autor ihr gegenüber zunächst aus Verlagsinterna geplaudert und anschließend die Autorisierung des Interviews abgelehnt habe, dient Encke als Indiz dafür, dass ihm die Bemerkungen auf dem LCB-Podium keineswegs unterlaufen seien. Gstreins Kalkül habe vielmehr gerade darin bestanden, Klatsch um den Frankfurter beziehungsweise Berliner Verlag gezielt zu verbreiten, um diese im Nachhinein nicht minder strategisch versiert dementieren, ja als nicht-literarische ›Fehllektüren‹ zurückweisen zu können – und bei all dem wohlwissend, dass das unverbürgte Gerede um die ›Suhrkamp-Konstellation‹ trotzdem oder gerade deshalb literaturbetrieblich fortgesetzt werden würde. Ausgehend von diesem Befund schließt Encke (zweitens), dass auch der Roman selbst trotz seines dezidiert selbstreflexiven Erzählverfahrens, das Fiktionalisierung betonen wolle, aber vor allem juristisch absichern solle, sich als Ausdruck eines »Kontrollverlusts des Autors Norbert Gstrein« 249 erweise. Die ganze Wahrheit sei ganz offensichtlich an die Absicht gebunden, »Gerüchte auszuweiden«,250 worunter nicht zuletzt der Text in literarischen Hinsichten leide. So fällt am Ende alles auf den Autor selbst zurück, der sich gerne weiter an seiner Suhrkamp-Vergangenheit abarbeiten kann und am kleinen Literaturbetrieb. Vielleicht sammelt er schon Stoff für ein Buch über die Rezeption seines neuen Romans: »Wem gehört eine Geschichte – Teil 2«. Aber wen interessiert das? Das literarische Milieu mag manchmal »unerfreulich« sein. Richtig unerfreulich ist: »Die ganze Wahrheit«.251
Von Belang ist Enckes Besprechung nun nicht so sehr deshalb, weil sie Gstrein eine vermeintlich reflektierte Inszenierungsstrategie unterstellt und vorgibt, eben diese unter Verweis auf das zurückgezogene Interview ›durchschauen‹ zu können. Bedeutsam ist die Rezension vielmehr deshalb, weil sich an ihr die
247 J. Encke, Denk nicht an Suhrkamp. 248 Vgl. allgemein zu dieser Funktion von Literaturkritik Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Mit 8 Abbildungen. Göttingen 2004, S. 167–169. 249 J. Encke, Denk nicht an Suhrkamp. 250 J. Encke, Denk nicht an Suhrkamp. 251 J. Encke, Denk nicht an Suhrkamp.
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vielfach bemerkte »Tendenz zur Skandalisierung« 252 von Literaturbetrieb und -kritik durchaus auch selbst ablesen lässt. Enckes ›Enthüllung‹ schreibt sich just in jenen ›Kampf um Aufmerksamkeit‹ 253 ein, in dem sie Gstreins betrieblich ›verdorbenes‹ Abrechnungsunternehmen verortet, ja mehr noch: Encke gibt dem von ihr diagnostizierten Betriebsgerede, dessen sich Gstrein zur Vermarktung der ganzen Wahrheit bediene, durch ihre seitenfüllende Besprechung lediglich eine weitere, anschlussfähige Wendung. Nicht weniger als symptomatisch ist in diesem Zusammenhang, dass die Literaturkritikerin die Veröffentlichung ihres auf Mitte Juni datierten Interviews, das sie offensichtlich kurz nach Gstreins Auftritt im Literarischen Colloquium mit dem Autor geführt hat und in dem nicht zuletzt von Gstreins Umgang mit den Verwicklungen um die ›Suhrkamp-Konstellation‹ bereits ausführlich die Rede ist, freilich verschweigt.254 Dennoch oder gerade deshalb trifft Enckes bissig-sarkastische Bemerkung zum Abschluss ihrer Rezension, Gstrein bemühe sich vermutlich bereits wiederum, Stoff für ›ein Buch über die Rezeption seines neuen Romans‹ zu sammeln, den Kern der ganzen Wahrheit. In den Blick gerät durch diese Analogie zwischen Gstreins Handeln im Umfeld seines neuen Romans und dem Verhältnis des Handwerks des Tötens zu Wem gehört eine Geschichte? beziehungsweise der englischen Jahre zum Selbstportrait nämlich die für Gstreins Literaturbetriebs-Szene wichtige Kopplung von ›eigentlichem‹ Text und auktorial-paratextuellem Selbstkommentar. Dass für diese Kopplung das von Encke als durchaus reflektiert ausgewiesene, letztlich aber im Zeichen der Romanvermarktung stehende Autorenkalkül von einigem Interesse ist, mag aus literaturkritischer Perspektive auf der Hand liegen. Die vorliegende Studie interessiert sich jedoch für eine andere Frage, auf die bezeichnenderweise der Autor an anderer Stelle selbst aufmerksam macht. So wird Gstrein in der zweiten Folge der TW1-Bü-
252 Stefan Neuhaus: Strategien der Aufmerksamkeitserregung in der Literaturkritik. In: Stefan Neuhaus u. Oliver Ruf (Hg.): Perspektiven der Literaturvermittlung. (Angewandte Literaturwissenschaft 13) Innsbruck u. a. 2011, S. 149–162, hier S. 161. 253 Dies im Sinne von Georg Franck: Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit. Zu den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb. In: Markus Joch u. a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Gemeinsam mit Nina Birkner. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 118) Tübingen 2009, S. 11–21. 254 Siehe Julia Encke: Niemand hat Siegfried Unseld verteidigt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Juni 2010. Auf dieses Interview kann sich Encke nicht beziehen, da sie angibt, ›sechs Wochen‹ nach dem LCB-Auftritt das Interview mit Gstrein geführt zu haben. Andererseits ist die Formulierung »Ist doch ein Roman, eine Fiktion als Antwort auf Fiktionen!« beinahe ein wörtliches Zitat aus dem veröffentlichten Interview.
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chersendung erLesen Ende September 2010 von Moderator Heinz Sichrovsky gleich zu Beginn mit Peter Handkes Kommentar zur ganzen Wahrheit konfrontiert. Sichrovsky zufolge liest Handke den Roman als einen ›Schlüsselroman‹ und unterstellt Gstrein – analog zu Encke –, damit einen Weg als literarischer ›Karrierist‹ eingeschlagen zu haben, dem es nicht um Literatur, sondern um literaturbetriebliche Aufmerksamkeit gehe. Gstrein begegnet diesem Vorwurf wie folgt: Die Frage ist, worauf bezieht sich Peter Handke da. Er bezieht sich darauf, dass ich versucht habe, eine Form zu finden, über mein Buch zu sprechen. Und diese Form, das kann man mir vielleicht vorwerfen, ... ich bin nicht einmal sicher ... nicht immer gefunden habe. Die Unterstellung ist, ich hätte taktiert. Diese Unterstellung muss ich nicht einmal zurückweisen.255
Sichrovskys Frage und Gstreins Antwort beziehen sich nicht, wie für Autoreninterviews und -gespräche vielleicht eher zu erwarten, auf den ›eigentlichen‹ Text, also den Roman Die ganze Wahrheit. Gstreins Bemerkung stellt vielmehr Fragen des auktorialen Umgangs mit seinem literarischen Text ins Zentrum: die ›Form‹ seines epitextuellen Sprechens über den Roman im Literarischen Colloquium. Gstreins Antwort positioniert sich als gleichsam kommentierende Tertiärkommunikation, die nicht nur als »günstiger Vorwortersatz« 256 fungiert, sondern noch die ihr vorausgehende Berliner Meta-Kommunikation über den ›eigentlichen‹, primären Text zu reflektieren weiß. Seine Anmerkung, bei der Vermittlung der ganzen Wahrheit in Schwierigkeiten geraten zu sein, will er dabei jedoch keineswegs als Zugeständnis an seine Kritiker verstanden wissen. Im selben Zug weist Gstrein nämlich Handkes Vermutung, strategische Ziele verfolgt zu haben, keineswegs zurück: Nicht nur benennt er Handkes Annahmen als solche (›Unterstellung‹), er bestätigt diese zudem im Gestus der Souveränität, ja bezeichnet sie im weiteren Verlauf des Fernseh-Gesprächs als ›Teil‹ seines literarisch motivierten, auktorial kontrollierten, hochgradig selbstreflexiven ›Spiels‹. So wie Encke dem Autor mehr oder weniger ›verdorbene‹ Marketinginteressen unterstellt, so erklärt sich Gstrein selbst zum reflektierten Literaten. Wenn an dieser Stelle im Folgenden angeknüpft werden soll, dann nicht, um die Frage zu beantworten, welche Absichten Gstrein mit dem Erscheinen
255 erLesen (»mit Gert Voss, Gabriele Zuna-Kratky und Norbert Gstrein«) vom 29. September 2010, 19:15 Uhr (TW 1). Hier zitiert nach http://www.youtube.com/watch?v=zKaIF0m17uU (01. 02. 2012), Min. 2:24 bis 2:50. Das Transkript stammt von mir. 256 Das ist unter anderen Genettes Bezeichnung für Autoreninterviews und -gespräche. G. Genette, S. 343.
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der ganzen Wahrheit tatsächlich verbindet. Denn die Frage nach (skandalisierenden) Autorstrategien und deren tatsächlichen oder bloß vermuteten Folgen für die Literatur kann ›abschließend‹ nicht geklärt werden: Jeder Blick ›hinter die Betriebskulissen‹ verfängt sich in jenem Strukturzusammenhang, den es gilt, literaturwissenschaftlich zu beobachten. Thesen wie diejenigen von Julia Encke haben denn auch den Status von Selbstbeschreibungen des literarischen Systems: »Sie schließen an systeminternen Semantiken an und beschreiben Probleme und mögliche Lösungen aus der Perspektive der Akteure des Systems.« 257 Als vielversprechender erweist es sich, mit und gegen den Autor die ›Form‹ des Redens über den Roman in den Blick zu nehmen. Vorausgesetzt ist dabei die Vermutung, dass sowohl Gstreins Verbreitung von ›Klatsch‹ als auch seine selbstreflexiven Bemerkungen im Interview mit Encke, aber auch und gerade im Gespräch mit Sichrovsky weniger explizierend-kommentierend sind, als vielmehr die durch Die ganze Wahrheit angelegte Form weiterführen. Mit anderen Worten, beide Interviews lassen sich als »Ausdehnung« 258 von Gstreins Literaturbetriebs-Szene verstehen, die nicht erst im Literarischen Colloquium Berlin ihren Ausgang nimmt. Denn hat sich Die ganze Wahrheit vorgenommen, »den Literaturbetrieb selbst als soziale[n] und emotionale[n] Kosmos zu behandeln«,259 ist es bereits Gstreins Roman selbst, der die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens in seine Narration verlegt.
5.2.1 Persönliche Beziehungssysteme Folgt man dem Ich-Erzähler der ganzen Wahrheit, hat sich der verstorbene Verleger des kleinen, bereits in den sechziger Jahren gegründeten, jedoch »kaum über die Grenzen von Wien hinaus bekannt[en]« (GW 59) Verlags insbesondere durch seine umfangreiche Autorenpflege ausgezeichnet. In zahlreichen persönlichen Gesprächen mit seinen Autoren habe Heinrich Glück »virtuelle Welt[en]« (GW 126) entstehen lassen, ja sich als literarischer »Wohltäter« (GW 126) verdient gemacht, der über so manche »Ausformung[ ] des immer glei-
257 Siehe zu diesem grundlegenden Argument mit Bezug auf das Verhältnis von Massenmedien und Politik Klaus P. Japp u. Isabel Kusche: Die Kommunikation des politischen Systems: Zur Differenz von Herstellung und Darstellung im politischen System. In: Zeitschrift für Soziologie 33 (2004), Nr. 6, S. 511–531, hier insbesondere S. 514. 258 T. Hoffmann, S. 287. 259 So der Ankündigungstext der Buchvorstellung im Literarischen Colloquium. Siehe LCB – Literarisches Colloquium Berlin: Programmarchiv 06/2010. http://www.lcb.de/archiv/index. htm?jahr=10&monat=06 (10. 07. 2011).
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chen Größenwahns« (GW 129) der mitunter zu »Schriftsteller-Darsteller[n]« (GW 125) degradierten, ehemaligen literarischen Größen wohlwollend hinweggesehen habe. Deren »Plustern und Gegockel« (GW 125), »ihre[n] kindlichen Narzissmus« (GW 125) und ihr »Auftreten wie aus der Requisite« (GW 125) habe Glück immer wieder gnädig zu ertragen gewusst. Und gerade weil etwa von den »Vorkriegsgewächse[n]« (GW 124) August Wagner und Sebastian Knecht, den »tapfere[n] Streiter[n] für das Gute, Wahre, Schöne« (GW 124), keine literarischen Veröffentlichungen mehr zu erwarten gewesen seien, hätten gerade diese sich von Glück gerne immer wieder »den Bauch pinseln« (GW 126) lassen. Jenseits der mit diesen Konstellationen vom Text überspitzt-satirisch angedeuteten Transformationen im deutschen Literaturbetrieb der Jahrtausendwende, der die Position eines intellektuell-repräsentativen ›Super-Autors‹ – wie sie insbesondere Günter Grass, Heinrich Böll oder auch Christa Wolf zugeschrieben wird – nur noch in Leerstellenform bereithält,260 ist mit der Thematisierung der sozialstrukturellen Einbettung literarischer Akteure als Kommunikation zwischen Autor und Verleger eine Struktur angesprochen, die immer wieder als für den deutschsprachigen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre hinein geradezu prägend bestimmt wird. Habe Glück es als seine verlegerische Aufgabe gesehen, selbst noch die hoffnungungslosesten Fälle, die »Verstummten« (GW 124) unter seinen Autoren mit »vorzüglicher Höflichkeit« (GW 126) zu behandeln, so verweist dies nicht nur auf das Modell des ›schweigenden‹, aber dennoch – oder gerade deshalb – im Literaturbetrieb präsenten Autors;261 das Schriftsteller/Verleger-Verhältnis erweist sich zudem 260 Vgl. dazu Klaus-Michael Bogdal: Deutschland sucht den Super-Autor. Über die Chancen der Gegenwartsliteratur in der Mediengesellschaft. In: Clemens Kammler u. Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, S. 85–94; Klaus-Michael Bogdal: Klimawechsel. Eine kleine Meterologie der Gegenwartsliteratur. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Unter Mitarbeit von Hannes Krauss und Jochen Vogt. Opladen u. Wiesbaden 1998, S. 9–31. Vgl. speziell mit Blick auf Heinrich Bölls Konzeption von Autorschaft Christian Sieg: Schriftsteller als ›Gewissen der Nation‹. Religiöse und politische Aspekte eines Autorschaftskonzepts der Nachkriegszeit. In: Christel Meier u. Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen. Berlin 2011, S. 317–330. Siehe zu den Versuchen, die strukturelle ›Leerstelle‹ zu füllen, Heribert Tommek: Das deutsche literarische Feld der Gegenwart, eine Welt für sich? Skizzen einer strukturellen Entwicklung, in das Beispiel der (westdeutschen) ›Tristesse-Royale‹-Popliteraten mündend. In: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 397–430. 261 Der Prototyp dieses Modells im deutschsprachigen Literaturbetrieb nach 1945 ist Wolfgang Koeppen. Vgl. speziell zum Verhältnis zwischen Koeppen und Siegfried Unseld als Freundschaft Martin Huber: Das »Unternehmen« Koeppen. Zur Freundschaft von Siegfried Unseld und Wolfgang Koeppen. In: Natalie Binczek u. Georg Stanitzek (Hg.): Strong ties / Weak
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als eine persönliche Beziehung, »die als Vertrauensverhältnis zwischen einem mittelständischen Unternehmer und einem freischaffenden Künstler« 262 professionelle Vermarktung mit durchaus tief empfundener Freundschaft zu verbinden weiß und beides in den Dienst der »Pflege des Gesamtwerks« 263 stellt. In den divergierenden Interessensfeldern Glücks und seiner Autoren spielen sich »gegenseitige Wechselwirkung[en]« 264 ein, die die beteiligten Akteure mehr oder weniger locker oder fest aneinander binden. Mit Glücks Autorenpflege manifestiert sich somit ein ebenso latentes wie spezifisch strukturiertes »Beziehungssystem«,265 das die Literaturbetriebs-Szene des Textes in Strukturzusammenhängen verortet, für die das »Prinzip ›Knoten und Verbindung‹« 266 grundlegend ist: Die sekundären Formen literarischer Kommunikation der ganzen Wahrheit sind nicht nur, aber im Wesentlichen durch die »Kulturtechnik« 267 des Netzwerks geprägt. Entscheidend ist dabei weniger die Frage, ob die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur insgesamt als netzwerkförmig bezeichnet werden, ja der Text die Aussicht auf ein ›Netz der Netzwerke‹ entwirft, also auf mehr oder weniger umfassende soziale Strukturzusammenhänge, in denen selbst wiederum Netzwerke die Knotenpunkte bilden. Wesentlich ist vielmehr, dass die literarischen Akteure, wie sie Gstreins Roman entwirft, zur Durchsetzung ihrer je spezifischen Interessen instrumentelle Strategien verwenden, die auf betrieblichen »Verbindung[en]« (GW 176), auf Loyalität und Vertrauen, ja mitunter auf »Telefon-Freundschaft[en]« (GW 176) und der Gewohnheit, sich »alle zwei oder drei Monate auf ein Bier« (GW 176) zu treffen, beruhen.
ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. (Beihefte zum Euphorion 55) Heidelberg 2010, S. 197–209, hier S. 198. Siehe darüber hinaus zum Zusammenhang zwischen Koeppen und literarischer Öffentlichkeit Otto Lorenz: Die Öffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publikationsstrategien: Wolfgang Koeppen – Peter Handke – HorstEberhard Richter. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 66) Tübingen 1998, S. 107–160. 262 Wolfram Göbel: Warum ändern Verlage ihre Profile? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000), Nr. 2, S. 168–182, hier S. 172. 263 W. Göbel, S. 171. 264 Natalie Binczek: Ein Netzwerk der Freundschaft. Thomas Bernhards Der Untergeher und die Unablässigkeit des Vergleichens. In: Natalie Binczek u. Georg Stanitzek (Hg.): Strong ties / Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. (Beihefte zum Euphorion 55) Heidelberg 2010, S. 211–231, hier S. 224. 265 M. Huber, S. 198. 266 Hartmut Böhme: Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion. In: Jürgen Barkhoff u. a. (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln u. a. 2004, S. 17–36, hier S. 24. 267 H. Böhme, S. 26.
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Sichtbar wird ein solches literaturbetriebliches Beziehungssystem, in das Glück eingelassen ist, etwa in den Umständen der »Uraufführung« (GW 35) eines von Dagmars Stücken am Wiener Burgtheater. Das persönliche Netzwerk des Verlegers ist dabei insofern relevant, als Glück derjenige gewesen sei, der Dagmar die Aufführung buchstäblich erkämpft hatte, er mit seinen alten, fast bis in die Nachkriegszeit zurückreichenden Beziehungen und den neuen, die er extra für sie geknüpft hatte, er mit seiner Unermüdlichkeit, dem unentwegten Antichambrieren der vergangenen Wochen und Monate, der Türklinkenputzerei, um sich die wichtigen Leute gewogen zu machen, dem Einseifen der lokalen Journalisten für eine günstige Vorberichterstattung [...]. (GW 39)
Die in dieser Passage mit drei Substantivierungen (›Antichambrieren‹, ›Türklinkenputzerei‹, ›Einseifen‹) kollektivsymbolisch realisierte Arbeit am ›Knüpfen‹ von Beziehungen, also der Zusammenhang von Knoten und Verbindungen in der sozialen Netzwerkstruktur, ermöglicht es Glück, die Inszenierung an dem mit reichlich symbolischem Kapital augestatteten Wiener Theater durchzusetzen. Dass seine Absicht, den literaturbetrieblichen »Stoffwechsel[ ]« 268 in der österreichischen Hauptstadt gänzlich zu steuern, dennoch letztlich keinen Erfolg hat, wird erst nach der Aufführung deutlich. Glücks durch persönliche Beziehungen akkumulierte »Wirk-Mächte« 269 können nämlich die »Katastrophe« (GW 35), die der Inszenierung folgt, nicht verhindern, ja haben diese durch die im Vorfeld geschürten Erwartungen gleichsam erst provoziert: Dagmars Stück fällt beim Publikum durch und erhält mehr als »verheerende[ ] Besprechungen« (GW 160). Während die Autorin später dem Ich-Erzähler gegenüber ihren Ehemann dafür verantwortlich macht, sie vor der literarischen Öffentlichkeit »splitternackt ins Feuer geschickt« (GW 39) zu haben, treibt das »Fiasko im Burgtheater« (GW 203) Glück selbst die »Scham« (GW 203) ins Gesicht. Mögen Netzwerke als Kommunikationsstrukturen auch grundsätzlich keine Grenzen kennen, letztlich entscheidend ist, dass gleichwohl nicht alle mit allen verknüpft sind. Dass der Verleger sich im Zusammenhang der »Blamage im Burgtheater« (GW 202) für eine Autorin einsetzt, von der es nicht nur einmal heißt, er selbst habe hinter vorgehaltener Hand »ernsthaft Zweifel an ihrer Begabung als Schriftstellerin« (GW 33), mag mit Blick auf seine amouröse Beziehung zu Dag-
268 H. Böhme, S. 31. 269 H. Böhme, S. 34.
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mar verständlich sein. Gleichzeitig führt Glücks soziales »Strippenziehen« 270 im Bemühen um die Burgtheater-Inszenierung jedoch dazu, dass im engeren Sinne literarische Motive ins Hintertreffen geraten. Die ganze Wahrheit realisiert die Rahmenbedingungen literarischer Arbeit als »Beziehungen [...] der Übervorteilung und versteckten Machenschaften« 271 und steht damit nicht zuletzt in Werkkontinuität zur Literaturbetriebs-Szene, wie sie Gstreins Selbstportrait mit einer Toten entfaltet. So wie dort interessengeleitete Absprachen zwischen den Konsekrationsinstanzen dazu führen, dass die literarische Autopoiesis durch literaturbetriebliche Parasiten gleichsam ›verunreinigt‹ wird, so setzt sich der Verleger in der ganzen Wahrheit wider besseres Wissen für ein Theaterstück ein, das »auf viel Ablehnung« (GW 147) stößt und vom Ich-Erzähler unter anderem als »viel scheinbar unmotiviertes Hin und Her« (GW 161) bezeichnet wird. Dabei greift die histoire-Ebene auch auf den zweiten Gesichtspunkt der Thematisierung sekundärer literarischer Formen als »Mischung von Salon, Tafelrunde und Funktionärsbüro« 272 zurück, wie sie das Selbstportrait inszeniert. Den pejorativ konnotierten Beziehungssystemen, dem netzwerkartigen ›Klüngel‹ hinter den Betriebskulissen korrespondiert nämlich auf öffentlicher Seite nicht nur »das immer ein wenig zum Windigen neigende Wiener Feuilleton« (GW 10). Hinzu kommt ein boulevardeskes »Gerede« (GW 209), das sich, durch die »österreichischen Medien« (GW 120) multipliziert und verbreitet, in den »Klatschspalten« (GW 10) von Fernsehen und Zeitschriften ausdifferenziert. Sind hinter den Kulissen persönliche Beziehungen strukturbildend, geben in der »Regenbogenpresse« (GW 202) »immer dieselben ein oder zwei Dutzend Leute« (GW 120) den Ton an, wie Verlagsmitarbeiterin Bella dem Ich-Erzähler zu berichten weiß. In diesen »Boulevard« (GW 190), der von den »unvermeidlichsten Tausendsassas« (GW 121) bestimmt wird, begibt sich auch das Verleger-Paar. Keine Burgtheaterpremiere auf einmal ohne die beiden, kein Konzert im Musikverein, kein noch so kleines kulturelles Ereignis, und wenn sie an einem Tag bei einer Einladung des Kanzlers gesehen wurden, konnte es am nächsten nicht nur auf dem Fußballplatz oder an einem Würstelstand sein, es war auch sicher, dass die Klatschspalten darüber berichteten und dass sie das eine genauso ernst nahmen wie das andere und darin eine wahrhaft philosophische Haltung zeigten. (GW 120)
270 Erhard Schüttpelz: Die Löcher im Netz. In: Natalie Binczek u. Georg Stanitzek (Hg.): Strong ties / Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. (Beihefte zum Euphorion 55) Heidelberg 2010, S. 268–277, hier S. 270. 271 E. Schüttpelz, S. 274. 272 K. Zeyringer, S. 10.
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Indem sich Dagmar mit der Verleger-Heirat in Strukturzusammenhängen »›zwischen Bodensee und Neusiedler See‹, wie das österreichische ›from coast to coast‹ heißt« (GW 10), platziert, sich im Besonderen in der Wiener Szene verortet, die sich mit ihrer repräsentativ inszenierten Selbstbespiegelung als durchaus provinziell erweist,273 weitet sie ihre im engeren Sinne literaturbetrieblichen Beziehungen in den Bereich der »österreichischen Prominenz« (GW 120) gezielt aus. Im Zentrum der Literaturbetriebs-Szene stehen jedoch weniger die damit durchaus auch assoziierten »langen Abend[e]« (GW 151) nach »Lesung[en]« (GW 151) oder auf der »Buchmesse« (GW 303), bei denen gewöhnlich »viel Alkohol« (GW 151) im Spiel ist. Auch geht es weniger um die »manchmal ein wenig unappetitlichen Vorstellungen von Distinktionsgewinn« (GW 154) der »Leute[ ] aus der Branche« (GW 154), die den Literaturbetrieb als Kampffeld symbolischen Kapitals markieren. Bezeichnend für die sozialstrukturelle Einbettung Dagmars ist vielmehr, dass diese als Verleger-Gattin die »Klatschspalten« (GW 56) »zu bedienen« (GW 56) beginnt, ja gar eine »Haus- und Hofzeitung« (GW 274) mit Neuigkeiten versorgt. Sie, die auf den Ich-Erzähler einmal »wirkte [...] wie direkt aus der Fernsehwerbung« (GW 169), pflegt persönliche Beziehungen zu den »bunten Blättern« (GW 11) und ruft nicht zuletzt ein ums andere Mal »ihre Busenfreundin bei der Zeitung« (GW 121) an, um nachzufragen, »ob es nicht wieder einmal Zeit für eine kleine Geschichte wäre« (GW 121). Und so regt Dagmar etwa ein »Portrait von Heinrich Glück an [ ], das in Wirklichkeit dann mehr von ihr als von ihm handelte« (GW 107), und lädt Journalisten in die Verleger-Villa im Wiener Nobel-Stadtteil Hietzing ein,274 die im Homestory-Format der »Serie ›Wie unsere Prominenten wohnen‹« (GW 107) Einblicke in das Privatleben des prominenten Verleger-Paares ermöglichen. Doch bereits zu Beginn der Beziehung zwischen Dagmar und Glück wissen die auf boulevardesken Klatsch spezialisierten Massenmedien zu berichten, dass der in den vergangenen Jahren eher glücklos agierende Verlag mächtig Aufwind bekommen habe, seit die junge Ehefrau des Verlegers [...] die Geschäfte mehr und mehr selbst in die Hand nehme und sich immer öfter in der Schönlaterngasse sehen lasse. (GW 107)
273 Vgl. zur Literarisierung des problematischen Verhältnisses zwischen Wien und dem ›provinziellen Österreich‹ allgemein Anthony Bushell: Facts, Fiction, and Friction in a Difficult Relationship. Vienna and Provincial Austria. In: German Life and Letters 65 (2012), Nr. 2, S. 237–252. 274 Dabei handelt es sich nicht zuletzt um einen intertextuellen Verweis auf das Selbstportrait mit einer Toten. In einer ›Hietzinger Villa‹ findet nämlich auch das ›Wettlesen des Konsuls‹ statt. Vgl. ST 20.
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Sind Verlage an den verschiedenen Produktions- und Verarbeitungsschritten literarischen Schreibens entscheidend beteiligt,275 verdichten die diversen Abteilungen ihre Kommunikation zu Entscheidungen. Die »Organisation des Verlags« 276 hat einen ständigen Bedarf an Entscheidungen, ja jede einzelne Entscheidung dient als Prämisse weiterer Entscheidungen, so dass Entscheidungsketten entstehen, an deren ›Ende‹ der Verleger steht. Dieser (oder die Verlagsleitung) fungiert mithin als »Entscheidungsprämisse«,277 die »die Ziele vorgibt und die Zusammenarbeit der einzelnen Abteilungen regelt.« 278 In der ganzen Wahrheit tritt tatsächlich Dagmar schließlich nicht nur als »Schlossherrin« (GW 69), sondern als selbsternannte »Verlegerin« (GW 281) auf, bringt sich mithin gegenüber den übrigen Verlagsmitarbeitern in eine hierarchisch übergeordnete Entscheidungsposition. Die Änderung der Entscheidungsprämisse wirkt sich folgerichtig auf Programm und Verlagsprofil aus, so dass der Verlag mit Dagmar »von Anfang an ein anderer [gewesen ist; DCA], so viel ist sicher, keine Spielereien mehr, keine Experimente« (GW 67). Dient der durch Glück repräsentierte »Verlegertypus« 279 auch gewöhnlich als historische Kontrastfolie zum literarischen ›Produktmanager‹, der auf das »schnelle[ ] Vermarkten des Einzeltitels« 280 im Bestsellerbereich fokussiert ist, interessiert sich Die ganze Wahrheit jedoch gleichwohl nicht so sehr für die Ablösung des literarisch versierten ›Verlagspatriarchen‹ durch den ökonomisch orientierten ›Manager‹ und die damit personifizierten heteronom-ökonomischen Umstrukturierungen, »deren Bilanzverwalter die Verlagsleiter mit Renditeerwartungen konfrontieren«.281 Mit der Hervorhebung von Glücks »Berufsethos« (GW 192) 275 Zu den Verlagsabteilungen zählen im Einzelnen »das Lektorat, die Herstellung, die Werbung und der Vertrieb, die Rechteabteilung für die weitere Verwertung der Nutzungsrechte durch die Vergabe von Lizenzen, die Presse, Veranstalungs- bzw. Öffentlichkeits-/PR-Arbeit sowie schließlich eine Verwaltung bzw. kaufmännische Abteilung inklusive Buchhaltung, Controlling und Personalwesen«, Dirk Vaihinger: Verlag. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 364–369, hier S. 365– 366. 276 D. Vaihinger, S. 366. 277 Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung. Opladen 2000, S. 285. 278 D. Vaihinger, S. 366. 279 Gunther Nickel: Vom Lektorat zum Buchmanagement. In: Gunther Nickel (Hg.): Krise des Lektorats? Hg. im Auftrag der Deutschen Literaturkonferenz. Göttingen 2006, S. 117–128, hier S. 124. 280 W. Göbel, S. 173. 281 So die Formulierung der literaturkritischen Zustandsdiagnose von Rainer Moritz: Der neue Einheitsgeschmack? Die Globalisierung des Verlagswesens und ihre Folgen für die Gegenwartsliteratur. In: Buchhandelsgeschichte (2001), Nr. 4, S. 139–144, hier S. 139. Als Verkörperung dieses alten Verlegertypus werden neben Siegfried Unseld immer wieder Michael Krü-
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und dessen »im besten Sinn altmodisch[er]« (GW 192) Verlagsführung, die den Verleger als einen der »Größten seiner Zunft« (GW 10) auszeichne, geht es vielmehr um den Bruch auf der Ebene der persönlichen Beziehungen. Als Freundin und Ehefrau und dann als Witwe und Verlegerin weiß nämlich auch Dagmar, den einen oder anderen gelungenen, auf persönlichen Beziehungen beruhenden »Schachzug« (GW 107) zu setzen. Ihr Durchsetzungsmedium finden die Interessen der Verlegerin insbesondere in der Kopplung von instrumentellen Strategien und unverbürgtem Klatsch. Dagmar erweist sich als ›Taktiererin‹ und ›Intrigantin‹ (vgl. GW 176), die ihrem Umfeld ›übel mitspielt‹ (vgl. GW 192) und den Verlag nach Glücks Tod mitunter dadurch umstrukturiert, indem sie »Gerüchte« (GW 208) über ihr missliebige Mitarbeiter gezielt so platziert, um diese schließlich kurzerhand entlassen zu können. Präsentiert der Ich-Erzähler Dagmars »exklusive[ ] Kontrolle« 282 als nach Zentrum und Peripherie strukturierte persönliche Beziehungen, blendet Die ganze Wahrheit mithin die Autopoiesis der Verlagsorganisation weitgehend aus. Diese absorbiert nämlich typischerweise die Umstände des Zustandekommens von Entscheidungen zugunsten der Anschlussfähigkeit der Verlagskommunikation. Der Ich-Erzähler hingegen betont die Entscheidungsgrundlage der Verlegerin derart, ja moralisiert mit Hinweisen auf Dagmars »Unverfrorenheit« (GW 21) und »Skrupellosigkeit« (GW 21) geradezu die Entscheidungsfindung, so dass nur die um Dagmar konzentrierten netzwertkförmigen Strukturen als »Beziehungen der Hierarchie und der Isolation« 283 als relevant erscheinen. Der Ich-Erzähler setzt, mit anderen Worten, selbst auf Klatsch, insofern sich dieser zur Beobachtung der Verlagsentscheidungen eignet, ohne darauf angewiesen zu sein, als Kritik im Verlag selbst aufzutreten »und damit selber Entscheidung zu werden.« 284 Und genau in diesem spezifischen Sinne geht es der ganzen Wahrheit nicht um Verlagskommunikation. Das klatschbasierte Erzählen Wilfrieds basiert zwar auf der Unzufriedenheit mit Dagmars Verlagsentscheidungen, setzt aber keineswegs die Bereitschaft voraus, den Verlag »mit einer dann ihrerseits entscheidbaren Alternative zu konfrontieren.« 285
ger (Hanser) und Klaus Wagenbach als letzte Verbliebene genannt. »Es hat wohl selten einen Verleger gegeben, in dem sich der Sinn für Macht und das Verständnis für Literatur derart günstig gepaart haben, der gleichermaßen etwas von Buchhaltung und Marketing verstand wie von Poesie.« Ulrich Greiner: Der Mann, der die Bundesrepublik war. In: Die Zeit vom 31. Oktober 2002. 282 E. Schüttpelz, S. 274. 283 E. Schüttpelz, S. 274. 284 André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt a. M. 1999, S. 332. 285 A. Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden, S. 332–333.
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Auch wenn der Ich-Erzähler versucht, dies weitgehend zu invisibilisieren, steht nämlich im Zentrum der persönlichen Beziehungssysteme, wie sie Gstreins Roman als sekundäre literarische Formen thematisiert, nicht zuletzt die Beziehung zwischen Dagmar und ihm selbst. Wird der Leser durch die homodiegetische Form der Narration über den Status dieser Beziehung weitestgehend im Unklaren gelassen – so steht insbesondere im Raum, ob der Ich-Erzähler in Dagmar »verliebt« (GW 136) ist oder war (vgl. auch GW 42–43, 73) –, präsentiert der Text mit dem Ich-Erzähler eine Figur, die sich als Beobachter zweiter Ordnung der Beziehung zwischen Glück und seiner Frau, aber auch zu den anderen Mitarbeitern positioniert wissen will. So sehr der Ich-Erzähler vorgibt, durch einen Blick hinter die Verlagskulissen Dagmars Klatschverhalten zu entlarven, so sehr ist er es selbst, der die Abwesenheit Dagmars ausnutzt, »um ihr Verhalten einer moralischen Beurteilung zu unterziehen, die er in ihrer Anwesenheit nicht wählen oder nicht durchhalten würde.« 286 Der Text erweist sich als Ausdruck der mangelnden Konfliktfähigkeit des Ich-Erzählers, baut er doch auf die Abwesenheit Dagmars. So wie der Konflikt in der Interaktion mit Dagmar unterdrückt wird (oder besser: nur einmal aufbricht und zur Entlassung führt), so fungiert er in der Interaktion mit dem Leser der fiktionalen Realität nur als Thema, mithin nicht als Operationsweise. In dieser Hinsicht selbst ein Produkt literaturbetrieblicher Beziehungen, fokussiert Die ganze Wahrheit nicht mehr nur ein Erzählen von der Beziehung zwischen einem Verleger und seiner Frau, wie ursprünglich geplant und vom Erzähler wiederholt betont. Der Text hat seinen Gegenstand vielmehr zugunsten eines nicht weniger literaturbetrieblich verwickelten Beziehungssystems verschoben. Angelegt ist dieses Invollviertsein des Ich-Erzählers bereits in dessen Berufsrolle. Als Lektor erweist sich der Ich-Erzähler als ein literarischer Akteur, der in die Entscheidungsabläufe der Verlagsorganisation integriert und als ständiger Begleiter der Autorin und Verlegerin »an allen Arbeitsschritten der Buchproduktion beteiligt« 287 ist. Weist die Forschung immer wieder auf die »Janusköpfigkeit des Lektors« 288 hin, gerät der Lektor als eine Art »Übergangsoder Schwellenfigur« 289 in den Blick, die sich in diversen Spannungsverhält-
286 A. Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden, S. 314. 287 Walter Hömberg: Lektor im Buchverlag. Repräsentative Studie über einen unbekannten Kommunikationsberuf. Unter Mitarbeit von Susanne Pypke und Christian Klenk. Konstanz 2010, S. 96. 288 W. Hömberg, Lektor im Buchverlag, S. 111. 289 Georg Mein: Gäste, Parasiten und andere Schwellenfiguren. Überlegungen zum Verhältnis von Hospitalität und Liminalität. In: Peter Friedrich u. Rolf Parr (Hg.): Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation. Heidelberg 2009, S. 71–88, hier S. 76.
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nissen bewegt. So ist für den Lektor erstens charakteristisch, dass er eher selten in der literarischen Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen wird, liegt sein Arbeitsbereich doch in den Verlagsinterna. Gleichwohl oder gerade deshalb ist seine Arbeitsweise mit diversen Metaphoriken belegt, die ihn als »unbekanntes Wesen« 290 dem Literaturbetrieb präsentieren.291 Nicht zuletzt sozialwissenschaftlich informierte Studien sind es, die nach der Jahrtausendwende antreten, um mit empirisch-analytischen Bestandsaufnahmen »nun endlich Licht in das Dunkel« 292 des Verlagslektors zu bringen. Zweitens steht der Beruf des Lektors als Schwellenfigur im Spannungsfeld der Systemreferenzen von Ökonomie und Kunst, changiert seine Funktion doch zwischen der Position des ›literarischen Entdeckers und Literaturexperten‹, dem es um ›literarisches Engagement‹ gehe, und dem auf ökonomischen Erfolg und Marketing orientierten ›Produktmanager‹.293 Nicht zuletzt deshalb diskutieren Teile der Literaturkritik um 2000, aber auch die Forschung immer wieder die strukturelle ›Bedrohung‹ der Rolle des Lektors durch den gestiegenen Einfluss von Literaturagenten, denen mitunter nachgesagt wird, sie seien noch weniger am ›Eigentlichen‹, ja vielmehr an Profit orientiert. Drittens nimmt der Lektor eine »(Ver-)Mittlerfunktion zwischen Verlag und Autoren« 294 ein. Neben anderen Literaturbetriebsakteuren wie Verlegern, Agenten, Kritikern oder Buchhändlern wird ihm die Macht zugeschrieben, legitim entscheiden zu dürfen, welche Texte und Autoren in den Literaturbetrieb inkludiert werden. In dieser »Schleusenwärterfunktion« 295 dient der Lektor als
290 W. Hömberg, Lektor im Buchverlag, S. 13. 291 Zu diesen ›schemenhaften Charakterisierungen‹ zählen etwa: »›geistige Geburtshelfer‹ und ›Hebammentätigkeit‹, ›Graue Eminenzen‹, ›Literaturkulis‹, ›Literaturhausmeister‹, ›Einsiedler‹ mit ›Vorwürfen von allen Seiten‹«, Ute Schneider: Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag. Göttingen 2005, S. 24–25. Als Ursache für diese eher unscharfen Formulierungen werden in der Forschung neben der weitgehenden Anonymität der Lektoren und diffusen Vorstellungen über die Funktion des Berufs die fehlende Formalisierung der Ausbildung angegeben: »Lektor, das ist ein Beruf ohne Berufsbild, ohne Ausbildungsstandards, ohne Berufsorganisation, ja wohl auch ohne ein homogenes professionelles Selbstbild«, W. Hömberg, Lektor im Buchverlag, S. 15. 292 W. Hömberg, Lektor im Buchverlag, S. 205. Als ›harte Fakten‹ lassen sich folgende Daten festhalten: »Der Lektor in einem deutschen Buchverlag ist im Schnitt 42 Jahre als, kinderlos, lebt in einer festen Partnerschaft und ist weiblich. Rund 64 Prozent der Mitarbeiter im Lektorat sind Lektorinnen«, W. Hömberg, Lektor im Buchverlag, S. 71. 293 Vgl. U. Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 9. 294 W. Hömberg, Lektor im Buchverlag, S. 20. 295 Renate Grau: Ästhetisches Engineering. Zur Verbreitung von Belletristik im Literaturbetrieb. Bielefeld 2006, S. 139. »Hinter der Idee des gatekeeping and shaping of ideas steht die Vorstellung von Einfällen und Geschichten als nie versagender Fluss, dessen Strömung durch Schleusen – die Agenturen und Verlage – reguliert wird und durch Schleusenwärter – Agen-
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Qualitätsfilter. Als »erste[r] Leser« 296 sichtet er beim Verlag eingehende Texte und selektiert solche, von denen er annimmt, dass sie einerseits bestimmte Literarizitätskriterien erfüllen und andererseits auf dem Buchmarkt ein literarisches Publikum finden. In dieser Hinsicht dient der Lektor einerseits »dem Fortgang und der Entfaltung der Literatur« 297 und andererseits der individuellen Bearbeitung jedes angenommenen Manuskriptes. Und hier ist denn auch – noch immer – die Kernaufgabe lektoraler Tätigkeit zu sehen: den Autor bei der Erstellung seines literarischen Textes zu begleiten und ihm in der Zusammenarbeit ermutigend, motivierend, mitunter anweisend zur Seite zu stehen.298 Tatsächlich präsentiert auch Die ganze Wahrheit Lektor Wilfried dezidiert als ›Textarbeiter‹, hat er doch nicht nur gemeinsam mit Dagmar an deren erstem Buch geschrieben (vgl. GW 136–136), sondern kann sich andererseits mit Blick auf Dagmars literarische Texte mitunter »zugute halten, im Lektorat einiges [...] zurückgedämmt zu haben« (GW 140). Belegt der Ich-Erzähler als Lektor eine »zentrale Schaltstelle im Verlag«,299 so nimmt er auch und gerade darüber hinaus mit Blick auf den discours der ganzen Wahrheit die entscheidende Position ein. Der auf der histoire-Ebene angelegten Funktion entspricht nämlich zunächst eine auf den Text selbst bezogene, gleichsam metafiktionale Rolle –
ten, Lektoren und Verleger – kanalisiert wird. Letztere wachen über den Zulauf der Ideen, formen sie aber auch, indem sie diese in bestimmte Flussläufe leiten, Ideen und Geschichten also auf bestimmten Wegen zur Veröffentlichung bringen«, R. Grau, Ästhetisches Engineering, S. 35. 296 Walter Hömberg: Verlag, Buchhandel, Bibliothek. In: Helmut Brackert u. Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. 7. Auflage. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 392– 406, hier S. 394. 297 U. Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 346. 298 Vgl. W. Hömberg, Lektor im Buchverlag, S. 153. Diese Konzentration des Lektors auf seine Kernaufgabe entspricht auch den empirischen Untersuchungen. »Trotz aller Unkenrufe, der Verlagslektor werde immer mehr zum Produktmanager: Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die klassischen Lektoratstätigkeiten auf einer Rangliste der am häufigsten ausgeübten Tätigkeiten noch immer ganz vorn zu finden sind«, W. Hömberg, Lektor im Buchverlag, S. 99. Und auch Schneider kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: »Die steigende Arbeitsbelastung änderte auch im Zeitalter des Produktmanagers nichts am traditionellen Rollenverständnis der literarischen Lektoren. Ein Kriterium prägte das Selbstverständnis der Lektoren kontinuierlich und ist am Ende des 20. Jahrhunderts klassisch zu nennen: Dies war immer noch, trotz ›Projektmanagements‹, der Aspekt des Dienstes an der Literatur.« U. Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 340. Vgl. dazu auch die Interview-Auswertungen bei Peter Paul Schwarz u. Susanne Krones: Lesende Schreiber, schreibende Leser. Lektorat in den Literaturverlagen der Jahrtausendwende. In: Evi Zemanek u. Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008, S. 373–388. Siehe allgemein auch die Hinweise bei Ingrid Grimm: Lektorenleben. In: Kursbuch (1998), Nr. 133, S. 33–39. 299 W. Hömberg, Lektor im Buchverlag, S. 98.
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und dies in zwei Hinsichten: erstens mit Blick auf einen letztlich als nichtliterarisch abgewerteten Formenkatalog, von dem der Ich-Erzähler sich einerseits immer wieder distanziert, auf den er andererseits aber mangels Alternativen wiederholt zurückgreift; und zweitens mit Blick auf den mit der lektoralen Schwellenposition verbundenen Blick hinter die Verlagskulissen. So ermöglicht es die Figur des Lektors der ganzen Wahrheit zunächst, in ihrer Narration immer wieder den ihrer Selbstprogrammierung zugrundeliegenden Literaturbegriff explizit zu thematisieren, ohne dabei notwendigerweise zu umfangreichen Digressionen ansetzen zu müssen. Durch die Figurenanlage ist in die Narration von Anbeginn eine selbstreflexive Ebene immer schon gleichsam eingeschliffen. Dazu zählen Formulierungen, die vom Ich-Erzähler als inadäquat bewertet werden und die er »bei einem Autor in all meinen Jahren als Lektor gestrichen hätte« (GW 18), also Ausdrücke wie »der Blick war eisig« (GW 18), »Sammlung von Stilblüten« (GW 291) oder »alte Stereotype« (GW 32): »›knabenhaftes Gesäß‹ etwa, ›kleine Brüste‹ oder auch nur das Wort ›makellos‹, das immer noch rege Anwendung auf Frauenbeine findet« (GW 32). An anderer Stelle heißt es ähnlich: »das Foto auf dem Umschlag zeigte sie im Glanzlicht junger Mädchenblüte, wenn ich mir auch einmal ein Wortspiel von dem Kaliber erlauben darf, wie es in heutigen Romanen leider gang und gäbe ist« (GW 138). Stellt sich im Zusammenhang mit Dagmars erstem Buch die Frage, wer dieses letztlich geschrieben habe, setzt sich – zweitens – dieses Problem in der Beziehung zwischen Lektor und Autorin fort. Denn die Frage, wer in diesem Verhältnis der Souverän und wer der Abhängige ist, kann letztlich nicht eindeutig beantworten werden. Die Beziehung zwischen Dagmar und Wilfried ist ein nicht eindeutig definiertes Verhältnis, in dem »keine verbindlichen Regeln, keine Normen existieren« 300 – ein Umstand, den Die ganze Wahrheit für ihre narrative Anlage nutzt. Denn so wie im lektoral begleiteten Schreiben an einem Manuskript eindeutige Zuschreibungsmuster, die den Lektor auf eine bestimmte aktive oder passive Rolle im Schreiben festlegen wollten, kollabieren, so erweist sich die Beziehung zwischen Dagmar und Wilfried als ein »Schwellenraum«,301 in dem der Ich-Erzähler nicht nur selbst Teil des Erzählten wird. So wie er als Lektor im Prozess literarischen Schreibens im Wortsinne ›mit-
300 U. Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 348. Schneider schreibt dies mit Blick auf Gstreins Bild vom Lektor. Siehe Norbert Gstrein: Der Lektor. Bilder im Zwielicht. In: Andreas Breitenstein (Hg.): Der Kulturbetrieb. Dreißig Annäherungen. Frankfurt a. M. 1996, S. 35–41. 301 G. Mein, Gäste, Parasiten und andere Schwellenfiguren, S. 81.
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schreibt‹,302 so knüpft er an den von ihm thematisierten Beziehungssystemen immer auch selbst mit.
5.2.2 ›Obszöner Slapstick der Trauer‹ Im Zentrum der histoire, wie sie Die ganze Wahrheit entwirft, steht gleichwohl vor allem eines: ein literarischer Text, genauer: Dagmars »Buch über das Sterben und den Tod ihres Mannes« (GW 249). Bereits durch Dagmars Ankündigung, den Tod Heinrich Glücks literarisch verarbeiten zu wollen, alarmiert, lehnt Lektor Wilfried es schließlich ab, das Manuskript seiner Verlegerin zu lektorieren. Und tatsächlich ist es schließlich diese unkollegiale Ablehnung, die zum »Bruch« (GW 255) zwischen Dagmar und dem Ich-Erzähler führt. Auch und gerade nach der Lektüre von »Dagmars Buch[ ]« (GW 254) noch überzeugt, man müsse die Verleger-Witwe »vor ihrem eigenen Schreiben in Schutz nehmen« (GW 249), stellt der Ich-Erzähler fest, Dagmar inszeniere in ihrer »Todesfixiertheit« (GW 258) den Tod ihres Mannes nicht nur im Modus einer »befremdlichen Exotik« (GW 249), sondern geradezu als »Spektakel« (GW 249). So habe Dagmar letztlich »alles erfunden« (GW 251), ja sie sei »bei seinem Sterben gar nicht dabei [...] [gewesen; DCA]. Heinrich Glück ist allein gestorben, obwohl sie in den letzten Tagen kaum von seinem Bett gewichen ist« (GW 251). Ihr Buch setze sich denn auch aus nichts weiter als »Hirngespinste[n]« (GW 247) zusammen, Bausteinen jener »Phantasiewelt, die sie selber produzierte, um dann ihr Mosaik von seinem Sterben ganz nach ihrem Gutdünken zusammensetzen zu können« (GW 247). Was mit diesen histoire-Elementen durchblickt, ist ein auf Intertextualität angelegtes Verfahren, das Die ganze Wahrheit als einen programmatischen Kommentar auf Ulla Berkéwiczs 2008 erschienenen Text Überlebnis zu erkennen gibt. Letzterer schlägt den Bogen zurück zu dem 1982 erschienenen Band Josef stirbt, legt doch bereits das »komplexe[ ] Gefüge von Einzelformen« 303 der paratextuellen Gestaltung von Überlebnis diese Werkkontinuität nahe. So zitiert zum einen die von Werner Zegarzewski besorgte, prägnant-schlicht gehaltene Umschlaggestaltung mit weißer Schrift vor rotem Hintergrund den von Willy Fleckhaus gestalteten Umschlag von 1982. Zum anderen knüpft Überleb-
302 Hanns-Josef Ortheil: Lektorieren als Arbeit am Text. Bausteine zu einer Theorie der Lektorats-Arbeit. In: Martin Bruch u. Johannes Schneider (Hg.): In der Werkstatt der Lektoren: 10 Gespräche. Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. (Hildesheimer Universitätsschriften 18) Hildesheim 2007, S. 189–198, hier S. 197. 303 G. Stanitzek, Buch: Medium und Form, S. 189.
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nis am typographischen Format des fast 30 Jahre zuvor erschienen Debüts Berkéwiczs an. In beiden Fällen handelt es sich nämlich um kleinformatige Klappbroschur mit überschaubaren 140 beziehungsweise 115 Seiten, die nicht nur auf eine hervorstechende Großschrift zurückgreift, sondern zudem zwischen den einzelnen Absätzen verstreut Leerzeilen platziert, die den Text aus der Prosaform heben und in die Nähe lyrischer Formen stellen. Auch auf textueller Ebene verfolgen die Texte ein vergleichbares Programm, wie es der Klappentext von Josef stirbt pointiert zusammengefasst. Die junge Frau, die erzählt, unternimmt nicht den Versuch, sich von der Person der Autorin zu distanzieren. Es ist Ulla Berkéwicz’ erstes Buch und eine Geschichte, die schwer in Einklang zu bringen ist mit ihrem Alter; sie ist 29 Jahre alt. [...] Es geht um die Überschneidung von Ende und Beginn, Ferne und Nähe, Tod und Leben. Es geht aber auch um die Sprache, die dies alles annimmt, in der dies alles aufgehoben wird, ohne die dies alles nicht zu denken wäre: das Sterben und das Überleben: der Abschied von Josef.304
Stellen beide Texte das Sterben eines der jeweiligen Ich-Erzählerin nahestehenden, lediglich über Artikel und Pronomen bezeichneten Menschen ins Zentrum – in Josef stirbt ist es »der Alte«,305 in Überlebnis »der Mann« 306 –, benennt der Klappentext mit den Konvergenzen zwischen Ich-Erzählerin und Autorin sowie der sprachreflexiven Ebene des Textes die Basis des von Berkéwicz verfolgten Programms. Die Entwicklungslinie vom Debüt der frühen 1980er Jahre zu Überlebnis besteht dabei in der Ablösung der »Angst« 307 vor dem Sterben durch die Inszenierung eines spezifischen Erlebens, Erinnerns und Sprechens vom Sterben des ›Mannes‹. Trotz oder gerade wegen der provozierten Werkkontinuität bemerkt die feuilletonistische Rezeption spezifische Probleme bei der Lektüre von Überlebnis. Dass sich der Text einer konsistenten Rezeption und Bewertung widersetzt, ist dabei nicht zuletzt im literarischen Anspruch der Autorin begründet. Der in der Nähe zum Modus autobiographischen Schreibens situierte Text 308 ist zunächst anders als der mit ›Erzählung‹ markierte Josef stirbt peritextuell keiner Gattung zugeordnet. Während sich Teile der literaturkritischen Rezeption
304 Ulla Berkéwicz: Josef stirbt. Erzählung. Frankfurt a. M. 1982, Klappentext. 305 U. Berkéwicz, Josef stirbt, S. 8. 306 Ulla Berkéwicz: Überlebnis. Frankfurt a. M. 2008. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle Ü in runden Klammern im Text, hier S. 137. 307 U. Berkéwicz, Josef stirbt, S. 8. 308 Siehe allgemein dazu Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1994.
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auf Bezeichnungen wie »Bericht«,309 »Requiem« 310 oder »Prosagedicht« 311 verständigen, bezeichnet sich der Text selbst wiederholt wiederum als »Erzählung« (Ü 31, 34, 36, 44, 91, 107, 129). Angedeutet ist damit zum einen der Status des Sterbeprozesses des Mannes der Ich-Erzählerin; zum anderen deutet der Text auf diese Weise eine forciert literarische Gestaltung an, die über die Werkkontinuität zu Josef stirbt hinausgeht. Überlebnis ist dezidiert darum bemüht, auf seiner discours-Ebene einen »hohen Ton« 312 durchzuziehen, ja der Text setzt sich als Literatur im emphatischen Sinne in Szene, wie auch Iris Radisch in ihrer Besprechung bemerkt: »Hier spielt großes Theater, das ist Sterben in der Arena, in der die Helden des Altertums gestorben sind. Hier führt der Kosmos und nicht die Bettflasche Regie.« 313 Um die angestrebte, auf Zeitlosigkeit und literarisches Gewicht abzielende ästhetische Verdichtung in Szene setzen zu können, greift Überlebnis auf zwei komplementäre Verfahren zurück. Erstens ist der Text mit »Interludien« 314 durchzogen, die als mitunter aphoristisch anmutende Digressionen (»Die Wirklichkeit ist eine bescheidene Erfindung von uns im Vergleich zu dem, was möglich ist in unserer Vorstellung«, Ü 89), unter anderem auf »Kabbala« (Ü 29) basierte Reflexionen sowie Gedanken zum Heldentod in der antiken Tragödie thematisieren und all dies auf den Tod und das Sterben beziehen: »Wie das Theater ist die Krankheit eine Krise, die mit Tod, mit Wahnsinn oder Heilung endet. Der tragische Held hat nur das Schweigen als Bühnensprache, die ihm entspricht.« (Ü 61) Dieser zumeist auch peritextuell-typographisch vom restlichen Text durch Kursivierung und Absatzmarkierung abgesetzte »Verkündigungstext« 315 über die »Mysterien des »theatrum anatomicum«« (Ü 20) fungiert als Reflexion und Kommentar des mehr oder weniger auf Handlung konzentrierten ›Erzählteils‹ und steht insofern im Zeichen der Selbstkommentierung und damit -nobilitierung des Textes, der sich mittels Selbstreflexion selbst die Form gibt:
309 Jörg Magenau: Die Heilige der Intensivstation. In: Die Tageszeitung vom 24. Mai 2008. 310 Jens Malte Fischer: Singen für die Sterber. In: Süddeutsche Zeitung vom 5. Mai 2008. 311 J. M. Fischer. 312 Ingeborg Harms: Die Dunkle. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. April 2008. »Durch den hohen Ton, den Ulla Berkéwicz auf hundertneunundreißig Seiten durchhält, geistern die experimentellen Manierismen von Beckett, Gertrude Stein und Peter Weiss, von Heiner Müller, Celan, Kafka, Handke, Bachmann, Brecht und Jelinek. Mit sicherem Gefühl für Rhythmus und Wortfall tankt sie bei Hölderlins seherischen Wenn-Perioden, bei Georges elegischen Dativkonstruktionen und Rilkes allegorischer Süße auf«, I. Harms. 313 Iris Radisch: Das Buch vom Sterben. In: Die Zeit vom 17. April 2008. 314 So die Formulierung von J. M. Fischer. 315 Siehe die Formulierung bei I. Radisch, Das Buch vom Sterben.
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In der Renaissance habe man dann begonnen, eigene Teaterhäuser für die Totenspiele zu errichten. Erster Akt: Öffnung, zweiter: Entmenschlichung, dritter: Verdinglichung, vierter: Entwürdigung und fünfter Akt: die Schändung, Männlein und Weiblein gleich ein Klumpen Hackfleich. (Ü 20)
Lässt sich in dieser Passage die Kapitelstruktur des Textes wiedererkennen, greift Überlebnis zum anderen auf ein Verfahren zurück, das das thematisierte Sterben über ein Wortfeld des ›Fundamentalen‹ als Element eines tiefgründig Absoluten zu realisieren versucht. Den kabbalistisch-theatralen Reflexionen korrespondiert ein discours, der sich darum bemüht, für das eigentlich sprachlich nicht ›Fassbare‹ eine stimmige, ja authentische Sprache zu finden. Die Angst, die mich treibt, ist die, zu vergessen. Wenn ich durch Gedankenfluchten eindringe in Vergangenheitsräume, Herzkammern, in denen das Gewesene, das Verschmerzte wie das Unverschmerzte, überdauert, fortfährt, nie vergeht, wenn das Erinnern sich ereignet, das Innewerden, Innesein, weiß ich doch nicht, was in Vergessenheit wie in Verschollenheit geraten ist. (Ü 43)
Geht es Überlebnis um »den einzig wahren Augenblick, wo alles jetzt ist« (Ü 25), ist der Text auf der Suche nach der Möglichkeit, »das, was sprachlos macht, in die Sprache heimzuholen«.316 Sein Profil holt sich der Text zur Beschreibung der »Liebes- und d[er] Todestage« (Ü 33) nicht zuletzt in der Konfrontation zu alltäglichen und massenmedialen Beschreibungssprachen. So positioniert die Ich-Erzählerin ihr Erzählen explizit gegen jene »Gerüchte und Halbwahrheiten« (Ü 93), die Journalisten vom Sterben ihres Mannes verbreiten. Zeigen die Fernsehnachrichten »ein Photo von dem Mann« (Ü 113), sieht sich die Ich-Erzählerin von Paparazzi vor ihrem Haus belagert: Es ist heiß, Blitzlichtgewitter aus den Büschen, Ferngläser hinter den Nachbarfenstern, keine Bewegung in den Baumkronen, Nachtfalterchen schon am Tag, Pappelsamen, welke Wirklichkeit, alles steht auf der Kippe. (Ü 93)
Neben die Abgrenzung gegenüber dem massenmedialen Umgang mit dem Sterbeprozess tritt die Sprache der Beteiligten im Krankenhaus, könne doch auch jene aus Sicht der Ich-Erzählerin das Unbegreifliche des Sterbens und des Todes nicht angemessen beschreiben. So heißt es an der entsprechenden Textstelle:
316 So die Formulierung bei Felicitas von Lovenberg: Wird der Tod eines Tages abgeschafft, Frau Berkéwicz? [Interview] In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. April 2008. Im Text wird der Titel wie folgt eingeführt: »›Und stell dir vor‹, hatte der Vater mir gesagt, ›kein Mensch hat sich gerührt. Ein Überlebnis‹, hatte er gesagt, der Vater, meiner, ›stell dir vor!‹« (Ü 133).
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Ich saß am runden Tisch, die Tür stand offen. Hörte die andern sehen, hörte, sie sahen die beiden Füße, die jetzt oben lagen, laufen. Hörte Adjektive rollen, um den Mann zu treffen, hörte sie an seiner großen Gestalt vorbeischeppern. (Ü 113)
Überlebnis bedient demgegenüber ein literarisches Programm, das Literarizität als ein Potential versteht, gleichsam »erste Worte zu sprechen«,317 ja sich literarisch jenseits massenmedial oder alltäglich, jedenfalls diskursiv bereits bestellter Felder verorten zu können. Es ist dieser Anspruch, der die literarische Suche nach einer »kraftvolle[n] Sprache und unverbrauchte[n] Bilder[n]« 318 in Szene setzt und zu den Lektüreproblemen führt, die die literaturkritische Rezeption bemerkt. Zur Distinktion gegenüber üblichen Beschreibungssprachen des Umgangs mit dem Sterben greift das Programm des ›authentisch Absoluten‹ neben dem genannten »Bildungsgeraune« 319 und dem »Wust aus metaphysischem Kitsch und selbstgerechter Wut« 320 auf Neologismen (etwa »Todesnu«, Ü 25), als dezidiert sperrig platzierte Formulierungen (»den Liebeshimmelpunkt noch nicht, wo’s jetzt und jetzt ist, ein Jetzt zuviel, um Jetzt zu sein, und dennoch fast so wie beinah als ob«, Ü 25), esoterisch-mysthisch aufgeladene Metaphern (»Die Körper rauschten noch«, Ü 33) und Attribut-Kaskaden wie die Folgende zurück: »Es pulste, klopfte, drängte, der Teichrand bebte, der neben mir tat seinen großen Sprung, schwamm mir davon, zehn, zwanzig Stöße weit, bis in die Mitte unsres Teichs« (Ü 18). So wie hier die Darstellung des Verhaltens eines Frosches sichtlich bemüht um die richtigen mythisch-irrational aufgeladenen Worte ringt (›pulste, klopfte, drängte‹), so weiß Überlebnis insgesamt um das Fragile seines Sprachmaterials und rettet sich zum Beispiel in Komposita wie die folgenden: Wenn aber Realität ist, was vorstellbar ist, wird wirklich, was wir uns vorstellen, hat jeder seine Wirklichkeit gemäß der Vorstellung eines jeden, gibt es keine zwei gleichen Menschenwirklichkeiten, wie es keine zwei gleichen Menschenenergien, keine zwei gleichen Menschenformen gibt. (Ü 91)
Die in dieser Passage mittels der Neologismen ›Menschenwirklichkeiten‹, ›Menschenenergien‹ und ›Menschenformen‹ erzeugte »Atmosphäre der Be-
317 Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. 2. Auflage. München 2005, S. 168. 318 Ulrike Posche: Weibliche Übernahme. Wie Frauen in Deutschland sich die Macht nehmen. Frankfurt a. M. 2004, S. 107. 319 So die Formulierung von J. M. Fischer. 320 Dies ist die Formulierung von J. Magenau.
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schwörung, der kultischen Präsenz« 321 stellt sich zum einen geradezu in ihrer Schwierigkeit des Zugangs zum Moment des Sterbens aus, gibt gleichzeitig aber immer wieder zu erkennen, ›hinter‹ oder ›in‹ dieser literarisch erzeugten Schwierigkeit ein gleichsam authentisches (Wieder-)Erleben des Geschilderten zu ermöglichen. In diesem Sinne widersetze sich der Text, so Martin Krumbholz in seiner Besprechung für die Frankfurter Rundschau, den »Korrektheitsgebote[n]« 322 der diskursiv erzeugten Realität vom Sterben und ersetze die dort anzutreffenden »kritischen Klischees« 323 durch den Effekt seiner eigenen Literarizität: »die Intensität einer brennenden Erinnerung«.324 Nicht obwohl, sondern weil Überlebnis das Sterben des Mannes als »peinvoll, ekelerregend« 325 darstelle, spricht der Text sich selbst die von üblichen Beschreibungen verfehlte Authentizität des Sterbens zu, die »schreibend vergegenwärtigt, als ob es gerade geschehen sei«.326 Im Interview mit Felicitas von Lovenberg fasst Berkéwicz diesen Anspruch wie folgt zusammen: Es geht um die literarisch verrfasste Wahrheit, die zunächst mal einen fast protokollarischen Ansatz verlangt, und diese Art Prosa wird dann auf einer zweiten Stufe plötzlich wieder Gedicht, aber ein geläutertes, der Entwurf einer anderen Art Pathos, das nicht angedreht wird, kein fabriziertes, sondern eins, in dem die Situation selber davon spricht, was sie leidet.327
Dass Die ganze Wahrheit sich als programmatische »Gegenschrift« 328 zu Berkéwiczs Überlebnis positioniert wissen möchte, legen neben dem Hinweis auf das im Wortsinne zu verstehende »Theater, das Dagmar später um Heinrich Glücks Sterben inszenierte« (GW 118), zunächst Formulierungen nahe, die entweder Dagmars Buch über das Sterben ihres Mannes entnommen sind oder gleich in Dagmares Figurenrede platziert werden. Dazu zählt insbesondere die auf sperrigen Neologismen basierende Semantik des Wortfeldes ›Sterben‹. So weist Dagmar den Ich-Erzähler nicht nur darauf hin, dass »[d]ie Sterbe« (GW 240) begonnen habe. An gleicher Stelle heißt es zudem:
321 So die Formulierung von I. Harms. 322 Martin Krumbholz: Der Vorhang ist zerrissen. In: Frankfurter Rundschau vom 19. April 2008. 323 M. Krumbholz, Der Vorhang ist zerrissen. 324 M. Krumbholz, Der Vorhang ist zerrissen. 325 So die Formulierung von J. M. Fischer. 326 So zumindest J. M. Fischer. Authentizität hier im Sinne von Susanne Knaller: Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 246) Heidelberg: 2007. 327 F. v. Lovenberg [Interview]. 328 H. Winkels, Voodoo-Dagmar.
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»Der Enrique ist jetzt ein Sterber, Wilfredo«, sagte sie, und ich konnte mir ein Lachen kaum verkneifen, so sehr stand die theatralische Ernsthaftigkeit im Widerspruch zu ihren Worten. »Wilfredo, glaub mir, er ist ein Sterbling.« (GW 240)
Die Formulierung ›Sterbling‹ ironisiert über die Assoziation etwa zu ›Jüngling‹ den Anspruch von Berkéwiczs Überlebnis, eine Sprache zu finden, die es vermag, das Sterben über eine wie auch immer unverbrauchte, ja adäquate Semantik zu fassen. Die Ironie basiert dabei auf dem Umstand, dass das Suffix ›-ling‹ üblicherweise in Kontexten der Diminuierung Verwendung findet und damit Berkéwiczs Text und dessen Anspruch auf authentische Ernsthaftigkeit kommentierend entgegenläuft. Denn tatsächlich spricht die Ich-Erzählerin in Überlebnis wiederholt vom ›Sterber‹. Ich tanzte und ich sang, bis die Sterber starben, dann saß ich still, um ihre Stille nicht zu stören, gab meine Hand und wartete auf den Spalt, von dem die Großmutter mir erzählt hatte, daß er aufreißt, wenn einer stirbt, mitten hineinreißt, in das Gefüge hier. (Ü 13–14)
So wie hier ist Überlebnis in seinem Gebrauch von Neologismen, die auf Substantivierungen von Verben beziehungsweise Adjektiven aus dem semantischen Bereich des Sterbens basieren, wiederholt darum bemüht, das Sterben als Prozess eines Gehens durch »den Spalt« (Ü 14) in Szene zu setzen. Analog zu ›Sterbern‹ ist dabei vom »Tote[n] oder sein[em] Töter« (Ü 76) und von »Überlebern« (Ü 108) die Rede. Im Portmanteau-Begriff des ›Überlebnisses‹, das ›Erlebnis‹ und ›Überleben‹ als Kippfigur zusammenführt, findet dieser auf Neologismen zurückgreifende Sprachgebrauch seinen Kristallisationspunkt.329 Und so ist denn auch in Gstreins Roman von Dagmars »unbedingte[m] Wille[n] zum Pathos« (GW 82) genauso die Rede wie von ihrem »Psychojargon« (GW 102), der für den Ich-Erzähler »die schlimmste Form von Pornographie« (GW 102) ist und eine »traurigen Trivialisierung der Gefühle« (GW 102) zur Folge habe. Jenseits von Details wie den beschriebenen »Anleihen beim ersten Programm des Verlags« (GW 298) und die damit einhergehende »Assoziation ›Der Tod und das Mädchen‹« (GW 298), des Autorenportraits auf dem Buchumschlag (dort ist die Autorin »vielleicht Ende dreißig [...], große Augen, große Lippen, den Mund ein wenig geöffnet, dass die oberen Schneidezähne sichtbar wurden«, GW 297–298) sowie des Titels (»Das Jetzt des Jetzt«, GW 298) wird die intertextuelle Kopplung zwischen der ganzen Wahrheit und Berkéwiczs Text
329 Auch Die ganze Wahrheit greift diesen Mechanismus auf, wenn der Ich-Erzähler festhält: »Dabei dachte ich auch immer an das Kippbild in ihrem Stück mit dem Hin und Her zwischen ›emeth‹ und ›meth‹, das ich für mich als Alternative interpretiert hatte, Wahrheit oder Tod.« (GW 249).
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schließlich durch einen Satz verschweißt: Die Formulierung »Nie lebt man so sehr, wie wenn man stirbt« (Ü 91), wie sie im Zentrum von Überlebnis zu finden ist, provoziert nämlich Referenzen in drei Texten. Erstens findet sich in Dagmars Text eine nahezu identische Formulierung; zweitens greift innerfiktional Verlagsmitarbeiter Broser den Satz auf; und drittens steht der Aphorismus im Zentrum der Besprechung von Iris Radisch. Handelt es sich der Literaturkritikerin zufolge bei der Formulierung um den »ungeheuerlichste[n] Satz dieser Erzählung«,330 die im Zeichen des »Widerstand[s] gegen die Banalität und Endgültigkeit des Todes im amtierenden Materialismus« 331 stehe, erregt sich analog innerfiktional Broser über den Satz aus Dagmars Buch. In einem Gespräch, das der Ich-Erzähler »wenige Wochen nach Erscheinen von Dagmars Buch« (GW 294) mit ihm geführt hat, redet sich der ehemalige Kollege geradezu »in Schwung« (GW 295): »Allein für einen Satz wie ›Nie ist man so am Leben wie beim Sterben‹ gehört ihr das Ganze zweimal um die Ohren geschlagen«, sagte er. »Dass ihr für diesen Schwachsinn niemand das Maul stopft. [...] Es ist ein widerwärtiger, ein dummer, ein zynischer Satz«, sagte er. »Was glaubst du, wie er sich im Angesicht des Todes anhört?« (GW 295–296)
Brosers »Pose moralischer Überlegenheit« (GW 295), die die Konzentrationslager im Nationalsozialismus als vom Ich-Erzähler so bezeichnetes »Totschlagargument« (GW 296) anführt, hat sich an anderer Stelle noch auf eine Auseinandersetzung mit Dagmars literarischem Programm beschränkt. So hält Broser mit Blick auf Dagmars Theaterstück, das im Burgtheater aufgeführt wird, fest, diesem gehe es um die Realisierung einer »Welt vor dem Sündenfall« (GW 165), in der »sich die Buchstaben noch nicht zu Wörtern vereinigt haben« (GW 165). Wenn ich ihn richtig interpretiere, war es der Traum von einer Welt vor aller Bedeutung und vor aller Geschichte, einer Welt ohne Sünde und Tod. Erst die Wiederkehr des Messias würde Ordnung in den ungeordneten Haufen von Buchstaben bringen, und die Sprache, die dabei herauskam, wäre nicht unsere verlogene Sprache, sondern die Sprache des verlorenen Paradieses, die Sprache einer Zeit, in der die Menschen sich noch direkt mit den Vögeln des Himmels, den Tieren der Erde und den Fischen des Meeres unterhielten, die Sprache auch des Totenreiches. Die Rede war von einer Sprache voller Wahrheit und Poesie, sagte er, und was das bedeutete, konnte ich mir denken. (GW 165–166)
Folgt man Broser, wie ihn der Ich-Erzähler ›interpretiert‹, zielt Dagmars literarisches Programm auf eine Sprache vor jeglicher Diskursivität. Diese ›Sprache voller Wahrheit und Poesie‹ ist mithin – analog derjenigen von Überlebnis –
330 I. Radisch, Das Buch vom Sterben. 331 I. Radisch, Das Buch vom Sterben.
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dezidiert gegen die ›verlogene Sprache‹ des Alltags gerichtet und bezieht auf diese Weise ihre ›paradiesischen Zuständen‹ nachempfundene Literarizität, die in der ganzen Wahrheit bis in den Umgang Dagmars mit ihrem im Sterben liegenden Mann reicht: Der Gedanke an Dagmars Gerede machte mich bitter, und als Broser später erzählte, dass sie in ihrem Buch beklagte, Heinrich Glück habe beim Übertritt in die Anderswelt schon nicht mehr Kraft genug gehabt, die Formel zu sprechen, die sie mit ihm in den Tagen davor geübt hatte, das »ehjeh«, das »Ich bin« bedeutet und zugleich der Gottesname ist und einen auf dem schnellsten Weg ins Paradies bringt, konnte ich nur lachen. (GW 296)
Dass es mit all dem um den literarischen Versuch geht, die unhintergehbaren Bedingungen in und zwischen Signifikantenketten sprachbasierter Kommunikation auszuschalten, wie diese Passage mit Blick auf den Namen Gottes nahelegt,332 verdeutlicht darüber hinaus Dagmars »Glaube an das Echte, das Authentische« (GW 73). Dieser äußert sich nämlich dem Ich-Erzähler zufolge in einer »Vulgär- und vermeintliche[n] Authentizitätssprache« (GW 240), wie etwa folgende Bemerkung des Ich-Erzählers mit Blick auf Dagmars Buch vom Sterben Glücks in sprachkritisch-programmatischer Perspektive verdeutlicht: Man hat den Eindruck, als traue sie entweder ihren Empfindungen oder ihrer Sprache, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit wohl beidem nicht, und deshalb verwendet sie die vulgärsten Kraftausdrücke, die Authentizität suggerieren sollen, deshalb sagt sie, wortreich schwelgend in ihrem Unglück, alles dreimal. Also kann sie nicht einfach gehen, sie muss stolpern, straucheln, stürzen, wann immer sie sich in Bewegung setzt, kann nicht weinen, sondern muss heulen, schluchzen und sich das Gesicht zerkratzen, kann nicht einfach seine Hand nehmen, sondern muss ihn packen, fassen, krallen. Es ist das Äquivalent zu dem Geschrei und Gestampfe in ihrem Stück, und ich habe mir beim Lesen den Ausdruck »obszöner Slapstick der Trauer« notiert, von dem ich immer noch glaube, dass er es am besten trifft. (GW 250)
Den Bogen zwischen Dagmars Buch über den Tod und ihrem zuvor diskutieren Theaterstück ziehend bezeichnet der Ich-Erzähler in dieser Passage mit dem Hinweis auf Prädikatwiederholungen in Kombination mit emphatischen Semantiken eben jene Verfahrenselemente, auf denen auch Berkéwiczs Überlebnis basiert (siehe das genannte Froschverhalten am Teich). Seine Kritik an ›vulgärsten Kraftausdrücken, die Authentizität suggerieren sollen‹ kulminiert schließlich in der »Darstellung des tatsächlichen Sterbens von Heinrich Glück und dessen erotischer Aufladung« (Ü 250).
332 Vgl. dazu T. Wegmann, Zwischen Maske und Marke, S. 128.
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Ich will nicht viel dazu sagen, außer dass es einen bei ihrer Verherrlichung des Todesaugenblicks schaudert. Sie spricht vom Jetzt des Jetzt, vom Sturm, vom Hauch, und es erinnert in vielem an die euphorischen Beschreibungen ihrer Erlebnisse in den Kornfeldern von Wiltshire. Wieder diese Flashs, wieder dieses Flackern des Lichts, wieder ein Zittern und Beben der Erde, ein Klirren der Fenster, ein Blitzen und Donnern am Himmel, und am Ende wird sie sogar explizit und schreibt, sie wisse erst seit da, was es heiße, sich zu paaren. Dazu kommen Vergleiche mit einer Geburt, wie man sie in den einschlägigen esoterischen Büchern zu Dutzenden findet, Vorstellungen, sie gebäre ihn nicht nur in ein anderes, sondern in das wahre Leben hinüber, und am Ende landet sie abgeworfen von dem Todesritt mit dem Leichenmann, wie sie sich ausdrückt, mit den Wundmalen einer Stigmatisierten auf dem Boden neben dem Bett. (GW 250–251)
Die Anleihen bei einer esoterischen Semantik, die Distanzierung gegenüber alltagssprachlichen oder massenmedialen Diskursen, Dagmars Tendenz zu einer vulgären Sprache und die schließlich inszenierte Verherrlichung des Todes als Geburt benennen aus der Perspektive des Lektors die Eckpunkte des Scheiterns von Dagmars literarischem Programm. Diesem gehe es nämlich letztlich um die esoterisch-mysthische »Verzauberung des basalen Eigentlichen in einer entzauberten Welt«.333 Benennt der Abschnitt mit der Kritik an Formulierungen wie ›Jetzt des Jetzt‹ oder dem ›Beben der Erde‹, die an anderer Stelle mit konkreten Zitaten aus Dagmars Buch angereichert werden,334 wiederum detailliert die in Berkéwiczs Text zum Einsatz kommende Metaphorik, lässt sich die Reflexion des Ich-Erzählers schließlich als programmatischer Kommentar der folgenden »Urszene« (Ü 33) aus Überlebnis lesen: Die Matratze pumpt, hebt sich, senkt sich. Am Fußende blinkt ein Licht. Es surrt, es rüttelt, rattert. Der Strom ist Schwachstrom, die Wogen sanft, das Boot, das Schifflein dümpelt. Es schluchzt und bangt um uns her. Ein schneller Nervenschlag, die Körpersäfte brodeln, er schreibt in die Luft, als schriebe er auf Papier. Pulsschlag, Herzschlag, Ebbe, Flut. Er sinkt zurück und nimmt mich an sich. Der Blutsack am Bett läuft über. Die Zeit ist abgelaufen, ist verflossen, jetzt fließt ein andrer Fluß in einem andern Bett, ein Blutfluß in einem Strombett, Flußadern klopfen und verstopfen, platzen, verschwimmen und verschwinden in einem Wellengang im Gummibett.
333 M. Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 170. Baßler bezieht sich auf Peter Handkes Serbien-Texte, von dessen Programm sich im Übrigen auch Gstrein distanziert. 334 Vgl. »›Es gibt Erfahrungen, die sich nicht ausdrücken lassen und die man deshalb in sich hineindrücken muss‹, las hier und dort noch etwas, las ›mit welcher Leichtigkeit er sich um sein Erdendasein stirbt‹, las ›das Todesjetzt, der Augenblick des wahren Lebens‹« (GW 276) sowie »wie seine Seele in einer Dampfwolke aus seinem Körper emporsteigt und minutenlang ›wallend und wabernd‹ über dem Leichnam verharrt« (GW 276).
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Und dann? Das Weinen des Weinens. Als ob er weinen könnte, fließen Flüssigkeiten aus seinem Körper, aus Furten und aus Blößen, die sie ihm geschlagen, aus Folterritzen. Dann wieder ist es, als ob der Körper überkocht, als ob er sich verschweißt mit mir. Als ob wir so vereint, vereinigt als einer treiben könnten auf unsrer hohen Welle, bis daß es uns verschlägt, Sprache und Atem, kein Wort mehr und kein Lüftchen, bis wir sprachlos staunen, atemlos angeschwemmt. (Ü 94)
Dass Überlebnis sich der feuilletonistischen Rezeption mitunter als »[r]ichtig peinlich« 335 erweist, liegt nicht zuletzt an diesem Abschnitt, in dem Ich-Erzählerin und Autorin ihr Überleben als »Konstruktion einer symbiotischen Liebe« 336 mit dem sterbenden Mann inszeniert und sich auf diese Weise als dessen legitime »Nachfolgerin, Erbin und Stellvertreterin auf Erden« 337 positioniert. In diesem Sinne geht Berkéwiczs Text über seine Performativität des Erlebens und Überlebens des ›Todesaugenblicks‹ hinaus und erweist sich als Selbstinszenierung und -positionierung der Verleger-Witwe, die auf Effekte in der realen Realität des Literaturbetriebs um Suhrkamp abzielt. Dass dies als Anmaßung aufgefasst werden müsse, legt auch der Lektor der ganzen Wahrheit nahe. Sieht er doch das Grundproblem von Dagmars Buch darin, sich eingefahrenen Diskursen gleichsam komplementär entgegenstellen zu wollen. Dieser Anspruch führe nämlich keineswegs zu der in Aussicht gestellten Korrektur von Vorstellungen vom Sterben, sondern verdoppele nur das benannte Sprachproblem, ja auf diese Weise stünden sich gleichsam zwei komplementäre »anachronistische Sekundärphänomene« 338 gegenüber.339 Der Ich-Erzähler hingegen bemüht sich darum, die unhintergehbare Einseitigkeit seines Erzählens dadurch aufzubrechen, dass er sie thematisiert.
5.2.3 Die Suhrkamp-Konstellation Wenn das Feuilleton Die ganze Wahrheit als Teil eines »Suhrkamp-Abrechnungsdiskurs[es]« 340 liest, so legt diese Lektüre den Blick frei auf eine Litera335 J. Magenau. 336 J. Magenau. 337 J. Magenau. 338 M. Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 173. 339 Siehe dazu wiederum mit Blick auf Handkes Serbien-Texte Jürgen Brokoff: »Srebrenica – was für ein klangvolles Wort«. Zur Problematik der poetischen Sprache in Peter Handkes Texten zum Jugoslawien-Krieg. In: Carsten Gansel u. Heinrich Kaulen (Hg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Mit 40 Abbildungen. (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 8) Göttingen 2011, S. 61–88. 340 G. Bartels, Besessen von der Causa Suhrkamp.
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turbetriebs-Szene, die der fiktionalen Realität, wie sie der Roman entwirft, ein reales Gegenstück in Aussicht stellt. Und tatsächlich verweist nahezu jede Rezension, trotz oder gerade wegen der literaturtheoretischen Fragwürdigkeit referenzialisierender Operationen, auf die mit Suhrkamp-Verlegerin Ulla Berkéwicz verbundenen Betriebsumstände. Um der offensichtlichen Gleichzeitigkeit von außertextuellem Realitätsbezug und fiktionalem Eigenwert gerecht zu werden, ja die Konfrontation zwischen Gstrein, »de[m] ehemalige[n] SuhrkampAutor«,341 und Berkéwicz im Wortsinne in Szene zu setzen, lagern Teile des Feuilletons ihre entschlüsselnd-skandalisierende Bezugnahme auf die Verlegerin nicht zuletzt visualisierend in das begleitende Bildmaterial ihrer Artikel aus. So wird bereits seit der Berichterstattung über Gstreins Buchpräsentation im LCB immer wieder auf Fotos von Berkéwicz zurückgegriffen342 und auch die paratextuelle Rahmung der Besprechungen zu Gstreins Roman setzt diese Praxis fort: Denn auch dort greift das Feuilleton wiederholt auf Bildmaterial mit Berkéwicz zurück, das die Verlegerin mitunter als vor einem großflächigen Portrait Siegfried Unselds stehend zeigt,343 oder konfrontiert ein Autorenfoto Gstreins mit einem Einzelportrait der Verlegerin.344 Der Effekt dieses Verfahrens paratextueller Rahmung ist, dass die innerfiktionale Kommunikation zwischen den Figuren des Ich-Erzählers und Lektors Wilfried sowie Verlegerin Dagmar nicht nur in die reale Realität verlegt wird, sondern Die ganze Wahrheit sich als ein kommunikativer Akt, um nicht zu sagen: eine Beziehung zwischen Autor Gstrein und Verlegerin Berkéwicz erweist.345 Dass diese feuilletonistischen »Feedbackeffekte« 346 nicht gänzlich aus der Luft gegriffen sind, verdeutlicht nicht zuletzt die Textebene, greift Die ganze Warheit doch tatsächlich auf Figurencharakterisierungen und -konstellationen zurück, die die histoire im Medium der für Schlüsselverfahren wesentlichen »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung« 347 gezielt mit Details der vom Feuilleton wiederholt angesprochenen ›Suhrkamp-Konstella-
341 H. Winkels, Voodoo-Dagmar. 342 Siehe G. Bartels, Ora et Ira. 343 Vgl. W. Hindemith; B. Heidemann; S. Löffler, Gestus gehässiger Abrechnung; Urs Jenny: So ein verrücktes Huhn. In: Der Spiegel 32 (2010). 344 Vgl. J. Encke, Denk nicht an Suhrkamp. 345 Siehe zu den hiermit angesprochenen drei literarischen Kommunikationsebenen Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. (Narratologia 3) Berlin u. New York 2004, insbesondere S. 14. 346 Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003, S. 201. 347 G. M. Rösch, S. 7.
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Das Verderben der Literatur durch die Wahrheit: Norbert Gstrein
tion‹ durchsetzt. Bei diesem Verfahren handelt es sich mithin gerade nicht um einen Durchgriff auf eine wie auch immer gestaltete reale Realität; Gstreins Roman greift ähnlich wie Maiers Sanssouci zur Textorganisation vielmehr auf solche Schemata zurück, die der massenmedialen, im Besonderen feuilletonistischen Berichterstattung über Ulla Berkéwicz seit deren Heirat mit Siegfried Unseld entnommen sind. Insofern unterläuft der Text mithin bereits in dieser Hinsicht den Anspruch von Schlüsselliteratur, bereitet er doch lediglich ohnehin massenmedial-diskursiv Bekanntes literarisch auf, ›enthüllt‹ also gerade keine bisher nur Eingeweihten vertrauten Intimitäten, sondern umgekehrt eben solche Aspekte, die »für die Freunde des Hauses Gemeingut« (GW 10) darstellen. Strukturieren lassen sich diese Elemente der ›Suhrkamp-Konstellation‹ grob in drei Gruppen: Erstens betreffen sie konkret die Person Ulla Berkéwicz und deren öffentlich verhandelte Biographie; zweitens beziehen sie sich auf das Handeln der Verlegerin im Suhrkamp-Verlag nach dem Tod Siegfried Unselds im Oktober 2002; und drittens steht die Rezeption der Texte Berkéwiczs als Autorin im Fokus. Wichtig ist, das sei an dieser Stelle nochmals betont, dass es sich jeweils um spezifische Bezugnahmen auf die feuilletonistisch aufbereitete »erste Endlosserie aus einem Verlagshaus« 348 handelt, es also letztlich um eine verfahrensspezifische Form von Intertextualität zur »Suhrkamp-Seifenoper« 349 geht. Als Einstieg mag in diesem Zusammeng eine Ausgabe des Schweizer Kulturmagazins Du fungieren. Dieses nimmt nämlich 2010 das 60-jährige Bestehen des Suhrkamp-Verlags zum Anlass, um am Beispiel des Frankfurter/Berliner »Ausnahmeverlags« 350 nach der gesellschaftlichen Bedeutung von ›Buchkultur‹ zu fragen. Als Ausgangspunkt dient der Ausgabe, so Stefan Kaiser im Editorial, die Beobachtung, dass die Stellung des ehemals Frankfurter, mittlerweile Berliner Verlags im deutschsprachigen Literatur- und Kulturbetrieb nicht mehr unproblematisch sei. Habe die Marke ›Suhrkamp‹ zum 50-jährigen Jubiläum noch im Zeichen ihres Verlegers Siegfried Unseld gestanden, mehrten sich mittlerweile Stimmen, die fragten, ob es überhaupt noch etwas zu feiern gebe. Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stünde nämlich nicht mehr das einst von George Steiner auf den Begriff der ›Suhrkamp-Kultur‹ geprachte Projekt einer theoretischen wie literarichen Gegenwartsdeutung. Die Debatten würden vielmehr zunehmend durch literaturbetrieblich ›Sekundäres‹ nicht nur geprägt, sondern ersetzt:
348 Verena Araghi u. Malte Herwig: Neues aus der Lindenstraße. In: Der Spiegel 47 (2006). 349 V. Araghi u. M. Herwig. 350 Stefan Kaiser: Die Neuinterpretation der Welt. In: Du. Das Kulturmagazin (2010), Nr. 803, S. 3.
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Seit sieben Jahren, seit dem Tod des prägenden Verlegers Siegfried Unseld am 26. Oktober 2002, diskutieren wir nicht mehr über Bücher, sondern verfolgen die in rascher Folge in der Öffentlichkeit ausgebreiteten Fortsetzungen der Seifenoper aus der Frankfurter Lindenstraße. Den Machtkampf ums Verlagserbe. Den Weggang tragender Mitarbeiter und Autoren. Die juristischen Winkelzüge. Den raschen Wechsel des Führungspersonals. Die Zermürbung der Mitgesellschafter. Den Umzugsstreit. Den Verkauf des Archivs. Die grosse Zäsur.351
Die Ausgabe des Du-Magazins setzt dem so skizzierten, weniger durch primäre (›Bücher‹) als durch sekundäre (›Seifenoper‹) Formen literarischer Kommunikation geprägten ›Verfallsprozess‹ des Verlags auf über 60 Seiten das Panorama von Artikeln entgegen, die sich auf unterschiedlichen Wegen der Frage nähern, ob es eine ›neue Suhrkamp-Kultur‹ gebe (so der Titel des Heftes).352 Unter anderem neben einem Essay von Suhrkamp-Größe Jürgen Habermas, dem Abdruck bisher unveröffentlicher Briefe aus der Korrespondenz zwischen Peter Suhrkamp und Max Frisch und einem Interview mit dem ehemaligen Suhrkamp-Lektor Egon Ammann, einem Portrait des für das Suhrkamp-Layout zuständigen, ›legendären Grafikdesigners‹ Willy Fleckhaus und Fotografien aus der Verlagsgeschichte Suhrkamps nimmt auch Ulla Berkéwicz Stellung zur Bedeutung des Suhrkamp-Verlags in der Buchkultur. Gleich zu Beginn des Gesprächs wird die Verlegerin natürlich auf eben jenes ›Sekundäre‹ angesprochen, das Kaiser bereits im Editorial benennt. Das ganze Schlagzeilentheater ist die hilflose, überforderte, unbeholfene Art, wie sich ein Medienbetrieb dem Geistigen nähern will; der das Geistige fürchtet, weil es kein Geschäft verspricht. Sie wären alle gern Teil einer Debatte; da sie aber von Inhalten die Finger lassen wollen, versuchen sie es mit Kolportage.353
Im Zentrum der von Berkéwicz benannten, in einem anderen Artikel des Magazins als »Suhrkamp-Soap« 354 bezeichneten Debatte um den Suhrkamp-Verlag steht seit ihrer Heirat mit dem Suhrkamp-Verleger 1990 die Autorin und Verle-
351 S. Kaiser. 352 Der Begriff der ›Suhrkamp-Kultur‹ geht zurück auf den Artikel George Steiner: Adorno: Love and Cognition. In: Times Literary Supplement vom 9. März 1973. »Der Begriff steht [...] für das Prinzip Siegfried Unselds, der stets auf Köpfe und deren Lebenswerk setzte statt auf Bestsellerproduktion ab Fliessband, der nicht nur eine eigenständige Literatur herausbringen, sondern sich zugleich in die gesellschaftlichen Debatten einmischen wollte und dabei nichts Geringeres als die ›Gegenwartsdeutung‹ beanspruchte.« S. Kaiser, S. 3. 353 Julian Schütt: »Wenn man recht hat, streitet es sich schöner«. Gespräch mit Ulla UnseldBerkéwicz. In: Du. Das Kulturmagazin (2010), Nr. 803, S. 13–15, hier S. 13. 354 Vgl. Manfred Stahl: Die Suhrkamp-Soap. Eine kleine Chronique scandaleuse. In: Du. Das Kulturmagazin (2010), Nr. 803, S. 48–49.
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gerin selbst. Die unmittelbar nach Unselds Tod erschienene Verleger-Biographie von Peter Michalzik bietet einen Einblick in die Hochzeit als gesellschaftliches Ereignis: Am 28. August 1990 heirateten Siegfried Unseld und Ulla Schmidt, die sich Berkéwicz nennt. Jetzt interessierte sich sogar die Bild-Zeitung für Unseld, sie verbreitete die Meldung am 7. August mit den Altersangaben der Brautleute, 65 und 39 Jahre als waren die beiden damals. Auch die Nachricht, dass sich der Verleger noch einmal ein Kind wünsche, durfte nicht fehlen. Die Vergrößerung der Villa in der Klettenbergstraße sei schon im Gange. Die kleine Frankfurter Gesellschaft und die nur unwesentlich größere deutsche Feuilletonwelt klatschten und tratschten. Die Trauung fand nicht nur am Geburtstag Goethes, sondern auch »mit dem Glockenschlage zwölf« statt, jener Stunde von Goethes Geburt, wie sie in Dichtung und Wahrheit überliefert wird. Martin Walser, der sich Hilde immer noch verbunden fühlte, und Gisela Stockburger waren Trauzeugen. Am Bodensee fand auch die kirchliche Trauung statt.355
Im Aufeinandertreffen von ›Bild-Zeitung‹ und ›Goethes Geburt‹ findet die Hochzeit zwischen Unseld und Berkéwicz ihre alle high/low-Grenzen sprengende Note, die vor allem eines ist: nämlich ›Klatsch und Tratsch‹. Denn geredet wird nicht nur in und mit Bild, sondern auch und gerade in der ›Frankfurter Gesellschaft‹ und der ›deutschen Feuilletonwelt‹. So wie in der von Michalzik narrativ-biographisch auf den Punkt gebrachten realen Realität verhält es sich schließlich auch in Gstreins Roman: Auch dort begleitet die Beziehung zwischen der jungen Autorin Dagmar und »Heinrich Glück, dem Verleger« (GW 10), vor allem die boulevardesken »Klatschspalten« (GW 56). Die ganze Beziehung von Anfang bis Ende hatte dann auch etwas Schmierenkomödiantisches, das in dieser Form vielleicht tatsächlich nur in Wien möglich ist, die sozusagen auf einer Bühne geführte Ehe eines Verlegers schöner und nicht ganz so schöner Literatur, wie er selbst gern gesagt hat, der nicht mir seinen Büchern, sondern durch seine erste Heirat mit einer geborenen Thurn-Milesi zu einem Millionenvermögen gekommen war und sich jetzt von seinem »Kärntner Dirndl« den Lebensabend versüßen ließ. So konnte man es, o du, mein Österreich, allen Ernstes lesen, und so wurden die beiden auch in der Öffentlichkeit gesehen, der trotz aller Feingeisterei linkisch gebliebene alte Herr und die immer mehr ihren Hang zum Mondänen entdeckende Madame, die nebenbei auch noch als Schriftstellerin dilettierte und bald in seinem Verlag ihr Debüt gab. (GW 10–11)
Um solche Realitätseffekte zu erzeugen, die es nahelegen, Dagmar auf die Suhrkamp-Verlegerin Berkéwicz zurückzurechnen, macht sich der Text den Umstand zu nutze, dass es sich bei Berkéwicz vor allem um eines handelt: nämlich um eine »öffentliche Figur«.356 Dabei ist es zunächst »Dagmars Drang
355 Peter Michalzik: Unseld. Eine Biographie. München 2002, S. 291. 356 So die Formulierung von V. Araghi u. M. Herwig.
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zur Bereinigung ihrer eigenen Biographie« (GW 21), der so platziert ist, dass der Leser ›hinter‹ der Figur die Person der realen Realität als Medium der Formbildung der ganzen Wahrheit vermuten kann. Denn so wie die Figur in Gstreins Roman »sich die Welt nach den eigenen Wünschen zurecht[ ]interpretier[t]« (GW 21), so setzen Teile des Feuilletons Berkéwicz als eine Figur in Szene, der es daran gelegen sei, die eigene Biographie spezifisch zu steuern. Wie in der ganzen Wahrheit interessieren dabei nicht zuletzt Name und Geburtsdatum der Verlegerwitwe. Die Legende zum Namenswechsel der jungen Schauspielerin geht so: Sie habe schlicht den Mädchennamen ihrer Großmutter angenommen, die Anfang 1945 nach Theresienstadt verschleppt worden sei und überlebt habe. An ihr hing die Enkelin mit großer Liebe. Und Berkowitz klingt allemal besser als Schmidt. Aber Ulla Berkowitz? Der Name, so polnisch-jüdisch-exotisch er ist, ihm fehlt zur Bühnenreife der Glamour, das Geheimnis, das erst ein »Accent aigu« erzeugen kann. Später lässt der Suhrkamp Verlag die Namensgeschichte merkwürdigerweise einmal dementieren: Frau Berkéwicz habe gar keine jüdische Großmutter gehabt. Dabei erzählt sie selbst davon.357
Von Relevanz ist dieser Eintrag zu Ulla Berkéwicz, der sich in einem Kompendium über ›mächtige Frauen‹ in Deutschland findet, weil er den Namenswechsel der Verlegerin als auf unbestimmten Sprechakten beruhend (›Legende‹) ausweist und damit eben jene kolportierten biographischen »Unsicherheiten« 358 aktualisiert, die die massenmedialen Bezugnahmen auf Berkéwicz seit den 1990er Jahren und verstärkt nach dem Tod Siegfried Unselds im Oktober 2002 dominieren. Ist das Zulegen eines Künstlernamens durchaus »für eine Schauspielerin nichts Ungewöhnliches«,359 ist es aber genau dieses Bearbeiten eines Details der eigenen Biographie, das das Feuilleton immer wieder aufgreift und tradiert. So wie Berkéwicz vermutlich »[i]n Erinnerung an ihre jüdische Großmutter [...] ihren wenig karrieretauglichen Namen« 360 ändert, so eignet sich denn auch Dagmar »eine jüdische Großmutter an[ ]« (GW 151). Als ähnlich unbestimmt kommunizieren Teile des Feuilletons auch das Geburtsdatum der Verlegerin, habe Berkéwicz doch vermutlich ihren Geburtsjahrgang von 1948 auf 1951 nicht zuletzt aus ästhetischen Gründen korrigiert: »Man muss kein Anhänger kabbalistischer Zahlenspiele sein, um einzusehen, dass
357 U. Posche, S. 87–88. 358 Zwischen Freund und Feind, In: Süddeutsche Zeitung (sueddeutsche.de) vom 6. November 2011. http://www.sueddeutsche.de/kultur/ulla-unseld-berkewicz-zum-zwischen-freundund-feind-1.1180812 (30. 11. 2011). 359 Franziska Augstein: Botschaften aus dem Treibhaus. In: Süddeutsche Zeitung vom 20. Dezember 2003. 360 Zwischen Freund und Feind.
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das Datum 5–11–51 jedenfalls magischer wirkt als die holpernde Abfolge des 5– 11–48.« 361 Und tatsächlich bestätigt die Suhrkamp-Pressesprecherin etwa zum vermeintlich 60. Geburtstag der Verlegerin 2011 »nur den Geburtstag, nicht das Alter«.362 In Gstreins Roman finden sich analoge Hinweise zum öffentlichen Umgang Dagmars mit ihrem Alter, ist die Verlegerin doch an einer Stelle sichtlich verstimmt, weil ausgerechnet ihre Haus- und Hofzeitung darauf verfallen war, ihr zum fünfundfünfzigsten Geburtstag zu gratulieren, und Dr. Mrak sich seither vergeblich bemühte, eine Entgegnung zu erzwingen, um wie viele Jahre auch immer die interne Zählung gerade hinterherhinken mochte, mindestens aber wohl um sechs oder sieben. (GW 274)
Gleichwohl ist es nicht nur die Verlegerin und Autorin, mit der der Text vorgibt, sich an die reale Realität zurückzubinden. Um die mit Dagmar verbundenen Realitätseffekte abzusichern, lässt Die ganze Wahrheit ihre Protagonistin in eine Figurenkonstellation ein, die wesentliche Akteure der massenmedial in Szene gesetzten ›Suhrkamp-Seifenoper‹ auftreten lässt. Dazu zählen neben Heinrich Glück, der von der literaturkritischen Rezeption durchgehend als Anspielung auf den wohl »bedeutendste[n] deutsche[n] Verleger, den es je gegeben hat«,363 Siegfried Unseld, gelesen wird, lockere Bezugnahmen etwa auf den von Unseld ins Leben gerufenen Suhrkamp-Stiftungsrat um Hans Magnus Enzensberger (vgl. GW 13), Glücks erste Ehefrau »Edith« (GW 66), die sich strukturell auf Hildegard Unseld beziehen lässt, Rechtsanwalt Dr. Mrak, der sich in strukturanaloger Position zu Berkéwiczs Anwalt Heinrich Lübbert befindet, oder auch Unselds Sekretärin Burgel Zeeh. Sei letztere gerade wegen ihrer »Umsicht und Loyalität« 364 von allen Verlagsmitarbeitern geschätzt worden, gehe es Berkéwicz, folgt man dem Feuilleton, mit Blick auf die Unseld-Vertraute um eine Politik der systematischen Entmachtung. »›Sie ist Unseld zu nahe gewesen‹, heißt es, ›Sie wusste zu viel.‹« 365 In der ganzen Wahrheit vergisst die analog positionierte Frau Hausner denn auch schließlich ihre »sprichwörtliche Diskretion« (GW 201), die sie immer ausgezeichnet hatte. Ihre persönlich besetzte Pointe erhält diese Figurenkonstellation schließlich dadurch, dass IchErzähler »Wilfried« (GW 254), der von Dagmar üblicherweise »Wilfredo« (GW 240) genannt wird, den Namen des Theaterregisseurs und ersten Ehemanns
361 362 363 364 365
U. Posche, S. 89. Zwischen Freund und Feind. U. Greiner, Der Mann, der die Bundesrepublik war. F. Augstein. F. Augstein.
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von Berkéwicz, Wilfried Mink, trägt.366 Bei all diesen Anspielungen, das sei an dieser Stelle nochmals betont, handelt es sich nicht um Bezugnahmen auf eine außertextuelle, reale Realität biographischer Umstände. Der Text hat diesen Anspruch gerade nicht, sondern nutzt die feuilletonistisch aufbereitete Akteurskonstellation der ›Suhrkamp-Soap‹, um sich selbst in Form zu bringen. Dass Die ganze Wahrheit sich als »Berkéwicz-Roman« 367 erweise, ja »die reale Person in ihr erkennbar« 368 sei, es sich bei der Verlegerin und Autorin gleichwohl weniger um eine reale Person, als vielmehr um eine »Romanfigur« 369 handele, legen darüber hinaus diverse bio-bibliographische Details nahe, wie sie auch den ›Suhrkamp-Diskurs‹ spätestens seit 2002 bestimmen. Dazu zählen Dagmars »platte Kampfansage an das moderne Amerika« (GW 234), die sich strukturanalog zu Berkéwiczs Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus (2002) positioniert, oder die relativ ausführlich beschriebenen Umstände von Dagmars Theaterinszenierungen, in denen es »viele Hakenkreuze, viele Uniformen, viele nackte Körper« (GW 160), ja letztlich »viel Hysterie und Geschrei« (GW 160–161) gegeben habe.370 Strukturanalog funktioniert auch die Bemerkung des Ich-Erzählers, ein Foto, »das ich von ihr am Grab gemacht habe, erschien schon zwei Wochen später in der Zeitung« (GW 107), findet sich doch in der feuilletonistischen Rekonstruktion der ›Suhrkamp-Konstellation‹ tatsächlich der Hinweis darauf, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung »der Unseld-Witwe gar auf dem Friedhof nach[stellte], um ein Interview zu ergattern«.371 In Gstreins Roman erhalten die »Ausgeburt[en] des Wiener Boulevards« (GW 302) denn auch mit der Beerdigung Heinrich Glücks gleich zu Beginn ihren Höhepunkt, wird jene doch von der »wöchentliche[n] Klatschsendung im Fernsehen« (GW 13) verarbeitet. Das Schreibverfahren der ganzen Wahrheit besteht mithin darin, Strukturpartikel der ›Suhrkamp-Soap‹ aufzugreifen und für die eigene Formbildung partiell zu nutzen. Die sich dabei unwillkürlich einstellenden leichten oder gröberen Verschiebungen bemühen sich indes weniger um ein Ausstellen der Fiktionalität und Literarizität des Textes. Es geht vielmehr um literarische Verdich-
366 Vgl. Helmut Böttiger: Der Untergang des Hauses Suhrkamp. In: Süddeutsche Zeitung. Süddeutsche Zeitung Magazin Heft 39 (2007). http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/ anzeigen/3575 (19. 12. 2011). 367 A. Widmann. 368 H. Winkels, Voodoo-Dagmar. 369 A. Widmann. ›Berkéwicz‹ tritt auch im Tod eines Kritikers von Martin Walser und in Jens Walthers Abstieg vom Zauberberg auf. 370 Siehe dazu mit Blick auf Berkéwicz Peter Stolle: Völkischer Bettnässer. In: Der Spiegel 17 (1992). 371 V. Araghi u. M. Herwig.
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tungen, ja Präzisierungen und Konkretisierungen, die sich nicht vom diskursiv Vorgefundenen distanzieren, sondern dieses pointiert in Szene setzen. Ihr ausgewiesenes Zentrum finden die Rückkopplungen mit der ›Suhrkamp-Konstellation‹, wie sie Teile des deutschsprachigen Feuilletons um 2000 entfalten, in einem Komplex, der mit Berkéwiczs sowohl öffentlich als auch verlagsintern geführtem »Machtkampf« 372 beschrieben wird. Der Text konzentriert sich dabei auf zwei Gesichtspunkte, die auch die Berichterstattung zum Suhrkamp-Verlag nach Unselds Tod 2002 bestimmen: Es ist dies erstens die Vermutung, Berkéwicz verfolge ein spezifisches Machtkalkül, wobei es dieser Zuschreibung vor allem um die vermutete fehlende Qualifikation der Verlegerin geht, lässt sich doch so die Illegitimität der Verlagsleitung durch Berkéwicz betonen; und zweitens die Bedeutung dessen, was wiederholt als Berkéwiczs ›Esoterik‹ beschrieben wird. Zunächst fällt auf, dass Teile des Feuilletons der Suhrkamp-Verlegerin und Unseld-Witwe wiederholt eine spezifische Machtstrategie unterstellen. So ist von der »Machtübernahme« 373 Berkéwiczs die Rede, ja als »Lady Mcbeth« 374 greife die Verleger-Witwe »kompromisslos-rasch« 375 im Verlag »nach der Macht«.376 Hubert Winkels bringt diese Konstellation auf den Punkt: Ulla Berkéwicz hat die Macht im Hause Suhrkamp nicht nur gewollt, sondern sich zu diesem Machtwillen auch bekannt. Ob sie der selbstgestellten Aufgabe gewachsen ist, kann niemand wissen; gleichwohl haben viele zunächst hinter vorgehaltener Hand und dann auch öffentlich so getan, als sei ihr Scheitern unumgänglich und alles andere als eine baldige Katastrophe undenkbar.377
Dass Berkéwicz sich als Vorsitzende der Geschäftsführung nach dem Tod Siegfried Unselds gegen Verlagsleiter Günter Berg, Vertriebsleiter Ulrich Sonnenberg und den von Unseld eingesetzten Stiftungsrat durchsetzt, setzen Teile des Feuilletons als einen ›Machtkampf‹ in Szene, der die Umstrukturierung des Verlags zum Zentrum von Intrigen und Klatsch geraten lässt. Ulla Berkéwicz baute sich nach einem zurückgezogenen Jahr der Trauer kühl zum Machtzentrum aus, und alle bemerkten das. In gewachsenen, familiär geführten Betrieben, wie
372 Ulrich Greiner: Redet endlich über Bücher! In: Die Zeit vom 11. Dezember 2003. 373 Wieland Freund u. Uwe Wittstock: Das Erbe Siegfried Unselds droht zu zerrinnen. In: Berliner Morgenpost vom 18. Oktober 2003. 374 F. Augstein. 375 U. Greiner, Redet endlich über Bücher. 376 W. Freund u. U. Wittstock. 377 Hubert Spiegel: Ulla Berkéwicz setzt sich durch: Günter Berg verläßt Suhrkamp. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. November 2003.
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ja auch dieser Verlag einer ist, wabern solche Ereignisse schnell über die filgrauen Flure, setzen sich in den Ecken der Büros fest und kehren kurz darauf als Intrige ins Tagesgeschäft zurück. Und ebenso naturgemäß bilden sich zwei Lager, wenn auf einmal zwei starke Führer an der Spitze stehen, die sich belauern und subtil bekämpfen. Kein Mitarbeiter ist so grob, das nicht zu spüren. Plötzlich sind die Zeitungen voll vom Machtkampf in der Lindenstraße.378
Die ganze Wahrheit verdichtet nun den vom Feuilleton beschriebenen ›Machtkampf‹ zum einen in dem, was der Ich-Erzähler wiederholt als Dagmars »ganze Wahrheit« (GW 186 und öfter) beschreibt. Was mit diesem Ausdruck gemeint ist, bringt Wilfried in folgender Passage auf den Punkt: Sie sagte dann immer, sie werde einem über denjenigen oder diejenige irgendwann die ganze Wahrheit sagen, und allein der Aufschub, allein dass sie es nicht gleich tat, sondern nur ankündigte, meistens mit der kategorischen Vorgabe, zu den derart ins Visier Genommenen jeden Kontakt abzubrechen, machte es so ungeheuerlich und schaffte Platz für die furchtbarsten Anschuldigungen, die folgen sollten. Ich erinnere mich noch genau, wie ich es zum ersten Mal von ihr hörte und wie es mich abstieß und ich augenblicklich wusste, es würde eines Tages auch eine ganze Wahrheit über mich geben, oder es gab sie vielleicht schon, und ich hatte nur eine Galgenfrist. (GW 183)
Dagmars Dringen auf »die einzige Wahrheit« (GW 248) steht im Zeichen einer bestimmten Macht- oder Durchsetzungsstrategie, die sich gegen solche Akteure richtet, die sich ihr als Kontrahenten erweisen. So heißt es an einer Stelle: Sehr rasch kannte ich die ganze Wahrheit über die beiden Trattinger-Brüder, über den Ministerialrat Walther und über Professor Andermaier [...]. Das gab einen Vorgeschmack auf die ganze Wahrheit über Heinrich Glück, sollte sie einmal gebraucht werden [...]. Die ganze Wahrheit über Kurt Waldheim, geschenkt, Tier der Apokalypse hin oder her, ebenso die ganze Wahrheit über die engstirnige Klagenfurter Gesellschaft, die ganze Wahrheit über die Bussi-Bussi-Wiener [...]. (GW 197)
Konsequent durchgesetzt wird der Wahrheitsanspruch Dagmars, wie ihn Die ganze Wahrheit gleichsam als Medium des literaturbetrieblichen wie verlagsinternen ›Machtkampfes‹ inszeniert – zum anderen – durch den Rechtsanwalt Dr. Mrak. Denn dieser ist es, mit dessen Hilfe sich Dagmar gegen ihre Widersacher zur Wehr setzt. Der Ministerialrat Walther hat von Dr. Mrak eine Klageandrohung ins Haus bekommen, weil er so unvorsichtig war, öffentlich zu behaupten, Dagmar habe das betrieben, sie habe ihren Mann vor die Wahl gestellt, entweder sie oder Edith, entweder die Lebende
378 U. Posche, S. 115.
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oder die Tote, was in ihrer Welt natürlich austauschbar war, und ich bin nicht so dumm, mich dazu zu äußern. (GW 118–119)
Wird etwa auch Broser »von Dr. Mrak ein Aufhebungsvertrag angeboten« (GW 194), ist es tatsächlich schließlich eben jener Anwalt, der den Ich-Erzähler als Verlagslektor entlässt (vgl. GW 286–287). Bemerkt Wilfried nicht zuletzt deshalb bereits zu Beginn die »Angst vor dem ehrenswerten Dr. Mrak und seiner Paragraphenreiterei« (GW 12), setzt der Lektor die so eingeleitete Reflexion über die juristischen Folgen des eigenen Schreibens kontinuierlich fort, um sich im Laufe seines Projekts gleichwohl zunehmend von den juristischen Irritationen zu emanzipieren. So hält er im letzten Teil schließlich fest: »Es fällt mir schwer, darüber zu schreiben, aber es ist längst nicht mehr Dr. Mrak, oder jedenfalls nicht er allein, den ich fürchte« (GW 231). Dass es sich bei diesen histoire-Elementen um eine Verdichtung von Partikeln der feuilletonistisch in Szene gesetzten ›Suhrkamp-Konstellation‹ handelt, mag exemplarisch die folgende Passage aus einem Artikel Helmut Böttigers verdeutlichen, der im SZ Magazin der Süddeutschen Zeitung erschienen ist und am Beispiel der Entlassung von Rainer Weiss Berkéwiczs Literaturbetriebspraxis erläutert: Am 1. April 2006 wurde Weiss zu einem Gespräch mit Rechtsanwalt Heinrich Lübbert gebeten, der in der Suhrkamp-Saga der letzten Jahre vielleicht die Hauptrolle spielt. Lübbert teilte Weiss mit, er habe sich zu viel zugemutet, sei überlastet. Man habe ein Arbeitsmodell für ihn entwickelt, es sei besser, er gehe darauf ein: »Sonst können wir gleich zum Exit-Gespräch übergehen!« Einige Monate später kündigte Weiss von sich aus. Ende des Jahres gab Frau Unseld dem Magazin Focus ein Interview. Sie habe dort, sagt Weiss, »Behauptungen aufgestellt, die einfach nicht stimmen« – zum Beispiel, dass Weiss die Kündigung des Marketing-Geschäftsführers Georg Rieppel betrieben habe. Auch die Darstellung, dass die herausragenden Autoren Imre Kertész und Daniel Kehlmann den Verlag seinetwegen verlassen hätten, weist Weiss entsetzt zurück: »Dieses Interview war niveauund stillos.« 379
So wie in der hier von Böttiger aktualisierten ›Suhrkamp-Soap‹ ist es in der ganzen Wahrheit Dr. Mrak als Dagmars »Rechtsbeistand in allen Lebens- und Todesfragen« (GW 181), der in den Umstrukturierungen der Verlegerin »eine entscheidende Rolle« (GW 181) spielt. Analog zu Berkéwicz-Anwalt Heinrich Lübbert, der bestimmte Konstellationen zugunsten seiner Mandantin ›austüftelt‹,380 ist Dr. Mrak in der fiktionalen Realität darum bemüht, gegen bestimmte Personen etwas ›zusammenzuzimmern‹ (vgl. GW 191), ja diese »zum Schwei-
379 H. Böttiger, Der Untergang des Hauses Suhrkamp. 380 Siehe die Formulierung bei H. Böttiger, Der Untergang des Hauses Suhrkamp.
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gen« (GW 136) zu bringen. Das probate Mittel heißt hier wie dort »Klageandrohung« (GW 119) und weitet sich sowohl im Text als auch in der medialen Realität als »Um-sich-Schlagen« (GW 181) der jeweiligen Verlegerin aus. Zusammen mit Günter Berg geht auch Thorsten Ahrend, der allseits hoch geachtete Lektor für deutsche Gegenwartsliteratur. [...] Ebenso Georg Rieppel, der bei C.H. Beck ein gerühmter Vertriebschef gewesen und für diesen Bereich in die Suhrkamp-Geschäftsführung geholt worden war. Auch die Leiter von edition suhrkamp und Suhrkamp-Wissenschaft sowie andere langjährige Mitarbeiter gehen.381
Die von Böttiger parataktisch in Szene gesetzten »Säuberungen« (GW 183) des Verlags durch die Verlegerin lassen im Zusammenspiel mit der ganzen Wahrheit das Bild einer Verlagsleitung entstehen, die vor keinem Mitarbeiter halt macht: »[E]s begann mit dem Dienstmädchen und endete Jahre später mit mir« (GW 183). Und tatsächlich müssen nicht nur Verlagsmitarbeiter gehen. Zu der bis weit in die 2000er Jahre hinein beobachteten »Unruhe« 382 bei Suhrkamp zählt schließlich auch der Rücktritt des Stiftungsrats um Enzensberger und nicht zuletzt der Verlust von namhaften Autoren wie Martin Walser, Daniel Kehlmann, Imre Kertész oder Katharina Hacker.383 Dass es offensichtlich nicht aubleiben kann, die so in Anschlag gebrachte Kritik an Führungsstil und Programmarbeit Berkéwiczs im Modus »uralte[r] Männerphantasien« 384 spezifisch auf Person und Geschlecht der Autorin zu beziehen, verdeutlicht insbesondere der folgende Abschnitt aus einem Artikel von Ijoma Mangold, der im Oktober 2003 aus Anlass der Übernahme der Verlagsleitung durch Berkéwicz in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist und der in der weiteren feuilletonistischen Debatte immer wieder zitiert wird. Mangold sieht den Aufstieg Berkéwiczs als Verlegerin überaus kritisch. Schon deshalb, weil Ulla Berkéwicz bisher nichts vorzuweisen hat, was sie als kompetente Verlagsleiterin auswiese. 1951 als Ursula Schmidt in Gießen geboren, war sie in jungen Jahren Schauspielerin. Auch wie sie ihre jüngste Rolle als Witwe ausfüllt, hat etwas Theaterhaftes: Wie eine griechische Tragödin in schwarzen Gewändern und mit bleich geschmicktem Gesicht, voller Pathos und mit Bühnenstimme zelebriert sie das Gedenken an Unseld als quasireligiöses Weihespiel. In den achtziger Jahren hatte sie sich der Literatur zugewandt und angefangen, Bücher zu schreiben, die bei der Kritik auf geteiltes Echo
381 H. Böttiger, Der Untergang des Hauses Suhrkamp. 382 Ijoma Mangold: Was steckt in Suhrkamps Umzugskartons? In: Die Zeit vom 26. November 2009. 383 Siehe für viele Elisabeth von Thadden: »Der Verlag muss sich neu erfinden«. Ein Gespräch mit dem Soziologen Ulrich Beck und Stellungnahmen anderer prominenter Autoren. In: Die Zeit vom 7. Januar 2006. 384 F. v. Lovenberg [Interview].
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stießen; schließlich heiratete sie Siegfried Unseld. Wenig später kam der Bruch mit seinem Sohn Joachim. Esoterische und okkultistische Züg werden ihr nachgesagt, was mit der aufklärerischen Tradition des Suhrkamp Verlages eine bizarre Mischung eingeht. Ihr Machtbewusstsein sollte man trotzdem nicht unterschätzen.385
Mangolds Artikel ist Teil jener, von der feuilletonistischen Gegenseite als »Rufmörder« 386 bezeichneten Stimmen, die sich mit ihrer Kritik »aufs misogyne Prinzip« 387 konzentrieren. Der Literaturkritiker bezieht seine Bedenken an der Illegitimität der Verlagsleitung – Motto: »Hätte Unseld ihr die Aufgabe anvertrauen wollen, hätte er entsprechend Vorsorge getroffen.« 388 – und der damit einhergehenden Selbstinszenierung Berkéwiczs dezidiert auf deren Person, ja beschreibt diese »als die nervige Witwe von Siegfried Unseld«.389 Die Vermutung, die Karriere der Verlegerin sei vor allem als »Aufstieg durch die Betten ihrer Förderer« 390 zu beschreiben, begleitet die feuilletonistische Auseinandersetzung mit Berkéwicz spätestens seit ihrer Heirat mit dem Suhrkamp-Verleger. Eine besondere Konzentration findet dieses Klatschkonglomerat in der literaturkritischen Rezeption von Berkéwiczs Engel sind schwarz und weiß von 1992, wie eine kurze Zeitungsmeldung im anekdotischen Modus über den Umgang des Suhrkamp-Verlags mit dem Manuskript von Ruth Klügers weiter leben verdeutlichen mag. Einhelliges Kritiker-Lob für einen Erstling: Mit »weiter leben«, den Erinnerungen an ihre Jugend im KZ (Wallstein Verlag, Göttingen; 288 Seiten; 38 Mark), habe die Wiener Jüdin Ruth Klüger [...] neue Maßstäbe gesetzt. Ihre Sprache, schrieb die FAZ, gehöre »zum besten Wienerisch, das je in deutsche Prosa gekleidet wurde«. Das hatte der Suhrkamp Verlag zuvor offenbar anders gesehen: Verleger Siegfried Unseld retournierte das Manuskript mit der Bemerkung, das Werk genüge nicht den »literarischen Ansprüchen« seines Hauses. Nur ein Malheur des Lektorats? In der Branche kursieren Gerüchte, das eine pikantere und zudem logische Erklärung bietet: Unseld-Gattin und Schriftstellerin Ulla Berkéwicz soll ihr Veto gegen die Klüger-Memoiren eingelegt haben. Wohl um zu verhindern, daß »weiter leben« ihrem eigenen, bemühten Nazi-Zeit-Epos »Engel sind schwarz und weiß«, einem der meistbeworbenen Suhrkamp-Titel des vergangenen Jahres, Konkurrenz macht.391
385 Ijoma Mangold: Im Profil. Ulla Berkéwicz. Schauspielerin, Schriftstellerin und VerlegerWitwe. In: Süddeutsche Zeitung vom 20. Oktober 2003. 386 U. Posche, S. 116. 387 U. Posche, S. 116. 388 Ulrich Greiner: Unselds Erbe. In: Die Zeit vom 23. Oktober 2003. 389 Stephan Lebert: Schriftstellerin und Verlegerin, 54. In: Nervensägen? 12 Plädoyers für ungewöhnliche Frauen. In: Die Zeit vom 1. Oktober 2008. 390 U. Posche, S. 116. 391 Monopol für die Engel? In: Der Spiegel 5 (1993).
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Und tatsächlich erfährt Engel sind schwarz und weiß eine außerordentlich große feuilletonistische Resonanz, wobei die literaturkritischen Stimmen »heftig und diametral gespalten« 392 sind, ja zwischen ›Bewunderung und Verwerfung‹, ›Faszination‹ und ›Widerwillen‹ changieren. Führt Berkéwiczs Versuch, eine möglichst »distanzlose Darstellungsform« 393 zu realisieren, dazu, dass sich der »als Verfremdung« 394 angelegte Zitat-Charakter des Romans in einer »Flut manchmal unerträglich schwülstig oder kitschig wirkender Sprache« 395 verliert, überziehen Teile des Feuilletons den Roman mit einer »Häme«,396 die sich nicht zuletzt auf die besondere Beziehung der Autorin zum Verleger beruft. Ein besonders eindringliches Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Besprechung Peter Stolles im Spiegel, weist der Literaturkritiker doch Engel sind schwarz und weiß in einer besonders drastischen Semantik als »extraordinäre[n] Pflegefall im Literaturbetrieb« 397 aus. Berkéwicz-Werke liegen Unseld naturgemäß besonders am Herzen. Und Suhrkamp-Autoren, die dem herrschenden Siegfried erotisch nicht so nahestehen, klagen schon mal über deutliche Präferenzen im Werbe-Etat für die Kollegin Ulla.398
Dass Verleger Unseld im Fall von Engel sind schwarz und weiß ganz offensichtlich die »Gelegenheit zu tätiger Gattenliebe« 399 nutze, zeigt sich Stolle zufolge in der mangelnden literarischen Qualität des Romans, ja anders ließe sich die Publikation des Romans schlicht nicht erklären. Erzitterungen suchen stoßweise auch den tolerantesten Berkéwicz-Leser heim, der im Nebel dieser wabernden Großraum-Prosa nach Luft ringt. In Schwulst und Bombast versinkt das ernste Thema, Massenwahn und Millionenmord des Nazi-Terrors. Hinterm aufgeblasenen Mythos verschwindet die grausame Realität. Distanzlos berauscht sich Ulla Berkéwicz an der Sprache, die sie doch eigentlich karikieren und entlarven will, und endet lächerlich im spätexpressionistischem Kitsch.400
392 Heiko Postma: Prinzip Empathie. Zu Ulla Berkéwicz’ Geschichten und dem Roman »Engel sind schwarz und weiß«. In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung (1993), Nr. 1, S. 70–80, hier S. 75. 393 Joachim Garbe: Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten der neunziger Jahre. Würzburg 2002, S. 160. 394 H. Postma, S. 80. 395 J. Garbe, S. 160. 396 J. Garbe, S. 168. 397 P. Stolle, Völkischer Bettnässer. 398 P. Stolle, Völkischer Bettnässer. 399 P. Stolle, Völkischer Bettnässer. 400 P. Stolle, Völkischer Bettnässer.
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Wichtig ist Stolles Besprechung in zwei Hinsichten. Erstens verwendet sie eine Semantik, auf die auch Die ganze Wahrheit zur Beschreibung von Dagmars literarischen Texten zurückgreift. So wie Stolle von ›Erzitterungen‹, ›wabernder Großraum-Prosa‹, ›aufgeblasenem Mythos‹ oder ›spätexpressionistischem Kitsch‹ spricht, so ist in Gstreins Roman bereits mit Blick auf Dagmars Burgtheaterinszenierung vom »Tier der Apokalypse« (GW 162) und »bösen Geistern und Dämonen« (GW 164) die Rede, die auf den Ich-Erzähler als »avantgardistische Zwanghaftigkeit« (GW 165) wirken. Zweitens ist die Spiegel-Rezension Teil einer literaturkritischen Auseinandersetzung um Berkéwicz, an deren anderem Ende sich insbesondere der Essayist Tilman Moser platziert. Dessen bei Piper erschienener Essay Hexenjagd (1993) versteht sich explizit als Verteidigung der Autorin gegenüber solchen Rezensionen wie die von Stolle. Moser, selbst Suhrkamp-Autor, sichtet »knapp hundert Rezensionen des Romans von Ulla Berkéwicz«,401 um die Ursache des »Chor[s] der Verrisse« 402 zum einen in der »wissende[n] Weiblichkeit«,403 die die Autorin auf Männer ausstrahle, und zum anderen in der »politisch-moralische[n] Gefährlichkeit« 404 des Romans zu bestimmen. Die aggressive und gereizte Resonanz, auf die Engel sind schwarz und weiß im Feuilleton gestoßen sei, deutet der Autor psychoanalytisch als »verzweifelte Abwehr eines ›Faschismus in uns‹«.405 Bei den ablehnenden Besprechungen handele es sich mithin letztlich um »heftige[ ] Selbstschutzreaktionen«,406 die der selbstreflexiven Collagetechnik des Romans nicht gerecht würden, ja es an »Problembewußtsein« 407 mangeln ließen. Dass Spiegel-Autor Stolle als unter anderen Angegriffener auf Mosers Analyse mit einer Replik reagiert, bleibt nicht aus. In einer Ausgabe des Spiegels von 1994 antwortet Stolle unmissverständlich: Verdruß und wütende Erzitterungen befielen folgerichtig den Berkéwicz-Fan, als er entdeckte, wie die Medien mit seinem verehrten Posaunen-Engel umgingen. Und nach der Lektüre von »drei Pfund Rezensionen« beschloß Moser, ein gemeinhin besonnener Universitätsdozent, Essayist und Suhrkamp-Autor, der »Frau meines Verlegers« beizustehen und die kritischen Nattern an Ullas Busen zu züchtigen.408
401 Tilmann Moser: Literaturkritik als Hexenjagd. Ulla Berkéwicz und ihr Roman »Engel sind schwarz und weiß«. Eine Streitschrift. München u. Zürich 1994, S. 105. 402 T. Moser, S. 78. 403 T. Moser, S. 72. 404 T. Moser, S. 81. 405 T. Moser, Text auf der Klappeninnenseite. 406 T. Moser, S. 128. 407 T. Moser, S. 108. 408 Peter Stolle: Nattern an Ullas Busen. In: Der Spiegel 15 (1994).
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Und tatsächlich ist es wiederum das semantische Feld dieser Beobachtungspassage, die sich Gstreins ganze Wahrheit zu eigen macht. Dort ist es strukturanalog Martin Hakula, der »sich jetzt [...] über die Behandlung von Dagmar in der Presse [empört; DCA]« (GW 175). Wenn dann auch noch »[d]as Wort ›Hexenjagd‹ fiel« (GW 175), reichert sich der Text wiederum mit einem Partikel der ›Suhrkamp-Konstellation‹ an, hat so doch nun auch Hakula/Moser im performativen Sinne »seinen kleinen Auftritt gehabt und [...] [kann; DCA] formvollendet und schwanzwedelnd wieder ab[gehen]« (GW 175). Bemerkenswert ist die Rezeption von Engel sind schwarz und weiß aber noch in einer anderen Hinsicht. Mit den zwischen Moser und Stolle angelegten Auseinandersetzungen ist nämlich jene mit Berkéwicz verbundene ›Esoterik‹ angesprochen, die auch Die ganze Wahrheit zur Charakterisierung Dagmars in mehreren Hinsichten nutzt.409 So motiviert der Text das Handeln der Autorin und Verlegerin durch einen Motivkomplex, den der Ich-Erzähler als »Dagmars mystische[ ] Anwandlungen« (GW 29) bezeichnet. Die »merkwürdigen Anschauungen« (GW 32) der Verleger-Witwe, die auf »Zahlenmystik« (GW 210) »Sexualesoterik« (GW 140), »Davidsstern und Satanszeichen« (GW 78) basierten, verbinden in einem Konglomerat aus »Aberglauben« (GW 147) und »Zauberspielchen« (GW 244) eine »märchenhafte[ ] Unwirklichkeit« (GW 207) mit einer Form von »Privatkabbala« (GW 109). Die dadurch erzeugte »Atmosphäre von Unwirklichkeit« (GW 249), die die »illusionswillige Dagmar« (GW 206) umgebe, entwerfe eine das Handeln der Verleger-Witwe bestimmende »Parallelwelt« (GW 148). Dass dieser Motivkomplex auch die ›Suhrkamp-Seifenoper‹ bestimmt, zeigt besonders eindringlich die feuilletonistische Berichterstattung über die Frankfurter Gedenkveranstaltung aus Anlass des ersten Todestages Siegfried Undelds im Oktober 2003. Ist dabei von Berkéwicz als der »schwarzmagische[n] Hüterin der Suhrkamp-Tradition« 410 die Rede, deren »Verhältnis zum Okkultismus [...] ungeklärt« 411 sei, so entwerfen Teile des Feuilletons ein Bild der Verleger-Witwe, das den im selben Zug diagnostizierten Niedergang der ›SuhrkampKultur‹ an die spezifische Inszenierungspraxis Berkéwiczs bindet, mit der die
409 Siehe auch das dem Text vorangestellte Motto: »Wer Verstand hat, berechne die Zahl des Tieres! / Denn es ist eines Menschen Zahl; / und seine Zahl ist 666. / Offenbarung 13, 18–19« (GW unpaginiert). Hierbei handelt es sich nicht nur um ein Bibelzitat, sondern auch um eine intertextuelle Anspielung auf Berkéwiczs Engel-Roman. siehe Hahn. Vgl. Hans-Joachim Hahn: Repräsentationen des Holocaust. Zur westdeutschen Erinnerungskultur seit 1979. (Probleme der Dichtung 33) Heidelberg 2005, S. 206. 410 W. Freund u. U. Wittstock. 411 Joachim Güntner: Suhrkamps Machtfrage. In: Neue Zürcher Zeitung vom 18. Oktober 2003.
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Autorin ihre Position innerhalb des literarischen Systems markiert und sichtbar macht. So weiß etwa Gerrit Bartles zu berichten: Ansonsten aber hat diese Gedenkfeier für den im vergangenen Oktober verstorbenen Suhrkamp-Verleger sehr viel Außerordentliches, Hochgeweihtes und Überirdisches: eine literarische Totenmesse, eine zweistündige, feierliche Andacht für die letzte große Überfigur des deutschen Verlagswesens, den »Verlegertitan« (Roth), den Patriachen, den Übervater, an den höchstwahrscheinlich in diesem Leben kein Verleger mehr herankommen wird.412
Das Feuilleton konstruiert auf diese Weise einen Gegensatz zwischen Berkéwiczs »hohepriesterliche[m] Auftreten vor grossem Publikum« 413 sowie den Interessen und Anliegen der durch Unseld ehemals repräsentierten Verlagskultur. Von Relevanz ist dies insofern, als sich Gstreins Roman auch hier dezidiert bei den feuilletonistischen Beschreibungen Berkéwiczs zur Figurencharakterisierung bedient. Während in Zusammenhang mit dieser »von spiritistischen Neigungen der Verlegerin, von ›Hexen‹, deren sie sich angeblich bediene, von Verlagsbesprechungen, bei denen sie ans Fenster gehe, dort eine Weile verharre, zum Konferenztisch zurückkomme und fortfahre: ›Siegfried sagt …‹« 414 die Rede ist, so weiß auch der Ich-Erzähler im Roman von einer mehr als »esoterisch« (GW 82) interessierten Figur zu berichten. So beziehe sich Dagmar auf Elemente »religiös-kultischer und astronomischer Bedeutung[en]« (GW 221), ja die Verlegerin werde »unlauterer Praktiken [...] verdächtig[t]« (GW 248–249) und andere würden gar »von einer schwarzen Messe [...] sprechen« (GW 249). Der Ich-Erzähler selbst weiß diese Praxis wie folgt zu kommentieren: Das Paradoxe daran war, dass sie damit selbst erst das Zwielicht erzeugte, das über den letzten Wochen und Monaten im Leben ihres Mannes liegt. Es wäre wahrscheinlich niemand auf die Idee gekommen, sie unlauterer Praktiken zu verdächtigen, von einer
412 Gerrit Bartels: Gedenkfeier für Siegfried Unseld. In: Die Tageszeitung vom 10. Oktober 2003. 413 J. Güntner. 414 Wolfgang Büscher: Wolle mer se reilasse? In: Die Zeit vom 7. Dezember 2006. Berkéwicz selbst kommentiert solche Darstellungen wie folgt: »Es kommt vor, dass ich bei wichtigen Entscheidungen einen Moment nachdenken muss, und es kommt vielleicht auch vor, dass ich dabei mal aus dem Fenster schaue, in die Lindenbäume der Lindenstraße. Es kommt auch vor, dass ich auf Koeppens Phantasieross durch den Weltraum galoppiere. Und es kommt sogar vor, Sie werden sich wundern, dass ich dann manchmal an meinen Mann denke. Die neuen Mystiker, wie der Physiker Tipler, der Kybernetiker Gelernter, der KI-Forscher Moravec, haben ihre Kirche auf denselben Fels gebaut, aus dem unsere Bücher sind, auf Vorstellungskraft.« Volker Hage u. Mathias Schreiber: »Ich kenne die Arbeit im Maschinenraum«. Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz über die Zukunft ihres Verlages. In: Der Spiegel 44 (2003).
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schwarzen Messe zu sprechen oder was auch immer es gewesen sein mag, das man ihr vorwarf, wenn sie nicht mit ihrer Art, darüber zu reden, erst den Nebel erzeugt hätte. Ich bin sicher, es begann schon mit der Sprache oder, noch bevor sie etwas gesagt hatte, mit ihrem Seufzen, mit ihrem »aj« und »oj« und »oj, oj, oj«, die diese Atmosphäre von Unwirklichkeit erzeugten. (GW 248–249)
Und tatsächlich trägt auf der anderen Seite auch Berkéwicz dazu bei, dass das Feuilleton sie als der ›Esoterik‹ zugewandt bezeichnet. So wird unter ihrer Leitung nicht nur 2007 der Verlag der Weltreligionen gegründet, um religiöse Schriften mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu konfrontieren, »etwa jenen, die von unsichtbarer Antimaterie und rätselhaften Parallel-Universen handeln.« 415 Auch in Essays betont die Verlegerin wiederholt die Bedeutung von Wissen jenseits der Naturwissenschaften. In einem 2009 erschienenen Artikel über die Bedeutung religiöser Schriften für die Gegenwartsliteratur heißt es etwa: Über das Wissen der großen Eingeweihten, des Rama, Krishna, Buddha, Konfuzius, Zoroaster, Hermes, das des semitischen Häuptlings Abraham und das des Moses, Orpheus, Jesus, von dem es heißt, es sei Magie gewesen. Magie, heißt es, sei wie die Mathematik aus sich selbst, sei die höchste Vernunft, sei das absolute Wissen von der Natur und ihren Gesetzen, die Mutter jeder Wissenschaft, die Matrix aller Religion und Dichtung.416
Die ganze Wahrheit transformiert diese esoterischen Elemente einer »Privatkabbala« (GW 109) nicht zuletzt in eine Produktionsästhetik Dagmars, wenn diese sich nicht nur einen »Schreibpavillon« (GW 47) einrichtet, der »fein austariert nach Sonne, Mond und Sternen« (GW 47) ist. Die Verlegerin sehe schlicht »alles, was sie mache, als offenes Experiment mit Körper und Seele, und was sich davon auf dem Papier niederschlage, sei eine eigene Realität, aber deshalb natürlich nicht weniger wirklich« (GW 143).
5.2.4 Literarischer Realismus in Intervallverschachtelung Mit den durch Figurenkonstellation und Handlungsanlage überformten intertextuell-literaturprogrammatischen Bezügen zu Ulla Berkéwicz’ Überlebnis greift Die ganze Wahrheit auf konventionelle Schlüsselstrategien zurück, die Referenzialisierungen der fiktionalen auf die reale Realität als zwischen Text
415 Mathias Schreiber: Die Reise ins Licht. In: Der Spiegel 15 (2007). 416 Ulla Berkéwicz: »Es heißt, es sei Magie gewesen«. Über die Bedeutung religiöser Schriften für die Gegenwartsliteratur. In: Cicero Online vom 15. September 2009. http://www.cicero.de// salon/es-heisst-es-sei-magie-gewesen/44809 (02. 02. 2012).
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und Paratext oszillierende ›Suhrkamp-Seifenoper‹ umsetzen. Seinem damit provozierten Abdriften in die sekundären Formen literarischer Kommunikation um 2000 steuert der Text gleichwohl dezidiert entgegen: und zwar – erstens – über die innerdiegetische Thematisierung von Schlüsselverfahren durch den Ich-Erzähler, zweitens über den Rückgriff auf eine Semantik, die die histoire der ganzen Wahrheit als eine durch sprachlich-literarische Konstruktionen erzeugte ausweist, und (drittens) über das gezielte Unterlaufen der gesetzten Schlüsselstragien durch kontrastive Figurenzeichnungen. Zunächst macht Die ganze Wahrheit das Verfahren der Verschlüsselung selbst zum Thema ihrer histoire. Nicht nur kommt der Ich-Erzähler wiederholt auf Dagmars »Anspielungen« (GW 194) und die in Anabel Falkners literarischen Texten »nicht schwer entschlüsselbare[n]« (GW 112) Figuren zu sprechen, um an anderer Stelle – darin vergleichbar mit Bodo Kirchhoffs Erinnerungen an meinen Porsche – darauf hinzuweisen, er müsse es auch selbst bei eher »kryptischen Andeutungen« (GW 136) belassen. In den Text sind zudem immer wieder Passagen eingebaut, in denen der Ich-Erzähler die »Darstellung« (GW 9) seines Erzählens legitimiert und damit reflektiert. Als Legitimation fungieren diese Digressionen insofern, als der Ich-Erzähler bemerkt, die Möglichkeit, durch Schlüsselverfahren »Spuren zu verwischen« (GW 9), sei unter Rezeptionsgesichtspunkten schlicht unnötig. Nicht nur verzichte er deshalb auf derartige »Kindereien« (GW 9), um dem »Vorwurf einer plumpen Täuschung« (GW 9) zu entgehen. Die »Kenner« (GW 180) der Umstände in Glücks Verlag wüssten ohnehin, »wie es war, oder können es sich zumindest gut vorstellen« (GW 119). In dieser Hinsicht gebe es trotz eines etwaigen verhüllenden Schlüsselverfahrens letztlich »keinen Zweifel« (GW 10), von wem die Rede sei. Und so ist Wilfried schließlich auch »froh« (GW 260), als es in Glücks Nachlass »nichts aufzudecken gab beziehungsweise dass alles schon aufgedeckt war« (GW 260). Benennt er damit gleichsam das Programm seiner eigenen Form, ist der »kleine[ ] Rachefeldzug« (GW 299) des Lektors, wie ihn Broser nennt, gleichwohl – zweitens – in eine Semantik proto- oder semiliterarischer Formen eingelassen, die deren »literarisches Potential« 417 dazu nutzt, die durch die histoire thematisierten Zusammenhänge um Dagmar und Glück als auf narrativen Verfahren und damit auf Konstruktionen des Erzählers und/oder der Figuren basierend zu relativieren. Der Roman entwirft ein »sprachliches Labyrinth des Irrealis«,418 das mithilfe »rhetorische[r] Wendung[en]« (GW 300) auf der inner-
417 Gerhard Kurz: Klatsch als Literatur, Literatur als Klatsch. In: Wolfgang Braungart (Hg.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 112) Tübingen 2002, S. 71–82, hier S. 78. 418 So die Formulierung in der Besprechung von H. Winkels, Voodoo-Dagmar.
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fiktionalen sozialen Makro- wie Mikro-Ebene sprachliche Komplexe von allerhand »Nachrede« (GW 293) und »Gerede« (GW 136) entfaltet. So wird nicht nur der Literaturbetrieb vom Ich-Erzähler als »Boulevard« (GW 190) bezeichnet, der als literarisch-kultureller »Stammtisch[ ]« (GW 35) die »Klatschspalten« (GW 120) und »bunten Blätter[ ]« (GW 11) bediene. Hinzu kommen »kalenderspruchhafte[ ] Bonmots« (GW 119), »Gerücht[e]« (GW 48), »Mutmaßungen, [ ] unbewiesene[ ] Behauptungen und unausgesprochene[ ] Halbwahrheiten« (GW 180). Die auf diese Weise als vielfältig ausdifferenzierte »Rede« (GW 10) präsentierte fiktionale Realität leitet die Schlüsselstrategien nicht nur über in ein intertextuelles Verhältnis zu dem feuilletonistischen ›Klatsch‹ um Berkéwiczs ›Machtübernahme‹ im Suhrkamp-Verlag. Den Effekten als solchen wird zudem ihr Schlüsselcharakter gleichsam entzogen, weil ihnen Gstreins Roman den Status unbestimmter Konstruktionen von Figuren der fiktionalen Realität zuweist. Hieran unmittelbar anknüpfend werden die Schlüsseleffekte schließlich (drittens) durch solche Passagen unterlaufen, in denen die an anderen Stellen gezielt gesetzte Mimesis der Figurenzeichnung mit gegenläufigen Charakterisierungen oder leichten Verschiebungen relativiert, ja konterkariert wird. Dass die Figur Dagmar doppelt konnotiert ist, der Text durch besondere Merkmale mithin Referenzialisierungen auf Ulla Berkéwicz nahelegt, stellt Gstreins Roman andernorts nicht weniger dezidiert in Frage. So gibt etwa der Ich-Erzähler seinem Erstaunen darüber Ausdruck, dass es Einigkeit nicht einmal über ihr [Dagmars; DCA] Äußeres gab, und ich hatte nach dem Fest von »eine außergewöhnliche Person« bis zu »Hoffentlich weiß der Alte, wen er sich da ins Haus holt« das ganze Spektrum gehört, aber auch überdrehte Beschreibungen, die allen Ernstes von einer »blonden Lockenpracht« bis zu »schwarz wie eine Zigeunerin« reichten [...]. (GW 46)
Dass in der fiktionalen Realität des Textes nicht nur der Name »Gstrein« (GW 92) auf einem Grabstein in der österreichischen Provinz zu finden ist, sondern sich am Ende gar der Ich-Erzähler an ein Treffen mit dem ›ganz realen‹ »Siegfried Unseld« (GW 302) erinnert, von dem eigentlich anzunehmen war, er verberge sich ›hinter‹ der Figur Heinrich Glücks, trägt ebenso dazu bei, den Versuch, das Schlüsselverfahren konsequent und ungebrochen durchzusetzen, ins Leere laufen zu lassen. Dass Die ganze Wahrheit die durch das Schlüsselverfahren erzeugten Realitätseffekte der ›Suhrkamp-Konstellation‹ auf diese Weise in einen innerfiktionalen, selbstreflexiven Rahmen einlässt und damit in dezidiert literarische Kontexte einbindet, ist im Falle Gstreins geradezu erwartbar. Das Autorenla-
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bel 419 des »gelernten Mathematiker[s] Gstrein« 420 steht, wie nicht zuletzt die literaturkritische wie literaturwissenschaftliche Rezeption der englischen Jahre und des Selbstportraits mit einer Toten zeigt, für literarische Texte, deren Literarizität insbesondere über die Zuschreibung von spezifisch konstruierter Selbstreflexivität erzeugt wird. Die literaturkritische Rezeption der ganzen Wahrheit hebt denn auch bei allen Unterschieden in der Bewertung zumindest eines hervor: dass nämlich Gstreins Roman auf einem hochgradig reflektierten Erzählgerüst basiere.421 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund stellt sich jedoch die Frage, ob es gewinnbringend ist, wiederum nur den vermeintlich oder tatsächlich reflektieren Verschachtelungen des Romans zu folgen. Vielversprechender mag es sein, gegen die üblichen Selbst- und Fremdbeschreibungen Gstreins zu fragen, wie der Text trotz aller selbstreflexiven Absicherungen ganz offensichtlich solche Rückbindungen an die reale Realität nahelegt, die gerade nicht durch die innerfiktional aufgefangenen, von der literaturkritischen Rezeption immer wieder thematisierten Schlüsseleffekte provoziert zu werden scheinen.422 Der Roman, so steht zu vermuten, ist vielmehr Teil einer spezifisch angelegten »Intervallverschatelung« (GW 154), die reale und fiktionale Realität einerseits scharf voneinander trennt, andererseits aber gleichwohl immer auch aneinander bindet. Mit anderen Worten, mit und gegen die erklärten Absichten des Autors, wie sie in Interviews zum Ausdruck kommen, ja diese gleichsam mit in die Selbstprogrammierung einbeziehend, löst Die ganze Wahrheit einen »Rückkoppelungseffekt« (GW 203) zwischen ›Fakten‹ und ›Fiktionen‹, primären und sekundären literarischen Formen aus, dessen Verfahren nachzugehen ist. Gekoppelt an Dagmars Buch über das Sterben Heinrich Glücks steht im Zentrum des Romans die vom Ich-Erzähler betriebene Desillusionierung des Wahrheitsanspruchs der Verlegerin. Ist Dagmar durch die Semantik des Religiös-Esoterisch-Kultischen bereits ohnehin mit subjektiv-irrationalen Vorstellun-
419 Dies im Sinne von Dirk Niefanger: Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer). In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. (Germanistische Symposien 24) Stuttgart u. Weimar 2002, S. 521–539. 420 J. Drynda, S. 244. 421 Siehe nur das Ergebnis der ausführlichen Besprechung von J. Encke, Denk nicht an Suhrkamp. 422 Weniger bedeutsam ist in diesem Zusammenhang im Übrigen der Rückgriff auf Partikel aus der realen Realität, die der Text mit durchaus real existierenden Personen (etwa Karl Krauss, Robert Walser, Mussolini, vgl. GW 14, 129 bzw. 125), Insitutionen (wie die Volkshochschule, vgl. GW 130) oder der Ort Wien in die Narration einbaut. Schon allein quantitativ fallen diese Realitätssplitter wenig ins Gewicht.
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gen von Wirklichkeitskonstruktionen konnotiert, strukturiert den Text eine binäre Opposition, die zwischen der »innere[n] Wahrheit« (GW 83) der VerlegerWitwe zum einen und der im Rahmen der fiktionalen Realität als »Wirklichkeit« (GW 255) markierten Realität zum anderen differenziert. Ich hatte Dagmars Drang zur Bereinigung ihrer eigenen Biographie und der ihres Mannes nie verstanden und war jetzt bestürzt zu sehen, was alles in seinem Leben sie mit ihrer Aussortierung ungeschehen machen wollte. Ich konnte nur staunen über diese Unverfrorenheit und dieses Vermögen oder wie man es nennen will, diese Skrupellosigkeit, sich die Welt nach den eigenen Wünschen zurechtzuinterpretieren. (GW 21)
Weniger die hier einmal mehr zum Ausdruck gebrachte moralische Abwertung der Verleger-Witwe ist im vorliegenden Zusammenhang von Interesse. Wesentlich ist vielmehr die damit einhergehende Qualifizierung von Dagmars Handeln als ›Bereinigung‹ und ›Aussortieren‹. Angesprochen ist damit nämlich eine Beobachtungsdirektive des Ich-Erzählers, die zwischen einer realen Realität und einer inszenierten, fiktionalen oder ›zurechtinterpretierten‹ Realität differenziert. Mit dem Anspruch, »das Andenken von Heinrich Glück vor ihr [Dagmar; DCA] in Schutz zu nehmen« (GW 20), schreibt der Ich-Erzähler sich nicht nur eine moralische Überlegenheit gegenüber der Verleger-Witwe zu; er positioniert sich zudem gleichsam an der Schnittstelle zwischen den Realitätskonstruktionen Dagmars und den ›tatsächlichen‹ Gegebenheiten. Anhand des so erzeugten Gegensatzes behauptet der Ich-Erzähler, dass die von Dagmar »inszenierte[n]« (GW 118) Realitätsbilder einer »unsichtbaren Erfahrung« (GW 141) entsprängen, mithin gerade nicht auf eine reale Realität referierten. Das erklärte Movens des Erzählens ist vor diesem Hintergrund die Desillusionierung oder Entlarvung von Dagmars »Glauben an die Wahrheit« (GW 116) als bloße Illusion oder Inszenierung, das heißt als Produkt ihrer subjektiven Perspektive. Über den gesamten Text hinweg bemüht sich der Ich-Erzähler denn auch darum, die mit Dagmar kontinuierlich assoziierte »Wahrheit« (etwa GW 24, 45, 59, 117, 181, 207, 233 und öfter in Kombinationen) oder »Wirklichkeit« (etwa GW 30, 83 und öfter) als einen »faule[n] Zauber« (GW 45) herauszustellen, der lediglich auf ihrer »innere[n] Wahrheit« (GW 30) beruhe. Umgesetzt wird diese Desillusionierungsgeste syntaktisch meist durch die in adversativer Funktion gebrauchte, nebenordnende Konjunktion ›aber‹ – nach dem Modell »aber die Wahrheit ist doch« (GW 59) – oder durch funktionale Äquivalente wie den Ausdrücken »in Wirklichkeit« (GW 226), »nichts davon ist wahr« (GW 156) und »[i]n Wahrheit« (GW 103). Das Realitätsbild der »hundertmal desillusionierte[n], aber immer noch stur illusionswillige[n] Dagmar« (GW 206) wird vom Erzähler zur »märchenhaften Unwirklichkeit« (GW 207) erklärt. Auf der anderen Seiten vertritt der Ich-Erzähler mit Blick auf sein eigenes Erzählprojekt den Anspruch, sich »nach bestem Wissen an die Tatsachen zu
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halten« (GW 17). Der Betonung, »keine literarischen Ambitionen« (GW 17) zu hegen, korrespondiert der Verzicht auf literarisch-künstlerische »Ausschmückungen« (GW 10), die die tatsächlichen Umstände nur verstellten. Dass Die ganze Wahrheit das »Gegenprogramm« (GW 258) des Ich-Erzählers, ein möglichst realistisches Erzählen zu verfolgen, durch eine Reihe von Realitätseffekten umsetzt, verdeutlicht eine längere Passage gegen Ende des Romans. Man wird hoffentlich verstehen, dass ich mir nicht den Kopf darüber zerbrach, ob ich schlecht über Dagmar redete, als ich wenige Tage später mit meinen Aufzeichnungen begann. Da ging es mir vor allem darum, mir selbst klarzumachen, was eigentlich geschehen war, und ich dachte nicht an eine spätere Veröffentlichung, dachte nicht an Dr. Mrak und seine Winkelzüge. Was ich aufschrieb, war, wie auch nicht, meine Sicht der Dinge, gesehen aus der Position dessen, dem Dagmar auf ihre Art mitgespielt hatte, was auch immer meine eigene Rolle dabei gewesen sein mochte. Ich wollte keine Kunstwelt schaffen, und erst seit ich angefangen habe, die Blätter zu ordnen, die größeren und kleineren Textinseln meiner Erinnerung zu einer Geschichte zu verbinden, erst seit ich mir vorstellen kann, dass es am Ende wohl ein Buch wird, und ich mir schon ausmale, dass es natürlich drei mal sechs Kapitel haben müsste, in perfekter Entsprechung von Inhalt und Form, oder aus Aberglauben lieber drei mal sieben, gebe ich mich auch anderen Fragen hin. Ich bin dann geneigt, noch einmal und noch einmal über die Bücher zu gehen, wie man so sagt, aber immer, wenn ich etwas streichen will, was Dagmar in besonders unvorteilhaftem Licht zeigt, oder etwas Entlastendes, etwas Gewinnendes oder womöglich auch nur zu ihren Gunsten Abrundendes oder Ergänzendes hinzufügen, habe ich im Ohr, wie sie mich fragt, ob sie mir die ganze Wahrheit über mich sagen solle, und sofort weiß ich, dass ich mir den Zwang nicht antun kann. (GW 289)
Mit Blick auf den Ehrgeiz, »an Dagmars Sicht der Dinge eine kleine Korrektur anzubringen« (GW 299), ist diese Passage gleich in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich, ja an ihr lässt sich exemplarisch verdeutlichen, dass Gstreins Roman dezidiert auf nahezu das vollständige Verfahrens-Tableau von »konstitutive[n] Rahmenbedingungen und stiltypologische[n] Eigenschaften moderner ›realistischer‹ Literatur« 423 zurückgreift. Als Einstieg fungiert eine unbestimmte, gleichwohl direkte Leseransprache (›man wird hoffentlich verstehen‹), die die für realistisches Erzählen typische Polyperspektivität über das demonstrative Zeigen, dass und wie erzählt wird, entwirft. Daran anschließend reflektiert der Ich-Erzähler über seine eigene Erzählhaltung, relativiert diese als seine Perspektive (›meine Sicht der Dinge‹, ›Textinseln meiner Erinnerung‹) und ermöglicht durchaus realistische Einblicke in eigene Bewusstseinsprozesse (›mir nicht den Kopf darüber zerbrach‹, ›mir klar zu machen‹). Die histoire der gan-
423 Jürgen Link: ›Wiederkehr des Realismus‹ – aber welches? Mit besonderem Bezug auf Jonathan Littell. In: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie (2008), Nr. 54, S. 6–21, hier S. 12.
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zen Wahrheit erhält dadurch und in Kombination mit der Anlage als Ich-Erzählung nicht zuletzt einen »simuliert-autobiografischen« 424 discours. Darüber hinaus wird in der zitierten Passage betont, dass sich das Erzählen an den Tatsachen orientiere (›Dinge‹, ›was eigentlich geschehen war‹) und sich gegen literarisch-künstlerische Verfälschungen der Realität richte (›keine Kunstwelt‹). Die Digression unterbricht den Text mithin nicht nur, sie transformiert diesen auch in ein Dokument der Problematik, die Geschichte von Dagmars Illusionierungsprojekt aus nur einer Perspektive – der des Erzählers – zuverlässig zu erzählen. Benennt der Ich-Erzähler zudem Zeugnisse seines eigenen Schreibens (›Aufzeichnungen‹), mündet die Passage denn auch in einer sich anschließenden Schreib-Szene (vgl. GW 290–291). Spätestens an dieser Stelle stellt sich mithin heraus, dass das Buch, das dem realen Leser vorliegt, eben jenes ist, von dem der Ich-Erzähler seit beinahe 300 Seiten erzählt, so dass die Passage schließlich den Akt des Hineinkopierens der ganzen Wahrheit in die fiktionale Realität expliziert und diese damit wiederum als realistische markiert. Der literarische Realismus der ganzen Wahrheit erzeugt den Effekt von Realität also insbesondere durch ein Verfahren, so lässt sich an dieser Stelle vorläufig zusammenfassen, das darauf abzielt, Dagmars ›unrealistische‹ Welt durch den Ich-Erzähler als ›illusionär‹ zu entlarven. Denn im Umkehrschluss kann dem Resultat dieses Prozesses der Desillusionierung der »Status ›harter Realität‹« 425 zugeschrieben werden, wobei die so erzeugte Realität auf der Einsicht des Ich-Erzählers basiert, Wahrheit sei »eine Frage des Standpunkts« (GW 117). Dagmars im letzten Drittel des Romans exzessiv eingestreuter Anspruch, die »ganze Wahrheit« (GW 183, 186, 193, 197, 198, 258, 275, 284, 289 oder 300) über bestimmte Personen zu kennen und gegebenenfalls zu deren Ungunsten zu veröffentlichen (vgl. insbesondere GW 197), wird auf diese Weise nicht nur unterlaufen und als moralisch zweifelhaft ausgewiesen. Die Ironisierung des Ausdrucks durch seine paratextuelle Funktionalisierung nicht nur als Titel des Romans insgesamt, sondern auch des dritten Kapitels stellt gleichzeitig den Ich-Erzähler auf den ›festen Boden‹ der Realität. Zur Absicherung der so erzeugten Realitätseffekte dienen dem Text darüber hinaus das Respektieren historisch-zeitlicher (zum Beispiel bei der Klassifikation von Autoren, vgl. GW 124–126) und geographisch-räumlicher Gesetze (etwa Wien als Verlagsort, vgl. GW 9) sowie der wiederholte, im Modus journa-
424 J. Link: ›Wiederkehr des Realismus‹, S. 14. 425 J. Link: ›Wiederkehr des Realismus‹, S. 12. Vgl. entsprechend auch Thomas Wegmann: Metafiktionen oder Über das Erzählen erzählen. In: Alf Mentzer u. Ulrich Sonnenschein (Hg.): 22 Arten, eine Welt zu schaffen. Erzählen als Universalkompetenz. Frankfurt a. M. 2008, S. 152– 165, hier S. 158–159.
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listischer Realitätskonstruktionen gehaltene Verweis auf zitierfähige Dokumente: etwa auf Dagmars Manuskript (vgl. GW 274), in denen man »nur nachlesen muss, um sich ein Bild [...] zu machen« (GW 251), »Anabel Falkners Tagebuchfragmente[ ]« (GW 212) oder »Heinrich Glücks Notizen« (GW 271), die der IchErzähler »vollständig wieder[gibt], damit sich der Leser selbst ein Bild machen kann« (GW 273). Hinzu kommen beglaubigende oder ergänzende Aussagen von unmittelbar beteiligten Akteuren (zum Beispiel von Verlagsmitarbeiterin Bella, vgl. GW 198; aber auch der Hinweis »Ich wusste das alles von Heinrich Glück«, GW 191), als Zitate markierte Abschnitte (etwa aus Falkners Gedichten, aber auch aus Klappentexten, vgl. GW 211–212 bzw. 145), die durchgehende, mit Rechtsanwalt Dr. Mrak verbundene und durch diesen personifizierte Thematisierung »juristische[r] Spitzfindigkeiten« (GW 299), die interdiskurstheoretisch als besonders realitätsnah gelten, sowie der kontingente, das heißt grundsätzlich offen und damit wiederum realistisch angelegte Rahmen von Anfang und Ende der histoire. Als abhängig Beschäftigter schildert der Ich-Erzähler sein Handeln im Verlag, insbesondere sein Verhältnis zu Glück und Dagmar, als grundätzlich kontingente Prozesse, in denen er von den Handlungen der anderer abhängig ist.426 Dass jedoch auch und gerade das Erzählen von den so genannten ›tatsächlichen‹ Gegebenheiten auf sprachlichen Konstruktionen beruht, der Ich-Erzähler also die Unterscheidung zwischen Dagmars ›Wahrheit‹ und den Umständen, wie sie sich vermeintlich »in Wirklichkeit« (GW 249) dargestellt haben, keineswegs so souverän kontrolliert, wie er dem Leser versucht glauben zu machen, auf eben diesen Umstand deutet bereits eine Formulierung hin, die sich bezeichnenderweise gegen Ende des zitierten Paradebeispiels für realistisches Erzählen findet. Die Parenthese ›wie man so sagt‹ stellt nämlich die Narration von den ›harten Fakten‹, wie sie der Ich-Erzähler vollzieht, gerade nicht jenseits der im Text entfalteten »Gerüchteküche« (GW 65), sondern weist jene als nicht weniger auf einem spezifischen »Jargon« (GW 302) basierend aus. Genau betrachtet unterläuft mithin die Passage das Desillusionierungs-Programm, das sie sich vornimmt, gleichsam bereits selbst. Muss der Ich-Erzähler denn auch zugeben, dass die von ihm geschilderten ›Tatsachen‹ »vielleicht ein wenig literarisch« (GW 88) klingen oder andere Schilderungen »ganz und gar unwirklich erscheinen« (GW 118), gerät er beim Nacherzählen einer Anekdote »ins Stocken [...], weil mir die reale Dagmar in die Quere kam und die Unterscheidung zwischen Faktischem und Fiktivem nicht mehr recht gelingen wollte« (GW 140). Die damit angedeutete innerfiktio-
426 Vgl. zu diesen Verfahrenselementen realistischen Erzählens allgemein J. Link: ›Wiederkehr des Realismus‹, S. 12–15.
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nale Irritation der Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion baut Die ganze Wahrheit konsequent als Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers aus. Dieser kann »nicht mehr mit Sicherheit sagen« (GW 173), wie sich bestimmte Begebenheiten abgespielt haben, gesteht dem Leser gegenüber, »keine Beweise« (GW 177) zu haben, »weil mir entweder die Erinnerung fehlt oder ich meiner Erinnerung da, wo sie nicht fehlt, misstraue« (GW 280), und gibt mit Bezug auf bestimmte Konstellationen an, »tatsächlich alles vergessen« (GW 282) zu haben. Vor dem Hintergrund dieses »allmähliche[n] Verblassen[s]« (GW 118) der Erinnerung wirken andernorts zu findende Beteuerungen, wie die Versicherung, sich ›genau zu erinnern‹ (vgl. GW 236, 239), völlig »sicher« (GW 41) zu sein, ja zu ›schwören‹ (vgl. GW 246), nichts zu »erfinde[n]« (GW 251), eher verdächtig denn zuverlässig. Der Ich-Erzähler unterliegt selbst den »Fallgruben der Fiktion« (GW 178). Dem entspricht, dass Die ganze Wahrheit als »einzelpersonenzentriert[er]« 427 Text nicht nur Dagmar als Verdichtungspunkt der thematisierten Beziehungssysteme konturiert, sondern auch und gerade den Ich-Erzähler selbst als einen solchen präsentiert. Denn dadurch, dass er durchgehend in der Perspektive Wilfrieds gehalten ist, realisiert der Roman auf innerfiktionaler Ebene eine Verschachtelung von Beobachtungen zweiter Ordnung, die sich als maßgebliche Bestandteile der thematisierten netzwerkförmigen persönlichen Strukturen erweisen: Der Ich-Erzähler beobachtet Dagmar, wie diese insbesondere Verleger Heinrich Glück, aber auch die anderen Verlags-Mitarbeiter beobachtet. Der dadurch betriebenen Rekonstruktion der Perspektive Dagmars, die im Zeichen des Desillusionierungsprozesses steht, korrespondiert der Anspruch des Ich-Erzählers, sich jenseits der von ihm beschriebenen sozialen Strukturen zu bewegen. Doch so wenig er sich Dagmars netzwerkförmigen Beziehungssystemen entziehen kann, so wenig kann er sein Entlarvungsprojekt narrativ umsetzen. Die narrativ-reflexive Emanzipation von der Verstrickung in die von Dagmar dominierten persönlichen Beziehungssystemen erzeugt im selben Akt deren Strukturen, ja nicht zuletzt sein Erzählen ist es, das dazu führt, dass sich der Ich-Erzähler auch selbst in ihnen verstrickt.428 Und noch die unmissverständlichste Distanzierungsgeste – die Betonung, in Dagmar »nicht [...] verliebt« (GW 136) gewesen zu sein – bindet Wilfried an diese Beziehung zurück, erregt sie doch den möglicherweise ohne diesen Hinweis gar nicht vorhandenen Verdacht, dass eben das Gegenteil zumindest der Fall gewe-
427 Stephan Kraft: Verloren im Netzwerk. Überlegungen zur Unlesbarkeit der »Römischen Octavia« Herzog Anton Ulrichs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 128 (2009), Nr. 2, S. 163– 178, hier S. 171. 428 Vgl. allgemein H. Böhme, S. 32.
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sen sein könnte. Der Erzähler erweist sich mithin nicht als distanzierter oder unbeteiligter Beobachter, sondern ist im Gegenteil selbst in die von ihm beschriebenen persönlichen Beziehungssysteme eingelassen, ja weist mitunter auch selbst explizit darauf hin, aktiv in die von ihm beschriebenen Strukturen einzugreifen.429 In dieser Hinsicht schildert der Ich-Erzähler mithin weniger Dagmar oder Heinrich Glück. Im Fokus steht vielmehr die zwischen diesen und ihm selbst vorhandene persönliche Beziehung. Betont Wilfried dabei nicht zuletzt das destruktive Moment des sich um Dagmar zentrierenden Beziehungsnetzwerks, führt der Text hingegen auch dessen produktives Potential vor, indem er selbst eben diese Beziehungsstrukturen und die damit einhergehenden Beobachtungen zweiter Ordnung operativ maßgeblich in Anspruch nimmt.430 Der mit all dem erneut vollzogene Bruch mit dem Versprechen, narrativ entworfene Figuren und Handlungszusammenhänge auf die reale Realität applizieren zu können, findet in der spezifischen Verwendung eines typischen kollektivsymbolischen »Rahmen[s] realistischen Erzählens« 431 seine Fortsetzung. Wird dieser Rahmen üblicherweise als katabatische Narration realisiert, verzichtet Die ganze Wahrheit nämlich auf die Inszenierung eines ›Gangs nach unten‹ – ein kollektivsymbolischer Verzicht, der umso erstaunlicher ist, als der Text gleichwohl auf die katabatischen Motive ›Helligkeit/Dunkelheit‹ und ›Höhe/Tiefe‹ zurückgreift.432 Im Fokus dieser Motivstruktur steht einmal mehr die Verleger-Witwe und ihr Anspruch auf Wahrheit. Denn Dagmar, die »ihre vornehmlich weibliche[ ] Zuhörerschaft als ihre Lichtarbeiterinnen ansprach« (GW 206), umgibt sich nach eigener Aussage mit dem »Licht der Wahrheit« (GW 166), ja vertraut auf ein »Leuchten der inneren Wahrheit« (GW 93) und bemerkt dem Ich-Erzähler gegenüber, »dass ihr Mann immer vom Licht rede« (GW 247). Doch nicht nur meint die Verleger-Witwe, das »Licht der Anderswelt« (GW 241) zu erkennen. Gemäß ihres Wahrheitsanspruchs versteht sie sich darüber hinaus als überlegene Instanz in einem »ewige[n] Wettstreit zwischen den Mächten des Lichts und den Mächten der Dunkelheit« (GW 182–183), die souverän einzuschätzen weiß, »wer oder was zu welchem Bereich gehörte« (GW 150). Dass diese Zuord-
429 So weist der Ich-Erzähler im Zusammenhang mit Glücks Tod darauf hin, »dass ich herumtelefoniert hatte, damit wenigstens seine paar verbliebenen Freunde Bescheid wussten« (GW 13). 430 Vgl. zu diesem Argument N. Binczek, Ein Netzwerk der Freundschaft, insbesondere S. 223. 431 Rolf Parr: Raabes Effekte des Realen. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (2011), S. 21– 38, hier S. 25. 432 Realistisches Erzählen greift üblicherweise auf ein Schema zurück, das »die Illusionen topisch als ›Wolken/Himmel‹ und die Realität als ›fester Boden/Pflaster‹ symbolisiert«. J. Link: ›Wiederkehr des Realismus‹, S. 12.
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nung nach Aussage des Ich-Erzählers »auf das beliebigste wechselte« (GW 150), steht nicht nur im Zeichen der moralischen Abwertung der Verlegerin. Auf diese Weise gerät auch die realistische Semantik von ›Helligkeit/Dunkelheit‹ ins Schwimmen, ist doch alles andere als eindeutig, was denn nun ›Licht‹ und was ›Dunkelheit‹ sei. So weiß Dagmar ebenso die »Lichtmystik« (GW 215) der von ihr verehrten Anabel Falkner zu deuten: Soweit ich mich erinnere, sagte sie [Dagmar; DCA] bereits, man dürfe nicht auf die vielen Lichtmetaphern bei Anabel Falkner hereinfallen, denn die stünden selbstverständlich für die Finsternis und das wahre Licht verstecke sich in der Dunkelheit des Verborgenen, die wahren Seher seien die Blinden, weil nur sie eine ernst zu nehmende Idee vom ewigen Licht hätten. (GW 79)
Verknüpft Die ganze Wahrheit entgegen der üblichen kollektivsymbolischen Verwendung der ›Helligkeit/Dunkelheit‹-Unterscheidung ohnehin Dagmars Illusionen konvers mit dem Licht-Motiv, differenziert die Verleger-Gattin in dieser Passage zudem zwischen einer durch ›Lichtmetaphern‹ repräsentierten ›Finsternis‹, der ein in der ›Dunkelheit‹ zu findendes ›wahres Licht‹ entgegenstehe. Die auf der histoire-Ebene ausgewiesene ›harte Realität‹ ist demgegenüber von beidem zu unterscheiden und wird durch den Ich-Erzähler, der selbst wiederum vom Leser beobachtet wird, konstituiert. Ihren ironischen Höhepunkt findet das damit betriebene Spiel mit der Licht-Metaphorik schließlich in der Auswahl eines geeigneten Titels für eines von Dagmars Büchern. Broser schlug als Titel »Blinded by the Light« vor, nach einem Song, den er liebte, aber er setzte sich nicht durch gegen Heinrich Glücks Einwand, er wolle kein Englisch auf dem Umschlag, wolle diesen neumodischen Quatsch nicht mitmachen, und obwohl er es dann auch noch mit »Leuchtende Finsternis« versuchte, blieb es bei Dagmars betulichem »Kommt die Dunkelheit, kommt das Licht«. (GW 146)
Gleichwohl mit Bruce Springsteens Blinded by the Light vom Debütalbum Greetings from Asbury Park, N.J. ein popkulturell codierter Realitätspartikel Eingang in die fiktionale Realität der ganzen Wahrheit findet, unterläuft der intertextuelle Verweis die kollektivsymbolisch vorgesehene Position des Signifikanten ›Licht‹. Das Licht ist in diesem Fall eben gerade nicht mit Aufklärung, Wirklichkeit und Realität verbunden, wie sie der Ich-Erzähler in seinem Desillusionierungsprojekt profiliert, sondern verweist auf Dagmars Illusionen, ja das Licht ist es, das Dagmars Blick auf die ›harten Fakten‹ der Realität verstellt und in einem Konglomerat mit der Dunkelheit eine »Grauzone« (GW 293) erzeugt, die sich als ihr ganz eigenes »Schlachtfeld jenseits von Wahrheit und Lüge« (GW 293) erweist. Und zum anderen lässt sich der sperrige, weil englische Ausdruck als selbstkommentierende Lektüreanweisung der ganzen Wahrheit an ihren Le-
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ser verstehen, der für eine ›angemessene‹ Lektüre sich nicht von den Realitätspartikeln solle blenden lassen. Dass Dagmars Anspruch, einen spezifischen Zugang zur ›Wahrheit‹ zu haben, nicht nur auf Illusionen, sondern darüber hinaus auf Kitsch-Vorstellungen beruht, zeigt der Rückgriff auf das katabatische Motiv ›Höhe/Tiefe‹. Seinen Kristallisationspunkt findet dieses Motiv in Dagmars Selbstbezeichnung als »Luftgängerin« (GW 46). In kollektivsymbolischer Hinsicht verweist der Neologismus zunächst auf Dagmars Selbstpositionierung über dem ›harten Boden‹ der Realität des Ich-Erzählers. Steht sie damit im Zeichen der von diesem verfolgten Entlarvung, handelt es sich bei der Bezeichnung ›Luftgängerin‹ indes gleichzeitig um eine Anspielung auf den 1998 erschienenen, zweiten Roman von Robert Schneider. Mit Blick auf Die Luftgängerin sind dabei im vorliegenden Zusammenhang zwei Aspekte von Interesse. Zunächst ist bemerkenswert, dass Schneiders Roman sowohl der Literaturkritik als auch der Literaturwissenschaft als das Paradebeispiel schlechthin für zumeist als ›verdorben‹ beschriebene Vermarktungs- und (Selbst-)Inszenierungsstrategien im deutschen Literaturbetrieb um 2000 steht. Ausgehend vom »Image des mißverstandenen, verfolgten, verkannten Genies, das der bis zum Überdruß kolportierte Mythos von den 21 Verlagsablehnungen seines Erstlings ›Schlafes Bruder‹ bereits erfolgreich aufgebaut hatte«,433 baut die paratextuelle (Selbst-)Vermarktung von Autor und Roman eine kaum zu steigernde Erwartungshaltung auf Seiten der Rezeption auf, die noch zusätzlich durch das Klatschmoment verstärkt wird, Schneider fordere angesichts seines überaus erfolgreichen Debüts vom Verlag eine Vorauszahlung in »sagenumwobene[r] Höhe«.434 Dass der Roman diese Erwartungen schließlich nicht erfüllen kann, überrascht vor diesem Hintergrund wenig, ja ist geradezu ebenso erwartbar. Bereits und vor allem mit Schlafes Bruder steht Schneider für ein neues, ›unverkrampftes‹ Erzählen in der deutschsprachigen Literatur um 2000, wie es insbesondere mit Patrick Süskinds Weltbestseller Das Parfum assoziiert wird.435 Die Luftgängerin knüpft hier
433 E. Polt-Heinzl, Der Kampf gegen/um den Bestseller, S. 91–92. »Was in all diesen Interviews und Reportagen zu lesen war, ist eine wilde Mischung aus Liebeserklärungen des Autors an sein neues Buch, selbstverteidigenden Rundumschlägen gegen Kritik und Medien, Details zu privatesten Lebensumständen (Freundin verloren, Geliebte gefunden? Sexualverhalten allgemein und bei Lesungen im speziellen), Vorlieben und Gewohnheiten (die Bars von New York, Autors, Swimming-Pool) usw.«, E. Polt-Heinzl, Der Kampf gegen/um den Bestseller, S. 92. 434 E. Polt-Heinzl, Der Kampf gegen/um den Bestseller, S. 91. 435 Vgl. speziell dazu in kulturkritischer Perspektive Stefan Neuhaus: Der Autor als Marke. Strategien der Personalisierung im Literaturbetrieb. In: Wirkendes Wort 61 (2011), Nr. 2, S. 313– 328, hier insbesondere S. 316–317.
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an und realisiert das Projekt einer »universelle[n] Liebesbotschaft«,436 was nicht nur in der literaturkritischen Rezeption auf Ablehnung stößt. Auch die Forschung hebt die Nähe des Textes zum »Kitsch« 437 hervor, so dass die programmatische Ebene des Bezugs der ganzen Wahrheit auf Schneiders Roman deutlich wird. Denn auch Dagmars Texte folgen einem Programm des »ewige[n] Raunen[s] um [...] poetische Wahrhaftigkeit« (GW 62). Die damit angedeutete literaturprogrammatische Ebene baut Die ganze Wahrheit insofern aus, als sie sich mit solchen »Interpretamenten« 438 durchsetzt, die es nahelegen, in einem selbstreflexiven Bogen auf die Selbstprogrammierng von Gstreins Roman appliziert zu werden. So gehört etwa die folgende Passage, die sich wiederum zunächst als Auseinandersetzung mit Dagmars Handeln zu erkennen gibt, in diesen verfahrenstechnischen Zusammenhang. Man denkt die ganze Zeit, nicht das auch noch, weiß aber gleichzeitig, doch, das, das und mehr, und ahnt, man ist erst durch, wenn man auch noch die letzte Verrücktheit zur Gänze ausgeschöpft hat. Alles kann auf diesem Weg eine Büchse der Pandora sein, alles kann plötzlich losgehen und geht natürlich auch los, und man steht am Ende da und fragt sich, was man übersehen hat, welches Zeichen falsch interpretiert, als gäbe es eine richtige Interpretation und es ginge nicht darum, die Logik zu sabotieren, die blaue Blume zu pflücken, an ihr zu riechen und sich dann nicht an ihrem Geruch zu erfreuen, sondern in der Anzahl ihrer Blütenblätter oder in der Stellung der Staubgefäße einen Beweis für das Winken des ewigen Versuchers und Verderbers zu sehen. (GW 231–232)
Das in diesem Abschnitt platzierte Symbol der ›blauen Blume‹, seit Novalis’ Heinrich von Ofterdingen »Sinnbild der Romantik« 439 und damit der Aussicht auf Versöhnung der endlich-geschichtlichen, ja zerrissenen und unsicheren Zeitverhältnisse durch die Mittel einer ›progressiven Universalpoesie‹, stellt eine literaturgeschichtliche Linie zu just zu jenem literarisch-programmatischen Ort her, »wohin Dagmar sich in ihrer Romantik verrannt hatte« (GW 231). Dabei setzt der Ich-Erzähler Dagmars hermeneutischer Suche nach Absolutheit und Vollkommenheit, die mit einer »zertrümmerten Sprache die Welt wieder
436 Christine Aquatias: Kein »Hinauswachsen aus dem engstirnigen Rheintal!« Ein satirisches Porträt der österreichischen Provinz in Die Luftgängerin von Robert Schneider. In: Jeanne Benay u. Gerald Stieg (Hg.): Österreich (1945–2000). Das Land der Satire. (Convergences 23) Bern u. a. 2002, S. 269–281, hier S. 280. 437 C. Aquatias, S. 280. 438 Eva Geulen: Schwierigkeiten mit Raabes Frau Salome. In: Michael Neumann u. Kerstin Stüssel (Hg.): Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Konstanz 2011, S. 417–428, hier S. 420. 439 Monika Schmitz-Emans: Einführung in die Literatur der Romantik. Darmstadt 2004, S. 95.
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heil[zumachen]« (GW 82) versucht, das Programm einer literarischen ›Sabotage‹ entgegen. Diese setzt weniger auf Sinnlichkeit (›sich an ihrem Geruch erfreuen‹), sondern stellt vielmehr den Konstruktionscharakter reflektiert-kognitiv heraus (›Anzahl der Blütenblätter‹, ›Stellung der Staubgefäße‹). Den damit gleichwohl auch konnotierten Ausbruch aus der literarischen Selbstreferenz, aus dem Zusammenhang der ›Poesie der Poesie‹, thematisiert Wilfried auch in einem anderen Abschnitt. So heißt es mit Blick auf kreative Versuche in einem Schreibkurs der Volkshochschule: Heraus kamen in der Regel jedenfalls drei wiederkehrende Hauptvarianten, von denen mir die dritte nicht nur deshalb die liebste ist, weil sie aus dem Selbstreflexiven der Literatur hinausweist, sondern auch, weil man die altbekannten literarischen Vorbilder nicht übermächtig vor sich stehen hat wie bei den beiden anderen. (GW 130)
Tatsächlich ist es eben dieses verfahrenstechnische ›Hinausweisen aus dem Selbstreflexiven der Literatur‹, das sich Die ganze Wahrheit mit ihrem in diversen ›Intervallen‹ gegen die Ebene narrativer Selbstreflexion profilierten Verfahren realistischen Erzählens zu eigen macht. So ist (erstens) das Schlüsselverfahren einerseits gegen die Thematisierung desselben gesetzt, andererseits erweist sich (zweitens) die Strategie der Verhüllung als intertextuelle Bezugnahme auf einen massenmedial-feuilletonistischen Diskurs. Das Desillusionierungsprojekt des Ich-Erzählers wird demgegenüber (drittens) durch dessen Positionierung in den um Dagmar zentrierten persönlichen Beziehungssystemen in Frage gestellt sowie (viertens) durch eine gegenläufige Kollektivsymbolik und literaturprogrammatisch angereichert konterkariert. Die bei jedem dieser ›Intervalle‹ auftretenden Realitätseffekte werden jedoch gerade nicht trotz, sondern wegen der jeweiligen Selbstreflexionsebene erzeugt. Die ›harte Realität‹ ist nämlich jeweils eben jener »residuale[ ] realistische[ ] Rest«,440 den das über reflexivmetafiktionale Elemente geleitete Differenzverfahren von ›Illusion minus X‹ übrig lässt, um dann aber wieder durch eine weitere Reflexionsschleife zurückgenommen zu werden, die ihrerseits wiederum reale Fakten ex negativo erzeugt. Der entscheidende Baustein dieser ›Intervallverschatelung‹ von Realitätseffekten und deren innerfiktionaler Reflexion liegt dabei darin, dass Gstreins Roman dieses Verfahren nicht nur innertextuell verwendet, sondern zudem auf die Unterscheidung von primären und sekundären Formen des literarischen Systems, das heißt auf seinen paratextuellen Rahmen projiziert und im Literarischen Colloquium kulminieren lässt. Als Ausgangspunkt kann in diesem Zusammenhang Gstreins Interview mit dem Magazin Du fungieren. Dort kommt der Autor nämlich auch auf die Aus-
440 Parr, Raabes Effekte des Realen, hier S. 29.
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wahl des dem Interview beigefügten Vorabdrucks aus der ganzen Wahrheit zu sprechen: Das Kapitel führt zurück in die Erzählwelt meines ersten Buchs, in die autobiografisch grundierte Welt von Einer, und es sind sogar Versatzstücke daraus entnommen. Von Anabel Falkner sind zwei Bücher geblieben, ein Band mit Gedichten und einer mit Tagebuchfragmenten, und in diesen Fragmenten finden sich einzelne Szenen aus Einer. Zum Beispiel ist von einem Totenschädel die Rede, der hinter dem Altar der Dorfkirche aufbewahrt sein soll, aber an der beschriebenen Stelle entdecken Dagmar und der Lektor nur Putzzeug und einen Kübel voll Schmutzwasser.441
Unter Vermittlungsgesichtspunkten ist zunächst interessant, welches Kapitel für den Vorabdruck ausgewählt worden ist. Das siebte Kapitel des ersten Teils fällt insofern aus der histoire des Romans heraus, als es gerade nicht die feuilletonistisch in Szene gesetzte Beziehung zwischen Unseld und Berkéwicz im Modus des Schlüsselverfahrens thematisiert. Relevant ist dies deshalb, weil das Du-Interview auf eben diese Referenzialisierung zum Schluss massiv abhebt. Der Effekt, der sich dadurch einstellt, liegt darin, dass der Leser nicht weiß, worüber in den vermeintlichen oder tatsächlichen Andeutungen des Autors eigentlich geredet wird. Die fehlende Textgrundlage provoziert mithin literaturbetriebliche Spekulationen und Klatsch, wie sie dann auch die Berichterstattung zu Gstreins LCB-Auftritt bestimmen. Daneben ist die konkrete, von Gstrein in dem zitierten Abschnitt thematisierte Szene aus der ganzen Wahrheit signifikant. So heißt es an der fraglichen, vom Autor angeführten Stelle: [...] als sie [Dagmar; DCA] schließlich hinter den Altar trat und statt auf den wieder und wieder herbeibeschworenen Totenschädel, den Anabel Falkner dort als Kind entdeckt haben wollte, neben einer beschädigten Engelsfigur nur auf Stielbürste, Besen und einen Putzkübel voll Schmutzwasser stieß. (GW 99)
Allegorisch lässt sich diese Passage als Entlarvung von Dagmars Lektüremodell lesen. So wie die Spurensuche der Verlegerin, das heißt ihr Versuch, Referenzen anbringen zu können, scheitert, so ist ihre referenzialisierende Lektürehaltung gegenüber Falkners Texten zum Scheitern verurteilt, da es ›hinter‹ den Signifikanten kein unterliegendes, zu bezeichnendes ›eigentliches‹ Referenzobjekt gibt – sondern allenfalls einen ›Putzkübel voll Schmutzwasser‹. Darüber hinaus ist der Passus relevant, weil mit ihm jene »Tagebuchfragmente[ ]« (GW 216) Falkners aufgerufen werden, die dem Ich-Erzähler »nur allzu bekannt«
441 Norbert Gstrein: »Wem gehört die Geschichte eines Toten?« Norbert Gstrein im Gespräch mit Thomas David. In: Du. Das Kulturmagazin (2010), Nr. 806, S. 77–80, hier S. 78.
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(GW 216) sind. Dass Gstrein in diesem Zusammenhang explizit einen intertextuellen Bezug zu seinem Debüt Einer herstellt, erzeugt eine durchaus komplexe literarische Form, die für das Verfahren der ganzen Wahrheit nicht unerheblich ist. Das Medium, das diesen intertextuellen Verweis vermittelt, soll nach Gstrein Falkners Tagebuchfragmente sein. Tatsächlich werden diese Aufzeichnungen im Text jedoch nicht zitiert oder in die Narration einmontiert, sondern von Verleger Glück lediglich benannt. Er hatte den Band mit den Tagebuchfragmenten aus seiner Manteltasche geholt und zeigte mir darin die unterstrichenen Stellen, buchstäblich alle paar Seiten einmal »Schnee« oder »schneien« oder eine Abwandlung davon, und es genügte ihm nicht, dass ich nickte. Er hielt mir das Buch unter die Nase und forderte mich ein ums andere Mal auf, selbst zu lesen, bis mir schließlich nichts anderes mehr einfiel, als ihn zu fragen, ob im Dorf während seines Aufenthalts denn Schnee gefallen sei und seine Aufgeregtheit daher komme, und er mich ansah, als hätte er noch nie etwas Banaleres gehört. (GW 216)
Glücks »Begeisterung« (GW 216) für die »Einschnei- oder vielmehr Eingeschneitwerdens-Phantasien« (GW 216), die die »Auslöschung« (GW 217) der »Welt draußen« (GW 217) ersehnt, ruft tatsächlich eben jenen Motivkomplex auf, der sich auch in Gstreins Einer findet. Der Text arbeitet nämlich wiederholt mit einer Semantik des Schnees, wie etwa Formulierungen wie »Der unaufhörlich fallende Schnee«,442 »Anfang Februar begann es zu schneien« 443 und »der unaufhörlich fallende Schnee« 444 oder auch Hinweise auf »den lange ersehnten Schnee«,445 »Schneewände[ ]«,446 »Lawinen« 447 und »Schnee, der in den Köpfen unaufhörlich weiterfiel«,448 verdeutlichen mögen. Dass dieser intertextuelle Bezug programmatisch wiederum durchaus von Relevanz ist, legt dabei folgende, an Glück gerichtete Bemerkung des Ich-Erzählers nahe: »›Dieses Flockengestöber ist ja wunderbar, solange Sie darauf keine Poetik aufbauen wollen‹« (GW 217). Bedeutend ist diese Skepsis insofern, als Glück tatsächlich eine »Analogie zwischen einer unberührten Schneefläche und einem weißen Blatt Papier« (GW 217) aufstellt, wenn er festhält: »Das eine steht für ein Vorher, das andere für ein Nachher«, sagte er, nachdem er eine Weile seinen Blick auf mir hatte ruhen lassen. »Das weiße Papier verdeckt nichts, während unter dem Schnee etwas begraben liegen kann.« (GW 217)
442 443 444 445 446 447 448
Norbert Gstrein: Einer. Erzählung. Frankfurt a. M. 1988, S. 31. N. Gstrein, Einer, S. 30. N. Gstrein, Einer, S. 31. N. Gstrein, Einer, S. 31. N. Gstrein, Einer, S. 29. N. Gstrein, Einer, S. 29. N. Gstrein, Einer, S. 33.
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Weist der Ich-Erzähler auf den »tautologische[n] Leerlauf« (GW 218) von Glücks Bemerkung hin, deutet dies tatsächlich weniger auf den Gedanken des Verlegers, als vielmehr auf die über die Tagebuchfragmente Falkners hergestellte Bezugnahme der ganzen Wahrheit auf Gstreins Debüt. Einer, dem die »Bedeutung eines Schlüsselwerks der jüngsten deutschsprachigen Literatur« 449 zugeschrieben wird, stellt sich in die Tradition des Anti-Heimat-Romans, wie ihn insbesondere Thomas Bernhards Auslöschung in Szene setzt, und »führt das Verhältnis von Außenseiter und Gemeinschaft als ein vielschichtiges Spiegelverhältnis vor«,450 in dem unterschiedliche Rollenerwartungen miteinander konfrontiert werden. Von Relevanz ist dabei, dass es sich bei dem Text um eine »multiperspektivisch aufgefächert[e]« 451 Erzählung handelt, die sich darum bemüht, dem Leser zu signalisieren, dass letztgültige Aussagen über seinen Protagonisten unmöglich seien, ja der Text stellt dessen Leiden als ein grundsätzliches Sprachproblem der Unmöglichkeit von Repräsentation aus. Handelt es sich bei Einer mithin um einen Text, der in sprachreflexiver und -kritischer Absicht das Bemühen um Referenzialisierung immer wieder unterläuft, führt der auktorial abgesichte Verweis, in der ganzen Wahrheit also die Aussicht auf ›etwas‹, das ›unter dem Schnee begraben liegt‹, zu einem Referenztext, der diese Referenz selbst subvertiert und als unmöglich ausweist. Überraschen mag dies insofern nicht, als sich der Text die auf diese Weise provozierte, nicht stillstellbare Doppellektüre durchgehend zu eigen macht. Schon auf der ersten Seite nimmt Die ganze Wahrheit ihr ausstehendes Programm gleichsam in nuce vorweg. Man hat mir abgeraten, darüber zu schreiben, und natürlich kenne ich Dagmar lange genug, um zu wissen, was mich erwartet, wenn nur etwas von dem, was ich über sie in die Welt setze, anfechtbar ist. Ich habe oft genug erlebt, mit welchen Lappalien sie ihren Anwalt betraut hat, den beflissenen Dr. Mrak, um Leute, die sie für ihre Feinde hielt, mundtot zu machen, und gebe mich nicht den geringsten Illussionen hin. Meine Darstellung, da bin ich sicher, wird noch am Tag der Veröffentlichung auf seinem Schreibtisch landen und auf Punkt und Komma überprüft werden, ob sich darin etwas Justitiables findet. Da würde es auch wenig helfen, die Tatsachen zu verdrehen, welche Mühe auch immer ich mir geben mochte, die Spuren zu verwischen, ob den Ort des Geschehens von Wien nach Berlin zu verlegen, ob Dagmar anders zu nennen, ob ihr eine andere Herkunft zuzuschreiben und sie statt aus Kärnten vielleicht aus einem Dorf an der Ostsee stammen zu lassen, ganz vom anderen Rand des Sprachraums, um nicht überhaupt so weit zu gehen, die sie immerhin ist, einen Mann zu machen. (GW 9)
449 Heribert Kuhn: Wer das Sagen hat. Norbert Gstreins Anverwandlung des Anti-Heimatromans in sprachkritischer Absicht. In: Kurt Bartsch u. Gerhard Fuchs (Hg.): Norbert Gstrein. (Dossier 26) Graz 2006, S. 57–75, hier S. 65. 450 H. Kuhn, S. 70. 451 M. Gunreben, S. 89.
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Gleich zu Anfang führt Die ganze Wahrheit wesentliche Elemente ihres realistischen Erzählens an, die sie im dann Folgenden profiliert. Angesichts der narrativen Unmöglichkeit, die ›Spuren‹ der realen Realität im Text ›zu verwischen‹, nimmt der Ich-Erzähler sich reflektierend vor, sich an die Darstellung der ›Tatsachen‹ zu halten, um mit seinem demonstrativen Hinweis darauf, dass er erzählt, gleichzeitig Rekurs auf die rechtliche Systemreferenz (Dr. Mrak) zu nehmen. Dabei setzt der Text bereits im ersten Satz die Rückkopplungsbewegung zwischen realer und fiktionaler Realität syntaktisch und semantisch in Szene, um deren erzählerische Verschachtelung vorzuzeichnen. Sämtliche syntaktischen und semantischen Elemente in diesem Satz sind auf die literarische Intervallverschachtelung von Realitätseffekt und narrativer Selbstreflexion bezogen. Der erste der beiden über die Konjunktion ›und‹ verknüpften und in sich syntaktisch hochgradig hypotaktisch-verflochtenen Hauptsätze konfrontiert das als Dativobjekt (›mir‹) realisierte ›ich‹ des Erzählers zum einen mit einem semantisch unbestimmten Subjekt (›man‹) und zum anderen mit einem nicht weniger unbestimmten Akkusativobjekt (›darüber‹). Der zweite Hauptsatz konkretisiert diese Zusammenhänge, indem er zunächst den Ich-Erzähler erstmals als syntaktisches Subjekt einführt (›ich‹) und dieses in Beziehung zu ›Dagmar‹ als Akkusativobjekt setzt. Der zweite Teil dieses Satzes setzt sich aus zwei Nebensätzen zusammen, wobei der letzte ein Konditionalsatz ist, der das in ihm wiederum semantisch unbestimmte Dativobjekt (›von dem‹) durch einen auf das syntaktische ›ich‹ des Erzählers konzentrierten Relativsatz spezifiziert. Semantisch wird diese syntaktische Komplexität durch den Gegensatz von ›schreiben‹ und ›Welt‹ flankiert, der literarisches Schreiben einerseits in seinem Effekt auf die ›Welt‹ bezeichnet und andererseits mit der Frage des ›Anfechtens‹ konfrontiert. Die syntaktisch-semantische Struktur dieser Konstruktion inszeniert dabei innerfiktional eine Bewegung aus der realen Realität, die durch die warnenden Stimmen und das Wissen des Ich-Erzählers über seine Protagonistin angesprochen ist, über in die vom Text entworfene Welt zurück in die reale Realität der ausstehenden Rezeption. Der Effekt dieser Konstruktion aus syntaktischer Dichte und semantischer Unbestimmtheit ist eine Verkettung von innerfiktionaler realer und fiktionaler Realität, die gerade in der Konfrontation mit der unbestimmten Semantik einerseits in die ausstehende Narration verweist, damit andererseits aber auch als Rezeptionssteuerung des realen Lesers fungiert. Bemerkenswert ist der erste Satz der ganzen Wahrheit nicht zuletzt deshalb, weil er gleichsam idealtypisch vorführt, dass dem abbildtheoretischen Vektor realistischen Erzählens, also dem traditionellen Mimesiskonzept, ein gleichsam konvers eingesetzter Vektor korrespondiert, »der von der Literatur zur Realität/Wirklichkeit zeigt«.452 Bei diesem Applikationsverfahren geht es 452 J. Link: ›Wiederkehr des Realismus‹, S. 16.
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nicht um verfahrenstechnische Realitätsnähe, sondern darum, dass die Literatur selbst »realitätskonstitutiv« 453 wirkt, ja der literarische Text »als ein Ensemble nicht von Abbildern, sondern von Vor-Bildern für die Realität im Sinne von realer Praxis« 454 fungiert. Eben jenen zweiten Vektor setzt Die ganze Wahrheit von Beginn an in Szene – ein Verfahren, das insbesondere in der Figur des Dr. Mrak »von der Kanzlei ›Mrak & Mrak‹ mit Büro in der Kärntnerstraße« (GW 182) verdichtet wird. Nicht nur personifiziert der Rechtsanwalt »Dagmars ganz persönliche Dunkelheit« (GW 182) und fungiert als Instanz, Entlassungen von Verlagsmitarbeitern juristisch abzusichern. Der Ich-Erzähler bezieht sich daneben wiederholt auf Mrak, um ihn innerfiktional als gleichsam pejorativ konnotierten idealen oder impliziten Leser auszuweisen. Mit der ›Furcht‹ (vgl. GW 231), ja der »Angst vor dem ehrenswerten Dr. Mrak und seiner Paragraphenreiterei« (GW 12) kommt dabei nicht nur die sozialstrukturell bedingte ›Störung‹ literarischen Schreibens zum Ausdruck. Die gleich zu Beginn des Textes eingeleitete Reflexion über die juristischen Folgen des eigenen Schreibens wird den gesamten Text hindurch kontinuierlich und mitunter als direkte Leseransprache im Modus des Einschubs »für Dr. Mrak sei noch einmal ausdrücklich gesagt« (GW 250) thematisiert. So heißt es entsprechend an anderer Stelle: Ich habe lange überlegt, ob ich die folgende Charakterisierung von Dr. Mrak stehen lassen soll oder nicht doch besser streichen, ihn mit keinen erkennbaren Eigenschaften ausstatten und lieber den Mann im Hintergrund sein lassen, der er ja tatsächlich auch war. Die Vorstellung, er liest dies und erkennt sich darin wieder oder erkennt sich nicht wieder und fühlt sich trotzdem gemeint, ist mir zuerst unangenehm gewesen, aber jetzt sage ich mir, was soll’s, und empfinde sogar eine gewisse Freude daran, ihm einen Spiegel vorhalten zu können. Außerdem glaube ich, man muss wissen, mit wem man es zu tun hat, um sein Wirken ausreichend würdigen zu können, und vielleicht täusche ich mich tnicht in der Hoffnung, dass er bei allem, was ich über ihn sage, Sportsmann genug ist, nicht auch noch in eigener Sache zu klagen. (GW 181–182)
Der deiktische Ausdruck ,dies‘ markiert in dieser Passage das Überblenden der Lektüreposition des innerfiktional entworfenen und in der Figur des Rechtsanwalts konkretisierten Lesers mit derjenigen des Lesers der realen Realität. Das Erzählen Wilfrieds unterläuft hier also keineswegs Referenzialisierungsversuche, sondern erzeugt geradezu überhaupt erst den Realitätseffekt durch die narrative Selbstreflexion. Besteht die Funktion der Passage dabei darin, einen »distanzierten, ›objektivierenden‹ Blick des Lesers auf den Applikationsmo-
453 R. Parr, Raabes Effekte des Realen, S. 27. 454 J. Link: ›Wiederkehr des Realismus‹, S. 16.
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dus« 455 anzuregen, verbleibt die Applikation der fiktionalen auf die reale Realität gleichwohl in der Imagination des Ich-Erzählers hängen, so dass nicht sicher ist, ob die dem Rechtsanwalt unterstellte Lektürehaltung von diesem auch tatsächlich umgesetzt wird. Das in Aussicht gestellte Scheitern der Applikation Mraks kann also nicht innerfiktional »zur gebrochenen Identifikation oder zur Gegen-Identifikation« 456 genutzt werden. Das Problem scheint die Erzählperspektive zu sein. Dass die Applikation noch aussteht, bedeutet indes nicht, dass es keine solche gibt. Tatsächlich ist es die literarische Rezeption, die eben jene Zusammenhänge herstellt, die sich als applizierte Elemente der in der ganzen Wahrheit fiktional entworfenen Realität erweisen. Dazu zählt zum einen die mit dem ersten Satz von Gstreins Roman benannte Warnung, über die Hintergründe von Glücks Verlag besser nicht zu schreiben. So weiß etwa Elmar Krekeler in einem Artikel für die Welt das im Text unbestimmt belassene Personalpronomen ›man‹ in der realen Realität zu konkretisieren. Dass die Verlegerin aufs Übelste sexualisiert würde in dem Roman, hieß es. Dass sich Gstreins Verleger Michael Krüger, selber Suhrkamp-Autor, bei Ulla Unseld schon vorab entschuldigt habe. Der Umstand, dass Gstreins Urlesung parallel zur Urlesung von Christa Wolfs neuem (bei Suhrkamp erschienenem) Roman stattfand, gebar die Theorie, das sei Absicht, damit keiner der Suhrkamp Granden am Wannsee auftauchen könne.« 457
So sehr dieser auf kommunikativem ›Hörensagen‹ basierende Artikel die vom Roman bereits selbst thematisierten sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens in die reale Vermittlung der ganzen Wahrheit trägt, so sehr setzen Krekeler und seine Kollegen, wenn auch im souveränen Gestus des Wissens um das selbstredend eigentlich illegitime des Identifikationskurzschlusses, die in Aussicht gestellte Applikation der fiktionalen auf die reale Realität um. Denn tatsächlich erweist sich Teilen des Feuilletons zufolge Gstreins Roman analog den Vermutungen um Wilfried und Dagmar als »eine ironisch abgefederte Liebeserklärung«.458 Tilman Krause nutzt Die ganze Wahrheit schließlich dazu, auf ›ganz reale‹ literaturbetriebliche Beziehungssysteme hinzuweisen und damit Kritik am deutschsprachigen Feuilleton zu üben. In einem Artikel in der Welt, der unter dem Titel Neue Tendenzen in der Literatur-
455 J. Link: ›Wiederkehr des Realismus‹, S. 16. 456 J. Link: ›Wiederkehr des Realismus‹, S. 16. 457 E. Krekeler, Durch Suhrkamps Schlüsselloch. Siehe analog G. Bartels, Ora et Ira; Roland Mischke: Schlüsselroman unter Pornografie-Verdacht. In: Nürnberger Nachrichten vom 4. August 2010. 458 A. Widmann.
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kritik firmiert, bezieht sich Krause auch auf eine zuvor erschienene Besprechung von Gstreins Roman in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die nächste Variante neuerer Berufsauffassung ließ sich am Beispiel der Reaktionen auf Norbert Gstreins (wenigstens nicht für den Buchpreis kandidierende) Abrechnung mit der Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz ablesen, die da heißt »Die ganze Wahrheit«. Hier exzellierte nun ein Mann der »FAZ«, der ganz besonders folgsam Männchen macht. Männchen vor dem Hanser-Verlag oder Männchen vor Norbert Gstrein? Nun, dazu gibt es ein hübsches Gerücht, aber das behalten wir für uns. Jedenfalls bringt es der Kollege fertig, Gstreins perfide denunziatorische Machwerk als Spiel mit Fiktionen, Selbstfiktionalisierungen, On dits und übler Nachrede zu betrachten und seine hohe Literarizität zu rühmen, als sei das Buch gar nicht von dieser Welt. Dabei handelt es sich bei diesem Roman um den Versuch, einer nicht ganz unbedeutenden deutschen Verlegerin die geistige und moralische Satisfaktionsfähigkeit abzusprechen. Ja, um noch einmal auf den Rezensenten zu kommen, sind wir wieder bei Emil Staiger angelangt oder bei der heiligen Einfalt oder was?459
Krauses am Beispiel Gstreins pointierter Rundumschlag gegen die deutschsprachige Literaturkritik der Jahrtausendwende ist insofern erstaunlich, als er das, was er kritisiert, gleichsam auch selbst bedient: nämlich literaturbetriebliche Kommunikation im Medium des Klatsches. Die von ihm genannte Rezension in der FAZ stammt von Richard Kämmerlings, der in seiner ausführlichen Besprechung mehrere Lesarten der ganzen Wahrheit unterscheidet und diese schließlich in der Form des Schlüsselromans bündelt. Das ›verhüllende‹ Verfahren hebe allerdings nicht auf biographische Fakten oder Einblicke ›hinter‹ die Betriebskulissen ab. Die Form stehe vielmehr im Zeichen einer literarischen Auseinandersetzung mit Berkéwiczs Literaturprogramm.460 Was Krause mithin stört, ist die letztlich positive Bewertung, die er auf nicht näher bestimmte, mutmaßlich Gstrein, Kämmerlings und den Hanser-Verlag betreffende persönliche Beziehungssysteme zurückführt, um sich auf diese Weise in die von der ganzen Wahrheit entfalteten histoire einzuschreiben. Und so kann sich selbst die auftrumpfende Prognose, dass es keinen von Gstrein »ersehnten Herbstskandal« 461 geben werde, da Berkéwicz ihm nicht den Gefallen tun werde, gegen den Roman zu klagen, nicht dem Einzugsbereich der Selbstprogrammierung der ganzen Wahrheit verweigern.462
459 Tilman Krause: Neue Tendenzen in der Literaturkritik. In: Die Welt vom 21. August 2010. 460 Siehe Richard Kämmerlings: Den Teufel siezt man schließlich auch nicht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. August 2010. 461 R. Moritz, Trockener als Feuchtgebiete. 462 Vgl. Joachim Günter: Die fiktive Wahrheit. In: Neue Zürcher Zeitung vom 24. Juni 2010.
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Kein Grund zur Freude also für diejenigen, die Norbert Gstrein als Herbstsau durch das Literaturbetriebsdorf treiben wollten, und keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Verlagsjustiziare.463
Dabei ist an dieser Diagnose zunächst gleichwohl darauf hinzuweisen, dass Die ganze Wahrheit sich dezidiert darum bemüht, die Frage des Skandals, wie sie ihre feuilletonistische Rezeption prägt, im Stile von Billers Esras in einer Selbstreflexionsschleife vorwegzunehmen. Neben den genannten Verfahren der narrativen Inanspruchnahme des Schlüsselverfahrens zählen dazu auch solche Passagen, die Skandalisierung dezidiert als Konstruktionsleistung eines Beobachters ausweisen. So stellt der Ich-Erzähler etwa bei der Durchsicht des Nachlasses seines Verlegers mit Bezug auf ein etwaiges amouröses Verhältnis zwischen Glück und Falkner fest: »Man konnte die Sache drehen und wenden, bis einem schwindlig wurde, konnte spekulieren, konnte herumpsychologisieren, aber es gab keinen Skandal, es sei denn, man wollte einen konstruieren« (GW 213). Ist auch an anderer Stelle die Rede von »Skandal[en]« (GW 35) immer auch mit »dem Schielen auf eine billige Sensation« (GW 12) verbunden, die komplexe Sachverhalte vereinfache, ja »den Blick auf das Wesentliche verstell[e]« (GW 12), ist insbesondere eine Passage zu Dr. Mrak aufschlussreich. Sie [Dagmar; DCA] hatte ihn aus dem Telefonbuch, und wenn sie erzählte, wie sie in der langen Liste im Branchenverzeichnis ausgerechnet auf ihn verfallen war, konnte man einiges über sie lernen. Es war sein Name gewesen, ein sprechender Name, wenn man wie sie als »Grenzlandkind« ein bisschen Slowenisch konnte, weil »mrak« auf slowenisch Dunkelheit hieß, und sie sagte, dass ihn das allein schon vorzüglich qualifizierte, sagte es so, dass man nicht wusste, ob sie es ironisch meinte oder ernst, sagte es, als könnte sie jedenfalls nicht glauben, dass nur sie die Zeichen und Wunder erkannte, ja, als wäre es ein Skandal für sie, dass die belebten und unbelebten Dinge allein ihr die Wahrheit offenbarten und alle anderen blind und taub durchs Leben gingen. (GW 181)
Interessant ist diese Passage in zwei Hinsichten. Einerseits bindet sie die Frage der Skandalisierung an einen hermeneutisch ausgerichteten Beobachter zurück, um auf diese Weise den grundsätzlichen Konstruktcharakter von Skandalen herauszustreichen. Andererseits ist Dagmars, an Lavater geschultes, gleichwohl vom Körper auf den Namen umgeleitetes Selektionskriterium zur Bestimmung ihres Rechtsanwalts interessant und zwar dehalb, weil die Figur Dagmar
463 R. Moritz, Trockener als Feuchtgebiete. Zu dieser Vermittlungsstrategie gehört auch, dass Moritz eine Kritik zu einem Zeitpunkt verfasst, zu dem der Roman noch gar nicht veröffentlicht ist. Dieses Verfahren erinnert durchaus an die Skandalisierung im Umfeld von Walsers Tod eines Kritikers, hatte Frank Schirrmacher doch eine Kritik verfasst, als den Roman noch niemand kennen konnte.
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in der LCB-Ankündigung noch Kathrin heißt.464 Der Umwandlung in den altslawischen Namen Dagmar, der ebenso wie Ulla im skandinavischen Bereich gebraucht wird, verkoppelt im Verfahrensmodus der auf den Umgang mit Namen applizierten Physiognomik, der Fertigkeit, »durch das Aeußerliche eines Menschen sein Innres zu erkennen«,465 reale und fiktionale Realität dermaßen, dass dieses Verfahren gemäß Gstreins Label geradezu nach einer innerfiktionalen Reflexion verlangt. Und tatsächlich heißt es an einer Stelle: »Sie hieß Jagoda, noch so ein sprechender Name, wie ihn auch ein schlechter Romancier nicht besser hätte erfinden können« (GW 184). Bezeichnenderweise führt der Autor denn auch selbst die von seinem Roman profilierten Applikationen durch. So betont Gstrein nämlich nicht nur, er habe »das Buch vorab einem Experten unter juristischen Gesichtspunkten zu lesen gegeben«.466 Darüber hinaus werden die vom Text erzeugten Schlüsselund Realitätseffekte sowie die mit diesen einhergehende Lektüre der ganzen Wahrheit als Medium einer auktorial-betrieblichen ›Abrechnung‹ trotz innerfiktionaler Reflexion durch Kopplungen zwischen Ich-Erzähler und Autor an anderer Stelle wiederum hervorgehoben. Im Zentrum steht dabei die Schreibmotivation. Beschreibt die literaturkritische Rezeption Die ganze Wahrheit wiederholt als »Gegenbuch« 467 zu Berkéwiczs Überlebnis, so knüpft sie damit nicht nur an der innerfiktional platzierten Formulierung »Gegenprogramm« (GW 258) an. Darüber hinaus ergeben sich auch auf der Ebene des auktorialen Selbstkommentars bei allem Zurückweisen des Schlüsselcharakters auffallende Überschneidungen in der Absicht, ein Buch über eine Verlegerin zu schreiben. So hält der Ich-Erzähler fest: Ich mag nicht beurteilen, ob Heinrich Glück selbst ein bedeutender Mann war, aber seit es Dagmars Buch über ihn gibt, erübrigt sich für mich die Frage, ob er eine Biographie verdient. Denn es ist eine Selbstverständlichkeit, mehr nicht, dass es wenigstens auch etwas zu seinem Leben geben sollte, wenn er schon die fragwürdige Ehre hat, dass sein Tod zum Gegenstand einer sehr freien Phantasie geworden ist. (GW 254)
464 Siehe LCB – Literarisches Colloquium Berlin: Programmarchiv 06/2010. http:// www.lcb.de/archiv/index.htm?jahr=10&monat=06 (10. 07. 2011). 465 Johann Caspar Lavater: Das menschliche Äußere als Medium des Inneren. In: Günter Helmes u. Werner Köster (Hg.): Texte zur Medientheorie. Stuttgart 2002, S. 67–71, hier S. 67. Die Hervorhebungen sind weggelassen. 466 Zitiert nach »Man wird aufgespießt wie ein Insekt«. Interview von »profil« mit Norbert Gstrein, in: profil (Wien) vom 16. August 2010, S. 88–92. Diese wiederum zitiert nach Norbert Gstrein und »Die ganze Wahrheit«. In: Ausblicke. Zeitschrift für Österreichische Kultur und Sprache 32 (2010), Heft 12, S. 37–38. 467 S. Löffler, Gestus gehässiger Abrechnung.
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Mit dieser Passage und dem Anspruch, »das Andenken von Heinrich Glück vor ihr in Schutz zu nehmen« (GW 20), kreuzt sich gleichsam die Motivation des Ich-Erzählers mit Formulierungen Gstreins, wie sie der Autor in Interviews aus Anlass des Erscheinens seines Romans platziert, sei sein Roman doch in »Opposition zu Berkéwiczs Buch« zu denken.468 Und auch in einem anderen Artikel legt der Autor den Identifikationskurzschluss mit seinem Ich-Erzähler provokativ nahe. Immerhin hat Die ganze Wahrheit noch eine andere Vorgeschichte. Ende der neunziger Jahre schrieb Gstrein ein Theaterstück, in dem eine an Ulla Berkéwicz erinnernde Figur mit einem Stück am Burgtheater durchfällt, eine Szene, die jetzt in Die ganze Wahrheit steht. »Siegfried Unseld sagte«, so Gstrein, »dass wir dieses Stück nicht veröffentlichen sollten. Damit würden wir uns und Ihnen keinen Gefallen tun. Unseld war dabei völlig entspannt. Das Stück müsste noch im Suhrkamp-Archiv liegen«.469
Der Verweis auf ein unveröffentlichtes Theaterstück, das offensichtlich ebenso auf Schlüsselverfahren zurückgreift wie Die ganze Wahrheit und deshalb von Suhrkamp-Verleger Unseld zurückgehalten worden sein soll, erzeugt auch, nun auktorial legitimiert, den Rückkopplungseffekt zwischen der ganzen Wahrheit und der Verleger-Witwe aus der realen Realität. An anderer Stelle führt Gstrein denn auch mehr oder weniger explizit den ›Bruch‹ mit dem Suhrkamp-Verlag und Verlegerin Berkéwicz als Movens seines Schreibens an: Was zum Bruch geführt hat, darüber spricht er vielsagend-verklausuliert, der Auslöser sei nicht der Rede wert gewesen. Dann nennt Gstrein Namen von Lektoren und Autoren, die den Verlag verlassen haben und denen er nahe stand. Das brachte für ihn Loyalitätskonflikte mit sich, der Umgang des Verlages mit diesen Trennungen konnte und wollte er nicht gutheißen. Schließlich formuliert er es so: »Ich war in einer Lage, in der ich Fiktionen für die Wirklichkeit hätte halten sollen. Ich musste mich entscheiden. Wer die Macht hat, allgemein gesprochen, kann Untergebenen ins Gesicht lügen, ohne diese Lügen im geringsten zu kaschieren, und sie für die Wirklichkeit ausgeben. Man kann natürlich versuchen, diese Macht seinerseits durch Fiktionen zu untergraben. Damit hätten sie auch einen Subtext meines Romans.« 470
Interessant ist dieser Artikel vor allem deshalb, weil er einerseits in einer Semantik des Verhüllens vermeintliche Intimitäten und Hintergründe in Aussicht stellt, es sich jedoch bei diesen – andererseits – tatsächlich um ohnehin massenmedial und feuilletonistisch bekannte Zusammenhänge handelt. Ihre Verdichtung findet dieses Verfahren in dem Hinweis darauf, Gstrein habe mehr-
468 Siehe N. Gstrein, »Wem gehört die Geschichte eines Toten?«. 469 G. Bartels, Besessen von der Causa Suhrkamp. 470 G. Bartels, Besessen von der Causa Suhrkamp.
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mals darum gebeten, »das Aufnahmegerät auszustellen, um eine weitere, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Suhrkamp-Geschichte zu erzählen.« 471 Von entscheidender Relevanz für die Literaturbetriebs-Szene, wie sie Die ganze Wahrheit entwirft, ist nun, dass die paratextuelle Vermittlung des Textes nicht allein in den diversen Applikationselementen aufgeht. Der vertikale Vektor realistischen Erzählens wird von Gstreins Literaturbetriebs-Szene vielmehr so geformt, dass die provoziert explizite Applikation und deren auktorial-paratextuelle Reflexion die Vorstellung, Literatur könne Tatsachen schaffen, derart subvertiert wird, dass die aus diesem ausgestellten Selbstreflexionsprozess übrig bleibende »Residualität« 472 umso realistisch-applizierbarer erscheint. Zwei Beispiele mögen diesen Verfahrenseffekt veranschaulichen. So bemerkt Gstrein in der bereits zitierten Literatursendung erLesen im Gespräch mit Moderator Heinz Sichrovsky, er habe mit den feuilletonistischen Reaktionen auf Die ganze Wahrheit geradezu gerechnet: Andererseits: Bei diesem Buch ist das fast eine Spielanleitung, das gehört gewissermaßen dazu. Ich habe gewusst, geahnt zumindest, was mir widerfahren wird und genau das ist mir widerfahren. Der erste Satz des Buches ist ›Man hat mir abgeraten, darüber zu schreiben‹ – nicht von mir gesagt, sondern von meinem Erzähler gesagt. Und der Erzähler malt sich aus, was ihm passieren wird, wenn er dieses Buch schreibt. Und er malt sich ziemlich genau das aus, was dann auch tatsächlich eingetreten ist. Das gehört also zum Spiel.473
Gstrein benennt in dieser Passage explizit das auf Applikation abzielende Verfahren seines Textes, um dieses in die Selbstprogrammierung der ganzen Wahrheit zurückzubinden. Die damit gleichsam ausgestellte auktoriale Kontrolle der feuilletonistischen Reaktionen als Teil einer bereits im literarischen Werk vorgezeichneten »Handlungsanleitung ins Negative« 474 führt Die ganze Wahrheit zwar in solche Verfahren zurück, die Literarizität über die Zuschreibung narrativer Selbstreflexion herstellen – die Argumentation um Billers Esra ist in diesem Zusammenhang das Paradebeispiel schlechthin. Und dennoch oder gerade deshalb ist für die Literaturbetriebs-Szene der ganzen Wahrheit bezeichnend, dass auch und gerade noch die vom Autor ausgestellte Reflexion der
471 G. Bartels, Besessen von der Causa Suhrkamp. 472 R. Parr, Raabes Effekte des Realen, S. 29. Gstrein provoziert nicht zuletzt damit: »»Sie hat ihn umgebracht.«« (GW 14) 473 erLesen. Min. 11:23 bis 11:59. 474 So die Formulierung Gstreins in einem anderen Interview. »Und gleichzeitig fast so etwas wie eine Handlungsanleitung ins Negative. Der Roman fordert gewissermaßen seinen Widerspruch von der ersten ... den Widerspruch von der ersten Zeile an heraus.« Gespräche zur Buchmesse: Norbert Gstrein (Zeit Online) http://video.zeit.de/video/627940136001 (02. 11. 2010), Min. 5:42 bis 5:58. Das Transkript stammt von mir.
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Applikationsprovokation in die Selbstprogrammierung des Textes fällt – mit anderen Worten: So wie im Text durch die narrative Selbstreflexion des IchErzählers immer auch ein residualer Rest an ›harten Fakten‹ übrig bleibt, so ist eben dies auch in der paratextuell greifbaren realen Realität der Fall. Auch das zweite Beispiel deutet in diese Richtung. Dabei handelt es sich um das ebenfalls bereits angeführte Interview Julia Enckes mit Gstrein. Auf die applizierende Frage, wie er sich mit seinem literarischen Schreiben gegen juristische Einwände abgesichert habe, antwortet Gstrein Folgendes: Abgesichert habe ich mich vor allem dadurch, dass ich meinen Roman tatsächlich auch für einen Roman halte, und, nein, ich befürchte keine Klagen. Denn ich muss als Autor auf die Kraft der Fiktion vertrauen und komme gleichzeitig nicht umhin, mich der Realität als Material zu bedienen. Die Realität ist unter anderem Ulla Berkéwiczs Buch »Überlebnis«. Das ist vom Feuilleton weitgehend als ein Buch über das Sterben ihres Mannes Siegfried Unseld aufgenommen worden; sie selbst aber hat es in wenigstens einem Interview – ich glaube sogar mit Ihrer Zeitung – und ohne Zweifel mit guten Gründen als Fiktion deklariert. Wir haben jetzt geradezu eine Parallelsituation: Ein Autor – ich –, der eine Fiktion von einer schreibenden Verlegerin entwirft, wie Ulla Berkéwicz – eine Autorin – zuvor eine Fiktion von einem sterbenden Verleger entworfen hat, und wieder ist es das Feuilleton, das die Verbindung zu realen Personen unterstreicht. Nur dass sich bei Berkéwiczs Buch meines Wissens niemand oder jedenfalls fast niemand zur Verteidigung von Siegfried Unseld aufgerufen gefühlt hat. Vielleicht können Sie darin eines der starken Motive für mein Schreiben finden: Eine Fiktion als Antwort auf eine Fiktion.475
Die im letzten Satz dieser Passage benannte Konfrontation zweier ›Fiktionen‹, die sich materialiter in Gstreins ganzer Wahrheit und Berkéwiczs Überlebnis realisieren, ruft Gstreins Begriff der ›fiktiven Verteidigungsschrift‹ auf, wie er ihn im Zusammenhang des Selbstportraits mit einer Toten profiliert. Das damit elementar verbundene Überblenden von ›Fakten und Fiktion‹, primärer und sekundärer Formen, kommt nämlich auch im Kontext der ganzen Wahrheit zum Einsatz. Trotz, genauer: wegen aller Koketterie mit selbstreferentiellen Rückkopplungen und dem Verweis auf Realität als Ausgangspunkt von Fiktion ist und bleibt Die ganze Wahrheit Ausdruck betrieblicher Beziehungen. Ebenso wie die vom Text entworfene fiktionale Realität, die sie behauptet zu sein, realisiert sie sich kommunikationstheoretisch eben nicht als ›Fiktion‹, sondern als primäres Gegenstück zu Gstreins im Literarischen Colloquium antizipierend entfaltete ›Verteidigungsschrift‹, als Betriebspaxis, deren Wirkung nicht auf die Fiktion, sondern auf den Literaturbetrieb zielt. Das Desillusionierungsprojekt des Ich-Erzählers transformiert sich in Gstreins Desillusionierungsprojekt, vollzieht damit den Schritt aus der Fiktion in den ›Boulevard‹ und die ›Klatschspal-
475 J. Encke, Niemand hat Siegfried Unseld verteidigt.
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ten‹ zumindest des Feuilletons und dessen Lektüremodellen. Während der IchErzähler Dagmars Wahrheitsanspruch als Illusion entlarvt und sein eigenes Erzählen als an den Tatsachen orientiert ausweist, die aber vom Text wiederum als problematisch ausgewiesen werden, konstituiert Die ganze Wahrheit im selben Moment eine Mimesis des Erzählens von diesem Erzählen. Wenn der Autor eben dieses Verfahren wiederum paratextuell kommentiert und reflektiert, so übernimmt er genau damit das grundlegende Prinzip seines Textes. Und so ist denn auch der Verfahrenseffekt der Selbstreflexion im Paratext derselbe. Die Vermittlungsebene des Autors wird selbst zum Gegenstand der literarischen Inszenierung, der Literaturbetriebs-Szene. So sehr Gstrein sich auch darum bemüht, sein ›selbstreflexives Erzählen‹ zu explizieren, mit seinen diversen auktorialen Paratexten knüpfen letztlich nur an der innertextuell vollzogenen ›Selbstreflexion‹ an und erzeugen auf diese Weise ex negativo die ›harten Fakten‹ der Realität, die feuilletonistisch ›wirken‹.
6 Das Verderben der Literatur durch die Literatur: Ernst-Wilhelm Händler 2006 erscheinen die im deutschen Feuilleton vieldiskutierten Lichtjahre Volker Weidermanns. Die kurze Geschichte der deutschen Literatur – so der Untertitel des Bandes – interessiert sich insbesondere für den Zusammenhang von ›Leben‹ und ›Schreiben‹ und schildert die Geschichte der deutschsprachigen Literatur zwischen 1945 und 2005 anhand einer Reihe von »Lebens- und Werkporträts«.1 Dieses Programm eines an den biographischen Hintergründen des Schreibens ausgerichteten Interesses, mitunter als »Schriftstellerlebensgeschichtskitsch« 2 beschrieben, setzt Weidermann auch im Abschnitt zu ErnstWilhelm Händler um, kommt er doch auch dort auf die spezifischen Lebensumstände des Autors zu sprechen. Weidermann besucht Händler in Regensberg, wo dessen Industriebetrieb ansässig gewesen sei. Er hatte die Firma Anfang der neunziger Jahre von seinem Vater übernommen. Händler war der Chef. Chef von zweihundert Mitarbeitern. Und Ernst-Wilhelm Händler ist der Autor eines erstaunlichen Romanwerks, in dem viele Fäden der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und ihrer Geschichten zusammenlaufen.3
Die Konjunktion ›und‹, die in diesem Abschnitt den letzten Satz einleitet, verdeutlicht in nuce Weidermanns Programm: die Engführung von ›Leben‹ und ›Literatur‹. Verdichtet wird dieses Verfahren in dem von Weidermann geprägten Label des »Unternehmensdichter[s]«.4 Auch wenn seine Herangehensweise dem eigenen Projekt geschuldet ist, so liegt der Literaturkritiker mit seinem Vorgehen im Fall von Händler durchaus im Mainstream der feuilletonistischen Auseinandersetzung mit dem mittelständischen Unternehmer. Denn nicht erst seit den Lichtjahren gilt Händler weiten Teilen der Literaturkritik als »Ausnahmeerscheinung unter den deutschsprachigen Gegenwartsautoren«.5 Nicht nur zeichne sich der Autor demnach durch überaus »raffiniert gebaute Romane« 6 aus, die »komplizierte Vorgänge und Verflechtungen der Geschäftswelt« 7 lite-
1 Volker Weidermann: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur seit 1945 bis heute. Köln 2006, S. 10. 2 Ina Hartwig: Ich und der Dichter. In: Frankfurter Rundschau vom 3. April 2006. 3 V. Weidermann, Lichtjahre, S. 233. 4 V. Weidermann, Lichtjahre, S. 234. 5 Sabine Franke: Wär so gern ein Partisan. In: Frankfurter Rundschau vom 4. Oktober 2006. 6 Nicole Henneberg: Schreiben – die einzige Liebe. In: Basler Zeitung vom 6. Dezember 2006. 7 S. Franke.
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rarisierten und ihren ›gnostisch‹ interessierten Lesern ›einiges abverlangten‹. Auffallend ist darüber hinaus, dass nahezu jede Besprechung eines Textes von Händler dessen »ziemlich kräftezehrendes Doppelleben« 8 hervorhebt. Im ›Hauptberuf‹ Chef seines Maschinenbaubetriebes beziehungsweise Manager sei Händler geradezu dazu gezwungen, eben dann zu schreiben, wenn andere ihre Freizeit genießen könnten. Und in dieser Doppelung von literarischer Komplexität und »intensive[m] Brotberuf«,9 für den sich ›Emphatiker‹ wie Weidermann interessieren mögen,10 von »Schriftsteller und Unternehmer« 11 also, findet das Label ›Händler‹ im Literaturbetrieb seinen Ort. Wie ›Leben‹ und ›Schreiben‹ miteinander verflochten sind, erweist sich in dieser Perspektive, aber nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des Milieus, in dem die Romane thematisch angesiedelt sind, als eine durchaus legitime Herangehensweise. Das von Weidermann ›emphatisch‹ betonte Unternehmertum Händlers ist im Sinne Hubert Winkels Teil einer ›gnostisch‹ zu klärenden literarischen Inszenierung. Im Folgenden geht es mithin nicht um die ›tatsächliche‹ außerliterarische Tätigkeit Händlers. Mit und gegen Weidermann steht vielmehr die Frage im Zentrum, welche Funktion das Label ›Unternehmensdichter‹ für Händlers Programm hat. Es geht also, mit anderen Worten, um die Frage, ob man dem ›Leben‹ Händlers nicht auch ›gnostisch‹ auf die Spur kommen kann. Tatsächlich scheint nämlich die Betonung, dass Händler ›tatsächlich‹ Unternehmer sei, die programmatische Funktion der Unternehmenssemantik mehr zu verstellen als zu erhellen.
6.1 Die Frau des Schriftstellers lesen 2007 findet das 21. Freiburger Literaturgespräch statt. Die vom Kulturamt der Stadt Freiburg organisierte Veranstaltung reiht sich in den »in der Öffentlich8 Rolf Thym: Wie Sprachwelten eines Unternehmers die Feuilletons erobern. In: Süddeutsche Zeitung vom 15. Mai 1999. 9 Helmut Böttiger: Wenn das eigene Leben plagiiert wird. In: Deutschlandfunk vom 9. November 2006. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/561064/ (20. 12. 2011). 10 Vgl. Hubert Winkels: Emphatiker und Gnostiker. In: Die Zeit vom 30. März 2006. Siehe grundsätzlich auch Stefan Neuhaus: Von Emphatikern, Gnostikern, Zombies und Rettern: Zur aktuellen Situation der Literaturkritik in den Printmedien. In: Renate Giacomuzzi u. a. (Hg.): Digitale Literaturvermittlung. Praxis – Forschung – Archivierung. (Angewandte Literaturwissenschaft 10) Innsbruck u. a. 2010, S. 36–47; Daniela Strigl: Seher, Emphatiker, Gnostiker. Literaturkritik und Literaturtheorie. In: Primus Heinz Kucher u. Doris Moser (Hg.): Germanistik und Literaturkritik. Zwischenbericht zu einer wunderbaren Freundschaft. (Stimulus 2006) Wien 2007, S. 35–48. 11 Ijoma Mangold: Der Wert-Schöpfer. In: Süddeutsche Zeitung vom 16./17. September 2006.
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keit beobachtbaren Lesungsboom« 12 der Jahrtausendwende ein, wie er in der gestiegenen Bedeutung von bestimmten Institutionen (etwa Literaturhäusern), spezifischen Projekten (Literaturfestivals), aber auch von einzelnen Veranstaltungsformaten (wie Poetry Slams) für die Vermittlung von Literatur zum Ausdruck kommt. Bei allen Unterschieden im Einzelnen sind diesen Vermittlungsformen zwei Aspekte gemeinsam. Erstens stehen sie im Zeichen einer »Profilierung der performativen Dimension von Literatur«,13 die deren »prozessuale, gemeinschaftsstiftende Inszenierung« 14 im Auge hat. Der damit verbundene Anspruch, »Literatur erlebbar und zum Ereignis machen [zu; DCA] wollen«,15 lässt sich – zweitens – als »Effekt von Mediengesellschaft« 16 verstehen. Die Transformation von Literatur in »publikumswirksame[ ] Ereignis[se]« 17 ist demnach nicht zuletzt eine Marketingstrategie literaturvermittelnder Akteure und Organisationen, die darauf abzielt, Literatur und Autoren unter den Bedingungen gestiegener Medienkonkurrenz (wieder) zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Das Literaturgespräch lässt sich in diesen Zusammenhängen insofern verorten, als es – trotz des asketischen Singulars im Titel – in für Literaturfestivals typischer Weise das ›Einmalige‹ serialisiert (immerhin handelt es sich bereits um die 21. Auflage) und mittels eines »Spektrum[s] von Lesungen« 18 Literatur in gediegener Form zum Erlebnis werden lässt: »13 renommierte Autoren lesen aus ihren Büchern und stehen danach für Diskussionen mit Moderatoren und dem Publikum zur Verfügung«.19 Zu den Autoren, die zwischen dem 8. und 11. November in den Neuen Ratssaal des Freiburger Rathauses kommen und aus ihren Texten lesen, zählen neben Arnold Stadler, Ilija Troja-
12 Severin Perrig: Stimmen, Slams und Schachtel-Bücher. Eine Geschichte des Vorlesens. Von den Rhapsoden bis zum Hörbuch. Bielefeld 2009, S. 9. 13 Katrin Kohl: Festival, Performance, Wettstreit: deutsche Gegenwartsliteratur als Ereignis. In: Nicholas Saul u. Ricarda Schmidt (Hg.): Literarische Wertung und Kanonbildung. Würzburg 2007, S. 173–190, hier S. 180. 14 K. Kohl, Festival, Performance, Wettstreit, S. 180. 15 Thomas Wegmann: Literaturfestival. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 223–226, hier S. 224. 16 Thomas Wegmann: Zwischen Gottesdienst und Rummelplatz. Das Literaturfestival als Teil der Eventkultur. In: Erhard Schütz u. Thomas Wegmann (Hg.): literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing. Berlin 2002, S. 121–136, hier S. 133. 17 T. Wegmann, Zwischen Gottesdienst und Rummelplatz, S. 133. 18 T. Wegmann, Literaturfestival, S. 223. 19 Literaturbüro Freiburg: Pressespiegel 2007, Badische Zeitung vom 7. November 2007. http:// www.literaturbuero-freiburg.de/cms/2007–11-07_Badische_Zeitung.246.0.html (24. 04. 2012). Siehe zum Freiburger Literaturgespräch allgemein http://www.freiburg.de/literaturgespraech (24. 04. 2012).
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now, Antje Rávic Strubel und anderen auch Ernst-Wilhelm Händler, der dem Publikum seinen Roman Die Frau des Schriftstellers präsentiert. Steht die ›Eventisierung‹ von Literaturvermittlung bisweilen im Verdacht, eine ›gemeinschaftliche Entlastung vom Buch‹ 20 zu erzeugen, also vom Wesentlichen abzulenken, ist die von der Freiburger Veranstaltung versprochene »direkte[ ] Begegnung mit dem Autor (der hier und jetzt für sein Werk einsteht)« 21 im Falle Händlers in einer gleichsam multiplizierten Hinsicht problematisch. Händlers Romane gelten nämlich als solche Texte, die sich spezifisch gegen ihre Vermittlung wehren: Machen Teile der Literaturkritik, aber auch der Literaturwissenschaft immer wieder darauf aufmerksam, dass »die Lektüre eines Erzähltextes von Ernst-Wilhelm Händler manchen Lesern Schwierigkeiten bereitet«,22 Händlers Romane mithin »als komplex und, folgt man dem Mainstream, wenig marktgerecht« 23 gelten, verstärkt sich dieses Komplexitätsproblem im öffentlichen Vortrag. So hält Katja Möhrle bereits 1997 mit Bezug auf eine Lesung aus Fall fest, Händlers Roman sei für Lesungen eigentlich nur »bedingt« 24 geeignet. Um ein Verständnis für das anspruchsvolle Werk des Autors zu entwickeln, sei tatsächlich »eine genaue Auseinandersetzung mit dem Inhalt und seinen Bezügen unumgänglich«.25 Das »Event Dichterlesung«,26 das als Vermittlungsformat immer nur einen kleinen Einblick bieten könne, leiste dies nicht, ja Händlers Roman sei gerade nicht »auf den Zweck späterer öffentlicher Vorlesung hin verfasst«.27
20 Siehe zu dieser Beobachtung T. Wegmann, Literaturfestival, S. 225. 21 Thomas Böhm: Lesung. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 203–206, hier S. 205. 22 Thomas E. Schmidt: Ultra-Transparenz. Ernst-Wilhelm Händlers Ökonomie des Textsinns. In: Lutz Hagestedt u. Joachim Unseld (Hg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler. Frankfurt a. M. 2006, S. 245–255, hier S. 245. 23 Lutz Hagestedt u. Joachim Unseld (Hg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler. Frankfurt a. M. 2006, Text auf dem Buchrücken. 24 Katja Möhrle: »Im Roman kann man noch Urteile fällen«. Der Autor Ernst-Wilhelm Händler stellt im Frankfurter Literaturhaus sein Buch »Fall« vor. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Oktober 1997. 25 K. Möhrle. 26 Gunter E. Grimm: ›Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.‹ Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation. In: Gunter E. Grimm u. Christian Schärf (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen. Bielefeld 2008, S. 141–167, hier S. 166. 27 Christoph Bartmann: Dicht am Dichter. Die Lesung als Ritual und Routine. In: Anja HillZenk u. Karin Sousa (Hg.): To read or not to read. Von Leserinnen und Leseerfahrungen, Leseförderung und Lesemarketing, Leselust und Lesefrust. (Publications of the Institute of Germanic Studies 83) München 2004, S. 120–129, hier S. 126.
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Auch im Freiburger Literaturgespräch kommt es mit Blick auf die unterstellte Komplexität von Händlers Texten zu Irritationen, die den mit dem Veranstaltungsformat üblicherweise verbundenen Erwartungen auf Einblicke »hinter den Rücken des Textes« 28 widersprechen. Literaturkritiker Helmut Böttiger moderiert Händlers Lesung und stellt Die Frau des Schriftstellers einleitend kurz vor. Der jetzige Roman Die Frau des Schriftstellers führt anhand des Schriftstellerdaseins etwas vor, was er in den vorrangegangenen Romanen im Wirtschaftsleben, in der Philosophie, in der Architektur vorgeführt hat: In einem bestimmten Gesellschaftszweig werden die Mechanismen genau strukturiert und untersucht.29
Böttigers Anmoderation reiht Die Frau des Schriftstellers in Händlers bisher erschienene Romane ein und betont dabei die Vergleichbarkeit zwischen den Texten. Lasse sich demnach der vorliegende Roman wie die bisherigen einem gesellschaftlichen Funktionsbereich zuordnen (›Schriftstellerdasein‹), stehe Die Frau des Schriftstellers in Kontinuität zu Händlers bisherigem Werk, ja folge einem allgemeinen literarischen Programm, das sich an je unterschiedlichen Gegenständen immer wieder neu erprobe. Gemäß der für Lesungen typischen »Sequenz von öffentlichen (Sprech-)Handlungen« 30 kommt Händler im Gespräch nach der ›eigentlichen‹ Lesung aus der Frau des Schriftstellers auf eben dieses Programm auch selbst zu sprechen. Es [das Buch; DCA] behandelt nicht, das wäre jetzt ein Missverständnis, den Literaturbetrieb als Betrieb irgendwo. Also es kommen jetzt da nicht jetzt typische Situationen oder Leute vor. Und auch weil Sie den Namen Siegfried Unseld erwähnt haben: Ich hab’ sorgfältig drauf geachtet, die Verleger-Figur nicht mit den Zügen auszustatten, die Siegfried Unseld möglicherweise hatte.31
28 C. Bartmann, Dicht am Dichter, S. 126. 29 Die Lesungen im Rahmen des Freiburger Literaturgesprächs werden für das Radio aufgezeichnet und in der Reihe »Lesefest bei Radio Dreyeckland« vom 24. Dezember bis 7. Januar gesendet. Vgl. Lesefest bei Radio Dreyeckland: Vom 24. Dezember bis 7. Januar auf UKW 102.3 MHz. http://www.rdl.de/index.php?option=com_content&view=article&id=682&catid= 150&Itemid=493 (24. 04. 2012). Hier Lesefest bei Radio Dreyeckland: Ernst-Wilhelm Händler, 28. Dezember 2007, 18 Uhr, Min. 04:44 bis 05:01. Das Transkript hier und im Folgenden stammt von mir. 30 Nach Bartmann lassen sich Lesungen als eine »fünfgliedrige Sequenz von öffentlichen (Sprech-)Handlungen [beschreiben; DCA]: erstens die (An-)Moderation, zweitens die eigentliche (Vor-)Lesung, drittens das (wiederum moderierte) Gespräch mit dem Publikum samt ›Abmoderation‹, viertens die Signierstunde und fünftens das gesellige Beisammensein«. C. Bartmann, Dicht am Dichter, S. 125. Siehe zur Strukturierung von Lesungen auch S. Perrig, S. 92– 93. 31 Lesefest bei Radio Dreyeckland: Ernst-Wilhelm Händler, Min. 22:37 bis 23:11.
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Händler thematisiert in dieser Passage eine für die Rezeption der Frau des Schriftstellers nicht unwichtige Bemerkung Böttigers, die sich auf jenen Abschnitt bezieht, den Händler in Freiburg vorliest: Der dort auftretende Verleger Guggeis hält in dem fraglichen Abschnitt einen Monolog auf der Frankfurter Buchmesse, in dem sein Selbstverständnis als Verleger zum Ausdruck kommt.32 Relevant ist diese Roman-Passage insbesondere deshalb, weil in ihr zum einen das programmatische Verständnis Guggeis’ als Leiter der Verlags deutlich wird. Demnach handelt es sich beim Guggeis-Verlag um eine strikt hierarchisch strukturierte Organisation, die Entscheidungen auf Guggeis selbst umlegt. Der Verleger ist aber gleichwohl nicht nur der maßgebliche Entscheider in der Verlagsorganisation, sondern weiß sich zudem sowohl vor den Verlagsmitarbeitern als auch in der literarischen Öffentlichkeit insgesamt als souveräner literarischer Akteur in Szene zu setzen. Genau damit erzeugt der Text jedoch einen Realitätseffekt, der den Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld betrifft. So wie Guggeis glaubt Unseld nämlich, folgt man der von Peter Michalzik vorgelegten Biographie, »dass man einen Autor machen kann, dass gute Autoren durch gute verlegerische Betreuung bessere Autoren werden. Der ideale Autor erscheint als Material in den Händen des Verlegers.« 33 Unseld gilt der Literaturkritik als der dominierende Akteur schlechthin des deutschen Literaturbetriebs zwischen 1945 bis in die 1990er Jahre hinein, eine Dominanz, die, wie Uwe Wittsock in einem Essay-Band festhält, den Tod des Verlegers 2002 als »Dämmerung« 34 des Literaturbetriebs erscheinen lässt. »Was einst Ordnung stiftete, ist dahin, die Zukunft ist offener denn je, die Dinge sind in Bewegung geraten. Was kommt, wird nicht mehr zwischen die alten Korsettstangen passen.« 35 Während Moderator Böttiger ausgehend von diesem Abschnitt Die Frau des Schriftstellers insgesamt als ›Schriftstellerroman‹ liest, betont der Autor selbst, dass das dem Text zugrundeliegende Programm »ein bisschen komplexer noch« 36 angelegt sei, die Diskussion dieser Form im Rahmen der Lesung jedoch »fast ein bisschen zu weit [führe; DCA]«.37 Händlers lediglich als Verspre-
32 Vgl. Lesefest bei Radio Dreyeckland: Ernst-Wilhelm Händler, Min. 05:36 bis 20:30. Siehe den Abschnitt in Ernst-Wilhelm Händler: Die Frau des Schriftstellers. Roman. Frankfurt a. M. 2006. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle FS in runden Klammern im Text, hier S. 39–47. 33 Peter Michalzik: Unseld. Eine Biographie. München 2002, S. 338. 34 Uwe Wittstock: Die Büchersäufer. Streifzüge durch den Literaturbetrieb. Springe 2007, S. 65. 35 U. Wittstock, Die Büchersäufer, S. 65. 36 Lesefest bei Radio Dreyeckland: Ernst-Wilhelm Händler, Min. 42:50 bis 42:52. 37 Lesefest bei Radio Dreyeckland: Ernst-Wilhelm Händler, Min. 42:58 bis 43:01.
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chen gesetzte Aussicht auf ›Komplexität‹ steht im Zeichen einer auktorialen »Steuerungsstrategie[ ]«,38 die sich gegen die Inszenierung von Literatur als publikumswirksames Ereignis sperrt, ja dem Betrieb ein literarisches Programm in Aussicht stellt, das sich in seiner ›Komplexität‹ der Vermittlungsform entziehe. Die Frau des Schriftstellers wehrt sich gleichsam dagegen, »durch öffentliches Lesen domestiziert« 39 zu werden. Genau damit entfaltet sich indes eine Literaturbetriebs-Szene, die gerade im Zurückweisen des ›Betriebs‹ die Verkettung von primären und sekundären Formen literarischer Kommunikation realisiert.
6.1.1 Ein gigantomanisches Erzählprojekt (Unlesbarkeit I) Auch im Interview mit dem Büchermagazin Diwan auf Bayern 2 betont ErnstWilhelm Händler, dass Die Frau des Schriftstellers »kein Schlüsselroman« 40 sei. In den Roman gingen »überhaupt keine existierenden Leute herein, ja. Also es gibt nicht irgendjemanden, der wäre Vorbild dafür, die wäre Vorbild dafür«.41 Ist Händlers Zurückweisen von Referenzialisierungen der vom Text entworfenen Figuren und Handlungszusammenhänge durchaus kein ungewöhnlicher auktorialer Sprechakt, nutzt die literaturkritische Rezeption der Frau des Schriftstellers die »Unterscheidung von realer und fiktionaler Realität« 42 dazu, Händlers Roman als »alles andere als eine Klamotte aus oder Parodie auf den Literaturbetrieb« 43 zu klassifizieren. Durchaus analog den LiteraturbetriebsSzenen von Andreas Maier und Norbert Gstrein weist das Feuilleton nahezu durchgehend Einordnung und Lektüre der Frau des Schriftstellers als ›Literaturbetriebsliteratur‹, wenn nicht explizit, so zumindest implizit zurück. Gerade im Falle Händlers erwiesen sich Betriebslektüren nämlich insofern als besonders fatal, als sie die spezifische Selbstprogrammierung der Frau des Schriftstellers völlig aus dem Auge verlören. Gehe es dem Autor um »den ehrgeizigsten und erfolgreichsten Versuch seit langem auszuloten, was Literatur überhaupt ver-
38 G. E. Grimm, S. 167. 39 C. Bartmann, Dicht am Dichter, S. 127. 40 O-Ton von Ernst-Wilhelm Händler im Beitrag von Andreas Trojan: Diwan. Das Büchermagazin. In: Bayern 2 Radio vom 7. Oktober 2006. Sendungstranskript. 41 A. Trojan [O-Ton E.-W. Händler]. 42 Niklas Luhmann: Literatur als fiktionale Realität. In: Niklas Luhmann: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. von Niels Werber. Frankfurt a. M. 2008, S. 276–291, hier S. 281. 43 I. Mangold, Der Wert-Schöpfer.
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mag«,44 übersehe das Beharren auf referenzialisierbare Literaturbetriebszusammenhänge, dass der Text sich Signifikanten-Spiele und damit einhergehende, kontinuierliche De- und Rekonstruktionen vermeintlich feststehender Identitäten zu eigen mache, ja geradezu selbstreflexiv ausstelle und performativ umsetze. Habe Händlers »erbarmungslose[r] Blick« 45 auf die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens demnach »eine naheliegende Achillesferse – man ist sofort versucht, das Buch als Schlüsselroman zu lesen« 46 – sind es andererseits bezeichnenderweise Teile des Feuilletons selbst, die Die Frau des Schriftstellers in den Dienst außerliterarischer Zwecke stellen. Volker Weidermann etwa bemerkt in seiner Besprechung für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: »Daß der Verlag, in dem dieses Buch erscheint, der des einst verstoßenen Unseld-Sohnes ist, wird das Gerede des Betriebs schön am Laufen halten.« 47 Nicht nur werden Literaturbetriebskontexte um Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld demzufolge durch Händlers Roman literarisiert; Die Frau des Schriftstellers ist nach Weidermann gleichsam auch selbst Betriebsmedium, lasse sich der Text doch auf die betrieblichen Kommunikationszusammenhänge ein. Ebenso hält Klaus Kastberger unter Verweis auf Verlagsleiter Joachim Unseld, »dem es im Stall des Vaters zu eng geworden ist«,48 fest, dass die Frankfurter Verlagsanstalt als Publikationsmedium der Frau des Schriftstellers dem Text eine »zusätzliche[ ] Pointe« 49 verleihe. Um Händlers Roman dennoch positiv bewerten zu können, muss in dieser Logik die vom Text vorgenommene Thematisierung der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur, wenn nicht ausgeblendet, so doch aber zumindest als ›sekundär‹ abgewertet werden. So würden, folgt man Jochen Hörisch, durch die Lektüre der Frau des Schriftstellers als »ein Buch über die Zwänge und die Kälte des gegenwärtigen Literaturbetriebs« 50 entscheidende Gesichtspunkte der »Kaleidoskop-Prosa« 51 Händlers schlicht ausgeblendet. Doch gleichwohl gibt Hörisch in seiner Besprechung für die Literaturen auch
44 Jochen Hörisch: Vom Lesen, Leben und Lieben. Wie es Ernst-Wilhelm Händler gelingt, in einem spannenden Roman grundlegende Fragen der Literatur und der Existenz aufzublättern. In: Literaturen vom November 2006. 45 Richard Kämmerlings: Wenn die Vernunft hellwach ist, tanzen die Dämonen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. September 2006. 46 R. Kämmerlings, Wenn die Vernunft hellwach ist. 47 Volker Weidermann: Der Herbst kann kommen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3. September 2006. 48 Klaus Kastberger: 424 Namen der Angst. In: Die Presse vom 4. November 2006. 49 K. Kastberger. 50 J. Hörisch, Vom Lesen, Leben und Lieben. 51 J. Hörisch, Vom Lesen, Leben und Lieben.
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eine prägnante, auf die sekundären Formen literarischer Kommunikation abzielende Zusammenfassung des Romaninhalts. Die Geschichte ist atemberaubend: Ein ebenso obskurer wie faszinierender, taubstummer, aber dank seines omnipräsenten Palm-Computers dennoch überredensstarker LiteraturAgent mit dem Namen La Trémoïlle [sic!] macht dem Erzähler ein unmoralisches Angebot: Er soll gegen gutes Geld für den renommierten Guggeis-Verlag und im Geiste der »Guggeis-Kultur« ein Manuskript zu Ende schreiben, das der berühmte Schriftsteller Pototsching einfach nicht vollenden kann oder will. Überlassen wird dem Erzähler aber nicht nur das unvollendete Manuskript, sondern auch Laura, die Frau des Schriftstellers, die fortan mit der Geliebten Beatrice, von Beruf Psychohistorikerin, konkurriert.52
Folgt man Hörischs Rezension, verlegt Händlers Roman durchaus Aspekte der sozialstrukturellen Kontextbedingungen literarischen Schreibens in seinen szenischen Rahmen. Die damit eingeleitete, für Händler nicht untypische Reflexion der fiktionalen Realität »auf ihre eigene Entstehung« 53 bestimmen drei Gesichtspunkte. Erstens reiht der durch das ›unvollendete Manuskript‹ motivierte Schreibauftrag Guggeis’ das Handeln des Ich-Erzählers in soziale Zusammenhänge ein, in die neben dem Autor weitere Akteure und Organisationen eingelassen sind. Neben Autoren (hier der ›berühmte Schriftsteller Pototsching‹, aber auch die ›Frau des Schriftstellers‹, Laura) sind dies im Falle der Frau des Schriftstellers insbesondere Literaturagent La Trémoïlle und Verleger Guggeis. Strukturiert werden diese sozialstrukturellen Kontexte einerseits durch symbolisch-generalisierte Medien, die dezidiert nicht-literarische Erwartunsstrukturen ausbilden. Hörisch wertet das Handeln der Figuren als durch moralische (›unmoralisches Angebot‹) und wirtschaftliche (›gutes Geld‹) Interessen bestimmt und motiviert. Andererseits kommt – drittens – mit dem Guggeis-Verlag eine sich durch Entscheidungen strukturierende Organisation ins Blickfeld, die der Roman nach Hörisch als eine spezifische ›Kultur‹ prägend ausweist. Diese Grundkonstellation der histoire-Ebene platziert der Text in einem Rahmen, der die Kontextbedingungen literarischen Schreibens dezidiert als sekundäre Formen literarischer Kommunikation, das heißt als literaturbetriebliche Einbettung des Ich-Erzählers und Schriftstellers in Szene setzt. Die Frau des Schriftstellers rückt Akteure und Organisationen in den Blick, die an sämtlichen funktionalen Prozessen im literarischen System beteiligt sind. Mit dem Hinweis etwa auf die »Möglichkeiten des Layouts, die Vielfalt der Vertriebska-
52 J. Hörisch, Vom Lesen, Leben und Lieben. 53 Tom Kindt u. Hans-Harald Müller: Zur Heteronomie der Welten in Ernst-Wilhelm Händlers Romanen. In: Lutz Hagestedt u. Joachim Unseld (Hg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler. Frankfurt a. M. 2006, S. 136–160, hier S. 157.
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näle, die Möglichkeiten der Werbung« (FS 263) thematisiert der Roman zum einen den Entstehungsprozess vom Manuskript bis zum fertigen Buch und seiner Vermarktung, um gleichzeitig auf die diversen Vermittlungsaspekte des sich um »Bestsellerautoren« (FS 81) gruppierenden »Buchhandel[s]« (FS 43) hinzuweisen. Zu diesen konkreten Vermittlungsorten und -formen zählen in Händlers Roman Institutionen wie Literaturhäuser (vgl. FS 299), »Lesereisen« (FS 105), aber auch Auftritte von Akteuren wie »Literaturredakteure[n]« (FS 372). Wird die Weiterverarbeitung der »Spitzentitel« (FS 47) durch »Fotoshooting[s]« (FS 422) oder »Fernsehinterview[s]« (FS 220) betont, die im Zusammenhang von »Marketing-Erfindung[en]« (FS 60) stehen, thematisiert der Text durch die Verleihung »eine[s] französischen Literaturpreis[es]« (FS 608) an Bestseller-Autor Pototsching schließlich auch Aspekte der Literaturförderung. Das »Angebot« (FS 269) des Verlegers Guggeis an den Ich-Erzähler, ein »Manuskript« (FS 262) Pototschings »zu Ende zu schreiben« (FS 492), fungiert bei all dem als Katalysator innerdiegetischer Verkettungen von ›Literatur‹ und »tatsächliche[m] Leben« (FS 502), die den Kern der Selbstprogrammierung der Frau des Schriftstellers benennen. Der Roman realisiert einen »Verblendungszusammenhang« (FS 492), in dem »die literarischen Menschen mit wirklichen Menschen konkurrieren« (FS 265), und knüpft damit an einem Programm an, von dem der Autor selbst in anderen Zusammenhängen sagt, es sei durch einen spezifischen »Schwierigkeitsgrad« 54 charakterisiert. Verknüpft mit Händlers literarischen Texten ist seit dessen Debüt – dem Erzählungsband Stadt mit Häusern – und dem anschließend veröffentlichten Roman Kongreß nämlich die Vermutung spezifischer Lektüreprobleme. Würden seine Texte »grandiose Zumutungen« 55 darstellen, ja seien die »Romane ErnstWilhelm Händlers [...] noch nie leichte Kost« 56 gewesen, hebt die literaturkritische Rezeption (nicht nur) der Frau des Schriftstellers immer wieder hervor, dass Händlers literarisches Programm dem Leser »viel abverlangt – an Konzentration und an Bereitschaft dazu, in kompliziert entworfenen, gefühlskalten Welten zu versinken«.57 Dass sich die Texte des Autors gerade keinem »interpretatorischen Zugriff unmittelbar erschließen« 58, wie auch die Forschung feststellt, Händler mithin »bestimmt kein mehrheitsfähiger Autor« 59 sei, fußt nicht
54 Rolf Thym: Erst die Firma, dann die Muse. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. Dezember 2003. 55 Meike Fessmann: Der neidische Schöpfer. In: Der Tagesspiegel vom 4. Oktober 2006. 56 I. Mangold, Der Wert-Schöpfer. 57 R. Thym, Erst die Firma, dann die Muse. 58 T. Kindt u. H.-H. Müller, Zur Heteronomie der Welten in Ernst-Wilhelm Händlers Romanen, S. 157. 59 H. Böttiger, Wenn das eigene Leben plagiiert wird.
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zuletzt auf der Beobachtung, der Autor lege es geradezu darauf an, das Hinterlassen von »ein paar Fallstricke[n], die der Leser gar nicht sehen konnte«,60 als Programm zu etablieren. Bereits in einer Besprechung von Händlers Fall (1997) erhebt denn auch etwa Lutz Hagestedt die dem Roman zugeschriebene »Unlesbarkeit als ›Unkonstruierbarkeit‹« 61 zum literarischen Verfahren. Händler [...] stellt die Rezeption seines Buches unter die Postulate der Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit, Gründlichkeit und – Langsamkeit. Dieses Buch liegt damit quer zum Literaturbetrieb, der Bücher eigentlich nur noch dann durchsetzen kann, wenn sie sich von Werbung und Kritik schnell, griffig und plakativ verschlagworten lassen.62
Dieses im Zeichen der Sorgfalt oder Muße (›Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit, Gründlichkeit und Langsamkeit‹) stehende ›Querliegen‹ zu Literaturbetriebsanforderungen, das Händlers Text Hagestedts Nobilitierung zufolge auszeichnet, wird beinahe zehn Jahre später auch auf Die Frau des Schriftstellers appliziert. Auch bei diesem Roman handele es sich nämlich einmal mehr um »eine Herausforderung, vielleicht sogar eine Provokation in der aktuellen deutschen Literatur, wo alle nach Lesergunst und Auflagen schnappen.« 63 Prägnant auf den Punkt bringt das Verhältnis der den Literaturbetrieb thematisierenden Frau des Schriftstellers zu den unterstellten literaturbetrieblichen Erwartungen eine Bemerkung in einem kurzen Artikel der Süddeutschen Zeitung zur Präsentation der ›Longlist‹ des Deutschen Buchpreises 2006. Dass ein Autor wie Ernst-Wilhelm Händler nie den Deutschen Buchpreis bekommen wird, darüber braucht man sich nicht zu empören. Bitte sehr, der Buchpreis hat eben anderes im Sinn. Dass aber bei einer Longlist von nicht weniger als 21 und mehr oder wengier
60 Helmut Böttiger: Händler und der Literaturbetrieb. In: Lutz Hagestedt u. Joachim Unseld (Hg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler. Frankfurt a. M. 2006, S. 61– 71, hier S. 61. 61 Stephan Kraft: Verloren im Netzwerk. Überlegungen zur Unlesbarkeit der »Römischen Octavia« Herzog Anton Ulrichs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 128 (2009), Nr. 2, S. 163– 178, hier S. 164. Kraft unterscheidet diese primäre, auf einem praktischen Verständnis basierende Form der ›Unlesbarkeit‹ von der sekundären der Dekonstruktion. Im vorliegenden Fall der Frau des Schriftstellers geht also nicht darum, »vordergründige Sinnangebote durch einen Blick auf Widersprüche im Text in Zweifel zu ziehen und als widersprüchlich und nicht konsistent zu entlarven, sondern erst einmal darum, überhaupt ein für eine derartige Operation notwendiges Vorverständnis zu erarbeiten«, S. Kraft, S, 163–164. 62 Lutz Hagestedt: Aus der Innenwelt des Busineß. In: Süddeutsche Zeitung vom 20. September 1997. 63 Harald Raab: Vom richtigen Schreiben, Lesen und Leben. In: Mittelbayerische Zeitung vom 26./27. August 2006.
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bedeutenden Büchern sein neuer Roman »Die Frau des Schriftstellers« nicht auftaucht, das kann einen dann doch auf wütende Gedanken bringen.64
Verantwortlich dafür, dass Die Frau des Schriftstellers für die marketingstrategisch platzierte Konsekrationsinstanz schlechthin in Deutschland nicht anschlussfähig sei, ja eine spezifische, für die Anforderungen des Deutschen Buchpreises nur als ›Unlesbarkeit‹ fassbare Selbstprogrammierung ausdifferenziere, sind zwei Gesichtspunkte. Erstens basiert die Form von Händlers Roman auf spezifischen Schreibverfahren, die sich dezidiert gegen Lese- und Marketinggewohnheiten (Stichwort ›Lesergunst und Auflagen‹) richten, wie sie für die deutsche literarische Öffentlichkeit der Jahrtausendwende als typisch angenommen werden.65 Damit liegt der Text durchaus ›quer‹ zu programmatischen Vorstellungen und Forderungen, die die Verantwortlichen des Deutschen Buchpreises selbst vertreten. Diesen geht es nämlich nicht nur um die literarischen Texte ›an sich‹, sondern nicht zuletzt auch darum, ein möglichst breites literarisches Publikum anzusprechen – eine Anforderung, die man Händler, dem kurzen Artikel aus der Süddeutschen zufolge, offensichtlich nicht zutraut.66 Mag bereits diese Diskrepanz ›einen auf wütende Gedanken bringen‹,67 hängt die Beobachtung, dass Händlers Roman sich »mit diversen Mitteln gegen
64 Mut zum Risiko. 21 Romane konkurrieren um den Deutschen Buchpreis 2006. In: Süddeutsche Zeitung vom 19. August 2006. Zum Deutschen Buchpreis (2008) schreibt Händler selbst: »Der Roman macht sich Gedanken, aber im Regelfall nur über sich selbst. Die Wettbewerber arbeiten ständig an ihrer USP, ihrer Unique selling proposition, an ihrem Alleinstellungsmerkmal gegenüber den anderen Wettbewerbern. Der Roman hat allen übrigen Kunstformen eins [sic!] voraus: Begrifflichkeit. Die Akteure des Literaturbetriebs werden – naturgemäß – niemals so gut aussehen. In einer Zeit, in der die Menschen lieber fühlen als denken wollen, besteht der Glamour des Romans darin, dass Leser und Autor fühlen und denken.« Ernst-Wilhelm Händler: Der Glamour des Romans. Zum Deutschen Buchpreis. In: Neue Rundschau 119 (2008), Nr. 4, S. 81–85, hier S. 85. 65 Vgl. in kompromiert-kulturkritischer Perspektive Stefan Neuhaus: Der Autor als Marke. Strategien der Personalisierung im Literaturbetrieb. In: Wirkendes Wort 61 (2011), Nr. 2, S. 313– 328. 66 Siehe dazu Ingo Irsigler: »Der Gewinner ist in jedem Fall die Literatur«. Das Verhältnis von Text und Öffentlichkeit, betrachtet am Beispiel zweier Buchpreisträger. In: Ole Petras u. Kai Sina (Hg.): Kulturen der Kritik. Mediale Gegenwartsbeschreibungen zwischen Pop und Protest. Dresden 2011, S. 237–259. In den literaturkritischen Zusammenschauen zur deutschsprachigen Literatur um 2000 (Winkels, Kämmerlings, Böttiger) wird Händler demgegenüber gleichwohl immer wieder genannt. 67 Händler hat es dann aber doch zum Deutschen Buchpreis geschafft: Der Roman Stadt aus Glas (2009) wird auf die ›Longlist‹ für den Deutschen Buchpreis 2009 gesetzt. Siehe dazu auch Christoph Schröder: Er will es machen. In: Die Tageszeitung vom 14. September 2009.
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die Übernahme durch den Leser zu sträuben« 68 weiß, zweitens mit dem Umstand zusammen, dass Die Frau des Schriftstellers in ein »zusammenhängendes, über ein Buch hinausreichendes literarisches Projekt eingebunden« 69 ist. Der Text des »aufs Große und Ganze abzielenden Autor[s]« 70 ist demnach Teil eines groß angelegten »Romankompendium[s]«,71 ja eines »gigantomanische[n] Erzählprojekt[es]«.72 Im Anschluss an die »Heroen der Moderne aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts« 73 gehe es Händler mit seinen literarischen Texten darum, so das Feuilleton, im Modus eines »einzige[n] große[n] Gegenwartsroman[s] im Geiste Hermann Brochs und Robert Musils« 74 gleichsam »ein Panorama des zeitgenössischen Bewusstseins zu entwerfen«.75 Als »systematische, moderne Comédie humaine« 76 angelegt, stehe im Zentrum seiner Romane jeweils »[d]ie entscheidende Frage – was ist der Mensch?« 77 Gleichwohl auch der Autor immer wieder selbst den im Entstehen begriffenen »Zyklus« 78 anspricht, bleibt sein Kommentar des Projekts, das unter der »enigmatischen Formel einer ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹« 79 firmiert, insgesamt auffallend unbestimmt. Nicht nur hält Händler fest, genaue Angaben zur ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ würden seinem Unternehmen den »Witz« 80 nehmen, ja es dem Leser schlichtweg zu einfach machen. Tatsächlich liegen um 2000 keine literaturprogrammatischen Texte wie längere essayistische Arbeiten oder Poetikvorlesungen vor, die Aufschluss über
68 S. Franke. 69 Joachim Unseld: Ernst-Wilhelm Händler: Einführung in eine ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹. In: Lutz Hagestedt u. Joachim Unseld (Hg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler. Frankfurt a. M. 2006, S. 7–31, hier S. 8. 70 I. Mangold, Der Wert-Schöpfer. 71 H. Böttiger, Wenn das eigene Leben plagiiert wird. 72 R. Kämmerlings, Wenn die Vernunft hellwach ist. 73 H. Böttiger, Wenn das eigene Leben plagiiert wird. 74 So die Formulierung von Katrin Hillgruber in der Rheinpfalz. Zitiert nach L. Hagestedt u. J. Unseld (Hg.), Literatur als Passion, Text auf dem Buchrücken. Neben Musil und Broch werden vom Feuilleton, aber auch von Händler selbst immer wieder Bernhard, Kafka und auch Canetti, Valéry, Proust sowie Balzac genannt. 75 H. Böttiger, Wenn das eigene Leben plagiiert wird. 76 N. Henneberg. 77 N. Henneberg. 78 R. Kämmerlings, Wenn die Vernunft hellwach ist. 79 I. Mangold, Der Wert-Schöpfer. 80 Nicole Henneberg u. Ernst-Wilhelm Händler: Planung bedeutet das Ersetzen von Chaos durch Fehler. Ein Gespräch. In: Sprache im technischen Zeitalter (2007) Nr. 182, S. 228–234, hier S. 230.
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die literaturprogrammatischen Prämissen des Händlerschen Schreibens auktorial legitimiert erlaubten. Immerhin lässt der Autor vor allem in längeren Gesprächen mit Nicole Henneberg und Joachim Unseld durchblicken, es komme ihm darauf an, dass die einzelnen Romane »Teile eines zusammenhängenden Projekts sind«.81 Die Bücher seien »durch mehrere Linien verbunden, natürlich chronologische, inhaltliche, und natürlich über die Charaktere«.82 Ausgehend von diesem auktorialen Selbstkommentar bemüht sich denn auch die literaturwissenschaftliche Forschung nicht zuletzt um »Einblick[e] in Zusammenhänge und die Vernetzung des Händlerschen Projekts«.83 Im Zentrum dieser Analysen stehen sowohl Aspekte die histoire- und discours-Ebene der Romane betreffend als auch Untersuchungen, die sich auf das Zusammenspiel paratextueller Elemente beziehen. Mit Blick auf die histoire der Romane liegt es demnach zunächst nahe, die »Einheit stiftende ›Klammer‹« 84 von Händlers ›Grammatik‹ im Sujet Wirtschaft zu verorten. Kann bereits die Literaturkritik die Romane Fall und Wenn wir sterben (und damit auch Die Frau des Schriftstellers) auf der Ebene der histoire in ein Verhältnis der Kontinuität setzen, so dass Wenn wir sterben mit der ›Voigtländer GmbH‹ »firmengeschichtlich die Fortsetzung von ›Fall‹« 85 darstellt, ergeben sich in dieser Perspektive indes im selben Zug allzu offensichtliche Probleme. Nicht nur fällt der PhilosophieRoman Kongreß nämlich »aus der Reihe«,86 darüber hinaus wird auf diese Weise »der Arbeitstitel des Zyklus kaum erklärlich.« 87 Einleuchtender ist es in thematischen Hinsichten mithin, die ›Grammatik‹ als ein Projekt der Darstellung der diversen Funktionsbereiche der Gesellschaft um 2000 aufzufassen. So werden, folgt man Unseld, »nach und nach alle Lebensfelder einer modernen globalisierten Gesellschaft erzählt, kartiert, ergründet«.88
81 Ernst-Wilhelm Händler u. Joachim Unseld: Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«. Ernst-Wilhelm Händler im Gespräch mit Joachim Unseld. In: Neue Rundschau 122 (2011), Nr. 2, S. 153–162, hier S. 153. 82 N. Henneberg u. E.-W. Händler, S. 230. 83 J. Unseld, S. 8. 84 Jan Müller: »... die Grenzen meiner Welt.« Gibt es eine systematische Einheit in ErnstWilhelm Händlers Romanprojekt »Grammatik der vollkommenen Klarheit«? In: Lutz Hagestedt u. Joachim Unseld (Hg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler. Frankfurt a. M. 2006, S. 171–193, hier S. 171. 85 Richard Kämmerlings: Die Fabrik, die Fabrik, die hat immer recht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Oktober 2002. 86 J. Müller, S. 171, En. 3. 87 J. Müller, S. 171, En. 3. 88 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 153–154.
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Mit Blick auf die discours-Ebene rekonstruiert die Forschung die Einheit der ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ als »Arbeit an einem formalen Problem, genauer: einem Problem der Darstellungsform«.89 Demzufolge beziehen sich Händlers Texte mit ihren detailliert konstruierten fiktionalen Realitäten einerseits immer wieder dezidiert auf eine referenzialisierbare Wirklichkeit, reflektieren andererseits aber genauso die Bedingungen ihrer eigenen Entstehung. Ist diese sehr allgemein gehaltene Verfahrensbestimmung des Einbezugs von Referenz und Selbstreferenz ebenso wie der diagnostizierte »stete[ ] Rekurs auf andere Texte« 90 geradezu das Formmerkmal von Literatur schlechthin, erweist sich in diesem Zusammenhang ein anderer Aspekt als durchaus vielversprechender. Demnach lässt sich über die Romane hinweg nämlich immer wieder beobachten, »daß, indem die Protagonisten scheitern, die Erzähler obsiegen«.91 Das Anwachsen des Werkes, ja ein wesentlicher »Trick der Händlerschen Romane« 92 basiert geradezu darauf, dass die Figuren der fiktionalen Realität zugunsten des Werks in vielfältigen Hinsichten Schiffbruch erleiden. In paratextueller Hinsicht konzentriert sich die Forschung schließlich darauf, die den Romanen durchgehend voranstehenden Motti als »Eckpfeiler« 93 der Händlerschen ›Grammatik‹ zu bestimmen. Lassen sich nicht nur Verknüpfungen zwischen den Motti feststellen, sondern auch dezidierte »Paraphrase[n] einzelner Motti in anderen Büchern«,94 sind die Motti demzufolge intrinsisch in Händlers literarisches Programm einbezogen. Ihre Funktion liegt dabei insbesondere darin, Händlers Romane »in einen hochliterarischen Traditionszusammenhang« 95 einzuordnen, der »gelegentlich – eher selten – zugunsten einer Irritation, eines Gegenstandpunktes, eines Kontrapunktes aufgebrochen« 96 wird. Zum anderen erzeugen die Motti mit Bezug auf den jeweiligen »Buchin-
89 J. Müller, S. 171–172. 90 T. Kindt u. H.-H. Müller, Zur Heteronomie der Welten in Ernst-Wilhelm Händlers Romanen, S. 157. 91 T. Kindt u. H.-H. Müller, Zur Heteronomie der Welten in Ernst-Wilhelm Händlers Romanen, S. 157. 92 T. Kindt u. H.-H. Müller, Zur Heteronomie der Welten in Ernst-Wilhelm Händlers Romanen, S. 157. 93 Christoph Schmitt-Maaß: Kontext, Code, Kontrapunkt. Zur Verwendung und Bedeutung der Motti im Werk Ernst-Wilhelm Händlers. In: Lutz Hagestedt u. Joachim Unseld (Hg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler. Frankfurt a. M. 2006, S. 256–278, hier S. 276. 94 C. Schmitt-Maaß, S. 276. 95 C. Schmitt-Maaß, S. 276. 96 C. Schmitt-Maaß, S. 276.
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halt[ ] einen Bedeutungsüberschuß« 97 – eine Beobachtung, die nicht allgemeiner hätte ausfallen können. So plausibel die Frage nach der Einheit des Händlerschen »größere[n] Projekt[s]« 98 auch sein mag, oftmals ausgeblendet werden bei diesen Analysen zumindest zwei Aspekte. Erstens handelt es sich bei dem »zusammenfassende[n] Obertitel« 99 der ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ um die Bezeichnung des Erzählvorhabens des Ich-Erzählers in Händlers Fall von 1997. In einem Interview mit Joachim Unseld, das 2011 in einer Ausgabe der Neuen Rundschau erscheint, spricht der interviewende Verleger diesen Umstand gleich zu Beginn an. In Fall wird dann die Vertreterkonferenz eines Literaturverlags beschrieben, auf der der Held des Romans, Georg Voigtländer, den ersten Band seines insgesamt auf sieben Bände angelegten Werks präsentiert. Die sieben Bände sollen den Obertitel Die Grammatik der vollkommenen Klarheit tragen. Tatsache ist, dass Ernst-Wilhelm Händler selbst als Autor an dieser im Roman beschriebenen Konferenz teilgenommen hat. Was ist aus der Grammatik der vollkommenen Klarheit geworden?100
Nimmt man es literaturtheoretisch genau, begeht der literarische Experte Unseld in dieser Passage einen Kategorien-Fehler, appliziert er doch die in Fall entfaltete Fiktion auf die reale Realität, um so auch an anderer Stelle darauf hinzuweisen, »daß Ernst-Wilhelm Händler an der von ihm beschriebenen Konferenz – es handelte sich um den Greno Verlag – nicht nur teilgenommen, sondern bei dieser Gelegenheit auch seinen Roman Kongreß vorgestellt hat.« 101 Und tatsächlich versieht der Ich-Erzähler und Unternehmer Georg Voigtländer in Händlers Fall auf einer »Vertreterkonferenz für das Herbstprogramm« 102 seines Verlegers G. sein Buchprojekt mit »einige[n] Erläuterungen« (F 153). Der Titel ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ fällt indes nicht auf dieser Konferenz, sondern wird nur ein einziges Mal in einem anschließend abgedruckten Brief des Verlegers G. aus N. an Georg Voigtländer genannt.
97 C. Schmitt-Maaß, S. 276. 98 Ernst-Wilhelm Händler u. Joachim Unseld: Wir essen halt mit Messer und Gabel. In: Alexander Wasner (Hg.): Ich möchte lieber doch. Fernsehen als literarische Anstalt. Göttingen 2008, S. 39–51, hier S. 41. 99 J. Unseld, S. 8. 100 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 153. 101 J. Unseld, S. 8. 102 Ernst-Wilhelm Händler: Fall. Roman. Frankfurt a. M. 1997. Seitenzahlen daraus im Folgenden unter Angabe der Sigle F in runden Klammern im Text, hier S. 153.
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Lieber Herr Voigtländer, für Ihren Besuch und die gelungene Präsentation des ersten Bandes herzlichen Dank. Ihr Auftritt hat Spuren hinterlassen und großes Leseinteresse bei den Vertretern ausgelöst. Die Reise der etwa 1200 Buchhandlungen besuchenden Vertreter beginnt Anfang Juni. Wir sollten gemeinsam mit unserem Pressemann die Strategie für den neuen Autor und seine sieben Bände in Kürze verabreden. (F 161)
Von Bedeutung ist dieser Brief insbesondere deshalb, weil in ihm die von Fall in Szene gesetzte »Gegensätzlichkeit von Business und Literatur« 103 in einem »Schnittpunkt« 104 verdichtet wird: die um den Verleger zentrierten sozialstrukturellen Rahmenbedingungen des literarischen Schreibens Voigtländlers. Der Geschäftsbrief setzt dieses literaturbetriebliche Aufeinandertreffen von ökonomischer und literarischer Systemreferenz auf der discours-Ebene um. Er ist Teil jener »Aktennotizen, Geschäftskorrespondenz[en], Tonbandmitschnitte, Gesprächsprotokolle[ ]«,105 deren verfahrenstechnischer Einsatz einen Realitätseffekt erzeugt, der der von Händler betriebenen Fiktionalisierung der eigenen Lebensgeschichte entgegensteht. Band I muß Ende Juli/Mitte August erscheinen. Der Satz wird bis Mitte Mai abgeschlossen sein, in der zweiten Hälfte Juni soll der Druck in der Werkstatt erfolgen – für die Buchbinderarbeiten werden weitere zwei Wochen benötigt. Ein ausgewählter Kreis von Rezensenten sollte unverzüglich mit einem persönlichen Brief das Manuskript als Kopie oder Umbruchabzüge in Teilen erhalten. Die kurzen Texte zu Ihrer Person und zum Text sowie ein Ganzbild von Ihnen (am liebsten im Mantel und im Freien) – weiter ein Portrait mit Ihren besonderen Augen – und ein Bild Ihrer Händer – diese scheinbar unbedeutenden Dinge müssen wir gemeinsam und mit Bedacht vorbereiten. (F 161–162)
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass dieses heterogene Korrespondenzmaterial, das Fall in sich einbaut, nicht als Collage lediglich im Text abgedruckt ist. Es handelt sich vielmehr um Abschriften, die in die Narration montiert sind. Unter thematischen Gesichtspunkten von besonderer Relevanz ist dabei, dass in dem vorliegenden Geschäftsbrief nun nicht nur die Anzahl der Bände des Erzählprojekts benannt wird, wie sie das Feuilleton dann aufgreift und auf Händlers Projekt appliziert. Tatsächlich nennt der Verleger schließlich auch den Titel des Vorhabens: DIE GRAMMATIK DER VOLLKOMMENEN KLARHEIT ist für mich ein besonderes Werk – und ich will gemeinsam mit allen verantwortlichen Mitarbeitern im Feld unserer Möglichkei-
103 J. Unseld, S. 19. 104 J. Unseld, S. 19. 105 Reinhard Baumgart: Befreiungskampf, Befreiungskämpfe. In: Die Zeit vom 28. November 1997.
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ten um den besten Erfolg mit Ihnen gemeinsam kämpfen – neben Ihrem Werk strömt eine Flut von Buchstaben und Beziehungen, wir werden kämpfen. (162)
Es ist also der Verleger und nicht der Ich-Erzähler, der den Titel des Großprojekts des Debütanten in einem literaturbetrieblichen Geschäftsbrief nennt; und es ist der sozialstrukturelle Rahmen literarischen Schreibens, in den die ›Grammatik‹ mithin von Anfang an eingelassen ist. Nicht unwesentlich ist deshalb auch der Umstand, dass das Vorhaben des Ich-Erzählers schließlich am Konkurs des Verlags scheitert, weil Händlers Projekt damit von Beginn an in einen problematischen sozialstrukturellen Bedingungsrahmen eingelassen ist, ja intrinsisch auf diesen bezogen bleibt. Neben dem fiktiven Ursprung blendet die Frage nach der ›Einheit‹ der ›Grammatik‹ des Händlerschen Großprojekts (zweitens) einen Gesichtspunkt aus, den die literaturkritische Rezeption der Romane Händlers vielleicht am besten verdeutlicht. Sie reformuliert nämlich die Einheitsfrage als konkrete Quantität des auf einem ›Masterplan‹ basierenden Großprojekts: »›Die Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ [...] hat elf Teile. Jetzt ist, als Roman Nummer fünf, ›Die Frau des Schriftstellers‹ erschienen.« 106 Solche und ähnliche107 quantifizierten Angaben werden nicht nur durch den Bezug auf Fall, sondern auch durch Händlers Selbstkommentare durchaus bestätigt. Andererseits kommt mit der Reformulierung der fraglichen ›Einheit‹ von Händlers Projekt als Problem temporalisierter und quantifizierter Komplexität der Einheitsaspekt des Großprojekts schon allein in pragmatischen Hinsichten ins Schwanken. Handele es sich bei der Bezeichnung ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ lediglich um einen »Arbeitstitel«,108 lasse jeder einzelne, neu erscheinende Roman immer nur die »Umrisse seines umfassenden Erzählprojekts« 109 erkennen. Formuliert auch Unseld, Händler konstruiere »von Roman zu Roman fortschreitend das Gebäude unserer Gesellschaft und erprobt deren Funktionieren«,110 um mit der Gebäude-Metaphorik zum einen das Moment der Abgeschlossenheit aufzurufen, zum anderen aber auch und gerade auf das bisher Unfertige und damit Vorläufige hinzuweisen, erzeugen nicht zuletzt auch die unterschiedlichen, von Händler mitunter selbst korrigierten Angaben zum genauen Umfang für zusätzliche Vorläufigkeit: Die Rede ist von sieben, zehn oder elf Romanen.
106 N. Henneberg. 107 Siehe etwa Weidermann: »Auf zehn bis elf Romane ist sein Werk angelegt, noch bevor die erste Zeile geschrieben ist.« V. Weidermann, Lichtjahre, S. 235. 108 R. Thym, Wie Sprachwelten eines Unternehmers die Feuilletons erobern. 109 I. Mangold, Der Wert-Schöpfer. 110 J. Unseld, S. 7.
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Fragt sie nach dem »inneren Zusammenhalt des Werks«,111 blendet die Forschung diese Vorläufigkeit gewöhnlich aus. Nicht zuletzt scheint sich mithin im Falle Händlers ein Topos materialiter zu bestätigen, der sich die bis vor kurzem ohnehin durch »Hemmschwelle[n]« 112 charakterisierte literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ›Gegenwartsliteratur‹ 113 grundsätzlich und systematisch konfrontiert zu sehen scheint. Begibt sich Literaturwissenschaft mit der Untersuchung von ›Gegenwartsliteratur‹ »unweigerlich auf unsicheres, unübersichtliches und erst noch zu vermessendes Terrain«,114 weil sie notwendigerweise mit literarischer »Unabgeschlossenheit« 115 konfrontiert ist, muss die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Händler immer auch eine vom Autor explizierte Vorläufigkeit invisibilisieren. Einerseits fragt die Forschung immer wieder nach der ›Einheit‹, weil Händlers Selbstkommentar wiederholt einen größeren Zusammenhang zwischen seinen Romanen betont; andererseits kann diese ›Einheit‹ jedoch noch gar nicht hergestellt sein, weil wesentliche Teile des »bislang unabgeschlossenen Romanzyklus[’]« 116 schlicht fehlen. Und Händlers zwischenzeitliche Ankündigung, sein Projekt habe »sich ausgeweitet, es werden weitere Bücher erscheinen«,117 scheint der Literaturwissenschaft die Arbeit nicht einfacher zu machen. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob Händlers ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ durch die Frage nach ihrer ›systematischen Einheit‹ über-
111 J. Unseld, S. 8. 112 Maik Bierwirth u. a.: Doing Contemporary Literature. In: Maik Bierwirth u. a. (Hg.): Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen. (»Automatismen«) München 2012, S. 9–19, hier S. 9. 113 Hier im Sinne von Sandro Zanetti: Welche Gegenwart? Welche Literatur? Welche Wissenschaft? Zum Verhältnis von Literaturwissenschaft und Gegenwartsliteratur. In: Paul Brodowsky u. Thomas Klupp (Hg.): Wie über Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 13–29. 114 Paul Brodowsky u. Thomas Klupp: Einleitung. In: Paul Brodowsky u. Thomas Klupp (Hg.): Wie über Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft, Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 7–11, hier S. 7. Vgl. darüber hinaus die programmatische Skizze bei Stephan Porombka: Gegenwartsliteraturwissenschaft. Von der interpretativen Mumien-Betrachtung zur Operation am offenen Herzen. In: Paul Brodowsky u. Thomas Klupp (Hg.): Wie über Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 73–89. 115 Matthias Beilein: Sehr interessant. Über einige spezifische Probleme der Beschäftigung mit und Bewertung von Gegenwartsliteratur. In: Maik Bierwirth u. a. (Hg.): Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen. (»Automatismen«). München 2012, S. 41– 51, hier S. 43. 116 J. Müller, S. 171, En 1. 117 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 153.
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haupt gewinnbringend beobachtet wird – dies nicht, um der Annahme zu folgen, die Literaturwissenschaft sehe sich bei der Auseinandersetzung mit ihrer jeweiligen ›Gegenwartsliteratur‹ immer mit »unabgeschlossene[n] Werk[en] lebender Autoren« 118 konfrontiert. Die Frage der systematischen Einheit setzt vielmehr auf ein Teil/Ganzes-Schema, dem sich Händlers Programm systematisch entzieht. Worum es mithin geht, ist eine programmatisch fundierte Form, die sich jenseits der Frage von Vollständigkeit und Vorläufigkeit positioniert. Denn auch wenn (oder gerade weil) sich das »Projekt [...] bereits deutlich ab[zeichnet]«,119 weist nicht zuletzt Händler selbst in dem bereits zitierten ausführlichen Gespräch mit seinem Verleger Joachim Unseld darauf hin, dass sich das Verhältnis zwischen Einzelroman und Erzählprojekt anhand der Unterscheidung ›Teil/Ganzes‹ keineswegs schematisieren lasse. Auf die einleitenden Hinweise Unselds, er schreibe an einem großangelegten, auf sieben Romane abzielenden literarischen Projekt, antwortet der Autor nämlich Folgendes: Tatsächlich liegen mittlerweile sieben Bücher von mir vor. Aber die Grammatik der vollkommenen Klarheit ist damit keineswegs abgeschlossen. Entscheidend war nicht die Zahl Sieben, sondern die Klarheit darüber, dass ich nicht einfach Bücher schreibe, sondern dass alle Bücher Teile eines zusammenhängenden Projekts sind. Dies gilt unter der Nebenbedingung, dass jedes Buch auch für sich allein steht. Es gibt immer einen Zugang, der nicht über das Gesamtprojekt führt.120
Händlers Bemerkung, sein ›zusammenhängendes Projekt‹ sei ›keineswegs abgeschlossen‹, führt die ›Grammatik‹ und die Einzelromane durch eine Semantik betriebswirtschaftlich-mathematischer Grundbegriffe (›Projekt‹, ›Nebenbedingung‹, ›Gesamtprojekt‹, ›Klarheit‹) in ein Verhältnis wechselseitiger Relevanz. Steht das Projekt der ›Klarheit‹ dabei ganz offensichtlich im Zeichen der Selbstreferenz (›Klarheit‹ darüber, ›Klarheit‹ literarisch umzusetzen), zeichnet sich die wechselseitige ›Verzahnung‹ 121 von Großprojekt und Einzelromanen zusätzlich durch eine spezifische Paradoxie aus. Während die ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ nämlich keineswegs auf ein Ganzes abziele, komme jedem Einzelroman Händler zufolge im Gegenzug eine spezifische Autonomie zu (›für sich allein stehen‹).
118 M. Beilein, Sehr interessant, S. 43. 119 Martin Lüdke: Der Global Player kommt aus Niederbayern. Ernst-Wilhelm Händler erzählt die Comédie humaine des 21. Jahrhunderts. In: Lutz Hagestedt u. Joachim Unseld (Hg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler. Frankfurt a. M. 2006, S. 161–170, hier S. 163. 120 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 153. 121 Vgl. E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 41.
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Mit Händlers immer wieder epitextuell lancierten, vom Feuilleton aufgegriffenen und durchaus mit Emphase vorgetragenem Bekenntnis zu »großen Entwerfern und Projektkünstlern, zu Musil oder Canetti oder Kafka«,122 orientiert sich das »Erkenntnisprojekt« 123 des Autors nicht zuletzt an solchen »Vorbildern der klassischen Moderne«,124 die mit »fragmentarischen, mit unvollendeten Werken« 125 verbunden sind. Ein Ende Mai 2004 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienener Essay zur Rezeption der ›Sinnesdatentheorie‹ des Physikers und Philosophen Ernst Mach in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften126 mag als Einstieg in eine Lösung des Teil/Ganzes-Problem von Händlers Erzählprojekt fungieren. In der Auseinandersetzung mit der Machschen Erkenntnistheorie verwirft Musil die »Vorstellung einer ›Naturnotwendigkeit‹«,127 ja bemerkt, dass »eine abstrakte, systematisch-philosophische Behandlung die Welt nicht mehr adäquat zu erschließen« 128 vermag, und setzt mit dem Mann ohne Eigenschaften auf die »Erfahrung geschichtsphilosophischer Kontingenz«.129 Seien Machs Annahmen mithin als »Theorie über die Wirklichkeit schnell überholt« 130 gewesen, habe sich, so Händler, seine Theorie gleichwohl insofern als eine »völlig neuartige[ ], immens fruchtbare[ ] Heuristik« 131 erwiesen, als Machs Verdienst darin bestanden habe, »die Differenz zwischen Ich
122 R. Baumgart, Befreiungskampf, Befreiungskämpfe. 123 C. Schmitt-Maaß, S. 277. 124 R. Kämmerlings, Wenn die Vernunft hellwach ist. 125 R. Baumgart, Befreiungskampf, Befreiungskämpfe. 126 Händler nennt den Mann ohne Eigenschaften als den wichtigsten Roman: Frage: »Welche Bücher sind für Sie am wichtigsten?«; und Händlers Antwort: »Brochs ›Tod des Vergil‹ ist mein Buch. Oder ›Der Mann ohne Eigenschaften‹. Das sind vielleicht beides keine total geglückten Romane, aber total gegückte Romane werden relativ schnell uninteressant.«, Ijoma Mangold: Alle Messen sind rot. Ernst-Wilhelm Händler über das Buch und den reifen Markt. In: Süddeutsche Zeitung vom 23. März 2002. 127 Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 20) Wien u. a. 2011, S. 92. 128 N. C. Wolf, S. 104. 129 N. C. Wolf, S. 92. 130 Ernst-Wilhelm Händler: Wenn wir leben. Was Robert Musil mit Ernst Mach anfängt, muß fortgeführt, aber nicht vollendet werden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Mai 2004. Musil hat mit seiner Dissertation einen Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs vorgelegt. Darin bestreitet er »nicht den Wert von Machs methodologischen Forderungen. Woran sich seine Kritik konkretisiert, sind die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der machschen [sic!] Thesen.« Dale Adams: Die Konfrontation von Denken und Wirklichkeit. Die Rolle und Bedeutung der Mathematik bei Robert Musil, Hermann Broch und Friedrich Dürrenmatt. (Transpositionen 2) St. Ingbert 2011, S. 55. 131 E.-W. Händler, Wenn wir leben.
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und Welt eingeebnet zu haben«.132 Hier ansetzend werde bei Musil die »Differenz zwischen Ich und Welt [...] geschleift, um sie neu aufbauen zu können.« 133 Unabhängig von dem hier angesprochenen Programm Musils, ist für den vorliegenden Zusammenhang das theoretische Konzept bedeutsam, das Händler zur Kommentierung seines literarischen Vorbilds heranzieht: Die von dem Soziologen und Philosophen Niklas Luhmann propagierte Unterscheidung zwischen Form und Medium mag das Gemeinte erläutern. Ein Medium besteht in der losen Kopplung zwischen Elemente, die keinerlei Widerstand gegen von außen auferlegte Formen leisten. Die Formen erlegen den Elementen des Mediums rigide Kopplungen auf, die wahrgenommen werden. Die Zellen der Netzhaut sind kein Bild. Je nachdem, wie sie durch einfallende Lichtstrahlen gereizt werden, erzeugen sie jedoch ein Bild im Gehirn. Warum nicht die gesamte Wirklichkeit als Medium betrachten?134
Händler, vom Feuilleton mitunter als »Luhmann-Schüler« 135 bezeichnet, aber auch selbst an anderen Stellen explizit auf Luhmann verweisend,136 greift mit der Medium/Form-Unterscheidung auf einen Begriff zurück, der es erlaubt, das Verhältnis zwischen Ich und Welt nicht als ein subjektzentriertes zu denken. Die Systemtheorie unterscheidet dabei zwischen fester und loser Kopplung von Elementen: Feste Kopplungen zwischen Elementen bilden Formen; Medien zeichnen sich durch lose Kopplungen von Elementen aus.137 Die Unterscheidung ist dabei relational gebaut, das heißt beide Seiten der Unterscheidung können jeweils nur in Bezug auf die jeweils nicht-bezeichnete Seite bestimmt werden. Dieser Symmetrie stehen zwei Asymmetrien entgegen. Zum einen ist die feste Kopplung das, was gegenwärtig realisiert ist; die lose Kopplung des Mediums liegt demgegenüber in den »dadurch nicht festgelegten Möglichkeiten des Übergangs vom einen zum anderen«.138 Zum anderen sind nur die Formen operativ anschlussfähig. Ermöglicht das Medium prinzipiell unendlich viele potentielle Kombinationen oder Formen, kann das System mit den »form-
132 E.-W. Händler, Wenn wir leben. 133 E.-W. Händler, Wenn wir leben. 134 E.-W. Händler, Wenn wir leben. 135 Kristina Michaels: Freundlich feindlich. Ernst-Wilhelm Händler liest im Literaturhaus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Februar 2003. 136 Vgl. Ijoma Mangold: Bitte einen Roman über Banker. Macht und Geld sind elementare menschliche Triebfedern. Warum werden sie in der deutschen Gegenwartsliteratur ausgeblendet? Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler. In: Die Zeit vom 28. Oktober 2010. 137 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 2001, S. 198. 138 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 200.
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losen, lose gekoppelten Elementen [...] nichts anfangen.« 139 Bemerkenswert ist die Medium/Form-Unterscheidung, wie sie von Händler im Kontext von Musils Mann ohne Eigenschaften einführt, insofern, als sich mit ihrer Hilfe auch das Verhältnis zwischen Händlers Großprojekt und den einzelnen Romanen erläutern lässt, um auf diese Weise den angemerkten Problemen des Umgangs mit der ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ als ›Einheit‹ aus dem Weg zu gehen. Denn zumindest eines ist mit der Differenz von Medium und Form impliziert: Sie »erspart uns [...] die Suche nach ›letzten Elementen‹«.140 Fasst man Händlers Erzählprojekt als Medium, wird zunächst deutlich, dass dieses – wie alle Medien – nur durch die je publizierten Romane überhaupt beobachtbar (lesbar) ist. So sehr die ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ in dieser Hinsicht Voraussetzungsbedingung der Romanformen ist, so sehr treten die in der Literaturkritik immer wieder angesprochenen »Umrisse seines umfassenden Erzählprojekts« 141 überhaupt erst in Erscheinung, wenn sie durch feste Kopplungen, das heißt als Romanform realisiert wird.142 Händlers ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ ist in diesem Sinne als ein Medium loser Kopplung unterschiedlicher, nicht aktualisierter Elemente zu verstehen, das unendlich viele potentielle Kombinationen – Figuren, Handlungskonstellationen, Schreibverfahren – ermöglicht. Das Großprojekt ist »eine unbestimmte, aber bestimmbare Menge von Möglichkeiten, in ihm bestimmte Formen zu bilden.« 143 Die zu koppelnden Elemente haben dabei bereits eine bestimmte Eigenqualität, die ihre im Roman mögliche Kombinierbarkeit reguliert. Insofern handelt es sich bei den Romanen um auf spezifischen Formelementen basierende Formen. Generiert werden die dem ›Großprojekt‹ zugeordneten Romane durch Fixierung der vom Medium bereitgestellten und strikt gekoppelten Elemente – durch ›Verzahnung‹ 144 von Großprojekt und Einzelroman. Die Aktualisierung der ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ vollzieht sich auf zwei Ebenen. Strukturell wird die feste Kopplung der vom Medium vorgegebenen Elemente durch die je konkreten Buchformen vollzogen;145 semantisch entspricht dem das, was Händler als ›Totalität‹ des einzelnen Romans
139 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 201. 140 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 195. 141 I. Mangold, Der Wert-Schöpfer. 142 Andererseits lässt sich das Medium ›Großprojekt‹ auch selbst natürlich als Form beobachten und somit etwa von anderen Projektformen unterscheiden. 143 Dirk Baecker: Form und Formen der Kommunikation. Frankfurt a. M. 2005, S. 182. 144 Vgl. E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 41. 145 Siehe allgemein Georg Stanitzek: Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive. In: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Bd. 1: Theorie und Forschung. Berlin u. New York 2010, S. 157–200.
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bezeichnet. Während die ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ keineswegs auf eine Ganzheit abziele, solle der Einzelroman Händler zufolge im Gegenzug gerade keinen unbestimmten, lockeren Zusammenhang darstellen. Für mich ist der Roman untrennbar mit der Idee der Totalität verbunden: Ein Roman muss eine Gesamtheit von Zusammenhängen schildern. Es ist mein Bestreben, mit meinen Romanen die Gesellschaft darzustellen. Nicht in dem Sinn, dass alle soziologischen Kategorien durchgearbeitet werden. Wenn man ein altmodisches mechanisches Bild wählen will, dann versuche ich, die Gelenkpunkte, die Scharniere zu beschreiben.146
Der einzelne Roman wird von Händler hier alles andere als in ein Gesamtprojekt gestellt – im Gegenteil: Es geht ihm darum, mit einem Roman eine ›Totalität‹ zu konstuieren, die in soziologischer Perspektive gesellschaftliche Zusammenhänge durchleuchtet. Im Zentrum stünden dabei weniger Formen von Abbildbarkeit. Der Anspruch, eine ›Gesamtheit von Zusammenhängen‹ zu schildern, beziehe sich vielmehr auf die Form der entworfenen fiktionalen Realität. Auch im Gespräch mit Nicole Henneberg betont Händler die relative Unabhängigkeit jedes einzelnen Romans. [J]edes einzelne Buch ist absolut für sich lesbar, sonst wäre es schlechtes Handwerk. Wenn der Leser des einen Buches die anderen Bücher kennt und sich etwas dabei denkt, bin ich froh; und wenn dieser Leser ein Rezensent ist, bin ich besonders froh. Aber es ist nicht notwendig. Ein Roman darf keine Voraussetzungen haben.147
Die an Georg Lukács’ Theorie des Romans geschulte Semantik der ›Totalität‹ ist im vorliegenden Zusammenhang insbesondere deshalb wichtig, weil sie darauf aufmerksam macht, dass jeder einzelne Roman Händlers unabhängig vom Großprojekt gelesen werden kann oder genauer: jeder Roman ›ist‹ das Großprojekt. Mit Blick auf das von der Forschung invisibilisierte Problem der ›Einheit‹ von Händlers ›Großprojekt‹ ist mithin von einiger Relevanz, dass es sich bei der Medium/Form-Unterscheidung um eine Form handelt, die Unterscheidung also auf einer selbstimplikativen und regenerativen Struktur basiert. Insofern sich die Medium/Form-Unterscheidung als Zwei-Seiten-Form »in aufeinander stufenweise aufbauenden Beobachtungsketten« 148 entfalten lässt, erweist sich nicht nur das Verhältnis von Roman und Großprojekt als Medium/
146 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 154. 147 N. Henneberg u. E.-W. Händler, S. 230. 148 Natalie Binczek: Medium/Form – Robert Walser. In: Niels Werber (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Unter Mitarbeit von Maren Lickhardt. Berlin u. New York 2011, S. 271–283, hier S. 281.
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Form-Verhältnis; auch der einzelne Roman kann als »Plural[ ] von MediumForm-Kopplungen« 149 verstanden werden, das mit dem Großprojekt als unbestimmtem Medium gekoppelt ist. Ein Roman Händlers, der im Medium der von der ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ bereitgestellten Elemente Gestalt annimmt, ist auch selbst immer ein komplexes Gefüge von Einzelformen. Die strikte Kopplung von Elementen zur Bildung von Formen in Romanen wird von Händler dabei mit dem Begriff ›Bindung‹ bezeichnet. Mit Bindung meine ich: Für mich sind Menschen, Dinge und Ideen völlig gleichberechtigt. Es geht niemals ohne Menschen, es geht niemals ohne Dinge, es geht niemals ohne Ideen. Die Aufgabe des Romanciers besteht darin, diese drei Elemente aneinander zu binden. Ein gelungener Roman ist das gelungene Zusammenspiel dieser Elemente.150
Der Vorteil des Zugriffs auf Händlers literarisches Programm anhand der Unterscheidung von Medium und Form besteht also darin, so lässt sich an dieser Stelle vorläufig zusammenfassen, dass das Projekt der ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ nicht über die bloße Addition einzelner Romane rekonstruiert werden muss. Das ›Großprojekt‹ als Medium zu fassen, bedeutet vielmehr, die prinzipielle Unendlichkeit weiterer Romanformen und damit eine ständig aufgeschobene, sich nie realisierende Einheit nicht als Problem, sondern als generatives Prinzip des Händlerschen Programms zu verstehen.151 In diesem Sinne ist es mithin irrelevant, wieviele Romane das Projekt selbst ausmachen, ja die Kategorie der ›Einheit‹ und die damit einhergehende Teil/Ganzes-Unterscheidung greifen bei der Beobachtung des Verhältnisses von Roman und Großprojekt schlichtweg nicht. Ebenso ist der Umstand, dass Händler die Anzahl der Romane, die das Projekt abschließend umfassen soll, in der Zwischenzeit angehoben hat, letztlich unerheblich, weil eine Beobachtung, die dieser quantitativen Erhöhung mit Blick auf die Einheit des Erzählprojekts Bedeutung zuschriebe, davon ausginge, ›Die Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ grenze das Möglichkeitsfeld der Romane, die noch zu schreiben sind, ein. Tatsächlich ist es jedoch eben diese ›Grammatik‹, die als Medium überhaupt erst das Möglichkeitsfeld jedes einzelnen Romans eröffnet – und mehr noch: Die einzelnen Romane stellen über verbindende »Linien [...], natürlich chronologische, inhaltliche und natürlich über die Charaktere«,152 wiederum Medien
149 Niels Werber: Nachwort. In: Niklas Luhmann: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. von Niels Werber. Frankfurt a. M. 2008, S. 438–476, hier S. 473. 150 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 154. 151 Siehe allgemein N. Binczek, Medium/Form, S. 282–283. 152 N. Henneberg u. E.-W. Händler, S. 230.
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für die Formbildung weiterer Romane dar, so dass sich nicht nur im Verhältnis von Einzelroman und Großprojekt, sondern auch zwischen Händlers Romanen Medium/Form-Beziehungen beobachten lassen.153 Ähnlich wie für Musils Mann ohne Eigenschaften reicht der Begriff des Polyperspektivismus auch im Zusammenhang mit Händlers Programm nicht aus: »Denn der Roman umfasst nicht nur eine Pluralität heterogener Standpunkte und Einstellungen, er lässt Perspektiven in aperspektivischen Bewegungsbildern implodieren und rückt das chaotische ›Gefilz‹ der Welt in eine größtmögliche ›Nähe‹.« 154 Umgekehrt ist die ›Grammatik‹ überhaupt nur am je einzelnen Roman beobachtbar; und es ist dieses scheinbar ›Nicht-Greifbare‹ des Großprojekts, das auf der literaturkritischen Rezeptionsseite für den Eindruck der ›Unlesbarkeit‹ verantwortlich ist.
6.1.2 Explizitdarstellung (Unlesbarkeit II) So wie Händlers Programm den Medium/Form-Zusammenhang von Kunst und Kunstwerk in das Verhältnis von Erzählprojekt und Roman kopiert, so realisiert Die Frau des Schriftstellers auch auf der Ebene ihres discours eine spezifische Form von ›Unlesbarkeit‹, wie sie Teile der Literaturkritik Händlers Romanen im Allgemeinen zuschreiben. Schwierigkeiten bei der Rezeption ergeben sich mithin nicht nur aus der Einordnung des Romans in ein »riesiges Romanprojekt«.155 Hinzu kommen Elemente eines textrelativen Verfahrens, die offen darauf angelegt sind, eine textkontrollierende Rezeptionshaltung zu unterlaufen. Der Roman gliedert sich in zwei, als temporal sowohl unterschiedene als auch sich überlappend markierte Kapitel. Der erste Teil ist mit »JETZT, / DAMALS« (FS unpaginiert [7]) überschrieben; der zweite Teil trägt die Überschrift »JETZT.« (FS unpaginiert [499]). Fällt das zweite Kapitel mit 140 Seiten deutlich kürzer aus als das erste (500 Seiten), ist diese Einteilung des »640-Seiten-Reservoir[s] der Ich-Erfahrungen der Postmoderne« 156 darüber hinaus insofern durchaus kontingent, als der Text »ein literarisch-ästhetisches Experiment« 157 realisiert, das sich, so die literaturkritische Rezeption, dezidiert gegen die
153 Vgl. allgemein N. Binczek, Medium/Form, S. 283. 154 Inka Mülder-Bach: Der »Weg der Geschichte« oder: Finden und Erfinden. Geschichtserzählung in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), Nr. 1, S. 187–205, hier S. 192. 155 N. Henneberg. 156 So die Formulierung von H. Raab. 157 H. Raab.
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»Stromlinienförmigkeit« 158 der deutschen Literatur um 2000 positioniere. So greife Händler auf »post-moderne Komplexität und Verrätselung, Polyphonie und Stimmenimitation, Collagetechnik und Jonglage mit verschiedenen Textarten« 159 zurück, ja inszeniere »Schwadronier-Orgien, planmäßige Verdunkelung, auf hohem Abstraktionsniveau substanzarm kreiselnde Reflexionen, ausdauerndes Rühren im Redunanten, sadomasochistische Inszenierungen, Albträume und Erzählstrecken von einschläfender Ödnis«.160 Spricht auch die Forschung im Zusammenhang mit Händlers als »fragmentiert, okkasionell, heterogen« 161 beschriebenen Schreibverfahren davon, dass der Leser mit einer »antinarrativen Strategie der Entdifferenzeriung bedeutungstragender Elemente« 162 konfrontiert werde, steht die von den Romanen forcierte »fortschreitende[ ] Sinnentleerung« 163 im Zeichen einer problematischen, weil auf hermeneutisches Verstehen abzielenden Rezeption. Das wesentliche Moment des discours der Frau des Schriftstellers liegt zunächst insofern in einem auf fragmentarische und heterogene Formen abzielenden Verfahren begründet, als jene dem Leser gleichsam plastisch vor Augen zu führen scheinen, wie sich die auf der histoire-Ebene entfaltete Beeinträchtigung literarischer und lebensweltlicher Autorschaft vollzieht. So wie sich der Ich-Erzähler als durch »Persönlichkeitsstörungen« (FS 235) beschreibt, so setzt sich der Text in eine fragmentarisch-heterogene Romanstruktur. Der Peritext des Romans, typographisch immer wieder durch kürzere und längere Kursivoder Majuskel-Passagen, aber auch mit unterschiedlichen Typen von Absätzen und Auslassungen durchsetzt, realisiert auf diese Weise ein Schriftbild, das als Syndiegese nicht nur von der Dekonstruktion der Identität des Ich-Erzählers erzählt, sondern diese mittels ihres heterogenen Sprachmaterials performativ umsetzt.164 Mit dem Konglomerat aus unterschiedlichen Stilen und Gattungsformen, die zwischen Prosa, Lyrik (vgl. FS 326), dramatisierten Abschnitten (vgl. 392–394), SMS (vgl. FS 482), Briefen (vgl. FS 281–282), wissenschaftlichen Abhandlungen (vgl. FS 403–404 oder 407–408), E-Mails (vgl. FS 620), Listen
158 Siehe den Ausdruck von Kristina Maidt-Zinke: Autors Angst. In: Die Zeit vom 9. November 2006. 159 K. Maidt-Zinke. 160 K. Maidt-Zinke. 161 T. E. Schmidt, S. 254. 162 T. E. Schmidt, S. 251–252. 163 T. E. Schmidt, S. 252. 164 Vgl. allgemein Remigius Bunia: Mythenmetz & Moers in der Stadt der Träumenden Bücher – Erfundenheit, Fiktion und Epitext. In: J. Alexander Bareis u. Frank Thomas Grub (Hg.): Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Kaleidogramme 57) Berlin 2010, S. 189–201, hier S. 196–197.
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(vgl. FS 340–370) oder Popsongs (vgl. FS 267–268) changieren, aber auch mit aphoristischen Einlagen, theoretisch-essayistischen Reflexionen, sich einander überlagernden, mitunter surrealen Wahrnehmungsresten und Erinnerungssequenzen, neben Deutsch auch in Englisch (vgl. FS 635), Französisch (vgl. FS 54) und Spanisch (vgl. FS 608), dem syndiegetischen Abdruck ›fremder‹ peritextueller Buchformelemente (vgl. FS 196–197), variierender Wiederholungen von ganzen Abschnitten (vgl. FS 222–226 und 228–233) und Selbstbezügen transformiert sich der Roman in ein Formen-Ensemble, das den Leser »oft in die Irre führ[t]«.165 Erzeugt Händlers Roman den Effekt der feuilletonistisch bemerkten ›Unlesbarkeit‹ auf Rezeptionsseite durch die immer latente, gleichwohl letztlich nicht realisierte, ja bis zum Ende an einen narrativen Rahmen zurückgebundene Androhung, sein konventionelles Erzählen vollständig aufs Spiel zu setzen, lassen sich grundsätzlich zwei Verfahrenselemente unterscheiden, mit denen der Text seinen Leser vor Probleme stellt: der Rückgriff auf unterschiedliche Formen von Aufzählungen sowie der Einbau essayistisch-reflektierend angelegter Digressionen. Gemeinsam ist beiden Elementen zum einen, dass sie die verwendeten heterogenen Materialien beziehungsweise die Reflexionen zum Teil nur wenig in die histoire integrieren; zum anderen erzeugen sie den Effekt der ›Unlesbarkeit‹ dadurch, dass sie vom Text zunächst als privilegiert qualifizierte Signifikanten hinter einem Übermaß beziehungsweise einer Monotonie an Signifikanten gleichsam zum Verschwinden bringen. Erstens bricht Die Frau des Schriftstellers ihre Narration auffallend häufig durch Aufzählungen, nicht selten durch vertikal angeordnete Listen auf. Wesentlich ist dies zunächst insofern, als Aufzählungen gewöhnlich als »die wahren Antipoden zu Literatur und Poesie« 166 gelten. Insbesondere zwischen Liste und Lektüre ergibt sich demnach ein Gegensatz, insofern nicht-literarische Listen – etwa Personen- oder Sachregister – der an konkreten Informationen interessierten, alles andere als linear angelegten Konsultation dienen und damit dem sukzessiven Lesen, wie es syntaktische Sprache nahelegt, entgegenläuft.167 Die von Händlers Roman erzeugten Rezeptionsschwierigkeiten basieren nicht zuletzt auf der Störung dieser Lektüreform verstanden als linear-sukzessives Lesen. So sind in den Text immer wieder umfangreiche Abschnitte
165 Dierk Wolters: Mit dem kalten Mut des Getriebenen. In: Frankfurter Neue Presse vom 21. September 2006. 166 Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 22) Berlin u. New York 2003, S. 1. 167 Vgl. S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 31.
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eingebaut, die Symptomkategorien eines von Bianca angefertigten Klassifikationsschemas zur diagnostischen Beschreibung der psychologischen Probleme des Ich-Erzählers aufzählen. Glatter, oberflächlicher Charme. Reizhunger / Neigung zur Langeweile. Pathologisches Lügen. Lenkend / Beeinflussend. Mangel an Gewissen und Schuldgefühl. Oberflächlicher Affekt. Gefühllos / fehlende Empathie. Parasitärer Lebensstil. (FS 476) etc.
Diese Aufzählungen von Persönlichkeitsstörungen sind typographisch durch Kapitälchen hervorgehoben, unterbrechen die Narration jedoch nicht nur in der hier zitierten Extremform der jegliche syntaktische Subjekt-Prädikat-Struktur vermissen lassenden Liste. Hinzu kommen aufzählende Passagen, die die elliptische Struktur der Aufzählung zurückfahren und zudem auf die vertikale Ausrichtung der Liste verzichten. Beziehungsideen (jedoch kein Beziehungswahn). Seltsame Überzeugungen oder magische Denkinhalte, die das Verhalten beeinflusen und nicht mit Normen der jeweiligen subkulturellen Gruppe übereinstimmen (wie z. B. Aberglaube, Glaube an Hellseherei, Telepathie oder den »Sechsten Sinn«, bei Kindern und Heranwachsenden bizarre Phantasien und Beschäftigungen). (FS 238) etc.
So wie Bianca dem Ich-Erzähler die »Entscheidung [überlässt; DCA], ob ich eine Persönlichkeitsstörung habe und wie ausgeprägt sie ist« (FS 238), so stört der Text mit dem ins Monotone abschweifenden Katalog die Lektüre, ja kann das mit der Aufzählung immer neuer Signifikanten zur Beschreibung des Zustands des Ich-Erzählers verbundene Versprechen, dessen psychologische Krankheit bestimmen zu können, gerade nicht einlösen. Was sich auf diese Weise in immer neuen Anläufen entfaltet, ist vielmehr ein Paradigma der ›Persönlichkeitsstörung‹. Die Paradoxie der Selbstdiagnose, in der die zu diagnostizierende Störung selbst Teil der Diagnose ist, realisiert sich in eben dieser Diagnose-Liste. Das Erzählen des Textes geht denn auch an diesen Stellen restlos in der möglichst umfassenden Auflistung der Lexeme des Paradigmas ›Persönlichkeitsstörung‹ auf 168 – ohne eine Diagnose letztlich stellen zu können.
168 Diese Beobachtung entnehme ich – mit Blick auf ›um 1900‹ – Ingo Stöckmann: Über Fülle/Überfülle. Textverfahren der Copia um 1890. In: Moritz Baßler (Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der Frühen Moderne. Berlin u. Boston 2013, S. 319–334.
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Beschäftigt sich übermassig mit Details, Regeln, Listen, Ordnung, Organisation oder Plänen, so dass der wesentliche Gesichtspunkt der Aktivität dabei verlorengeht. Zeigt einen Perfektionismus, der Aufgabenerfüllung behindert (z. B. kann ein Vorhaben nicht beendet werden, da die eigenen überstrengen Normen nicht erfüllt werden). (FS 234) etc.169
Angetreten, die Identitätskrise des Ich-Erzählers zu bestimmen und psychologisch einzuordnen, erzeugen die Aufzählungen genau das Gegenteil. So sehr sie vorgeben, organisierend Ordnung zu stiften, ja erschöpfend zu klassifizieren, so sehr ist im ›Übermaß‹ der in Frage kommenden Signifikanten zur Beschreibung der (möglichen) Persönlichkeitsstörung des Ich-Erzählers der Effekt der eines »›bloße[n]‹ Aufzählen[s]«.170 Das von der Frau des Schriftstellers besorgte »Übermaß an Detaillierung« 171 sorgt eben nicht für Vereindeutigung, sondern bringt die (mögliche) psychologische Krankheit durch ihr Paradigma semantisch gleichsam zum Verschwinden, um gleichzeitig eine diffuse Selbstdiagnose zu stellen: »Ich habe alle Persönlichkeitsstörungen der Welt« (FS 551). Die auf diese Weise sich als Monotonie realisierende ›Unlesbarkeit‹ von Händlers Roman wird auch durch andere Aufzählungen erzeugt, so etwa in »neunundneunzig Fragen« (FS 474), die Laura dem Ich-Erzähler stellt, von denen dieser jedoch »keine einzige« (FS 474) beantwortet. »»Levis’s oder Armani?« – »Helles oder Pils?« – »Katzen oder Hunde?«« (FS 467) etc.
Wird der über sieben Seiten ausgebreitete Katalog der Alternativ-Fragen im Modus formaler Computersprache im Binärsystem (›0/1‹) auch typographisch streng strukturiert umgesetzt, hüllt er Lauras Interesse am Ich-Erzähler tatsächlich mit der Ansammlung der Fragen in ein diffuses Rauschen. So sehr Lauras Fragen in ihrer Menge auch Vielfältigkeit vorgeben mögen, die Liste ist von Anfang an auf »Einförmigkeit« 172 angelegt. Gleichzeitig kopiert der Text (nicht nur, aber auch) mit den als Listen realisierten Aufzählungen gleichsam die Medium/Form-Unterscheidung, auf die er zurückgreift, in sich selbst, ähnelt doch die Aufzählung als zu lesender Text
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Ähnliche Passagen finden sich FS 255–256, 418, 423, 428–429, 548–549, 551, 552–553. S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 8. S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 8. S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 8.
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Collage, Fragment und anderen »zusammengestellten Kleinformen«.173 Insofern Die Frau des Schriftstellers sich als eine eben solche Zusammenstellung lesen lässt, also als ein in diverse Fragmente zerklüftetes Erzählen, autopräsentiert der Roman mit den kontinuierlich eingebauten Aufzählungen seine eigene Form in sich selbst. Dass sich dabei immer auch die Frage stellt, ob und wie sich diese Aufzählungen in den Erzählprozess integrieren lassen, verdeutlicht auch der folgende Abschnitt: Ich schlafe in Bed No. 923, das einzige Möbel, das sich nicht mehr im Originalzustand befindet, ich habe es verlängern lassen. Ich esse am Table No. 669, ich liege auf dem Settle No. 208 und blicke auf zwei Tabourets No. 601 und den Armchair No. 324, meine Bücher schreibe ich am Library Table No. 619, dabei sitze ich am Rabbit Chair von L&G Stickley, ich habe den Stuhl in keinem Katalog gefunden, ich verlasse mich auf John Tasker, er hat mir versichert, daß der Stuhl echt ist, genauso wie die vier Spindle Chairs für den Eßtisch. In meinem Arbeitszimmer wartet der Reclining Chair No. 332, man kann nicht den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen. Alle Sitzmöbel und Kissen sind mit dem gleichen rotbraunen Timberland-Leder überzogen, das mir John empfohlen hat. (FS 235– 236)
Auch hier wiederum präzise numerische Fakten präsentierend wirkt die Aufzählung in dieser Passage weniger digressiv, ja sie dringt vielmehr in die Narration ein, ohne jedoch die Aussicht auf eine dem Text hinzugefügte zusätzliche Dimension zu realisieren. Das trifft auch auf die folgende Passage aus der diegetischen Innenwelt zu, wie sie Pototschings Roman entwirft: Er [der Junge; DCA] zeichnete heitere senkrechte Streifen. Dunkelblau, orange, dunkelblau, gelb, hellblau, orange, hellblau, schwarz, gelb, hellblau, orange, hellblau, orange, weiß, hellblau, orange, dunkelblau, gelb, dunkelblau, orange, schwarz, dunkelblau, gelb, hellblau, orange, weiß, orange, hellblau, orange, dunkelblau, gelb, dunkelblau, gelb, weiß, dunkelblau, gelb, dunkelblau, orange, hellblau, schwarz, orange, dunkelblau, gelb, weiß, dunkelblau, orange, hellblau (FS 240) etc.
In seinem Anspruch auf Detailgenauigkeit und Präzision kaum zu übertreffen steht diese hier wiederum nur als Ausschnitt wiedergegebene Passage insofern im Zeichen der ›Unlesbarkeit‹, als sie dafür sorgt, dass Die Frau des Schriftstellers einen mit ihr wie auch immer zu greifenden »Sinn durch Monotonie lösch[t]«.174 Sind Listen insbesondere in ihrer »Beziehung zu syntaktisch vollständigen Texten« 175 interessant, wird durch die eingebauten Aufzählungen in den Roman das lineare Erzählen immer wieder unterbrochen und durch solche
173 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 32. 174 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 9. 175 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 32.
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Abschnitte verdrängt, denen es nur noch um die Dokumentation sprachlicher Einheiten zu gehen scheint.176 Ihren typographischen Höhepunkt erreicht das Verfahren des Aufzählens im Zeichen des Übermaßes mit der Darstellung der »Programmiersprache« (FS 141) einer »Turing-Maschine« (FS 141) im Modus dessen, was Händler als »Explizitdarstellung« 177 bezeichnet. | 1
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(FS 132)
Als verfahrenstechnisch konsequenter Kulminationspunkt erweist sich diese »Spur« (FS 141) einer Turing-Maschine insofern, als der mit den anderen Aufzählungen bereits provozierte »Zerfall« 178 des Textes durch den Wechsel in ein anderes Zeichensystem zu sich selbst gekommen zu sein scheint. Um die basale Lesbarkeit der Passage zu gewährleisten, lässt der Roman denn auch umgehend eine Erläuterung zu Vorschriften von Turing-Maschinen folgen (vgl. FS 132–141): Ein Elektronengehirn werde mit Hilfe einer Programmiersprache programmiert. Deren Elemente seien im Fall der vorgeführten Turing-Maschine der Querstrich als Leerzeichen, der senkrechte Strich als Symbol für eine Einheit, die Ziffern für die zehn Zustände und den Ruhestand sowie die beiden Buchstaben L und R. Keine Programmiersprache der
176 Vgl. wiederum I. Stöckmann. 177 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 161. »Ich versuche, Dinge und Ideen als Metaphern zu verwenden, für die diese Aufgabe neu ist. Ein extremes Beispiel: In meinem Roman Die Frau des Schriftstellers kommt die Explizitdarstellung einer Turing-Machine vor. Natürlich ist die Turing-Maschine ein enorm wichtiger Begriff für Computer und für das Denken überhaupt. Aber das allein bedeutet noch lange keine literarische Qualifikation. Es ist das mechanische Überschreiben von Geschriebenem, das die Turing-Maschine zur Metaphern-Kandidatin macht.« E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 161. 178 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 8–9.
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Welt sei stärker als die der vorgeführten Turing-Maschine, in dem Sinn, daß sie Berechnungen erlauben würde, die von einer Turing-Maschine ähnlich der vorgeführten nicht vorgenommen werden könnten. (FS 141)
Gleichwohl begnügt sich Händlers Roman nicht damit, in parataktischer Reihung Aufzählungen in die Narration einzulassen. Dienen Passagen wie die soeben zitierte dazu, die Narration vor der Selbstauflösung durch ein aufzählendes Übermaß an Signifikanten zu bewahren, sind es gleichzeitig solche reflektierenden Digressionen, die ebenso dafür verantwortlich sind, dass sich ein Effekt der ›Unlesbarkeit‹ auf der Textebene einstellt. Ein Roman ist weder eine Aneinanderreihung bemerkenswerter Ereignisse noch eine Abfolge kostbarer Sätze. Das Neue eines Romans liegt nicht in der ungewohnten Form oder in überraschenden Szenen, sondern in der Geste des Zusammenhangs, der Form und Handlung verbindet. (FS 272–273)
Auch in dem bereits zitierten Musil-Essay kommt der von Händler in diesem Abschnitt aus der Frau des Schriftstellers thematisierte Verfahrensaspekt zur Sprache. So schreibt Händler mit Blick auf den »essayistische[n] Erzählstil des Mann ohne Eigenschaften«:179 Musil flicht nicht Essayistisches in den Handlungsfluß ein. Seine Figur kann nicht anders erzählen und nicht anders erzählt werden wie ein Thema, das man immer wieder wendet, damit man es von allen Seiten betrachten kann, und doch erschöpft man es niemals. Musil würde als Erzähler seinem Thema nicht gerecht werden, verzichtete er auf die Darstellung seines Themas als Thema im Roman.180
So wie es bei Musil zu einer »kognitiven ›Verbindung und Verarbeitung‹ sinnlicher Eindrücke und Erlebnisse durch die essayistische Erzählinstanz« 181 kommt, um auf diese Weise die »strenge Grenzziehung zwischen fiktionaler Literatur und faktualem Essay produktiv zu subvertieren«,182 so macht Die Frau des Schriftstellers mit ihren kontinuierlich eingeflochtenen »Gedanke[n]« (FS 271) Anleihen beim essayistischen Roman. Händlers Roman präsentiert sich als ein Text, in dem die diesen konstituierenden Diskursarten ›Abstraktin‹, ›Diskursivität‹ und ›Explikation‹ sich in mehr oder weniger autonomen essayistischen Passagen »verselbstständigen« 183 und sich auf diese Weise der »Entfaltung epischer 179 N. C. Wolf, S. 107. 180 E.-W. Händler, Wenn wir leben. 181 N. C. Wolf, S. 163. 182 N. C. Wolf, S. 107. 183 Simon Jander: Die Ästhetik des essayistischen Romans. Zum Verhältnis von Reflexion und Narration in Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« und Brochs »Huguenau oder die Sachlichkeit«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), Nr. 4, S. 527–548, hier S. 528.
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Imagination gegenüber[stellen]«.184 Dabei stellt sich insbesondere die Frage, welche Funktion die Reflexionen für den Erzählprozess einnehmen. Die Forschung betont diesbezüglich mittlerweile eine nicht-hierarchische, wechselseitige und »poetisch in besonderer Weise produktive[ ]« 185 Interaktionsbewegung und unterscheidet grundsätzlich drei Formen: Von der Perspektivierung des Erzählgeschehens durch essayistische Einschübe ist demnach die Perspektivierung der essayistischen Reflexion durch das Erzählgeschehen zu unterscheiden. Hinzu komme – drittens – die Korrespondenz von begrifflicher Erkenntnis und poetischer Welt, »die über die etablierten Muster des Begrifflichen hinaus eine spontane, subjektive Antizipation und Assoziation« 186 hervorrufe. Im Zentrum steht im Folgenden insbesondere die letzte Form, das heißt das digressive Feld »zwischen narrativer Wirklichkeit, Theorie und Utopie, das als solches bestehen bleibt und keine Auflösung erfährt«.187 Legt man diese Beobachtungsdirektive der Forschung zum essayistischen Roman an, fallen in der Frau des Schriftstellers zunächst solche Digressionen auf, die sich von der konventionellen histoire-Struktur reflektierend abheben. So reflektiert der Ich-Erzähler etwa in der folgenden Passage, die exemplarisch unvermittelt in die Narration des Ich-Erzählers eingebaut ist, über seinen eigenen Erinnerungsprozess. Keine Vorstellung existiert für sich. Immer ist sie Teil einer Reihe von Bewegungen des Geistes. Die Szenen vor meinem inneren Auge als Stills aus dem Video oder dem Film meines Geistes. Beschreibe ich, was ich erlebt habe, als Reihe, geraten die einzelnen Szenen ausführlicher und verständlicher, als wenn ich sie isoliert betrachte. Vielleicht kann ich so die Regeln aufdecken, die die Abfolge der Szenen bestimmen, wie sich eine Szene zu einer anderen Szene verformt. In der Reihe weist jeder Schritt auf den nächsten hin und deutet darüber hinaus auf die nächsten möglichen, ordnet ihnen eine gewisse Wahrscheinlichkeit zu. Ich kann bei jeder Szene verweilen, die Vorstellung gerinnen lassen, ohne daß sie deswegen endgültig wird. Keine Szene muß die Lösung sein. (FS 405)
Tatsächlich handelt es sich bei dieser Passage mit ihrer Semantik der ›Szene‹ auch und gerade um einen Kommentar auf den discours der Frau des Schriftstellers selbst, insofern auch dieser über eine heterogene Szenen-Abfolge strukturiert ist. Die Frage nach den Regeln dieser Abfolge bestimmt auch die weitere Reflexion des Ich-Erzählers: Es tut mir gut, wenn ich mir das, was die Szenen aneinanderkettet, als Bündel von Regeln denke. Auf das wieder andere Regeln einwirken. Die Szenen bilden verschiedene Reihen,
184 185 186 187
S. S. S. S.
Jander, Jander, Jander, Jander,
S. 528. S. 528. S. 529. S. 546.
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die sich vernetzen. Beim Suchen nach einer Antwort in der Vergangenheit bin ich nicht auf eine Reihe angewiesen, mit einer Schlüsselszene beginnend, kann ich verschiedene Reihen entlanggehen. Die Varianten relativieren jede Antwort, untermauern wie untergraben jede Erklärung, zeigen die Grenzen zwischen der Logik der Sachverhalte und meinen Entscheidungen auf. (FS 405)
Hier nun erhält die Digression über die Abfolgeregeln ein Moment der Selbstreferenz, indem Regeln auf Regeln angewandt werden. Der Effekt dieser Rückkopplungsbewegung ist, dass die Szenen-Abfolge und deren Regelung letztlich keinen Ursprung mehr kennen. So wie die Erinnerung mit einer kontingenten ›Schlüsselszene‹ einsetzt, so zeichnet sich das Erzählen diverser Szenen durch Kontingenz aus. Die Fokussierung auf die Regeln der Abfolge dient dem IchErzähler gleichwohl dazu, Prognosen über die Anordnung noch ausstehender Szenen anzustellen. Habe ich die Regeln der Reihe erkannt, bin ich dazu in der Lage, den nächsten Schritt vorherzusagen. Auch wenn ich nur eine einzelne Vorstellung vor mir habe. Die Spuren der vorangegangenen Vorstellungen erhalten sich, andere Vorstellungen hinterlassen Fingerabdrücke. Jede Vorstellung erzählt von anderen Vorstellungen. (FS 405)
So sehr die Regeln auch bekannt sein mögen, die Anwendung von ›Vorstellungen‹ auf ›Vorstellungen‹ führt eine unhintergehbare Selbstreferenz in den Erinnerungsprozess ein, die dem Ich-Erzähler letztlich die Kontrolle über seine Erinnerung entzieht. Stehen in den zitierten Abschnitten die Funktionweise der Szenen-Abfolge im Zentrum, kommen in anderen Passagen darüber hinaus solche Komponenten der Formenkomposition literarischer Texte zur Sprache, die sich ebenso als in Digressionen ausgestellter Selbstkommentar auf Die Frau des Schriftstellers applizieren lassen. Dazu zählt etwa die folgende Passage: Ein Vorbild muß fremdeln, man darf ihm nicht zu nahe kommen, ohne Mühe muß man sich wieder von ihm lösen können. Dann kann man ohne Zwang herausfinden, welche Eigenschaften des Vorbilds man sich unverändert aneignet, welche man auf keinen Fall für sich auswählen will, welche man wie verändert übernimmt und auch, welche anderen Eigenschaften man übernehmen könnte, die gar nichts mit dem Vorbild zu tun haben. (FS 271)
Gelten Händlers Romane der Forschung gleichsam als auktorial in Szene gesetzte Knotenpunkte einer geradezu exzessiv ausgestellten Intertextualität, ja bedienen sich die Texte eines Programms, das gleichsam »die strukturelle Überforderung des einzelnen Rezipienten mit intertextuellen Bezügen« 188 pro188 Daniel Lutz: Navigationssinn. Zur literarischen Problemreflexion ökonomischen Wissens. In: Christine Künzel u. Dirk Hempel (Hg.): Finanzen und Fiktionen. Grenzgänge zwischen Literatur und Wirtschaft. Frankfurt a. M. u. New York 2011, S. 251–266, hier S. 262.
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voziere, so liegt es nahe, diesen Abschnitt als Kommentar auf eben dieses Verfahren zu verstehen. Mit Blick auf den Einbau ›markierter‹ intertextueller Bezugnahmen realisiert der Ich-Erzähler durch die Benennung von ›Vorbildern‹ zum einen den Mechanismus der Reihenbildung, der die Evolution literarischer Kommunikation kennzeichnet, und benennt zum anderen die konkreten Operationen dieser Rückverweise. Tatsächlich orientiert sich die Forschung denn auch mit dem Hinweis darauf, bei Händler würden sich die diversen intertextuellen Anleihen wechselseitig »überlagern und begrenzen«,189 an eben solchen in den Text montierten, selbstbeschreibenden Reflexionspassagen, heißt es doch an einer Stelle völlig analog: »Die Vorbilder müssen einander im Weg stehen, dann begrenzen sie ihren Einfluß gegenseitig« (FS 271). Ihren Kristallisationspunkt finden die derart in Szene gesetzten Digressionen in der Unterscheidung dessen, was der Text wiederholt als ›Leben‹ und ›Literatur‹ bezeichnet. So appliziert der Ich-Erzähler die Frage der Regeln und des Vorbildes auf eben diese Differenz: Ich habe Neigung und Lust, Eigenschaften und ihre Verknüpfungen unmittelbar von meinem Leben in ein anderes, von einem anderen Leben in meins, von meinen Büchern in andere, von anderen Büchern in meine zu übertragen. Es scheint mir, die Regeln, die auf das fremde Leben oder das fremde Buch einwirken, sind vergleichbar, ablösbar, ja sogar austauschbar. Aber das muß eine Täuschung sein. Die Logik des Lebens, die Logik der Bücher kann nicht nur aus ewigen Regeln bestehen, es muß auch solche geben, die im jeweiligen Leben, im jeweiligen Buch geboren sind, und diese können nicht einfach eins zu eins in andere Leben, in andere Bücher übertragen werden. (FS 272)
In dieser Passage konfrontiert Die Frau des Schriftstellers zwei Haltungen zur Frage des Verhältnisses von ›Literatur‹, ›Leben‹ und ›Regeln‹. Während die eine Haltung davon ausgeht, dass bestimmte ›Regeln‹ aus einem diegetischen Bereich in den anderen übertragbar seien, besteht die andere Seite auf der strikten Eigenlogik der jeweiligen Sphäre. Relevant ist dies insofern, als Händlers Roman diese beiden Haltungen zu Logiken des ›Lebens‹ und der ›Literatur‹ miteinander konfrontiert, um sich dabei darum zu bemühen, die Konfrontation als Konfrontation in der Schwebe zu halten. Verdeutlichten lässt sich diese, auf kontrollierte Unbestimmtheit abzielende Selbstprogrammierung an zwei Elementen: den Reflexionen über die Medialität des Schreibens und den Digressionen der Fahrstuhl-Szene. Auffallend ist zunächst, dass der Text immer wieder Fragen der Medialität des Schreibens aufwirft. Im Zentrum steht dabei die Unterscheidung zwischen Hand- und Computerschrift. So präsentiert sich der Ich-Erzähler als ein Schrift-
189 D. Lutz, S. 262.
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steller, der »ausschließlich mit der Hand« (FS 23) schreibe. Gleich zu Beginn heißt es: Mein Handwerk besteht darin, Spuren aus Sätzen zu erzeugen. Am Beginn stehen Sätze, die sichtbar wie unsichtbare Eigenschaften zu Papier bringen und auf diese Weise eine Brücke zwischen dem Denkbaren und dem Ausdrückbaren schlagen. Die verschiedenen Spuren überlagern sich und erzeugen neue Spuren. Die Sätze im Computer bringen keine neuen Spuren hervor. (FS 23)
Der Unterschied zwischen dem manuellen Handwerk des Schriftstellers und Ich-Erzählers und dem digitalisierten Schreiben mit dem Computer bestehe darin, folgt man diesem Abschnitt, dass letzterer den Schreibprozess invisibilisiere und damit an reflexivem Potential einbüße. Die Metapher der ›Spur‹, wie sie in poststrukturalistisch gefärbten Literaturtheorien zur Beschreibung von Signifikanten-Ketten verwendet wird, bekommt in der zitierten Passage eine ästhetische Relevanz zugeschrieben, die sich auch an anderen Stellen des Romans zeigt: Auf dem Bildschirm kann ich jedes Wort ohne Folgen durch ein anderes ersetzen. Die Veränderung einzelner Wörter, ganzer Sätze bringt keien Erkenntniszuwachs. Die Spuren der Sätze, die ich mit der Hand geschrieben habe, bilden ein Geflecht, das Wissen abbildet, über die Eigenschaften der Dinge, über das Spektrum der unendlich vielen Arten und Weisen, wie Menschen sich verhalten, zugleich eine Sammlung von Ideen. Einerseits relativieren sich die verschiedenen Areale dieses Geflechts gegenseitig, andererseits ergänzen sie sich zu größeren und umfassenden Zusammenhängen, in jedem Fall schulen sie einander in Toleranz. (FS 24)
Das entscheidende produktionsästhetische Moment des Schreibens mit der Hand besteht demnach darin, das dem eigentlichen Text vorausliegende Konglomerat an vortextuellen Stufen gleichsam sichtbar zu halten. Während der Computer die vortextuelle Inter- und Intratextualität gleichsam mit jedem Klick abkappt, ist diese dem handschriftlich verfassten Text ablesbar. Das dadurch entstehende intratextuelle Geflecht seines Manuskripts bezeichnet der Ich-Erzähler als »vorübergehend festgehaltene Bewegungsformen« (FS 25), die in produktionsästhetischer Hinsicht dazu dienten, im Medium der Handschrift Entscheidungungen »in der Schwebe« (FS 23) zu halten: »Die Computerschrift ist sicher. Meine Handschrift ist unsicher« (FS 23). Der Effekt dieses Programms sei ein zweifacher. Erstens potenziere sich die »Chance, daß sich neue Zusammenhänge ergeben« (FS 24), je zahlreicher die Spuren seien. Der Computer hingegen lege noch nicht einmal eine Spur, was sich einer auf das Neue, Unerwartete abzielenden Produktionsästhetik als fatal erweise. Zweitens komme es
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in der Handschrift und deren Spurenzusammenhang zu einem Wechsel der »Regieführung« 190 im literarischen Schreibprozess. Ich folge dem, was ich schreibe, nicht mein Schreiben folgt mir. Ich betätige mich körperlich, als machte ich große Sprünge oder legte weite Strecken zurück. Was ich schreibe, ist geboren aus der Bewegung meiner Hand, aus der Leichtigkeit oder der Schwere meines Handgelenks. (FS 25)
So sei es nicht die Subjektivität des Autors, die als »Triebfeder des Schreibens« 191 fungiere, sondern die Hand, die zur »Antriebskraft des Schreibens« 192 werde. Das handschriftliche Schreiben wird auf diese Weise zum Potential literarischer Kreativität, insofern die Spuren im Zeichen eines auktorial bewilligten Kontrollverlusts stehen: In meiner Handschrift scheinen Muster verschiedenster Art auf, deren Dichte und Bewegung, deren Betonung und Rhythmus vom Gegenstand, über den ich schreibe, bestimmt werden. Meine Schrift soll das, was sie darstellt, nicht abbilden. Sie soll die Eigenschaften des Dargestellten widerspiegeln, seine Verknüpfungen beleuchten, aber sie soll um Gottes Willlen keine Stellvertreterin sein. (FS 270)
Der Ich-Erzähler bricht in dieser Reflexion das Medium der Handschrift aus seiner Funktion der Signifikation heraus und schreibt ihm eine Funktion zu, die sich gerade nicht auf Repräsentation bezieht. In den Blick gerieten vielmehr gleichsam unter der Hand mitlaufende bedeutungstragende Elemente. Ich wähle bestimmte Spuren aus, um sie weiterzuverfolgen, und lasse andere brachliegen. Ob mich von Anfang an ein Plan leitet, den ich nur nicht ausformulieren kann, oder ob ich den Plan erst in dem Augenblick fasse, in dem sein Gegenstand durchscheint, kann ich nicht angeben. Die Summe des noch so sorgfältig ermittelten Wissens über das, was ich schreibe, ist nicht bruchlos und nicht zwangsläufig in das überführbar, was ich schreibe. Bestimmte Spuren verlaufen gleich zu Beginn, manche verzweigen sich bis zuletzt. Undenkbar, das Ziel des Schreibens festzuhalten, auszusprechen. (FS 24)
Als für die Form der Frau des Schriftstellers relevant erweisen sich diese Reflexionen des Ich-Erzählers insofern, als die histoire-Ebene tatsächlich die Entstehung eines Romans thematisiert – eines Romans, der die Kindheitsbiographie
190 Sandro Zanetti: (Digitalisiertes) Schreiben. Einleitung. In: Davide Giuriato u. a. (Hg.): »System ohne General«. Schreibszenen im digitalen Zeitalter. (Zur Genealogie des Schreibens 3) München 2006, S. 7–26, hier S. 12, Fn. 18. 191 Davide Giuriato u. a.: Einleitung. In: Davide Giuriato u. a. (Hg.): »Schreiben heißt: sich selber lesen«. Schreibszenen als Selbstlektüren. (Zur Genealogie des Schreibens 9) München 2008, S. 9–17, hier S. 13. 192 D. Giuriato, S. 13.
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des Ich-Erzählers beschreibt und es auf diese Weise zu einer innerfiktionalen metaleptischen Verwicklung zwischen »Menschen und literarische[n] Figuren« (FS 272) kommt. Die Frage, wer hier wen literarisiert, gerät in eine Selbstprogrammierung, der es darum geht, einen »Roman, der sich noch im Entstehen befindet« (FS 272), in Szene zu setzen. Die Leitlinie gibt der Ich-Erzähler dabei selbst vor, wenn er bemerkt: »Eine Antwort wäre: So lange wie möglich den Roman im Entwurf halten, damit die Eigenschaften immer noch entscheiden können, in welchen anderen Romanen, in welchen anderen Leben sie sich brechen wollen.« (FS 272). Dieser Hinweis darauf, bestimmte Zusammenhänge im Schreibprozess »in der Schwebe [zu; DCA] halten« (FS 492), projiziert der Text sowohl auf seine histoire als auch auf seinen discours, ja Die Frau des Schriftstellers ist insofern einer jener literarischen Texte, in denen »das Thema der Schwelle als Gegenstand wie als Konstituent der eigenen Form eine zentrale Rolle spielt«,193 als Händlers Roman sich als Versuch lesen lässt, das handschriftliche ›In-der-Schwebe-Halten‹ im Medium der Computerschrift zu realisieren. Von Bedeutung ist die Konzentration auf den Entwurfcharakter manuellen Schreibens des Ich-Erzählers nicht zuletzt deshalb, weil Die Frau des Schriftstellers das damit konnotierte Moment des ›In-der-Schwebe-Haltens‹ im ersten Aufeinandertreffen des Ich-Erzählers mit Bestseller-Autor Pototsching verdichtet. Letzterer erwartet seinen Schriftsteller-Kollegen nicht wie verabredet in der Lobby des Four Seasons, sondern auf seinem Hotelzimmer. Doch bevor es zu dem Treffen kommen kann, erlebt der Ich-Erzähler einen Zwischenfall: Während ich im Aufzug fuhr, fiel der Strom aus. Der Aufzug kam so abrupt zum Stillstand, daß ich hinfiel. Hätte ich nicht die Hände schützend vor mich gehalten, wäre ich mit dem Kopf gegen den Spiegel geprallt. [...] Der Fahrstuhl war zwischen zwei Stockwerken stehengeblieben, nach Stunden in der dunklen Zelle wurden die Türen mechanisch von außen geöffnet. Pototsching verfolgte interessiert die Bemühungen der technischen Helfer, mich zu befreien. Im Licht der nervösen Taschenlampen und über mir wirkte er noch größer und kräftiger als auf dem lebensgroßen Werbeplakat für sein Buch. (FS 97–98)
Das Verbleiben des Fahrstuhls in einer unbestimmten Zwischenposition, wie es die histoire-Ebene thematisiert, nutzt der Text nun dazu, um dem Ich-Erzähler großzüg Raum für Reflexionen zu geben. Im Fokus der Digressionen steht da-
193 Achim Geisenhanslüke: Schriftkultur und Schwellenkunde? Überlegungen zum Zusammenhang von Literalität und Liminalität. In: Achim Geisenhanslüke u. Georg Mein (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. (Literalität und Liminalität 1) Bielefeld 2008, S. 97–119, hier S. 115.
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bei zum einen die Unterscheidung zwischen ›Leben‹ und ›Schreiben‹ und zum anderen »Pototschings Selbstauslöschung« (FS 107). Zunächst reflektiert der Ich-Erzähler über die »unerträgliche Überlegenheit« (FS 98) des »Bündnis[ses] von Schreiben und Nicht-Leben« (FS 98) gegenüber dem ›Leben‹ des Ich-Erzählers, die »Unterwerfung des Lebens unter das Schreiben« (FS 108), um auf diese Weise im proleptischen Modus die ausstehenden Entwicklungen der histoire anzudeuten. Die anvisierte »Selbstzerstörung der Ordnung« (FS 99) läuft dabei auf die Selbstinszenierung des »Untergang[s]« (FS 99) des ›Bündnisses‹ von Schreiben und Nicht-Leben »als Kunstwerk« (FS 99) hinaus. Zur Unterscheidung zwischen ›Leben‹ und ›Schreiben‹ greift der Ich-Erzähler auf eine Metaphorik des Krieges zurück. Mein Schreiben hatte alles verschlungen, es gab nur noch das Schreiben, irgendwann mußte es mit sich selbst in Konflikt geraten. Mein Projekt war an seine Grenzen gelangt. Ich erlebte die Wirkungen von diffusen Gegenkräften, die sich überall bemerkbar machten. Alle meine Lebenssphären hatten sich in einen Krieg begeben, der jedoch so weit unter der Wahrnehmungsschwelle lag, daß ich mir seine Existenz in spektakulären Inszenierungen wie in der Person von Laura vergegenwärtigen mußte. Aber tatsächlich war der Krieg anderswo. (FS 99–100)
Wichtig sind an dieser Kriegsmetaphorik zwei Aspekte. Zum einen inszeniert der Text literarisches Schreiben als ein gegen das ›Leben‹ gerichtetes kriegerisches Projekt, ja als einen Vorgang, der sich des ›Lebens‹ in einer Kampfhandlung bemächtigt. Das räumlich-topographische Ausweiten des Territoriums des Feindes kenne dabei solange keine Grenzen, bis das ›Leben‹ komplett eingenommen sei. In diesem Moment der vollständigen Kapitulation richte sich das Schreibprojekt gegen sich selbst: »Das Schreiben erklärte sich selbst den Krieg« (FS 99). Zum anderen sei dieser Kriegszustand ›unsichtbar‹, ja nicht ›wahrnehmbar‹, so dass er mit bestimmten Personen personifiziert werden müsse, um an ›Sichtbarkeit‹ zu gewinnen. Dies trifft nicht nur, so lässt sich schließen, auf Laura zu, sondern auch auf Pototsching. Der Triumph des Schreibens, die Niederlage des Lebens hatte eine Situation geschaffen, die das Auftauchen eines Feinds heraufbeschwor. Pototschings Manuskript war ein Phantom, das in alle meine Lebensbereiche eingedrungen war und in allen Fugen meines Schreibens und Nicht-Lebens sein Unwesen trieb. [...] Pototsching bildete die bewegliche Front, an der das System meines Schreibens und Nicht-Lebens, das sich gegen sich selbst gewendet hatte, auf sich selbst traf. In der Auseinandersetzung mit sich selbst klammerte sich das System um so verbissener an seine eigene Logik, tat alles, um die Herausforderung durch Pototschings Manuskript nicht anzunehmen. (FS 100)
Das damit in Aussicht gestellte »absolute Ereignis [...], in dem sich alle Ereignisse meines Lebens vereinigten« (FS 101), in dem also ›Leben‹ und ›Schreiben‹
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ineinander geblendet werden, wird denn auch als »Dasein im Mutterschoß« 194 des Fahrstuhls mit dem Bestseller-Autor als Geburtshelfer realisiert: Mit der linken Hand zog Pototsching mich aus dem Lift. In der unbeweglichen rechten Hand hielt er einen Packen handbeschriebender Blätter. Sein Manuskript, das er nicht zu Ende schreiben wollte. Das ich zu Ende schreiben sollte. (FS 101)
Legt man den Selbstkommentar dieser Digression an, liegt die Ursache der Identitätsirritationen des Ich-Erzählers weniger in den von der histoire-Ebene entfalteten Zusammenhängen um das Manuskript Pototschings. Dieser ist vielmehr eine Vergegenwärtigung der »ganz natürlich[en]« (FS 99) Eigenschaft eines gegen sich selbst gerichteten Schreibens. Der Geburt des Autors aus dem Geist der Reflexion korrespondiert die Proklamation des Selbstmords des Geburtshelfers: Ein Schriftsteller begeht Selbstmord als Schriftsteller, wenn er einem anderen Schriftsteller offenbart, daß er ohne ihn nicht in der Lage ist, aus seinem Manuskript ein Buch zu machen. Pototsching forderte mich heraus, indem er als Schriftsteller Selbstmord begehen wollte. Ich konnte der symbolischen Verpflichtung nicht entgehen. Ich mußte mir anhören, wie er aus seinem Manuskript vorlas. Sein Selbstmord würde im riesigen Kreis der Literatur nur einen unendlich kleinen Punkt bilden, aber seine Sehnsucht nach dem Tod würde ein Vakuum mit enormer Sogwirkung erzeugen. Um diesen Punkt herum sollte sich die Literatur verdichten, in einen Wundstarrkrampf fallen, sich selbst blockieren und an ihrer Vollkommenheit zugrunde gehen. (FS 101–102)
Während Pototsching mit der Anfrage an den Ich-Erzähler seine »Existenz« (FS 105) als Schriftsteller riskiere, dringe sein Manuskript gleichzeitig in alle »Lebensbereiche« (FS 100) des Ich-Erzählers ein. Pototsching »provozierte einen Realitätsexzeß, um mich und die Literatur darunter zusammenbrechen zu lassen« (FS 102). Ohne die hier bei Weitem nur exemplarisch wiedergegebenen reflexiv-essayistischen Digressionen des Ich-Erzählers an dieser Stelle aufzulösen und im Detail zu diskutieren, erweist sich die Fahrstuhl-Szene als eine Passage der Schwelle gleich in mehrfacher Hinsicht. Zunächst bleibt der Ich-Erzähler tatsächlich in einer Zwischenposition hängen, nämlich zwischen zwei Stockwerken des Hotels. Dieses Verharren hebt den Protagonisten aus der durchlaufenden Narration heraus und ermöglicht damit einen Zwischenraum für Reflexio-
194 Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Aus dem Englischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Mit einem Nachwort von Eugene Rochberg-Halton. (Theorie und Gesellschaft 10) Frankfurt a. M. u. New York 1989, S. 95.
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nen. Der Einstieg in den Fahrstuhl gerät zu einer Schwellen-Passage, deren Prozess den Ich-Erzähler gleich mehrfach in einen ›Grenzgänger‹ transformiert. Den Übergang von der einen Etage zur nächsten projiziert der Text zum einen auf den Inhalt der Reflexionen und zum anderen auf die Fortsetzung der histoire wie die Form des Romans insgesamt. Der »symbolische[ ] [...] Charakter« 195 der Schwelle, die es erlaubt, durch das »Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurch[zu]schlüpfen« 196, profiliert den Ich-Erzähler als eine »Schwellenperson[ ]«,197 die weder Subjekt noch Objekt, weder Erzähler noch Erzähltes ist – und diesen Status eines »gigantischen Verblendungszusammenhang[s]« (FS 492) nicht nur in der Fahrstuhl-Szene reflektiert, sondern den ganzen Roman über beibehält. Pototsching schreibt über sich, indem er über mich schreibt. Ich spreche über mich, indem ich über Pototsching spreche. Ich verstehe, was meine Figuren machen, aber ich weiß nichts von den Zusammenhängen meines Lebens. Mein Leben spielt sich auf der Bühne meiner Romane ab. Beatrice hat versucht, mich umzuerziehen. Aber ich bin und bleibe völlig unfähig, mein Leben zu leben. (FS 554)
6.1.3 Terrorist des Literaturbetriebs Die Forschung hat wiederholt darauf hingewiesen, dass Händlers Schreibverfahren insbesondere darauf angelegt seien, die strukturelle Überforderung des Einzelnen in bestimmten Funktions-, insbesondere ökonomischen Kontexten literarisch »nachvollziehbar« 198 zu machen. Das von den Romanen in Szene gesetzte »Pastiche heterogener Stile und Gattungsformen« 199 setze gleichsam »ein Hauptmerkmal der universalisierten Wirtschaft in der ästhetischen Textur um«.200 Die damit intratextuell einhergehende Erzeugung einer strukturellen Homologie oder Korrelation zwischen der jeweiligen Romanform und den auf
195 Rolf Parr: Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Achim Geisenhanslüke u. Georg Mein (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. (Literalität und Liminalität 1) Bielefeld 2008, S. 11–63, hier S. 16. 196 V. Turner, S. 95. 197 V. Turner, S. 95. 198 D. Lutz, S. 262. 199 Christoph Deupmann: Narrating (New) Economy. Literatur und Wirtschaft um 2000. In: Evi Zemanek u. Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008, S. 151–161, hier S. 161. 200 C. Deupmann, S. 161.
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der histoire-Ebene entworfenen ökonomisch-sozialstrukturellen Zusammenhängen nutzt die Forschung schließlich dazu, um Händlers Texten eine spezifische Literarizität zuschreiben zu können, ja gleichsam literaturwissenschaftlich legitimiert nobilitieren zu können: »Indem wirtschaftliche Prozesse so in Erzählverfahren (um-)codiert werden, erweist sich die Fähigkeit der literarischen Fiktion, eine vom Wirtschaftlichen geprägte Wirklichkeit adäquat zu begreifen«,201 denn die »Dominanz des Ökonomischen setzt sich bis in die formale Struktur der Romane fort.« 202 So wie sich das Wirtschaftssystem über Kommunikationsketten selbstorganisiere, so seien Händlers Texte weniger an einer Poetik des wirtschaftlichen Subjekts interessiert, als vielmehr um eine »poetische Beschreibung des wirtschaftlichen Systemzustandes und seiner Implikationen« 203 bemüht. »Nicht die Handlungen der Figuren, ihr Organisieren, Kaufen und Verkaufen, Verhandeln, Optimieren oder Sabotieren machen die Romanhandlung aus, sondern das Thema des Ökonomischen verkettet das, was die Figuren tun, zu Handlungen.« 204 Und tatsächlich könnte man zunächst annehmen, dass auch Die Frau des Schriftstellers nicht zuletzt in der peritextuell-materialen Form eines 640 Seiten starken, rund 800 Gramm schweren Buches205 dem Leser nicht zuletzt körperlich spüren lässt, ja gleichsam »bis an die Schmerzgrenze erfahrbar« 206 macht, was es als literarischer Akteur heißt, mit den thematisierten Betriebsbedingungen konfrontiert zu sein, ja mehr noch: So wenig der sozialstrukturelle Rahmen literarischen Schreibens eine privilegierte Beobachterposition bereithält, so wenig kennt auch der literarische Text trotz seines Ich-Erzählers letztlich eine privilegierte Position. In dieser Hinsicht könnte man völlig analog formulieren, dass sich auch in der Frau des Schriftstellers betriebliche Logik und Erzählverfahren einander annähern. Andererseits zeichnen sich die vom Text in Szene
201 C. Deupmann, S. 161. 202 Stefanie Ablass: Ökonomisierung des Körpers: Interdependenzen von ökonomischer und physischer Sphäre im Wirtschaftsroman. In: Evi Zemanek u. Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008, S. 163–177, hier S. 176. 203 C. Deupmann, S. 152. 204 S. Ablass, S. 176. 205 Dies im Sinne von G. Stanitzek, Buch: Medium und Form, insbesondere S. 186–189. Die materielle Dimension von Händlers Großprojekt hebt auch Joachim Unseld aus Verleger-Perspektive hervor: Das Gesamtprojekt umfasse »an die 8.000 Seiten.« »Man darf auch nicht vergessen, was es bedeutet, Bücher zu distribuieren. Man sagt so einfach: Auflage 5.000 Exemplare – beim letzten Roman EWHs z. B. waren das zehn Paletten mit einem Gesamtgewicht von dreieinhalb Tonnen, das muss man sich auch physisch vorstellen.« E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 41 bzw. S. 45. 206 K. Maidt-Zinke.
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gesetzten literarischen »Individuen«,207 für die sich Händler gewöhnlich interessiert, alles andere als durch einen Verlust an literaturbetrieblicher Kontrolle aus – ganz im Gegenteil. Der Text widersetzt sich geradezu der Korrelation seiner »literarischen Form, die den Leser überfordern will«,208 mit der strukturellen Überforderung des in sozialstrukturelle Rahmenbedingungen eingebetteten literarischen Akteurs. Denn die wesentlichen, von ihm thematisierten Literaturbetriebsakteure (Verleger Guggeis, Literaturagent La Trémoïlle und Bestseller-Autor Pototsching) zeichnen sich jeweils durch ausgeprägte Kontrollansprüche aus.209 Zunächst ist es die Nachricht von der unglücklichen Verletzung Pototschings, die Guggeis gehörig in Aufregung versetzt, ist doch das Erscheinen des neuen Romans des Bestseller-Autors gefährdet: »Ein Verlag braucht Bestseller! Kein Verlag kann mehr ohne Bestseller leben! Pototschings Buch ist als Spitzentitel für den nächsten Herbst fest eingeplant« (FS 47). Händlers Roman nutzt diesen verlegerischen Ausnahmezustand als Katalysator für seine histoire. Der Ich-Erzähler und Schriftsteller ist es nämlich, der über den Mittelsmann La Trémoïlle das Angebot erhält, das angefangene Manuskript Pototschings zu Ende zu schreiben. Die damit verknüpften Identitätsirritationen des Ich-Erzählers sind indes weniger mit der gleichwohl auch als solche thematisierten »Härte, Grausamkeit, Unbarmherzigkeit« (FS 55) des Verlags und des Literaturbetriebs verbunden. Das reflektierende Leiden des Ich-Erzählers wird vielmehr mit dem Umstand enggeführt, dass es sich bei dem unvollendeten Manuskript um seine eigene Kindheits- und Jugendbiographie handelt. Es ist diese Konstellation des Einpassens des eigenen Lebens in die bereits von Pototsching verfasste und literarisierte Biographie, die den Ich-Erzähler in einer Verschränkung von ›Literatur‹ und ›Leben‹ »radikal vom Subjekt des Aussagens zum Untertan der Aussagen eines anderen depotenziert«.210 Händlers Roman führt literarisches Schreiben als einen Prozess vor, in welchem die Unterscheidung zwischen ›Leben‹ und ›Literatur‹ im Romanverlauf immer wieder neu profiliert und relationiert, ja in der Schwebe gehalten wird. Dient sie insofern nicht nur als thematisierte Beobachtungsdirektive, sondern als Operationsmodus des discours, der den Text kontinuierlich gleichsam umschreibt, kommt mithin eine narrative Zirkularität in den Blick, die die Unentscheidbarkeit der innerfiktionalen Zuordnung von realem ›Leben‹ und ›Leben‹ in der Literatur als deren Grundbedingung festlegt.
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C. Schmitt-Maaß, S. 277. D. Lutz, S. 263. Ausgeblendet werden hier und im Folgenden die Figuren Laura, Lisa und Beatrice. So die Formulierung in der Besprechung von J. Hörisch, Vom Lesen, Leben und Lieben.
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Im Sinne auktorialer Werkkontinuität lässt sich in diesem Zusammenhang durchaus auch für Die Frau des Schriftstellers die als »permanente[ ] Irruption« 211 realisierte Konfrontation von surrealistischen Szenen und neusachlichnüchterner Prosa der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischer Tätigkeit feststellen. Händlers literaturbetrieblicher Surrealismus »übersteigt« 212 realistisches Erzählen dabei in zwei Hinsichten: Zum einen setzt der Text, wie in anderen Romanen Händlers auch, auf »surreale[ ] Bewußtseinsströme[ ] seiner Figuren«.213 Zum anderen programmiert die solide über Vermittlungsformate und Betriebshintergründe informierte Frau des Schriftstellers eine Form, der es weniger um Entlarvung bestimmter, feuilletonistisch tradierter Betriebsvorgänge um 2000 geht, als vielmehr um das Ausstellen eines von jeglicher subversiven, auf dokumentarischer Abbildung basierenden Kritik absehenden »Ästhetizismus« 214 des Literaturbetriebs. Dabei ist es letztlich noch nicht einmal der Ich-Erzähler, der als Akteur des Literaturbetriebs »auf eine mehr oder weniger subtile Weise scheiter[t]«.215 Der Schriftsteller ist »kein Bestsellerautor« (FS 15), sondern schreibt wenig »spektakulär[e]« (FS 15) Romane, in deren Zentrum »häufig Naturwissenschaftler und Mathematiker« (FS 62) sowie »wissenschaftliche Fragestellungen« (FS 62) stehen, dem Ich-Erzähler aber trotz allem »ein für einen Schriftsteller unüblich regelmäßiges Einkommen« (FS 15) ermöglichen. Die sekundären Formen literarischer Kommunikation, die mit dem Beruf des Ich-Erzählers eingeführt sind, setzt der Text neben dem Rekurs auf mitunter interaktionistisch realisierte Details wie Vertragsgespräche zwischen Agenten und Autoren (vgl. FS 49), dem Auftritt einer »Cheflektorin« (FS 545), Autoreninterviews (vgl. FS 221), Lesungen (vgl. FS 477), Literaturpreise (vgl. FS 608) oder Fragen des Umgangs mit Rezensenten (vgl. FS 43) insbesondere in ihrer Sozialdimension in Szene: So wie sich literarische Bücher ständig »im Kampf gegen andere Bücher« (FS 266) befinden würden, so inszeniert der Roman die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens als Handlungslogiken literarischer Konkurrenz. Zunächst ist es Verleger Guggeis, der, den Abteilungen seines Verlags
211 Bernd Blaschke: Szenen der Gewalt inmitten der Sachlichkeit. Sex and Crime in Händlers Sprachspiel. In: Lutz Hagestedt u. Joachim Unseld (Hg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler. Frankfurt a. M. 2006, S. 32–60, hier S. 55. 212 B. Blaschke, S. 56. 213 B. Blaschke, S. 57. 214 B. Blaschke, S. 57. 215 T. Kindt u. H.-H. Müller, Zur Heteronomie der Welten in Ernst-Wilhelm Händlers Romanen, S. 157.
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»hierarchisch übergeordnet«,216 in seiner Funktion, die Ziele der »Organisation des Verlags« 217 vorzugeben, auf allgemeine Fragen der Literaturgeschichte zu sprechen kommt. Literaturgeschichte zu begreifen heißt für mich, die Kräfte zu suchen und zu finden, die als Ursachen zu jenen Wirkungen führen, die dann als Bücher der Saison oder Bücher des Jahres vor unseren Augen liegen. Die Kunst des Lesens besteht auch in bezug auf die Literaturgeschichte darin, Wesentliches zu behalten, Unwesentliches zu vergessen. – Am Ende siegt in der Literatur allein das Streben nach Selbsterhaltung. (FS 309)
Die in dieser Passage angedeutete sozialdarwinistische Perspektive auf die Evolution literarischer Kommunikation betont die Sozialdimension derart, dass Literatur als ›Kampf ums literarische Überleben‹ erscheint. Deutlicher noch wird diese Perspektive des Verlegers in dem folgenden Abschnitt. Was passiert, wenn das Niveau des Autors und das des Verlags zu sehr auseinanderfallen? Das Buch wird wohl höher stehen als der Verlag und der Rest der Verlagsproduktion, aber nicht so hoch wie der Autor. Folglich wird es im Kampf gegen andere Bücher schlechter abschneiden. Eine solche Vereinigung widerspricht dem Willen der Literatur. Die Literatur strebt nach dem höchsten Punkt. Das stärkere Buch muß die Oberhand behalten, es darf sich nicht mit schwächeren verbinden und so die eigene Größe opfern. Der Autor, der meint, sein Buch sei stärker, wenn die anderen Bücher des Verlags schwächer seien, begeht den allergrößten Irrtum. Gute Bücher mit schlechten Büchern zu vermengen bedeutet immer: Niedersenkung des Niveaus des Autors und Rückschritt im Werk, den Beginn eines langsam, aber sicher fortschreitenden Niedergangs. – Wie viele Autoren sind zugrunde gegangen, weil sie beim falschen Verlag waren! (FS 266)
Zum einen koppelt Guggeis in dieser Passage die Evolution der Literatur mit den Erwartungsstrukturen der Verlagsorganisation. Zum anderen ist der Effekt der Passage der, dass der Verleger selbst als Souverän in den Blick kommt, der literarische Abläufe einzuordnen weiß. Es ist Guggeis, der sich selbst die Zuständigkeit für Variation, Selektion und Stabilisierung im literaturgeschichtlichen Prozess zuschreibt. Während sich eine junge, im Literaturbetrieb noch unerfahrene Lektorin während eines Buchmesse-Empfangs dafür stark macht, die Individualität jedes einzelnen Autors herauszustreichen, um so dem Publikum »möglichst viele Autoren« (FS 42) nahezubringen, verweist Guggeis auf die Bedeutung des Verlagsprogramms als »Verlagsprofil«.218
216 Dirk Vaihinger: Verlag. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Zusammen mit Silke Bittkow, David Oels, Stephan Porombka und Thomas Wegmann. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 364–369, hier S. 366. 217 D. Vaihinger, S. 366. 218 D. Vaihinger, S. 366.
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[Z]ur Genialität des Verlegers gegenüber dem Publikum gehöre vor allem, aus den vielen Autoren einen Autor und aus den vielen Büchern ein Buch zu machen. Die Menschen seien unsicher, sie könnten sich nicht entscheiden. Der Leser müsse bereits zwischen den Büchern der anderen wählen. Bei seinem Verlag brauche sich der Leser nicht zu entscheiden, immer kaufe er ein Buch. (FS 42)
Guggeis hebt in diesem Abschnitt nicht nur die Bedeutung von Mechanismen der Selektions- und Aufmerksamkeitssteuerung auf dem immer unübersichtlicheren, weil komplexeren Buchmarkt hervor. Er koppelt zudem Programmgestaltung und symbolisches Marketing an das ›Genie‹ der eigenen Person, ja mehr noch: Er bindet den »Fortschritt in der Literatur« (FS 45) ganz grundsätzlich an die »Entschlossenheit des Verlegers« (FS 42) und imaginiert diesen als entscheidenden Akteur, ja bringt diesen als eine Art ›Super-Verleger‹ 219 nicht zuletzt von Selektions-, Variations- und Retentionsprozessen literarischer Evolution in Position. »Ich benötige nur ein Manuskript eines Autors, eigentlich brauche ich nur zwei, drei Sätze, dann weiß ich Bescheid. Angenommen ist angenommen, abgelehnt ist abgelehnt. Es hat noch die einen Autor gegeben, den ich abgelehnt habe und der bei einem anderen Verlag wirklich groß geworden ist.« (FS 310)
Dass Guggeis’ emphatische Betonung der »verlegerische[n] Tatkraft« (FS 45) gleichwohl wenig mehr als die eindrucksvolle Selbstpräsentation und -inszenierung einer imposanten Verlegerpersönlichkeit ist, ja sich auf eine literaturbetriebliche Vergangenheit bezieht, ergibt sich aus dem Katalysator des Romans: das Angebot an den Ich-Erzähler, das Manuskript zu Ende zu schreiben, um so einen Bestseller landen zu können und das Verlagsgeschäft gemäß Mischkalkulation zu stabilisieren. Auch Literaturagent La Trémoïlle stellt gleichsam die personifizierte literaturbetriebliche Konkurrenz dar. Der aus »einem uralten Adelsgeschlecht« (FS 12) stammende Agent, von dem es heißt, er habe »kein Büro und keine Sekretärin« (FS 12) und sei mit seiner »exzentrische[n] Erscheinung« (FS 48) so etwas wie der »Star« (FS 48) des printmedialen Boulevards »der Bunten und [...] der Gala« (FS 48), steht mit seinem Beruf für die Funktionsrolle betrieblichen ›Verderbens‹ schlechthin. So sehr sich Agenten trotz einer langen Berufsgschichte,
219 Dies in Anlehnung an Klaus-Michael Bogdal: Deutschland sucht den Super-Autor. Über die Chancen der Gegenwartsliteratur in der Mediengesellschaft. In: Clemens Kammler u. Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, S. 85–94.
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die bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreicht,220 erst um die Jahrtausendwende zum etablierten Kreis der Betriebsakteure zählen,221 ja sich durchaus als »durchweg angenehme Trinkgefährten« 222 erweisen, stehen sie in Verdacht, die illegitimen ›heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb‹ 223 zu sein. Als Literaturbetriebsakteure repräsentieren sie geradezu die nicht nur von Teilen des Feuilletons, sondern auch der Literaturwissenschaft thematierten sozialstrukturellen Transformationen des deutschsprachigen literarischen Systems seit den 1990er Jahren und werden dabei mit zumeist pejorativen Konnotationen versehen. So sei vor allem fraglich, ob Literaturagenten »zum Nutzen oder zum Schaden der Buchbranche« 224 arbeiteten, wie etwa ein Artikel von Rainer Moritz verdeutlicht. Der Literaturkritiker und Leiter des Hamburger Literaturhauses hält in seinem Beitrag zum Band Literarische Agenturen fest: Der Agent, das unbekannte Wesen, handelte im Hintergrund, als Draht und Strippenzieher, als graue Eminenz, die sich nicht in die Karten schauen ließ und andere an die Publicityfront schob. Dieses Bild hat sich, zumindest für den Buchbereich, im deutschsprachigen Raum während der letzten Jahre grundlegend verändert. [...] Je nach Tenor erscheinen Agenten mal als Herrscher des Literaturbetriebs und mal als akulturelle Profiteure oder sensible Blutsverwandte der Dichter.225
Moritzs Skizze des Wandlungsprozesses von literarischen Agenturen hebt insbesondere auf zwei Aspekte ab. Erstens hätten sich Agenten von ›unbekannten Wesen‹ des Literaturbetriebs zu durchaus öffentlich sichtbaren Akteuren ge-
220 Vgl. Andreas Graf: »Ehrliche Makler« oder »Ausbeuter der Schriftstellerwelt«? Die Anfänge der Literaturagenturen in Deutschland. In: Ernst Fischer (Hg.): Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb? (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 11) Wiesbaden 2001, S. 85–99. 221 »Und schon wieder sind alle da: die Verleger, die Kritiker, die Buchhändler, die Agenten, ein paar Autoren und die Leser – der ganze Betrieb.« Hans Jürgen Balmes: Die Buchmesse. In: Andreas Breitenstein (Hg.): Der Kulturbetrieb. Dreißig Annäherungen. Frankfurt a. M. 1996, S. 110–113, hier S. 110. 222 Lothar Menne: Vom Salon an die Börse. Über den Handel mit Bestsellern und anderen Büchern. In: Kursbuch (1998), Nr. 133, S. 41–47, hier S. 45. 223 Vgl. speziell dazu Ernst Fischer (Hg.): Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb? (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 11) Wiesbaden 2001. 224 Andreas Graf: Beziehungskisten. Rolle und Anfänge der Literaturagenturen in Deutschland. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 23. März 2001, S. 29–36, hier S. 29. 225 Rainer Moritz: Donna Leon meets Harry Potter. Warum und wie Verlage mit Agenten zusammenarbeiten. In: Ernst Fischer (Hg.): Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb? (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 11) Wiesbaden 2001, S. 17–31, hier S. 17.
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wandelt, von denen man wisse, was sie tun.226 Zweitens verweist er auf den ambivalenten Charakter von Agenten, insofern diesen zum einen autonom-literarische, zum anderen dezidiert heteronom-ökonomische Interessen unterstellt würden. In der feuilletonistischen Diskussion dominiert dabei deutlich der zweite Aspekt, führt doch etwa auch Uwe Wittstock in seinem Essay Nach der Moderne den Agenten explizit als Beispiel für den von ihm beobachteten literaturbetrieblichen »Wandel« 227 an. Demnach »mühen sich Agenten nach angelsächsischem Vorbild um die optimale ökonomische Verwertung literarischer Arbeit«.228 Im Kontext von literarischen Agenturen geht es denn auch um sekundäre literarische Formen wie den Handel mit Autorenrechten, Autorenhonorare und Outsourcing zur Kostenminimierung in Verlagen. Und tatsächlich bringt auch Händlers Roman die Funktionsrolle des Agenten in einer Digression zur Sprache: Üblicherweise erkundet ein Agent zunächst die Bereitschaft des Autors zu wechseln, zeigt sich dieser interessiert, preist er den Autor auf dem Markt an und wählt denjenigen Verlag aus, der dem Autor das meiste Geld bietet. Ich fragte mich nicht, warum mir La Trémoïlle sofort das Angebot eines konkreten Verlags machte. Oder warum Guggeis mir nicht selbst ein Angebot unterbreitete, die Einschaltung eines Agenten machte die Sache für ihn teurer. (FS 49)
Als Kontrastfolie zum Agenten fungiert üblicherweise der Lektor. Löse bereits innerhalb der Verlage »der Werbefachmann und/oder der Vertriebschef den Lektor in seiner Verantwortlichkeit für den Erfolg oder Mißerfolg eines Buches ab[ ]«,229 um so eine ökonomisch fokussierte, auf den kurzfristigen Erfolg eines einzelnen Titels ausgerichtete Verlagsstrategie durchzusetzen, erweise sich der Agent nicht nur als »Kontrahent[ ]« 230 des Verlags, sondern auch als maßgeblicher Katalysator der als literaturbetrieblich ›verdorben‹ bestimmten Entwicklungen. Außerhalb der Verlagsorganisationen platziert, übernehme der Agent als »unselige Kreuzung aus Shylock und King Kong« 231 demzufolge zu-
226 Vgl. als Symptom dieser ›neuen Offenheit‹ etwa das Interview mit der Agentin Karin Graf: »Ein Lektor kann einem Autor nicht das bestmögliche Vertragsangebot machen, er darf es nicht«. In: Promotionskolleg »Wertung und Kanon« der Universität Göttingen (Hg.): Bücher/ Menschen. Der Literaturbetrieb im Gespräch. Salzhemmendorf 2010, S. 67–78. 227 Uwe Wittstock: Nach der Moderne. Essay zur deutschen Gegenwartsliteratur in zwölf Kapiteln über elf Autoren. Göttingen 2009, S. 7. 228 U. Wittstock, Nach der Moderne, S. 7. 229 Ute Schneider: Die Konstante in der Beziehung Autor-Verlag: Lektor oder Literaturagent?. In: Ernst Fischer (Hg.): Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb? (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 11) Wiesbaden 2001, S. 33–40, hier S. 36. 230 L. Menne, S. 45. 231 L. Menne, S. 45.
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nehmend Aufgaben der Lektoratsarbeit und fungiere nicht zuletzt in dieser Rolle als »Schleusenwärter der Ideen und Geschichten«,232 dem eine auf literarische Kontrolle ausgerichtete »Filterfunktion« 233 zukomme. Agenten wachen in diesem Sinne »über den Zulauf der Ideen, formen sie aber auch, indem sie diese in bestimmte Flussläufe leiten«.234 Und tatsächlich tritt der Agent auch in der Frau des Schriftstellers als ein Akteur auf, »der sein Einkommen maximierte, indem er die Einkommen seiner Autoren maximierte« (FS 13). Dass La Trémoïlle letztlich keine literarischen Interessen verfolgt, bringt der Text dabei wieder unter Rekurs auf die Medialität des Schreibens zur Anschauung. So ist der Agent nicht nur »taubstumm« (FS 9), sondern nutzt zur Verständigung einen »Palm« (FS 10), mithin ein digitales Medium. Nicht zuletzt die Vertragsverhandlungen zwischen dem Ich-Erzähler und La Trémoïlle (vgl. FS 49) stehen dabei konträr zum Programm des Schriftstellers: Für mich bedeutet das Schreiben eine Prüfung. La Trémoïlle prüft mit dem, was er schreibt, andere. Ich fließe in das aus, was ich schreibe. Ihm verleiht das Schreiben genau die Einheit und Dauerhaftigkeit, die es mir nimmt. Das Kreisen des Plastikstifts auf dem Touchscreen des Palm verkörpert seinen persönlichen Triumph. (FS 12)
Das Palm-Schreiben des Agenten – im Übrigen ein Schreiben, das die manuelle Tätigkeit mit einem digitalen Medium zu verbinden weiß – wird in dieser Passage bereits zu Beginn vom Ich-Erzähler als Gegensatz zu seinem eigenen gesetzt. Die Gegenüberstellung von literarischem und betrieblichem Schreiben besteht dabei insbesondere in dessen Effekt: Der einheitsstiftenden Wirkung des Palms steht die schreibende Dekonstruktion auf Seiten des Ich-Erzählers gegenüber. Mit der Figur des Bestseller-Autors Pototsching thematisiert der Text schließlich zunächst konventionelle Formate der Literaturvermittlung um 2000. Nicht nur hat der Autor bereits zu Beginn seiner literarischen Karriere für »eine Textprobe ein Stipendium des Literarischen Colloquiums« (FS 336) erhalten, das später immer wieder durch diverse »Preise« (FS 105) finanziell aufgefrischt wird. Hinzu kommt etwa ein »Fernsehinterview« (FS 220), in dem es so scheint, als wäre der Autor ein »Verbrecher [...] und der Journalist ein Polizist« (FS 221), ein »Fotoshooting« (FS 422) für Autorenportraits und »Lesereise[n]« (FS 257). Dabei fällt auch in diesem Zusammenhang auf, dass Potot-
232 Renate Grau: Ästhetisches Engineering. Zur Verbreitung von Belletristik im Literaturbetrieb. Bielefeld 2006, S. 35. 233 R. Grau, Ästhetisches Engineering, S. 35. 234 R. Grau, Ästhetisches Engineering, S. 35.
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sching keineswegs durch die sozialstrukturelle Einbettung seines Handelns überfordert wäre. So heißt es etwa im Kontext einer Lesung: Er hatte seiner Lesung den Titel Wunschkonzert gegeben und alle seine Bücher mitgebracht, die Zuhörer durften auswählen, was er las. Es war zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei Besuchern gekommen, der eine wollte ein Stück aus Pototschings letztem Buch vorgelesen haben, der andere aus einem anderen, die beiden waren handgreiflich geworden, Pototsching hatte versucht, den Streit zu schlichten, aber irgendwie hatte es sich ergeben, daß beide zusammen auf ihn losgingen. (FS 301)
Die Frau des Schriftstellers aktualisiert mit diesem Abschnitt durchaus die »multimedial angelegten Lese-Happenings« 235 etwa Benjamin von StuckradBarres, dessen provokative Posen236 zwar als Teil seines literarischen Programms nobilitiert,237 jedoch zugleich immer wieder als offensiv »kalkulierte Selbstvermarktung« 238 abgewertet werden. Jenseits der damit einhergehenden körperlichen Gewalt in dieser Szene ist jedoch vor allem bemerkenswert, dass der Bestseller-Autor es versteht, sich »als Macher zu präsentieren« (FS 257). Vom Ich-Erzähler wird er mittels einer Semantik beschrieben, die ihn nicht nur in seiner literarischen Macht ausstellt, sondern als einen spezifischen Kämpfer der Literatur präsentiert. Ausgangspunkt ist in diesem Zusammenhang die Selbstcharakterisierung des Ich-Erzählers. Es hat mir immer gefallen, mich in der Rolle des Partisans zu sehen. Die anderen Schriftsteller besetzten wie Soldaten von regulären Armeen entweder weiße Flecken auf der Landkarte oder kämpften um die Vorherrschaft in bestimmten, genau vermessenen Gebieten. Ich operierte im militärischen Hinterland. Nie hatte ich mich einem Drill unterworfen. Ich verteidigte das Gebiet der Literatur, mein Ziel bestand darin, andere Armeen, andere Schriftsteller daraus fernzuhalten. (FS 212)
235 Rolf Parr: Literatur als literarisches (Medien-)Leben. Biografisches Erzählen in der neuen deutschen ›Pop‹-Literatur. In: Clemens Kammler u. Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, S. 183–200, hier S. 187. 236 Vgl. Dirk Niefanger: Provokative Posen. Zur Autorinszenierung in der deutschen Popliteratur. In: Johannes G. Pankau (Hg.): Pop Pop Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Bremen u. Oldenburg 2004, S. 85–101. 237 Vgl. Markus Tillmann u. Jan Forth: Der Pop-Literat als »Pappstar«. Selbstbeschreibungen und Selbstinszenierungen bei Benjamin von Stuckrad-Barre. In: Ralph Köhnen (Hg.): Selbstpoetik 1800–2000. Ich-Identität als literarisches Zeichenrecycling. Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 271–283. 238 Gabriele Feulner: Mythos Künstler. Konstruktionen und Dekonstruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts. (Philologische Studien und Quellen 222) Berlin 2010, S. 351.
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Die textorganisierende Differenz dieser Passage ist die Unterscheidung zwischen Partisan und Soldat. Letzterer bezeichnet den regulären Kombattanten eines Staates, dessen Regierung der Partisan gewöhnlich stürzen will. Gemeinsam ist beiden Kriegsakteuren, dass sie sich auf ein gewisses Maß an Gewaltregulierung verständigen können, »wobei dieses Maß beim Soldaten höher anzusetzen« 239 ist. Der Partisan tritt anders als der Soldat nicht offen als Kombattant auf, sondern setzt auf »Mittel der Täuschung und Tarnung, das heißt den Schutz der Nonkombattanten.« 240 Insofern er insbesonde in der defensiven Phase der politischen Umwälzungsbewegung eine Rolle spielt und nach dieser Phase militärischer Unterlegenheit in ein reguläres Heer umgewandelt wird, ist der Partisan durch einen »transitorischen, ja chamäleonhaften Charakter« 241 bestimmt. Sein besonderes Profil erhält der Ich-Erzähler als Partisan jedoch im Kontrast zur literarischen Kombattanten-Rolle des Bestseller-Autors: Pototsching war nicht der vergessene Partisan der Literatur, sondern der moderne Terrorist des Literaturbetriebs. Wir glichen uns nur in wenigen äußeren Merkmalen, etwa darin, uns erst im Augenblick der Tat zu erkennen zu geben. Im Gegensatz zu mir konnte sich Pototsching aus einer Operation nicht zurückziehen, er rieb sich in ihr auf. Der Schriftsteller Pototsching stellte eine nahezu auf einen Punkt gebrachte Existenz dar. So weit konnte er noch als eine extreme Variante von mir selbst erscheinen, aber tatsächlich unterschied er sich grundsätzlich dadurch von mir, daß er in einem Raum operierte, der keine Verbindung mehr zu dem Gebiet hatte, das als Literatur auf der Landkarte stand. (FS 212)
Auch der Terrorist setzt wie der Partisan auf Mittel der Täuschung und Tarnung. Seine schwer regulierbare Gewalt richtet sich jedoch nicht nur gegen Soldaten, sondern gegen prinzipiell jedermann, das heißt auch die Zivilbevölkerung. Und dementsprechend ist denn auch Pototsching als »Feind für alle Zeit ohne jede Kontur, unsichtbar, nicht greifbar« (FS 212). Mit all dem gerät nicht nur der Literaturbetrieb, wie ihn Die Frau des Schriftstellers entwirft, zu einem Kriegsschauplatz der beteiligten Akteure, zu einem Kampf um soziale Positionen. Gemeinsam ist Terrorist und Partisan, dass sie sich nicht an festgelegten (Sozial-)Strukturen orientieren, sondern die Kampfzone ausweiten: Im Fokus steht nicht mehr länger nur die ›Literatur‹, sondern das ›Leben‹.
239 Paul Michael Lützeler: Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München 2009, S. 43. Lützeler führt Ernst Jüngers Der Waldgang und Carl Schmitts Der Partisan an. Vgl. grundsätzlich Herfried Münkler: Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt. Opladen 1990. 240 P. M. Lützeler, S. 43. 241 P. M. Lützeler, S. 43.
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Setzt man die um den Abschluss von Pototschings Manuskript zentrierte Diegese, also das Zusammentreffen von Pototsching, Guggeis und dem IchErzähler als maßgebliche Ebene der histoire, stellt die Thematisierung der Biographie des Jungen schon allein quantitativ die größte Unterbrechung oder Abweichung dar. Bei diesen Passagen handelt es sich indes nicht nur um die Biographie des Ich-Erzählers, sondern auch um den Manuskripttext des von Pototsching in Aussicht gestellten Romans. Differenziert sind diese Abschnitte in mehrere größere Teile, die auf Seite 102 zum ersten Mal einsetzen und nach einer weiteren kürzeren Passage (vgl. FS 105–106) wenig später zu einem ersten umfangreichen, ohne Unterbrechung hundert Seiten umfassenden Block die zuvor etablierte histoire nahezu vergessen machen (vgl. FS 110–210). Ist die Trennung der diegetischen Ebenen auch zunächst schon allein peritextuell durch Absatzmarkierung mit Leerzeile gewährleistet, bricht die Differenzierung im Textverlauf gleichwohl auf, so dass der Ich-Erzähler schließlich mit Figuren/Personen seiner Erinnerung beziehungsweise aus Pototschings Manuskript konfrontiert ist (vgl. etwa FS 529, 540–541, 598). Die Frau des Schriftstellers blendet den Manuskript-Teil in die innerfiktional vermeintlich reale Realität über, so dass es zu einer gleichsam inversen Metalepse kommt, deren Effekt die Irritation der Unterscheidung zwischen Erzähltem und Erzählendem ist. Beides wird in ein Verhältnis von Medium und Form gesetzt, wobei unklar ist, ob das ›Leben‹ das Medium und die ›Literatur‹ die Form ist oder umgekehrt. Was bleibt, ist das relationale Verhältnis, das der Roman als Literatur in Szene setzt. Verfahrenstechnisch wichtig ist darüber hinaus, dass es sich bei diesen Passagen um eine intertextuelle Bezugnahme auf Thomas Bernhards Roman Auslöschung handelt. Bernhards Roman, der »ein buntes Bild konträrer Leseweisen« 242 provoziert hat, erweist sich als das wohl quantitativ umfangreichste Beispiel für den verfahrenstechnischen Einsatz der Medium/Form-Unterscheidung. Die Kopplung zwischen den beiden Romanen wird dabei durch die auftretenden Figuren (Gambetti, Spadolini) sowie Elemente der Handlung erzeugt. Während der bei Bernhard profilierte »Herkunftskomplex«,243 der in der ›antibiographisch‹ ausgerichteten Auslöschung mit der Eröffnung schließt, dass Murau, der das Anwesen seiner Eltern in Wolfsegg geerbt hat, seinen Besitz der israelitischen Kultusgemeinde in Wien übereignet, spinnt Händler die »Bernhardsche Abrechnung des Wolfsegg-Erben Murau mit der NS-Verstrickung sei-
242 Hans Höller: Rekonstruktion des Romans im Spektrum der Zeitungsrezensionen. In: Hans Höller u. Leonard Heidelberger (Hg.): Antiautobiografie. Zu Thomas Bernhards ›Auslöschung‹. Frankfurt a. M. 1995, S. 53–69, hier S. 53. 243 Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 1986, S. 201.
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ner Familie weiter[ ]«.244 Die Frau des Schriftstellers projiziert das ›Kontrollprinzip‹ des regelmäßig in St. Pankraz urlaubenden deutschen Ingenieurs mit SS-Vergangenheit in die Gegenwart der fiktionalen Realität des Schriftstellers.245 Dabei appliziert der Text zum einen die von Murau anvisierte »Auslöschung« 246 auf Bestseller-Autor Pototsching, betreibt letzterer doch dem IchErzähler zufolge mit dem Angebot an seinen Schriftstellerkollegen, das eigene Manuskript zu Ende zu schreiben, eine auktoriale »Selbstauslöschung« (FS 107). Zum anderen bemüht sich Die Frau des Schriftstellers um das Unterlaufen binärer Gegensätze. So wie Murau im Prozess seiner Erinnerung erkennt, »daß seine Vorstellungen von den einfachen Gegensätzen Gut und Böse, Opfer und Täter nicht aufrechtzuerhalten sind«,247 so gerät auch die Differenz von ›Literatur‹ und ›Leben‹ mit dem intertextuellen Bezug in Händlers Roman ins Schwanken. Und wie bei Bernhard ist der Effekt des Erzählens von den Leiden des Protagonisten keineswegs das Scheitern des Kunstwerks – ganz im Gegenteil: »Das Werk selbst wird weder vernichtet noch korrigiert, vielmehr akzentuiert der Hinweis des anonymen Herausgebers am Romanende, dass das Kunstwerk den Tod seines Autors überdauert.« 248 Während die Auslöschung die souveräne Rückbindung durch eine Herausgeberfiktion realisiert, die durch die zweifache, am Anfang und am Ende platzierte Parenthese »schreibt Murau« 249 markiert ist, gilt es noch einmal eindringlicher für Die Frau des Schriftstellers nach dem funktionalen Äquivalent, das heißt nach dem eigentlichen Effekt der auf ›Unlesbarkeit‹ abzielenden Schreibverfahren des Romans zu fragen.
6.2 Kaleidoskop-Prosa mit Überblick Im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schaltet die deutsche Finanzagentur im September 2004 eine Werbeanzeige: »Wer jetzt 244 R. Kämmerlings, Wenn die Vernunft hellwach ist. 245 Richard Kämmerlinsg führt diese Konstellation zu folgendem Interpretationsansatz: »Händler will also, und das ist starker Tobak, eine Fernwirkung der nationalsozialistischen Vergangenheit bis in die Gegenwart demonstrieren. Der ›Herkunftskomplex‹, wie es bei Bernhard heißt, schleicht sich in die narzißtischen Größenphantasien des Schriftstellers, dessen reale Beziehungen mehr und mehr durch einen Umgang mit seinen eigenen Romanfiguren ersetzt werden.« R. Kämmerlings, Wenn die Vernunft hellwach ist. 246 T. Bernhard, S. 201. 247 Nicole Schumacher: Faschismus, Destruktion, Utopie. Die Bedeutung von Ingeborg Bachmanns »Böhmen liegt am Meer« für Thomas Bernhards »Auslöschung«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 118 (1999), Nr. 4, S. 572–591, hier S. 576. 248 G. Feulner, S. 218. 249 T. Bernhard, S. 7 u. 651.
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oder später viel vorhat, sollte sich finanziell rechtzeitig darauf einstellen. Bundeswertpapiere sind dafür genau die Geldanlage – und noch mehr. Sie können damit kurz-, mittel- oder langfristige Ziele verfolgen.« 250 Ihre besondere Pointe erhält die Anzeige, die mit ihrem Slogan das Bezugsproblem ökonomischer Kommunikation schlechthin aufruft, durch ihre Positionierung direkt neben einem beinahe ganzseitigen Artikel zu ›Geschäftsmodellen‹ von Autoren. Insofern literarische Tätigkeiten gewöhnlich auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind, sich mit Literatur als sprichwörtlich ›brotloser Kunst‹ also kein Geld verdienen lässt,251 eröffnet sich zwischen Artikel und Anzeige eine ironische Spannung, die nicht nur staatliche Literaturförderung in neuem Licht erscheinen lässt. Unter dem Titel Schreiben und verdienen: Die Businesspläne der Poeten geht der collagenartig zusammengestellte und mit farbigen Autorenfotos versehene Artikel der Frage nach, wie deutsche Schriftsteller um 2000 ihren Unterhalt verdienen, und weist die Anzeige der Finanzagentur damit als eine gekonnt an Zielgruppen orientierte aus. Diejenigen Autoren, die ›Normalromane‹ 252 schrieben, also keinen Bestseller mit anhängender multimedialer Marketingkette vorlegen könnten, seien nämlich darauf angewiesen, so der einleitende Artikel-Begleittext, ihren Unterhalt in anderen, das heißt nicht-literarischen Kontexten zu verdienen: »Reich wird nur, wer eine Millionen-Auflage verkauft und den Stoff für einen Kinofilm mitliefert.« 253 Sechs solcher literarischen ›Businesspläne‹ stellt der FAZ-Artikel vor. Während Sven Regener (Modell ›Der Wertschöpfer‹) mit seinem Bestseller Herr Lehmann der »aktuelle Top-Verdiener im deutschen Literaturbetrieb« 254 sei, der mit seinem Debütroman »[k]ein Glied der Verwertungskette« 255 ausgelassen habe, sei Jakob Hein (Modell ›Der Psychiater‹) als Facharzt in der Berliner Charité »[f]roh, als Mediziner dem Literaturbetrieb nicht ausgeliefert zu sein«.256 Georg M. Oswald (›Der Advokat‹) habe sich als Rechtsanwalt auf Arbeits- und
250 Ihr Mann träumt davon, auf Fotosafari zu gehen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26. September 2004. 251 Vgl. Lutz Hagestedt: Autorenpräsentation und -förderung: Lesungen, Ausstellungen, Preise. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Bd. 1. Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart u. Weimar 2007, S. 296–306. 252 Vgl. Werner Faulstich: Was macht ein Buch zum Bestseller? Zum Geheimnis des Erfolgs von Charlotte Link. In: Olaf Kutzmutz (Hg.): Bestseller. Das Beispiel Charlotte Link. (Wolfenbütteler Akademie-Texte 46) Wolfenbüttel 2010, S. 9–26, hier S. 12. 253 So der Untertitel von Schreiben und verdienen: Die Businesspläne der Poeten. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26. September 2004. 254 Schreiben und verdienen. 255 Schreiben und verdienen. 256 Schreiben und verdienen.
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Gesellschaftsrecht spezialisiert, was auch seinen Tag stark strukturiere – »jeden Morgen erst zwei Stunden Schreiben, danach geht es in die Kanzlei« 257 – und Felicitas Hoppe (›Die Vorleserin‹) gehe hingegen immer wieder auf Lesereise, um ihren Lebensstandard zu finanzieren. Der Rückblick in die Literaturgeschichte kann zudem einmal mehr die singuläre Position Goethes herausstreichen, habe der ›Klassiker‹ doch auf »Erbschaft, Schenkungen, Zuwendungen eines Gönners, Beamtengehalt und [...] Erlöse aus seinen Werken« 258 zurückgreifen können – und hätte wohl heutzutage, so möchte man hinzufügen, auch auf Bundeswertpapiere als Säule seines ›Businessplans‹ gesetzt. Komplettiert wird diese Zusammenschau durch das Modell Ernst-Wilhelm Händlers: Er sieht aus wie ein mittelständischer Unternehmer – und tatsächlich: Er ist einer. Der 1953 geborene Ernst-Wilhelm Händler produziert so unspektakuläre Dinge wie Schaltschränke und Installationsverteiler. Niederlassungen hat seine Firma in Argentinien und Italien. Wer mit ihm spricht, bekommt Dinge zu hören, die jeder Unternehmer ähnlich sieht und unterschreiben würde: Die Tarifabschlüsse sind zu hoch, der Mittelstand hat es besonders schwer, für die Karriere sind bestimmte Opfer zu bringen etc. Doch Händler hat noch eine zweite Seite. Seit 1995 findet sich sein Name weniger im Wirtschaftsteil der Regionalzeitung als vielmehr in den Feuilletons der überregionalen Blätter. Der Erzählband »Stadt mit Häusern« begründet seine Karriere als Schriftsteller. Und mit seinen Romanen »Kongreß«, »Fall«, »Sturm« [sic!] und »Wenn wir sterben« [sic!] bewies er, daß der Erfolg keine Eintagsfliege war.259
Von Interesse ist diese Collage im Allgemeinen, der Abschnitt zu Händler im Besonderen, in zwei Hinsichten. Erstens könnte man den Artikel im Ganzen als so etwas wie eine feuilletonistisch in Szene gesetzte, mithin vereinfachte Visualisierung oder graphische Aufbereitung von Positionsverteilungen und damit gekoppelter Konsekrationsgrade im deutschen literarischen Feld von 2004 verstehen. Analog den von Bourdieu verwendeten Strukturgraphiken würden in dieser Perspektive sehr grob Nennung, Platzierung, Portraitdarstellung und Größe der Autorenparzellen in der FAZ-Collage den jeweils relativ zu ihren literarischen Kollegen zu denkenden Position der Autoren im Feld entsprechen.260 Zum anderen steht so wie hier am Anfang, häufig aber auch im Zentrum der feuilletonistischen Rezeption der Texte von Ernst-Wilhelm Händler nicht
257 Schreiben und verdienen. 258 Schreiben und verdienen. 259 Schreiben und verdienen. 260 Vgl. allgemein die Strukturgraphiken in Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 2005, S. 199 u. 203.
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die Literatur, sondern die Wirtschaft: Den Umstand, dass der Autor nicht nur ›wie ein mittelständischer Unternehmer‹ aussehe, sondern tatsächlich auch ein solcher sei, nutzt die Literaturkritik – wie eingangs bereits mit Blick auf Volker Weidermann erwähnt – beinahe immer dazu, ›Literatur‹ und ›Leben‹ des Autors zueinander in Beziehung zu setzen, um beides gleichzeitig streng von einander getrennt zu wissen. Bei einem Autor, der wirtschaftliche Zusammenhänge so nachdrücklich zum Thema seines Schreibens macht, muss, so scheint es, auch und gerade der »intensive[ ] Brotberuf« 261 als Unternehmer eines mittelständigen Unternehmens und Manager Rückschlüsse auf die Literatur zulassen. Dass Händler Schriftsteller und Unternehmer »in Personalunion« 262 sei, ja auf gleichsam idealtypische Weise »die Verbindung von Wirtschaft und Literatur« 263 repräsentiere, führt nicht nur dazu, dass der Autor nahezu durchgehend mit der Doppelung ›Unternehmer und Schriftsteller‹ 264 bezeichnet wird. Auch wird dem Beruf des Autors seit dessen ersten Veröffentlichungen eine produktionsästhetisch nicht zu unterschätzende Bedeutung zugeschrieben, um so Händlers Status als »Unikum in unserer gegenwärtigen Literatur« 265 auf die Schliche zu kommen, Überlegungen zu den Texten der »Ausnahmeerscheinung unter den deutschsprachigen Gegenwartsautoren« 266 argumentativ zu entwickeln und in einem anschaulichen Bild verdichten zu können. Der betont strikten Trennung zwischen ›intensivem Brotberuf‹ einerseits und literarischem Schreiben andererseits, mitunter als Kafka-Modell des »nachts, an Wochenenden und auf Reisen« 267 schreibenden Autors realisiert, stellt das Feuilleton dabei Lesarten gegenüber, die gezielt die biographischen Umstände des Autors mit Thema und Form der Texte parallelisieren. Und in der Tat hat Händler als einer der Ersten und Entschiedensten unter deutschen Autoren um 2000 die Ökonomisierung der Gesellschaft und des Individuums sowie Umstrukturierungen in Unternehmen zum literarischen Thema gemacht.268 Einen Autor, der sich als Unternehmer mit Wirtschaftsabläufen
261 H. Böttiger, Wenn das eigene Leben plagiiert wird. 262 Alexander Kissler: Im ewigen Unterwegs. In: Süddeutsche Zeitung vom 28. Mai 2009. 263 Bernhard Biener: Schriftsteller und Unternehmer. Erik-Reger-Preis für Schilderung der Arbeitswelt verliehen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Mai 1999. 264 Siehe für viele exemplarisch die paratextuelle Bezeichnung des Autors am Ende des Artikels Ernst-Wilhelm Händler: Die vorgestanzte Sprache. Was kann ein Dichter sagen? In: Süddeutsche Zeitung vom 21. September 2009. 265 M. Lüdke, S. 162. 266 S. Franke. 267 M. Lüdke, S. 162. 268 Von Händler ist nahezu immer im Kontext von Wirtschaftsliteratur die Rede. Siehe etwa auch Anke S. Biendarra: Prekäre neue Arbeitswelt: Narrative der New Economy. In: Julia Schöll
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auskenne, habe es lange nicht gegeben, ja noch mehr: Wer Händlers Romane genauer unter die Lupe nehme, erkenne, dass diese keine illustrierten Wirtschaftsabläufe seien, sondern ein hochkomplexes literarisches Programm umsetzten.269 Das, was der Leser durch die Lektüre lernen könne, sei nicht auf die Vermittlung gesicherter, vom Roman mimetisch abgebildeter Wirtschaftskoordinaten im Zeichen »fundamentale[r] Kapitalismuskritik« 270 gerichtet. Vielmehr löse sich gerade in den Anspielungen auf jene Wissensfelder die sichere Verortung des Ichs wieder auf. Und dennoch oder gerade deshalb, so die Hypothese der vorliegenden Studie, liegt der Fixpunkt dieser an Dekonstruktion interessierten Form nicht in den ›eigentlichen‹ Texten, sondern in der paratextuell-betrieblichen Inszenierung des Autors, wie sie etwa die zitierte Collage aus der FAZ aktualisiert.
6.2.1 Zwei Operationen: Abschreiben und Ersetzen Die im letzten Satz der Frau des Schriftstellers in Aussicht gestellte, innerfiktionale Literarisierung der zuvor ausführlich beschriebenen Betriebs- und Lebenszusammenhänge, also die Ankündigung des Ich-Erzählers, »ein Buch über alles schreiben« (FS 640) zu wollen, lässt sich in zwei Hinsichten als Medium/ Form-Kopplung lesen. Einerseits erzeugt Händlers Roman auf diese Weise einen Verweis auf eine (noch) nicht erzählte Zukunft, eine gleichsam ausstehende histoire der Frau des Schriftstellers. In dieser Perspektive stellen die dem Roman die Form gebenden Fragmente gleichsam die Vortexte des in Aussicht gestellten Textes des Ich-Erzählers dar, durch die dieser erst zu dem Buch wird, als das er dem innerfiktionalen Leser dann vorliegen wird.271 Händlers Roman gibt sich die präliterarische Form eines elliptisch strukturierten, »potentiellen Text[es]«,272 der die Entstehung des am Ende angekündigten literarischen Werkes durch die grundsätzlich untereinander verschiebbaren und in dieser Hinsicht lediglich aufgereihten Elemente der diversen diegetischen Ebenen als mediales Substrat vorbereitet und ermöglicht.
u. Johanna Bohley (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg 2012, S. 69–82, hier S. 74. 269 Vgl. C. Deupmann, S. 161. 270 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 160–161. 271 Siehe allgemein Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 2008, S. 382. 272 S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 12.
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Andererseits lässt sich der zitierte letzte Satz der Frau des Schriftstellers als Selbstreferenzmarker eines Medium/Form-Verhältnisses lesen. Geht man davon aus, dass das dem realen Leser nun vorliegende Buch eben jenes ist, das der Ich-Erzähler innerfiktional in Aussicht stellt, fungiert dessen Ankündigung als Katalysator einer Rückkopplungsbewegung, die zwischen fiktionaler und realer Realität oszilliert und nur pragmatisch durch das Beenden der Lektüre wieder zum Stillstand gebracht werden kann. Mit der so angelegten Selbstreferenz, bei der das Romanende der Frau des Schriftstellers dem Romananfang entspricht, setzt sich der Text nicht zuletzt in den Modus einer Geste der Rückeroberung oder gar Potenzierung der auktorialen Kontrolle des Ich-Erzählers über die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen seines literarischen Schreibens, aber auch des Autors Ernst-Wilhelm Händler. Die thematisierten sekundären Formen literarischer Kommunikation erweisen sich in dieser Perspektive nämlich als das Resultat einer souverän in Szene gesetzten literarischen Form, die sich vorgenommen hat, sich ihre kontextuellen Bedingungen gleichsam einzuverleiben und selbstreferentiell zu sich selbst kommen zu lassen. Dass die fragmentarische Struktur des Romans sich als Produkt seiner Selbstprogrammierung zu erkennen geben möchte, lässt sich dabei zunächst unter Verweis auf den bereits zitieren Essay Händlers zu Robert Musil plausibilisieren. Im Zusammenhang mit Musils Romantheorie kommt Händler dort auf das Verhältnis von Form und Programmierung zu sprechen. [D]er Roman ist eben gerade kein Sammelsurium. Der Autor ersetzt ganz bewußt den linearen Handlungsablauf durch ein im Prinzip flächenartiges Miteinander von Motiven und Themen. Die räumlichen und zeitlichen Bezüge sollen den Roman bewußt nicht in Raum und Zeit fixieren, sondern vielmehr die Vorstellung eines schwebenden Zustands vermitteln, der jedoch keineswegs durch Unveränderlichkeit, sondern durch die ständige Umgruppierung seiner Elemente geprägt ist.273
Bemerkenswert ist diese Passage insbesondere deshalb, weil Händler die in Form gesetzten Elemente des Textes nicht nur an dessen Selbstprogrammierung bindet, sondern dezidiert an den Autor verweist. Gleich zweimal betont Händler, die Romanform sei das Ergebnis einer ›bewussten‹ Entscheidung des Autors, um das, was als ›Sammelsurium‹ erscheinen mag, in seiner Form auszustellen. Diesen inszenatorischen Verweis auf eine auktoriale Instanz gilt es auch für Die Frau des Schriftstellers nicht aus dem Blick zu verlieren. Auch diese setzt auf ein ›flächenartiges Miteinander von Motiven und Themen‹, das sich zunächst als ›Sammelsurium‹ zu erkennen gibt, als ein solches aber – folgt man der Inszenierung des Autors – dezidiert nicht verstanden werden
273 E.-W. Händler, Wenn wir leben.
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möchte. Was auf der Ebene der histoire als Dekonstruktion der Identität des Ich-Erzählers thematisiert wird, nutzt die discours-Ebene mithin als literarisches Darstellungsverfahren. Nicht unwesentlich ist in diesem Zusammenhang mithin, dass die zitierte Stelle aus der Frau des Schriftstellers in Kombination mit der erzählperspektivischen Anlage des Romans geradezu dazu provoziert, den Ich-Erzähler auf den Autor Händler zu applizieren. Textintern legitimiert wird dieser Kurzschluss nicht zuletzt dadurch, dass der Roman sich dezidiert in ein über Thomas Bernhards Auslöschung vermitteltes intertextuelles Verhältnis zu Händlers Fall und damit auch auf Wenn wir sterben setzt und somit die dort jeweils eingeflochtenen, feuilletonistisch herausgearbeiteten autobiographischen Bezüge aufgreift. Und dennoch oder gerade deshalb fixieren die ›räumlichen und zeitlichen Bezüge‹, wie sie darüber hinaus in der Frau des Schriftstellers anzutreffen sind, den Roman tatsächlich weniger in ›Raum und Zeit‹ der realen Realität. Neben durchaus vereinzelt platzierten Hinweisen auf Marken wie »Coca Cola« (FS 513) oder »Patagonia-Hemden und [...] Eastpak-Rucksäcke[ ]« (FS 32) versieht der Text seine Handlung dabei zunächst mit geographischen Horizonten Berlins, Wiens oder Frankfurts.274 Hinzu kommen konkrete Handlungsräume der realen Realität wie die Münchner Szene-Diskothek »P I« (FS 51), ein Hotel der NobelKette »Four Seasons« (FS 76) oder die »Frankfurter Buchmesse« (FS 39). Doch auch wenn diese Partikel, insbesondere die Orte, einen gewissen Realitätseffekt haben mögen,275 allein schon in quantitativer Hinsicht sind sie zu vernachlässigen. Durch ihren hochgradig selektiven Einsatz, bei gleichzeitiger Dominanz von Partikeln aus dem literarischen Bereich legen sie eher eine Selbstverortung des Textes in (hoch-)literarischen Kontexten nahe. So finden sich nämlich mehrheitlich solche Realitätspartikel, durch die »Madonna« (FS 76) ebenso neben »Johannes R. Becher« (FS 318), »Günter Grass« (FS 32), »Picasso« (FS 71), »Kleist« (FS 318), »Uwe Johnson« (FS 329), »Alfred Andersch« (FS 31) oder «Heinrich Böll« (FS 31) verortet wird, wie der »Film A Thing of Beauty mit Andie MacDowell« (FS 512) mit »Krieg und Frieden« (FS 214), »Oliver Twist« (FS 214), der »Strafkolonie« (FS 280) oder »Nachsommer von Adalbert Stifter« (FS 215) konfrontiert wird. Auch das von der literaturkritischen Rezeption vereinzelt betonte Schlüsselverfahren legt es weniger auf »Strategien der Verhüllung« 276 an, sondern 274 Vgl. allgemein Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen 2008, S. 128–129. 275 ›Realität‹ hier verstanden als Schreibverfahrenseffekt. Vgl. Jürgen Link: ›Wiederkehr des Realismus‹ – aber welches? Mit besonderem Bezug auf Jonathan Littell. In: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie (2008), Nr. 54, S. 6–21, hier S. 12. 276 Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. (Studien zur deutschen Literatur 170) Tübingen 2004, S. 8.
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profiliert ein Verfahren, das innerfiktionale Figuren mit ihren ›realen Vorlagen‹ in ein spezifisches Verhältnis von Medium und Form stellt. Im Zentrum der »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung«,277 wie sie Die Frau des Schriftstellers einsetzt, stehen Verleger Johann Guggeis und BestsellerAutor Pototsching. Weist Händler in einem Interview darauf hin, bei der Figur des Verlegers »[n]atürlich [...] an Siegfried Unseld gedacht« 278 zu haben, erweist sich der »bedeutendste deutsche Verleger, den es je gegeben hat«,279 als Medium für die Figurencharakterisierung Guggeis’. Folgt man dem Text, habe der Verleger es nämlich verstanden, immer wieder wichtige literarische Akteure um sich zu versammeln, ja sich »[n]och im Tode [...] an der Seite seiner Autoren« (FS 546) im Sinne leidenschaftlich-freundschaftlicher Autorenpflege zu platzieren. Guggeis, »ein Mann der Tat« (FS 57), ja »ein großer, energiegeladener Mann« (FS 550), habe dabei vor allem eines im Sinn gehabt: den »Wahn, daß in der Literatur ständig etwas Neues kommen müsse« (FS 57), zu realisieren. Dass hier ganz offensichtlich der Suhrkamp-Verleger als mediales Substrat dient, mag folgendes Zitat aus einem Artikel Ulrich Greiners für die Zeit vom Dezember exemplarisch verdeutlichen. Unseld, dieses Monument der Dauer, ist auch deshalb groß, weil sich der Literaturbetrieb um ihn herum immer schneller dreht. Dass einer, der mit Johnson und Koeppen, mit Brecht und Joyce befreundet war, immer noch da ist und nicht längst schon aufgekauft wurde, das allein schon lässt ihn herausragen aus dem Strom des Kommens und Gehens in deutschen Verlagen.280
Mit Bezug auf Die Frau des Schriftstellers scheint die Rede von der »GuggeisKultur« (FS 59), die Pototsching zufolge für »Leben anstatt starrer Formen, Bildung und Weltanschauung anstatt akademischer Philosophie« (FS 59) steht, den wohl eindeutigsten Referenzbeleg dafür darzustellen, dass sich ›hinter‹ der Figur Guggeis der ›reale‹ Verleger Siegfried Unseld verbergen könnte. Habe es Guggeis mit seinem Verlag, von dem es analog zu Beschreibungen Suhrkamps heißt, er sei »für einen belletristischen Verlag groß, aber gegenüber einem Industrie-Konglomerat oder einem Handelskonzern sehr klein« (FS 261), in der Vergangenheit geschafft, »die wichtigsten deutschsprachigen Autoren unter seinem Dach versammel[n]« (FS 49) zu können, so aktualisiert dies die feuilletonistische Berichterstattung um Unseld, für die der zitierte Artikel Greiners stehen mag. In einem anderen Artikel des Literaturkritikers aus Anlass von
277 278 279 280
G. M. Rösch, S. 7. A. Trojan [O-Ton E.-W. Händler]. Ulrich Greiner: Der Mann, der die Bundesrepublik war. In: Die Zeit vom 31. Oktober 2002. Ulrich Greiner: Die Macht der Dauer. In: Die Zeit vom 7. Dezember 2000.
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Unselds Tod 2002 heißt es denn auch: »Es hat wohl selten einen Verleger gegeben, in dem sich der Sinn für Macht und das Verständnis für Literatur derart günstig gepaart haben, der gleichermaßen etwas von Buchhaltung und Marketing verstand wie von Poesie.« 281 Vermutet das Feuilleton nicht zuletzt, Händler habe es mit den gezielt platzierten Elementen vermutlich vor allem auf den Verlag des verstorbenen Vaters seines Verlegers Joachim Unseld abgesehen, ist für das Schreibverfahren der Frau des Schriftstellers bezeichnend, dass die angelegte Referenzialisierung des Textes gleichwohl geradezu auktorial-provokativ unterlaufen wird. Händlers auktoriale Betonung, der Roman sei bei all dem »aber trotzdem kein Schlüsselroman«,282 korrespondiert im Text das Austauschen eben jenes Signifikanten, der der als ›Kultur‹ spezifizierten Verleger-Marke zugrundeliegt. Während dieser im Falle der von George Steiner geprägten ›Suhrkamp culture‹ 283 gerade nicht auf Verleger Unseld referiert, sondern auf den Verlagsnamen, der wiederum auf Verlagsgründer Peter Suhrkamp zurückgeht, sind im Roman Verleger und Verlag strikt miteinander gekoppelt. Zum anderen ist in diesem Zusammenhang eine Explizitreflexion des Verhältnisses von realer und fiktionaler Realität bedeutsam, wie sie die folgende Passage eines Gesprächs zwischen dem Ich-Erzähler und Beatrice gleich zu Beginn des Romans präsentiert. Ich erzählte ihr, seine Autoren sagten und schrieben gern über Guggeis Dinge wie: Er ist ein großes Geheimnis, je länger man ihn kennt, desto schwerer kann man ihn erklären, keine Darstellung kann ihm gerecht werden, sein Wirken ist eine Eruption in der Geschichte. Ich fuhr fort, Guggeis funktioniere als eine Art Rorschach-Test. Wer versucht, ihn zu portraitieren, zeichnet ein Selbstportrait. Entweder stattet er Guggeis mit Eigenschaften aus, die er am liebsten sich selbst zuschreiben würde, oder er schreibt Guggeis genau die Merkmale zu, die er an sich selbst verabscheut. Wer über Guggeis redet, spricht immer auch darüber, wie er selber sein möchte oder nicht sein möchte. (FS 31)
So wie in der psychologischen Interpretation von Tintenklecksmustern die symmetrisch angelegten Tintenstrukturen sich als ›Selbstportrait‹ des beobachtenden Deuters erweisen,284 so verliert sich im Roman der scheinbar referenzia-
281 U. Greiner, Der Mann, der die Bundesrepublik war. 282 A. Trojan [O-Ton E.-W. Händler]. 283 George Steiner: Adorno. Love and Cognition. In: Times Literary Supplement vom 9. März 1973. Siehe dazu, aus Anlass des fünfzigsten Bestehens des Suhrkamp-Verlags, Lutz Hagestedt: Das Glück ist eine Pflicht. Der Suhrkamp Verlag wurde fünzig Jahre alt. In: literaturkritik.de (2000), Nr. 7/8. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=1261&ausgabe= 200007 (25. 08. 2012). 284 Vgl. grundsätzlich die Internetpräsenz der International Society of the Rorschach and Projective Methods. http://www.rorschach.com/pages/rorschach-test/about-the-test.html (25. 08. 2012).
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lisierbare Verleger, von dem es heißt, er sei zwar der Wirklichkeit zugewandt, »aber er sehe in ihr nur sich« (FS 59). Interessant ist diese Reflexionsschleife des Textes nicht zuletzt deshalb, weil Die Frau des Schriftstellers sich mit ihrer Verlegerfigur in einem Diskurs um Siegfried Unseld verortet, wie er nicht nur im deutschsprachigen Feuilleton um 2000, sondern auch und gerade in anderen literarischen Texten wiederholt aktualisiert wird. Ohne übertreiben zu müssen, könnte man zunächst sicherlich sagen, dass jeder deutschsprachige Roman der Jahrtausendwende, der seine sozialstrukturellen Rahmenbedingungen unter anderem als Thematisierung einer Verlegerfigur in Szene setzt, sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf den massenmedialen Diskurs um den Suhrkamp-Verleger zur Figurencharakterisierung bezieht.285 Andererseits und mit Rekurs auf den zitierten Monolog des Ich-Erzählers führt die feuilletonistische Dominanz Unselds umgekehrt dazu, dass grundsätzlich arbiträr angelegte fiktive Verlegerfiguren zumeist unter Rückgriff auf den ›Unseld-Diskurs‹ als Komplexität reduzierende Beobachtungsdirektive verdichtend rezipiert werden. Die Lektüren übergehen die unhintergehbaren Differenzen zwischen realer und fiktionaler Realität und verengen den semantischen Formenvorrat des jeweiligen Textes, um den Unseld-Diskurs so einsetzen zu können, dass die jeweilige Verleger-Figur an Eindeutigkeit scheinbar gewinnt. Die derart in den Text eingezogene Ebene des Unterlaufens von Referenzialisierungen betrifft auch Bestseller-Autor Pototsching. So heißt es zu dessen Debüt: Dieses Buch ist ein Glücksfall. Unwiderstehlich in seinem Einfallsreichtum, mitreißend in seiner Flut der Geschichten, elektrisierend in seiner Ironie, berührend in seiner verzweifelten Komik. [...] Der Sog der Erzählung ist so stark, daß der Leser kaum eine Chance hat zu bemerken, wie kunstvoll Pototsching ein Puzzle aus Anspielungen und versteckten Hinweisen auslegt, das sich erst am Ende zu der einzig möglichen Lösung zusammenfügt. Das Ergebnis ist ein in jeder Hinsicht perfektes Debüt, eine scheinbar ganz normale Liebesgeschichte, aber voller doppelbödiger Spannung. [...] Pototsching ist ein eminent kluger und genauer Erzähler, ein ausgezeichneter Architekt lebensechter Atmosphäre, und die Klaviatur der Töne beherrscht er virtuos: Ironie, Leichtigkeit und Witz, Poesie, Lakonie und tiefen Ernst. (FS 51)
So allgemein und unbestimmt dieser Schlagworte aneinanderreihende, im Modus einer buchmarketing- und klappentextkompatiblen Besprechung gehaltene Abschnitt auch sein mag, es reicht Teilen der feuilletonistischen Rezeption der Frau des Schriftstellers der Umstand aus, dass Pototsching seine Bücher
285 Das trifft neben Gstreins ganzer Wahrheit und Walsers Tod eines Kritikers etwa auf Walthers Abstieg vom Zauberberg, Klaus Modicks Bestseller oder Franzobels Shooting Star zu. Analoges gilt sicherlich für Marcel Reich-Ranicki als Literaturkritiker.
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»zur Gänze im Konjunktiv verfaßt« (FS 107, vgl. auch FS 52), um hinter dem Bestseller-Autor Suhrkamp-Autor Andreas Maier und dessen Debüt Wäldchestag zu erkennen. Doch nicht zuletzt der zitierte Abschnitt löst diese Referenzialisierung gleichwohl sofort wieder auf. Die Flucht ins Allgemeine und Marketing-Kompatible verstellt weniger den Weg zu Maier, als dass er die Tür zu nahezu jedem Debüt öffnet. Dass das so geformte Schlüsselverfahren, also die Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung tatsächlich weniger auf Verschlüsselung setzt als vielmehr die damit verknüpfte Medium/Form-Unterscheidung operativ einzusetzen weiß, soll im Folgenden anhand von drei etwas komplexer gelagerten Formelementen verdeutlicht werden. Es sind dies erstens der Rückgriff auf Rex Gildos Schlager; zweitens der Einbau der von Fredd Culbertson zusammengestellten ›Phobia List‹; und drittens eine Anspielung auf den Skandal um Martin Walsers Tod eines Kritikers von 2002. Der Rückgriff auf Songtexte des deutschen Schlagerstars Rex Gildo ist insofern von Relevanz, als diese über den gesamten Text hinweg nicht nur immer wieder gleichsam leitmotivisch Eingang in die histoire finden. Die Schlager Hast du Angst vor der Liebe (vgl. FS 11, 14), Memories (vgl. FS 267–268, 487), Fiesta Mexicana (vgl. FS 425–427) und Keine Macht auf Erden (vgl. FS 431– 432) werden zudem zum Teil komplett abgedruckt und erhalten dadurch eine kommentierende, ja reflektierende Funktion der narrativen Umgebung. So appliziert zum einen der Ich-Erzähler das von den Schlagern aufgerufene Thema auf seine eigene Lebenssituation: »Ich habe Angst vor der Liebe. Seit der Trennung von Laura bin ich allein. Aber niemand kann ohne Liebe sein« (FS 14). Der dieser Passage entsprechende Schlager zitiert dabei wortgetreu das Original bis in die tradierten Zeilenumbrüche hinein: »Hast du Angst vor der Liebe / bis du deshalb allein? / Denk daran / niemand kann / ohne Liebe sein« (FS 10).286 Wozu der Text gleichsam leitmotivisch die Schlagertexte häufig dann einsetzt, wenn der Ich-Erzähler auf Literaturagent La Trémoïlle trifft (vgl. etwa FS 11, 267), erklärt Die Frau des Schriftstellers an einer Stelle schließlich selbst. So sei der Ich-Erzähler dem Schlagerstar nicht nur »in den achtziger Jahren, bei Harry’s Men Shop in München« (FS 268) begegnet. Zu seinem Tod habe er zudem einen »Artikel« (FS 269) verfasst. Die Boulevardzeitungen hatten geschrieben, er sei aus dem zweiten Stock in der Ottostraße 19 aus dem Klo gesprungen, in den seriöseren Zeitungen war er durch ein Badezimmerfenster geklettert, es handelte sich wohl um ein Bad mit Toilette. Kurze Zeit vor dem
286 Vgl. etwa http://www.songtexte.com/songtext/rex-gildo/hast-du-angst-vor-der-liebe43de5 f.4 f.html (25. 08. 2012).
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Selbstmord hatte man ihm nach einem Auftritt in einem Festzelt die Gage gekürzt, weil er schwankend auf die Bühne gekommen war und dann auch noch den Text vergessen hatte. Der Veranstalter behauptete, er sei betrunken gewesen. Rex Gildo gab an, seine Gleichgewichts- und Gedächtnisstörungen seien die Folge einer Cortisontherapie. Er hatte keine Perücke auf, als er seinem Leben ein Ende setzte, er starb glatzköpfig. Über die ihm in den Festzelten zujubelnden Kids hatte er zu einer Journalistin gesagt, »die verarschen mich doch nur«. (FS 269)
Aufschlussreich ist diese Passage gleich in mehreren Hinsichten. Zunächst greift der Abschnitt auf ein Verfahren zurück, das mittels Intertextualität einen Realitätseffekt erzeugt. Wichtig ist dabei, dass der Text wiederum leichte Verschiebungen zwischen dem ›Original‹ und der eigenen Narration einbaut, die gleich mehrere Details betreffen. Zum einen vertauscht der Text die Semantik der Berichterstattung von Boulevard und Qualitätsfeuilleton. Tatsächlich hat nämlich Claus Spahn in der Zeit die auch von anderen Medien zitierte Formulierung »Der deutsche Schlager ist aus dem Klofenster gesprungen« 287 geprägt. Zum anderen lautet der bürgerliche Name Rex Gildos weder, wie an gleicher Stelle vom Text benannt, »Ludwig Alexander Hirtreiter« (FS 269) noch, wie das von Händlers Text zitierte Feuilleton angibt, »Alexander Ludwig Hirtreiter«,288 sondern Ludwig Franz Hirtreiter.289 Wesentlich ist mithin, dass selbst in der realen Realität unterschiedliche bürgerliche Namen kursieren, so dass der Mechanismus, auf den Die Frau des Schriftstellers zurückgreift, bereits in der realen Realität vorgezeichnet ist, der Text dieses Verfahren mithin lediglich in sich hinein kopiert. Die Frage des Verhältnisses von Künstler- und bürgerlichem Namen Gildos steht dabei metonymisch für ein Verdecken der ›eigentlichen‹ Identität des Sängers: So belog er sich und sein Publikum, präsentierte sich seit Jahrzehnten in derselben HeileWelt-Kulisse mit geliebter Ehefrau vor oberbayerischem Bauernhof. Zum anderen Teil seines Lebens, dessen Mittelpunkt offenbar das schäbige 40-Quadratmeter-Apartment in der Münchner Ottostraße war, hätte er sich nie bekannt.290
287 Claus Spahn: Tränen lügen nicht. Der deutsche Schlager ist aus dem Klofenster gesprungen. In: Die Zeit vom 28. Oktober 1999. 288 Marianne Wellershoff: »Er kam, sang und ging wieder«. In: Der Spiegel 44 (1999). 289 So zumindest der Eintrag auf Wikipedia. Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Rex_Gildo (25. 08. 2012). Bestätigt wird dieser Eintrag von der Internetpräsenz des eurovision songcontest http://www.eurovision.de/teilnehmer/rexgildo113.html (25. 08. 2012). Eine Fan-Homepage führt wiederum Ludwig Friedrich Hirtreiter als bürgerlichen Namen an. Siehe http://www.rex-gildofan.de/Startseite.htm (25. 08. 2012). 290 Hans-Dieter Götz u. Thomas Zorn: Der Absturz eines Stars. In: Focus Magazin 44 vom 30. Oktober 1999.
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Differenziert wird in diesem Focus-Artikel zwischen der öffentlichen Figur Rex Gildo und der privaten Person des homosexuellen Ludwig Hirtreiter, von dem es heißt, er sei öffentlich »nie auf Distanz zum schön-schmalzigen Schlagerstar und Frauenschwarm Rex Gildo [gegangen; DCA], als der er 1960 mit ›Sieben Wochen nach Bombay‹ bekannt wurde.« 291 Der Skandal von Gildos Selbstmord besteht mithin darin, dass hinter der auf ›Oberflächlichkeit‹ festgelegten Schlagerwelt tatsächlich noch eine Tiefendimension hinter den Kulissen anzutreffen sei. Und so weiß die Bild-Zeitung noch zehn Jahre nach dem Tod des Schlagerstars biographische Details aus dessen Homosexualität zu enthüllen.292 Hinter der Schlagerkulisse, so auch das Feuilleton, warte das authentische Leben – und es sei gerade diese Diskrepanz zwischen beidem, die die Identität der beteiligten Akteure irritiere. So lauert hinter dem ganz Leichten doch wieder das ganz Schwere. Es bleibt dabei: Der deutsche Schlager ist vor allem eins – ein Drama, eine Tragödie, eine deutsche Depression. Die Fiesta über dem gähnenden Abgrund.293
Jenseits ihrer kommentierenden oder reflektierenden Funktion hat der Bezug von Händlers Roman auf die Schlagertexte Rex Gildos schließlich vor allem eines als Effekt: Sie sind das Produkt einer Nobilitierung durch den Autor Händler, der es sich im Modus romantischer Verfahren leisten kann, popkulturelle Elemente in sein sich als dezidiert hochliterarisches Projekt verstehendes Werk einzubauen. Denn eines ist bei all dem augenscheinlich: dass es sich bei Händlers Frau eines Schriftstellers nicht um einen Pop- oder ›Schlager‹-Roman handelt. Neben die Selbstkommentierung tritt in diesem Sinne die Funktionalisierung der Schlager zur Aufwertung des Romans wie des jeweiligen Schlagertextes, für die Die Frau des Schriftstellers die Kontextualisierung eine hermeneutische ›Tiefendimension‹ gleichsam überhaupt erst zu erzeugen vorgibt. Durchaus im romantischen Modus des Einbaus von Volksliedgut in die romaneske Narration will Händlers Text zeigen, dass er nicht nur diverse Medien zur Formbildung verwendet, sondern auch und gerade, dass er diese literarisch zu bearbeiten, ja aufzuwerten weiß. Die mit diesen Interferenzen zwischen Hoch- und Populärkultur angesprochene, spezifisch gebrochene Integration von Elementen der Nicht-Kunst in den Roman lässt sich auch an einem weiteren Beispiel verdeutlichen. So be-
291 M. Wellershoff. 292 Das geheime Doppelleben des Rex Gildo. Vor 10 Jahren stürzte er in den Tod. http:// www.bild.de/unterhaltung/leute/leute/sein-geheimes-doppelleben-8512894.bild.html# (25. 08. 2012). 293 C. Spahn.
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zieht sich der Ich-Erzähler an einer Stelle auf die ›Phobia List‹ des Amerikaners Fredd Culbertson, wie sie die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einer Ausgabe ihres Feuilleton-Teils abgedruckt habe. Von Bedeutung ist diese Bezugnahme deshalb, weil der Ich-Erzähler von dieser Liste, die »sämtliche klinischen Ängste, die in der medizinischen Literatur vorkommen« (FS 340), enthalte, nicht nur erzählt. Die Frau des Schriftstellers druckt Culbertsons Zusammenstellung, wie sie in der FAZ zu finden gewesen sei, vielmehr als ›Explizitdarstellung‹ komplett ab: Ablutophobie: Achluophobie: Aeronausiphobie: Aerophobie: Agateophobie: Agliophobie: Agoraphobie: Agraphobie: Agrizoophobie:
Angst, sich zu waschen oder zu baden Angst vor Dunkelheit (Lygophobie, Nyktophobie, Skotophobie) Angst vor Luftkrankheit Angst vor Zugluft, dem Einatmen von Luft oder von in der Luft enthaltenen giftigen Substanzen Angst vor Irrsinn Angst vor Schmerz (Algophobie, Knidophobie, Odynephobie oder Odynophobie) Angst vor freien Plätzen oder davor, sich in bevölkerten Umgebungen aufzuhalten, auch Angst davor, einen sicheren Ort zu verlassen Angst vor sexuellem Mißbrauch Angst vor wilden Tieren (FS 340) etc.
Auf diese Weise zitiert der Text auf dreißig Seiten Formen von Angst und endet schließlich mit dem Eintrag »Zoophobie: Angst vor Tieren« (FS 370). Auch wenn die Liste geradezu dazu einlädt, sie als ›zu überblätternden Zusatz‹ 294 einzustufen, mit Blick auf das mit ihr verbundene Schreibverfahren ist sie gleich in mehreren Hinsichten interessant. Zunächst erzeugt die Liste einen zweifachen Realitätseffekt. Zum einen wird von Listen bereits per se angenommen, sie würden sich »auf konkrete Gegebenheiten der Außenwelt« 295 beziehen, so dass sie in literarischen Texten nicht zuletzt dazu dienen, das Erzählte ›glaubwürdiger‹ zu gestalten. Die Liste verfügt »über das Prinzip der Indexikalität« 296 und erzeugt auf diese Weise einen Effekt strikter Referenzialisierbarkeit, der im vorliegenden Fall durch die Nennung medizinisch abgesicherter Fakten noch zusätzlich Wissenschaftlichkeit suggeriert. Zum anderen handelt es sich bei der vom Ich-Erzähler benannten ›Angst-Liste‹ tatsächlich um einen
294 Vgl. S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 236. 295 Thomas Wegmann: So oder so. Die Liste als ästhetisch Kippfigur. In: Thomas Wegmann u. Norbert Christian Wolf (Hg.): »High« und »low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 130) Berlin u. Boston 2011, S. 217–231, hier S. 227. 296 T. Wegmann, So oder so, S. 227.
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Artikel, wie er im Januar 2003 im Feuilleton der FAZ erschienen ist. Auf zwei Seiten geht es den Journalisten dort um »[e]in Alphabet für unsere Zeit«.297 Bezeichnend für Die Frau des Schriftstellers ist nun, dass sie den mit der Liste einhergehenden Realitätseffekt mit dem Bezug auf das FAZ-Feuilleton konfrontiert. Medium dieser Konfrontation ist das, was gemeinhin als ready made bezeichnet wird. Durchaus in literaturgeschichtlicher Kontinuität etwa zu Peter Handkes Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968 präsentiert Händlers Roman die Liste dabei als beobachterabhängigen Zuschreibungsakt.298 Das eigentlich Referenzielle der Liste in der Frau des Schriftstellers ist, so könnte man unter Rekurs auf die gut vierzig Jahre zuvor erschienene Aufstellung sagen, der Umstand, dass der Text auf diesen Seiten einerseits seinen Status als literarisches Werk zur Disposition stellt – immerhin gilt die Liste als gleichsam das nicht-literarische Gegenstück zum literarischen Werk schlechthin299 – und andererseits auf seinen Autor als souverän mit nicht-literarischem Material jonglierenden und dieses als Literatur nobilitierend-bearbeitenden ›Arrangeur‹ zurückverweist. Zu berücksichtigen sind in diesem Verständnis von Referentialität zumindest drei Gesichtspunkte. Völlig analog zu Handkes Text hat der Begriff des ready mades im Falle der ›Angst-Liste‹ in der Frau des Schriftstellers – erstens – »allenfalls metaphorischen Status«.300 Denn die Liste, wie sie der Leser im Roman vorfindet, ist weder aus der FAZ ausgeschnitten, auf einen anderen Papierträger aufgeklebt, dann in den Text montiert und als Buchform reproduziert worden, noch handelt es sich um einen in den Text eingebauten Ausdruck des Originals, wie es Culbertson im Internet platziert hat. Vielmehr handelt es sich um das »Ergebnis höheren Abschreibens«,301 dem die FAZ-Liste als Ausgangspunkt gedient hat, weit mehr aber auch nicht. So perspektiviert kommt – zweitens – eine ganze Übersetzungskaskade von Medium/Form-Verhältnissen in den Blick. Als Ausgangspunkt dient die
297 Die vierhundertsechsundzwanzig Namen der Angst. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Januar 2003. 298 Darauf hingewiesen sei an dieser Stelle nochmals, dass es hier wie andernorts gerade nicht darum geht, gleichsam hermeneutisch die ›Bedeutung‹ der Literaturbetriebs-Szene oder von Details wie der Angst-Liste im Rückgang auf den Autor und dessen ›Intention‹ zu fassen. Siehe speziell dazu neben dem Aufsatz von Wegmann insbesondere Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. (Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur 1) Tübingen 2005, S. 81– 83. 299 Vgl. S. Mainberger, Die Kunst des Aufzählens, S. 12. 300 T. Wegmann, So oder so, S. 228. 301 T. Wegmann, So oder so, S. 228.
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Übersetzung medizinischer Fachliteratur in die mediale Onlinepräsenz, wie sie Culbertson vornimmt: »All the phobia names on this list have been found in some reference book.« 302 Dass es sich dabei um einen de- und rekontextualisierenden Schreibakt handelt, der sich auf einen als Liste ohnehin bereits dekontextualisierten Text bezieht, hebt Culbertson auch explizit selbst hervor: »Please don’t ask me about curing phobias because I know little about them. My interest is in the names only.« 303 In der Online-Liste zählt nicht mehr der medizinische Kontext, sondern der Wert der Namen. Die FAZ-Journalisten greifen die Internet-Liste im nächsten Schritt auf, übersetzen sie (Sandra Kegel und Andreas Platthaus werden als Übersetzer explizit genannt) und platzieren sie in einer Ausgabe ihres Feuilletons. Der mediale Kontext ist nun der einer durchaus tagespolitisch motivierten Gesellschaftsdiagnose, wie der redaktionell hinzugesetzte, erläuternde Begleittext betont: Angst mag sprachlos machen, das Reden über Angst aber kennt eine Unzahl von Begriffen. In der Aufzählung, die wir auf den folgenden zwei Seiten dokumentieren, finden sich bekannte und unbekannte Phobien, die aber alle eines gemeinsam haben: Sie sind wissenschaftlich anerkannt. [...] Die Liste ist ein Spiegelbild des angsterfüllten Lebens in den Tagen vor dem drohenden Irak-Krieg und in der Erwartung eines weiteren ökonomisch enttäuschenden Jahres.304
Aus diesem tagespolitischen Kontext entnimmt Händlers Frau des Schriftstellers nun die Liste und baut sie in ihre Narration ein. Der Ich-Erzähler motiviert dabei den Rückgriff auf die Liste, wie er sie in der FAZ vorfindet, wiederum durch einen gänzlich anderen Kontext: nämlich mit dem »Tag nachdem Laura mir ihre Liebe enthüllt hatte« (FS 340). Doch gleichwohl der Ich-Erzähler sich explizit auf die »Übersetzung« (FS 340) in der FAZ bezieht, bleibt letztlich unklar, auf welchen Text sich der Roman bezieht, welche Liste er also de- und literarisch rekontextualisiert; welche das Medium zur Formbildung darstellt. Denn – drittens – lassen sich diverse Veränderungen feststellen, die der Roman gegenüber seiner ›Vorlage‹ aufweist. Auffallend ist zunächst, dass der FAZ-Artikel 426 Angstbezeichnungen auweist, der Ich-Erzähler in Händlers Roman jedoch nicht nur »424 Namen der Angst« (FS 340) explizit nennt, sondern auch tatsächlich lediglich auflistet. Diese Kürzung ist keineswegs durch Culbertsons Internet-Liste motiviert, umfasst diese doch mittlerweile gar 538 Einträge. Motiviert ist die Kürzung vielmehr unter Gesichtspunkten der Präzisierung und ökonomisch-rationalen Zusammenfassung. So führt der Roman zum
302 http://phobialist.com/ (25. 08. 2012). 303 http://phobialist.com/ (25. 08. 2012). 304 Die vierhundertsechsundzwanzig Namen der Angst.
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einen den in der FAZ aufgrund geänderter Orthographie doppelt zu findenden Eintrag zu »Uranophobie: Angst vor dem Himmel« (FS 369) zusammen. In der FAZ findet sich nämlich zudem ›Ouranophobie: Angst vor dem Himmel‹. Zum anderen fasst Die Frau des Schriftstellers die zwei Bedeutungen von »Pharmakophobie« (FS 363) durch den Einbau der Konjunktion ›oder‹ zusammen. In der FAZ findet sich demgegenüber ein Eintrag zur ›Angst davor, Medizin einzunehmen‹, und einer zur ›Angst vor Drogen‹. Alle anderen Abweichungen vom FAZ-Artikel ergeben sich durch eine auf ›z‹ statt ›c‹ (etwa ›Bazillophobie‹ statt ›Bacillophobie‹, vgl. FS 345; auch ›k‹ statt ›c‹ und andere Konsonantabweichungen) oder auch Umlaute einsetzende Übersetzung der griechischen Etymologie (vgl. etwa ›Pädiophobie‹, FS 362–363; ›Dämonophie‹ statt ›Demonophobie‹, vgl. FS 347) und leichte Veränderungen in der Wortwahl wie das Austauschen von Konjunktionen (›oder‹ statt ›und‹, vgl. FS 362) und äquivalenten Substantiven (etwa ›Geschlechtsteile‹ statt ›Genitalien‹, vgl. FS 356; ›Gegenstände‹ statt ›Dinge‹, vgl. FS 357). Doch so sehr sich der Text mit diesen präzisen, letztlich grammatikalisch-orthographisch erklärbaren Veränderungen auch dagegen sträubt, den Abweichungen eine wie auch immer programmatisch-hermeneutische Tiefendimension zu verleihen, erweist sich das Medium/ Form-Verhältnis der Liste zur Frau des Schriftstellers einerseits als ein Akt der kontrollierten Perfektionierung, die sich bemüht, der referenzialisierten ›Angst‹ näher zu kommen, als ihr reales Gegenstück selbst dies vermag. Eben dieser Anspruch wird aber gleichzeitig wiederum unterlaufen. So konfrontiert der Text die auch in der Transformation des Titels von ›vierhundertsechsundzwanzig‹ in die harte Zahl (›424‹) sich schriftbildlich abzeichnende numerable Totalität, die die Liste in Sachen Archivierung psychologischer Krankheiten für sich beansprucht (Auflistung »sämtliche[r] klinischen Ängste«, FS 340) mit der auf der FAZ-Liste nicht zu findenden »Apfelphobie« (FS 531) von Pototschings Mutter: »Sie sage, sie sei pommophobe, sie bekomme Herzrasen« (FS 531). Diesen Effekt des ›hinter‹ den dekonstruierenden Schreibverfahren der Frau des Schriftstellers auftauchenden operativen Arrangeurs legt auch das dritte Beispiel für die Relevanz der Medium/Form-Unterscheidung in Händlers Roman nahe. Dabei handelt es sich wiederum um eine ›Explizitdarstellung‹, diesmal eines Briefes des Ich-Erzählers an Laura: Liebe Laura, Pototschings neues Buch wird behandelt wie ein Staatsgeheimnis. Nur ein kleiner Zirkel von Eingeweihten kannte bisher den Inhalt, jetzt kenne ich ihn auch. Auch Du wünschst, daß ich mich damit befassen soll, sonst hättest Du Dich wohl nicht mit mir getroffen. Pototschings Manuskript bedeutet keine Abrechnung, sondern eine Exekution. Ich werde Pototschings Manuskript nicht anrühren. Der Verleger möge beurteilen, wie gut oder wie schlecht es ist, er möge entscheiden, wen er damit betraut, es zu Ende zu
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schreiben, aber nicht mich. Auch ein schlechter Pototsching wird genügend Aufmerksamkeit auf sich ziehen, auch ein schlechter Pototsching wird sich gut verkaufen. Du tust so, als wären wir identisch, ich und derjenige, dessen Kindheit Pototsching beschreibt, ein und dieselbe Person, aber wir sind es nicht. Du behauptest, alles zu verurteilen und zu verachten, was Pototsching jemals getan hat, auch alles, was er geschrieben hat, also auch den Roman über meine Kindheit. In Wahrheit verhälst Du Dich nicht anders als er. Du gibst vor, mich zu erklären, indem Du mir etwas vorhältst, was Du als Spiegel deklarierst. Du hast die gleiche Botschaft wie Pototsching: Ich bin ein Verhängnis, das sich über alles legt, im muß vernichtet werden. Du schreibst einen Roman, der mit einem Knall beginnt und mit einem ausgerissenen Haarbüschel. Ich weiß nicht, was ich mehr bewundern soll, die Zielstrebigkeit, mit der Du Deinen Roman vorantreibst, oder den Versuch, das Ganze als Leben zu tarnen. Ich habe Deinen Roman wörtlich genommen. Mit dem, was Du tust, hast Du nichts anderes vor als einen Mord an mir. Es geht nicht um Überempfindlichkeit, ich kann es vertragen, daß ein Glas Tee über meinem Kopf ausgeschüttet wird, ein Schlag vor die Brust bringt mich nicht um. Ich habe keine Angst davor, Dein Liebhaber zu sein. Ich verstehe grundlosen Zorn. Aber Du hast eine Grenze überschritten. Es gibt gar keinen Begriff für das, was Du tust. Du schreibst ein Buch in der Wirklichkeit. Du machst genau das in der Wirklichkeit, was Du und ich, was wir sonst nur in Büchern machen. Auch ich habe Mordphantasien, auch ich bringe Menschen im Buch um. Du willst mich in der Wirklichkeit töten. Nicht, indem du mich verletzt, nicht, indem du mich dazu bringst, mich selbst zu verletzen. Du willst mich umbringen, indem Du mich abschaffst. Zugunsten des Jungen aus Pototschings Manuskript. Er soll an meine Stelle treten. Du planst das perfekte Verbrechen! Der Junge aus Pototschings Manuskript nimmt meinen Platz ein, und es fällt gar nicht auf, daß ich nicht mehr da bin. Niemand kommt auf den Gedanken, ihn und mich auseinanderzuhalten, so wie niemand Laura und Lisa auseinanderhalten kann. Ist es Herabsetzungslust, ist es Zerstörungsdrang, ist es einfach nur böse? Leidest Du, leidet Pototsching für die Sünden der Menschheit, muß ich mit Euch mitleiden? Warum bin ich Euer Opfer? Warum seid Ihre meine Ermordungskommission? Es fehlt nur noch, daß Ihr zu mir sagt, es paßt doch gar nicht zu mir, umgebracht zu werden. Getötet werden oder Überleben als Charaktereigenschaft – warum nicht? Deine Freiheit ist meine Niederlage. Mit bestem Gruß, Dein ... (FS 281–282)305
Händlers Roman baut mit diesem hier vollständig zitierten Brief das Exempel für ›Betriebsphänomene‹ 306 des deutschsprachigen Feuilletons der Jahrtau-
305 Die Hervorhebungen im zitierten Original sind vollständig getilgt und durch solche vom Verfasser ersetzt worden. Der Fettdruck hebt solche Partikel hervor, die (nahezu) wörtliche Übernahmen aus Schirrmachers Artikel darstellen; Kursivierungen bezeichnen sinnlogisch-argumentative Analogien. 306 Vgl. Sabine Buck: Der Kritikerstreit als Betriebsphänomen? In: Heinz Ludwig Arnold u. Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3., völlig veränderte Auflage. Neufassung. München 2009, S. 358–371.
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sendwende schlechthin in sich ein. Die Debatte um Martin Walsers Tod eines Kritikers, die auf besonders eindringliche Weise verdeutlicht, wie literarische Texte aufmerksamkeitsaffine »Feedbackeffekte« 307 in ihren sozialstrukturellen Rahmenbedingungen auslösen können, nimmt im Mai 2002 ihren Ausgang mit einem offenen Brief Frank Schirrmachers. Thematisiert Walsers Roman die »Abhängigkeit des Schriftstellers vom Literaturbetrieb, von der medialen Berichterstattung und vom Urteil eines allmächtigen Großkritikers«,308 bedient sich der Text zur Charakterisierung der Figur des Literaturkritikers André EhrlKönig antisemitischer Resentiments, die der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter Verweis auf das ohnehin problematische, weil gespannte Verhältnis Walsers zu Marcel Reich-Ranicki als antisemitisch motivierte »Mordphantasie« 309 liest. Auch wenn Schirrmacher dem Roman einerseits eine mangelnde literarische Qualität attestiert, bemüht er sich andererseits insbesondere darum, im Tod eines Kritikers »einen latenten Antisemitismus dingfest zu machen« 310 – ein Vorwurf, mit dem Walser spätestens seit seiner Rede in der Paulskirche konfrontiert ist.311 Walser hole, so Schirrmacher, die Ermordung des Holocaust-Überlebenden Reich-Ranicki im Medium einer direkt gegen den Literaturkritiker »gerichtete[n] Streitschrift« 312 fiktiv nach. Den deutlichsten Beleg für diesen Vorwurf sieht er dabei in dem bei Walser gleich doppelt platzierten Satz »Ab heute Nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen.« 313 Sieht Schirrmacher in dieser Hitler-Anspielung Walsers »Pamphlet« 314 gleichsam zu sich selbst gekommen, löst sein offener Brief eine Debatte im deutschsprachigen Feuilleton aus, die Walsers Roman bereits innerfiktional vorwegnimmt, wenn
307 Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003, S. 201. 308 G. Feulner, S. 446. 309 Frank Schirrmacher: Tod eines Kritikers. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Mai 2002. 310 Michael Braun: ›J’accuse‹. Literarische Skandalisierung in Offenen Briefen am Beispiel der Grass- und der Walser-Debatte. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Mit drei Abbildungen. Göttingen 2007, S. 588–597, hier S. 594. 311 Siehe speziell dazu Gerd Wiegel: Eine Rede und ihre Folgen. Die Debatte zur Walser-Rede. In: Gerd Wiegel u. Johannes Klotz (Hg.): Geistige Brandstiftung? Die Walser-Bubis-Debatte. Mit Beiträgen von Johannes Klotz u. a. Köln 1999, S. 17–64. 312 Stefan Neuhaus: Wie man Skandale macht. Akteure, Profiteure und Verlierer im Literaturbetrieb. In: Matthias Freise u. Claudia Stockinger (Hg.): Wertung und Kanon. (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 44) Heidelberg 2010, S. 29–41, hier S. 36. 313 Martin Walser: Tod eines Kritikers. Roman. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 2002, S. 144 u. 145. 314 S. Neuhaus, Wie man Skandale macht, S. 36.
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ausgerechnet Ehrl-König an einer Stelle pointiert festhält: »Es war ein längst fälliges Lehrstück über Wahrheit und Lüge im Kulturbetrieb.« 315 In dieser Perspektive diskutiert der Text nicht nur »Fragen des Selbstverständnisses eines Schriftstellers und über sein Verhältnis zur Literaturkritik sowie über deren Funktionszusammenhänge in der modernen Mediengesellschaft«.316 Walsers Roman inszeniert vielmehr eine Literaturbetriebs-Szene, die die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens nicht nur thematisiert, sondern über ihren discours hinaus in die feuilletonistischen Paratexte projiziert. Man könnte sagen, Schirrmachers Brief und die sich anschließende Debatte sind Teil der Selbstprogrammierung des Todes eines Kritikers. Der FAZArtikel stellt dabei insofern eine »Wegscheide« 317 in der Debatte dar, als er die Inkubationsphase der marketingstrategischen Vermarktung des noch unveröffentlichten Romans über Vorbesprechungen, Interviews und Gerüchte von der hochvirulenten Rezensionsphase trennt.318 Greift Händlers Roman sowohl zentrale semantische als auch syntaktische Strukturen des Briefes auf, nutzt Die Frau des Schriftstellers Schirrmachers FAZArtikel als Medium zur Formbildung und betont dieses Verfahren durch Differenzmarkierung zugleich, um die Bezugnahme aus ihrem Status als Schlüsselpassage zu heben. Drei Aspekte sind in diesem Zusammenhang von Relevanz: erstens Schirrmachers spezifischer Umgang mit dem Medium Brief, zweitens die konkreten textgenerierenden Operationen in der Frau des Schriftstellers und drittens die Funktion der Bezugnahme für Händlers Roman. Zunächst ist wichtig, dass Schirrmachers FAZ-Artikel auf das Medium des ›offenen Briefs‹ zurückgreift, das heißt Briefkommunikation zwar als an eine konkrete Person gerichtet vollzieht – in diesem Fall Martin Walser –, diese persönliche Adressierung aber gleichzeitig für und vor einem Publikum inszeniert. Die gattungskonstitutive Relation zwischen Absender und Adressat suggeriert zum einen ein persönliches Nahverhältnis zwischen Kritiker und Autor. Gleichzeitig ist der Brief jedoch in einen öffentlich-medialen Zusammenhang der Konstellation um Walser, Reich-Ranicki und Schirrmacher eingelassen, der die Interdependenz zwischen dem Brief und dessen Vor- und Nachgeschichte
315 M. Walser, Tod eines Kritikers, S. 182. 316 Franz Loquai: Karnevaleske Demaskierung eines Medienclowns. Martin Walsers Tod eines Kritikers als Lehrstück über den Kulturbetrieb. In: Dieter Borchmeyer u. Helmuth Kiesel (Hg.): Der Ernstfall. Martin Walsers Tod eines Kritikers. Hamburg 2003, S. 158–173, hier S. 158. 317 M. Braun, ›J’accuse‹, S. 590. 318 Vgl. zur literaturkritischen Rezeption des Romans Michael Braun: Zur Rezeption von Martin Walsers Roman ›Tod eines Kritikers‹. In: Volker Wehdeking u. Anne-Marie Corbin (Hg.): Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europäischen Kontext. Interpretationen, Intertextualität, Rezeption. Trier 2003, S. 107–117.
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bestimmt.319 Das »Skandalisierungspotential des Offenen Briefes«,320 wie ihn der FAZ-Herausgeber platziert, liegt dabei in der Rückwirkung des Skandals auf den Autor des Briefes, der sich als soziales Gewissen im Literaturbetrieb in Szene setzt. Schirrmacher instrumentalisiert mithin die »Strukturkonventionen brieflichen Schreibens« 321 auf einer auf die Breitenwirkung des massenmedial organisierten Feuilletons abzielenden Plattform, um seine, in der Debatte dann selbst diskutierten individuellen Motive durchzusetzen. Im Zentrum der sich an Schirrmachers Artikel anschließenden Debatte stehen zum einen Fragen der Zulässigkeit des Verfahrens der FAZ, die literarische Qualität des Romans, die Situation des Suhrkamp-Verlags sowie die Berechtigung des Antisemitismusvorwurfs gegen Walser.322 Zum anderen wird aber auch und gerade immer wieder über »[m]ögliche Motive der Debattenteilnehmer« 323 spekuliert. Betont dabei die eine Seite Walsers Geschick, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ja marketingstrategisch provoziert zu haben,324 hebt die andere Seite hervor, Schirrmacher habe mit seinem Artikel keineswegs nur ethisch-moralische Motive verfolgt, sondern vielmehr ebenso ein konkret »medienwirtschaftliches Kalkül« 325 bemüht. Insofern Walsers Roman zum Zeitpunkt der Wortmeldung Schirrmachers noch gar nicht erschienen ist, die Öffentlichkeit sich also selbst kein Bild machen kann, ist der offene Brief Schirrmachers mithin nicht nur Medium des Skandals, sondern wird zugleich selbst als der ›eigentliche‹ Skandal gelesen.326 So erregt die feuilletonistische Debatte ist, so gespalten zeigt sich auch die Forschung. So steht der »Walser-Philologie, die von Gefühlen des Wohlwollens, der Bewunderung oder der Solidarität geprägt ist«,327 eine Gruppe von »ganz überwiegend politisch motiviert[en]« 328 Beiträgen gegenüber. Das gegenseitige Absprechen des »Anspruch[s] abgewogener[ ] Wissenschaftlich-
319 Vgl. M. Braun, ›J’accuse‹, S. 589. 320 M. Braun, ›J’accuse‹, S. 588. 321 M. Braun, ›J’accuse‹, S. 588. 322 Siehe Matthias N. Lorenz: ›Auschwitz drängt uns auf einen Fleck‹. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Mit einem Vorwort von Wolfgang Benz. Stuttgart u. Weimar 2005, S. 90–92. Lorenz kommt zu dem Ergebnis, dass in Walsers Roman »[a]lthergebrachte antisemitische Klischees [...] unhinterfragt reproduziert [werden; DCA]«, M. N. Lorenz, S. 211. Siehe für eine Analyse des Romans M. N. Lorenz, S. 148–210. 323 M. N. Lorenz, S. 86. Die Hervorhebungen sind weggelassen. 324 Siehe etwa Bodo Kirchhoff: Letzte Schlacht vor dem Nachruhm. In: Der Spiegel 24 (2002). 325 M. N. Lorenz, S. 88. 326 Vgl. M. Braun, ›J’accuse‹, S. 589. 327 M. N. Lorenz, S. 135. 328 M. N. Lorenz, S. 136.
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keit« 329 liegt dabei in dem Umstand begründet, dass beide Stoßrichtungen gewöhnlich an den Semantiken anknüpfen, die in den Selbstbeschreibungen der beteiligten literarischen Akteure strukturbildend sind. So wird etwa angenommen, Schirrmacher verfolge die ›Absicht‹, seinen »Zieh-Vater Marcel Reich-Ranicki« 330 zu schützen und zudem die FAZ »zum viel beachteten Meinungsführer in der Angelegenheit« 331 zu machen. Diagnostizieren Teile der Forschung darüber hinaus gar ganze ›Kampagnen‹ gegen Walser,332 ist die Ursache derartiger Analyseergebnisse und der mitunter scharfe Ton der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung darin zu sehen, dass sich die Beteiligten in die Semantiken literarischer Kommunikation einschreiben, also gerade keine literaturwissenschaftlichen Fremdbeschreibungen des Skandals anfertigen.333
329 M. N. Lorenz, S. 117. 330 S. Neuhaus, Wie man Skandale macht, S. 35. 331 S. Neuhaus, Wie man Skandale macht, S. 35. 332 Vgl. Gunther Nickel: Kein Einzelfall. Die medialen Kampagnen gegen Günter Grass, Martin Walser und Peter Handke. In: Hajo Kesting (Hg.): Die Medien und Günter Grass. Köln 2007, S. 183–197. 333 So hält etwa Marcel Krings fest: »Über Martin Walser zu schreiben, grenzt heute an ein politisches Statement.« Marcel Krings: Die freie Sprache. Tabu und Tabubruch in Martin Walsers Romanen Ein springender Brunnen und Tod eines Kritikers. In: Michael Braun (Hg.): Tabu und Tabubruch in Literatur und Film. (Film – Medium – Diskurs 20) Würzburg 2007, S. 103– 116, hier S. 103. Dass dem so sein mag, es sich bei der Diagnose aber gleichwohl um selbsterzeugte Symptome nur vermeintlich literaturwissenschaftliche Kontexte adressierender Artikel handelt, mögen zwei Beispiel verdeutlichen. So findet sich etwa in einem Artikel zu Walsers Tod eines Kritikers folgende Fußnote: »Auf die fragwürdigen Versuche in wissenschaftlichen Arbeiten, Walser als antisemitischen Autor zu entlarven, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Es handelt sich sämtlich um das Werk einseitig durchkämmende Motivuntersuchungen, also um widerlegbare Indizien-›Beweise‹. Es wirft kein gutes Licht auf die Wissenschaft, daß Schirrmachers Artikel trotz seiner durchsichtigen Absicht und simplen, wenn auch gerade deshalb effektvollen rhetorischen Struktur zu solchen Folgen zumindest beitragen konnte.« S. Neuhaus, Wie man Skandale macht, S. 36, Fn. 14. Mit dem Verfahren, die ›fragwürdigen Versuche‹ nicht beim Namen zu nennen (gemeint ist vermutlich Lorenzs Studie), verortet sich der Beitrag ebenso wie mit der Rede von der Kritiker-Intention (›durchsichtige Absicht‹) jenseits literaturwissenschaftlicher Konventionen. An anderer Stelle findet sich ein »Postludium in eigener Sache«, in denen der Autor sich als offensichtlich zur »persona non grata« der FAZ in Szene setzt. So habe die FAZ seine Walser-Replik zurückgewiesen, »die sich um eine Versachlichung der überhitzten Debatte über den schon vor seinem Erscheinen befehdeten Roman bemühte, wobei sie sich von Frank Schirrmachers offenem Brief an Martin Walser vom 29. 5. 2002 entschieden distanzierte, polemische Töne jedoch betont vermied«; und weiter heißt es: »Briefe von mir an die Redaktion und an die fünf Herausgeber, in denen ich mein Verhalten im ›Fall Walser‹ zu rechtfertigen suchte und die F.A.Z. meiner Mitarbeiter-Loyalität versicherte, wurden nicht beantwortet.« Dieter Borchmeyer: Martin Walsers Tod eines Kritikers. Der Komische Roman als Inszenierung seiner Wirkungsgeschichte. In: Dieter Borchmeyer u. Helmuth Kiesel (Hg.): Der Ernstfall. Martin Walsers Tod eines Kritikers. Hamburg 2003, S. 46–
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Händlers Roman hält sich demgegenüber aus diesen Bewertungen heraus und fertigt eine am Verhältnis von Medium und Form orientierte Redeskription des Skandals an. Bei dem Brief des Ich-Erzählers an Laura handelt es sich um einen konventionellen privaten Brief, der zudem seine Adressatin überhaupt nicht erreicht: So wie der Ich-Erzähler sich vornimmt, Laura eine SMS zu schreiben, so »schickt[ ] [er; DCA] weder den Brief noch die SMS an Laura ab« (FS 283). Durch den Wechsel der Kommunikationsform innerhalb des Briefmediums, ja den Abbruch des Kommunikationsprozesses lässt Die Frau des Schriftstellers mithin sämtliche Merkmale von Schirrmachers Verwendung der Gattung des offenen Briefs fallen und konzentriert sich auf die hinter Schirrmachers Vorwurf stehende literaturtheoretische Frage nach dem Verhältnis von realer und fiktionaler Realität. Relevant sind vor diesem Hintergrund – zweitens – die konkreten Verfahren des Einbaus von Schirrmachers Brief in Händlers Roman. Dabei lassen sich im Wesentlichen vier Verfahrenselemente unterscheiden. Das erste Verfahren übernimmt semantisch-syntaktische Einheiten aus Schirrmachers Brief und überträgt diese ohne Änderungen in den Brief des Ich-Erzählers (im Zitat als Fettdruck hervorgehoben). Dazu zählen insbesondere die Formulierungen ›wird behandelt wie ein Staatsgeheimnis‹ und ›Nur ein kleiner Zirkel von Eingeweihten kannte bisher den Inhalt‹ sowie die Schlagworte ›Abrechnung‹, ›Exekution‹, ›Herabsetzungslust‹ und ›Charaktereigenschaft‹. Von diesen unveränderten Übernahmen, die gleichsam das Grundgerüst der Argumentation in den beiden Briefen bilden, ist – zweitens – ein Verfahren zu unterscheiden, das einzelne syntaktisch-semantische Einheiten übernimmt, diese jedoch grammatikalisch paraphrasiert und analogisiert (im Zitat kursiv hervorgehoben). So entspricht etwa ›Auch Du wünschst, daß ich mich damit befassen soll, sonst hättest Du Dich wohl nicht mit mir getroffen‹ in Händlers Roman der Passage ›Sie wünschen, daß Ihr neuer Roman, ›Tod eines Kritikers‹, in dieser Zeitung vorabgedruckt wird‹ in Schirrmachers Artikel. Diese Veränderungen betreffen zum einen grammatikalische Umstellungen, die zum Teil dem Wechsel der Anrede geschuldet sind. So tauscht Die Frau des Schriftstellers die auch in der Forschung bemerkte, insgesamt fünf Mal eingesetzte »Demutsformel« 334 Schirrmachers – ›Lieber Herr Walser‹ – gegen die direkte Anrede Lauras aus: Insgesamt 25 Mal verwendet der Ich-Erzähler das Pronomen ›du‹ in dem Brief. Zum anderen finden sich semantische Verschieben, wie der Abschnitt ›jetzt
68, hier S. 67. Auch in diesem Fall geht es nicht um Literaturwissenschaft, sondern um Positionierung in den feuilletonistischen Auseinandersetzungen. Die textuelle Kommunikation knüpft an Semantiken und Strukturen an, wie sie im literarischen System bestimmend sind. 334 M. Braun, ›J’accuse‹, S. 593.
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kenne ich ihn auch‹, der sich aus ›Mittlerweile kenne auch ich ihn‹ bei Schirrmacher ergibt. So formuliert Händlers Roman schließlich mit der Passage ›Es fehlt nur noch, daß Ihr zu mir sagt, es paßt doch gar nicht zu mir, umgebracht zu werden‹ einen bei Schirrmacher zitierten Satz aus Tod eines Kritikers um. Die Feststellung ›Umgebracht zu werden paßt doch nicht zu André Ehrl-König‹, auf die sich Die Frau des Schriftstellers bezieht, koppelt den Roman mithin nicht nur an Schirrmachers offenen Brief, sondern auch unmittelbar an Walsers Roman. Dort ist es Madame Nancy, die Geliebte von Ehrl-König, der die antisemitisch gefärbte, weil auf Reich-Ranicki feuilletonistisch zurückbezogene Formulierung zugeschrieben wird. Und am nächsten Tag gab Madame noch ein knitzes Interview. In einer Hand die Zigarre, in der anderen das Champagnerglas, sagte sie lächelnd: Sie habe gewußt, wenn sie sage, sie habe [sic!] André umgebracht, wird er sofort zurückkommen. Und so war es dann auch. Daß er nicht umgebracht worden ist, sei ihr immer klar gewesen. Umgebracht werden paßt doch nicht zu André Ehrl-König, ich bitte Sie. Und trank uns zu.335
Drittens setzt Händlers Roman auf größere Umstellungen. Die Passage ›Ihr Roman ist eine Exekution‹ steht in Schirrmachers FAZ-Artikel syntaktisch und argumentativ vor ›Ich muß Ihnen mitteilen, daß Ihr Roman nicht in dieser Zeitung erscheinen wird. Die Kritiker mögen entscheiden, wie gut oder wie schlecht dieses Buch unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ist. ›Auch ein schlechter Walser ist ein Ereignis‹, sagte einmal ein bekannter Redakteur.‹ In der Frau des Schriftstellers ist hingegen erst von ›Abrechnung‹ die Rede, um dann die Frage der Qualität anzusprechen. Schließlich fügt Händlers Roman – viertens – umfangreiche ›neue‹ Passagen in den Brief ein, um gleichzeitig erhebliche Teile des ›Originals‹ zu tilgen. Insgesamt vollzieht die Passage ebenso wie der Roman im Ganzen eben jene Operationen, die an anderer Stelle als ›Abschreiben‹ und ›Ersetzen‹ beschrieben werden. So heißt es zu der mit dem bezeichnenden Namen ›Meta‹ versehenen Lektorin gegen Ende des Textes: »Sie hat aus einem Artikel des Verlagsautors abgeschrieben, sie ersetzte einfach nur im ersten Satz das wird durch ein wurde und das vorstellt durch ein vorstellte.« (FS 550). Die Frau des Schriftstellers generiert den Text in der BriefPassage völlig analog durch eine zweifache Operation: Dem ›Abschreiben‹ von Schirrmachers ›Vorlage‹ korrespondiert das teilweise ›Ersetzen‹ des Abgeschriebenen. Mit anderen Worten, die ›Explizitdarstellung‹ des Briefes basiert auf dem »mechanische[n] Überschreiben von Geschriebenem«.336
335 M. Walser, Tod eines Kritikers, S. 183. 336 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 161.
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Damit kommt schließlich – drittens – die Frage nach der Funktion der Bezugnahme auf Schirrmachers Brief für Die Frau des Schriftstellers in den Blick. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass der Wechsel des Mediums nicht nur die Transformation des offenen in einen privaten Brief betrifft. Er betrifft auch und gerade die Transformation des Mediums, in dem der Brief erscheint. Im Fall der Frau des Schriftstellers ist dies nicht die Frankfurter Allgemeine Zeitung als Printmedium, sondern ein Roman. Damit durchläuft der zunächst einmal genuin nicht-literarische Brief zum einen eine literarische Nobilitierung, die seinen paratextuellen Status als ›Sekundäres‹ in ein Element eines Werkes konvertiert. Zum anderen nutzt Händlers Roman den kommentierenden Gestus des Briefs dazu, seine eigene histoire zu kommentieren. Sieht man von dem antisemitischen Vorwurf Schirrmachers ab, betrifft dessen Argument die auch für die histoire der Frau des Schriftstellers grundlegende Frage nach der Differenz von Literatur und »tatsächliche[m] Leben« (FS 502), die literarisches Schreiben wie auch den Roman wesentlich strukturiert. Das Entscheidende an Schirrmachers Argumentation ist, dass der FAZ-Herausgeber Walsers Roman jegliche Fiktion und, damit verbunden, »das Literarische ab[spricht]«.337 Es ist eben diese Problematik der Literarizität und des damit verbundenen Verhältnisses von realer und fiktionaler Realität, die sich in der Frage »Wem gehört meine Geschichte?« (FS 109) verdichtet und die Händlers Roman auf Pototschings Manuskript und die Biographie des Ich-Erzählers appliziert. Mit der auch hier gültigen zweifachen Operation von ›Abschreiben‹ und ›Ersetzen‹ der Biographie des Ich-Erzählers durch Pototschings Roman irritiert Die Frau des Schriftstellers mithin das Referenzialisierungsangebot, das durch den Einbau von Schirrmachers Brief provoziert wird, und weist dieses als Effekt der Selbstprogrammierung des Textes aus. Die in die Narration von Händlers Roman eingefügten Medium/Form-Verhältnisse problematisieren sich mithin immer auch selbst und reflektieren damit die mediale Konsitution des Textes. In dem Bereits zitierten Interview mit Joachim Unseld nobilitiert der Verleger das Projekt seines Autors, indem er es in einen Zusammenhang mit Erzählprojekten der europäischen literarischen Moderne stellt. Händler antwortet auf die Einordnung seiner Romane als ›Comédie Humaine des 21. Jahrhunderts‹ wie folgt: Der Vergleich mit Balzac ist natürlich schmeichelhaft, kann aber niemals wirklich stimmen. Einen 360°-Panorama wie Balzac hat kein anderer Schriftsteller je aufgebaut. Es ist sinnlos, dem nacheifern zu wollen, weil die Balzacsche Gesellschaft doch deutlich homogener war. Der Mensch is zu einem sehr wesentlichen Teil seine Mittel. Die Möglich-
337 M. N. Lorenz, S. 86.
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keiten der Wissenschaften und der Technik haben enorm zugenommen, deswegen kann und muss sich die heutige Gesellschaft heterogener und differenzierter darbieten.338
Der von Händler beobachteten Heterogenität, man könnte auch sagen: Polykontextualität, korrespondieren in seinen Texten solche Schreibverfahren, die sich auch in der Frau des Schriftstellers auf keine einheitliche Erzählstimme mehr festlegen lassen. Trotz oder gerade wegen der Etablierung eines Ich-Erzählers löst sich die als Subjekt gedachte Sprecherinstanz schließlich in den zwischen Pototschings Roman und der innerfiktional zunächst als reale Realität präsentierten Ebene auf. Im Verzicht auf »eine privilegierte Stimme oder auktoriale Position« 339 erweist sich der Ich-Erzähler als Teil des Erzählten. Doch der für Händler typischen Verweigerung eines »idealen Standpunkts auf der Ebene der interpoetischen Beziehungen seines Textes« 340 korrespondiert in paratextuellen Hinsichten ein Effekt, der die textuell erzeugte Form geradezu konterkariert. Denn so sehr Händlers Roman auch die Identität des Ich-Erzähler de- und rekonstruiert, ja die »Flucht ins Transzendentale« 341 gleichsam verweigert, so wenig hat dieses Schreibverfahren eine dekonstruierte, sich lediglich in Rückkopplungsschleifen verlierende Autorfunktion zur Folge. Mit der Frau des Schriftstellers tritt ein Autor auf, der sich als versierter, literaturtheoretisch-philosophisch geschulter Diagnostiker nicht nur gegenwartsgesellschaftlicher und literaturbetrieblicher Zusammenhänge, sondern auch der (Gegenwarts-)Literatur erweist. Mehr noch als Fall und Wenn wir sterben ist Die Frau des Schriftstellers Ausdruck eines nicht nur belesenen, sondern gegenwartsaffinen Autors, der zum einen auf eine ›diffizile‹ literarische Form setzt, »die den Leser überfordern will«,342 zum anderen aber ein spezifisches »geheimes Einverständnis zwischen Dichter und Publikum« 343 voraussetzt, in dessen Zentrum das »Dechiffrieren« 344 des Werkes steht. Als ein solcher idealer Leser erweist sich etwa Jochen Hörisch. Hörisch, der unter anderem 2007 einen Band mit dem Titel Das Wissen der Literatur vorgelegt hat,345 geht den vom Autor gelegten Verweisen und Wissenspartikeln nach
338 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 154. 339 C. Deupmann, S. 161. 340 T. E. Schmidt, S. 254. 341 T. E. Schmidt, S. 254. 342 D. Lutz, S. 263. 343 Hermann Korte: Habemus poetam. Zum Konnex von Poesie und Wissen in Durs Grünbeins Gedichtsammlung »Nach den Satiren«. In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur (2002), Nr. 153. Durs Grünbein, S. 19–33, hier S. 19. 344 D. Lutz, S. 263. 345 Vgl. Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur. München 2007.
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und erkennt neben »zum Teil offensichtliche[n], zum Teil subtile[n] Anspielungen auf den jetzigen wie den kanonischen Literaturbetrieb« 346 etwa in Laura und Beatrice die Angebeteten »von Petrarca und Dante«.347 Händlers Roman insinuiere demnach, »wie teuflisch göttliche Frauen und wie ohnmächtig Genies sein können, die nicht einmal mehr ihre eigenen Texte genuin hervorzubringen verstehen.« 348 Schließlich weiß Hörisch die Handlung der Frau des Schriftstellers als »fast schon schauerromantischen Plot« 349 einzuordnen, um gleichzeitig einen »unausweichlich[en]« 350 Bezug zu Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte herzustellen. Hörisch erkennt mithin das auf Intertextualität angelegte Schreibverfahren des Romans und weiß dieses literaturgeschichtlich zu verorten, so dass die Besprechung, wie sie in den Literaturen erscheint, sich schließlich als Ausdruck eines vom Roman belohnten Selbstbewusstseins der Lektüre erweist, das damit eingeleitete »intertextuelle Suchspiel« 351 aber, wohl wissend, nicht sämtliche Zitate, Pastiches und Anspielungen beständig verorten und in ihrer Funktion bestimmen zu können, gleichwohl semantisch ironisieren muss. Hörisch weiß darum, dass der »akribische Sucher, der jede einzelne literarische Quelle aufzuspüren gedenkt, [...] dem Roman sprichwörtlich auf den Leim [geht; DCA]«,352 und relativiert seine eigene Lektüre denn auch folgerichtig als »Spiele fürs Dechriffrier-Kartell«,353 dessen Spieler im Falle der Frau des Schriftstellers »reiche Beute machen« 354 könnten. Hörischs letztlich an literarischem Wissen interessierte Lektüre zielt auf eine Lesart des Romans ab, die den Begriff der Kontrolle besonders betont wissen möchte. Im Zentrum von Händlers Text stehe »die Frage nach dem Verhältnis von Konstruktion und Komplexität, von Kontrolle und Kontingenz, von Sein und Sinn, von ökonomischer und ästhetischer Struktur«.355 Dabei gebe Die Frau des Schriftstellers drei alternative Antworten auf das Kontroll-Problem. Während die erste, ›romantische‹ Antwort mit Metamodellen und Selbstreflexivität arbeite, ziele die zweite, ›logistische‹ Antwort auf die Reflexion, »wer und was überhaupt als bewusstes, zumindest über Selbst-Kontrolle verfü-
346 347 348 349 350 351 352 353 354 355
J. Hörisch, Vom J. Hörisch, Vom J. Hörisch, Vom J. Hörisch, Vom J. Hörisch, Vom D. Lutz, S. 262. D. Lutz, S. 262. J. Hörisch, Vom J. Hörisch, Vom J. Hörisch, Vom
Lesen, Lesen, Lesen, Lesen, Lesen,
Leben Leben Leben Leben Leben
und und und und und
Lieben. Lieben. Lieben. Lieben. Lieben.
Lesen, Leben und Lieben. Lesen, Leben und Lieben. Lesen, Leben und Lieben.
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gendes Subjekt gelten darf«.356 Hörischs drittes Lektüremodell sieht schließlich eine Antwort darin, dass es keine ›letzte Wahrheit‹ gebe.357 Mit der Markierung dieser drei Antwortmöglichkeiten, besser: mit der Konfrontation dieser drei Antwortmöglichkeiten in der Frau des Schriftstellers nobilitiert Hörisch Text wie Autor. In seiner Besprechung kommt er auch selbst auf diesen Effekt zu sprechen. Händler, ein Poeta doctus von Gnaden, schreibt auf der Höhe der dekonstruktiven Einsicht, dass es keine transzendentalen Signifikate gibt. Seine konstruktivistische Prosa weiß, dass das, der und die Kontrollierende keine Kontrolle über sich selbst haben können.358
Ernst-Wilhelm Händlers Texte richten sich an ein Publikum, das sich darum bemüht, sich im Modus einer distanziert-reflektierenden Lektürehaltung auf Romane einzulassen. Da es dem Autor weder um kulturkonservative Diagnosen oder Kritik der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens noch um das Ausstellen emotionaler Bestürzung über das Leiden des Ich-Erzählers geht, bedient sich die Form der Frau des Schriftstellers eines weit ausgedehnten Horizonts an intertextuellen Anspielungen und Wissenskomplexen, der in einen konstruktivistischen Rahmen eingelassen ist. Und eben dieser ist das spezifisch literarische Wissen, das Hörisch dem Roman entnimmt. Dabei lässt sich an seiner Lektüre die Komplementarität zwischen Händlers Roman und seiner literaturgeschichtlichen Selbstnobilitierung ablesen. Diese literarische ›Selbstvergewisserung‹ durch akademisches Wissen, die zwischen dem poeta doctus und dem literaturgeschichtlich gebildeten Leser vollzogen wird, »funktioniert qua ›Anverwandlung‹ (auf Seiten der Produktion) und Wiedererkennung (auf Seiten der Rezeption)«.359 In ihrem Zentrum steht
356 J. Hörisch, Vom Lesen, Leben und Lieben. 357 Ohne dass ihn Hörisch zitiert, lautet der entsprechende Selbstkommentar im Text wohl: »Ich bin froh, daß es keine letzte Wahrheit gibt. Pototsching kann nicht wissen, ob ich den Schneeball geworfen habe oder nicht, während sich Spadolini von der Gnädigen abwandte, ob die Gnädige als Folge der Irritation strauchelte und durch das Eis brach, natürlich können es auch Laura und LaMasango nicht wissen. Es wäre furchtbar, wenn es eine letzte Wahrheit gäbe. Das Universum könnte sich nicht mehr ausdehnen, alles würde zu der letzten Wahrheit hinleben, niemand würde mehr Bücher schreiben, niemand würde mehr über das Schreiben schreiben, es gäbe ein Ende« (FS 636). 358 J. Hörisch, Vom Lesen, Leben und Lieben. Die zweite Hervorhebung im Zitat stammt von mir. 359 Heribert Tommek: Die Durchsetzung einer ästhetisch-symbolischen Exzellenz. Der Aufstieg des Dichters Durs Grünbein in den neunziger Jahren. In: Annali Online di Ferrara – Lettere 1 (2009), S. 200–222, hier S. 214. http://annali.unife.it/lettere/2009vol1/tommek.pdf (25. 08. 2012).
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der paradox hermeneutisch angelegte »Grundvertrag« 360 einer ›idealen Lektüre‹, demzufolge Händlers Romane schwierige Sprach- und Textchiffrierungen als Prämisse von Literarizität, Komplexität und Wissen haben. Dieser hermeneutische ›Grundvertrag‹, auf dem die an Komplexität und Wissen ausgerichtete ›ideale Lektüre‹ der Texte Händlers beruht, lässt sich gleichwohl auf seinen Effekt hin befragen. Mit der Frau des Schriftstellers kommt es zu einem Intertextualitäts- und Wissensrekurs, der sich zu einem den ›eigentlichen‹ Text übersteigenden Strukturelement entwickelt. Der Effekt der Schreibverfahren des Romans ist eine ›Übersteigerung‹, die dem Autor eine Position zuschreibt, in der dieser das Zusammenfügen von ›Literatur‹ und ›Leben‹ und damit von akademisch-philosophischem wie betriebswirtschaftlichem Wissen in einer Gesellschaftsdiagnose gleichsam spielerisch, wie selbstvertsändlich, aus einer übergeordneten Position heraus zwar nicht zu kontrollieren, aber zu platzieren weiß. In dieser Perspektive ist Die Frau des Händlers mit einem akademisch-philosophischen, soziologischen und ›literaturbetrieblichen‹ Wissen als Medium durchsetzt, das sowohl auf der histoire- und discoursEbene als auch im paratextuellen Rahmen seine literarische Form findet: im Thema, in der Fragment- und Collagestruktur, in Anspielungen auf Namen, Ereignisse und Werke des bildungsbürgerlichen literarischen Kanons wie zeitgenössischer Betriebsphänomene und massenmedial-boulevardesker Diskurse. Die Konstellation aus Kontrolle, Komplexität und Polykontextualität wird nicht nur zum zentralen thematischen Feld der histoire, die der discours umsetzt. Auf den Paratext projiziert, erzeugt sie zudem einen Autor, dem eine Funktion zugeschrieben wird, die bis in Details mit den Aporien der auktorialen Textkontrolle zu spielen weiß. Der Anspruch des kontrollierenden Autors rekurriert dabei zum einen auf Autoritäten der literarischen Moderne und der literarischen Tradition und bezieht zum anderen Wissensbestände in die literarische Darstellung, die dezidiert nicht-literarischen Ursprungs sind, diese aber gleichwohl spielerisch-experimentell zu handhaben weiß. Auf diese Weise betritt ein Autor die Bühne des Literaturbetriebs, der nicht nur dem Leser vorgibt, »immer einen Schritt voraus zu sein«,361 sondern auch die Komplexitäten, Widersprüche und Paradoxien des Verhältnisses von ›Literatur‹ und ›Leben‹, sekundären und primären Formen literarischer Kommunikation zwar nicht gänzlich zu durchschauen, aber ihre Unkontrollierbarkeit »adäquat« 362 in Literatur umzusetzen wisse. »Händlers poetologische Raffine-
360 H. Tommek, Die Durchsetzung einer ästhetisch-symbolischen Exzellenz, S. 215. 361 Dies mit Blick auf Stadt mit Häusern und Kongreß H. Böttiger, Händler und der Literaturbetrieb, S. 61. 362 C. Deupmann, S. 152.
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se und sein[ ] philosophische[r] Überblick« 363 kann die literarisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge zwar nicht kontrollieren, weil er weiß, dass er sich in beobachterabhängigen Rückkopplungsschleifen bewegt, aber er kann zumindest eines daraus machen: ein literarisches Werk. Vor diesem Hintergrund sind die Komplexität der Frau des Schriftstellers, ihre feuilletonistisch bemerkte ›Unlesbarkeit‹, kein Weckruf, die Lektüre abzubrechen, »sondern dokumentiertes Selbstbewusstsein und inszenierte literarische Autorschaft«.364 Der souveräne, an der Medium/Form-Unterscheidung geschulte Umgang mit den heterogenen Materialien, wie sie dem Roman als Vortexte vorausgehen, ist mithin keineswegs Selbstzweck, sondern dient der Inszenierung des Autors als »Regisseur, der das Ganze arrangiert«.365 Händlers Roman ist das Werk eines Autors, der einen hochgradig distinguierten, an akademischer und Welt- wie Betriebserfahrung herausragenden, literarisch routinierten, zu scharfen und durchdringenden Kommentaren besonders befähigten Schriftstellertypus aktualisiert. Händler »kennt seinen Wittgenstein und seinen Luhmann, die analytische Philosophie und die neuere Logik. Vor allem aber kennt er die Lücken, die sich, wie er offenbar annimmt, auch heute noch nur erzählerisch ausfüllen lassen.« 366 Entscheidend dabei ist, dass Händler keine Leerstelle als Kreuzungspunkt vielfältigster, unverfügbarer Intertextualität darstellt, sondern eine Möglichkeit findet, von sich selbst und seiner literarischen Tätigkeit im Modus des Selbstverständlichen zu sprechen. Dessen Form gilt es genauer zu beschreiben, die Literaturbetriebs-Szene der Frau des Schriftstellers auszuweiten.
6.2.2 Unternehmensdichter in Betrieb In Händlers Roman Fall trifft der Ich-Erzähler bei einem »gemeinsamen Abendessen in der Klostergaststätte« (F 156) auf den Herausgeber einer Buchreihe. G. hatte dem Herausgeber der Anderen Bibliothek umrißhaft von meinen Büchern erzählt. Der sprach mich an, es sei merkwürdig, daß es in der Gegenwartsliteratur keine sachkundigen Erzählungen oder Romane über die Innenwelt des Business gebe. Die einschlägige Prosa beschränke sich auf den Blick von unten – wie zum Beispiel Richartz’ Büroroman oder Hilbigs Die Weiber. Ich sagte dem Herausgeber der Anderen Bibliothek, wenn aus Corporate world keine Prosa herausdringt, ist dies Folge der unerläßlichen Einförmigkeit der angestellten Lebensläufe. (F 156–157)
363 B. Blaschke, S. 58. 364 H. Korte, Habemus poetam, S. 24. 365 T. Kindt u. H.-H. Müller, Zur Heteronomie der Welten in Ernst-Wilhelm Händlers Romanen, S. 157. 366 M. Lüdke, S. 162–163.
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Der Abschnitt stellt zum einen eine programmatische Selbstlegitimation des Romans im Feld der deutschsprachigen Literatur der 1990er Jahre dar, handelt es sich bei Fall doch tatsächlich um einen Text, der von der Literaturkritik in den Bereich der ›Wirtschaftsliteratur‹ eingeordnet wird, also eben jenes Genre bedient, das er selbst als fehlend ausmacht. Die literarische Perspektive auf ökonomische Abläufe der ›corporate world‹ wird dabei nicht als ein externer Zugriff, sondern als eine von Innen ›herausdringende Prosa‹ vorgestellt – ein Umstand, der mit Blick auf Händlers Profession als mittelständischer Unternehmer nicht unerheblich ist. Mit Walter Richartz und Wolfgang Hilbig benennt der Abschnitt denn auch zwei Autoren, die Fall an die reale Realität zurückbinden und explizit in der deutschsprachigen Literatur um 2000 verorten. Zum anderen beginnt mit der ›Anderen Bibliothek‹ des Greno-Verlags, folgt man der feuilletonistischen Berichterstattung, aber auch den Selbstaussagen des Autors, tatsächlich Ernst-Wilhelm Händlers literarische Karriere. Der Mitte der 1980er Jahre von Franz Greno gegründete Verlag, in dem die von seinem literarischen Berater Hans Magnus Enzensberger als Herausgeber betreute Editionsreihe ›Die Andere Bibliothek‹ erscheint, versteht sich als »Kampfansage an die immer liebloser gemachte und in immer größerer Zahl den Markt verstopfende Billigware fast aller Verlage«.367 Gegen konventionelle »Wegwerfbücher« 368 gerichtet, scheitert Grenos Projekt jedoch bereits gut fünf Jahre später an den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen, in die der kleine Verlag eingebettet ist. Das von der ›Anderen Bibliothek‹ verfolgte »erlesenste Programm literarisch anspruchsvoller Bücher [...] mit luxuriöser bibliophiler Ausstattung« 369 im Blick, habe der »ins Büchermachen vernarrte Träumer« 370 Greno »die Realität der Betriebswirtschaft fast aus den Augen verlor[en]«.371 Sein »so genialisch heruntergewirtschaftete[r]« 372 Verlag verliert im Oktober 1989 die ›Andere Bibliothek‹ an den Eichborn-Verlag,373 wobei bezeichnenderweise De-
367 Rolf Michaelis: Ikarus – gelandet. In: Die Zeit vom 17. Juli 1987. 368 Hans Magnus Enzensberger: Reminiszenz an Gutenberg. In: Süddeutsche Zeitung vom 14. März 1992. 369 Aussage von Franz Greno im gemeinsamen Interview mit Vito von Eichborn und Hans Magnus Enzensberger. Rolf Michaelis: Der schöne Traum bleibt wahr. Ein Gespräch mit Vito von Eichborn, Hans Magnus Enzensberger und Franz Greno. In: Die Zeit vom 6. Oktober 1989. 370 R. Michaelis, Ikarus – gelandet. 371 R. Michaelis, Ikarus – gelandet. 372 Rolf Vollmann: Wielands Shakespeare. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Dezember 1993. 373 Vgl. die Aussage von Franz Greno im gemeinsamen Interview mit Vito von Eichborn und Hans Magnus Enzensberger. R. Michaelis, Der schöne Traum bleibt wahr. Mittlerweile ist auch
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bütant Händler nicht bereit ist, den Schritt in das große, unspezifische Verlagshaus mitzugehen. Der bereits gedruckte Roman Kongreß erscheint mithin nicht – »obwohl es bereits zwei Kritiken gab und das Buch für den aspektePreis nominiert war«.374 Bedeutsam ist diese Episode um das literaturbetriebliche Schicksal der ›Anderen Bibliothek‹ jedoch nicht nur deshalb, weil sie in dem als »Fiktion zweiter Ordnung« 375 ausgerichteten Fall als Teil einer Literaturbetriebs-Szene literarisiert wird. Von Relevanz ist sie zudem, weil sie ein konstitutives Formelement von Händlers Autorenlabel darstellt, das heißt dazu beiträgt, die Position des Autors innerhalb des deutschsprachigen literarischen Systems zu markieren und sichtbar zu machen.376 Der Begriff des Labels ergänzt dabei insofern das diskurstheoretische Konzept der ›Autorfunktion‹, als er die Beziehung zwischen Text und Autor betont wissen möchte. Während die Diskurstheorie vor allem auf die Funktion des Autors im Diskurs abzielt, fragt der Begriff des Labels, »wie sich die Autorfunktion zum einzelnen Text« 377 verhält. In dieser Perspektive kommt dem Autor weniger eine ›diskursive‹ Klassifikationsfunktion zu.378 Das Label dient vielmehr dazu, erstens den ›empirischen‹ Autor in den sekundären Formen literarischer Kommunikation zu positionieren, und zwei-
Eichborn selbst insolvent. Bastei Lübbe hat die Rechte übernommen. Vgl. http://www. eichborn.de/geschaeftsbereiche/investor-relations/aktuelle-informationen (24. 02. 2012). 374 E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 40. 375 R. Baumgart, Befreiungskampf, Befreiungskämpfe. 376 Vgl. Christoph Jürgensen u. Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese. In: Christoph Jürgensen u. Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. (Beihefte zum Euphorion 62) Heidelberg 2011, S. 9–30, hier S. 10. Jürgensen und Kaiser bezeichnen mit Inszenierungspraktiken die »habituellen Techniken und Aktivitäten von SchriftstellerInnen, in oder mit denen sie öffentlichkeitsbezogen für ihre eigene Person, für ihre Tätigkeit und/oder für ihre Produkte Aufmerksamkeit erzeugen«, C. Jürgensen u. G. Kaiser, S. 10. Während es ihnen um solche Praktiken geht, »deren absichtsvolle Bezogenheit auf öffentliche Resonanzräume, sich aufzeigen lässt« (C. Jürgensen u. G. Kaiser, S. 10), übernimmt die vorliegende Studie den Begriff der Inszenierungspraxis, versteht diese aber schlicht als Inszenierungsform, das heißt stellt nicht die Frage der Intentionalität. 377 Dirk Niefanger: Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer). In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. (Germanistische Symposien 24) Stuttgart u. Weimar 2002, S. 521– 539, hier S. 524. Als Label bezeichnet Niefanger »ein Etikett, eine Aufschrift oder ein Schild, das präzise Angaben über ein Produkt gibt«, D. Niefanger, Der Autor und sein Label, S. 521. 378 Siehe Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Hg. von Daniel Defert u. Francois Ewald. Unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Übersetzt von Michael Bischoff u. a. Auswahl und Nachwort von Martin Stingelin. Frankfurt a. M. 2003, S. 234–270.
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tens als eine Art Ordnungs- oder Lektürehilfe den Text näher zu bezeichnen.379 Als Paratext ist es nicht Bestandteil des ›eigentlichen‹ Textes, ja es steht zu diesem »in einem engen, sogar in einem interpretativen Verhältnis«.380 Mit anderen Worten, das Label des Autors ist ein wesentliches, spezifisch auf die Person des Autors bezogenes Element der paratextuell-vermittelnden »Übergangszone«,381 die der Leser durchschreitet, wenn er zum eigentlichen Text vorstoßen möchte. Fragt man vor diesem theoretischen Hintergrund (erstens) danach, in welchen Medien Händlers Label seine Form findet und worin diese (zweitens) im Einzelnen besteht, lassen sich zunächst recht konventionelle paratextuelle Orte angeben. So fungieren als Medien der Fremdzuschreibungen Rezensionen und Feuilleton-Artikel. Hinzu kommen spezifisch geformte Autoreninterviews sowie im Qualitätsfeuilleton (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Merkur, Süddeutsche Zeitung, Zeit) platzierte essayistische Texte. Konzentriert man sich auf die basale Form des so in Szene gesetzten Autorenlabels, ist zunächst signifikant, dass sich grundsätzlich zwei Interviewformen mit Händler unterscheiden lassen. Dieser tritt zum einen als dezidiert gleichberechtigter Gesprächspartner auf (symmetrisch), um in anderen Zusammenhängen als ausgewiesener Experte Auskunft zu erteilen (betont asymmetrisch). Wird durch die Greno-Episode, die fast zum Abbruch von Händlers literarischem Projekt geführt hätte und in Interviews mit dem Autor, aber auch in Rezensionen regelmäßig eine Rolle spielt, der Einstieg Händlers in den Literaturbetrieb gleich von Beginn an gleichsam in einer Initiations-Szene an die als problematisch ausgewiesenen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens zurückgebunden, liegt die Funktion des Rückverweises auf die ›Andere Bibliothek‹ nicht zuletzt darin, ein spezifisches Autor/Verleger-Verhältnis vorzubereiten und zu schärfen. Dieses Verhältnis wird paratextuell als ein kommunikativ dezidiert symmetrisches in Szene gesetzt. So ist Händler nicht nur symbolisch der »erste Autor« 382 der 1994 von Joachim Unseld rechtlich übernommenen und ab 1995 wieder aufgebauten Frankfurter Verlagsanstalt. Seit dem ersten Programm differenziert sich zudem eine öffentlich inszenierte Freundschaft zwischen Autor und Verleger aus, in der Händler und Unseld, wenn nicht als interdiskursiv in Szene gesetztes ›Dioskurenpaar‹, so doch aber als deutlich
379 Vgl. D. Niefanger, Der Autor und sein Label, S. 525. 380 D. Niefanger, Der Autor und sein Label, S. 526. 381 Uwe Wirth: Paratext und Text als Übergangszone. In: Wolfgang Hallet u. Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 167–177, hier S. 171. 382 E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 41.
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aufeinander verwiesene, sich wechselseitig in ihrer literarisch-betrieblichen Bedeutung bestätigende Akteure auftreten. Händlers als hochgradig symbolisch tradierte Ablehnung des Verlagswechsels zu Eichborn fängt die FVA mit geballt-akkumuliertem symbolischen Kapital souverän auf. Ihr Medium findet die über die inszenierte Symmetrie erfolgende Selbstnobilitierung Händlers in Autoreninterviews. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass zwei mit dem Interviewformat gewöhnlich gekoppelte Gesichtspunkte nahezu invisibilisiert werden. Zum einen scheint sich im Kontext von Händler-Interviews die Frage nach dem marketingstrategischen ›Kalkül‹ des Autors gleichsam zu verbieten,383 tritt Händler doch als literarisch überaus versierter Kommentator seines eigenen Werkes auf. Zum anderen spielen Fragen des Verhältnisses von Authentizität und Literarizität der Interviewäußerungen sowie des metatextuellen Status des jeweiligen Kommentars so gut wie keine explizierte Rolle.384 Dass sich dieser Eindruck einstellt, liegt insbesondere daran, dass Händler wiederholt darum bemüht ist, die grundsätzlich asymmetrisch gebaute, weil zwischen einem fragenden und einem antwortenden Sprecher strikt differenzierende Literaturvermittlungsform zu ›re-symmetrisieren‹. Der Begriff, der diese Form der kommunikativen Selbstinszenierung vielleicht am besten verdichtet, ist der des ›Gesprächs‹. Während das Interview durch »vorstrukturierte Rolle[n]« 385 gekennzeichnet ist und eher monodirektional auf Informationsbeschaffung ausgerichtet ist, betont das Gespräch ein dialogisches, ja durchaus geselliges, zumindest aber symmetrisches Prinzip. Händler gibt in diesem Sinne keine ›Interviews‹, sondern führt ›Gespräche‹. Zwei Beispiele mögen diese Inszenierungspraxis verdeutlichen. So heißt es etwa in einem als ›Gespräch‹ peritextuell explizit markierten Dialog zwischen Lutz Hagestedt und Händler, das in dem von Hagestedt und Joachim Unseld herausgegebenen Sammelband Literatur als Passion. Zum Werk Ernst-Wilhelm Händlers abgedruckt ist, wie folgt: Ich würde mir wünschen, daß wir nicht nur über meine Bücher sprechen; wir sollten vielmehr – ich bitte da schon im voraus um Nachsicht – versuchen, gewissermaßen live
383 Vgl. als Symptom dieser Ansicht Thomas Kraft: Das Luder Literaturkritik. Anmerkungen zu einem Bedeutungswandel. In: Primus Heinz Kucher u. Doris Moser (Hg.): Germanistik und Literaturkritik. Zwischenbericht zu einer wunderbaren Freundschaft. (Stimulus 2006) Wien 2007, S. 67–79, hier insbesondere S. 74. 384 Vgl. dazu allgemein Torsten Hoffmann: Das Interview als Kunstwerk. Plädoyer für die Analyse von Schriftstellerinterviews am Beispiel W. G. Sebalds. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 55 (2009), Nr. 2, S. 276–292. 385 Sascha Seiler: Interview. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. In Zusammenarbeit mit Sandra Poppe u. a. Stuttgart 2009, S. 403–407, hier S. 404.
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zu philosophieren. [...] Und zwar aus dem einfachen Grund, daß ich auch einige Fragen an Sie als Kritiker habe.386
Bemerkenswert ist dieser Interview-Einstieg insofern, als Händler explizit in Aussicht stellt, die gewöhnlich festgelegte »ungleiche Rollenverteilung« 387 im Interview unterlaufen zu wollen. Die derart programmatisch re-symmetrisierte Kommunikationsform spielt auch in einem anderen Interview, diesmal mit Händlers Verleger Unseld persönlich, eine wesentliche Rolle. Auch hier ist es Händler selbst, der den Gesprächscharakter des Interviews gleich am Anfang explizit markiert und damit überhaupt erst erzeugt: Wir wollen über die Beziehung zwischen Autor und Verleger sprechen, und zwar gleichberechtigt von beiden Seiten. Sie haben ja hier zwei selbstständige oder besser mittelständische Gesprächspartner: JU ist noch ein richtiger Verleger, die anderen Verleger sind Verlagsleiter [...].388
Hier ist es insbesondere der Verweis auf die kommunikativ-dialogische ›Gleichberechtigung‹ zwischen den Beteiligten, die dazu führt, dass das Interview aus seiner Form fällt. In beiden zitierten Fällen hält sich der prozentuale Redeanteil des jeweiligen Gesprächspartners mit den Beiträgen Händlers denn auch in etwa die Waage. Händler wird mithin nicht nur gefragt, sondern fragt auch zurück und gibt programmatisch Raum für die gemeinsame, interaktive und dialogische Entwicklung eines Gedankenganges zwischen grundsätzlich gleichberechtigten ›Gesprächspartnern‹. Die von Händler derart proklamierte ›Re-Symmetrisierung‹ der Interview-Struktur steht jedoch gleichwohl im Zeichen einer literaturbetrieblichen Selbstnobilitierung des Autors. Nicht unerheblich ist in diesem Zusammeng, dass Händler nicht nur einmal mit seinem Verleger Joachim Unseld ein Interview führt. Mit Blick auf die vom Autor betonte Symmetrie zu seinen Interviewern sind in diesem Kontext zwei Gesichtspunkte interessant. Zum einen gilt Unseld dem Feuilleton nicht zuletzt als Verkörperung eines »in seiner Generation rar gewordenen Verlegertypus, der ein Gespür für literarische Entdeckungen mit kaufmännischem Geschick verbindet. Hier lektoriert der Chef noch selbst.« 389 Unseld, der sich im Streit mit Siegfried Unseld 1991 aus dem Suhrkamp-Verlag zurückzieht und die
386 Ernst-Wilhelm Händler u. Lutz Hagestedt: »Eine Nähe mit Distanz«. Autorschaft zwischen den schönen Künsten und der strengen Wissenschaft. Ein Gespräch zwischen Ernst-Wilhelm Händler und Lutz Hagestedt. In: Lutz Hagestedt u. Joachim Unseld (Hg.): Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler. Frankfurt a. M. 2006, S. 217–224, hier S. 217. 387 S. Seiler, S. 404. 388 Vgl. E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 39. 389 Richard Kämmerlings: Entdecker. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Juni 2002.
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Nachfolge seines Vaters ausschlägt, beweist mit der Frankfurter Verlagsanstalt, »daß er zum selbständigen Verlegen von Büchern befähigt ist.« 390 Trotz oder gerade wegen der immer wieder beschriebenen Trennung von seinem Vater betont das Feuilleton jedoch dezidiert die Gemeinsamkeiten mit dem Suhrkamp-Verleger. So heißt es von Joachim Unseld nicht nur, er habe »dieselbe offensive Art, auf Autoren zuzugehen und mit ihnen Freundschaft zu schließen«.391 Auf Unselds »Schreibtisch läuft alles zusammen«,392 nehme der Verleger doch nach wie vor für sich in Anspruch, »nicht Bücher, sondern Autoren« 393 zu verlegen, in dessen Zentrum die intensive Werkpflege stehe: »Der Autor kann mit mir über alle Aspekte des Buches sprechen.« 394 Zu diesen Autoren gehört seit der Präsentation des ersten FVA-Programms im August 1995 auch Ernst-Wilhelm Händler.395 Dieser gilt nicht nur als Unselds »Entdeckung«.396 Händler zählt bereits 2002 »zu den wichtigsten Autoren des Verlags«,397 so dass immer dann, wenn vom »feste[n] Stamm erstklassiger Autoren« 398 in Unselds Programm die Rede ist, auch Händler genannt wird, wie die Skizze des Verleger-Interieurs von Helmut Böttiger veranschaulichen mag: In seinem [Unselds; DCA] Büro stehen einige Attribute, die wie aus der Zeit gefallen scheinen: ein alter Überseekoffer, er enthält die vollständig lektorierten Manuskripte des Autors Ernst-Wilhelm Händler – einer Entdeckung Joachim Unseld, hinter der er ohne Wenn und Aber steht.399
390 Hans Riebsamen: Vorsichtig über dünnes Eis. Joachim Unseld und seine Frankfurter Verlagsanstalt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Oktober 1996. 391 Helmut Böttiger: Der Untergang des Hauses Suhrkamp. In: Süddeutsche Zeitung. Süddeutsche Zeitung Magazin Heft 39 (2007). http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/ 3575 (19. 12. 2011). 392 Florian Balke: Das Schönste ist die Textarbeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Oktober 2008. 393 F. Balke, Das Schönste ist die Textarbeit. 394 F. Balke, Das Schönste ist die Textarbeit. 395 Mit der Präsentation seines ersten Buch-Programms, zu dem Ende August 1995 sieben Titel gehören, präsentiert Unseld auch Händler: »Als literarische Neuentdeckung präsentiert Unseld den Autor Ernst-Wilhelm Händler aus Regensburg mit seiner ersten Buchveröffentlichung; »Stadt mit Häusern« versammelt elf Geschichten.« Joachim Unselds erstes Verlagsprogramm. In: Frankfurter Allgemeien Zeitung vom 12. Juli 1995. 396 H. Böttiger, Der Untergang des Hauses Suhrkamp. 397 R. Kämmerlings, Entdecker. 398 Hans Riebsamen: »Das Kapitel Suhrkamp ist abgeschlossen«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Oktober 2004. 399 H. Böttiger, Der Untergang des Hauses Suhrkamp.
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Relevant ist dieser Abschnitt in zwei Hinsichten. Zum einen aktualisiert er die Inszenierung Unselds als Personifizierung eines eigentlich ausgestorbenen Verlegertypus, der als Leiter eines mittelständischen Unternehmens Literarizität und Marketingkalkül zu verbinden weiß. Zum anderen verweist der zitierte Abschnitt auf den Umgang mit der besonderen Stellung, die Händler im Verlagskontext der FVA einnimmt. Die gleichsam materiell greifbare Textarbeit des Lektors veranschaulicht Böttiger ausgerechnet an Händler. Als Ausgangspunkt der besonderen Stellung des Autors in dem Frankfurter Verlag dient dabei der mehrfach betonte ›unabdingbare Glaube‹ 400 Unselds an das Erzählvorhaben seines Autors, hielten andere Verleger, denen Händler davon berichte, ihn doch »für größenwahnsinnig. Nur einer nicht: Joachim Unseld.« 401 Fortan habe Unseld seinen Autor immer »im Schlepptau«,402 um für dessen literarisches Programm zu werben. Unseld hat an diesen Schriftsteller [Händler; DCA] geglaubt, hat viel mit ihm gearbeitet – eine ganze Kiste voller beschriebener Seiten steht in seinem Büro, Urmanuskripte, erste, zweite, dritte Fassungen. Der Lektor Unseld, denn auch diese Position nimmt er in seinem Kleinverlag ein, war als Geburtshelfer von dem Autor überzeugt, der Verleger Unseld hat ihn durchgesetzt – nach dem vierten Buch. Bei anderen Verlagen und Verlegern wäre schon nach dem zweiten Buch, das sich nicht verkaufte, Schluß gewesen. Das sei, sagt Unseld, das Wunderbare an seinem Kleinverlag, daß er und nur er entscheide, welches Buch er verlege. Niemandem sei er Rechenschaft schuldig. »Sie wissen gar nicht, wie schön es ist, selbst entscheiden zu können, was man macht.« 403
Die in diesem frühen Unseld-Portrait von Hans Riebsamen angelegte produktionsästhetische »Teamarbeit« 404 zwischen Autor und Verleger/Lektor im Geiste literaturbetrieblicher Kreativität verdichtet auch ein über zehn Jahre später erschienener Artikel über den FVA-Verleger: So weiß Florian Balke zu berichten, dass sich mit Händler [...] sogar ein regelrechtes Ritual entwickelt [hat; DCA]. Wenn dieser ein Manuskript abgeben will, schickt er es Unseld drei Tage, nachdem dieser seinen Urlaub angetreten hat. Wenn der Verleger wiederum sein Lektorat des Textes beendet hat, sucht er den Autor in dessen Urlaub auf. »Das sind sehr enge Verhältnisse, für die man sich Zeit nimmt.« 405
400 Vgl. die Formulierung von H. Böttiger, Händler und der Literaturbetrieb, S. 61. Siehe entsprechend C. Schröder, Er will es machen. 401 V. Weidermann, Lichtjahre, S. 235. 402 H. Böttiger, Händler und der Literaturbetrieb, S. 61. 403 H. Riebsamen, »Das Kapitel Suhrkamp ist abgeschlossen«. 404 E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 42. 405 F. Balke, Das Schönste ist die Textarbeit. Stuckrad-Barre und Uslar wissen von einer Buchmessen-Party Unselds zu berichten: »Der souveräne Gastgeber schenkt nach: ›Um fünf Uhr
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Die auch von Händler an anderer Stelle betonte »eine Woche Ferien«,406 in der er mit Unseld sein jeweiliges Manuskript »gründlich durch[gehe]«,407 steht dabei im Zeichen der Inszenierung eines Literaturbegriffs, der sich von »rein Handlungsgetriebene[m] à la Gaby Hauptmann« 408 abgegrenzt wissen will. Gleichwohl Händler zu Unselds »Erfolgsdichter« 409 avanciert, nimmt er in der von seinem Verleger aufgemachten Unterscheidung zwischen »kulinarisch-unterhaltende[r] und […] analytisch-erkennende[r] Literatur« 410 die mit Broch, Musil und Proust, aber auch Bodo Kirchhoff aus dem eigenen FVA-Programm besetzte Seite »künstlerische[r] Schwergewichte« 411 ein. An Kontur gewinnt dieser Literaturbegriff, wie er mit Händler Erzählprojekt Grammatik der vollkommenen Klarheit verbunden ist, mit Blick auf die auf eine spezifische Asymmetrie abzielenden Elemente des Autorenlabels. Zum Ausdruck kommen diese Formelemente, die mit dem Schlagwort des ›Unternehmensdichters‹ benannt sind, ebenso in Buchbesprechungen und feuilletonistischen Portraits, aber mehr noch in Interviews und essayistischen Texten Händlers. So nutzt der Autor selbst eine Semantik des Ökonomischen, um sich als mehr oder weniger autonom handelnder literarischer Autor in Szene zu setzen.412 Als Ausgangspunkt kann dabei die Art und Weise dienen, wie der Autor selbst seinen Beruf als Unternehmer ins Spiel bringt. Wenn Händler wiederholt betont, er befinde sich als Unternehmer im Vergleich zu anderen Autoren »in
gehe ich imperativ ins Bett. Dann übernimmt Ernst-Wilhelm Händler.‹« Benjamin von Stuckrad-Barre u. Moritz von Uslar: Anschwellendes Gerede. Wieder einmal war die BuchmesseParty von Joachim Unseld die netteste. In: Der Spiegel 41 (2006). 406 N. Henneberg u. E.-W. Händler, S. 234. 407 N. Henneberg u. E.-W. Händler, S. 234. 408 E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 42–43. 409 Volker Weidermann: Die Große Untergangsfeier. Warum sich der einzelne so schlecht fühlt, wenn es doch der Branche so gutgeht. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 13. Oktober 2002. 410 Ulrich Greiner: »Geprägt hat mich Kafka«. Was ist Literatur? Der vollendete Ausdruck des Lebens, sagt Joachim Unseld, seit 1994 Verleger der Frankfurter Verlagsanstalt, im Interview. In: Die Zeit vom 21. Mai 2008. 411 R. Kämmerlings, Entdecker. Als Ausdruck dieses literarischen Selbstverständnisses lässt sich auch der Umstand lesene, dass Unseld im Herbst 2009 seine Buchcover von Neo Rauch gestalten lässt. Siehe C. Schröder, Er will es machen. Bei dem Umschlagmotiv der Frau des Schriftstellers handelt es sich um einen Ausschnitt aus Karin Kneffels Ölgemäldes Feuer IV (1992, 200x200 cm). Das komplette Gemälde ist hier einzusehen: http://www.kneffel.de/ kneffel/pictures/jpeg/1992/FIV_1992_200x200.html (24. 06. 2012). 412 Das Gegenstück zu dieser Semantik – der Rückgriff einerseits auf die (natur-)wissenschaftliche Partikel sowie andererseits auf den Höhenkamm der literarischen Moderne – wird an dieser Stelle ausgeblendet.
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einer sehr unabhängigen Position«,413 weil er mit seinen Büchern nicht unbedingt Geld verdienen müsse, expliziert er zunächst eben jenen Ordnungsmechanismus, den die soziologische Feldtheorie als für das literarische Feld strukturbildend beschreibt. Die Autonomie der Literatur hat sich nämlich Bourdieu zufolge »zum spiegelverkehrten Gegenbild der ökonomischen Welt [...] herausgebildet: Wer in sie eintritt, hat an Interesselosigkeit Interesse.« 414 Händler, so könnte man sagen, setzt sich als ein Autor in Szene, der sein Wissen über die Zusammenhänge des ökonomischen Feldes gerade nicht dazu nutzt, um Bestseller marketingstrategisch platzieren zu können. Er will vielmehr als ein Autor verstanden werden, der, betritt er das literarische Feld, seinen ökonomischen Hintergrund explizit verabschiedet – und mit eben dieser Geste der Negation vorgibt, symbolisches Kapital zu akkumulieren. Kristina Maidt-Zinke bringt die Alternative eines betriebswirtschaftlich versierten Autors wie Händler in ihrer Zeit-Besprechung der Frau des Schriftstellers auf den Punkt: Entweder er [der betriebswirtschaftlich ausgebildete Autor; DCA] nutzt seine Vertrautheit mit dem Haifischbecken des Marktes, um kommerziell einträgliche Bücher zu schreiben, oder er nutzt seine ökonomische Unabhängigkeit, um ohne Rücksicht auf Gewohnheiten und Bedürfnisse breiter Leserschichten seine literarischen Vorstellungen zu verwirklichen. Ernst-Wilhelm Händler [...] hat sich für letzteren Weg entschieden, was ihm von der Literaturkritik hoch angerechnet wird.415
Dass das literarische »Schreiben [...] für Händler nicht existenzentscheidend [sei; DCA]«,416 bringt nun der Autor auch selbst wiederholt ins Spiel, etwa wenn er sich in Interviews zu Fragen der Literaturförderung äußert. In dem bereits zitieren, von Alexander Wasner moderierten Gespräch Händlers mit seinem Verleger Joachim Unseld, das in einem Band zum Geburtstag des Literaturkritikers Martin Lüdke erschienen ist, dessen »Lebenswerk würdigen« 417 soll und damit zugleich »Innenansichten des teilweise verworrenen Kulturbe-
413 Aussage von Händler, zitiert nach R. Thym, Wie Sprachwelten eines Unternehmers die Feuilletons erobern. 414 P. Bourdieu, S. 342. Die folgenden Abschnitte führen das weiter aus, was ich an anderer Stelle bereits komprimiert dargestellt habe. Siehe Verf.: Der Autor und sein Unternehmen. Subjektivierungspraktiken Ernst-Wilhelm Händlers. In: Sabine Kyora (Hg.): Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung. (Praktiken der Subjektivierung 3) Bielefeld 2014, S. 121–135. 415 K. Maidt-Zinke. 416 Schreiben und verdienen. 417 Alexander Wasner: Einleitung. In: Alexander Wasner (Hg.): Ich möchte lieber doch. Fernsehen als literarische Anstalt. Göttingen 2008, S. 9–10, hier S. 10.
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triebs« 418 präsentiert, kommen die beiden Gesprächspartner auch auf Literaturförderung als ›Praxis kreativen Handelns‹ zu sprechen. Den Hinweis auf seine »zwei Berufe«,419 die es ihm erlaubten, »die Dinge aus einer etwas anderen Warte« 420 zu betrachten, ja gar »offener reden [zu können; DCA] als andere Autoren«,421 nutzt Händler schließlich an anderer Stelle argumentativ, um auf das literarische Schreiben solcher Autoren zu sprechen zu kommen, die von »Bucheinkünften, Lesereisen und Stipendien – allerdings sehr bescheiden – leben.« 422 Die Konstellation von primären und sekundären Formen literarischer Kommunkation setzt Händler in diesem Zusammenhang nämlich in eine spezifische Asymmetrie. Mit Blick auf die durch Literaturförderung erzeugten Effekte hält er fest: Außerdem hat es [Literaturförderung; DCA] literarische Folgen. Wer sofort nach dem erfolgreichen Debüt freier Schriftsteller wird, sperrt sich selber vom Leben ab. Das tut der Literatur nicht gut, da sind wir wieder bei der Befindlichkeitsliteratur.423
Das Argument, Händler selbst habe seinen »ökonomischen Druck woanders« 424 (also im Unternehmen, nicht in der Literatur), gerät mithin zu einer Geste der literarischen Autonomie gegenüber ökonomischen Ansprüchen. In Händlers Texten, so die Schlussfolgerung, ließen sich ökonomische Vorausset-
418 Annika Müller: Das finsterste und das hellste Wort. »Ich möchte lieber doch. Fernsehen als literarische Anstalt«: Der Literaturbetrieb macht dem Kritiker Martin Lüdke ein Geburtstagsgeschenk. In: Süddeutsche Zeitung vom 25. Juni 2008. 419 E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 40. 420 E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 40. 421 E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 40. 422 E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 47. 423 E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 50. Dabei handelt es sich um einen Brocken der Selbstbeschreibungsformel des literaturbetrieblichen ›Verderbens‹ der Literatur. So diagnostiziert etwa Oliver Jungen in einer Polemik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine »[m]aßlose Literaturförderung«. Oliver Jungen: Autorenförderung? Hungert sie aus! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. April 2008. Jungen bindet denn auch konkret die ›Verfassung‹ der deutschsprachigen Literatur um 2000 an eben diese sozialstrukturellen Voraussetzungen: »Warum aber erlebt die Literatur unter diesen paradiesischen Umständen keine ungekannte Blüte? Warum im Gegenteil diese Verschnarchtheit? Warum so viel Historisches und Unentschiedenes, so viel Impressionismus und Selbstbeschau? Weil ein Hindernis jeden Zug ins Große verhindert: die Subventionsmaschinerie selbst. Zutraulich geworden durch regelmäßige Fütterung, scheint der Literatur sogar das Bewusstsein dafür abhandengekommen zu sein, dass ihre innere Natur nicht die des Haustiers ist, sondern die der Bestie.« Die Replik von Richard Wagner gut einen Monat später wird denn auch mit dem Untertitel ›Literaturüberförderung‹ versehen. Siehe Richard Wagner: Gute Literatur wird schlecht gelesen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Mai 2008. 424 E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 47.
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zungen literarischen Schreibens demgegenüber nicht ablesen – und dies mitunter gerade weil sie ökonomische Prozesse thematisierten. An anderer Stelle des Gesprächs ist denn auch explizit von außerliterarischen ›Abhängigkeiten‹ die Rede. So betont Händler: Man muss einsehen, dass man nicht von den zehntausend Euro für ein Buch abhängig sein darf. Ich kann nicht so ganz nachvollziehen, dass jemand das macht. Oft ist die Abhängigkeit mit einem Vorwurf an die Welt verbunden: Der Autor sagt, ich schreibe doch so tolle Sachen, aber die gemeine Gesellschaft, die lässt mich nicht davon leben! Ich glaube, diese Haltung tut der Literatur nicht gut. Andere Leute schreiben auch tolle Sachen.425
Auch in einem anderen Interview lässt sich diese, auf die Betonung literarischer Autonomie abzielende Argumentationslinie des ›Unternehmensdichters‹ feststellen. So heißt im Online-Magazin der Zeitschrift Polar mit Blick auf den Zusammenhang von Gegenwartsliteratur, Wirtschaft und Literaturförderung: polar: Händler:
[...] Die Wirtschaft ist ein ganz zentraler Lebensbereich, dennoch wird sie von der Literatur weitgehend ausgeblendet. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Das liegt natürlich in erster Linie am mangelnden Erfahrungshorizont. Ich selbst lebe und arbeite in dieser Welt, aber das ist natürlich kein besonderes Verdienst. Ich habe insofern einen ganz anderen Zugang zur Wirklichkeit. Es hängt auch damit zusammen, dass es in der Bundesrepublik die typische Schriftstellerkarriere »von der Wiege bis zur Bahre« gibt. Viele Schriftsteller haben außerhalb der Ausbildung keine Berufspraxis und kommen mit wirtschaftlichen Dingen nur selten in Kontakt. Ein tieferer Grund liegt wohl in der deutschen Romantik: Die möchte mit so trivialen Dingen wie Geld nichts zu tun haben.426
In den Blick kommt mit Interview-Äußerungen wie diesen eine geradezu paradoxe Inszenierungspraxis Händlers, die den ›Kontakt‹ mit ›wirtschaftlichen Dingen‹ einerseits betont, andererseits abstreift, um an literarischer Form zu gewinnen und die Ambivalenz zwischen beidem als Autorenlabel zu profilieren. Auf der anderen Seite nutzt Händler nämlich den Verweis auf seinen Beruf als Unternehmer dezidiert dazu, sich thematisch im Literaturbetrieb in Position zu bringen. Obwohl dieses Feld das Leben der Menschen in einem so hohen Ausmaß bestimmt, gibt es in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur in Bezug auf das Ökonomische
425 E.-W. Händler u. J. Unseld, Wir essen halt mit Messer und Gabel, S. 50. 426 Anja Höfer: »Sprache und Geld sind ungeheuer flexibel«. Interview mit Ernst-Wilhelm Händler. In: Polar. Politik – Theorie – Alltag 2 (Online-Magazin zu Zeitschrift). http://www. polar-zeitschrift.de/polar_02.php?id=83 (18. März 2012).
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einen blinden Fleck. Entweder sind die Inhalte recherchiert, oder das Ökonomische kommt nur als Randbedingung vor. Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich das nach wie vor ausübe, ich mache es jeden Tag. Ich muss nichts recherchieren, und ich merke, hier ist ein Problemfeld, für das sich der Leser interessiert.427
Bedeutsam sind Bemerkungen wie diese insofern, als Händler nicht nur für längere Interviews oder Gespräche in Zeitschriften wie Sprache im technischen Zeitalter oder Neue Rundschau zur Verfügung steht, die mit nicht wenig symbolischem Kapital ausgestattet sind. Darüber hinaus platziert er immer wieder Essays im deutschen Qualitätsfeuilleton etwa von FAZ, Süddeutscher Zeitung oder Merkur und tritt zudem wiederholt als Teilnehmer an öffentlichen Podiumsdiskussionen auf – wie zum Beispiel im Rahmen der Frankfurter Literaturausstellung Goethe und das Geld zum Thema ›Literatur und Finanzkrise‹.428 Mag diese Praxis für literarische Akteure auch zunächst nicht ungewöhnlich sein, lohnt es sich, bei Händlers paratextueller Akkumulation symbolischen Kapitals etwas genauer hinzuschauen. So wird der Autor bei den genannten Gelegenheiten zwar immer auch als Schriftsteller bezeichnet; in den Interviews und Essays fällt die ökonomische Seite des Labels ›Unternehmensdichter‹ jedoch keineswegs weg, ja der Autor äußert sich vielmehr auch und gerade als ökonomischer Experte mit literarisch-akademischem Hintergrund. So ist es gerade die Doppelperspektive, mit der Händler sich genauso zur Finanzkrise,429 zum Problem der Arbeitslosigkeit und Aussichten auf Vollbeschäftigung äußert, wie zu Fragen des Verhältnisses von Moral und Wirtschaft,430 zur CDUSpendenaffaire431 oder zur Bildungspolitik nach Bologna und physikalischen Erkenntnissen.432
427 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 159–160. 428 Vgl. http://goetheunddasgeld.com/veranstaltungen (17. 09. 2012). Siehe auch etwa Volker Breidecker: Eine Betriebsbesichtigung. Berliner Republik und Frankfurter Römerberggespräche. In: Süddeutsche Zeitung vom 19. November 2007; A. Kissler. 429 Siehe Ernst-Wilhelm Händler: Gesellschaft unter Kontrollillusion. Die Finanzkrise ist nicht das Ergebnis eines überschäumenden Kapitalismus. Sie ist nur geeignet, uns falsche Vorstellungen von der Wirtschaft zu nehmen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Dezember 2008. 430 Ernst-Wilhelm Händler: Bares Geld. Warum denkt ein Unternehmer über die Moral der Wirtschaft und des Marktes nach? In: Süddeutsche Zeitung vom 2. Oktober 2003. 431 Ernst-Wilhelm Händler: Bares Geld. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Januar 2000. 432 Ernst-Wilhelm Händler: Den Punkt finden, an dem eine Kraft auf die andere trifft. Warum es besser für den Menschen ist, wenn er keine historischen Momente miterlebt, die unzweifelhaft solche sind. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 1. Oktober 2006.
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Wiederum zwei Beispiele mögen das so entfaltete Autorenlabel verdeutlichen. Bei dem ersten Beispiel handelt es sich um eine Passage aus einem Essay mit dem Titel Und tschüss. Was die sinkende Verweildauer der Vorstandsvorsitzenden über den Stand des Kapitalismus verrät, der im Juni 2007 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung erscheint. Mit dem Ziel, das sich immer schneller drehende Personalkarussel in den Vorstandsetagen großer deutscher Unternehmen wie etwa Daimler-Benz zu erklären, weiß Händler mit einer historischsystematischen Einordnung der gegenwärtigen Entwicklungen zu glänzen. Zu den heutigen Produktionsbedingungen des Subjekts gehört, dass es sich nur noch als Fluchtpunkt aller Definitions- und Steuerungsbemühungen sieht. Die Krise des Ich in der Literatur und in der Philosophie spielt in den Geisteswissenschaften die Rolle einer DINNorm. Die Neurowissenschaftler haben Nietzsche gelesen (oder auch nicht), der darauf bestand, dass sich das Ich erst aus seinen Fähigkeiten ergibt. Im Überwachen und Strafen wurde der Einzelne unterfordert, das globale Wirtschaftssystem aber basiert auf der strukturellen Überforderung. Es scheint, als gebe es keine Räume jenseits des Geldverdienens. Die Anforderungen sind nie abgeschlossen, der Wettkampf ist nie zu Ende. Was bleibt vom Subjekt?433
Diese Passage verdeutlicht, wie Händler in seinen Essays gewöhnlich argumentiert: Mit dem Rückgriff auf Großtheorien von Nietzsche über Foucault und Luhmann bis hin zu neurowissenschaftlichen Erkenntnissen positioniert sich der Autor auf der Höhe philosophisch-naturwissenschaftlicher Gesellschaftsoder Subjektentwürfe, um von dort aus die Depotenzierung der Autonomie des Einzelnen zu diagnostizieren, wie sie in ökonomisierten Strukturzusammenhängen gleichsam zu sich selbst gekommen sei. Und so heißt es im letzten Satz des zitierten Artikels beinahe aphoristisch und als conclusio: »Die Krise des Ich ist in der Philosophie und den Künsten zuerst reflektiert worden. Ihre reinste Ausprägung erfährt sie in der Ökonomie.« 434 Der von Händler diagnostizierten ›Krise des ökonomischen Ich‹ korrespondiert gleichwohl ganz augenscheinlich keine ›Krise des Autors‹, zeitigen Essays wie der zitierte doch das Gegenteil, nämlich einen zum Überblick fähigen Autor, wie auch ein zweites Beispiel verdeutlicht. Dabei handelt es sich um ein Zitat aus einem längeren Interview mit Thomas Assheuer und Christof Siemes von 2005, das im Feuilleton der Zeit unter der Überschrift Der Firma Deutschland fehlt der Auftrag erschienen ist.
433 Ernst-Wilhelm Händler: Und tschüss. Was die sinkende Verweildauer der Vorstandsvorsitzenden über den Stand des Kapitalismus verrät. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. Juni 2007. 434 E.-W. Händler, Und tschüss.
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Alle fordern von uns mehr Dynamik. Aber sind wir nicht deshalb wie gelähmt, weil die Gesellschaft ständig mobil gemacht wird? Wenn Sie sich den Sozialhaushalt anschauen, dann kann von einem radikalen Umbau des Systems nicht die Rede sein. Die jetzige ökonomische Entwicklung hat sich bereits am Ende der ersten rot-grünen Legislaturperiode abgezeichnet. Dass man die Anzeichen geleugnet hat, war mangelnde Ehrlichkeit. Dieser Vorwurf ist der Regierung Schröder nicht zu ersparen, sie ist schließlich mit gewissen moralischen Ansprüchen angetreten. Die neue Regierung hat jetzt leichtes Spiel. Sie kann einfach sagen: Wir sind knapp vor der Pleite. Das macht jeder neue Firmenchef auch so.435
Während Assheuer und Siemes zu Beginn des Interviews einmal mehr Händlers Label aufgreifen und die Alternative von Schriftsteller und Unternehmer explizit aufmachen, kreisen die folgenden Fragen und Antworten um dezidiert ökonomische Probleme von gesellschaftspolitischer Tragweite. Es geht um Sozialhaushalte, Legislaturperioden und Aussichten auf einen radikalen Umbau des ökonomischen Systems in Deutschland. Erst im letzten Drittel kommt das Interview schließlich ansatzweise wieder auf literarische Fragen zu sprechen, die dann zudem nur kursorisch und immer in Bezug zur Wirtschaft behandelt werden. Mit dieser Binnengliederung in zwei Teile – einen literarischen und einen ökonomischen – durchaus typisch für Händler-Interviews ist der Effekt dieser paratextuellen Kommentare eine Autorfigur, die sich als akademisch und ökonomisch ausgewiesener Experte vorstellt und gesellschaftsstrukturelle Entwicklungen souverän zu kommentieren und einzuordnen weiß. Dass Händlers ökonomische Expertise im Modus eines ökonomischen poeta doctus dabei immer im Wesentlichen auf die literarische Systemreferenz bezogen ist, verdeutlicht nicht nur der Umstand, dass die Essays und Interviews üblicherweise in feuilletonistischen Kontexten platziert sind. So wie das Feuilleton trotz aller Trennung zwischen Literatur und Ökonomie letztlich beides aufeinander im Label des ›Unternehmensdichters‹ bezieht, so greift Händler auch explizit auf eine ökonomische Semantik zurück, um sein literarisches Programm zu beschreiben. In dem in der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter abgedruckten Gespräch mit Nicole Henneberg wird Händler wiederum auf sein ›kräftezehrendes Doppelleben‹ angesprochen. Man kann sich die Dinge in der Firma ein bisschen einteilen. Ich muss ja auch heute, am Freitagnachmittag, nicht im Büro sein. Ich schreibe abends und am Wochenende. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist, dass ich plane, was ich schreibe. Das heißt nicht, ich
435 Thomas Assheuer u. Christof Siemes: Der Firma Deutschland fehlt der Auftrag [Interview]. In: Die Zeit vom 30. Juni 2005.
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Das Verderben der Literatur durch die Literatur: Ernst-Wilhelm Händler
weiß vorher, was genau ich schreiben werde. Das wäre langweilig. Aber ich setze mich nicht hin, habe einen weißen Zettel vor mir und warte, ob etwas kommt. Es gibt einen Masterplan für das ganze Vorhaben. Dann gibt es einen Plan für das einzelne Buch. Und natürlich lege ich mir zurecht, was ich in den nächsten Tagen schreibe.436
Mit dem Begriff des ›Planens‹ greift Händler ein Konzept in produktionsästhetischer Hinsicht auf, das er an anderer Stelle – etwa in dem bereits zitierten Essay zu Vorstandsvorsitzenden – als ein dezidiert ökonomisches ausweist.437 Und tatsächlich gilt Händler dem Feuilleton als der Autor, der mit seiner Arbeit an einem erzählerischen ›Großprojekt‹ auf entwerfendes Schreiben angewiesen ist und damit zwar nicht notwendigerweise, aber auch in betriebswirtschaftlichen Kategorien denkt. Die zentralen Bausteine dieses Semantiktransfers sind die Begriffe des ›Planens‹ und der ›Klarheit‹. Planung bedeutet das Ersetzen von Chaos durch Fehler. Ein Plan soll zeigen, ob die eigenen Absichten konsistent sind. Ein Plan nimmt nicht die Zukunft vorweg. Es steht nicht alles im Plan. Ich weiß im Prinzip, was ich schreiben will, aber wenn ich das ganze Buch in einer Lichtsekunde im Kopf hätte, bräuchte ich nicht mehr zu schreiben. Es gibt einen Rahmen und ein Gerüst, und innerhalb des Rahmens wird natürlich während des Schreibens ständig umgestellt und umgeplant.438
Bemerkenswert ist dieser Selbstkommentar deshalb, weil der Autor über die Semantik des Planens das eigentlich auf literarischem Boden verabschiedete betriebswirtschaftliche Wissen im Umgang mit großen Projekten wiederum in seine Produktionsästhetik einbaut. Es geht beim literarischen Schreiben um Planung, Umplanen, Entwerfen, Verwerfen und Umstellen. Die ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹ ist ein geplantes und immer wieder umgeplantes Projekt.439 Dabei ist auch und gerade die Frage des Planens im Übrigen wiederum mit den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens verknüpft. So hält Händler ebenfalls in dem Gespräch mit Nicole Henneberg mit Bezug auf sein ›Großprojekt‹ fest: Ursprünglich war es auf sieben Bücher angelegt, dann ist es ein bisschen größer geworden, jetzt sind es elf. An der Grundintention hat sich nichts geändert. Wenn die Dinge
436 N. Henneberg u. E.-W. Händler, S. 229–230. 437 Mit dem Planen greift Händler einen Gesichtspunkt auf und wendet diesen produktionsästhetisch, den er an anderer Stelle mit Friedrich August von Hayeks Wirtschaftstheorie des Wettbewerbs in Verbindung bringt. So sei nach Hayek »›[...] eine der Hauptaufgaben des Wettbewerbs, zu zeigen, welche Pläne falsch sind.‹«, E.-W. Händler, Und tschüss. 438 N. Henneberg u. E.-W. Händler, S. 231. 439 Der Gegenbegriff zum ›Projekt‹, den Händler auch selbst einführt, ist der des ›Experiments‹.
Kaleidoskop-Prosa mit Überblick
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wahrgenommen werden, die man macht, hat man natürlich größere Freiheiten. Wäre es anders gelaufen, hätte ich das wahrscheinlich nicht so geplant. Man kann ja nicht von vornherein damit rechnen, dass man Leser hat; ich bin immer wieder sehr froh, dass die Dinge, die ich schreibe, ein Echo haben.440
Es sind also die sekundären Formen literarischer Tätigkeiten, die die Planung des Erzählprojekts irritieren und dieses damit ex negativo ausweiten, ja es dem Autor ermöglichen, das Projekt umzuplanen. In diesem Sinne lassen sich die Folgen literaturbetrieblichen Erfolgs zwar nicht im literarischen Detail ablesen, aber jener stellt sehr wohl den Bedinungsrahmen literarischen Planens und Umplanens bereit. Auf den Begriff der ›Klarheit‹ kommt Händler in dem ebenfalls bereits zitierten Gespräch mit seinem Verleger Joachim Unseld zu sprechen. Dort führt der Autor aus: Ich versuche, alles so durchsichtig wie möglich zu gestalten. Im Regelfall sind meine Texte klar, mein Thema ist nicht der unzuverlässige Erzähler. [...] Vollkommene Klarheit ist nicht nur nicht erreichbar. Man kommt dem Ziel größerer Klarheit nicht näher, wenn man es umweglos anstrebt, Diese Einsicht ist eine notwendige Bedingung für das Entstehen von Literatur.441
Der Begriff ›Klarheit‹ verweist, so Richard Kämmerlings, auf ein Versprechen auf »reibungslos nach ihrer eigenen Sachlogik arbeitende[ ] Institutionen, mitleidlos rechnende Elektronengehirne, die von Sachzwängen bestimmten Systemprozesse in Wirtschaft und Politik oder Wissenschaft.« 442 Mit Blick auf Die Frau des Schriftstellers wäre sicherlich noch der Literaturbetrieb und dessen Strukturzusammenhänge hinzuzufügen. Zum anderen handelt es sich bei ›Klarheit‹ jedoch tatsächlich um ein Element betriebswirtschaftlicher Buchführung. So heißt es im Handelsgesetzbuch unter § 243 (›Aufstellungsgrundsatz‹) zu den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung: (1)
Der Jahresabschluß ist nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung aufzustellen.
(2)
Er muß klar und übersichtlich sein.
(3) Der Jahresabschluß ist innerhalb der einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechenden Zeit aufzustellen.443
440 N. Henneberg u. E.-W. Händler, S. 230. 441 E.-W. Händler u. J. Unseld, Auf dem Weg zur »Grammatik der vollkommenen Klarheit«, S. 158. 442 R. Kämmerlings, Wenn die Vernunft hellwach ist. 443 http://www.gesetze-im-internet.de/hgb/__243.html#Seitenanfang (20. 05. 2012).
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Das Verderben der Literatur durch die Literatur: Ernst-Wilhelm Händler
Händler nun entimmt die Semantik der ›Klarheit‹ ihrem betriebswirtschaftlichen Kontext und presst sie in sein literarisches Programm. In diesem Sinne gehe es selbstverständlich nicht um die »Klarheit eines Buchhalters« 444, sondern um ein »ästhetisches« 445 Programm. Es stehe mithin weniger das Vermeiden ›logischer Fehler‹ wie in der Buchhaltung im Zentrum. Gleichwohl dient die Semantik Händler trotzdem oder gerade deshalb der Distinktion im literarischen Bereich: »Klarheit in unserer Zeit kann nicht heißen, etwas von Anfang bis Ende in einem Ton durchzuerzählen – das fände ich langweilig. Das machen ja sowieso fast alle.« 446 Die ›Klarheit‹ ist die von Teilen des Feuilletons bemerkte ›Unlesbarkeit‹ der Romane Händlers, die weniger auf die Textebene als vielmehr auf die paratextuelle Inszenierung des Autors abzielt und in diesem Sinne Teil von Händlers Literaturbetriebs-Szene ist. Es sind betriebswirtschaftliche Kategorien, die Händler in sein literarisches Programm wie sein Autorlabel einbaut, um auf diese Weise zum einen den Bruch zur Ökonomie in Szene zu setzen und eine Distinktion gegenüber anderen literarischen Programmen zu profilieren. Zum anderen ist die Semantik insofern intrinsisch auf Händlers Programm bezogen, als sie es verhindert, dass sein literarisches Projekt wie das Schreiben des Ich-Erzählers der Frau des Schriftstellers gleichsam zu sich selbst kommen kann. So heißt es in dem bereits angeführten Portrait von Rolf Thym in der Süddeutschen Zeitung: »Sein Leben nur als Autor zu verbingen, das wolle er nicht. Es befördere ›die Selbstbezogenheit‹. Die erlaubt er sich allenfalls am Wochenende, wenn ihm Zeit zum Schreiben bleibt. ›Am Montag‹, sagt Händler, ›verkaufe ich dann wieder Schaltschränke‹«.447 Dem Schriftsteller als »Selbstreferenzmaschine«,448 wie ihn Die Frau des Schriftstellers literarisiert, gilt es mit dem Leben als Unternehmer entgegenzuwirken.
444 445 446 447 448
N. Henneberg u. E.-W. Händler, S. 230. N. Henneberg u. E.-W. Händler, S. 230. N. Henneberg u. E.-W. Händler, S. 230. R. Thym, Erst die Firma, dann die Muse. E.-W. Händler, Die vorgestanzte Sprache.
7 Poetologien des Literaturbetriebs In der ersten Ausgabe des Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel vom 3. Januar 1834 nimmt Friedrich Christian Perthes die für den »literarischen Verkehr höchst merkwürdige[ ] und [...] gefahrdrohende[ ] Zeit« 1 zum Anlass, um ein ebenso warnendes wie emphatisches Plädoyer für ›Wohl‹ und ›Ehre‹ des deutschen Literaturbetriebs zu halten. Folgt man dem Verleger, mache sich nämlich seit geraumer Zeit im deutschen Buchhandel »eine Unruhe, ein Drängen, Treiben und Jagen bemerkbar«.2 Die »geldjagende Hast« 3 einiger Buchhändler und Verleger habe dazu geführt, dass der deutsche Buchmarkt mit einer »Flut teils unnützer und überflüssiger, teils wirklich schlechter und schädlicher Schriften überschwemmt« 4 werde. Die Bedeutung des deutschen Buchhandels, besonders in der neuesten Zeit – so der Titel des anonym publizierten Aufsatzes – sieht Perthes, »der markanteste konservativ-christliche Verleger« 5 seiner Zeit, dabei vornehmlich politisch bestimmt. Seine Warnung vor dem Niedergang der literarischen Kultur und ihrer Bedingungen ist vor allem eine Warnung vor dem Verlust desjenigen Bandes, das den deutschen Sprachraum, das »deutsche[ ] Vaterland«,6 einigend zusammenhalte: die Allianz von Literatur und Buchhandel. Abstrahiert man einmal von diesen, mit dem »Misstrauen gegen eine sich demokratisierende und zugleich kommerzialisierende Medienlandschaft« 7 verbundenden politischen Implikationen, erweisen sich Perthes’ Beobachtungen als aktueller denn je. Seine Diagnose, nämlich das ›Versinken‹ des deutschen Buchhandels in ›Oberflächlichkeit nur um des Gewinnes willen‹, scheint um die Jahrtausendwende, also gut 180 Jahre später, gänzlich zur Entfaltung zu kommen: Die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen literarischen Schreibens scheinen nun, bedingt durch Medien, Markt und pluralisierte Publika, nahezu vollständig im ›fabrigmäßigen Betrieb‹ aufzugehen. Und so schwingt
1 Friedrich Christian Perthes: Die Bedeutung des deutschen Buchhandels, besonders in der neuesten Zeit. In: Friedrich Christian Perthes: Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseins einer deutschen Literatur. Schriften. Hg. von Gerd Schulz. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1995, S. 49–53, hier S. 49. 2 F. C. Perthes, S. 49. 3 F. C. Perthes, S. 50. 4 F. C. Perthes, S. 50. 5 Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. München 1999, S. 236. 6 R. Wittmann, S. 236. 7 R. Wittmann, S. 236.
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Poetologien des Literaturbetriebs
ins Jens Jessens Frage nach dem ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb8 noch Perthes’ »Überzeugung von der eigenen Kulturmission, die Verachtung jeder Profanisierung der geistigen Güter, die Skepsis gegenüber allen Zugeständnissen an die Lektürebedürfnisse der unterbürgerlichen Schichten, die Ablehnung neuer Vertriebsmethoden, die Verfemung unverbrämten Gewinnstrebens« 9 mit. Denn auch um die Jahrtausendwende stünden nicht Erörterungen von ästhetischen Fragen oder Auseinandersetzungen mit der spezifischen Qualität von literarischen Texten im literaturbetrieblichen Zentrum. Es gehe nicht mehr um wie auch immer ästhetisch geformte literarische Kunstwerke, sondern um die Produktion geistloser ›Hüllen‹. Dass dieses aufmerksamkeitsorientierte Profitstreben der Beteiligten nicht ohne Folgen für die literarischen Texte selbst bleiben könne, liege schließlich doch – so wiederum Perthes – auf der Hand. [D]ie Abfassung oder Ausarbeitung eines Buchs ist [...] jetzt nur zu häufig und augenfällig zum fabrikmäßigen Betrieb, ja zum Handwerk herabgewürdigt worden. Man wollte den Geist wie Ware, die dem bloßen Erwerb dient, behandeln, und er entwich zürnend und ließ nur seine Hülle zurück, deren Blöße aber keine auch noch so elegante Ausstattung durch Druck und Papier zu decken vermochte.10
So abgeklärt die Rede vom ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb nun aber auch daher kommen mag, hat sich im Zusammenhang der vorliegenden Studie gleichwohl immer wieder die Frage gestellt, wie man dem beinahe 200 Jahre alten, immer wieder aufgerufenen, gleichsam ›topisch‹ aktualisierten und selbstredend auch in der deutschsprachigen Literatur selbst wiederholt thematisierten Problem des Umgangs mit dem Verhältnis zwischen primären und sekundären Formen literarischer Kommunikation, zwischen ›Literatur‹ und ›Betrieb‹ also, zu begegnen ist. Wie ist, mit anderen Worten, der Vermutung vom literaturbegrieblichen ›Verderben‹ der Literatur mit literaturwissenschaftlichen Mitteln beizukommen, ohne hinterrücks in kulturpessimistische Rundumschläge oder – in Gegenrichtung – emphatische Aufwertungen alles Betrieblichen zu verfallen und mit beidem, vielerorts nicht nur, aber auch mit Blick auf die Literatur der Jahrtausendwende in Frage gestellte autonomieästhetische Größen zu bedienen?11 Dieses Leitproblem ist die in der Unterschei-
8 Vgl. Jens Jessen: Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur? In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 11–14. 9 R. Wittmann, S. 236. 10 F. C. Perthes, S. 50. 11 Siehe auch Stefan Matuschek: Literarischer Idealismus. Oder: Eine mittlerweile 200-jährige Gewohnheit, über Literatur zu sprechen. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 86 (2012), Nr. 3, S. 397–418.
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dung zwischen literarischer Selbstbeschreibung und literaturwissenschaftlicher Fremdbeschreibung konkretisierte Grundkonstellation, an der sich die vorliegende Studie mit Blick auf deutschsprachige Literatur um 2000 exemplarisch abarbeitet.
7.1 Literaturbetriebsliteratur und Literaturbetriebs-Szenen ›Verdirbt‹ der Literaturbetrieb also die Literatur? In den von der vorliegenden Studie analysierten literarischen Texte gerät die Reflexion über die Vermittlungsbedingungen von Literatur in den Einzugsbereich der jeweiligen Selbstprogrammierung. Das, was Jessen und andere mit pejorativer Konnotation als ›Literaturbetrieb‹ bezeichnen, wird von den untersuchten Texten als das Heteronome und Widerstrebende, das im literarischen Produktionsprozess mitschreibt, entworfen. Insofern die Romane mit der Konzeption literarischen Schreibens »als strukturelles Ereignis im literarischen Feld« 12 solche Blicke hinter die Kulissen literarischer Produktion fingieren, denen sich eine Reihe von Praktiken bieten, »die dem Prestige der Kunst fremd sind und dazu angetan, den Glanz jener Vorstellung vom singulären Werk und schöpferischen Individuum zu trüben«,13 stellen sie durchaus ein »entsublimierte[s], entzauberte[s] Bild[ ] des Künstlertums« 14 vor. Gleichwohl treten die Autoren jeweils als die mehr oder weniger autonome, das heißt die Regeln vorgebende Instanz auf, die den als ›störend‹ beschriebenen Praktiken der literaturvermittelnden Akteure und Organisationen mit dezidiert literarischen Mitteln die Grenzen aufweist. Auch wenn sich die Analysen der Literaturbetriebs-Szenen von Bodo Kirchhoff, Andreas Maier, Norbert Gstrein und Ernst-Wilhelm Händler dabei zum Teil in den eingangs erwähnten Aporien des literaturkritischen Umgangs mit dem Verhältnis zwischen Literatur und Literaturbetrieb selbst verfangen mögen, machen sie doch zumindest auf eines aufmerksam: auf das Problem, was
12 Stephan Porombka: Literaturbetriebskunde. Zur ›genetischen Kritik‹ kollektiver Kreativität. In: Stephan Porombka u. a. (Hg.): Kollektive Kreativität. (Jahrbuch für Kulturwissenschaft und ästhetische Praxis 1) Tübingen 2006, S. 72–87, hier S. 75. 13 Sabine Mainberger: Von der Liste zum Text – vom Text zur Liste. Zu Werk und Genese in moderner Literatur. Mit einem Blick in Perecs Cahier des charges zu La Vie mode d'emploi. In: Gundel Mattenklott u. Friedrich Weltzien (Hg.): Entwerfen und Entwurf. Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses. Berlin 2003, S. 265–283, hier S. 266. 14 Gabriele Feulner: Mythos Künstler. Konstruktionen und Dekonstruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts. (Philologische Studien und Quellen 222) Berlin 2010, S. 449.
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Poetologien des Literaturbetriebs
eine literaturwissenschaftliche Beschreibung von Jessens Frage Umgangsweisen mit dem vermeintlichen oder tatsächlichen ›Verderben‹ der Literatur im literarischen System eigentlich entgegenzusetzen hat. Literarische Kommunikation beobachtet Texte wie die von Kirchhoff, Maier, Gstrein oder Händler gewöhnlich als ›Betrieb‹ oder als ›Literatur‹, das heißt sie wertet sie entweder als betrieblich ›verdorbene‹ Literatur ab oder weist sie als mit einiger ›Literarizität‹ ausgestattet aus. Eine literaturwissenschaftliche Analyse verstanden als redeskriptive Fremdbeschreibung betont demgegenüber zunächst, dass es sich bei diesem Beobachtungsschema (Betrieb oder Literatur, Heteronomie oder Autonomie, high oder low) um eine Selbstbeschreibungsformel literarischer Kommunikation handelt. Es geht ihr also gerade nicht um den Nachweis, dass es sich bei den Romanen um ›Literatur‹ beziehungsweise ›Betrieb‹ handelt, ja mehr noch: Sie interessiert sich weder dafür, Betriebsphänomene in ihrem vermeintlich bloß sekundären, tatsächlich aber eigentlich irgendwie primären Status zu ›würdigen‹ noch umgekehrt auf massenmedial oder ökonomisch bedingte ›Verwerfungen‹ in den sozialstrukturellen Kontexten hinzuweisen. Solche Plädoyers, die – mit welcher Tendenz auch immer – im Umgang mit literarischen Betriebsphänomenen der Jahrtausendwende (Autorinszenierungen, Marketingstrategien, Literaturskandalen, Literaturdebatten, Literaturevents) als die Beobachtungsschemata schlechthin gelten können, haben letztlich den Status von Selbstbeschreibungen des literarischen Systems. Sie schließen am »semantischen Repertoire«,15 mit dem die Literatur über sich selbst Klarheit zu gewinnen versucht, an, beschreiben Literatur mithin aus der Sicht der Akteure des Systems16 und statten Literaturwissenschaft mit einem Anspruch aus, den diese strukturell nicht erfüllen kann, ja sie schlicht überfordert – nämlich im Zweifelsfall mit dem Anspruch, »mit zum Gelingen beizutragen.« 17 Literaturwissenschaftliche Fremdbeschreibungen literarischer Kommunikation konzentrieren sich hingegen auf nicht mehr, aber auch nicht weniger
15 Niklas Luhmann: Eine Redeskription »romantischer Kunst«. In: Jürgen Fohrmann u. Harro Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996, S. 325–344, hier S. 344. 16 Dies im Sinne von André Kieserling: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens. Frankfurt a. M. 2004. In diesem Sinne geht es gerade nicht darum, bei der auf literarische Programmierung und Form abhebenden Beschreibung »den [...] Autoren und Texten bewussten Umgang mit den Marktbedingungen [zu] unterstell[en]«, Stefan Neuhaus: Kanon, Wertung und Vermittlung. Über einen Sammelband zum Thema. In: literaturkritik.at (2012), Nr. 3. http://www.uibk.ac.at/literaturkritik/rezensionen/ 1020038.html (10. 10. 2012). 17 Anja K. Johannsen: »Zuviel zielwütige Kräfte?« Der Literaturveranstaltungsbetrieb unter der Lupe. In: Maik Bierwirth u. a. (Hg.): Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen. (»Automatismen«) München 2012, S. 263–281, hier S. 279.
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als auf die »Redeskription« 18 literarischer Phänomene als Formen, im Fall der diskutierten Texte als Literaturbetriebs-Szenen. Diese sind die literarische Darstellung und der operative Gebrauch der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Formen, mithin der Selbstverweis der Literatur auf ihr sozialstrukturelles Eingebundensein. Geformt wird die Literaturbetriebs-Szene durch die literarische Thematisierung des sozialstrukturellen Rahmens der Literatur, bei gleichzeitiger Regulation der Literatur durch ihr sozialstrukturelles Eingebundensein, das die an literarischen Entstehungs-, Vermittlungs-, Medialisierungs- und Förderungsprozessen beteiligten Akteure und Organisationen bestimmen. Es geht also um eine literarische Form, in der Literaturbetriebsakteure und -organisationen an der literarischen Form, zu der sie sich produzierend, vermittelnd oder rezepierend verhalten, »mitwirken«.19 In dieser Perspektive gerät mithin immer auch die Frage in den Blick, ob die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Formen, ›Literatur‹ und ›Betrieb‹, analytisch überhaupt relevant ist »oder gerade die Spur des Übergehens verfolg[t]« 20 werden sollte. Der literarische Eigensinn der Literaturbetriebs-Szene besteht mithin gerade im Markieren und Streichen der Differenz, so dass sie als Form mitunter gar nicht mehr zur Unterscheidung zurückfindet. Versteht man literarisches Schreiben als eine Schreibweise, »die die Bedingungen und Möglichkeiten ihres eigenen Zustandekommens, aber auch ihrer Gefährdung«,21 zu reflektieren versucht, sind die analysierten Texte in diesem präzisen Sinne literarische Werke par excellence, die mit ihren Literaturbetriebs-Szenen »im Rekurs des Schreibens auf seine eigenen Produktionsbedingungen (und also auch: Produktionsmöglichkeiten)« 22 die Praxis literarischen Schreibens um 2000 vorführen. Die angenommene literaturbetriebliche »Störung« 23 der Literatur wird, mit anderen Worten, als Irritation zur literarischen Form geadelt. Damit lassen sich Literaturbetriebs-Szenen – und genau an dieser Stelle kommt die ›Autonomie‹ der Literatur auch und gerade der Literatur um 2000 ins Spiel – auf einen Funktionskontext beziehen, nämlich den des literarischen Systems. In dieser Perspektive ist es literarische Kommunikation, die jeweils den Status der Erin-
18 N. Luhmann, Eine Redeskription »romantischer Kunst«, S. 344. 19 Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Unter Mitarbeit von Irene Chytraeus-Auerbach u. a. Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772, hier S. 760. 20 R. Campe, S. 760. 21 Sandro Zanetti: Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Zum analytischen Potential der Literatur. In: Uwe Wirth (Hg.): Logiken und Praktiken der Kulturforschung. Mit Beiträgen von Safia Azzouni u. a. (Wege der Kulturforschung 1) Berlin 2008, S. 75–88, hier S. 81. 22 S. Zanetti, Logiken und Praktiken der Schreibkultur, S. 82. 23 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2002, S. 189.
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Poetologien des Literaturbetriebs
nerungen an meinen Porsche, von Sanssouci, der ganzen Wahrheit und der Frau des Schriftstellers erzeugt, für dessen Zustandekommen dann im Nachhinein wahlweise ›kühl kalkulierende‹ Marketingexperten, ›Betriebsopfer‹ oder ein ›hochgradig reflektierter‹ und damit ›literarisch versierter‹ Autor adressiert werden können.
7.2 Literaturbetrieb in der Literatur und Literaturkritik um 2000 Es ist bereits verschiedentlich angemerkt worden, dass ›Literaturbetriebsliteratur‹, also solche literarischen Texte, die literaturvermittelnde Akteure und Organisationen thematisieren, durchaus Genre-Merkmale aufweisen. Nicht nur würden die Texte ein »überschaubares Set an stereotypen Charakteren und sich wiederholenden Handlungselementen« 24 aktualisieren. Zu beobachten seien darüber hinaus Verfahren, die sich mit satirisch, parodistisch oder ironisch überspitzten Schlüssel- oder Realitätseffekten immer wieder bei denselben literarischen Akteuren der realen Realität bedienten. Neben Siegfried Unseld als Verleger und Günter Grass, Heinrich Böll oder Martin Walser als kommunizierte Großautoren der Nachkriegszeit zählt dazu insbesondere ›Kritikerpapst‹ Marcel Reich-Ranicki.25 Nicht zuletzt vor diesem typologisierenden Genre-Hintergrund, den die vorliegende Studie weitgehend ausgeblendet hat, ist jedoch auffallend, und die Einzelstudien haben dies je konkret an der feuilletonistischen Rezeption gezeigt, dass die deutschsprachige Literaturkritik um 2000 nicht geringe Probleme mit ›Literaturbetriebsromanen‹ hat. Lässt man einmal den feldtheoretischen Kampf um Positionen, Aufmerksamkeit und Legitimität beiseite, stellt sich tatsächlich die Frage, was aus literaturkritischer Perspektive eigentlich dagegen spricht, literarische Texte im Hinblick auf Thematisierungen der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen für die Herstellung, Verbreitung und Aufnahme von Literatur zu lesen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Sammelbesprechung von Thomas Kraft, die 1999 in der neuen deutschen literatur erschienen ist und
24 Matthias Beilein: Intriganten, Alkoholiker, Zwangsneurotiker. Der Literaturbetrieb kommt in der Literatur nicht gut weg. In: Logbuch. Kreuzer Beilage zur Leipziger Buchmesse (2012), S. 14–15, hier S. 14. 25 Siehe zu Letzterem Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Mit 8 Abbildungen. Göttingen 2004, S. 93–100. Neuhaus nennt unter anderen Walsers Tod eines Kritikers, Michael Endes Der satanarchäolügenialkolöllische Wunschpunsch und Peter Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire.
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sich mit einigen der fraglichen ›Literaturbetriebsromane‹ auseinandersetzt. Krafts negative Bewertung der von ihm behandelten literarischen Texte (es sind dies unter anderen Gefecht in fünf Gängen von Christine Eichel, Der Soldat und das Schöne von Walter Grond sowie Abschied vom Zauberberg von Jens Walther) beruht im Wesentlichen auf der Frage, warum sich Autoren überhaupt mit den sozialstrukturellen Kontextbedingungen von Literatur beschäftigen. So habe er sich nach der Lektüre schließlich gefragt, warum Autoren [...] mürrisch am Tischtuch zupfen und auch ein Sahnehäubchen haben möchten. Sicher, sie haben Einblick in das literarische Leben ihres Landes, sie kennen die Tricks und Spiegelfechtererien der Szene, wer wo wie was gemacht hat. Sie monieren die Tischordnung und ereifern sich über die Abgründe unter jedem Stuhl. Im Prinzip, und wer mag es ihnen verdenken, säßen sie selbst gerne auf guten Plätzen und hielten die Tischrede. Dieser Widerspruch macht, wenn die Texte nicht den Eichstrich halten, das Ansinnen bemüht und langweilig.26
Nach Kraft verfolgen ›Literaturbetriebsromane‹ vor allem deshalb ein fragwürdiges ›Ansinnen‹, weil der ihnen zugrundeliegende ›Widerspruch‹ zwischen (gleichwohl gut informierter) Betriebsschelte und Betriebspraxis, im Besonderen zwischen dem zum Ausdruck gebrachten Neid auf andere Autoren und dem Wunsch, als Autor wie diese Beachtung zu finden, dazu führe, dass die Texte letztlich ›bemüht und langweilig‹ seien. Insofern die häufig im Modus der »Satire, Parabel oder Persiflage« 27 geschaltete Thematisierung der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur demzufolge Symptom einer narzisstischen Störung sei, erwiesen sich die »Berichte aus dem Innern des Taifuns« 28 als »eitle Selbstbespiegelung[en]«.29 Folgt man der literaturkritischen, aber auch Teilen der literaturwissenschaftlichen Rezeption, sei ›Literaturbetriebsliteratur‹ insofern nicht zuletzt Symptom mangelnder literarischer Kreativität, denn, so etwa Gunther Nickel: »Wenn einem Autor nichts mehr einfällt, kann er immer noch über sich, sein Schreiben und die Begleiterscheinungen seines Schreibens schreiben.« 30 Es stelle sich nämlich die Frage, so
26 Thomas Kraft: Spiegelfechtereien. Der Literaturbetrieb und seine fleißigen Angestellten. In: neue deutsche literatur. Zeitschrift für deutschsprachige Literatur und Kritik 47 (1999), Nr. 2, S. 163–166, hier S. 166. 27 T. Kraft, Spiegelfechtereien, S. 164. 28 T. Kraft, Spiegelfechtereien, S. 164. 29 T. Kraft, Spiegelfechtereien, S. 163. 30 Gunther Nickel: Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Wolfgang Bauers Change, Albert Ostermaiers The Making Of. B.-Movie, Rainald Goetz’ Jeff Koons und Falk Richters Gott ist ein DJ. In: Frank Göbler (Hg.): Das Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen. (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 41) Tübingen 2009, S. 283–301, hier S. 283.
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Poetologien des Literaturbetriebs
Nickel, warum Leser sich für Thematisierungen des Literaturbetriebs überhaupt »interessieren sollten, es sei denn sie sind selbst (oder verstehen sich als) Künstler und bringen daher aus Leidensgenossenschaft ein gleichsam naturwüchsiges Interesse am Schriftstellerdasein auf«.31 In dieser Hinsicht werden ›Literaturbetriebsromane‹ durchaus in Kontinuität zu den bis in die 1990er Jahre hinein beobachteten sowie feuilletonistisch abgewerteten, weil dezidiert auf Selbstreflexion setzenden und deshalb das literarische Publikum verfehlenden Programmen deutschsprachiger Literatur gestellt. Was der narrativen Selbstreflexion lediglich hinzugefügt werde, sei die Dimension der sozialstrukturellen Kontextbedingungen literarischen Schreibens. Daneben werden diejenigen Texte, die vom Feuilleton gewöhnlich als ›Literaturbetriebsromane‹ eingeordnet werden, jedoch auch regelmäßig mit dem Kampf um Aufmerksamkeit und machtbasierte Positionsnahmen eines sozialen Feldes verbunden, wie ihn Teile der Literaturkritik als maßgeblich für literaturbetriebliche Strukturen beobachten. Das Medium schlechthin dieser Positionierungen seien neben Realitätseffekten vor allem Schlüsselverfahren, die sich einerseits auf die »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung« 32 stützten, andererseits aber auch und gerade im Zeichen einer mitunter als »geschmacklos« 33 ausgewiesenen »Indienstnahme der Literatur für einen außerliterarischen Zweck« 34 stünden. Es geht also um persönlich-heteronom motivierte und deshalb literaturkritisch nicht zu goutierende ›Abrechnungen‹ mit den Betriebsbedingungen sowie deren Akteuren und Organisationen – eine Geste, die mitunter die gescholtenen Vermarktungs- und Aufmerksamkeitsstrategien selbst geschickt zu nutzen wisse.35 So wird wiederholt dem jeweiligen Autor und dessen Verlag unterstellt, letztlich literaturbetrieblich ›verdorbene‹ (Marketing-)Interessen zu verfolgen. Um die entsprechenden Romane dennoch positiv bewerten zu können, muss in dieser Logik die vom jeweiligen Text vorgenommene Thematisierung der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Literatur, wenn nicht ausgeblendet, so doch aber zumindest als sekundär abgewertet werden, würden doch ansonsten ›entscheidende‹ Gesichtspunkte der jeweiligen literarischen Form gleichsam verloren gehen.
31 G. Nickel, Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, S. 283. 32 Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. (Studien zur deutschen Literatur 170) Tübingen 2004, S. 7. 33 So die Formulierung von Neuhaus mit Blick auf Peter Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire. S. Neuhaus, Literaturkritik, S. 99. 34 G. M. Rösch, S. 7. 35 Neben Walsers Tod eines Kritikers ist das wohl einschlägigste Beispiel um 2000 Jens Walter: Abstieg vom Zauberberg. Roman. Frankfurt a. M. 1997.
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Eingebunden ist das Zurückweisen von Literaturbetriebslektüren denn auch häufig in das Fahrwasser poststrukturalistischer Literaturtheorie. Die Aussicht, die textkonstituierenden Signifikanten an eine »außertextliche Realität« 36 zurückbinden zu können, wie es die mit ›Literaturbetriebsliteratur‹ verknüpften Realitäts- und Schlüsseleffekte versprechen, verkenne demnach das Spiel der Signifikanten-Ketten, das gerade kein privilegiertes Signifikat mehr stillstellen könne.37 Literaturbetriebslektüren seien dabei mitunter umso fataler, als sie die spezifische Selbstprogrammierung der literarischen Werke völlig aus dem Auge verlören. Gehe es den Autoren um hochgradig reflektierte literarische Anliegen, übersehe das Beharren auf referenzialisierbare Literaturbetriebszusammenhänge demnach, dass die Texte sich die Einsicht in das Signifikanten-Spiel mitunter zu eigen machten, ja geradezu selbstreflexiv ausstellten. Der Versuch, Figurenzeichnungen und Handlungszusammenhänge dazu zu nutzen, den Roman an die reale Realität zurückzubinden, erweise sich vor diesem Hintergrund geradezu als ›Gefahr‹ für die Literarizität des Textes. Gleichwohl steht ›Literaturbetriebsliteratur‹, insofern sie durch Realitätsund Schlüsseleffekte geformt ist, – gleichsam in Gegenrichtung zu diesem poststrukturalistisch gefärbten Argument – immer auch in Verdacht, spezifisch auf Kontext- und Zeitgebundenheit angewiesen zu sein. Die schlüsselverfahrenstechnische Unterscheidung zwischen Inklusion und Exklusion strukturiere derart stark Publikum und Lektüre, dass ›Literaturbetriebsromane‹, würden sie aus ihrem zeitlichen oder sozialen Kontext gelöst, nicht mehr ›verständlich‹ seien. Wer als Leser etwa der Frau des Schriftstellers ›hinter‹ dem Verleger Guggeis nicht Siegfried Unseld wiedererkenne, verfehle demnach die vom Autor gesetzten Pointen. Doch selbst die Annahme vorausgesetzt, dass der Leser mit den entsprechenden Betriebsabläufen mehr oder weniger gut vertraut ist, sei es spätestens mit einer neuen Publikumsgeneration unvermeidbar, dass das in den Texten generierte Wissen um die sozialstrukturellen Zusammenhänge seine Anschlussfähigkeit verliere. Fußt die literaturkritische Ablehnung von Literaturbetriebslektüren mithin durchaus auf der Idee, ›eigentliche‹ oder ›wahre‹ Literatur sei gleichsam überzeitlich und in anderen Kontexten problemlos lesbar, seien literarische Texte, die auf Realitätseffekte und Schlüsselverfahren setzen, in dieser Perspektive »im schlechten Sinne zeitgebunden«.38 Folgerichtig muss das Feuilleton bei der Lektüre eines Romans, der auch als ›Literatur-
36 G. M. Rösch, S. 26. 37 Vgl. dazu allgemein Jürgen Fohrmann: Über Autor, Werk und Leser aus poststrukturalistischer Sicht. In: Diskussion Deutsch 21 (1990), Nr. 116, S. 577–588. 38 Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. 2. Auflage. München 2005, S. 166.
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Poetologien des Literaturbetriebs
betriebsliteratur‹ durchgehen könnte, denn auch immer wieder explizit betonen, der entsprechende Text sei nicht wegen, sondern trotz der Thematisierung von Akteuren und Organisationen der Literaturvermittlung verständlich – und könne deshalb empfohlen werden. Durchaus aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass sich mit der derart abgewerteten Zeit- und Kontextgebundenheit von ›Literaturbetriebssromanen‹ Analogien zum Umgang mit solchen literarischen Texten ergeben, die mit massenkulturellen Phänomenen,39 insbesondere mit Marken arbeiten.40 So wie Teile des Feuilletons die Konsum- und Warenwelt in Konkurrenz zur ›eigentlichen‹ Literatur positionieren, so empfehlen sie ebenfalls, auf literarisch größtmögliche Distanz zu sekundären Formen des literarischen Systems zu gehen. Gemeinsam ist beiden Abgrenzungsbewegungen, dass sie einen mehr oder weniger emphatischen Literaturbegriff voraussetzen, der literarische Texte als »so verdichtet, so zeitlos und schwerwiegend wie möglich« 41 verstanden wissen will. Würde die asymmetrisch verwendete Differenz zwischen primären und sekundären literarischen Formen eingeebnet, mithin nicht mehr trennscharf zwischen ›Literatur‹ und ›Literaturbetrieb‹ unterschieden werden können, gäbe Literatur in dieser Perspektive nicht zuletzt den Anspruch auf, selbst die Instanz zu sein, die das Beschriebene ›in seinem Wesen‹ definiere und damit kontrolliere.42 Auch wenn es nicht Aufgabe der vorliegenden Studie ist, sich gegen diese feuilletonistische Ablehnung von ›Literaturbetriebsliteratur‹, wie sie für Literaturbetriebs-Szenen typisch ist, zu positionieren, sollen doch abschließend vier auf der Hand liegende Gegenargumente zumindest kurz benannt werden. Erstens ist die mit den vielgescholtenen Realitäts- und Schlüsselverfahren einhergehende soziale und zeitliche Kontextgebundenheit keineswegs ein Effekt, der auf solche literarischen Texte beschränkt ist, die sich mit Aspekten ihres sozialstrukturellen Eingebundenseins auseinandersetzen – ganz im Gegenteil: In Werken des literarischen Höhenkamms findet sich »eine solche Menge an zeitgebundenen Anspielungen und Diskursen [...], daß der Versuch, Literatur durch Vermeidung ebensolcher Akzidenzien auf Ewigkeit zu trimmen, [...] als von Grund auf dubios erscheint«.43 Geht man davon aus, dass literarische
39 Siehe dazu Heinz J. Drügh: Verhandlungen mit der Massenkultur – Die neueste Literatur(-wissenschaft) und die soziale Realität. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 26 (2001), Nr. 2, S. 173–200. 40 Vgl. M. Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 165–168. 41 M. Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 165. 42 Vgl. M. Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 168. 43 M. Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 167.
Literaturbetrieb in der Literatur und Literaturkritik um 2000
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Kommunikation sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, von ihren eigenen Voraussetzungen zu handeln, liegt es geradezu auf der Hand, dass Literatur sich auch mit literaturbetrieblichen Aspekten auseinandersetzt und diese reflektiert. Der in dieser Hinsicht schlicht gegebene selbstreflexive Modus von ›Literaturbetriebsliteratur‹ steht dabei – zweitens – in literarischer Kontinuität mit der literaturgeschichtlich etablierten Gattung des Künstlerromans, die sich ebenfalls über die Reflexion der Bedingungen (literarisch-künstlerischen) Produzierens definiert.44 Drittens greift Literatur nicht nur auf schlicht gegebene Elemente ihrer sozialstrukturellen Einbettung zurück, sie trägt auch und gerade selbst dazu bei, Konnotationen, Bilder oder Vorstellungen von sekundären literarischen Formen zu generieren und kulturell zu verankern: »Literatur speichert enzyklopädische Zusammenhänge und damit Kultur«.45 Und schließlich weisen literatursoziologische Studien nicht erst seit kurzem darauf hin, dass Literatur – viertens – unhintergehbar in eben jene sozialstrukturellen Kontexte eingelassen ist, die sie nach Ansicht von Teilen des Feuilletons nicht thematisieren soll. So wie Autoren, auch wenn sie sich dem verweigern, immer auch Betriebsakteure sind, so ist Literatur immer auch Literaturbetriebsliteratur.
44 Gabriele Feulner unterscheidet nicht zwischen ›Künstler-‹ und ›Literaturbetriebsroman‹, sondern liest letzteren als eine Art postmoderne Variante von ersterem. Vgl. G. Feulner. Neben der angesprochenen pejorativen Konnotation von ›Literaturbetriebsliteratur‹ als letztlich betrieblich ›verdorben‹, liegt der Unterschied, wenn man denn in solchen Genre-Zuweisungen argumentieren möchte, schlichtweg im Figurenensemble. Denn zum einen ließen sich literaturbetriebsliterarische Texte mit Blick auf deren Reflexion der »Möglichkeit einer ästhetischen Begründung der Subjektposition« lesen. Erich Meuthen: Eins und doppelt oder Vom Anderssein des Selbst. Struktur und Tradition des deutschen Künstlerromans. (Studien zur deutschen Literatur 159) Tübingen 2001, S. 6. Und auf der anderen Seite thematisieren Künstlerromane selbstredend auch immer wieder Probleme der Störung des künstlerischen Schaffensprozesses. Siehe Alexandra Pontzen: Künstler ohne Werk. Modelle negativer Produktionsästhetik in der Künstlerliteratur von Wackenroder bis Heiner Müller. (Philologische Studien 164) Berlin 2000. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird der literaturtheoretische Vorteil der Unterscheidung zwischen ›Literaturbetriebsliteratur‹ und Literaturbetriebs-Szenen deutlich, denn eines realisieren Künstlerromane gewöhnlich eben gerade nicht: eine Verkettung von primären und sekundären literarischen Formen. Eine Einzelstudie mit Blick auf deutschsprachige Künstlerliteratur um 2000 ist etwa Daniela Strigl: Das unfassbare Genie. Zu aktuellen Künstlerromanen von Hans-Ulrich Treichel und Daniel Kehlmann. In: Roman Kopriva u. Jaroslav Kovár (Hg.): Kunst und Musik in der Literatur. Ästhetische Wechselbeziehungen in der österreichischen Literatur der Gegenwart. II. bilaterales germanistisches Symposium Österreich-Tschechien. Brünn, Tschechien, Dezember 2003. Wien 2005, S. 101–118. 45 M. Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 167.
8 Riassunto italiano Nel primo decennio del XXI secolo si possono notare profondi cambiamenti nel sistema letterario tedesco: il pubblico letterario si diversifica e gli editori si trasformano in grandi imprese concentrate sul profitto economico in un periodo nel quale l’importanza del marketing è in continua ascesa. Gran parte della critica letteraria tedesca contemporanea suppone che queste condizioni di produzione e mediazione della letteratura ›limitino‹ o ›ledano‹ la forma dei testi letterari e si parli delle conseguenze dei processi di riduzione delle gerarchie, individualizzazione, pluralizzazione ed ibridazione culturale sulla comunicazione letteraria. Tutto questo distrugge, ›l’essenza‹ della letteratura? Sollevare la domanda all’inizio della presente analisi non significa che nella sua conclusione venga data una risposta. Invece di soppesare risposte o cercare testi letterari ›compromessi‹ o ›pregiudicati‹ in qualsiasi modo da strutture ed esigenze del mercato letterario, l’analisi si rivolge a chi parla della relazione fra letteratura e il suo mercato nella letteratura tedesca del XXI secolo e a come se ne parla. Partendo dall’ipotesi che la diagnosi critica delle condizioni scadenti della letteratura tedesca non deponga sulla situazione oggettiva, il ›deterioramento‹ della letteratura viene considerato come elemento che porta alla costruzione di una autocomunicazione, non solo della critica letteraria tedesca, ma anche della letteratura stessa. L’analisi procede con l’esplorazione della distinzione fra letteratura e mercato come forma stabile di auto-descrizione del sistema letterario tedesco. Differenziando tra forme letterarie primarie e secondarie, l’auto-descrizione riguarda la simultaneità nel marcare e cancellare la distinzione tra letteratura e il suo mercato. I testi analizzati rifiutano di far parte del mercato letterario così come è tematizzato nella loro stessa narrazione, nonostante non possano fare a meno delle strutture sociali. Riflettendo e realizzando la loro dipendenza dal sistema letterario, la letteratura insiste sulla sua autonomia. In particolare, la ›ridescrizione‹ dell’analisi si occupa della scena letteraria (›Literaturbetriebs-Szene‹) per quanto riguarda Bodo Kirchhoff, Andreas Maier, Norbert Gstrein e Ernst-Wilhelm Händler. Schundroman (2002) e Erinnerungen an meinen Porsche (2009) di Kirchhoff inscenano la distinzione tra forme letterarie primarie e secondarie come figura reversibile – un allestimento letterario che renda necessaria una posizione rafforzata dell’autore, il quale sia in grado di regolare la lettura del romanzo ed accentuare gli elementi narrativi (capitolo 3). Sanssouci di Andreas Maier (2009) procede inversamente rispetto a Kirchhoff collegando il narratore del romanzo alla funzione-autore che si mette di fronte ad una discussione mediale sulla borsa di studio letteraria della comune
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Riassunto italiano
di Potsdam nel 2004. Inscenando le strutture sociali della letteratura, la scena letteraria di Maier include l’osservazione del ›danneggiamento‹ della letteratura ad un racconto (capitolo 4). Die ganze Wahrheit di Norbert Gstrein (2010) provoca un effetto simile, ma procede secondo uno schema diverso: la sua scena letteraria abbina testo e paratesto tramite elementi di autoriflessione della distinzione tra realtà reale e realtà fittizia, i quali producono paradossalmente, non solo un effetto di realtà, ma anche uno ›scandalo annunciato‹ nel quale si trovano Ulla Berkéwicz ed il suo racconto Überlebnis (capitolo 5). Relativamente a Die Frau des Schriftstellers di Ernst-Wilhelm Händler (2006) l’analisi enuclea il testo, decostruisce e ricostruisce l’identità del suo protagonista e narratore, ma non per dimostrare il ›momento fatale‹ nella relazione tra letteratura e mercato letterario: in realtà la scena letteraria di Händler, il procedimento di testo e il suo progetto letterario, si concentrano sull’allestimento della label-autore nel mercato letterario come ›poeta d’impresa‹ (capitolo 6). Per ogni scena letteraria l’analisi descrive l’importanza della forma di auto-descrizione della distinzione tra forme primarie e secondarie per l’autodiagnosi della letteratura nella società contemporanea, come pure per la struttura dei testi e dei programmi letterari. I suddetti autori sviluppano un programma specifico nel quale il riferimento al mercato letterario, e soprattutto la ›sofferenza‹ della letteratura per le strutture sociali, ottiene un ruolo fondamentale. Tramite le scene letterarie, i testi di Kirchhoff, Maier, Gstrein e Händler tematizzano le condizioni della loro stessa produzione e mediazione e le inscenano nel medium di una riflessione quasi simultanea come interazione o affiatamento tra letteratura e mercato.
9 Literaturverzeichnis 9.1 Verzeichnis der Siglen DV EJ
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EP F FFK
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FS GW I L LK
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S SR ST Ü VES
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VL
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WG
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9.2 Quellenverzeichnis 9.2.1 Hinweise zur Zitation Zeitungsartikel werden ohne Seitenzahlen und nur dann vollständig, das heißt mit Untertitel zitiert, sofern sie (a) von einem der Korpusautoren (Kirchhoff, Maier, Gstrein, Händler) verfasst sind oder (b) ihr Untertitel für die jeweilige Argumentation von besonderer Relevanz ist. Internetquellen, die weder über einen explizit ausgewiesenen Autor noch über einen spezifischen Titel verfügen, sind gesondert angegeben; das Datum des letzten Zugriffs ist jeweils nach der URL in runden Klammern mit Tag, Monat und Jahr verzeichnet. Fernseh- und Radiobeiträge sind gesondert unter Angabe des Titels, des verantwortlichen Senders sowie des Datums der Erstausstrahlung aufgeführt.
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9.2.4 Verzeichnis der Fernseh- und Radiobeiträge erLesen (»mit Gert Voss, Gabriele Zuna-Kratky und Norbert Gstrein«) vom 29. September 2010, 19:15 Uhr (TW 1). Gespräche zur Buchmesse: Norbert Gstrein (Zeit Online), ohne Datumsangabe. Lesefest bei Radio Dreyeckland: Ernst-Wilhelm Händler vom 28. Dezember 2007, 18:00 Uhr (Radio Dreyeckland). Literatur im Foyer 09/09 mit Felicitas von Lovenberg vom 13. März 2009 (SWR). Trojan, Andreas: Diwan. Das Büchermagazin, in: Bayern 2 Radio vom 7. Oktober 2006.
10 Register 10.1 Personenregister Adler, H. G. 287–288 Ahrend, Torsten 178–180, 335 Ammann, Egon 327 Andersch, Alfred 428 Asserate, Asfa-Wossen 105–106 Balzac, Honoré de 381, 446 Becher, Johannes R. 428 Berg, Günter 179, 332, 335 Berkéwicz, Ulla 178, 257–258, 273, 276, 298, 314–341, 343, 355, 361, 363–364, 366, 382 Bernhard, Thomas 135–152, 178, 180, 182– 183, 212, 239–240, 245, 288–289, 357, 381, 421–422, 428 Biller, Maxim 7, 38, 362, 365 Böll, Heinrich 303, 428, 474 Böttiger, Helmut 75, 331, 334–335, 370, 373–375, 378–381, 425, 450, 457– 458 Canetti, Elias 381, 389 Dante, Alighieri 448 Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch 157, 174, 177, 228 Drews, Jörg 6, 15, 30, 39–40 Eichel, Christine 475 Encke, Julia 261, 273, 281, 298–302, 325, 344, 366 Enzensberger, Hans Magnus 105, 179, 330, 335, 452 Fleckhaus, Willy 314, 327 Földényi, László 38 Fontane, Theodor 231 Frisch, Max 327 Gauß, Karl-Markus 287–288 Gerstberger, Beatrix 261, 264–266
Gildo, Rex 432–434 Goethe, Johann Wolfgang 102–104, 107, 109–113, 122, 149, 328, 424, 463 Grass, Günter 7, 303, 428, 474 Greiner, Ulrich 38, 156–157, 162, 195, 199, 309, 330, 332, 336, 429–430, 459 Grond, Walter 475 Greno, Franz 452 Gruber, Sabine 261–266 Gstrein, Norbert 10, 251–367, 375, 431, 471– 472, 481–482 Habermas, Jürgen 327 Hacker, Katharina 179, 335 Hage, Volker 75, 92, 110, 124, 263, 340 Hagestedt, Lutz 379, 455–456 Handke, Peter 7, 265, 286, 301, 316, 323– 324, 436, 474, 476 Händler, Ernst-Wilhelm 11, 369–468, 471– 472, 481–482 Hauptmann, Gaby 459 Haussmann, Odette 47–53, 59 Hein, Jakob 423 Henneberg, Nicole 369, 381–382, 386, 392– 394, 459, 466–468 Hilbig, Wolfgang 29–30, 451–452 Hoppe, Felicitas 424 Hörisch, Jochen 91, 376–377, 412, 447–449 Houellebecq, Michel 47, 91–93 Jauch, Günther 205 Jessen, Jens 1–3, 5–7, 13–15, 17, 28–32, 38– 39, 43–44, 53, 244, 470–472 Johnson, Uwe 428–429 Joop, Wolfgang 205 Kafka, Franz 48, 316, 381, 389, 425, 459 Kämmerlings, Richard 257–258, 270, 273, 279, 361, 376, 380–382, 389, 422, 457, 459, 467 Karasek, Hellmuth 91
526
Register
Kehlmann, Daniel 179, 185–186, 334– 335 Keller, Gottfried 231 Kertész, Imre 179, 281, 334–335 Kirchhoff, Bodo 10, 47–130, 152, 185, 276, 342, 442, 459, 471–472, 481–482 Kleist, Heinrich von 428 Klüger, Ruth 336, 431 Köhler, Andrea 7, 252 Krause, Tilman 179, 360–361 Kuttner, Sarah 123, 125 Lacan, Jacques 61, 63, 69 Lavater, Johann Casper 362–363 Lewitscharoff, Sibylle 185 Löffler, Sigrid 91, 126, 274, 325, 363 Lovenberg, Felicitas von 123–124, 317, 319, 335 Lüdke, Martin 388, 425, 451, 461 Lukács, Georg 392 Mach, Ernst 389 Maidt-Zinke, Kristina 254–258, 395, 411, 460 Maier, Andreas 10, 131–250, 253, 274, 326, 375, 432, 471–472, 481–482 Mangold, Ijoma 75–76, 105, 179, 335–336, 370, 375, 378, 381, 386, 389–391 Martus, Steffen 75–76, 181–182 Meister Eckhart 154, 169 Michelstaedter, Carlo 154–155 Michalzik, Peter 328, 374 Moritz, Rainer 7, 75, 116, 252, 254–258, 275, 278, 308, 361–362, 416 Moser, Tilman 338–339 Musil, Robert 237, 381, 389–391, 394, 401, 427, 459 Novalis 353 Oswald, Georg M. 423 Pasolini, Pier Paolo 101, 236 Perthes, Friedrich Christian 469–470 Petrarca, Francesco 448 Picasso, Pablo 428
Politycki, Matthias 172 Proust, Marcel 149–150, 381, 459 Raabe, Wilhelm 228–235 Raddatz, Fritz J. 6, 38 Radisch, Iris 136, 183–189, 199, 232, 265– 268, 316, 321 Regener, Sven 423 Reich-Ranicki, Marcel 74, 77–78, 90–91, 126–127, 129, 431, 440–441, 443, 445, 474 Richartz, Walter 451–452 Roche, Charlotte 7, 10, 104, 114–125 Schirrmacher, Frank 252, 362, 439–446 Schröder, Christoph 181, 185, 187–188, 195, 238, 380, 458–459 Seibt, Gustav 200, 202, 210, 232, 234 Sichrovsky, Heinz 301–302, 365 Sontag, Susan 265 Springsteen, Bruce 351 Stadler, Arnold 157, 235–237, 371 Steiner, George 326–327, 430 Stifter, Adalbert 428 Suhrkamp, Peter 327, 430 Stolle, Peter 331, 337–339 Strubel, Antje Rávic 372 Tarantino, Quentin 98–99 Trojanov, Ilija 371–372 Trojer, Johannes 251–252 Unseld, Joachim 74, 128, 372, 376, 381–382, 384–388, 391–394, 411, 426, 430, 445– 447, 453–459, 461–463, 467 Unseld, Siegfried 10, 91, 127–128, 258, 298, 303, 308, 325–332, 334–337, 340, 343, 355, 364, 366, 373–374, 376–377, 429– 431, 457, 474, 477 Wallmoden, Thedel von 179 Walser, Martin 7, 10, 73–78, 104, 110–113, 115, 122, 126–130, 161–163, 179, 328, 331, 335, 362, 431–432, 440–446, 474, 476 Walther, Jens 331, 431, 475 Weidermann, Volker 200, 210, 248, 369– 370, 376, 386, 425, 458–459
Personenregister
Wilkomirski, Binjamin 7, 297 Winkels, Hubert 7, 15, 20, 60, 64, 249, 254, 256, 257, 273, 295, 319, 325, 331–332, 342, 370, 380 Wittgenstein, Ludwig 113, 451
527
Wittstock, Uwe 7, 15, 20, 53–54, 58–59, 61, 66, 68–69, 72–73, 102, 108, 125, 332, 339, 374, 417 Zeh, Juli 265
528
Register
10.2 Sachregister Agent 19–20, 311, 377, 412–413, 415–418, 432 Anakoluth 213–216 Aufmerksamkeit 2, 26, 47, 51, 54, 70, 75, 78, 80–81, 83–84, 86, 88–89, 93, 106, 114–115, 122, 128–129, 184–185, 193– 195, 199, 250, 253, 270, 285, 300–301, 326, 371, 415, 439–440, 442, 453, 470, 474, 476 Aufzählung 19–20, 67, 213, 215, 288, 396– 401, 437 Authentizität 63, 85, 93, 143, 156, 170, 261, 298, 319, 322, 455 Autoreninterview 53, 82, 183–184, 250, 259, 301, 413, 454–455 Autofiktion 56, 167, 171 Autorfunktion 10, 138, 153, 184, 247, 447, 453 Autorinszenierung 85–86, 121, 125, 141, 149, 169, 174–175, 181–182, 249, 253, 278, 283, 472 Beobachtung zweiter Ordnung 63, 177, 208, 242, 245 Bestseller 10, 59, 75, 86, 89, 97, 103, 107– 109, 114–115, 120, 122, 124, 126, 265, 308, 327, 352, 378, 407, 409, 412–413, 415, 418–420, 422–423, 429, 431–432, 460 Boulevard 2, 81, 83, 90, 201, 263, 269, 283, 286, 290, 306–307, 328, 331, 343, 366, 415, 432–433, 450 Brief, offener 440–446 Buchmesse 20, 74, 82–83, 90, 94, 122, 134– 135, 199, 307, 374, 414, 428 Code 32–33 Collage 93, 338, 385, 395, 399, 423–424, 426, 450 Debatte 7, 17, 19, 26, 31, 43, 69, 74–78, 105, 120, 128–129, 161–162, 172, 192, 194, 207–209, 236, 238, 252–253, 258, 275, 277, 297, 326–327, 335, 440–443, 472 Digression 313, 316, 342, 347, 396, 401– 404, 407, 409, 417
Dilettant/Dilettantismus 175–177 Esoterik 332, 339, 341 Essay 53, 57, 60, 61, 127, 131–135, 180, 280, 291, 327, 338, 341, 374, 381, 389, 396, 401–402, 409, 417, 427, 454, 459, 463– 466 Event 6, 19, 25–26, 38, 169, 285, 372, 472 Fakten 182, 231, 259–262, 264, 267, 269, 280–281, 287–288, 291, 297–298, 311, 344, 348, 351, 354, 361, 366–367, 399, 435 Feldtheorie 4, 8–9, 21–22, 37–38, 185, 206, 284, 460, 474 Feuilleton 7–8, 18, 20, 25, 31, 38, 47, 49, 59, 61, 68, 73–77, 86, 90–91, 94, 104, 110, 115–116, 127–128, 132, 134–136, 139, 144, 156, 172, 178–181, 185, 192–195, 199, 205, 209–210, 227, 238–242, 246, 248, 256, 267, 273–277, 279, 286, 298, 306, 315, 324–326, 328–343, 354–355, 360, 362, 364–367, 369–370, 375–376, 381, 385, 389–390, 396, 413, 416–417, 424–425, 428–431, 433–437, 439–445, 451–452, 454, 456–457, 459, 463–466, 468, 474, 476–479 Fiktion 57–58, 62, 74, 81, 93, 101, 104–105, 112, 117, 142–144, 152, 160–161, 172, 222, 226, 256–264, 267, 281, 287–288, 296–300, 331, 343–344, 349, 360–361, 364, 366, 384–385, 401, 411, 446, 453 Form, primäre und sekundäre 8, 29, 32–36, 53, 65, 107, 127, 135, 244, 251, 377 Fragment 348, 355–357, 389, 395, 399, 426– 427, 450 Gegenwartsliteratur 4–6, 73, 91, 157, 172, 335, 341, 369, 387–388, 451, 462 Genie 85, 176–177, 352, 415, 448 Gerücht 83–84, 141, 158, 162–166, 201, 212, 216–217, 226, 238, 247, 283, 298–299, 309, 317, 336, 343, 348, 361, 441 Gesellschaft 3–5, 16, 24, 31, 33, 52, 57–58, 65–66, 71, 106, 116, 118, 136, 155–157,
Sachregister
159–160, 165, 167–169, 173, 176, 234, 249, 256, 268, 271–272, 326, 371, 373, 382, 386, 392, 425, 437, 441, 446–447, 450–451, 462, 464–465 Gespräch 54, 57, 87, 112, 121, 123–127, 132– 135, 157, 160–161, 166, 173–174, 177, 182, 185, 198, 201, 214–215, 218–219, 223, 225, 227, 233–234, 243, 255–257, 275, 294, 298, 301–302, 321, 327, 334, 365, 370–373, 382, 385, 388, 392, 413, 430, 454–456, 461–463, 466–467 Grammatik 132, 134, 136, 159, 214, 246, 381–388, 391–394, 438, 444, 459, 466 Inszenierungspraktik 55, 169 Kippfigur 10, 113, 121, 125, 320 Klatsch 1, 6, 11, 84, 88, 201, 257, 283, 299, 302, 306–307, 309–310, 328, 331–332, 336, 343, 352, 355, 361, 366 Kommunikation, literarische 4, 8–9, 17, 23, 25, 29–38, 44, 48, 50, 53, 65, 82, 87, 90, 127–128, 130, 135, 146, 152, 167– 168, 171, 176, 210, 215, 270, 277–279, 304, 327, 342, 361, 375, 377, 404, 413– 414, 427, 443, 450, 453, 470, 472–473, 479 Konjunktiv 29, 131–136, 155–156, 169, 177, 224, 233, 239–240, 243, 246, 432 Körper 41, 43, 55–56, 59–64, 68–72, 84, 87, 92, 96, 106, 109–110, 112, 117, 120–121, 127, 318, 323–324, 331, 341, 362, 406, 411, 419 Kulturindustrie 17 Künstler 5, 33, 36, 69, 102, 143, 177, 192, 194, 222, 245, 273, 288, 304, 329, 389, 433, 471, 476, 479 Künstlerroman 479 Kunstsystem 31–33 Label 50, 52, 59, 113, 212, 240, 249, 256, 262, 363, 369–370, 453–454, 459, 463–465, 468, 482 Legende 52–53, 55–60, 62–63, 65, 69–72, 92, 110, 120–121, 129, 143, 329 Lektor 19, 105, 171–172, 179–180, 252, 308, 310–314, 323–325, 327, 334–336, 342,
529
355, 364, 413–414, 417–418, 445, 457– 459 Lektüreproblem 318, 378 Lesung 25, 89, 92, 119, 171, 221–222, 240– 241, 245, 248–249, 255–257, 307, 360, 371–374, 413, 419 Liste 19–20, 67, 170, 362, 395–399, 435– 438 Literarisches Feld 4, 6, 21–22, 26–27, 37, 84, 105, 185, 284, 287, 424, 460, 471 Literarisches Leben 16–17, 254, 475 Literaturbetriebsliteratur 9–10, 375, 471–479 Literaturbetriebsroman 474–479 Literaturbetriebs-Szene 8, 10–11, 28–45, 111, 135, 138, 171, 178, 183, 189, 204–205, 210, 237–238, 242, 246, 248, 250, 253, 277, 280, 298, 300, 302, 304, 306–307, 365–367, 375, 436, 441, 451, 453, 468, 471–474, 478–479, 481 Literaturfestival 25, 371 Literaturförderung 45, 89, 190–192, 238, 246, 250, 284, 378, 423, 461–462 Literaturhaus 1, 19–20, 33, 249, 254, 259, 261, 371, 378, 416 Literaturkritik 1, 19–20, 23, 27, 29, 32, 36, 59–60, 64, 68–69, 71, 74, 77–78, 81, 83–84, 86, 91, 104, 109, 125–126, 132– 133, 136–137, 161–162, 183–184, 186, 200, 208, 210–211, 234, 240, 252, 254, 261, 265, 269–270, 275, 277, 282, 299– 300, 311, 321, 336–337, 352, 361, 369, 372–374, 382, 391, 394, 416, 425, 429, 431, 440–441, 452, 460–461, 474–479 Literaturpreis 20, 89, 171, 191, 195, 283, 285, 378, 413 Literaturstipendium 178, 189–195, 198–203, 206–207, 209, 221, 227, 235, 238, 240– 244, 246–247, 418 Literaturskandal 1, 7, 10–11, 74–76, 78–80, 83, 85–86, 89, 91–93, 101–102, 109– 110, 114, 163, 170, 180, 201, 203, 217, 222, 239–240, 257–258, 270–280, 297–298, 300, 302, 325, 361–362, 432, 434, 442–444, 472 Literatursoziologie 4–5 Literatursystem 10, 17, 32–33, 36, 65–66, 81, 94, 168, 279
530
Register
Literaturvermittlung 1, 3, 17, 24–25, 27, 45, 68, 77, 80, 82, 85, 124, 184, 248, 253, 255, 268, 282, 372, 418, 455, 478 Literaturwettbewerb 178, 281–282, 285 Marketing 3, 26, 51, 65, 76, 78, 93, 97, 105, 114, 117, 128–129, 201, 270, 274–277, 279, 301, 309, 311, 334, 371, 378, 380, 415, 423, 430–432, 441–442, 455, 458, 460, 472, 474, 476, 481 Massenmedien 67, 69–71, 84–85, 90, 95, 193, 205, 302, 307 Marke 5, 134, 326, 428, 430, 478 Markt 2–3, 13–14, 17, 22–23, 30, 33, 45, 65, 75, 80–81, 85–86, 92, 108, 111, 116– 117, 122, 128, 259, 263, 274–276, 278, 291, 300, 304, 308, 312, 352, 372, 378, 415, 417, 419, 441, 452, 460, 469, 476 Medium 35–36, 51, 53, 56–57, 92, 100, 105, 119, 132, 138, 146, 152, 157, 160, 162, 164, 166, 168–169, 182, 213, 215–216, 226, 241, 245, 248, 250, 264, 285, 289, 296, 309, 325, 329, 333, 356, 361, 363, 376, 390–394, 398, 405–407, 418, 421, 426–427, 429, 432, 436–438, 440–442, 444, 446, 450–451, 455, 476, 482 Metafiktion 108, 295, 312, 354 Mündlichkeit/Schriftlichkeit 213–216, 241 Netzwerk 19–20, 304–306, 349–350 Öffentlichkeit, literarische 17, 21, 47, 50, 135, 180, 278, 305, 311, 374, 380 Ökonomie 84, 88, 93, 311, 464–465, 468 Organisation 16–17, 22, 28–29, 33–34, 43– 44, 48, 82–83, 123, 277, 283, 308–309, 310, 371, 374, 377, 414, 417, 471, 473– 474, 476, 478 Paratext 10–11, 34, 49–52, 76–77, 84–85, 115, 119, 123, 125, 139, 142–143, 186, 210, 212, 220, 224, 229, 248, 250, 253, 258–259, 280–281, 286, 292–293, 295–296, 300, 314, 325, 342, 347, 352, 354, 365–367, 382–383, 426, 441, 446–447, 450, 454, 463, 465, 468 Partisan 419–420 Plagiat 92
Poeta doctus 149, 449, 465 Poetikvorlesung 10, 55–58, 60, 67, 70, 93, 107, 138, 146, 152, 157, 160, 166–169, 173–174, 176, 178, 180–183, 226, 228– 229, 233, 381 Poetry Slam 25–26, 371 Politik 30, 181, 185, 201, 222, 275, 302, 330, 464, 467 Popkultur/Populärkultur 19, 25, 98–100, 104, 109, 113, 115, 351, 434 Posse 199, 201, 203, 206–209, 237–240, 242, 246–247, 250 Poststrukturalismus 62, 184, 228, 405, 477 Psychoanalyse (Lacan) 61, 63, 69 Ratgeberliteratur 86, 108, 264 Ready Made 97, 436 Realismus 117–118, 151–152, 172, 246, 346– 348, 350–351, 354, 358, 365, 413 Realität, reale und fiktionale 11, 82, 90–91, 98, 104–106, 122, 143, 155, 162, 202, 205, 218, 220–221, 227, 238, 249, 254, 256–258, 261–262, 268, 274–275, 279– 281, 286, 288, 293, 310, 324–326, 328–331, 334, 341, 343–345, 347, 350– 351, 358–360, 363–364, 366, 375, 377, 383–384, 392, 421–422, 427–428, 430–431, 433, 444, 446–447, 452, 474, 477 Realitätseffekt 11, 90, 200, 203, 229–230, 243, 249, 258, 286, 328, 330, 343, 346–347, 354, 358–359, 363, 374, 385, 428, 433, 435–436, 474, 476–477 Redeskription 9, 28, 279, 444, 473 Religion 107, 157–160, 236, 335, 340–341, 344 Schlüsselverfahren 90–91, 107, 110, 122, 201–202, 204, 218, 221, 231, 263, 274, 325, 341–343, 354–355, 362, 364, 428, 432, 476–478 Schreib-Szene 8, 41–44, 347 Schriftbildlichkeit 105, 154, 159, 211, 215– 216, 395, 438 Selbstbeschreibung 21, 30–32, 37–39, 55, 59, 149–150, 152, 164–165, 175–176, 188, 199, 206, 209, 223, 259, 277, 297, 302, 443, 471–472
Sachregister
Selbstbeschreibungsformel 8, 28, 30–32, 37–38, 40, 44, 461, 472 Selbstprogrammierung 35, 97, 123, 189, 200, 211, 227–228, 235, 237, 239, 248, 258, 273–274, 313, 344, 361, 365–366, 375, 378, 380, 404, 407, 427, 441, 446, 471, 477 Signifikant/Signifikat 62–63, 69, 150–151, 159, 322, 351, 355, 376, 396–398, 401, 405–406, 430, 449, 477 Soldat 419–420, 475 Sozialgeschichte 4–5 Sprache 41, 43, 60–62, 64, 67–68, 87, 101, 109, 131, 133–134, 154, 158–161, 166, 174, 207, 213–214, 225–226, 233–234, 236, 243, 265, 289, 298, 315–318, 320– 324, 336–337, 341, 353, 396, 398, 400– 401, 403 Systemtheorie 4, 9, 21, 23–24, 30, 32–37, 95, 116, 161, 163, 279, 390 Terrorist 62, 420 Unlesbarkeit 379–380, 394, 396, 398, 399, 401, 422, 451, 468 Verlag 1, 3, 10, 20, 23, 33, 47–48, 50, 75, 178–179, 181, 229, 251, 258, 264, 277, 299, 302, 306–313, 320–321, 326–328,
531
330, 332–333, 335, 340, 348, 374, 412– 415, 417, 429, 452–453, 456, 458 Verlagsorganisation 309–310, 374, 414, 417 Verlagsprofil 308, 414 Vermarktung 3, 23, 45, 75, 81, 85–86, 92, 111, 117, 122, 274, 300, 304, 352, 378, 419, 441, 476 Wahrheit 5, 56, 58, 62–63, 72, 92, 121, 131– 135, 138, 140–148, 151–155, 157, 159, 161–166, 168, 176, 182, 188, 201, 219, 222, 225–226, 231, 233, 261, 265, 317, 319, 321, 333, 343–348, 350–352, 362, 367, 441, 449 Werk 1–2, 5–6, 8–9, 11, 30, 33, 35–36, 39, 43, 48–49, 67, 80, 91–92, 96, 100, 105, 107, 110–111, 117, 125, 139–140, 142, 145, 149, 153, 164, 173, 186, 188–190, 193, 212, 216, 221, 227, 230, 240, 250, 255, 257–259, 265, 271, 273–275, 283, 291–292, 304, 306, 314–316, 336–337, 365, 369, 372–373, 383–389, 394, 408, 413–414, 422, 424, 426, 434, 436, 446–447, 450–451, 455, 457, 470–471, 473, 477, 478 Werkpolitik 125, 185 Wirtschaft 13, 16, 34, 65, 114, 190, 218, 249, 373, 377, 382, 388, 410–411, 422, 424– 426, 442, 450, 452, 460, 462–468