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German Pages 306 Year 2016
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen
Edition Kulturwissenschaft | Band 9
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels
Szenen des Virtuosen
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Inhalt
Vorwort | 7
T EIL I W AS IST VIRTUOS ? – D AS S PEK TRUM DER S TEIGERUNG Die Szene des Virtuosen Zu einem Topos von Theatralität Gabriele Brandstetter | 23
Applaus Die Gesten des Vir tuosen Bettina Brandl-Risi | 57
Virtuosen-Herrschaft Überlegungen zu Ausnahme-Per formances und Macht Kai van Eikels | 77
T EIL II D IE G ESCHICHTEN DES V IRTUOSEN Vom naturwissenschaftlichen Experiment zum Medien-Event Der Vir tuose als Grenz-Figur des Per formativen Gabriele Brandstetter | 103
Mignons Eiertanz Gabriele Brandstetter | 129
„Geisterreich“ Räume des romantischen Balletts Gabriele Brandstetter | 161
T EIL III Ü BER - UND U NTERBIETUNGEN : W OHIN WENDET SICH DAS V IRTUOSE ? Verwaltete Subjektivität, Detailarbeit, Musikermassen Acht Fragmente zur Modernisierung des Vir tuosen Kai van Eikels | 187
Neue Szenen des Virtuosen Überbietung und Imper fektion im Gegenwar tstheater Bettina Brandl-Risi | 231
Virtuos(es) Lesen Bettina Brandl-Risi | 269
Abbildungsverzeichnis | 299 Wiederabdrucke | 302 Zu den Autor/innen | 303
Vorwort
„Ist Schrempp jetzt der neue Paganini?“ So lautete die stirnrunzelnde Frage eines Theaterwissenschaftlers, als ihm aufging, dass wir bei unserem Forschungsprojekt Die Szene des Virtuosen allen Ernstes vorhatten, das Virtuose nicht nur in der Kunst, sondern ebenso in Ökonomie und Politik zu untersuchen. Der Daimler-Chef aus einer damals gerade zu Ende gehenden Epoche der schillernden Star-Manager, die im Ruf standen, aus den Belegschaften ihrer Unternehmen Spitzenperformance(s) herauszuholen wie der Teufelsgeiger aus seiner Stradivari – das schien die einzige plausible Übertragung, durch die der Begriff des Virtuosen im Kontext des Ökonomischen Sinn ergab. Und bedeutete das dann nicht eine unzulässige Ästhetisierung von Wirtschaft und eine Glorifizierung von etwas, das maximal grimmigen Respekt, im Grunde aber Verachtung verdiente, weil es nichts Größeres erbrachte als Profit? Auch die Vorstellung einiger Thesen von Hannah Arendt, die in Freiheit und Politik eine Nähe von performativen Künsten und politischem Handeln behauptet und den antiken Wert der arete, der Vortrefflichkeit im Handeln, mit dem neuzeitlichen Urteil der Virtuosität verknüpft, erntete auf einem kulturwissenschaftlichen Workshop über „Praktiken“ wütenden Protest. Wiederum ging der Vorwurf auf Ästhetisierung: Wenn Politiker Anerkennung bekommen für etwas Virtuoses und sich womöglich daraufhin ausrichten, diese Art von Anerkennung zu erlangen, fallen dann die Sachfragen, die Lösungen für dringliche Probleme, die verantwortungsvollen Pläne und Strategien unter den Tisch? Geht es nur noch um das Wie-esscheint statt um das Was-es-wird, um die mediale Selbstinszenierung der Akteure statt um substanzielle Beiträge zu Programmen, die helfen, das Leben der Menschen zu verbessern? Virtuosität in Ökonomie und Politik – das ließ Unternehmens-Paganinis und Parlaments-Paganinis vor dem inneren Auge aufklappen. Und während man über den Musiker Paganini
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vielleicht geteilter Meinung sein konnte, provozierte die Vorstellung von jemandem, der im Bereich des Ökonomischen und des Politischen ähnlich agierte, heftige Abwehrreflexe. Die beiden Reaktionen sind nicht nur deshalb gut geeignet, um den Blick auf die in diesem Band dokumentierten Forschungen unseres Projekts freizugeben, weil sie demonstrieren, dass Virtuosität auch im 21. Jahrhundert immer noch irritiert und die Gemüter erhitzt (und überhaupt das Verteilen von Anerkennung eher Kontroversen auslöst als die meist routiniert durchgenickte Kritik). In ihnen bündeln sich auch mehrere Irrtümer und Voreingenommenheiten, die auszuräumen ein Anliegen unserer Arbeit war und bleibt. Dabei handelt es sich keineswegs bloß um Informationslücken oder Trübungen des persönlichen Urteilsvermögens, sondern um Effekte einer Fraglosigkeit, die stille Abmachungen in der Allianz von bürgerlicher Kultur und akademischen Kultur-Wissenschaften schützt: die Überzeugung, der Ursprung von Begriff und Konzept des Virtuosen liege in der Kunst; die Unterstellung einer Deckungsgleichheit von Kunst und ‚dem Ästhetischen‘; und vor allem die Annahme, Kunst, Ökonomie und Politik seien zwar prozessual irgendwie verflochten, wertemäßig aber sauber voneinander abgrenzbare Bereiche mit ihren je eigenen Kriterien und einem spezifisch zuständigen Vokabular, das die Wertseparation bewacht. Angesichts der zahlreichen Forschungen, die ca. seit dem Jahr 2000 die wechselseitigen Abhängigkeiten und Transfers zwischen den Handlungsfeldern (oder Handlungsdimensionen) Kunst, Ökonomie und Politik zum Thema gemacht haben,1 mag die Empörung über ein Denken, das der Kunst mit der Ökonomie zu nahe rückt oder der Politik mit der Kunst, überraschen. Es scheint jedoch etwas anderes, ob man solche Transfers aus der sicher scheinenden Entfernung des Thematisierens bespricht oder ob man theoretisch mit einem Begriff wie dem Virtuosen arbeitet, der deren Bewegungen in sich austrägt, um dabei die Wirkungen
1 | Vgl. u.a. Netzwerk Kunst und Arbeit, Art Works. Ästhetik des Postfordismus, Berlin 2015; Yann Moulier Boutang, Le capitalisme cognitif. La nouvelle grande transformation, Paris 2008; Jan Verwoert (Hg.), Die Ich-Ressource. Zur Kultur der Selbstverwertung, München 2003; Marion von Osten (Hg.), Norm der Abweichung, Zürich/Wien u.a. 2003; historisch: Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002.
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und Konsequenzen des Begriffes in seinen Verwendungszusammenhängen zu reflektieren. Die Aufsätze im vorliegenden Buch lassen sich auf dieses riskantere Unterfangen ein: Obschon Anmerkungen zur Begriffsgeschichte und Analysen historischer Entwicklungen nicht fehlen, wollen sie keine Abrisse einer Kunstgeschichte der Virtuosität liefern, wozu bereits eine Reihe von Arbeiten vorliegen.2 Vielmehr geht es darum, das Virtuose und den Virtuosen – d.h. eine Figur der (Über-)Steigerung und die Inkorporierung dieser Figur in einem bestimmten Typ von Performer – vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart als ein Konzept zu erkunden, das im Kontext abendländischer Kulturen Grenzen des menschlichen Handelns angeht, sie im Zuge ihrer Achtung und Missachtung, ihrer Überschreitung, Um- oder Überspielung evident macht und den Wert dieser Evidenz in künstlerische, ökonomische oder politische Kalküle integriert.
2 | Wenn auch mit einem Fokus auf das 19. Jahrhundert und einer klaren Dominanz der Musikwissenschaft. Vgl. u.a. J. N. Burk, The Fetish of Virtuosity, in: Musical Quarterly 4 (1918), S. 282-292; Vladimir Jankélévitch, De la musique au silence V. Liszt et la rhapsodie. Essai sur la virtuosité, Paris 1979; Hanns-Werner Heister, Absolute Musik und angewandte Virtuosität. Das Konzert als nicht-mimetische Zeremonie, in: Jürgen Mainka/Peter Wicke (Hg.), Wegzeichen. Studien zur Musikwissenschaft, Berlin 1985, S. 132-178; Carl Dahlhaus, Virtuosität und Interpretation, in: ders. (Hg.): Neues Handbuch der Musikwissenschaft Bd. 6, Darmstadt 1997, S. 110-117; Herbert von Karajan Centrum (Hg.), Virtuosen. Über die Eleganz der Meisterschaft. Vorlesungen zur Kulturgeschichte, Wien 2000; Hanns-Werner Heister, Werk und Virtuosität. Zu Genese und Geltung der Trennung von Komponieren/ Interpretieren, in: Otto Kolleritsch (Hg.), Musikalische Produktion und Interpretation. Zur historischen Unaufhebbarkeit einer ästhetischen Konstellation, Graz 2003, S. 33-52; Hans-Otto Hügel, Die Figur des Virtuosen, in: ders. (Hg.), Handbuch populärer Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart 2003, S. 491-496; Dana Gooley, The Virtuoso Liszt. New Perspectives in Music History and Criticism, Cambridge u.a. 2004; Christian Kaden, Showgebaren und Suizid-Gesten: Virtuosität, in: ders., Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel 2004, S. 264-272; Heinz von Loesch (Hg.), Musikalische Virtuosität, Mainz u.a. 2004; Hans-Georg von Arburg (Hg.), Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne, Göttingen 2006.
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Es kommt uns darauf an, dieses Konzept und die Art und Weise, wie sich darin von Anfang an Kunst/Künste, Ökonomie und Politik verschränken, zu erkunden und zu erproben. Impulse für eine transdisziplinäre Forschung zum Virtuosen kamen besonders von Theoretiker/ -innen, die den Begriff des Virtuosen gebrauchen, um damit aktuelle Entwicklungen zu beschreiben oder auch bewusst voranzutreiben. Der italienische Philosoph Paolo Virno folgt der Virtuosität in ihre Ambivalenz, wenn er einerseits von einer „servile virtuosity“ spricht, einer sozio-ökonomischen Wendigkeit im Kommunikationsflow, die zum Profil postfordistischer work performance gehört, andererseits eine „non-servile virtuosity“ proklamiert, die sich der kapitalistischen Ausbeutung durch eine vermessene Leichtigkeit („intemperance“) entzieht.3 Die Organisationstheorie, die wirtschaftsnah an neuen Modellen für das Arbeiten und Zusammenarbeiten bastelt, befragt Jazz, Jamming, improvisatorische Praktiken in Theater und Tanz auf deren „collective virtuosity“ – scheinbar unbedarft, dabei jedoch auch wider Willen aufmerksam für die Probleme, die sich im Zuge von Übertragungen zwischen artistic performance und work performance ergeben.4 Die amerikanische Tanz- und Performance-Wissenschaftlerin Judith Hamera untersucht das Monströse des Virtuosen-Körpers in der Popkultur des 20. und 21. Jahrhunderts, etwa am Beispiel von Michael Jackson, von dem sie zeigt, wie sein Tanzstil ein nostalgisch verklärtes Industriezeitalter mit dem Flexibilitäts- und Lightness-Ideal des postindustriellen Kapitalismus zu vermitteln suchte.5 Unsere Auseinandersetzungen mit diesen und anderen Ansätzen haben zu einer Art strategischer Einsicht geführt: Eine Erkenntnisqualität kann der Virtuositäts-Begriff dann gewinnen, wenn ein Denken sich den wider-
3 | Vgl. Paolo Virno, Virtuosity and Revolution: The Political Theory of Exodus, in: ders./Michael Hardt (Hg.), Theory out of Bounds Bd. 7: Radical Thought in Italy. A Potential Politics, Minneapolis 1996, S. 189-212. Vgl. dazu auch Isabell Lorey, Die Regierung der Prekären, Wien 2012, bes. S. 95-116. 4 | Vgl. den Beitrag von Kai van Eikels Virtuosen-Herrschaft, bes. S. 90-95. 5 | Vgl. Judith Hamera, The Romance of Monsters, Theorizing the Virtuoso Body, in: Theatre Topics 10:2 (2000), S. 144-153; dies., The Precarious Excellence of Michael Jackson: Dancing American Deindustrialization, in: Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.), Prekäre Exzellenz. Künste, Ökonomien und Politiken des Virtuosen, Freiburg i.Br. 2012, S. 121-128.
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sprüchlichen Effekten aussetzt, die seine Verwendung auslöst, ohne dabei die Widersprüche aus dem Blick zu verlieren. Eine Erörterung des Virtuosen verlangt Achtsamkeit für die Affekte im Verhältnis zu dem, was sich jeweils für virtuos ausgibt und dafür ausgegeben wird – für die eigenen nicht minder als die von anderen, die kollektive Konstellationen des Reagierens bilden, ob Publikum oder Peer-Group. Sich mit dem Virtuosen einzulassen, ist wichtig für eine Erforschung, weil sonst das prekäre, stets anfechtbare und verdächtige, eben in seiner Zweifelhaftigkeit aber Befürworter und Gegner gleichermaßen aus der Reserve lockende Wesen von Virtuosität im Anschein der Versachlichung zu verschwinden droht. Das Urteil „virtuos!“ ist selbst genuin unsachlich.6 Es enthält einen Exzess an Wertzuschreibung, ein Zuviel, das es zugleich als Akt der Anerkennung fragwürdig macht. Es lässt sich weder phänomenal objektivieren noch in einer allgemein nachvollziehbaren Evaluation verankern. Damit Virtuosität evident wird, bedarf es auch auf der Seite des (oder der) Reagierenden einer gesteigerten Affektivität, eines sich in Jubel oder Buh-Rufen, Verzückungen oder Entrüstungsstürmen äußernden emotionalen Einsatzes, von dem wiederum der virtuose Performer Unterstützungen und Herausforderungen bezieht. Virtuosität bezeichnet die Interrelation zwischen zwei Steigerungen, zwei Wegen ins Extreme – und diese Dynamik affiziert auch die Debatten um das Virtuose. Virtuos Genanntes fügt sich niemals den Erwartungen an einen neutralen Namen für etwas, das man als Gegenstand behandeln könnte. Selbst das Ausweichen auf die Ebene der ‚Diskurse über...‘ entkommt nicht jener doppelten Übertreibung, die überall da bereits in Kraft ist, wo vom Virtuosen die Rede ist: positive Übertreibung einer Begeisterung, die mitschwingt, wo alles sich um ein Begeisterndes dreht, das selbst ungreifbar bleibt und nur in Reaktionen (über-)lebt; negative Übertreibung eines Abscheus, einer Übersättigung, einer Abkehr vom Zwielichtig-Vulgären dessen, was andere möglicherweise grundlos in Begeisterung versetzt. Eine für seine Widersprüche sensible Auseinandersetzung mit dem Virtuosen, wie die hier gesammelten Texte sie beabsichtigen, muss ein ums andere Mal in der einen oder anderen Wendung durch diese Werteambivalenz und ihre Affektivitäten hindurch. Sie muss ihre Position 6 | Vgl. dazu auch Kai van Eikels, Lemma „virtuos“ in: Anna Bromley/Michael Fesca/Sara Hillnhütter/Eylem Sengezer/Olga von Schubert (Hg.), Glossar inflationärer Begriffe – von [dilettantisch] bis [virtuos], Berlin 2013, S. 185-194.
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innerhalb der Kollektive bestimmen, die historisch und gegenwärtig Szenen des Virtuosen bevölkern. Anders als bei dem von Kant gedachten ästhetischen Urteil (dem sie sich gleichwohl aufpfropfen kann) informiert die Begeisterung für oder gegen das Virtuose keine ungesellige Geselligkeit, in der die Individuen sich zu einander wie besonnene Abgeordnete einer ästhetischen Gemeinschaft verhalten, sondern einen sozusagen hypersozialen, die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht treibenden Streit. Zweifelnd nach den Evidenzen des Virtuosen zu fragen, kann einem die Anwesenheit in einem Publikum verleiden – oder den eigenen Willen zur Partizipation an diesem Kollektiv, das zwischen Devotion und Aufbegehren schwankt, erst recht stärken. Es kann die Suche nach anderen Formen kollektiver Organisation als der des Publikums motivieren, die den Akzent auf Performer-zu-Performer-Beziehungen verlegen und die Rolle des Überwältigten aus den dramatis personae des Zusammenseins streichen. Oder Versuche anleiten, die Machtverhältnisse zwischen Virtuosen und denjenigen, die sich mit ihrem Selbstgenießen synchronisieren, anders zu interpretieren – etwa als Konkurrenz und Ko-Evolution von Kompetenzen, in deren Verlauf Stars und Fans zu Experten für einander werden. In jedem Fall sollte eine Verhandlung des Virtuosen dort ansetzen, wo die Selbstvergewisserungen einer Kulturindustrie, die sowohl die Reste bürgerlicher Kunstverehrung als auch die Massenunterhaltung bedient, heute für gewöhnlich aufhören: bei den starken Emotionen, die Performen bei Performenden und der Performance Beiwohnenden katalysiert. Dafür, dass das Virtuose diese Macht der Emotionalisierung hat, wird man im 21. Jahrhundert ebenso Belege finden wie vor zweihundert Jahren. Die Fragen sind jedoch: Welche Emotionen? Was bewirken sie in den Situationen des Performens und Beiwohnens, so wie diese eingerichtet sind? Welche Formen des Verhaltens oder Agierens erleichtern, welche erschweren oder verhindern sie? Welche Semantiken halten die Diskurse, die sich um den Begriff performance organisieren, für die sinnhafte Einordnung solcher Emotionen bereit? Wessen Interessen artikulieren die Semantiken mit dem, was sie dem Virtuosen zu- und absprechen? In der Perspektive dieser Fragen treten die in den Begriff des Virtuosen eingeschriebenen Beziehungen zwischen Kunst, Ökonomie und Politik konkret hervor: Wer profitiert bspw. davon, dass Menschenmengen ihre Unterwerfung unter einen ungleich besser Scheinenden als erhebend erleben und reale Vergleiche zwischen jenem Einen und einem von ihnen zugunsten eines Glaubens an „Charisma“ suspendieren? Welchen
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Prozessen kommt zugute, dass eine unverhältnismäßige Leichtigkeit mit Verweisen auf eine metaphysische Größe, auf etwas Göttliches oder Diabolisches erklärt wird, anstatt von diesem Unverhältnis her die Voraussetzungen einer Mechanik des Sozialen mit ihrer Implikation einer ‚sozialen Schwerkraft‘ in Frage zu stellen? Welche Funktion erhält in einer Gesellschaft, die in ihren offiziellen Repräsentationen sozialen Status an Leistung knüpft und eine Vielzahl von Leistungsmaßstäben und -messverfahren etabliert, der Erfolg von etwas, das umso erfolgreicher ist, je zweifelhafter es als Leistung bleibt? Was zählt überhaupt als Leistung, wenn die Gleichung von aufgewendeter Mühe und Lohn nicht mehr greift und die Kontingenz von Effekten in die Berechnungen einfließt? Wie transformiert sich das in Tanz und Musik des 19. Jahrhunderts so einflussreiche Prinzip, den Körper in gnadenloser Selbstdisziplin zu trainieren, um im Aufführungsereignis an die Grenze des Kontrollierbaren zu gehen, in den Erfolgsstrategien von Moderne und Postmoderne? Was für Veränderungen unseres Werte- und Bewertungssystems teilen sich dort mit, wo die gekonnte Unterbietung von Performance-Standards ebenso, womöglich noch mehr zu begeistern vermag als deren Überbietung und Virtuosen des Imperfekten die neuen Abräumer sind? Was passiert mit Menschen, die den Unterschied zwischen Genie und Virtuose beim Wort nehmen und davon ausgehen, dass unabhängig von einer ‚Begabung‘ jeder virtuos werden kann: also auch sie, als Dilettanten, sofern sie nur einfach anfangen, das Gewünschte zu praktizieren? Diesen und ähnlichen Fragen gehen die Beiträge dieser Anthologie nach. Eine polarisierende Kraft wohnt dem Virtuosen inne, seit in der Renaissance aus dem Begriff der virtus/virtù (der ‚männlich‘ konnotierten Tugend des aufrechten Handelns) virtuosità und virtuosismo entstanden, womit der Akzent sich vom Moralisch-Guten immer stärker zu einer in sich selbst Evidenzen findenden Größe des Besseren verschob – einem Erstaunlich-Besseren, dessen Suggestivität als Gegen-Wert die Einheit von ‚großer Tat‘ und rechtmäßig/autorisiert ‚guter Tat‘ zersetzte.7 Agieren im Zeichen von Virtuosität forderte schon im 17. Jahrhundert Institutionen und autoritative Diskurse heraus: Die „Projektemacher“, die mit wissenschaftlichen Mitteln quasi magische Wirkungen zu erzielen versprachen (und damit auch immer wieder Geldgeber hinreichend faszinierten), 7 | Vgl. H. G. Koenigsberger, Politicians and Virtuosi. Essays in Early Modern History, London 1986.
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zogen ebenso gelehrten Spott auf sich wie Neugier.8 Die virtuosi, die als Amateure wissenschaftlich experimentierten, etablierten mit ihrem Networking avant la lettre, aus dem in England die Royal Society entstand, Organisationsformen des Forschens in Konkurrenz zum Universitätssystem.9 Um 1800 finden sich Szenen des Virtuosen auf den Marktplätzen der Städte, wo Experimentatoren spektakuläre physikalische und chemische Prozesse vorführen, als seien es Theaterstücke, und Ingenieure Automaten ‚wunderbare‘ Dinge tun lassen.10 Sie sind der öffentliche, bald als unseriös abgewertete Part einer sich konstituierenden empirischen Wissenschaft, dessen Relevanz die Wissenschaftsgeschichte wiederentdeckt, nachdem sie begonnen hat, sich für die epistemischen Effekte von experimentellen Praktiken, Darstellungs- und Präsentationsformaten zu interessieren.11 Diese populären Darbietungen einer wissenschaftlichen Virtuosität faszinieren auch Autoren wie Heinrich von Kleist oder die Romantiker und gelangen auf diesem Wege in künstlerische Experimente und kunsttheoretische Debatten.12 Die Spannung zwischen extremen positiven und negativen Affekten prägt ebenfalls das Erscheinungsbild des Virtuosen auf derjenige Szene, die im 19. Jahrhundert zur Domäne von Virtuosität avanciert und den common sense, was Virtuosität sei, bis heute dominiert: die Bühne, auf der die performativen Künste Musik, Tanz und Theater sich einem bürgerlichen Publikum präsentieren. Instrumentalsolisten wie Paganini und Liszt, Sängerinnen wie Jenny Lind und Maria Malibran, Tänzerinnen wie
8 | Vgl. Jan Lazardzig, Projektemacher als Virtuosen des Wissens?, in: Brandstetter/Brandl-Risi/van Eikels (Hg.), Prekäre Exzellenz, S. 37-56. 9 | Vgl. u.a. D. G. C. Allan/John L. Abbott (Hg.), The Virtuoso Tribe of Arts & Sciences. Studies in the Eighteenth-Century Work and Membership of the London Society of Arts, Athens 1992. 10 | Vgl. Paul Metzner, Crescendo of the Virtuoso. Spectacle, Skill and Self-Promotion in Paris during the Age of Revolution, Berkeley u.a. 1998. 11 | Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentelle Virtuosität, in: ders.,/Norbert Haas/Rainer Nägele (Hg.): Virtuosität, Eggingen 2007, S. 13-28; H. M. Collins, Public Experiments and Displays of Virtuosity – The Core-Set Revisited, in: Social Studies of Science 18:4 (1988), S. 725-748. 12 | Vgl. Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hg.), Genie – Virtuose – Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik, Würzburg 2011.
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Marie Taglioni und Fanny Elßler, etwas später dann als virtuos geltende Schauspieler und Schauspielerinnen wie Frédérick Lemaître, Sarah Bernhardt oder Eleonora Duse – diese Performer sind die ersten modernen Superstars in der Kunstwelt und auch die ersten großen Unternehmer ihrer selbst, die durch europa- oder weltweite Tourneen Vermögen einspielen. Zu den Spuren dieser Virtuosen zählen neben zahllosen, mehr oder weniger kunstvoll übertriebenen Anekdoten über frenetischen Beifall, Ohnmachten, erotische Ekstasen im Publikum Anfeindungen, Verdächtigungen, Theaterverbote, Einwände fremd- oder selbsternannter Kenner, die behauptete Exzellenz sei bloß Blendung, Scharlatanerie, Mätzchen, substanzlose Effekthascherei.13 Kooperation mit dem Publikum und der sich parallel etablierenden Instanz des (virtuosen) Kritikers und Kampf gegeneinander gehen immer wieder ineinander über. Der Virtuosen-Auftritt, so (un-)authentisch, wie er sich aus den Dokumenten rekonstruieren lässt, oszilliert zwischen ereignishafter Gemeinschaftsstiftung und Schlachtfeld. Genau darin liefert er ein aufschlussreiches Beispiel für ein gezielt eskalatives, zugleich elitäres und populistisches Affektmanagement, von dem Performer bis heute lernen. Das gilt sicherlich auch für die populistischen Provokateure in einer Spektakel-Politik, die sowohl die Identität einer Gemeinschaft als auch die Energien eines ‚anarchischen‘ Kampfes gegen ‚das Establishment‘ für ihre Selbstinszenierung beschwören. Der Vorwurf, im Zusammenhang mit Politik vom Virtuosen zu sprechen, rede einer Ästhetisierung des Politischen das Wort, verfehlt dennoch die (problematische) Disposition des Virtuosen. Und zwar schon deshalb, weil Virtuosität niemals wirklich zu einer ästhetischen Kategorie hat werden können. Die Kunstkritiker und Kunsttheoretiker des 19. Jahrhunderts registrieren den Widerstand des Virtuosen dagegen, sich in das Wertesystem der Ästhetik zu fügen. Auch wenn man Synthesen versucht und bspw. Virtuose und Genie zusammenpresst, tut die selbst noch junge, um die Würde der Kunst ringende ästhetische Sensibilität des 19. Jahrhunderts sich schwer mit dem, was sie im Auftritt des Virtuosen an Kunstfremdem wahrnimmt. Leichthin gleichgültig gegen das Werk, sich eigenhändig vom Dienst am Ganzen befreiend, entfernt die virtuose Steigerung sich nicht nur von der ‚orga-
13 | Vgl. Konstanze Fliedl, Das ist die Kunst mir nicht wert. Virtuositätskritik um 1900, in: Arburg (Hg.), Virtuosität, S. 235-249.
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nischen‘ Harmonie ausbalancierter Proportionen. Die Performance verrät in ihren selbstherrlichen Steigerungsgebärden immerzu, wie wenig es ihr um etwas wie Schönheit und gar deren Erfahrbarkeit geht: Auf der Szene der Kunst nimmt sich der Virtuose eine Freiheit heraus, welche die eben erst eingeführten Vorrechte ästhetischer Autonomie für ein politisch-metaphysisches Führertum usurpiert.14 Im Schutz bürgerlicher Vorstellungen vom Kunstgenuss – jener diplomatisch-diskreten Synthese aus interesselosem Wohlgefallen, der Gewissheit, durch die Rezeption von Kunst subjektiv viel zu gewinnen, und einem ‚Sinn gegen Geld‘-Kalkül – verlegt der Performer sich auf das Erzeugen eines performativen Mehr, das er als solches verwendet, um die Versammlung der Anwesenden zu bannen. Und zugleich verzehrt er dieses Mehr vor den Augen seines Publikums, ist sichtlich der Erste, der sein eigenes Können genießt. So irritiert der Virtuose als Spiegelbild, Überbietung und groteske Verzerrung des um 1800 in Kunst entdeckten ökonomischen Potenzials, das einige radikale Varianten von Ästhetik (wie Novalis’ „schöne Oeconomie“15) explizit feiern, der Mainstream ästhetischer Theorie jedoch auf den Spuren Schillers eher sublimiert. Hegel vollzieht eine für seine Epoche symptomatische Operation, wenn er den Virtuosen in zwei Figuren spaltet – einen ‚wahren‘ und einen ‚bloßen‘ Virtuosen, von denen nur der erstere in der ästhetischen Ordnung Platz findet, während der letztere herausfallen muss. Der ‚wahre‘ Virtuose ist derjenige, der „im Vortrage komponiert, Fehlendes ergänzt, Flacheres vertieft, das Seelenlosere beseelt und in dieser Weise schlechthin selbständig und produzierend erscheint“.16 Er ist ein Performer14 | Zum Virtuosen als Führerfigur vgl. Wilfried Nippel, Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, München 2000; Michael Gamper, Genies und Virtuosen der Macht. Über die Emergenz einer politischen Schwellenfigur der Moderne in den Medien der Romantik, in: Brandstetter/Neumann (Hg.), Genie – Virtuose – Dilettant, S. 99-114. 15 | Vgl. zur Beziehung von Kunst und politischer Ökonomie und zur „sittlichen Virtuosität“ bei Novalis: Kai van Eikels, Freie Bereicherung, raffinierte Glückseligkeit: Das Virtuose im ökonomischen und politischen Denken der Romantik, in: Brandstetter/ Neumann (Hg.), Genie – Virtuose – Dilettant, S. 67-98. 16 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke in 20 Bänden, Bd. 15, Frankfurt a.M. 1986, S. 220. Vgl. auch Erich Reimer, Der Begriff des wahren Virtuosen in der Musikästhetik des späten 18. und frühen
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doppel des Schöpfer-Künstlers und zugleich dessen arbeitsteiliger Partner. Der ‚bloße‘ Virtuose hingegen, dessen technisch Besseres sich dagegen sperrt, in den Dienst des Schöpferischen zu treten, bleibt suspekt. Weniger um Integration des Unpassenden bemüht, begegnet die ästhetische Theorie des 20. Jahrhunderts dem Virtuosen überwiegend mit offener Ablehnung. Adorno spricht von „Herrschaft als Spiel“17 und pointiert damit das ästhetisch Inakzeptable von Virtuosität: Die Instrumentalisierung der ästhetischen Dignität von Kunst für irreguläre Gewinne, die ihren ökonomisch und politisch interessierten Charakter durchblicken lassen, kommt den Spekulationen auf eine gute, gesellschaftlich bildende Kraft ästhetischer Autonomie in die Quere. Die spielerische Freiheit des Virtuosen droht vorab das zu vergiften, was den zum Publikum versammelten Subjekten ästhetischer Erfahrung von autonomer Kunst an Befreiung geschenkt werden soll. Die Lust am exzessiv-riskanten und dabei strukturell verantwortungslosen Steigern der Performance kontaminiert das Genießen eines freien Spiels der subjektiven Vermögen, welches das Ästhetisch-Schöne zur Analogie des Moralisch-Guten qualifiziert. Die heute vorherrschende Verengung des Verständnisses von Virtuosität auf ‚die Kunst‘, gleichgesetzt mit ‚dem Ästhetischen’, vergisst diese Konflikte, die bis in die Entstehungsphase der ästhetischen Theorie zurückdatieren. Die Verengung ist wiederum eingelassen in eine noch umfassendere Reduktion, die das Erbe des von Jacques Rancière so genannten „ästhetischen Regimes“18 darstellt: Die ästhetisch bestimmte Sphäre der Kunst ist für uns zum einzigen Bereich geworden, in dem wir uns Zweckfreiheit denken können. Das Ökonomische und das Politische haben sich demgegenüber zu Verwaltern einer ‚harten‘ Realität zusammengeschlossen, die funktionelles Vorgehen zum Erreichen gesetzter Ziele bzw. Herstellen gewünscht-gewollter Zustände benötigt. Bei den Freiheiten, die dieser Realität entsprechen, handelt es sich um gebundene 19. Jahrhunderts, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis XX (1996), S. 61-71. 17 | Theodor W. Adorno: Mahler. Eine musikalische Physiognomik, in: ders.: Die musikalischen Monographien. Gesammelte Schriften XIII, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1971, S. 305f. 18 | Vgl. zur Unterscheidung eines ethischen, poetischen und ästhetischen Regimes Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006.
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Freiheiten-zu: Freiheiten, die sicherstellen, dass Lebenstätige über jene Möglichkeiten verfügen, die Bedingung dafür sind, die Welt zu bearbeiten. Daher überkommt uns der Verdacht, die Zweckfreiheit des Ästhetischen werde unbotmäßig für etwas beansprucht, das sich durch konkrete Zwecke, zweckdienliche Strategien und verhältnismäßigen Gebrauch der Mittel auszuweisen hätte, wo jemand politisches Handeln oder ökonomisches Agieren mit dem Virtuosen assoziiert. Durch ihre Einrichtung einer Autonomiezone mitten im Abhängigkeitsgeflecht des Lebens ist Ästhetik zum Motor eines Outsourcing des Nichtfunktionellen geworden: Die über zweihundert Jahre wiederholte Versicherung, etwas an der Kunst (nicht ihre Produktion, aber etwas, was sich in ihrem Erfahren ereignet) verteidige als letzte Instanz die Freiheit-von gegen all jene Zumutungen der Zweckrationalität, mit denen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ihre Subjekte dazu provoziert, sich regierbar zu machen, hat in fataler Weise mit der Eliminierung dieser Freiheit aus dem politischen und ökonomischen Denken kooperiert. Das ästhetische Projekt, eine Freiheit zu konstruieren, welche die aristokratische Bestimmung der Freiheit als ‚Freiheit von der Notwendigkeit zu arbeiten‘ mit der bürgerlichen Bestimmung der Freiheit als ‚Freiheit zum tätigen Sein‘ moderiert, ersinnt mit der Kunsterfahrung eine (Un-) Tätigkeit, in der beide vereint und ineinander ausgeglichen scheinen können. Der kulturelle Erfolg dieses Projekts hat unfreiwillig die Blindheit für das verdichtet, was sowohl am politischen Handeln als auch am ökonomischen Agieren in je unterschiedlicher Weise als zweckfreie Dimension im Spiel ist, seit polis und oikos keine festgesetzten Orte mehr bezeichnen, sondern Unterscheidungsgrößen einer Selbstermittlung des Sozialen: In der Politik geht es nie nur um die Effektivität und Effizienz von Maßnahmen, sondern stets auch um das Entscheiden selbst – um das Wer und Wie und darum, was von etwas zu halten ist, für das sich politisch Handelnde entscheiden, wenn sie es um seiner selbst willen vorziehen und nicht, weil sich damit irgendetwas vorgeblich Notwendiges kostengünstiger, schneller oder mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit erreichen lässt. Wir haben niemals ganz aufgehört, politische Entscheidungen und Taten auf ihre eigene Größe hin zu betrachten und zu bewerten. Die offiziellen Begriffe von Politik (und das sind seit Mitte des 18. Jahrhunderts die einer politischen Ökonomie) bringen diese Affekte jedoch zum Verstummen; sie entziehen ihnen, wenn nicht die Stimme, so doch die Worte, mittels derer unsere Stimmen Wertschätzung für die Größe politischer
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Handlungen diesseits äußerer Zwecke zur Sprache zu bringen wüssten. Deshalb verlernen wir den Gebrauch dessen, was Giorgio Agamben das „Mittel ohne Zweck“ genannt hat: „Politik ist die Darbietung einer Mittelbarkeit, das Sichtbarmachen eines Mittels als solchem. Sie ist weder die Sphäre eines Zwecks an sich, noch die Sphäre der einem Zweck untergeordneten Mittel, sondern die einer reinen Mittelbarkeit ohne Zweck als Feld des menschlichen Handelns und Denkens.“19 Und auch die Ökonomie, die Viele für die angestammte Domäne der Zweckrationalität halten und die sich in ihren betriebs- und volkswirtschaftlichen Repräsentationen gern selber so darstellt, kam und kommt nicht ohne eine Größe ökonomischen Agierens aus, in der dieses sich selbst als Mittelbarkeit erlebt und in seiner Entfaltung genießt. Walter Benjamin hat das in seinem Diktum vom religiösen Charakter des Kapitalismus erfasst, supponiert jedoch mit der Religion nur ein weiteres System, in dem das Irrationale prominenter ans Licht tritt (und von dem Kunst Etliches erbt, wo sie im 19. Jahrhundert metaphysische Aufträge übernimmt). Für den Irrationalismus der Ökonomie dürfte maßgeblicher noch als die Kollaboration von Glaube und Verzweiflung die Vollziehenslust an der Steigerung sein.20 Wer sich weigert, diese Lust zu kennen, wird ökonomisches Vorgehen weder in seiner Attraktivität für diejenigen, die es betreiben, noch in seiner Abgründigkeit, in der Gewissenlosigkeit und triebhaften Stumpfheit seines Aufs-Spiel-Setzens ermessen. Unsere Analysen verschiedener Szenen des Virtuosen versuchen eine kulturelle Kartographie der Beziehung von zweckfreiem Genießen und (Selbst-)Instrumentalisierung, die die Bedeutung einer Freiheit-von für Politik und Ökonomie nicht unterschlägt zugunsten ästhetischer Privile19 | Giorgio Agamben, Noten zur Politik, in: ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin 2001, S. 105-144, hier S. 111. 20 | Eine Einsicht, die Benjamin streift, wenn er schreibt: „Der Typus des kapitalistischen religiösen Denkens findet sich großartig in der Philosophie Nietzsches ausgesprochen. Der Gedanke des Übermenschen verlegt den apokalyptischen ‚Sprung‘ nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die scheinbar stetige, in der letzten Spanne aber sprengende, diskontinuierliche Steigerung. Daher sind Steigerung und Entwicklung im Sinne des ‚non facit saltum‘ unvereinbar.“ (Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion [Fragment], in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, Bd. VI, S. 100-102, hier S. 102)
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gien (nach denen die Think Tanks der politischen Ökonomie dann umso gieriger die Finger ausstrecken, wenn sie ‚den Künstler‘ als role model scannen). Das will auf alles andere als eine Idyllisierung des Politischen und Ökonomischen hinaus. Der Vorwurf einer Ästhetisierung verrät halb ausdrücklich Unmut darüber, dass dem Ästhetisierten ein Sympathiewert überschrieben werde, der ihm nicht gebühre: Politik und Wirtschaft haben in ihren Motiven trivial und widerwärtig zu sein. Achtung zollt man ihnen dort, wo aus den schlechten Motiven Vorteilhaftes entsteht (die Smith’sche Kapitalismus-Formel vom individuellen Egoismus als Triebkraft für das Gemeinwohl formuliert genau dieses Prinzip, und für die Suggestivität ihrer Logik war die Solidität des Niederen am Ursprung der Aktivität stets wichtiger als das luftige Versprechen von Kollektiveffekten). Die Hypothese, dass künstlerische Performance, politisches Handeln und ökonomisches Agieren ein Motiv und eine Motivation gemeinsam haben – ein Gemeinsames, das der Begriff des Virtuosen in allen sachlichen Aufteilungen und institutionellen Separationen wieder in Erinnerung ruft –, muss einer solchen Moralisierung doppelt ungelegen sein: Diese Hypothese durchkreuzt die Abschiebung einer ‚Realpolitik‘ und einer ‚Realökonomie‘ (Wirtschaft) aus der Welt dessen, was Künstlern und Kunsttheoretikern am Politischen und Ökonomischen genügend gefällt, um sich ein bisschen damit zu befassen. Und sie stört jene Sympathie von Kunst für sich selbst, die daher kommt, dass Künstler, Publikum und Kommentatoren sich – sogar und besonders in den Ausbrüchen aus dem goldenen Käfig des Autonomen, die mehr Kontakt mit dem ‚wirklichen Leben‘ fordern und Gefahren einzugehen streben – auf die Harmlosigkeit des Gemachten verlassen. Eine politisch-ökonomische Analytik des Virtuosen enthüllt den keineswegs harmlosen Charakter wirklich in Anspruch genommener Zweckfreiheit, den deren Einengung auf das Ästhetische euphemisiert. An welcher Praxis sie jeweils auch bemerkt wird, verweist Virtuosität auf einen eigenen Wert des Steigerns, auf eine selbst haltlose, aber für Kulturen des Performativen wesentliche Verehrung jener Freiheit, die Steigerung in dem Moment zeigt, da sie sich von sämtlichen Werten des Gesteigerten emanzipiert, sich im Beliebigen verliert und findet. Der Gebrauch dieser Freiheit zeichnet das lässigste und zugleich das hässlichste Selbstportrait dessen, was wir in griechisch-abendländisch-globaler Expansion ‚den Menschen‘ nennen. Beide Seiten dieser janusköpfigen, mehr noch januskörperlichen Freiheit bedürfen der Exploration, um die historische
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Genese und aktuelle Situation der Wechselbeziehungen zwischen Kunst, Politik und Ökonomie zu verstehen. Und über alldem gilt es nicht zu ignorieren, dass andere Kulturen ohne eine dem Virtuosen entsprechende Vorstellung von unendlicher Steigerbarkeit des Vollziehens ausgekommen sind. Das Virtuose ist weder natürlich noch notwendig – und eben seine kulturelle Kontingenz gibt Anlass zu der Frage, welche Kräfte darin wie zusammenwirken. *** Die in diesem Band versammelten Texte sind hervorgegangen aus der sechsjährigen Arbeit im Projekt Die Szene des Virtuosen am Berliner Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“. Dabei haben wir je nach persönlicher Perspektive stärker tanz-, theater- und literaturwissenschaftliche, philosophische oder soziologische Akzente gesetzt, und diese Unterschiede der Positionen und Sichtweisen spiegeln sich auch in den Beiträgen wider. Die vorliegende Anthologie ist deshalb nicht als kohärentes Gesamtwerk zu begreifen, das lediglich arbeitsteilig verfasst worden wäre. Sie bietet mit ihren Anknüpfungen, Querverweisen, Überschneidungen und Abweichungen eine realitätsgetreue Ansicht des Zusammenarbeitens von drei eigenständig und eigenwillig Denkenden – und gewährt damit (wie wir hoffen: aufschlussreiche) Einsicht in die Dynamik dessen, was man im Deutschen mit dem wenig erotischen Wort „Verbundforschung“ bezeichnet. Ohne die disziplinäre und epistemologische Offenheit des Arbeitens im Sonderforschungsbereich wäre ein solches Projekt nicht möglich gewesen. In einer Phase, da Verwaltungsängste die Grenzen um die akademischen Disziplinen hierzulande wieder enger zu ziehen drängen, legen wir diese Veröffentlichung auch als Argument dafür vor, die Offenheit nicht preiszugeben. Am Projekt Die Szene des Virtuosen waren neben den drei Autoren/innen für längere Phasen Lucia Ruprecht und Hans-Friedrich Bormann beteiligt, bei denen wir uns herzlich für die geführten Gespräche bedanken und deren Forschungen zu Virtuosität und Charisma und zur Mediengeschichte des Virtuosen an mancher Stelle der hier vorgestellten Überlegungen ein Echo haben. Unser Dank gilt außerdem den Kolleginnen und Kollegen des Sonderforschungsbereiches für all die regulären und irregulären Inspirationseffekte langjährigen Miteinanders, besonders auch Sabine Lange, Jens Roselt und Kristiane Hasselmann, die mitten im bü-
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rokratischen Dschungel eine Lichtung geschaffen haben, wo Verwaltung Unterstützung hieß. Wir danken Christina Deloglu, die unser Team in der Schlussphase verstärkt hat, sowie Eike Wittrock, Amaya Wang, Katja Weise, Anja Neumann und Tobias Birr, die das Projekt als studentische Hilfskräfte betreut haben und ohne deren Hilfe auch diese Publikation nicht zustande gekommen wäre – und Inka Paul, für die unser Projekt nur eins unter vielen war und bei der doch immer wieder alles aufs Beste zusammenlief. Ann-Kathrin Reimers sowie Inga Bergmann möchten wir danken für die redaktionelle Mitarbeit, Olaf Berens vom Büro für Belange und Angelegenheiten und dem Transcript-Verlag für die sehr geduldige Betreuung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Unterstützung beim Druck. Berlin und Erlangen im Juli 2016 Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels
Die Szene des Virtuosen Zu einem Topos von Theatralität Gabriele Brandstetter „A. ist ein Virtuose und der Himmel ist sein Zeuge“ Franz Kafka
Von Niccolò Paganini, dem berühmten Violinvirtuosen, ist folgende Geschichte überliefert: Ein Gespräch zwischen Kollegen, nach einem seiner Konzerte. Eduard Jaëll, ebenfalls ein berühmter Geiger, tauscht seine Eindrücke über Paganini mit Benesch, einem dritten großen Violinisten dieser Zeit aus: „Wir können alle unser Testament machen“, sagt Benesch. „Nein“, erwidert Jaëll, „ich bin schon tot.“ 1
1 | Vgl. Edward Neill: Niccolò Paganini, München/Leipzig 1990, S. 167. Zu Paganini vgl. auch: Walter G. Armando: Paganini. Eine Biographie, Hamburg 1960. – Die hier publizierte Studie arbeitet mit Skizzen und Thesen eines umfassenderen Forschungsprojektes zum Thema „Virtuosen“. Es handelt sich um ein Gebiet, das bislang fast ausschließlich Gegenstand musikhistorischer Untersuchungen war; eine kulturwissenschaftliche und theaterwissenschaftliche Reflexion des Phänomens steht bislang noch aus. Aus dem Bereich der musikwissenschaftlichen Forschung konnte hier nur ein Teil der Arbeiten berücksichtig werden; vgl. u.a.: Virtuosen. Über die Eleganz der Meisterschaft. – Vorlesungen zu Kulturgeschichte, hg. vom Herbert von Karajan Centrum, Wien 2001; Tomi Mäkelä: Virtuosität und Werkcharakter. Zur Virtuosität in den Klavierkonzerten der Hochromantik, München/Salzburg 1989; Kurt Blaukopf: Große Virtuosen, Teufen/Bregenz/Wien 1957; Adolf Weissmann: Der Virtuose, Berlin 1920. Zur Motivgeschichte des ‚Teufelsgeigers‘ im Kontext des mephistophelischen Musters des Teufelspaktes vgl. Pascal Four-
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Die kleine Anekdote bezeugt die außerordentliche Wirkung eines Konzertereignisses. Und sie inszeniert die Evidenz dieses Ereignisses, seine Unbegreiflichkeit, die alle Maßstäbe bricht, indem sie eben diese Unbegreiflichkeit im Urteil von Experten des gleichen Faches beglaubigt.2 Diese staunen nicht nur. Sie kapitulieren: Der Auftritt Paganinis – dieses „monstre“ auf der Szene – sei nicht nur nicht mit den üblichen Mustern der perfekten Beherrschung des Instruments erklärbar. Er verweise überdies alle anderen Geiger in einen Raum der Nicht-Existenz. Der Virtuose, ein Revenant eines anderen Geistes von Kunst und Technik; ein Magier, der die Grenzen des physisch Möglichen in seinem Tun zu überschreiten scheint und in eben diesem Spiel seinem verzückten Publikum verbirgt, worin diese Transgression besteht. Der Topos des Virtuosen markiert das Ereignis eines Auftritts, das Aufmerksamkeit, ja: Staunen und Verblüffung auf sich zieht. Der Eindruck des Überwältigenden,3 der das Publikum zum „Zeugen eines Mysteriums“4 macht, ihm „Schreie der Begeisterung“5 entlockt, verdankt sich – dies wird immer wieder berichtet – der schier menschen-unmöglichen nier: Der Teufelsvirtuose. Eine kulturhistorische Spurensuche, Freiburg i. Br. 2001 (Reihe ‚Cultura‘ 22). 2 | Ähnliches schreibt auch der Komponist Carl Friedrich Zelter über seinen Eindruck von Paganini an Goethe. Er berichtet am 20.4.1829 über die Begegnung am Tag zuvor, Paganini sei „ein vollkommener Meister seines Intruments in höchster Potenz“, so daß „die Wirkung seines Spiels […] anderen Virtuosen auf seinem Instrument ganz unbegreiflich“ sei. Vgl. Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, hg. von Max Hecker, I-III, Leipzig 1913-1918, Nr. 734; zit. nach Walter Salmen (Hg.): „Critiques Musicaux d’Artiste“. Künstler und Gelehrte schreiben über Musik, Freiburg i. Br. 1993 (Reihe ‚Litterae‘ 21), S. 86. 3 | Der Eindruck des Überwältigenden – als das „Virtuose“ – ist vergleichbar der Erfahrung des Erhabenen, insofern als es sich um eine ästhetische Wahrnehmung handelt, die ‚unerklärlich‘, das Menschenmögliche übersteigend erscheint; es ist aber dem Sublimen (wie Burke und Kant es definieren) zugleich auch unvergleichbar, da das Virtuose auf einer technischen Basis beruht; und das Überwältigende – eben deshalb – eher auf dem Frappanten (dem „Interessanten“ im Sinne romantischer Kunstphilosophie) beruht. 4 | Vgl. Kurt Blaukopf: Große Virtuosen, S. 13. 5 | So die Berichte z.B. über die Auftritte von Franz Liszt und N. Paganini; vgl. Neill, S. 94.
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Perfektion in der Darstellung, in der Beherrschung des Instruments, der Stimme, des Körpers.6 Der Enthusiasmus des Publikums bezieht sich darüber hinaus aber vor allem auf das Charisma, das die Figur des Virtuosen erst hervorbringt; das diesem – als einem Topos von Darstellung – allererst zuwächst. Denn Topoi schaffen einen Evidenzraum; sie bieten Argumente für die Wahrheit des Vorgetragenen. Und der Virtuose erscheint als das Ereignis des Unwahrscheinlichen schlechthin. Eine paradoxe Situation! Warum? – Das Ereignis des Virtuosen, das Singuläre seines Auftritts bindet sich zwar an die jeweilige Performance und ihre Wirkung: Es kann sich, als das Unüberbietbare, nur selbst beglaubigen. Als eine Szene aber und als ein Muster von Theatralität zeigt sich die Figur des Virtuosen erst durch die Geschichte ihrer Bezeugung: in den Berichten und Erzählungen der faszinierten oder kritischen Zeitgenossen; und in den Anekdoten, die die Erotisierung und Dämonisierung des Virtuosen inszenieren. So gesehen ist der Virtuose eine Figur der Evidenz.7 Einer Evidenz wovon?, wird man fragen. Und die Antworten, die auf diese Frage gegeben wurden und werden, seit dem 18. Jahrhundert, seit dem Auftreten von Virtuosen als Solisten, sind widersprüchlich. Die Darstellung solle den Geist des Textes – der Partitur oder des Dramas – zur 6 | In Handbuch-Artikeln wird eben diese Seite des Virtuosen, die perfekte Beherrschung von Körper und Instrument, hervorgehoben; so z. B. im Artikel „Virtuosen“ von H. W. Heister, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, begr. von Friedrich Blume, hg. von Ludwig Finscher, Kassel [u.a.] 1995, Sp. 1723 (im Weiteren unter der Sigle MGG und Spaltenzahl): Virtuosität verbinde die Pole „Ausstellung von Fertigkeiten und Ausdruck, Verwundern- und Staunenmachen versus Affektsprache und Rührung […]“; und im Theaterlexikon (hg. von Manfred Brauneck/ Gérard Schneilin, Reinbek 1990) heißt es im kurzen Artikel von Bernard Poloni: „V. bezeichnet allgemein einen Meister seines Fachs, einen hervorragenden Interpreten. Der Begriff gehört eigentlich der musikalischen Fachsprache an und wurde im 18. Jh. aus dem Ital. übernommen. Im Theater haftet dem Wort V. eine leicht pejorative Bedeutung an im Sinne einer zu äußerlichen, auf unmittelbaren Effekt zielenden Betonung der schauspielerischen Mittel.“ Ebd., S. 1038. 7 | Adorno hat diese Evidenz dem Ereignis der Aufführung und dem Interpreten zugeschrieben: „[…] der ganze Reichtum des musikalischen Gefüges, in dessen Integration seine Kraft eigentlich besteht, muß von der Aufführung zur Evidenz gebracht werden […].“ Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 10/1 (Kulturkritik und
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Evidenz bringen. Oder: die Evidenz bestehe eben in der herausragenden Performance selbst, die den Eindruck des Über-Natürlichen, Zauberischen hervorruft – ein Eindruck, der zumeist durch die Topoi des Engels, des Teufels, oder, später, der Maschine besetzt wird. So wird etwa von Alessandro Scarlatti berichtet, dass er, als er den Kastraten Francischello auf dem Klavier begleitete, „nicht glauben konnte […], daß ein Sterblicher derart göttlich singen könne, so daß dies ein Engel sein müsse, der Francischellos Gestalt angenommen habe“, derart habe dieser Gesang „alles übertroffen, was er – Scarlatti – sich für ein menschliches Wesen vorstellen konnte.“8 Diesem Zwiespalt des Evidentiellen entspricht die Ambivalenz in der Einstellung zum Virtuosen – zwischen der Faszination des Unbegreiflichen und der Ablehnung jenes ‚Scheins‘ von Oberflächlichkeit, den es – aufklärerisch – zu entzaubern und durch die Vorzüge des wahren (Seelen-)Ausdrucks zu ersetzen gilt. So berichtet der Frankfurter Kaufmann Johann Friedrich Armand von Uffenbach vom Eindruck, den Vivaldis Violinspiel in Venedig 1715 auf ihn machte. Vivaldi spielte ein accompagnement solo, admirabel, woran er zuletzt eine phantasie anhing, die mich recht erschrecket, denn dergleichen ohnmöglich so jemahls ist gespielet worden noch kann gespiehlet werden, […] und das [mit] einer geschwindigkeit die unglaublich ist, er suprenierte damit jedermann, allein, daß ich sagen soll, daß es mich charmirt das kan ich nicht thun weil es nicht so angenehm zu hören, als es künstlich gemacht war.9
Der Gegensatz zwischen dem, was als atemberaubende technische Leistung „suprenieret“, also Staunen macht, und dem, was ausdrucksvoll und berührend wirkt, zählt seit dem 18. Jahrhundert zum ambivalenten Merkmals-Katalog des Virtuosen. Mehr noch: seit dem Auftreten der legendären Virtuosen im 19. Jahrhundert im Schauspiel und im Konzert – von Iffland bis Zacconi und Sarah Bernhardt, von Kalkbrenner und Paganini bis zu Liszt – überwiegen (insbesondere in der deutschen Kritik) die pejorativen Urteile, so dass der „Virtuos“ stellenweise sogar ein Gegenbegriff Gesellschaft) „Bach gegen seine Liebhaber verteidigt“, Frankfurt a. M. 1977, S. 145. 8 | Zit. nach Gino Monaldi: Cantanti evirati del Teatro Italiano, Rom 1920, S. 94. 9 | Zit. nach Konrad Küster: Das Konzert. Form und Forum der Viruosität, Basel/London/ New York 1993, S. 111.
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zum „wahren Künstler“ wurde.10 Die Topoi des (bloß) Brillanten, der Effekthascherei, des Zirzensisch-Bravourösen, das die Aufmerksamkeit nur auf die Selbstinszenierung des Virtuosen lenke; die Absicht der Blendung durch Gaukelstücke eines leeren Scheins, der sich im Seelenlos-Mechanischen erschöpfe – diese Formeln prägen die Semantik zahlreicher Artikel. Franz Liszt schreibt in seinem insgesamt von Bewunderung getragenen Nekrolog auf Paganini über dessen Virtuosen-Egomanie: „Paganinis Gott aber ist nie ein anderer gewesen, als stets sein eigenes düster trauriges Ich!“11 Heinrich Heine verweist in der Lutezia auf die zahlreichen Nachfahren von Paganini und Liszt, die „wie die Heuschrecken“ jede Wintersaison in Paris einfallen, als „Invaliden des Ruhms“.12 Und diese Auffassung über die mangelnde Werkbezogenheit und die Oberflächlichkeit des Theatralen im Auftritt des Virtuosen findet sich selbst im 20. Jahrhundert noch häufig, etwa wenn Alfred Brendel über Franz Liszts virtuose Stücke sagt, sie könnten leicht zum „Vehikel des Effekts [werden], den Wagner als Wirkung ohne Ursache bezeichnet“13 habe. Auch in der Wissenschaft, in zahlreichen Handbuch- und Lexikonartikeln in der Musik- und ebenso in der Theaterwissenschaft finden sich solche Wertungen des Virtuosen noch heute.14
10 | Vgl. Albrecht Betz: Das Vollkommene soll nicht geworden sein. Zur Aura des Virtuosen, in: Virtuosen 2001, S. 9-31; sowie die Verteidigung der Virtuosen gegen ihre „Verdächtigung“ durch Albrecht Riethmüller: Die Verdächtigung des Virtuosen – Zwischen Midas von Akragas und Herbert von Karajan, ebd. S. 100-124. 11 | Franz Liszt: Paganini. Ein Nekrolog (1840), in: Critiques Musicaux, S. 229. 12 | Heinrich Heine: Lutezia II /LVI (Paris, 26.3.1843), in: Sämtliche Werke. Düsseldorfer Ausgabe, hg. von Manfred Windfuhr, Band 14, 1, Hamburg 1990, S. 49 (zit. im Weiteren unter der Sigle DHA und Band- und Seitenzahl). 13 | Alfred Brendel, zit. nach Betz, S. 23. 14 | Im 19. Jahrhundert, wurde der Begriff „Virtuose“ bereits überwiegend für die musikalische Darstellung auf einem Instrument verwendet; vgl. die Sammlung der Definitionen im Artikel von Martin Warnke: Der virtuose Künstler, in: Virtuosen 2001, S. 81-99, hier S. 81f; und noch im obengenannten Artikel des Theaterlexikons oder im 1972 erschienenen Artikel zum „Virtuosen“ im Handwörterbuch der mu-sikalischen Terminologie (vgl. den Auszug bei A. Riethmüller, Die Verdächtigung des Virtuosen, S. 107) ist der Hinweis auf die Äußerlichkeit der Darstellung als Selbstzweck zu finden.
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Zum Verständnis dieses komplexen Zusammenhangs ist es nötig, einen Blick auf die Karriere des Begriffs in der Kulturgeschichte zu werfen. Der Begriff „Virtuose“ geht zurück auf das lateinische Wort „virtus“; es bedeutet: kriegerische Tüchtigkeit, „zum Sieg fähig“. Etwas vom sieghaften Gestus dieser Bedeutung ist auch in der Vorstellung vom Virtuosen noch enthalten: in der Auffassung des Begriffs, wie er in der Renaissance verwendet wird. Hier bezeichnet „virtuoso“ ganz allgemein das Ideal des gebildeten Menschen; zugleich wird der Begriff mehr und mehr für herausragendes Können und bezogen auf Gelehrsamkeit in allen Sparten des Wissens und der Kunst verwendet.15 Erst im 18. Jahrhundert verlagert sich die Bedeutung von „Virtuose“ – mit der Trennung von Autor und darstellendem Interpreten16 – auf den ausübenden Künstler. Dabei ist aber in Erinnerung zu rufen, dass „virtuosi“ in einer älteren und allgemeineren Wortbedeutung, insbesondere in England im 16. und 17. Jahrhundert, jene Gelehrten meinte, die sich als Sammler und Liebhaber sowohl von Kunstwerken als auch von naturwissenschaftlichen Objekten hervortaten und sich der 1662 gegründeten Royal Society of London for Improving Natural Knowledge anschlossen.17 Die Virtuosi des frühen 17. Jahrhunderts waren Amateure im ursprünglichen Sinne dieses Wortes, sie beschäftigten sich mit Kunst, Altertümern, Mathematik und/ oder Raritäten der Natur, weil sie diese Gegenstände liebten und darin ihre Freude fanden.18
15 | Es ist bezeichnend, das diese Bedeutung des Begriffs „Virtuoso“ sich in der Zeit der Manufaktur, ca. von 1550-1750, herausbildet und differenziert 16 | Eine Entwicklung, die im 18. Jahrhundert beginnt und Anfang des 19. Jahrhunderts bereits die Musiktheater-und Konzert-Szene in den bürgerlichen Städten Europas bestimmt. E.T.A. Hoffmann hat in seinen Texten diesen Sachverhalt präzise dargestellt (etwa in den Novellen „Ritter Gluck“ oder „Don Juan“); und Heinrich Heine reflektiert diese Entwicklung – u.a. in den Berichten aus Paris und in den „Florentinischen Nächten“ – auch vor dem Hintergrund der politischen und ökonomischen Veränderungen im 19. Jahrhundert. 17 | Vgl. R.H. Syfret: Some Early Reactions to The Royal Society, in: Notes and Records of the Royal Society of London, 7, 1950, S. 207-258. 18 | Lorraine Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, München 2000 (Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München), S. 28.
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So erschien in dieser Zeit eine ganze Reihe von Abhandlungen und Handbüchern über diese Wissens-Praxis und ihre Gegenstände:19 Henri Peachums Complete Gentleman (1634) war eine Art Handreichung für „virtuosi“. Robert Burton bespricht in seiner Anatomy of Melancholy (1621) Strategien der Aufmerksamkeit und der Forschung der „virtuosi“ als ein Remedium gegen Melancholie. Francis Bacon beschreibt in seiner Abhandlung The Advancement of Learning (1605) Sammlungen und Forschungsgebiete eines „virtuoso“; Robert Boyle, Mitglied der Royal Society und Verfasser von The Christian Virtuoso, nannte sich selbst und andere Gelehrte „virtuosi“,20 und Sir Thomas Browne schließlich fasste den Typus von Gelehrsamkeit, den er selbst – in seiner sammlerischen und dem Raren und Kuriosen zugewandten Forschung – verkörperte, unter den Begriff des „Virtuoso“.21 Warum aber ist dieser wissensgeschichtliche Begriff von „Virtuose“ von Interesse für eine Untersuchung zur Theatralität dieses Topos? Es ist die Bedeutung für eine Geschichte der Aufmerksamkeit, die diese frühe epistemologische Szene des Virtuosen in den Horizont der Theatralitätsforschung rücken muss. „Virtuosi“ markieren das Feld des Wissens und einer Wahrnehmung, die auf das Staunen und auf das Erstaunliche gerichtet sind. Wie die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston in ihren Untersuchungen gezeigt hat,22 geht das besondere Interesse am Wunder19 | Vgl. den sehr informativen Artikel von Marjorie Hope Nicolson: Virtuoso, in: Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, hg. von Philip Wiener, Vol. IV, New York 1973, S. 486-490. 20 | Bemerkenswert sind dabei auch die Berichte über die Praxis dieser Forschungen, die Kuriosität sowohl der Gegenstände als auch der Verfahren; eine Situation, die leicht parodistische Züge annahm; so z. B. wenn über Nicholas Gimcrack, the „Virtuoso“, berichtet wird, man habe ihn beobachtet, „lying upon a laboratory table where he is learning to swim by imitating the motions of a frog in a bowl of water. When asked whether he had practiced swimming in water, he replied that he hates the water and would never go near it. ‚I content myself‘, he said, ‚with the speculative part of swimming; I care not for the practical. […] Knowledge is my ultimate end.‘“, zit. nach M. Hope Nicolson, Virtuoso, S. 487. 21 | Vgl. dazu Arno Löffler: Sir Thomas Browne als Virtuoso. Die Bedeutung der Gelehrsamkeit für sein literarisches Alterswerk, Nürnberg 1972. 22 | L. Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, 2000; vgl. auch: Lorraine Daston und Katherine Park: Wonders and the Order of
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baren, am Unerklärlichen und an ungewöhnlichen Objekten einher mit einer spezifischen Ausrichtung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit: nämlich mit den (im 16. und 17. Jahrhundert positiv bewerteten) kognitiven Leidenschaften des Staunens und der Verblüffung. Eben die Beziehung von Wunderbarem, als dem staunenswürdigen Objekt,23 und der Aufmerksamkeit des Forschers eröffnet einen Wahrnehmungs- und Erkenntnisraum, der eine spezifische Erfahrung von Evidenz ermöglicht. Und der „Virtuoso“ ist es, der gleichsam die Stelle der Selektion und der Vermittlung des Staunenswürdigen besetzt. Virtuosen sind, so gesehen, Attraktoren der Aufmerksamkeit; und sie sind zugleich Medien der Aufmerksamkeit. Es wäre nun freilich zu linear gedacht, von einer direkten Ablösung und Übertragung dieses Aufmerksamkeits-Szenarios – des Staunens – von der Wissenschaft in die darstellende Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts auszugehen.24
Nature, 1150-1750, New York 1998, sowie Lorraine Daston: Die kognitiven Leidenschaften: Staunen und Neugier im Europa der frühen Neuzeit, in dies.: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a.M. 2001, S. 77-97. 23 | Jene Objekte der Wunderkammern ebenso wie die staunenswürdigen und absonderlichen Gegenstände von wissenschaftlichen Abhandlungen wie etwa der monströse Kalbskopf bei Robert Boyle: An Account of a Very Odd Monstrous Calf. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, London 1665. 24 | Freilich beginnt zu jenem Zeitpunkt, als in der Naturwissenschaft sich das kognitive Interesse „vom Wunderbaren zum Gewöhnlichen“ (vgl. L. Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, 2000, S. 13) bewegt und Joseph Addison (der mit Richard Steele 1710 noch The Will of a Virtuoso verfaßt hat) über die „belanglosen Raritäten, mit denen das Kabinett eines Virtuoso vollgestopft ist […]“ (zit. nach L. Daston 2000, S. 29) spottet und fordert, „Forschungen dieser Art sollten der Zerstreuung, der Entspannung und dem Vergnügen dienen, und nicht etwa eine ernsthafte Lebensbeschäftigung sein“, (ebd.) jene Epoche, in der der Virtuose mehr und mehr in der Kunst, insbesondere in der darstellenden Kunst, hervorzutreten beginnt und selbst zum umstrittenen Gegenstand der Aufmerksamkeit und des Staunens wird.
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Aber es sind doch die insgesamt sich wandelnden Konzepte und Verfahren zur Herstellung von Evidenz – sowohl in der Wissenschaft 25 als auch in der Kunst – die hier eine Verbindung stiften und die Theatralität der Szene des Virtuosen, als eine Figur von Evidenz, markieren. In beiden Bereichen stellt sich Evidenz über das Staunen, die Verblüffung über das Wunderbare her. Wie aber vermittelt sich dieser Stil der Aufmerksamkeit? Ich meine, dass hier die Rhetorik eine wichtige Brückenfunktion einnimmt: zwischen der ‚demonstratio‘ des wissenschaftlichen Vortrags und der ‚hypocrisis‘ der künstlerischen Darstellung; und dies auch und gerade in einer Zeit – im 18. Jahrhundert – in der der Status der Rhetorik in der Kultur und in der Kunst brüchig wird. Warum Rhetorik? Hier meine ich jenen Bereich der Rhetorik, der für die Wirkung des Virtuosen von Bedeutung ist: nämlich für den Vortrag selbst; jene Dimension der darstellerischen Praxis also, die mit den Begriffen der ‚actio‘ bzw. der ‚hypocrisis‘ bezeichnet ist. Die ‚actio‘ umfaßt jene Seiten des Wissens, des Zeigens – jene Formen der Inszenierung, die performativ Evidenz herzustellen vermögen: durch den Einsatz aller körperlichen Mittel (der Stimme, Mimik, Gestik) sowie der räumlichen und rahmenden Arrangements; jenen ‚Auftritt‘ eines Vortragenden also, der schon in der Antike als entscheidend für die Wirkung (einer Rede) betrachtet wurde: in der Rhetorik des Aristoteles 26 und, deutlicher noch, bei Cicero: „Der Vortrag, sage ich, hat in der Redekunst allein entscheidende Bedeutung. Denn ohne ihn gilt auch der größte Redner nichts,
25 | Die Bedeutung von Evidenz im Bereich der Wissenschaftsgeschichte ist in letzter Zeit in den Aufmerksamkeitshorizont kulturwissenschaftlicher Untersuchungen (z. B. zur Kulturgeschichte des Beweises) gerückt; die Verbindungen zwischen Kunst, Rhetorik und Wissenschaft – eben über unterschiedliche Theorien und Verfahren zur Herstellung von Evidenz (wie sich dies z. B. in der Figur des Virtuosen zeigt) sind bislang m. W. noch nicht eingehend untersucht (ein umfangreiches Gebiet, das ich hier nur in den Umrissen des Projektes skizzieren kann). Zur Evidenz in der Wissenschaft vgl. Gary Smith und Matthias Kroß (Hg.): Die ungewisse Evidenz. Für eine Kulturgeschichte des Beweises, Berlin 1998. 26 | Aristoteles spricht der rednerischen Aktion – der ‚actio‘ – die „größte Wirkung“ zu: vgl. Aristoteles, Rhetorik III, 1,2, 1403.
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ein mittelmäßiger, der ihn beherrscht, kann aber oft die größten Meister übertreffen.“27 Die Inszenierung von Bezeugung und Authentizität selbst also wird zum entscheidenden Moment des Vortrags,28 denn – so die Theorie der hypocrisis – durch „ars“ solle der Eindruck erweckt werden, dass der Vortragende an dem, was er darstellt, innerlich beteiligt sei. Interessant ist in diesem Zusammenhang von Theatralität und Evidenz, dass sich im Begriff der ‚hypocrisis‘ ambivalente Bedeutungsschichten überlagern. Der Begriff bezeichnet – in einer repräsentationsstrategisch wichtigen Überkreuzung von ‚Inszenieren‘ und ‚Auslegen‘ – sowohl den Akt des ‚Ansagens‘ (Deutens) und Darstellens als auch die Formen der Verstellung und der Heuchelei. Gebärden im Spiel solcher ‚actio‘, die den Effekt der inneren Beteiligung des Vortragenden beim Publikum zu erzielen suchen, sind zuletzt eben wegen dieser ‚Inszeniertheit von Authentizität‘ immer auch umstritten – wie z. B. die Berichte von Franz Liszts Posen zeigten: wenn er etwa nach dem Vortrag von Bachs „Air“ aus der D-Dur Suite das Haupt auf die Tasten zu legen und die Hände zu falten pflegte.29 Genau an diesem Punkt nun wird – eben im 18. Jahrhundert, in der Zeit also, in der der Virtuose ‚unter Verdacht‘ gerät – die Differenz zwischen Rhetor und Schauspieler zu einem Streitfall der Ästhetik und der Debatten um Authentizität. Die Differenz zwischen Redner und Schauspieler war zwar auch in der Antike schon ein Thema: Cicero bezeichnet den Redner als Darsteller des wirklichen Lebens, während der Schauspieler der Nachahmer des wirklichen Lebens sei. Während also der Schauspieler im Modus des ‚als ob‘ agiert und Wirklichkeit als Mimesis darstellt, präsentiert der Redner – als Vortragender (auch in der Musik) – die Wirklichkeit eines Textes, als ‚Geschichte‘. Er tut dies nicht in einer ‚Rolle‘ mit ihrer zeichenhaften Ausstattung, sondern er hat das Publikum durch das Ethos seiner Person – über die Evidenz seiner Darstellung – zu gewin27 | Cicero: de oratore, 3, 213; zum Kontext in der Geschichte der Rhetorik vgl. Gert Ueding/Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, 3. Aufl. Stuttgart, Weimar 1994, S. 230ff. 28 | Zu „Evidenz“ vgl. Ueding/Steinbrink: Grundriss der Rhetorik, S. 284f – In diesem Zusammenhang wäre die Verbindung (und Differenz) von wissenschaftlichem Vortrag und ‚Performance‘ als künstlerischer Vortrag noch genauer zu betrachten. 29 | Zit. nach A. Betz, S. 24.
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nen und zu überzeugen. Diese Unterscheidung zwischen Mimesis und Repräsentation wird im 18. Jahrhundert wieder aufgenommen und im komplexen Zusammenhang der Fragen von Darstellung, Natürlichkeit und Authentizität reflektiert. Gemeinhin geht man in der Forschung von einer Diskreditierung und Verdrängung des Rhetorischen aus der (Theater- und Kunst-)Szene der körperlichen Beredsamkeit aus.30 Fraglich ist allerdings, ob hier nicht vielmehr eine Verschiebung stattfindet, durch die das Authentizitätsmuster, das in der Antike dem Redner (und nicht dem Schauspieler) zugeordnet war, in der sich wandelnden bürgerlichen Kultur nun ausgerechnet durch den Virtuosen verkörpert wird. Denn für die ‚actio‘ des Vortragenden galt stets, dass die Glaubwürdigkeit seiner Darstellung – bei allem Einsatz inszenatorischer (und argumentativer) Mittel – zuletzt durch seine Person vermittelt wurde: zum Pathos der Darstellung kam das Ethos seiner Persönlichkeit, Status, Ehrbarkeit – eben „virtus“. So gesehen wäre der Virtuose eine Figur der Latenz des Rhetorischen; d.h. im Topos des Virtuosen finden (in verschobener Form) jene Elemente des Rhetorischen eine andere Szene, die mit dem Natürlichkeitsparadigma in der Darstellungstheorie im 18. Jahrhundert abgelöst schienen, eigentlich aber einem verdeckten Szenen- und Diskurswechsel unterlagen. Die Ambivalenz in der Beurteilung des Virtuosen bezieht sich auf diese Unentscheidbarkeit zwischen Vortrag und Schauspiel, zwischen dem Ethos des Interpreten und der Artifizialität der ‚Performance‘. Es ist ein Dilemma, das im 18. Jahrhundert zunächst in der Beurteilung des virtuosen Gesangs schlechthin, des Gesangs der Kastraten, sich niederschlägt,31 allmählich auch den Schauspieler einbezieht 32 und schließlich – 30 | Die Frage der Latenz des Rhetorischen und seine Verschiebung in andere Felder der Repräsentation (der Wissenschaft, der darstellenden Künste wie. z. B. der Virtuosen), könnte (immer noch) der Gegenstand einer weitläufigen Untersuchung werden. Zur Verinnerlichung des Rhetorischen im 18. Jahrhundert vgl. u. a. Erich Meuthen: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1994 (Reihe „Litterae“, 23). 31 | Vgl. dazu die immer noch umfassendste Dokumentation von Franz Haböck: Die Kastraten und ihre Gesangskunst. Eine gesangsphysiologische, kultur- und musikhistorische Studie, Berlin und Leipzig 1927. 32 | Vgl. dazu etwa Rousseaus und Diderots Kritik am traditionellen Schauspielstil (dazu: Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, University of California Press, Berkeley, Los Angeles, London
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mit der Verbreitung des Instrumentalkonzerts als bürgerlicher Institution und den Auftritten reisender Solisten – insbesondere den Virtuosen in der Musik ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Friedrich Nietzsche war, neben Heinrich Heine, wohl der genaueste Beobachter dieser schillernden Szene des Virtuosen. So warnt er (in seiner Polemik gegen Wagner) vor der „Heraufkunft des Schauspielers in der Musik“ 33, vor jenem „Künstler des Vortrags“34, der vor allem „Wirkung will, nichts mehr ...“35. Zugleich aber zieht Nietzsche, der große Rhetorik- und Musik-Kenner, die aus der actio-Lehre bekannte Vorstellung heran, dass der Vortragende das Ethos seiner Darstellung durch seine Persönlichkeit zu beglaubigen habe; dass und wie er also die Performance an die Stelle des „Meisters“ zu setzen weiß: Der Klavierspieler, der das Werk eines Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben, wenn er den Meister vergessen ließ und wenn es so erschien, als ob er er eine Geschichte seines Lebens erzähle oder jetzt eben etwas erlebe. Freilich: wenn er nichts Bedeutendes ist, wird jedermann seine Geschwätzigkeit verwünschen [...]. Also muß er verstehen, die Phantasie des Hörers für sich einzunehmen. Daraus wiederum erklären sich alle Schwächen und Narrheiten des ‚Virtuosentums‘.36
1980); Ein Beispiel solcher Einschätzung findet sich bei Heinrich Theodor Rötscher, der die von Zeitgenossen geäußerte Kritik an Iffland (dem hochgeschätzten Schauspieler und Theaterdirektor) zusammenfasst: „Wenn Tieck zuweilen von Iffland behauptet, in seinem Spiel sei öfters etwas Virtuosenhaftes gewesen, so will er damit im Einklange mit unseren Behauptungen andeuten, daß in Iffland’s Spiel bisweilen eine gewisse Sucht nach dem Absonderlichen, nicht das reine Streben geherrscht habe, ganz in der Person aufzugehen, welche er spielte.“ Aus Heinrich Theodor Rötscher: Das Virtuosenthum in der Schauspielkunst, in ders.: Kritiken und dramatische Abhandlungen, Leipzig 1859, S. 241-249, hier: S. 243. 33 | Vgl. Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. in: ders.: Werke, hg. von Karl Schlechta, München 1962, Bd. 2, S. 925. 34 | Ebd. 35 | Friedrich Nietzsche: Wagner als Gefahr, in: Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen, Bd. 2, S. 1043. 36 | Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches; 1. Band, Nr. 172, in: Werke, Bd. I, S. 560.
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Aussagen wie diese, in der die verschobenen Positionen von Werk und Darstellung und die Fragen der Authentifizierung differenziert betrachtet werden, sind eher selten. Zumeist bewegen sich die Argumente gegen (seltener für) den Virtuosen zwischen den Polen von Geist und Technik. Und sie bezeichnen ein Feld widerstreitender Autoritäten: die Autorität des Textes auf der einen Seite, die des Performers (oder Interpreten) auf der anderen Seite. Hier entsteht zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine ganz klare Hierarchie: zugunsten der Autor-Position und des mit dem Text verbundenen Werk-Begriffs.37 In der Tat ist es eine Denkfigur des Idealismus, die als Differenz von Geist und Technik immer wieder variiert erscheint, und die Hegel auf den Begriff gebracht hat, wenn er in seinen Vorlesungen über Ästhetik sagt, es gebe zwei Typen der „künstlerischen Exekution“: Die eine versenkt sich ganz in das gegebene Kunstwerk und will nichts weiteres wiedergeben, als was das bereits vorhandene Werk enthält; die andere dagegen ist nicht nur reproduktiv, sondern schöpft Ausdruck, Vortrag, die eigentliche Beseelung nicht nur aus der vorliegenden Komposition, sondern vornehmlich aus den eigenen Mitteln. [...] Solche Virtuosität beweist, wo sie zu ihrem Gipfelpunkt gelangt, nicht nur die erstaunenswürdige Herrschaft über das Äußere, sondern kehrt nun auch die innere ungebundene Freiheit heraus, indem sie sich in scheinbar unausführbaren Schwierigkeiten spielend überbietet, zu Künstlichkeiten ausschweift, mit Unterbrechungen, Einfällen in witziger Laune überraschend scherzt und in originellen Erfindungen selbst das Barocke genießbar macht.38
37 | Es ist in diesem Zusammenhang, in der Geschichte des ‚Virtuosen‘, bemerkenswert, dass die Einheit der Funktionen von Autor und Werk/Text eben in jenem historischen Moment der sozialen und ökonomischen Entwicklung besonders dominant wird, in dem „Arbeitsteiligkeit“ (nicht nur im ökonomischen Bereich der Industrialisierung, sondern auch zwischen Autor und Darsteller, Komponist und Musiker) relevant wird (nicht zuletzt auf dem wachsenden „Markt“ des Konzert-Systems); Karl Marx hat in diesem Zusammenhang den Begriff des „Virtuosen“ für eben jene arbeitsteilige Situation der Gesellschaftsentwicklung verwendet und von der „Virtuosität des Detailarbeiters“ gesprochen. (Zit. nach Hans-Werner Heister: Artikel „Virtuosen“, in: MGG, Sp. 1723.) 38 | Georg Friedrich Willhelm Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 15, Vorlesungen über die Ästhetik III, auf d. Grundlage der Werke v. 1832-1845, hg. und
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Eben dieses Verzieren, Improvisieren, Phantasieren – die produktive Freiheit des Darstellers als einer „Ausschweifung“ also – steht mit der Krise der Repräsentation ab 1800 mehr und mehr im Zwielicht. Während die Improvisation im 17. und frühen 18. Jahrhundert – in den Arien der Kastraten, in den Soli der Tänzer, in den Auftritten der Schauspieler – noch selbstverständlich zur Praxis der Aufführung gehörte, wird sie im 19. Jahrhundert zum Streitpunkt einer Ästhetik, die den Interpreten mehr und mehr der Intention des Autors bzw. der Autorität des Textes unterzuordnen trachtet – die „Phantasie“ und das „Capriccio“ werden zu einer Darstellungsform der Texte, in der Musik ebenso wie in der Literatur. Von den Paradoxien der Darstellung zwischen Notat und Inszenierung, zwischen Gedächtnis und Ereignis, die sich daraus ergeben, erzählen Texte wie etwa E.T.A. Hoffmanns Ritter Gluck; aber auch die wachsende Reihe von Anleitungen zum freien Spiel und Phantasieren, die in dieser Zeit publiziert werden.39 Die historischen Veränderungen im 19. Jahrhundert werden durch diverse Künstleranekdoten illustriert, die in ihrer Pointiertheit eben gerade auf eine Praxis der (Musiktheater-)Darstellung hinweisen, die im Verschwinden begriffen ist; so z. B. in folgender Anekdote zur schöpferischen ‚Eigenständigkeit‘ der Künstlerin im Opernbetrieb, die Hector Berlioz überliefert: Eine bewunderungswürdige Sängerin, die so sehr betrauerte Sontag, hatte für den Schluß des Maskenterzetts in ‚Don Juan‘ eine musikalische Wendung erfunden, welche sie an Stelle des Originals sang. Ihr Beispiel wurde bald nachgeahmt, es war zu schön, um es nicht zu werden, und alle Sängerinnen Europas adoptierten für die Rolle der Donna Anna die Erfindung von Frau Sontag. Als eines Tages bei
redigiert von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel, Frankfurt a. M. 1970, S. 219 und S. 221f. 39 | Interessant ist dabei besonders die paradoxe Situation, dass – eben für das in der Romantik propagierte „Phantasieren“ und Improvisieren – die zahlreichen Etüden-Werke (von Czerny, Kreutzer, Moscheles etc.) geschrieben wurden, die das instrumentaltechnische Rüstzeug vermitteln sollten; zugleich aber (auch durch das Auswendigspielen) sich selbst dissimulieren sollten. Vgl. dazu Grete Wehmeyer: Carl Czerny und die Einzelhaft am Klavier oder Die Kunst der Fingerfertigkeit und die industrielle Arbeitsideologie, Kassel, Basel, London 1983.
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einer Generalprobe in London ein mir bekannter Dirigent diese kühne Unterschiebung hörte, hielt er das Orchester an und sagte zu der Primadonna: ‚Nun? Was gibt’s? Haben Sie Ihre Rolle vergessen?‘ ‚Nein, Herr Kapellmeister, ich singe die Version Sontag.‘ ‚So! Sehr gut; dürfte ich aber so frei sein und Sie fragen, warum Sie die Version Sontag der Version Mozart vorziehen, der einzigen, mit welcher wir uns hier zu beschäftigen haben?‘ ‚Weil sie sich besser ausnimmt.‘ !!!!!!!!.................................................40
Szenen – anekdotisch überliefert – wie die hier zitierte beschreiben einen, vielleicht den entscheidenden Paradigmawandel im Bereich der Darstellung überhaupt. Und dieser Wechsel zwischen Performance und Werk spiegelt sich in den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, die sich damit befassen, auf sehr verschiedene Weise: In der Literaturwissenschaft war es lange (von Dilthey bis Staiger) das Konzept der Hermeneutik (und der Edition), das – bis zu seiner Infragestellung durch die Dekonstruktion – unangefochten die Relation von Text und Interpretation bestimmte. In der Musikwissenschaft war und ist es das Paradigma der absoluten Musik und der „Werktreue“, das bis heute die Handbuchartikel bestimmt und z. B. den Begriff „Performance“ durchweg auf die Realisation einer Partitur bezieht. Und so war und ist es die Aufgabe einer Theaterwissenschaft, die sich auch als Theatralitätsforschung versteht, das transgressive Muster der Darstellung, das die ‚Szene des Virtuosen‘ bereithält, zu untersuchen. Nach dem bisher Gesagten lässt sich die These aufstellen, dass die umstrittene Erscheinung des Virtuosen im 19. Jahrhundert den Schauplatz einer ‚Querelle zwischen Komposition und Aufführung‘ markiert.41 Umstritten ist der Virtuose, um dies hier noch einmal zu wiederholen, weil er eine Evidenzfigur für das schlechthin Unwahrscheinliche darstellt, das sich – unhintergehbar, selbstevident – an das Ereignis seines Auftritts bindet. Paradoxerweise wird aber (da sich dieses Ereignis zwar bezeugen lässt, sich aber nur selbst beglaubigen kann) die Evidenz des Virtuosen 40 | Vgl. Hector Berlioz: Groteske Musikantengeschichten (aus d. Französischen v. Elly Ellès), Frankfurt a.M. 1986, S. 40. 41 | Vgl. zum musik- und geistesgeschichtlichen Hintergrund dieser Frage Susan Bernstein: Virtuosity of the nineteenth Century, Univ. of California Press Berkley, Los Angeles, London 1998.
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zu einem Effekt jener Topoi und Diskurse, die in verschiedenen Kontexten Beglaubigungs- und auch De-Legitimierungsfunktion erfüllen; Topoi und Diskurse, die so die Theatralität des Virtuosen allererst hervorbringen. Eine wichtige Funktion in dieser ‚Mise en scène‘ des Virtuosen nimmt dabei eben jene ‚Querelle‘ zwischen Text und Performance ein, die – in verschiedenen Schattierungen und den unentscheidbaren ‚Pro‘und ‚Contra‘-Positionen – das Charisma seiner Erscheinung grundiert und die gleichermaßen im Bereich des Theaters, des Ballettsaals und des Konzertes anzutreffen ist. Diesen Schauplatz, seine Agenten und seine Diskurse will ich im Folgenden noch etwas schärfer beleuchten: Heinrich Heine, ein genauer und kritischer Beobachter der Musikund Theater-Szene, plädiert in den Berichten über Virtuosen in der Lutezia zuletzt ganz hegelianisch für die Freiheit der künstlerischen Interpretation; aber nur, wenn der „Executant“ es verstehe, durch seinen Vortrag „jenen wundersamen Unendlichkeitshauch“ des Musikstücks, das „in der Fülle jenes Selbstbewußtseins der Freyheit des Geistes komponiert sei“, zu übermitteln.42 Bei weitem rigider als Heine äußert sich Richard Wagner zur Frage nach der Priorität des Werkes und der Prärogative des Komponisten, wenn er in seinem Aufsatz Der Virtuos und der Künstler (1840) schreibt, der kompositorische Gedanke habe stets der Ursprung für den Vortrag zu sein, und der ausübende Künstler, der „Virtuos“, müsse mit „gewissenhafter Treue“ die „Intentionen des Komponisten“ wiedergeben, „damit die geistigen Gedanken unentstellt und unverkümmert den Wahrnehmungsorganen übermittelt werden“, was nur durch die „völlige Verzichtleistung auf eigene Invention“ des Interpreten und durch eine „besondere, liebevolle Schmiegsamkeit“ geschehen könne.43 In dieser Auffassung soll der Virtuose nicht als ‚Actor‘ auftreten, der durch seine „Kunstgeschicklichkeit“ zum „Repräsentanten“ oder gar zum „Tyrann“ des Werkes werden könnte. Die Stellung des Vortragenden ist
42 | H. Heine: Lutezia, DHA, S. 48. 43 | Vgl. Richard Wagner: Der Virtuos und der Künstler, in: Richard Wagner, Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in 10 Bänden, hg. von Dieter Borchmeyer, Bd. 5, Frühe Prosa und Revolutionstraktate, Frankfurt a.M. 1983, S. 171186, hier: S. 174.
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vielmehr die des „Vermittlers“. Er sei, so Wagner, der „Durchgangspunkt für die künstlerische Idee.“44 Es ist eine Medien-Theorie, die Wagner hier mit der Funktion des Virtuosen verknüpft: Er ist der „Durchgangspunkt“ – das ‚Relais‘ – für den Geist des Werks, das er mit höchster Treue, ‚high fidelity‘ (wie die Grammophon-Reklame des 20. Jahrhunderts lauten wird) zu übermitteln habe.45 Der hier angesprochene Krisenmoment der Repräsentation, der sich mit dem Auftreten des Virtuosen in der ästhetischen ebenso wie in der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts zu erkennen gibt, wird auch zum Thema einer Debatte in der Schauspieltheorie. Eduard Devrient, Karl Gutzkow und Heinrich Theodor Rötscher sind die wichtigsten Agenten in einem Streit, in dem es nicht nur um das Verhältnis von Text und Darstellung geht, sondern um Autoritäts- und Legitimationsfragen politischer Natur – zwischen Königtum und konstitutioneller Monarchie.46 Der Virtuose wird dabei zur Symbolfigur eines überlebten und reformbedürftigen Systems. So etwa schreibt Rötscher in seiner Abhandlung Das Virtuosenthum in der Schauspielkunst (1855): Wer ist der Virtuose in der Schauspielkunst? Derjenige, welcher nur sich selbst, nicht die Sache, nur die Verwerthung seiner Persönlichkeit, nicht die Erzeugung des 44 | Ebd., S. 175. 45 | In der Diskussion zwischen Wagner und Liszt (anläßlich einer Aufführung des Lohengrin, die zu übernehmen Wagner Liszt gebeten hatte) vetreten beide Musiker gegensätzliche Standpunkte. Liszt ist im Gegensatz zu Wagner der Meinung, dass erst der Virtuose die Komposition zum Leben erwecke: „Without the virtuosi, the composer’s existence would be a perpetual hell, since the latter can neither himself present what his creative genius has thought up, nor objectify what fills him, nor can he make present to himself that which makes his pulse beat, which ignites his imagination, occupies his thoughts and absorbs his whole being. If all this is not performed for him by human voice, an instrument or an orchestra, he would be in endless torment with no hope of deliverance.“ Franz Liszt, Gesammelte Schriften 6: 336; zit. nach S. Bernstein, S. 91; zu Liszt vgl. auch Alan Walker: Franz Liszt. The virtuoso years. 1811-1847, London 1983. 46 | Diesen Zusammenhang hat Jörg Wiesel in seiner Dissertation herausgestellt; vgl. Jörg Wiesel: Zwischen König und Konstitution. Der Körper der Monarchie vor dem Gesetz des Theaters, Wien 2001.
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Kunstwerks zum Zwecke hat, der [...] sich durch die Sucht nach dem Absonderlichen und Aparten hervorthut und, anstatt sich zum Mittel für die Kunst zu machen, die Kunst vielmehr zum Mittel für seine persönlichen Interessen herabsetzt. 47
Während Rötscher für die anderen Künste, z. B. die Musik, virtuose Beherrschung in gewissem Maße gelten lässt, bezeichnet er das „Virtuosenthum“ im Schauspiel geradezu als Ausdruck des „Unkünstlerischen“: In der dramatischen Darstellung aber drückt die Virtuosität nicht nur die vollständige Unterwerfung des Körpers und des Tones zu künstlerischen Zwecken aus, sondern hier erhält dieser Begriff wesentlich die Bedeutung einer, auf Kosten der ewigen Wahrheit und Schönheit sich hervordrängenden Darstellungsweise, welche nicht sowohl die Kunst, als solche, sondern die Geltendmachung der eigenen Persönlichkeit zum Zwecke hat.48
Eben dieses Einbringen des „Eigenen“, das Ethos der Person und Zeichen seiner Individualität (im Sinne der oben erwähnten actio-Lehre der Rhetorik), wird hier vehement verworfen zugunsten einer übergeordneten Idee der ästhetischen Repräsentation. In die Debatte über das Verhältnis von Autor und Interpret, Werk und Performance greifen somit noch weitere Diskurse ein, die den Topos des Virtuosen und die ihm zugeschriebene Theatralität erweitern: zu jenem bereits erwähnten ökonomischen Diskurs der Arbeitsteiligkeit kommt ein politisch semantisierter Diskurs um das Bild des Virtuosen. Wagner spricht vom „Tyrannen“, ähnlich Rötscher, wenn er dem Virtuosen „Herrschaft über den Stoff“, „Unterwerfung des Materials“ als eine Praxis des Missbrauchs der „ewigen Wahrheit und Schönheit“49 vorwirft. Heine beschreibt, wie die reisenden „hochgefeierten Virtuosen“ wie „siegreiche Fürsten in allen Hauptstädten Europas sich huldigen lassen“.50 Franz Liszt nennt Paganini einen „Künstlerkönig“,51 und ganz ähnlich bezeichnet Eduard Hanslick den berühmten Violinisten Joseph Joachim als „Geiger-
47 | H. T. Rötscher: Das Virtuosenthum in der Schauspielkunst, S. 241. 48 | Ebd., S. 242. 49 | Ebd. 50 | H. Heine: Lutezia, in DHA, S. 46. 51 | F. Liszt: Paganini, in: Salmen (Hg.), S. 229.
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könig“.52 Und wie sehr die Herrscherposition und die Allmachtsallüren des Virtuosen wiederum zu einem Topos für die Theatralität des Politischen nach der Revolution – zwischen Königtum und konstitutioneller Monarchie53 – wurden, zeigt sich an einem Text Robert Schumanns, der das Verhältnis von Orchester und Solist als veritable Allegorie politischer Repräsentation beschreibt.54 Im Rahmen dieser Topik erscheint es nur konsequent, dass das Ende des ‚Virtuosenjubels‘ (die große Zeit mit Paganini, Liszt, Thalberg, der enthusiastischen Feier der beiden Violin-Wunderkinder Milanollo)55 mit dem Wandel der politischen Verhältnisse, mit der Revolution von 1848 gekommen schien. So jedenfalls diagnostizierten Zeitgenossen wie Franz Liszt und Eduard Hanslick die Situation. Liszt schreibt in seinem Nekrolog auf Paganini, dass die Monarchie in ihm ihren „letzten glanzvollen Repräsentanten“ besessen habe und dass nun eine „Umgestaltung unserer sozialen Verhältnisse“ bevorstehe, an der der Künstler mitzuwirken habe.56 Und Hanslick schreibt über ein Konzert des Pianisten Sigismund Thalberg vom 3. Mai 1848 im Wiener Musikvereinssaal:
52 | Zit. nach K. Küster: Das Konzert, S. 125 53 | Zum politischen Kontext und zur Repräsentationslogik vgl. J. Wiesel, insbesondere S. 73ff. 54 | Vgl. Küster; Küster weist darauf hin, wie häufig der Virtuose zum Bild für die Rolle des Monarchen wurde: Hanslick, Liszt, Wagner, Bülow und Schumann haben daran Anteil. Robert Schumann vergleicht in seiner Kalkbrenner-Kritik das Orchester mit der „Kammer“; es repräsentiere also die Ständevertretung, die das Agieren des Solisten kontrolliere. Siehe im Weiteren zu diesem Vergleich mit einer „konstitutionellen Monarchie“: Küster, ebd. 55 | Die beiden Schwestern, Theresa und Maria Milanollo (Töchter eines Seidenspinnmaschinenfabrikanten aus Piemont) traten als Wunderkinder 1840 zum ersten Mal auf; 1843 gaben sie in Wien zehn Konzerte, mit glänzendem und einträglichem Erfolg vor einem entzückten Publikum; Adalbert Stifter rekurriert auf die Geigenvirtuosinnen in der Novelle Zwei Schwestern. Und Carl Czerny komponierte eine zweiteilige Fantasie für Klavier (op. 731, der erste Teil mit „Theresa“, der zweite mit „Maria“ überschrieben), in der er die beiden Persönlichkeiten musikalisch charakterisiert. 56 | F. Liszt: Paganini; zit. nach Salmen 1993, S. 230.
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Die Stürme der Revolution zogen drohend heran [...] Sie schlugen wie ein Blitz in morsches Gebälk und schufen eine neue Welt [...] Diese politischen Pfiffe, die sich in Thalbergs perlende Passagen mischten, sie waren die wahre Begräbnißmusik des Virtuosentums in Wien. 57
Neben den hier angeführten Diskursen, die das Bild des Virtuosen vielschichtig bestimmen, ist es doch ganz besonders eine bestimmte Denkfigur, die dem Virtuosen seine eigentümliche Faszination verleiht: nämlich das Phantasma der Maschine,58 durch das dem Virtuosen die Aura des Übermenschlichen und die Erotik des Medialen zuwächst. Dabei geht es keineswegs allein um jene technische Perfektion in der Beherrschung des Instruments, die Zelter meint, wenn er über Paganini an Goethe schreibt, er sei „ein vollkommener Meister seines Instruments in höchster Potenz“ 59, sondern um eine Qualität, die noch darüber hinausgeht: die den ‚Geist der Maschine‘ als Figur der Evidenz des Virtuosen erscheinen lässt. Es ist jene Verkörperung des Technischen, die Heine – durchaus ambivalent – als die „tönende Instrumentwerdung des Menschen“ 60 bezeichnet: 57 | Eduard Hanslick: Geschichte des Concertwesens in Wien, 2 Bde., Wien 1869 und 1870, (Reprint Hildesheim und New York 1979), Bd. 1, S. 349. 58 | Zum „Geist der Maschine“, ihrer phantasmatischen Bedeutung in der Kultur vgl.: Martin Burckhardt: Vom Geist der Maschine. Eine Geschichte kultureller Umbrüche, Hamburg (Campus) 1999. 59 | C. F. Zelter an Goethe, in: Salmen 1993, S. 86. 60 | Heine schreibt in der Lutezia, dass Virtuosität „ganz eigentlich vom Sieg des Maschinenwesens über den Geist“ zeuge, und dass darin die „Präcision eines Automaten, das Identifizieren mit dem besaiteten Holze, die tönende Instrumentwerdung des Menschen“ gefeiert werde; in: DHA 14, 1, S. 45. Ähnlich, und durchaus in positiver Absicht, das Obsessive und Transgressive des Virtuosen zu charakterisieren, schreibt Thomas Bernhard über Glenn Gould: „Im Grunde wollen wir Klavier sein, sagte er, nicht Mensch sein, sondern Klavier sein [...] Der ideale Klavierspieler (er sagte niemals Pianist!) ist der, der Klavier sein will [...] Glenn hatte zeitlebens Steinway selbst sein wollen, er haßte die Vorstellung, zwischen Bach und dem Steinway zu sein nur als Musikvermittler [...] Aber es ist noch keinem einzigen Klavierspieler gelungen, sich selbst überflüssig zu machen, indem er Steinway ist, so Glenn. Eines Tages aufwachen und Steinway und Glenn in einem sein, sagte er, dachte ich, Glenn Steinway, Steinway Glenn nur für Bach.“ Thomas Bernhard: Der Untergeher, Frankfurt a.M. 1986, S. 118f.
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die Übertragung des ‚Geists der Maschine‘ als Transfiguration dessen, was als die Aura des Virtuosen erscheint; die Unfassbarkeit einer ‚übernatürlichen‘ Darstellung und die Faszination eines Zeigens, das über das Machbare hinausweist. Ich möchte diese Seite des Virtuosen – die Faszination des Mechanischen als „Instrumentwerdung des Menschen“ – an einem Beispiel aus dem Tanz erläutern; an der Entstehung des Virtuosen als einer Körperkunst, wie sie das Ballett überhaupt erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts hervorbringt. Der Name, der für diesen Wandel des Tanzes von der Ausdruckskunst des 18. Jahrhunderts, vom ‚ballet d’action‘ eines Noverre und Angiolini, zur virtuosen Körperkunst steht, ist: Carlo Blasis. Er ist der Begründer der Technik des klassischen Balletts und seiner Ästhetik; Schöpfer jenes Code of Terpsichore 61 – so der Titel seiner wichtigsten Schrift, 1828 –, der bis heute die Tradition des Bühnentanzes prägt. Blasis selbst formuliert das Muster dieser Innovation, wenn er fordert, der Choreograph müsse zugleich ein Bewegungsforscher und ein Dichter sein; Autor und Kenner der Mechanik: „In short, a complete Balletmaster is at once author and mechanist.“ 62 Um den Körper zu einer Kunstfigur zu bilden, die als vollkommenes Instrument einsetzbar ist, bedarf es der Grundkenntnisse in Geometrie und Mechanik ebenso wie einer umfassenden Bildung in den Künsten. Blasis’ Verfahren, abstrakte Figuren 63 und Skizzen als Schemata einzusetzen, wird zur Basis einer technischen Anleitung und eines Codes 64 zugleich: 61 | Carlo Blasis: The Code of Terpsichore. The Art of Dancing: comprising its Theory and Practice, and a history of its rising and progress from the earliest times, London 1830. 62 | Vgl. ebd., S. 95. 63 | Blasis gibt damit einen Strukturplan für das Studieren und Memorieren von komplexen Bewegungen vor: „In order that [the] execution may be correct, I have drawn lines [...] over the pricipal positions of these figures, which will give [them] an idea of the exact form they have to place themselves in, and to figure the different attitudes of dancing.“ Ebd., S. 96. 64 | Die Forderung nach einem solchen System – als Instrumentalisierungsprogramm (und gar als ein Mittel zur Nationalerziehung) – findet sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts als philosophische Kulturtheorie des Öfteren. So z. B. bei Johann Gottlieb Fichte, der in seinen „Reden an die deutsche Nation“ schreibt, ein solcher Code der Körpermodellierung, ein „ABC der Körperbewegungskunst“,
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Abb. 1 und 2: Carlo Blasis, The Code of Terpsichore, London (1830)
müsse erst noch geliefert werden: „[...] und zwar bedarf es dazu eines Mannes, der, in der Anatomie des menschlichen Körpers und in der wissenschaftlichen Mechanik auf gleiche Weise zu Hause, mit diesen Kenntnissen ein hohes Maass philosophischen Geistes verbände, und der auf diese Weise fähig wäre, in allseitiger Vollendung diejenige Maschine zu erfinden, zu der der menschliche Körper angelegt ist.“ Diese Disziplinierungskonzepte hat Wolf Kittler in seiner Untersuchung zu Heinrich von Kleist herausgestellt; vgl. W. Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i. Br. 1987, S. 333.
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Dieses Verfahren ist höchst bemerkenswert; verknüpft es doch eine physikalische Bewegungslehre mit einer an der Ästhetik der bildenden Kunst orientierten Körperkonzeption. Der Tänzer wird damit gleichsam zum Maschinisten und zum Skulpteur (zum Poeten) seiner Körperdarstellung. Dabei sei zunächst noch ein Blick auf die Konstruktion dieses „Codes“ und seiner Berührung mit der Mechanik geworfen. Blasis schreibt: I should compose a sort of alphabet of straight lines, comprising all the positions of the limbs in dancing, giving these lines and their respective combinations, their proper geometrical appellations, viz: perpendiculars, horizontals, obliques, right, acute, and obtuse angles etc., a language which I deem almost indispensable in our lessons.65
Blasis’ „Alphabet“ von Linien, geometrischen und stereometrischen Figuren und ihrer Kombinatorik als bewegte Körper, der Code des Tanzes, braucht in der Tat den Bewegungsforscher als Bewegungsphysiker, den Mechaniker. Ein Beispiel, wie Blasis die Mechanik als Matrix von Virtuosität einsetzt, ist die Pirouette. Sie sei, so Blasis, eigentlich eine Errungenschaft des Tanzes erst im 19. Jahrhundert. Früher, noch bei Noverre, habe man die wunderschönen und außerordentlich perfekten raschen Drehungen, die Pirouetten, nicht gekannt.66 Da diese Figuren, die unterschiedlichen Arten zu drehen, äußerst kompliziert sind und „steady uprightness and unshoken equilibrium“ verlangen, behandelt Blasis ausführlich die Drehbewegung selbst und ihre drei Phasen: die Präparation, die Drehung und die unterschiedlichen Möglichkeiten, sie zu beenden.67 Auch hier ist es die Perpendikularlinie, die Schwerkraftbeherrschung, die genau unter Kontrolle sein müsse. Hinzu kommt aber noch die Dynamik der Drehung und die Regelung der Fliehkraft durch die Arme und Beine. Blasis bewegt sich mit dieser ausführlichen Diskussion der Drehmechanik des mensch-
65 | C. Blasis: The Code of Terpsichore, S. 96f. 66 | „Among other ancient artists“, so Blasis, „those beautiful temps of perpendicularity and equilibrium, those elegant attitudes and enchanting arabesques were unknown“, ebd. S. 82. Erst „the best dancers of the day prove the contrary“, S. 83. 67 | Zur genauen Beschreibung der Pirouette durch Blasis, vgl. ebd., S. 82-87.
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lichen Körpers im Schnittpunkt der Bewegungswissenschaften und der Technikkonzepte seiner Zeit. Diese Vorgänge sind in einer Geschichte der Mechanik – theoretisch und praktisch – schon lange bekannt. Erst Ende des 18. Jahrhunderts jedoch findet eine Übertragung dieser mechanischen Forschungen auf die Bewegung von menschlichen und tierischen Körpern und ihrer Funktionskonzeption – etwa in Arbeit, Tanz, Militär und Sport – statt. Gleichzeitig kommt die Technik der Dampfmaschine – mit Schwungrad und Fliehkraftregler – etwa zu dieser Zeit in größerem Umfang zum Einsatz. Zwar waren schon Ende des 18. Jahrhunderts, nach Watts bahnbrechender Erfindung, die ersten Dampfmaschinen konstruiert worden,68 doch erst in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts setzte sich diese Maschinentechnik durch. Es ist auffallend, dass mit dem industriellen Einsatz dieser Technik auch der Diskurs sich wandelt: zum einen in der Ästhetisierung dieser Maschinentechnik, zum anderen in ihrer Anthropomorphisierung. Sie wird in Analogie zur menschlichen Körperbewegung gedacht und metaphorisiert. Dies zeigt sich in den Arbeitskonzepten des 19. Jahrhunderts, in Fragen der Selbststeuerung und den damit verbundenen Ermüdungsdebatten.69 68 | Zum Verhältnis von Körpermaschine und Dampfmaschine im Kontext der Physiologie des 19. Jahrhunderts vgl. Maria Osietzki: Körpermaschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluß von Industrialisierung und Thermodynamik, in: Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Philipp Sarasin und Jakob Tanner, Frankfurt a.M. 1998, S. 313-346. 69 | Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch im Diskurs um den Virtuosen immer wieder die Beobachtung notiert wird, dass er – trotz der unbegreiflichen physischen Leistung – nicht zu ermüden scheine; so z. B. schreibt Zelter über Paganini an Goethe: „Sein Wesen ist also mehr als Musik [...], weil er gar nicht ermüdet, das Fatiganteste in seiner Steigerung wie ein Uhrwerk hervorzubringen, das eine Seele hätte.“ Zit. nach Salmen 1993, S. 86. – Zum Zusammenhang von Mechanik und Ermüdung vgl. z. B. Albrecht Koschorke: Selbststeuerung. David Hartleys Assoziationstheorie, Adam Smiths Sympathielehre und die Dampfmaschine von James Watt, in: Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 20. Jahrhundert, hg. von Inge Baxmann, Michael Franz, Wolfgang Schäffner Berlin 2000, S. 179-190. Siehe auch M. Burckhardt, Geist der Maschine, sowie Anson
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Bezeichnend für den Kontext solcher anthropomorphisierenden Übertragung ist ein Bild mit Bewegungsfiguren von Jean Ignace Grandville, von 1834. Abb. 3: Jean Ignace Grandville, Das Reich der Marionetten; Offenbarung des Balletts (1834)
Das Maschinentheater öffnet hier eine eigenartige, ja groteske Bewegungsbühne – gerahmt durch den obligatorischen Vorhang, mit angedeuteten Zuschauersesseln und applaudierenden Händen. Im Schwungbetrieb der Drehung, in der verzerrenden Dynamik der Fliehkraft gehen die disparatesten Dinge und Formen stufenlos auseinander hervor, ineinander über: eine Transformation im immerwährenden Bewegungsfluß. Im Zentrum aber wirbelt die Sylphiden-Ballerina des romantischen Balletts in einer Pirouette auf Spitze. Sie ist gleichsam das Schwungrad dieser ausgreifenden allgemeinen Rotation. Links von ihr bewegen sich – als eine partikularisierte Körperserie verselbständigt – Beine in arabesk-grotesken Posen. Rechts verwandelt sich der menschliche Körper in der raRabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor. In: Ph. Sarasin/J. Tanner (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft, S. 286-312.
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senden Mechanik der Drehung in eine Puppe und schließlich in einen Kreisel. Dieses Bildszenario treibt die Theatralik der Bewegung, und zwar als Figur virtuoser Mechanik, ins Extrem; über die Grenze des Be- und Verwunderungswürdigen hinaus in die Groteske. Grandvilles Bild inszeniert die Faszination jener gleichförmigen, unerschöpfbaren und sich selbst regulierenden Bewegungsmechanik, die an der Schwelle zum Industriezeitalter den Blick in eine neue Welt der Energie und der durch Technik überlisteten Natur offenbart.70 An diesem Punkt nun berühren sich Mechanik und Poesie – als Muster von Virtuosität – buchstäblich im ‚Dreh-Moment‘ der Pirouette, im Schwindel. Im Schwindel eines neuen, eines hybriden Figur-Konzepts. Auf dem Bild von Grandville ist bereits das Spiel mit dem ästhetischen Reiz der neuen Bewegungsbilder des 19. Jahrhunderts ablesbar, wie sie im Tanz einer Marie Taglioni, einer Fanny Elßler verkörpert sind: die vergängliche Szene virtuoser Körperkunst. Wenn es die Faszination des Technischen ist, das Phantasma der Mensch-Maschine, das dem Bild des Virtuosen anhaftet und ihm einen dämonischen Zug verleiht, so sind es doch zuletzt der Betrieb und die ‚Maschine‘ der Medien, die dieses Bild verbreiten, ja: es überhaupt erst erschaffen. Heinrich Theodor Rötscher hat diesen Zusammenhang in den Begriff der „Reklame“ zusammengefasst. Ein Begriff, in dem Technik und Narration eine Allianz eingehen – eine rhetorische und eine ökonomische Verbindung. Die Reklame, so schreibt Rötscher, sei die „arbeitende Lokomotive des Virtuosenthums“.71 Sie erst gebe dem Virtuosen seinen „wahren Glanz“, mehr noch: „Die Reklame ist nicht minder das Produkt des Raffinements, als das Virtuosenthum selbst.“ 72 Das Staunen, in das der „Virtuose der Schauspielkunst“ sein Publikum versetzt, sein Raffinement, seine Exzentrizität – so bemerkt Rötscher präzise – ist der Effekt eines neuen Mediensystems: Der Journalismus, die „Tagesblätter des Theaters“
70 | Vgl. Allan Feldman: Der menschliche Touch. Zu einer historischen Anthropologie und Traumanalyse von selbsttätigen Instrumenten, in: ReMembering the Body, hg. von Gabriele Brandstetter und Hortensia Völckers, Ostfildern-Ruit 2000, S. 224-260. 71 | H. Th. Rötscher: Das Virtuosenthum in der Schauspielkunst, S. 244. 72 | Ebd.
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Abb. 4: Maria Taglioni (1804-1884) in La Gitana
Abb. 5: Fanny Cerrito in La danse de l’ombre (1843)
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betreiben das „rastlose Räderwerk“ einer Maschine,73 die den Virtuosen ebenso als Agenten wie als Produkt des Diskurses in Szene setzt. Das Ereignis des Auftritts des Virtuosen, das Singuläre dieser Performance – ihre Evidenz – verdankt sich zuletzt der Zirkulation der Medien – und ihrer re-inszenierenden Theatralisation. Keiner wusste das besser als Heinrich Heine, der die schönsten und prägnantesten Erzählungen über Virtuosen – als Zeitungsberichte – geschrieben hat; und der zugleich auch die Funktion der Medien im Prozess des ‚making of‘-virtuoso reflektiert hat, wenn er etwa das Antichambrieren der vielen Möchtegern-Virtuosen beim Direktor der Gazette musicale beobachtet; denn diese ‚neuen Fürsten‘ hätten diese Macht nur, insofern diese ihnen durch Presse und Publikum verliehen werde. Heine ist sich der Bedeutung der Medien und ihrer Überlieferungsfunktion sehr genau bewusst: „Transfigurazionen“ nennt er seine eigenen Übertragungen der Szene des Virtuosen Paganini in die Schreib-Szene seines eigenen virtuosen Erzählstils, indem er, nach einem Wort Adornos, die Sprache gleichwie auf einer Klaviatur nach-spielte. In der Medienzirkulation des Virtuosendiskurses – in Bild, Rezension und vor allem in zahlreichen Anekdoten – verbreitet und verdichtet sich das Imaginäre seines Charismas. Dabei wird immer wieder der romantische Topos des „Magnetiseurs“ 74 als Formel für die Effekte einer Hysterisierung des Publikums, insbesondere des weiblichen Publikums, eingesetzt – wie Heine dies am Beispiel des Pianisten Sigismund Thalberg 75 (der freilich eine rühmliche Ausnahme darstellt) berichtet: Die gesunden und die kranken Weiber lieben ihn, obgleich er nicht durch epileptische Anfälle auf dem Klavier ihr Mitleid in Anspruch nimmt, obgleich er nicht auf ihre überreitzt zarten Nerven spekuliert, obgleich er sie weder elektrisiert noch galvanisiert.76 73 | Vgl. ebd.; Rötscher verwendet in diesem Zusammenhang auch die Metapher von der „Dampfkraft der Reklame“ (S. 247). 74 | Der „Magnetiseur“, wie er als romantische Figur in der gleichnamigen Erzählung E.T.A. Hoffmanns entworfen ist: als Magier, der mittels hypnotischer Kräfte in die Seele der (weiblichen) Anderen eindringt und sich der Bilder des Unbewußten bemächtigt. 75 | Thalberg war der große Kontrahent von Franz Liszt; Publikum, Kritker und Agenten verfolgten diese Karrieren bis hin zu regelrechtem Pianistenwettstreit – gleichsam ‚Virtuosenduellen‘. 76 | Vgl. H. Heine: Lutezia II, LVI (Paris, 26.3.1843), in: DHA, S. 51.
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So wird der Dichter als Journalist zum Gespensterbeschwörer, indem er das Unbegreifliche des Virtuosen – wie aus einer anderen, geisterhaften Welt – auf dem Bildschirm der Einbildungskraft seiner Leser auferstehen lässt. In dieser ‚Manier‘, „transfigurierend“, beruft Heine in den Florentinischen Nächten Paganini, den ‚Teufelsgeiger‘, als „Vampir mit der Violine“ aus dem Dunkel: Ist das ein Lebender, der im Verscheiden begriffen ist und der das Publikum in der Kunstarena, wie ein sterbender Fechter, mit seinen Zuckungen ergötzen soll? Oder ist es ein Todter, der aus dem Grabe gestiegen, ein Vampir mit der Violine, der uns, wo nicht das Blut aus dem Herzen, doch auf jeden Fall das Geld aus den Taschen saugt?77
So trägt sich der Mythos des Virtuosen – ein dichtes Gewebe divergierender Diskurse – in das Gedächtnis der Geschichte ein: durch die Anekdote. So beginnt Heine seine Paganini-Erzählung in den Florentinischen Nächten 78 mit einer Anekdote, die das Problem, wie denn überhaupt ein Porträt des Virtuosen und seiner unbegreiflichen Erscheinung vor Augen zu stellen sei, thematisiert. Ausgerechnet einem tauben Maler, so heißt es im Text, sei dies als Einzigem gelungen: Ich glaube es ist nur einem einzigen Menschen gelungen, die wahre Physiognomie Paganinis aufs Papier zu bringen; es ist ein tauber Maler, Namens Lyser, der, in seiner geistreichen Tollheit, mit wenigen Kreidestrichen den Kopf Paganinis so gut getroffen hat, daß man ob der Wahrheit der Zeichnung zugleich lacht und erschrickt. 79 77 | Vgl. H. Heine: Florentinische Nächte, DHA 5, S. 199-250, hier S. 216. – Dabei wäre in einer kulturhistorischen Betrachtung des Virtuosen die Inszenierung des Kultes (z. B. um Paganini, oder um Fanny Elßler) und vor allem die Rolle des Geldes für die Bewertung des Stars im einzelnen zu rekonstruieren. Schon aus den Geschenken und Honoraren der berühmten Kastraten, später vor allem aus den Entrittspreisen der Konzerte etwa Paganinis und Liszt berechnet sich so etwas wie ein „Kurswert“ des Virtuosen in der Ökonomie einer Kunst- und Event-Szene des 18. und 19. Jahrhunderts. 78 | In einer ausführlicheren Lektüre – für die hier nicht der Raum ist – müßte auch die Konfiguration und Rahmung dieser Paganini-Erzählung (die ja durch die Erzählerfigur Maximilian am Krankenbett einer jungen Frau mit dem Namen „Maria“ berichtet ist) genauer einbezogen werden. 79 | DHA 5, ebd., S. 214. Johann Peter Lyser (1803-1870, eig. Ludwig Peter Au-
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Abb. 6: Gemälde von J. H. Jacob, Niccolò Paganini; Lithographie von L. Rados (1813)
Der taube Maler wird nun zur Perspektiv-Figur, zur ‚Persona‘ des Erzählers; denn wie dieser, der „den Musikern die Musik auf dem Gesichte zu lesen, und an ihren Fingerbewegungen die mehr oder minder gelungene Exekuzion zu beurtheilen“ in der Lage sei, der also das im Wortsinn ‚Un-erhörte‘ des Virtuosen aufnimmt und „in der sichtbaren Signatur des Spieles [...] die Töne sehen“ 80 kann, sucht der Dichter dieses Ereignis im Material der Sprache zu bilden: „Giebt es doch Menschen denen Töne selber nur unsichtbare Signaturen sind, worin sie Farben und Gestalten hören.“ 81
gust Burmeister) war ein vielbeschäftigter Maler; Lyser schrieb auch Musikkritiken und literarische Texte. Er stand zeitweise (1829-1831) in engem Kontakt zu Heine; und er verfaßte selbst mehrere Paganini-Erzählungen; vgl. hierzu den ausgezeichneten Kommentar der Düsseldorfer Heine-Ausgabe, ebd., S. 979f. 80 | Ebd., S. 214. 81 | Ebd.
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Abb. 7: Paganini-Karikatur von Johann Peter Lyser (1803-1870), Karikatur auf die Wiener Konzerte
Nichts könnte die Figur des Virtuosen und die Muster ihrer topischen Erscheinung sinnlich besser evident machen als jene Anekdote vom tauben Maler, der das Phantasma der unerhörten Musik als Signaturen des ephemeren Ereignisses zu Papier bringt. Solche „Transfigurazionen“ werden schließlich, mit der Fiktion einer Ekphrasis der Lyserschen Paganini-Zeichnungen, zum Medium, in dem der Dichter die Erscheinung des Virtuosen als dämonischen Teufelsgeiger 82 in Szene setzt: nach Art einer Re-Komposition eines mehrteiligen Konzertabends als ein Theater, in dem Himmel und Hölle zur Beglaubigung der Magie seines Auftritts in Bewegung gesetzt werden. Und so ist es im Rahmen dieses poetisch-transfigurativen Verfahrens, das die Figur des Virtuosen – ironisch – aus der Anekdote entstehen lässt, nur konsequent, dass Paganini ein
82 | Heine greift in seiner Paganini-Episode die zahlreichen Mythen und Anekdoten um Paganini, die den Geiger u.a. auch mit einem Teufelspakt ausstatten, auf und gestaltet daraus eine proteisch-dämonische Virtuosenfigur, die sich aus mehreren Bildern, wie eine sich wandelnde tableaux vivant-Szenerie, zusammensetzt. Zu Heines Besuch von Konzerten Paganinis in Hamburg 1830, zu seiner Absicht einer Schrift über Paganini vgl. den genauen und materialreichen Kommentar der DHA 5, S. 975ff.
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„Diener“ beigegeben wird, der Anekdotenschreiber ist – ein besonderer freilich, in dessen Gestalt der Satan verborgen ist: Das unwissende Volk meint freylich, dieser Begleiter sey der Commödien- und Anekdotenschreiber Georg Harris aus Hannover, den Paganini auf Reisen mitgenommen habe, um die Geldgeschäfte bey seinen Conzerten zu verwalten. Das Volk weiß nicht, daß der Teufel dem Herren Georg Harris bloß seine Gestalt abgeborgt hat [...].83
So geriert sich der Erzähler in Heines Text als Anekdotenschreiber des Anekdotenschreibers, der gleichsam als Regisseur und Theatermacher im Pakt mit dem Virtuosen steht. Die Anekdote – als eine Form der Geisterbeschwörung – wird dabei zum narrativen Behältnis für das Ephemere der Performance; für die erotisierende Kraft und das Außerordentliche dieses Ereignisses. Die Anekdote ist der Speicher der sozialen Energie,84 die die Szene des Virtuosen entfaltet. Seine Bedeutung für das kulturelle Imaginäre des 19. Jahrhunderts kann aus diesen Narrativen, und vielleicht nur noch aus ihnen, lesbar werden. So setze ich nun auch an das Ende meiner Überlegungen zur Figur des Virtuosen eine Anekdote, die seine Evidenz geradezu als eine Beschwörung seiner erotisch-dämonischen Züge und ihrer gespensterhaften Wiedergängerei beruft. Es ist eine Anekdote, die über Paganini immer wieder erzählt wurde und die sein Virtuosen-Kollege Franz Liszt sogar in den Nekrolog auf den berühmten „Teufelsgeiger“ einfügte: Das Aufsehen, das er [Paganini] erregte, war so außerordentlich, der Zauber, den er auf die Phantasie seiner Hörer ausübte, so gewaltig, daß diese sich nicht mit einer natürlichen Erklärung zufriedengeben wollten. Alte Hexen- und Spuk-
83 | DHA 5, ebd., S. 215. 84 | Zur Bedeutung der Anekdote für eine Theorie der Kulturwissenschaft, wie sie der New Historicism entwickelt hat, vgl. Catherine Gallagher/Stephen Greenblatt: Practicing New Historicism, (darin u.a.: Counterhistory and the Anecdote, S. 4975) Chicago and London 2000; und Joel Fineman: The History of the Anecdote: Fiction and Fiction, in: H. Aram Veeser (Hg.): The New Historicism, New York 1989, S. 49-77.
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geschichten des Mittelalters tauchten vor ihr auf, man suchte das Wunderbare seines Spiels aus seiner Vergangenheit zu erklären, das Unerhörte seines Genies auf übernatürliche Weise zu begreifen, ja man munkelte, daß er seine Seele dem Bösen verschrieben, und daß jene vierte Saite, der er so zauberische Weisen entlockte, der Darm seines Weibes sei, das er eigenhändig erwürgt habe. 85
Zuletzt gilt es nun noch – quasi als Coda – einen Ausblick ins 20. Jahrhundert zu versuchen: mit der Frage, ob und wie sich eine Szene des Virtuosen verändert hat im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Bild und Klang. In diesem Zusammenhang ist immer wieder zu lesen, dass darstellende Künstler sich nunmehr im Wettbewerb mit den Aufzeichnungen befänden; dass sie sich in der misslichen Lage sähen, der Konserve eigener oder fremder „Ideal“-Produktionen hinterher zu spielen.86 Damit wäre der Virtuose also aus der Szene von Konzert, Theater, Tanz verschwunden? Oder sollte es nicht vielmehr darum gehen, die Frage anders zu stellen? Nicht zur Rettung eines Begriffs vom Virtuosen aus dem 19. Jahrhundert, der nun gegen die neuen Medien antritt – und das Feld räumen muss. Sondern vielmehr als die Frage nach dem Wandel eines Wahrnehmungsraums, in dem eben jene Ereignisse von Evidenz, die sich an die Szene des Virtuosen koppeln, anders – und doch noch immer und wieder stattfinden: und dies vielleicht in einer Weise, die durch die Medien und ihre spezifischen Möglichkeiten von Theatralisation überhaupt erst eröffnet wird? So ließe sich das Klavierspiel Glenn Goulds (und sein Medien-Mythos) verstehen; so auch das transfigurative Tanzkonzept William Forsythes. 85 | F. Liszt: Paganini, in: Salmen 1993, S. 228. – Auch Heinrich Heine, im Rekurs auf den schon erwähnten Maler und Schriftsteller Lyser, berichtet diese Anekdote über Paganini und die Ermordung seiner „Amata“ als Beginn seiner Karriere als „Teufelsgeiger“ (wobei hier implizit das Wortspiel „von der ‚Amata‘ zur ‚Amati‘ [Violone]“ mitspielt): vgl. den Entwurf Heines: „So, z. B. Paganinis erstaunliches Violinspiel sucht das Volk dadurch zu erklären, daß dieser Musiker aus Eifersucht seine Geliebte ermordet, deßhalb lange Jahre im Gefängnis zugebracht, dort zur einzigen Erheiterung nur eine Violine besessen, und, indem er sich Tag und Nacht darauf übte, endlich die höchste Meisterschaft auf diesem Instrument erlangt habe.“ vgl. DHA 5, Kommentar, S. 977. 86 | So z. B. Betz, in: Virtuosen, S. 24.
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Was damit bliebe, wäre das Virtuose als ‚Szene des Transgressiven‘. Und eben dies könnte unsere Aufmerksamkeit heute darauf lenken, dass die Performance nun ‚verschoben‘ ist: dass sie vielleicht gerade im ‚Entzug des Virtuosen‘ den Schauplatz neu und anders öffnet für eine mögliche Evidenz des Unwahrscheinlichen. Und dass dies nicht, wie man vielleicht glauben mag, in den global vermarkteten großen ‚events‘ – in der Szene der Stars 87 – stattfindet, sondern an den Rändern des kulturellen Raums und der darstellenden Kunst: als Morsezeichen ‚kleiner Übertritte‘ im Vorübergehen.
87 | Es wäre in der Tat zu überlegen, ob nicht die Szene der Stars im 20. Jahrhundert eine andere Seite einer kulturellen Performance repräsentiert; nicht die Nachfolge des Virtuosen als Figur von Evidenz (so meine These), sondern, davon abgehoben, die Dimension des Personen bzw. ‚Persona‘-Kults; aus den zahlreichen Publikationen zum Thema „Star“ und „Superstar“ sei hier stellvertretend angeführt: Stars. Annäherungen an ein Phänomen, hg. von Wolfgang Ullrich und Sabine Schirdewahn, Frankfurt a. M. 2002.
Applaus Die Gesten des Virtuosen Bettina Brandl-Risi Ein großer Saal voller Applaus. Der Ausstellungsraum des Haus am Waldsee in Berlin klingt wieder vom tosenden Klatschen der vielen, dann wieder synchronisiert sich auch nur das trockene, fast abwartende Klatschen des einen Händepaares mit einem zweiten oder dritten. So erfüllt von Klang die Räume sind, so eigenartig macht sich jedoch die Abwesenheit dessen bemerkbar, das diesen Klang erzeugt: die Geste der klatschenden Hände. Es ist nicht so, dass ich nichts zu sehen bekomme, während ich durch die Räume von Via Lewandowskys Ausstellung Applaus gehe: auf
Abb. 1: Via Lewandowsky: Applaus/Applause. Ausstellung Haus am Waldsee Berlin, 9.11.-28.12.2008.
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mannshohe Stative montierte Lautsprecher, zu mehreren gruppiert und im größten Saal wie zu einem Wald geballt, eindrucksvolle Kabel, eine offen zur Schau gestellte Computersteuerung der Klangmontage. Doch gerade die Aussparung der Geste macht die Wirksamkeit von Applaus präsent. Ich suche nach denjenigen, die applaudieren, und denjenigen, denen applaudiert wird. Ohne Frage ist Applaus gebunden an den menschlichen Körper, seine Präsenz und seine Handlungen, die Situationen, in denen das nicht der Fall ist, rufen gleich jenes merkwürdige Gefühl von Unangemessenheit hervor, das sich in Via Lewandowskys Installation als erstes herstellt, wie bei Applaus im Kino oder anders bei Konservenapplaus im Fernsehen. Es geht beim Applaus um eine Aushandlung einer Anerkennung, eine Würdigung einer Leistung, die – und das wäre die These, der ich nachgehen möchte – sowohl gestisch produziert als auch gestisch beglaubigt wird. Bezogen auf ein Objekt, eine Leistung, eine Performance und gleichzeitig auf alle anderen, die als Publikum sich konstituieren gerade in diesem Moment von Akklamation oder Ablehnung. Und damit – soviel sei hier schon eingeräumt – geht es gar nicht darum, einer vermeintlichen Authentizität der Geste und Objektivität von Leistung das Wort zu reden, vielmehr erweist sich gerade dieses Verhältnis von Geste und Leistung, das zwischen Performern und Publikum hin- und hergespielt wird, insbesondere, wenn es sich als Geste des Virtuosen präsentiert, als ambivalentes und prekäres Feld. Denn schon der Virtuose selbst, jener Ausnahmekünstler, den das 19. Jahrhundert hervorgebracht und gefeiert hat, macht sich die Geste zunutze, um diejenige Leistung als eine Schwierigkeit auszustellen, die andernfalls vielleicht nicht ad hoc wahrnehmbar und identifizierbar wäre für sein Publikum, sich jedenfalls nicht zu demjenigen Effekt verstärken würde, der Begeisterung und die Gesten des frenetischen Applaudierens auslöst.1 1 | Zu den verschiedenen Konzepten von Gesten, die meinen Begriff der performativen doppelten Geste des Virtuosen geprägt haben, vgl. Giorgio Agamben: Noten zur Geste, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.): Postmoderne und Politik, Tübingen 1992, S. 97-107; Margreth Egidi, Oliver Schneider, Matthias Schöning [u.a.] (Hg.): Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild, Tübingen 2000; Cornelia Müller: Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte – Theorie – Sprachvergleich, Berlin 1998; Gunter Gebauer, Christoph Wulf: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek bei Hamburg 1998. Flussers Begriff der „Geste des
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Virtuosität entfaltet sich in einer Szene gegenseitiger Steigerung, bei der Gesten eine entscheidende Rolle spielen, da die Leistung des Performers ebenso gestisch sinnfällig gemacht wird wie die Anerkennung des Publikums im Applaus. Leitend für meine Betrachtung des Virtuosen ist die Frage, inwiefern der außerordentlichen Leistung des virtuosen Performers eine spezifische Leistung des Rezipienten korreliert, das Virtuose sich also nur im Sinne einer relationalen Ästhetik bestimmen lässt. Einerseits evoziert die virtuose Performance begeisterte Reaktionen eines Publikums, das im Virtuosen die höchste Form menschlichen Vermögens erblickt und in ein intensives affektives Verhältnis zum Performer tritt. Andererseits provoziert sie ebenso Skepsis gegen eine Exzellenz, die sich nicht zuverlässig anhand der geltenden Normen objektivieren lässt. So gehe ich von der Hypothese aus, dass die virtuose Performance eine spezifische Rezeptionsfähigkeit des Publikums ausbildet, die dieses allererst befähigt, Virtuosität als Leistung zu würdigen oder ihr diesen Status zu bestreiten. Zuschauer und -hörer werden ihrerseits zu Virtuosen der Wahrnehmung erzogen. Virtuosität stellt insofern ein Experimentierfeld für die performative Erprobung und Reflexion von Leistungsfähigkeit in kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten dar, als hier die Arbeit des Zuschauers als Partizipation in einen ähnlichen Prozess der Steigerung und Differenzierung involviert wird wie die Performance. Auch der Rezipientenleistung haftet allerdings der prekäre Status des Virtuosen zwischen akklamierter Exzellenz und Scharlatanerie auf der anderen Seite an. Die exzessive Überschreitung von Standards, die Virtuosität auszeichnet, bedarf einer gewissen Kennerschaft, die sich jedoch nicht als ausgewiesenes Expertenwissen etablieren muss. Der Virtuose performt nicht in erster Linie für den Experten, sondern für eine breite Öffentlichkeit und macht es seinem Publikum dabei leicht, ihm bei der Meisterung einer Schwierigkeit zu folgen, indem er sein Können ostentativ, mit großer Geste inszeniert. Schon in den Debatten des 19. Jahrhunderts ist das Musikhörens“ fügt sich zwar in meine Diagnose der Reziprozität und Relationalität der Gesten des Virtuosen ein, allerdings versteht Flusser diese Geste nicht als eine Körperbewegung, sondern eine empfangende Körperstellung, indem der Körper im Prozess des Hörens von Schallwellen ergriffen wird und mitschwingt (Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, 2. durchgesehene und um einen Anhang erweiterte Aufl., Bensheim 1993, S. 155).
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Virtuose nicht gleichbedeutend mit Schwierigkeit, sondern in einer Mischung aus technisch schwierig und dankbar, also effektvoll, zu finden. E.T.A. Hoffmann konstatierte bereits 1813 zur Klaviermusik Beethovens in seinen Kreisleriana, dass insbesondere deswegen „mancher so genannte Virtuose“ sie verwerfen würde, da sie nicht allein „sehr schwer!“ sondern noch dazu „sehr undankbar!“ in der Ausführung sei, sie also eine Schwierigkeit enthielte, deren Bemeisterung keinen äußerlich wahrnehmbaren Effekt erzielt, ganz im Gegensatz zu jenen „halsbrecherischen Passagen auf und ab mit beiden Händen, alle die seltsamen Sprünge, die possierlichen Capriccios, die hoch in die Luft gebauten Noten mit fünf- und sechsstrichigem Fundament, von denen die Flügel-Kompositionen neuester Zeit erfüllt sind“.2 Welches Virtuose und welche Virtuosen sind hier nun gemeint?3 Geht es dem Ballett, das sich im 19. Jahrhundert über die Technisierung und Maschinisierung der Körperbewegung und das Medium des Spitzenschuhs als virtuose Disziplin quasi neu erfindet, wesentlich darum, Schwierigkeit zu dissimulieren, also das Schwierige leicht und mühelos aussehen zu lassen, so mutiert die virtuose Beherrschung eines Instruments bei Instrumentalmusikern wie Niccolò Paganini und Franz Liszt zu einer auffälligen Körperkunst, die entgegen der disziplinierten Bewegungsschule ihrer Vorgänger erstmals den ganzen Körper involviert und gezielt das Augenmerk auf die gestische Bemeisterung schwierigster Herausforderungen lenkt (ohne jedoch die Frage der Leichtigkeit dabei zu vernachlässigen). Der Bewegungsraum der Instrumentalisten vergrößert sich ungemein gegenüber dem zur Klangerzeugung notwendigen und stellt in den großen Gesten der Meisterung gerade das Schwierige und Riskante der Virtuosität aus, wie dies Dana Gooley für den Klaviervirtuo2 | E.T.A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callots Manier, München 1993, S. 48; vgl. Heinz von Loesch: Virtuosität als Gegenstand der Musikwissenschaft, in: ders., Ulrich Mahlert, Peter Rummenhöller (Hg.): Musikalische Virtuosität, Mainz 2004, S. 11-16, hier S. 12. 3 | Vgl. hierzu Gabriele Brandstetter: Die Szene des Virtuosen. Zu einem Topos von Theatralität, in: Gerhard Neumann [u.a.] (Hg.): Hofmannsthal Jahrbuch zur Europäischen Moderne, Freiburg i. Br. 2002, S. 213-243 [Wiederabdruck in diesem Band, S. 23-56]; Bettina Brandl-Risi: Art. Virtuosität, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 382-385.
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sen Liszt herausgearbeitet hat.4 In der Schauspielkunst wiederum knüpft sich die Virtuosität der großen Stars regelmäßig auch an eine individualisierte Geste, mit der der Virtuose gleich einem Markenzeichen sein Spiel versieht, wie etwa dem Hinken, prägnanten Gesten wie dem Fingerspreizen oder Taschentuchzerknüllen der Duse, ohne dass hier Schwierigkeit in ähnlicher Weise auffällig würde wie in der Musik. Im Zusammenhang dieses Beitrags möchte ich bei den Instrumentalvirtuosen bleiben und einem Publikum, das als audience und spectators adressiert wird, und zwar in einer Zeit, in der die Szene des Virtuosen in einem explizit ökonomischen Szenario gedacht werden muss, nicht nur die Aufmerksamkeitsökonomien betreffend, sondern sehr konkret die Professionalisierung der Performer und die Marktförmigkeit der Auftrittsorganisation. Die Geste des Virtuosen ließe sich vielleicht so fassen: es ist dasjenige, das etwas zu sehen gibt – sichtbar machen implizierte schon zuviel Ursache – und ohne diese körpergebundene Aktion nicht (zuverlässig) offenkundig würde, gewissermaßen ein Medium der Verstärkung. Die Geste des Instrumentalvirtuosen ist diejenige, die über das Funktionale der Klangerzeugung, also über jene technischen Bewegungen zum Bedienen des Instruments, die weitgehend automatisiert sind, hinausgeht. Sie kann Effekt von Kraftaufwand, Anstrengung oder auch von unterstellter innerer emotionaler Beteiligung sein, aber erschöpft sich nicht darin. Wesentlich ist: Sie entspricht nicht dem Ideal der kontrollierten Geste, das im Gefolge der antiken Rhetorik lange wirksam blieb. Über das Nötigste hinaus zur Schau gestellte Körperlichkeit des Musizierens galt bis ins 19. Jahrhundert hinein als unschicklich, da unter dem Vorbehalt des Theatralischen beargwöhnt, aber genau das wird die Geste nun: inszeniert, ohne dies pejorativ verstehen zu wollen – wie Gabriele 4 | Die Körperlichkeit des Spiels und die visuelle Dimension der Instrumentalvirtuosität betont Gooley in seiner Studie zu Liszts Virtuosität im Gegensatz etwa zu dessen Kontrahenten Sigismund Thalberg, der sich durch disziplinierte Körperbewegungen beim Klavierspielen auszeichnete und ein anderes Modell des Beherrschens virtuoser Schwierigkeit zur Schau stellte. Liszts Virtuosität stellte sich dagegen gerade im Gestischen seines Spiels für das Publikum her, sie war ohne die visuelle Wahrnehmung nicht komplett (auch weil das Gestische eine Orientierung im kompositorisch/interpretatorisch nicht mehr kohärenten Feld bot). Vgl. Dana Gooley: The Virtuoso Liszt, Cambridge 2004, besonders Kapitel 1: Liszt, Thalberg, and the Parisian publics, S. 18-77.
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Brandstetter es in ihren Überlegungen zur Geste im Tanz genannt hat: eine Geste zweiter Ordnung 5, immer schon adressiert an die Wahrnehmung und auf eine Übertragung auf Körper und Bewegungen bezogen. Berichte, Anekdoten und Bildquellen zu Liszt zeigen eine Fixierung auf seine Hände und deren Möglichkeiten: der Eindruck, seine Hände würden beim Spiel länger werden; er habe einen sechsten Finger oder zehn Finger pro Hand oder – besonders beliebt – eine Vielzahl von Händen.6 Ähnlich den Füßen der Ballerinen sind die Hände von Klaviervirtuosen wie Liszt Gegenstand von Fetischisierung geworden; zahlreiche Abgüsse und Nachbildungen dieser seiner Instrumente finden sich. Abb. 2: Gipsabguss von Liszts rechter Hand (im Alter).
5 | Gabriele Brandstetter: Gesten und Gags – Im modernen und zeitgenössischen Tanz, in: Christoph Wulf, Erika Fischer-Lichte (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, München 2010, S. 254-265, hier S. 256. 6 | Vgl. Gesa von Essen: „… wie eine melodische Agonie der Erscheinungswelt“. Literarische und feuilletonistische Liszt-Paraphrasen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Hans-Georg von Arburg (Hg.): Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne, Göttingen 2006, S. 187-216, hier S. 197.
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Insbesondere das Vergrößerungsglas der Karikatur weist auf das gestische Potential, die gestische Qualität virtuosen Performens besonders deutlich hin. Das Ostentative der Virtuosität, das sich in entsprechenden kompositorischen und interpretatorischen Topoi äußert wie dem Dramatischen, dem Scherzosen, dem Triumphalen 7, wird seinerseits karikierend verstärkt.8 Abb. 3a/b: Karikaturen von Franz Liszt (1873).
7 | Vgl. von Loesch: Virtuosität als Gegenstand der Musikwissenschaft, S. 14. 8 | Ein später Nachhall dieser gestischen Hexerei des Virtuosentums findet sich noch in den Bewegtbildern des Cartoons The Cat Concerto von 1946, in dem die Protagonisten Tom und Jerry Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2 als Inszenierung virtuoser Schwierigkei-ten im Duell performen, Virtuosität damit als gestische Explosion evident wird.
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Dass das gestische Potential des Virtuosen sich eigentlich in einer Übertragungsbewegung auf den Körper des Wahrnehmenden realisiert, lässt sich an Wilhelm Buschs Der Virtuos. Ein Neujahrskonzert (1865) nachvollziehen. Die Konstellation des Performers zu seinem Zuhörer und -schauer macht die Übertragung der Schwierigkeit über die Auflösung der Körperkonturen sichtbar, und hier finden sich neben den Topoi auch die vervielfältigten Hände, insbesondere im Schluss der Sequenz: Abb. 4a-d: Wilhelm Busch: Der Virtuos. Ein Neujahrskonzert (1865): Fuga del diavolo, Forte vivace, Fortissimo vivacissimo, Finale furioso.
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Die Visualität musikalischer Virtuosität scheint auch in den Metaphern der Brillanz, des Hellen und Glänzenden auf, die den Virtuosendiskurs begleiten. Der große Klavierpädagoge Carl Czerny etwa wies 1839 in seiner Vollständigen theoretisch-practischen Pianoforte-Schule op. 500 darauf hin, dass „brillantes Spiel“, also veränderter Anschlag und anders organisierte Bewegungen, auch gewöhnliche Passagen bewunderungswürdig erscheinen lassen können und die Wirkung auf das Publikum enorm steigern. Brillantes Spiel müsse „einer Schrift gleichen, die man auch in der Ferne lesen kann“, jedoch – insofern verwahrt sich Czerny hier gegenüber virtuoser Selbstinszenierung – ohne eine „Gefallsucht“ des Spielers zu offenbaren.9 Interessant wird es eben genau dort, wo der als unwillkürlich erscheinende Ausdruck emotionaler oder physikalisch-kräftebezogener Bewegung in den Gestaltungsraum übergeht, der durch Vergrößerung, Intensivierung und Hervorhebung mit der Unwillkürlichkeit zu spielen 9 | Zit. nach Hermann Gottschewski: Die Klaviervirtuosität und ihre Krise um 1840. Drei Innenansichten, in: von Arburg (Hg.): Virtuosität, S. 83-101, hier S. 88.
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vermag: Gesten also nicht mehr einfach einer Ursache-Wirkung-Relation entsprechen, sondern eine solche Kausalität zu inszenieren und produzieren vermögen. Der Anschein virtuoser Schwierigkeit und das Fragwürdige ihrer Messbarkeit und Leistung wird genau in jener verschobenen Geste augenfällig. Die Gesten des Virtuosen durchtrennen den Zusammenhang von Innen und Außen, das Postulat eines äußeren Ausdrucks einer inneren Bewegung, ohne die Wirkung der Gesten als sichtbarer Ausdruck von etwas (Schwierigkeit, Anstrengung, Anerkennung) damit zu dementieren und grundlegend zu beeinträchtigen. Sie machen nur die Ambivalenz des Virtuosen als potentielle Scharlatanerie oder Ignorantentum offenkundig. Und das Publikum? Es applaudiert, naturgemäß. Doch das wäre zu wenig gesagt. Die zur Schau gestellte Geste des Schwierigen evoziert im Publikum jene enthusiastische Reaktion, die sich zuallererst gestisch äußert: im brausenden Applaus, der Geste vervielfachten Klatschens. Die Wirkung etwa von Liszts Klavierspiel auf seine Konzertbesucher beschreibt Ludwig Rellstab 1842 in seiner Monographie Franz Liszt. Beurtheilungen – Berichte – Lebensskizze als eine, die das Publikum im „Durcheinanderstürmen der Effekte […] halb taumelnd und bewusstlos fortreißt“.10 In der zeitgenössischen Kritik wird diese Übertragung etwa im Falle Liszts häufig über Theorien der Elektrizität und Nervenreizung beschrieben.11 Die Gesten des Virtuosen, auf und vor dem Podium, sind naturgemäß nicht nur sichtbare körperliche Bewegung, sondern zur selben Zeit Produktion von akustischen Ereignissen. Die Geste des Klatschens setzt die Hand wie ein Instrument zur Geräuscherzeugung ein und bringt wiederum auch weitere Aktionen mit sich, sichtbare und hörbare wie BravoRufe, Encores, Weinen, Lachen etc. Sie stellen eine räumliche Relation her als Übertragung, haben jedoch einen unterschiedlichen temporalen Horizont: dem Virtuosen geht es darum, Höhepunkte zu markieren, seine Gesten sind nicht anhaltend, während die Klatschgeste konstitutiv repetitiv ist, über eine Dauer aufrecht erhalten wird und erst in der Wiederholung Sinn macht. Der Differenzierung und Verstärkung ist die Geste des Performers über Vergrößerung und Ausdehnung im Raum und in 10 | Zit. nach von Essen: „…wie eine melodische Agonie der Erscheinungswelt“, S. 201. 11 | Vgl. Gooley: The Virtuoso Liszt, S. 206f.
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der Intensität (auch der Tonproduktion) zugänglich, die des Publikums eher über eine Ausdehnung in der Zeit, die damit auch als Bewegung und akustisch den Raum besetzt; sie kann auch Intensität produzieren durch eigene Vergrößerung, aber insbesondere durch Vervielfachung und durch Andauern. Das Übertragungsverhältnis zwischen Performer und Publikum identifiziert der Lisztforscher und Philosoph Vladimir Jankélévitch in der grundlegenden Reziprozität zwischen den beiden: bei der geglückten Vorstellung ist das Publikum virtuos mit dem Virtuosen, hat Anteil an dessen Allmacht. Das ist der Effekt des Charismas des Virtuosen: Das Publikum feiert den eigenen Triumph. Ebenso lässt das Misslingen das Publikum an sich selbst zweifeln. Das alles hat irrationalen Charakter: je suspekter der Sieg, desto blinder und ungerechtfertigter die Ovationen. In einem Zirkel der Begeisterung und Enttäuschung haben die Bewunderer die bewunderte Vorstellung gefeiert und feiern dann ihre Bewunderung, applaudieren dem eigenen Applaus. Inflationärer Enthusiasmus; Erfolg gebiert Erfolg, oder: Buhrufe gebieren Buhrufe.12 Somit ist das Virtuosenpublikum selbst dem Virtuosen zugänglich, nicht nur in dem Sinne, in dem der Musikschriftsteller Friedrich Rochlitz in seiner Hörertypologie Ueber den Genuss der Musik in der AMZ 1815 einen Hörertyp der „Virtuosen, die nichts sind, als Virtuosen“ identifizierte: „Für sie haben nur Schwierigkeiten und sogenannte Hexereyen und deren gute oder üble Ausführung Interesse“.13 Inwiefern dies ein einerseits individueller Ausdruck von Begeisterung ist, andererseits eine kollektive Form der Anerkennung, und eine kollektivierende Wirkung erzielt, lässt sich insbesondere an jener Form der Organisation des Klatschens nachzeichnen, die als „assurance de succès dramatiques“ im Paris des 19. Jahrhunderts legendär und berüchtigt wurde: der Claque.14 12 | Vladimir Jankélévitch: Liszt et la Rhapsodie, Bd. 1: Essai sur la virtuosité (= De la musique au silence, Bd. V/1), Paris 1979, S. 104f. 13 | Zit. nach Daniel Fuhrimann: Herzohren für die Tonkunst. Opern- und Konzertpublikum in der deutschen Literatur des langen 19. Jahrhunderts, Freiburg i. Br./ Berlin 2005, S. 50. 14 | Zur Institution der Claque liegt bislang keine umfangreichere Studie vor, lediglich kleinere Essays und kurze Abschnitte in Theater-, Opern- und Musikgeschichten sowie zeitgenössische literarisch-essayistische Texte etwa von
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Mithilfe dieser historischen Konfiguration von Publika lassen sich Zuschauer bzw. Zuhörer als Akteure in einem Sinn verstehen, der die Idee der Aufführung gemäß Erika Fischer-Lichte als durch eine autopoietische Feedbackschleife hervorgebrachte 15 noch einmal differenziert und potenziert in Hinblick auf die Feedbackprozesse innerhalb des Publikums als Akteure. Das Verhältnis Performer – Publikum ist dabei jedoch nicht per se symmetrisch, gleichberechtigt, gar demokratisch (es ist nicht die Rede von einem Rollenwechsel), jedoch stellt sich eben genau die Frage, wie sich Partizipation und eine Art von „esthétique relationnelle“ (in Anlehnung an den von Nicolas Bourriaud 16 geprägten Begriff) unter den historischen Bedingungen des Virtuosen formulieren lassen. Publikum reagiert hier auf Publikum, das sich schon vor dem Auftritt des Performers etabliert mit einer spezifischen Ökonomie von Erwartung, Aufmerksamkeit und Begeisterung. Dieses Publikum ist individualisiert, aber Begeisterung lässt Teilhabe an einer Form von Gemeinschaft als möglich erscheinen, als Teilhabe an einem Ereignis als temporäre Synchronisierung zwischen Genuss und Profit.17 Einem ähnlichen Differenzierungs-, Verfeinerungs- und Perfektionierungsprozess wie die Performance, die eine virtuose wird, sieht sich auch das vermeintlich nur rezeptive Konzert- und Theaterpublikum des 19. Jahrhunderts ausgesetzt. Historische Untersuchungen zum Opernund Konzertpublikum haben erwiesen, wie sehr die Vorstellung des stillgestellten, stummen Rezipienten im abgedunkelten Zuschauerraum den Mythologien späterer Kunstreligionen geschuldet ist und wie sehr eine Art von gleichschwebender Aufmerksamkeit für Gesprächspartner, interessante Gäste und Aktionen auf Bühne oder Podium bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eher die Regel denn die Ausnahme war. Sennetts Diagnose der Gegenüberstellung von Akteuren und Zuschauern greift hinsichtlich der Virtuosität nur sehr bedingt.18
Berlioz, Balzac, Villiers de L’Isle-Adam und Traktate/Autobiographien ehemaliger Claqueure. 15 | Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. 16 | Nicolas Bourriaud: Esthétique relationnelle, Dijon 1998. 17 | Für Anregungen in diesem Zusammenhang danke ich Kai van Eikels. 18 | Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M. 1986, S. 225ff.
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Aufschlussreich sind dabei diejenigen Veränderungen im Publikum, die durch Agenten der Begeisterung und Kritik katalysiert werden. Unterschiedliche Szenen der Professionalisierung und Institutionalisierung bringen Rezipientenfiguren mit unterschiedlicher Expertise hervor, insbesondere den Liebhaber (Dilettante), den Kenner, den Kritiker und den Claqueur. Die Kritiker-Figur als prototypisch virtuoser Rezipient reagiert mit einer eigenen virtuosen Performance des Schreibens auf die virtuose Präsentation und wird seinerseits als Star gefeiert (zu denken wäre hier etwa an Heinrich Heine oder Eduard Hanslick). Insbesondere jedoch wird jenes neue professionelle Publikum interessant, das als Claque berühmt-berüchtigt wurde und mindestens ebenso ambivalent wie die Virtuosen galt, in der Umbruchszeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der 1. ein neues (breiteres, v. a. heterogenes) Publikum entsteht, das nicht (mehr) über hinreichende Leistungsmessungskriterien verfügt; 2. die neuen Interpreten, die an der Grenze von Genialität und Scharlatanerie agieren; 3. die ökonomische Struktur der Konzert- und Theaterveranstaltungen (Umwandlung in private Unternehmen), in denen unsichere Leistungsmessung durch Versicherung gegen Misserfolg ausgeglichen werden musste (auch durch Reklame). Dies lässt sich verstehen als Vorgeschichte der Entstehung einer neuen bürgerlichen Kunstrezeption, die in Stille, ungeteilter Aufmerksamkeit kontemplativ und individuell vollzogen wird, eine Erlernung des musikalischen Hörens voraussetzt, das Werke und nicht Executionen zu hören meint – eine Haltung, die sich um die Jahrhundertmitte durchzusetzen beginnt – und nicht mehr zuerst soziales Ereignis ist. Dabei kann die Claque als Indikator einer kulturellen Disposition des Hörens/Sehens gelten, die mit der Etablierung des öffentlichen Konzertwesens, der Konzertkritik, der musikalischen Presse einhergeht und Hören als Disposition internalisierter widerstreitender Stimmen/Haltungen ausweist, die die ostentativen Auseinandersetzungen der Claque noch spiegeln: eine „polémologie qui habite notre oreille interne“, wie Peter Szendy schreibt.19
19 | Peter Szendy: L’art de la claque ou: S’écouter écouter au concert, in: Françoise Escal (Hg.): Le concert, Paris 2000, S. 91-110; vgl. auch ders.: Listen. A History of our Ears. Aus dem Französischen übertragen von Charlotte Mandell, New York 2008; zum Hören auch James H. Johnson: Listening in Paris. A Cultural History, Berkeley 1995.
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So wird die Claque zur case study einer speziellen Ausprägung der Professionalisierung des Zuschauers und -hörers insbesondere in Oper und Konzert des 19. Jahrhunderts. Sie zeichnet sich durch einen besonderen Grad an Differenzierung der Beifalls- (oder Missfallens-)bekundung in komplexen kollektiven Interaktionen aus, hat jedoch aus dem virtuosen Zuschauerverhalten eine veritable Profession inklusive Bezahlung und Statushierarchien gemacht. Die Leistung ihrer Performance bemisst sich auch daran, dass der chef de claque der Pariser Opéra, Auguste Levasseur, in den 1830er Jahren ein höheres Gehalt von der Direktion als die Gesangsstars bekam. Claques waren übliche Erscheinungen im Konzertwesen, jedoch nirgends derart erfolgreich und andauernd institutionalisiert wie an der Pariser Opéra als Dauereinrichtung zwischen Publikum und Personal, abgesichert durch Verträge mit den Sängern und der Direktion, mit einem Umfang von bis zu 100 Akteuren für eine Premiere, die strategisch im Zuschauerraum platziert wurden und von Levasseur dirigiert, einer Strategie, die der chef de claque gemäß Libretto-Studium, Probenbesuchen, Gesprächen mit Direktion, Sängern, Assistenten festlegte. Zahlreiche Memoiren von Claqueuren und die satirischen Pamphlete über die Claque lassen ex negativo einen Aktionsrahmen der Profi-Applaudeure annehmen, der in der Geste des Klatschens nur seinen Anfang nahm; eine exzessive Differenzierung und Perfektionierung einzelner Tätigkeiten wird in der Aufführung gewissermaßen orchestriert zu einer Gesamtwirkung. Neben den tapageurs (heftige Klatscher) gab es u. a. die connaisseurs (beifällig murmeln, auf teuren Sitzen, Verse auswendig wissen, Kommentare), rieurs (Lacher), chatouilleurs (die Nachbarn unterhalten und positiv stimmen durch Schnupftabak, Bonbons, Theaterzettel, lustige Unterhaltung), die pleureuses (Weinende, meistens Frauen), die chauffeurs (vor Theaterzetteln in Entzücken ausbrechen und das Stück anpreisen, an öffentlichen Orten werbewirksam agieren) und natürlich die bisseurs (Da capo-Rufer).20 Die Claqueure als strategisch operierende, synchronisierend wirkende Akteure im Publikum vermögen also den ästhetischen und ökonomischen Erfolg oder Misserfolg einer Aufführung zu steuern und eine Anerkennung von Leistung in einem kollektiven Prozess herzustellen. Die Funktion des Applauses wird von den Claqueuren selbst ebenso als 20 | Vgl. Michael Walter: Die Oper ist ein Irrenhaus. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 332f.
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Garant einer gelungenen Aufführung deklariert wie die Leistung des Darstellers, ihre eigene Leistung wird als Kunstfertigkeit adressiert. So kann die Leistung der Claque als virtuose Performance in der Performance beschrieben werden, die Zuschauer zu interagierenden Produzenten der Aufführung macht. In Hector Berlioz’ unverhohlen kritischen Worten: „Pourtant les maîtres ès claque n’aiment guère, en général, les bouillants amateurs […]; ils professent une méfiance qui va jusqu’à l’antipathie pour ces aventuriers, condottieri, enfants perdus de l’enthousiasme, qui viennent à l’étourdie et sans répétitions, applaudir dans leurs rangs.“21 Denn das Publikum, das keine Strategie verfolgt, könne den Erfolg der Aufführung nicht herbeiführen: „[…] oui, on l’applaudit; mais comment! Comme cela est mal fait! quelle salve avortée, mal attaquée et mal reprise! Il y a de la bonne volonté dans le public, mais point de savoir, point d’ensemble, et par suite il n’y a point d’effet.“ 22 Nur in einem professionalisierten Publikum wie dem der Claqueure transformiere sich der Brotberuf in „Kunst“. „Les claqueurs de nos théâtres sont devenus des praticiens savants; leur métier s’est élevé jusqu’à l’art.“23 Dass diese Praxis der Erfolgssteuerung von Aufführungen gar nicht so historisch und überholt ist, wie es zunächst scheint, lässt sich in einem rezenten Dokumentarfilm von 2004 über das Opernfieber im Italien der
21 | Hector Berlioz: Les soirées de l’orchestre, Paris 1852, S. 89. In der deutschen Übersetzung von Elly Ellès: „Im allgemeinen lieben aber jene Meister der Claque solche feurige Dilettanten […] nicht sehr; sie legen für diese Abenteurer, diese Condottieri, diese mißratenen Söhne der Begeisterung, welche gedankenlos und ohne P r o b e in ihre Reihen kommen und applaudieren, ein Mißtrauen an den Tag, das sich bis zur Antipathie steigert.“ (Hector Berlioz: Abendunterhaltungen im Orchester. Aus dem Französischen übertragen von Elly Ellès, Leipzig 1909, S. 98f.) 22 | Berlioz: Les soirées de l’orchestre, S. 98. „Ja doch, man applaudiert; aber wie! wie schlecht kommt das heraus! Das Publikum hat guten Willen, aber keine Ausbildung, kein Ensemble, und deshalb kommt keine Wirkung zustande.“ (Berlioz: Abendunterhaltungen im Orchester, S. 109.) 23 | Berlioz: Les soirées de l’orchestre, S. 93. „Die Claqueure unserer Theater sind gelehrte Praktiker geworden; ihr Handwerk hat sich zu einer Kunst erhoben.“ (Berlioz: Abendunterhaltungen im Orchester, S. 103.)
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Gegenwart nachvollziehen, der Dirigenten und Claqueure zu Wort kommen lässt.24 Die Phänomenologie des Applauses wird in Berlioz’ Soirées de l’orchestre ebenso ironisch wie präzise analysiert: „Il y a bien des manières d’applaudir. La première, ainsi que vous le savez tous, consiste à faire le plus de bruit possible en frappant les deux mains l’une contre l’autre. Et dans cette première manière, il y a encore des variétés, des nuances: le bout de la main droite frappant dans le creux de la gauche, produit un son aigu et retentis sant que préfèrent la plupart des artistes; les deux mains appliquées l’une contre l’autre sont, au contraire, d’une sonorité sourde et vulgaire; il n’y a que des élèves claqueurs de première année, ou des garçons barbiers, qui applaudissent ainsi. […] Le claqueur enthousiasmé (car il y en a) applaudit, vite, fort et longtemps; sa tête, pendant l’applaudissement, se tourne à droite et à gauche […].“ 25 Dazu gesellen sich Bravo-Rufe und Fußtrampeln. Die Gesten der applaudierenden Claque, die gerade nicht Zeichen von überwältigter Begeisterung, sondern Kalkül sind, vermögen in der physischen (bewegungstechnischen, akustischen) Übertragung/Ansteckung auf andere Publikumsteile, auf in ihrem Urteil möglicherweise unentschlossene Zuhörer synchronisierend Applausgesten bewirken, die dann als Zeichen der Anerkennung einer Leistung gespendet werden und gemäß der psychophysischen Wechselwirkung sogar ein Gefühl von Begeisterung entstehen lassen können. Das Urteil über Leistungen sei 24 | Katharina Rupp (Buch und Regie): Opernfieber, D/CH 2004, DVD Edition Salzgeber. 25 | Berlioz: Les soirées de l’orchestre, S. 85. „Es gibt viele Arten zu applaudieren. Die erste besteht, wie Sie alle wissen, darin, dass man durch Klatschen mit beiden Händen so viel Geräusch macht, wie möglich. Und in dieser ersten Gattung gibt es wiederum viele Abarten, viele Schattierungen. Das Schlagen der rechten Fingerspitzen in die hohle linke Hand bringt ein scharfes, sonores Geräusch hervor, welches von den meisten Künstlern besonders geschätzt wird; werden dagegen beide Hände mit der ganzen Fläche aufeinander geschlagen, so gibt dies einen dumpfen, gewöhnlichen Klang; nur Schüler der Claque im ersten Lehrjahre oder Barbiergesellen applaudieren auf diese Weise. […] Der begeisterte Claqueur (es gibt solche) applaudiert schnell, laut und lange; sein Kopf dreht sich währenddessen nach links und nach rechts […].“ (Berlioz: Abendunterhaltungen im Orchester, S. 94.)
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stets davon abhängig, dass wenige die vielen „anzuzünden“ vermögen, konstatiert Berlioz.26 Auch wenn es seit der Etablierung der Claque als Institution immer wieder heftige Kritik daran gab, wurde diese mit dem Argument nicht anders gelingender Feedback-Prozesse zurückgewiesen, da sie „jene Wärme und Empfänglichkeit“ hervorbringe, „die Publikum und Bühne gegenseitig so nöthig haben“, so etwa im Allgemeinen TheaterLexikon von 1839.27 Die Messbarkeit von Leistung wird in der Figur des Claqueurs selbst prekär: indem er für den Rest des Publikums zum Gradmesser für die Leistung des Darstellers wird, ist seine virtuose Leistung als applaudierender Performer für die Anerkennung der Virtuosität des Darstellers entscheidend mit verantwortlich (insbesondere, wenn nicht exzellente Aufführungen zum Erfolg geklatscht werden). Die Geste wird zum performativen Akt der Anerkennung einer Person. Hanns-Werner Heister weist in einer Studie über den Konzert-Beifall darauf hin, dass gerade der Virtuose, der – wie wir gesehen haben – über spezifische Tools der Anerkennungsverstärkung in seiner Performance verfügt, solche „Zusatzqualifikationen umso dringlicher“28 brauche, da unter den Bedingungen des Kunstmarktes und seiner Lohn-Abhängigkeit von einem Impresario sein Preis sich nicht nur im Wert seiner Arbeits-Leistung bemesse, sondern seine Arbeitskraft selbst. Mit Blick auf die Claque und ihre Aktivitäten geraten jene Dynamiken und Emergenzen exzessiv geäußerten Beifalls in den Interaktionen unterschiedlicher Publikumsstrata in den Blick, die changieren zwischen unvermitteltem Körperausdruck und der „machine à gloire“, der „RuhmMaschine“29, als die Auguste Villiers de L’Isle-Adam in seiner gleichnamigen
26 | Berlioz: Abendunterhaltungen im Orchester, S. 103. 27 | Art. Claque, in: Robert Blum, Karl Herloßsohn, Hermann Marggraff (Hg.): Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde, Bd. 2, Altenburg/Leipzig 1839, S. 165-167, hier S. 166. 28 | Hanns-Werner Heister: Geldloses Geschenk und archaisches Zeremoniell. Der Konzert-Beifall als Honorar- und Aktivitätsform, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 15 (1984), S. 91-128, hier S. 108. 29 | Auguste de Villiers de L’Isle-Adam: La Machine à gloire, in: Oeuvres complètes, Bd. 1, hg. von Alain Raitt u.a., Paris 1986, S. 583-596; Auguste Villiers
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Erzählung 1874 eine Steuerungsmechanismen exekutierende ClaqueMaschine phantasiert. Die geglückte Aufführung ist ein so riskantes Abenteuer, dass es immer auch eines günstigen Zufalls bedarf.30 Diesen Zufall zu lenken macht sich die Claque als „assurance des succès dramatiques“31 zum Geschäft, eine Versicherung gegen das performative Risiko versprechend, in der Hoffnung, die Abwendung des Fiaskos kalkulierbar zu machen gemäß der sich verbreitenden Versicherungen gegen die persönlichen Risiken des Lebens wie etwa Feuer. In der Lücke, der Leerstelle, den Sekunden zwischen dem letzten Ton und der Reaktion des Publikums kommt es zur Begegnung der Gesten des Virtuosen: des Performers, der seine letzte große Geste anbringt, und des Publikums, das im rechten Augenblick diesen Bewegungsimpuls übernimmt und im Klatschen sichtbar, bewegt und hörbar wird. Solche zentralen Momente wurden, um Gelingen/Misslingen steuerbar zu machen, in Anleitungsbüchern bestimmt, teilweise in Partituren und Textbüchern bereits vorgesehen. Praktisch jedoch vermag das Steuerungsmodell Claque trotz der Aufrufung des Maschinendiskurses nicht zu kaschieren, dass Gelingen bzw. Misslingen sich letztlich als emergente Phänomene ereignen. Und Lewandowskys Maschine? Das Setting von Lewandowskys Installation konstruiert eine Vielheit vereinzelter Äußerungen als Publikum, das sich eher durch Differenz verlautet denn durch so etwas wie kollektive Begeisterung, wie es in jenen Momenten der Fall ist, die den Applaus des Virtuosen auszeichnen. Virtuos ist dieser Applaus nicht, dem die Geste strategisch vorenthalten wird, hier ist das Virtuose als Steuerungsprojekt von der Leistung der Performer, die die Claqueure sind, in eine softwaregesteuerte Installationsmaschine übergegangen. Worüber ich stolpere, ist das Ich, das seltsam adressiert ist, weniger als klatschendes denn als beklatschtes, das durch das Gehen durch die Installation die Performance erst hervorbringt, durch Verweilen, durch de L’Isle-Adam: Die Ruhm-Maschine, in: ders.: Grausame Geschichten. Aus dem Französischen übertragen von E. von Sander, München 1962, S. 52-69. 30 | Vgl. Jankélévitch: Liszt et la Rhapsodie, S. 52f. 31 | Jules Lan: Mémoires d’un chef de claque, Paris 1883, S. 286ff.
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große und kleine Bewegungen. Ist Lewandowskys Applausmaschine meine Claque? die machine à gloire? Ich werde verunsichert in meiner Rolle als Ausstellungsbesucherin. Wer ist das Subjekt dieser Performance? Ich (als Publikum) bin fast alleine (wir gehen zu zweit durch die Ausstellung), die Applaudierenden sind viele. Werde ich das Objekt ihrer Anerkennung oder bin ich nur peinlich berührt von dieser Versuchsanordnung körperloser Lautsprecher, die ihre Applaus-Äußerungen in die Mitte des Raumes senden, in der ich stehe, eine Versuchsanordnung, die aus der Aufforderung an dem Künstler persönlich bekannte Kunstschaffende und -förderer entspringt, ihm, dem bildenden Künstler, zu applaudieren, und dieses Klangmaterial dann elektroakustisch zu verfremden? Involviert bin ich, Akteurin in einem Szenario der Wechselwirkung und Steigerung, aus dem ich mich nur herausbewegen kann, indem ich eine (letzte) Geste performe: die Tür hinter mir schließend, stehe ich wieder im Freien. Der Museumswärter sagt, er muss die Installation während des Tages manchmal abstellen, es wird ihm einfach zu laut.
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Virtuosen-Herrschaft Überlegungen zu Ausnahme-Performances und Macht – vom Bühnenstar des 19. Jahrhunderts bis zu den Souveränitätsversprechen des Postfordismus Kai van Eikels
1. V I R T U O S E L E I C H T I G K E I T DES WIRKLICHEN
UND DER
EXZESS
Wie immer man das Virtuose, den Virtuosen und die Beziehung des einen zum anderen definieren will – für die Frage nach dem Virtuosen als einer Herrschafts-Figur scheinen mir die folgenden drei Aspekte aufschlussreich: Erstens geht es mit dem Virtuosen um eine Steigerung von Performance, und zwar um die Steigerung selbst, um eine Verselbständigung von Steigerung als Motiv und als Motivation. Mit anderen Worten, das Virtuose ist eine ökonomische Figur von Steigerung, wenn wir unter Ökonomie sehr umfassend das Wissen, die Techniken und die sinnhaften Selbstbestimmungen der Mehrung des Lebens bei der Einrichtung von Prozessen des Überlebens verstehen. Und es ist zugleich eine Figur, die diese Sinnbestimmung des Ökonomischen aufs äußerste anspannt: Die Differenz von Sinn und Unsinn virtuoser Steigerung affiziert mittels der Sinnbestimmungen des Ökonomischen die Größe des Lebens. Virtuos-Werden, die Steigerung eines Wissens, einer Fertigkeit und Geschicklichkeit bis zum staunenswert Vortrefflichen, die Lust an dieser Steigerung und daran, als dieser Vortreffliche in Erscheinung zu treten – das gehört offenbar zur Eigenart menschlichen Lebens, zu den Auszeich-
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nungen einer Anwesenheit in der Welt, die für sich selbst ein Mehr gegenüber dem ‚bloßen‘ Leben beansprucht (ein Mehr, von dem Heidegger meinte, es sei metaphysisch im Wort „Welt“ selbst verankert 1). Doch von eben diesem eigenartigen Mehr her, das ein Urteil wie „virtuos!“ bezeichnet, wird auch fraglich, was das heißt: Leben, mehr Leben, mehr als Leben. Wo in einer Kultur der Begriff des Virtuosen oder eine ihm verwandte Markierung, ein Mehr-als-mehr, auftaucht, sind die Menschen sich der Größe(n) ihres Lebens nicht mehr ganz sicher. Zweitens ist Virtuosität gekennzeichnet durch ein exzessives Moment: Die virtuose Steigerung findet kein natürliches Ende, kein Genügen an einem Niveau oder einer Intensität von Performance. Sie ist immer schon dabei, Übersteigerung zu werden, das Erreichte, als Ergebnis zu Verbuchende um des unbedingten Weitermachens und Weitersteigerns willen preiszugeben oder ganz zu verwerfen. In ihrem ursprünglich exzessiven Charakter, der anstelle selbst des ersten Schrittes bereits viel mehr als einen Schritt erinnert und jede vorstellbare Vergangenheit dieser Selbstvergrößerung einverleibt, bleibt die virtuose Steigerung in gewisser Weise prekär: Was ein Virtuose tut, lässt sich nicht bündig auf die sozialen, kulturellen und technologischen Bedingungen zurückführen, die es möglich gemacht haben. Das heißt, es lässt sich nicht regulär als Leistung identifizieren, denn der Virtuose erfüllt nicht geltende Standards, ehe er sie überschreitet, sondern er geht von der Überschreitung, von einem primären Mehr aus, überspringt das Solide und kommt auch niemals darauf zurück, es sei denn ironisch, sich über dessen plumpe Tugendhaftigkeit mokierend. Wo virtus Virtuosität wird, verwandelt die moralische Richtlinie, die dem Möglichen eine eigene Grenze aufweist, sich in ein Differenzierungsprinzip des Wirklichen. In der virtuos vollführten Handlung gibt es einen Exzess des Wirklichen über das Mögliche bzw. Für-möglich-Gehaltene. Es ist dieser Exzess, von dem die Aussagen Zeugnis ablegen, die eine „wunderbare Leichtigkeit“ der Virtuosen preisen. Leicht heißt hier: Das virtuose Mehr scheint die soziale Schwerkraft aufzuheben – es scheint das außer Kraft zu setzen, was gleichermaßen objektiv auf sämtliche Menschen wirkt, ein für alle uniform geltendes Limit ihrer Handlungsmöglichkeiten zu suspendieren. Indem sie die in 1 | „[D]er Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend“, heißt es in Martin Heidegger: Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA Bd. 29/30, Frankfurt a.M. 1983, S. 261.
Vir tuosen-Herrschaf t
Leistungsstandards kodifizierten Möglichkeitsbedingungen des Handelns in einer Gesellschaft mit Leichtigkeit und durch ihre Leichtigkeit vernachlässigt, löst oder durchtrennt virtuose Performance etwas, das die Menschen aneinander bindet. Der virtuose Exzess des Wirklichen über das Mögliche stellt nicht allein eine bestimmte Normalität, sondern die Konstitution des Normalen selbst zur Disposition. In diesem Sinne kann man sagen: virtuose Performance schafft, als Ausnahme-Performance, einen Ausnahmezustand. Der Begriff des Ausnahmezustands, einschließlich seiner politischen Implikationen, ist, wie ich im Folgenden zeigen will, keineswegs metaphorisch gemeint. Statt der metaphorischen Übertragung setzt virtuose Performance eine Dynamik der Affizierung in Gang, in der das Übertragene gerade das Körperliche ist, die Übertragung eine performative Wörtlichkeit bekommt. Die politisch markante Spur innerhalb dieses Geflechts wechselseitiger Affizierungen ist die Übertragung des virtuosen Mehr, das zunächst vor allem ein „Mehr-als-ihr“, eine Differenz des Performers zum Publikum ist, auf das Publikum. Der Unterschied eines Ausnahme-Performers zu den Menschen, die in ‚seinem‘ Publikum versammelt sind, teilt sich dem mit, was mit ihnen, zwischen ihnen, unter ihnen geschieht. Dieser Übertragungseffekt hängt zusammen mit dem dritten Aspekt, durch den ich das Virtuose charakterisieren möchte, und dieser Aspekt ist für den Virtuosen als Herrschafts-Figur vielleicht am wichtigsten: Wo Virtuosität an und in einer Performance hervortreten soll, ist sie angewiesen darauf, dass ein Publikum sie als solche erkennt und anerkennt. Es gibt keine Virtuosität ohne die Anwesenheit anderer, die sie bezeugen. Und ein Publikum kann Virtuosität nur bezeugen, indem es selbst in seinen Reaktionen ebenso exzessiv ist wie die Performance. Virtuosität bewahrheitet sich niemals in einer stillen, bescheidenen, zurückhaltenden Achtung und Zustimmung, nicht in den Affekten, die dem leidlich Guten, der respektablen Qualität angemessen erscheinen. Sie erfährt Anerkennung als Virtuosität erst in der überschäumenden Begeisterung, braucht einen Applaus, der nicht enden will, Jubelnde, die sich heiser brüllen oder sich im Stillen verzehren, körperliche und psychische Ekstasen, Tränen, Beben, Erschütterungen bis hin zu Ohnmachten unter den Zuschauern.2 2 | Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Bettina Brandl-Risi: Applaus. Die Gesten des Virtuosen, oben S. 57-75
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Virtuosität mag ihre Plausibilität für eine autoritäre Logik der Kräfteverhältnisse in der technischen Beherrschung haben, was im Falle der Künstler-Virtuosen heißt: der Beherrschung eines Instruments, der eigenen Stimme, des Körpers. Hegel spricht in diesem Sinne von der „unglaubliche[n] Meisterschaft“ der virtuosen Musiker „in ihrem und über ihr Instrument, dessen Beschränktheit die Virtuosität zu überwinden weiß“.3 Doch die Herrschaft des Virtuosen über sein Publikum ist weder einfach nur die Verlängerung dieser technischen Beherrschung noch zwangsläufig deren Bestätigung. Im Zuge der Steigerung seiner Performance setzt der Virtuose etwas frei, was sich den Anwesenden als eine vom Normalen, von der verbindlichen Bezugsgröße für das, was Menschen tun können, wegführende Kraft des Darüber-hinaus-Gehens mitteilt. Der mitreißende Effekt des Virtuosen (und es gilt Virtuosität überhaupt vom Effekt her zu verstehen) verfügt Performer und Publikum in ein temporäres Kollektiv, dessen Konstitution zugleich die Anzeichen einer überwältigenden, vereinnahmenden Kontrolle und die eines emergenten Ereignisses hat. Dieses Kollektiv könnte man als liminal bezeichnen – insofern es sich dadurch bildet, dass ein Limit erreicht, überschritten und spielerisch immer wieder hinausgeschoben wird, aber auch insofern die Kollektivität selbst liminal ist, da sie keineswegs aus einer dauerhaften und zuverlässigen Bindung zwischen den Individuen besteht, sondern aus der gleichzeitigen Erfahrung einer Bindung und einer Trennung. Wenn ich hier von VirtuosenHerrschaft spreche, so bezieht sich dieser Begriff auf die Unterwerfung und Kontrolle einer Menge durch eine Ausnahme-Performance, auf einen Bann, in den der Virtuose sein Publikum schlägt. Aber er verweist auch auf die keineswegs eindeutigen dynamischen Wirkungen, zu denen es dort kommt, wo die machtvolle Differenz des Ausnahme-Performers zum Publikum sich in die Beziehungen der Anwesenden untereinander einschreibt und die Anwesenheitsform namens Publikum reorganisiert.
3 | Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 15, Frankfurt a. M. 1970, S. 222.
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2. S O U V E R Ä N E H E R R S C H A F T U N D SOUVERÄNE PERFORMANCE Im Virtuosen treffen zwei Bestimmungen des Souveränen aufeinander: die souveräne Herrschaft, wie Giorgio Agamben sie auf den Spuren von Carl Schmitt und Walter Benjamin untersucht hat 4 – und die technische Souveränität, die Urteile einem Performer zuerkennen, wenn es so wirkt, als ob er das, was er tut, einschließlich der Schwierigkeiten dieses Tuns, auf eine überlegene Weise beherrscht. An den Diskursen zur künstlerischen Souveränität und deren politischen und sozialen Implikationen lässt sich dieser Verschmelzungsprozess von Vorstellungen des Souveränen nachverfolgen. Die technische Souveränität des virtuosen Künstlers, der im 18. Jahrhundert zunächst vor allem auf den Opernbühnen große Erfolge feiert und sich später in der konzertanten Musik, im Tanz und mit gewissen Einschränkungen auch im Theater etabliert, fasziniert, da Beherrschung mit einer Überschreitung einhergeht. Die begeisterten Anhänger wie die Kritiker des Virtuosen-Künstlers registrieren dabei gleichermaßen, dass sich die Steigerung des technischen Könnens, die der Virtuose vorführt, auf Kosten des Kunstwerkes und seines metaphysischen Status’ vollzieht. Für die Beziehung zwischen Kunst und Politik, die durch die Figur des Virtuosen entsteht, spielt es eine wichtige Rolle, dass das 19. Jahrhundert zugleich die „Blütezeit“ der künstlerischen Virtuosität und die Hochphase einer Ästhetik ist, die das Werk zur maßgeblichen Totalität des künstlerischen Produzierens erhebt.5 Performance hätte ihre Wirkungsmacht vermutlich kaum in diesem Ausmaß konsoli4 | Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer: die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002. 5 | Gibt es im 18. Jahrhundert noch eher lockere Kooperationsbeziehungen zwischen virtuosen Performern und Werkschaffenden – Rossini und die Komponisten seiner Zeit lassen den Sängern z.B. Freiheiten bei der Ausgestaltung von Arien –, treten Virtuose und Schöpfer im 19. Jahrhundert verstärkt in Konkurrenz. Daraus entstehen auch ambitionierte Anstrengungen, Synthesen aus Virtuosität und Werkform zu schaffen, das Virtuose ‚zu komponieren‘ in Gestalt effektvoller technischer Schwierigkeiten, durch die Inszenierung der Beziehung zwischen Solostimme und Orchesterpart usw. Vgl. dazu z.B. Tomi Mäkelä: Virtuosität und Werkcharakter. Eine analytische und theoretische Untersuchung zur Virtuosität in den Klavierkonzerten der Hochromantik, München 1989.
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dieren können ohne die Autorität, mit der Werkästhetik ab ca. 1800 Kunst auszustatten begann. Doch der Virtuose bescheidet sich weder mit der Rolle eines Dieners des Werkes, der dessen legitime Macht bloß verwaltet und dosiert zur Anwendung bringt, noch schwingt er sich zu dessen Wächter und Priester auf. Er ist ein Usurpator, jemand, der die neuen Kräfte des Ästhetischen, eben erst entfesselt, sogleich verwendet, um ein etwas anderes Regime als das ästhetische zu errichten: das der performativen Souveränität. Der virtuose Bühnenstar des 19. Jahrhunderts nimmt die Szene des Werkes, das er zur Aufführung bringt, in genau dem Moment ein, da jenes vom Rezipienten ein Äußerstes an Hingabe und Devotion einfordert, um angemessen, d.h. in seiner Totalität vernommen zu werden. Er verlangt dieselbe Hingabe, dieselbe Unterwerfung, wie sie dem Werk zusteht, für sich. Liszts berühmter Ausspruch „Das Konzert bin ich“ erfasst die Beziehung zwischen virtuoser Performance und Werkästhetik hinsichtlich ihrer Machtverhältnisse präzise: Indem er Werke – fremde oder eigene – spielt, aktiviert der Virtuose eine Bereitschaft zur genießenden Unterwerfung unter etwas, dem man sich gern unterwerfen darf, insofern dessen Harmonie angeblich die Freiheit im Zusammenspiel der eigenen Vermögen reflektiert. Eben dieses wie selbstverständliche Ineinanderfließen einer Auslieferung und eines Erlebnisses von Freiheit im Kunstgenuss zeichnet ja ästhetische Erfahrung aus, wie die ästhetische Theorie nach Kant sie konstruiert. Während die Anwesenden im Saal brav der angewiesenen Bahn dieses Erfahrens folgen, schert der virtuose Performer indes als Einziger aus ihr aus: Eigentlich sollte er als ausführender Künstler ein exemplarischer Erfahrender sein, einer, der den anderen zum Medium ihres devot-befreienden Genießens dient, der auf seinem Podium ästhetische Vermittlung vollzieht, damit jeder im Saal Gelegenheit zum Mitvollziehen bekommt. Das Spiel dieses Performers entzieht sich jedoch dem Imperativ des „ästhetischen Regimes“ (Rancière), der gebietet, jedes Produzieren aus dem Rezipieren zu schöpfen, jede Steigerung der eigenen künstlerischen Aktivität aus einer Vertiefung der großen Passion zu gewinnen, die den ästhetischen Zustand auszeichnet (ihn als Modus von Erfahrung qualifiziert). Virtuosität profitiert, respektlos gegen die Fiktion des Werks, von deren politischen, sozialen, psychologischen Effekten. Das, was am Kunstwerk die Menschen knechtet in ihrem Genießen, nutzt der Virtuose zu seiner eigenen Ermündigung. Er nimmt die Dignität des Werkes für einen technisch-metaphysischen
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Trick, der darauf abzielt, einer Vielzahl von Anwesenden das Beherrschtwerden genießbar zu machen. Und schmuggelt sich selbst aus der Menge der Beherrschten heraus kraft eines anders organisierten Genießens. Diese Ermündigung und Ermächtigung zu einer Souveränität setzt sich vor allem vom „Beiwerk“ der Verzierungen und Ausschmückungen her ins Werk. Sie trägt sich zu in den ad libitum eingefügten Spitzentönen eines Sängers wie Farinelli, in den rasenden Koloraturen von Paganini und Liszt, den außerordentlichen Pirouetten von Fanny Elßler und Sprüngen von Vaclav Nijinsky oder den zum Ornament stilisierten und als Ornament verfeinerten gestischen und stimmlichen Preziosen Sarah Bernhardts. Die Differenz von Beiwerk und Werk wird hier in der Tat zur Operationsbasis eines souveränen Agierens, wenn man Agambens auf die aristotelische dynamis-Lehre zurückgehender Hypothese folgt, dass der ‚Kern‘ des Souveränen in einem immer offen gehaltenen oder sich wieder neu öffnenden Abstand zwischen Potenz und Akt besteht.6 Das Konzept der Souveränität impliziert die Überzeugung einer Überlegenheit des Nicht-Tuns, des Möglicherweise-nicht-Tuns über das Tun. Souverän ist, wer etwas zu tun vermag. Das Vermögen aber schließt wesentlich die Möglichkeit ein, es auch nicht zu tun, ohne deshalb für unvermögend gehalten zu werden: Das Vermögende kann erst dann zum Akt übergehen, wenn es die Potenz, nicht zu sein (seine adynamía), ablegt. Dieses Ablegen der Impotenz bedeutet nicht ihre Zerstörung, sondern im Gegenteil ihre Erfüllung; die Potenz wendet sich auf sich selbst zurück, um sich sich selbst zu geben.7
Diese Überlegenheit des Nicht-Tuns über das Tun, der Allianz mit dem Möglichen über das Wirkliche, teilt sich auch dem Augenblick mit, wo der Souveräne das, wozu er die Macht hat, tatsächlich ausführt (wenngleich diese Aktualisierung stets ein heikler Moment bleibt). In den zeitgenössischen Resonanzen auf virtuose Performance im 19. Jahrhundert lassen sich die Zeichen solcher Überlegenheit schwer übersehen: Die Publikumszeugnisse zu den Auftritten der gefeierten virtuosen Künstler verraten oft auch einen erregten Zweifel, ob diese jene wunderbaren
6 | Vgl. Agamben: Homo sacer, S. 55-59. 7 | Ebd., S. 56.
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Dinge, von denen man sagte, dass sie sie vermochten, auch tatsächlich zeigen würden – wann sie sie zeigen würden – und ob sie sie schließlich gezeigt hatten. Wer die Vorstellung eines Virtuosen besuchte, durfte sich versprechen, Übermenschliches zu erleben, und musste zugleich die Angst ausstehen, dass der Performer es gerade an diesem Abend vielleicht nicht tun würde. Er verfolgte die Performance in einem Zustand aufs Äußerste gesteigerter Erwartung (die stets an der Schwelle war, sich selbst zu erfüllen und das Wunder zu konstruieren).8 Solche Kurzschlüsse aus Hoffnung und Angst konnten die Wirkung einer Kunst sein, die sich als Kunst des Beiwerks, der willkürlichen Einfügungen und Hinzufügungen präsentierte. Die performativen Ornamente halfen dabei, einer ausführenden Tätigkeit die Freiheit des Vielleicht-Nicht-Tuns zu verschaffen. Nicht notiert oder sonstwie vorgegeben, stand es im Belieben des Performers, den Spitzenton zu singen oder nur den normal hohen, die Melodie in eine Kaskade von Trillern aufzulösen oder nur cantabile zu spielen, einen waghalsigen Sprung zu vollführen, bei dem der Körper für eine atemberaubend lange Zeit in der Luft zu schweben schien, oder einfach nur abzuspringen und aufzutreffen. Das Bewusstsein dieser Freiheit des Performers und das Gefühl, seiner Entscheidung für oder gegen die energeia seiner Virtuosität ausgeliefert zu 8 | Heine hat diese Eigenproduktivität des Besuchers als Erfüllungsgehilfe des Wunders in den Florentinischen Nächten demonstriert und reflektiert. Die Beschreibung eines Auftrittes von Paganini, die der Erzähler gibt, widmet dabei auch der Temporalität des Miterlebens literarische Aufmerksamkeit: Der Diskursstrom des Erzählers bleibt, zugleich intensiviert und zerstreut in seiner Anteilnahme an der Performance, stets in einer zeitlichen Unsicherheit darüber, wann das Virtuose, das Besondere, das Paganinis Ruf begründet, sich ereignet. In gewisser Weise ist es immer schon da, bestätigt bereits das Auftreten des Künstlers ganz am Anfang all das, was man über ihn weiß oder zu wissen meint; und zugleich scheint es immerzu bevorzustehen, sorgt die Serie von Überraschungen, die ebenfalls zur Erwartung an das Virtuose gehören, dafür, dass das Bevorstehende vielleicht gerade schon passiert ist, usw. Vgl. Heinrich Heine: Florentinische Nächte, hg. und kommentiert von Klaus Briegleb, München 1985; dazu: Gerhard Neumann: Der Virtuose als Denkfigur in der Romantik. Zur ästhetischen Inszenierung der Körperkunst auf der Grenze zwischen Natur und Kultur, in: Nicole Haitzinger/ Karin Fenböck (Hg.): DenkFiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden. Für Claudia Jeschke, München 2010, S. 104-117.
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sein, trägt wesentlich zu jener Haltung bei, die ein Publikum in eine Versammlung von bereitwilligen Zeugen eines charismatischen Stars verwandelt. Und es verleiht auch dem Augenblick, da der Star das, was ihn zum Star gemacht haben soll, vollführt, noch im Nachhinein eine unaufhebbar zweifelhafte, in ein zwielichtiges Schillern eingeschlagene Verfassung zwischen Präsenz und Absenz. Die Privilegierung des NichtTuns im Souveränen sorgt dafür, dass dieses Zweifelhafte die Evidenz des Virtuosen für sein Publikum nicht mindert oder zerstört, sondern sie erst auf jenes Niveau der Unangreifbarkeit hebt, wo kein Gegenbeweis die Wirkungsmächtigkeit des Virtuosen mehr beeinträchtigen kann: sie von ihrer adynamia reinigt. Die charismatische Art von Macht, die Max Weber untersucht hat, scheint mit einer solchen Reinigung einherzugehen, wo nicht sich ihr zu verdanken. Charisma ‚besitzt‘, wer in den Vorstellungen und Projektionen seiner Zeitgenossen frei von der Notwendigkeit geworden ist, sein Können in einem aktuellen Handeln unter Beweis zu stellen. Das Wesen des Charismatischen besteht weniger in einem überragenden Können als in einer Abtrennung vom Nicht-Können, die so erfolgreich ist, dass selbst die Unterlassung des vermeintlich gekonnten Handelns, ja sogar ein tatsächliches Scheitern dabei die Verbindung zum Nichtkönnen nicht wiederherstellt. Wo der charismatische Performer scheitert, erhöht das nur die Größe jenes legendären Gelingens, auf dem seine fama gründet. Seine Anhänger brauchen das Scheitern nicht einmal abzustreiten; die Leugnung ereignet sich, wenn nötig, in der Dimension der Bewertung: „Auch nur ein Mensch“ zu sein – die Formel für die Durchschnittlichkeit aller Übrigen – versetzt den charismatischen Virtuosen in die Ausnahme der Ausnahme, ins Außerordentliche hoch zwei.
3. V O N
DER L ASZIVEN WILLKÜR ZUR M E TA P H Y S I S C H E N D I E N S T L E I S T U N G
Welchen Status hat diese Freiheit, die sich der Virtuose herausnimmt? Ohne hier eine detaillierte historische Studie liefern zu können, möchte ich einige Verschiebungen markieren, die mir für die politische und soziale Dimension des Virtuosen wichtig erscheinen. Zwei Fragen überkreuzen einander hinsichtlich dieser Verschiebungen: Erstens die nach dem Verhältnis zwischen trennenden und verbindenden Kräften in dem,
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was der Auftritt des Virtuosen im Publikum entfesselt. Ich hatte eingangs darauf hingewiesen, dass die Suspendierung verbindlicher Normen in der virtuosen Performance ebenso in Bann schlagen wie losreißen kann. Wann wirkt sie sich in welcher Weise aus, und zu was für Konstellationen führt das unter den Anwesenden? Und zweitens die Frage nach dem performativen Charakter der Freiheit: Wenn die spielerische Leichtigkeit, mit der ein Virtuose unerhörte Schwierigkeiten meistert, von der Freiheit desjenigen berichtet, der diese Schwierigkeiten eingefügt hat – also von einem Ausführenden, der sich erdreistet, mindestens stellenweise mit dem Werk zu machen, was er will –, welche Wirklichkeit entfaltet dieser Wille in dem Moment, da er ein Kollektiv mitreißt, sich von der Begeisterung der Menge bewahrheiten lässt? Die erste der Verschiebungen hängt mit dem Übergang von der höfischen zur bürgerlichen Form der künstlerischen Aufführung zusammen – also, um es zu etikettieren, mit dem Übergang von der Oper des 17. und 18. Jahrhunderts zum Musiktheater und zum freien Konzertwesen des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Beim höfischen Theater handelt es sich, wie oft untersucht wurde, noch um einen weitgehend durch politische Repräsentationen bestimmten Raum. Das Geschehen auf der Bühne steht den Interaktionen des aristokratischen Publikums im Zuschauerraum gegenüber (beides läuft parallel ab). Zum Kompetenzprofil des Hofadels gehören musikalische und tänzerische Kenntnisse ebenso wie ein gewisses Maß an ‚Schauspielerei‘, ein technisches Wissen und Können, das zur Teilnahme am höfischen Leben und damit auch zur Wahrnehmung der politischen Privilegien befähigt. Castiglione hat das in seinem Cortegiano, in dem die „nobile sprezzatura“, die Leichtigkeit bei der Ausführung von Verhaltensfiguren, ein wichtiges Kriterium darstellt, systematisch zu reflektieren versucht.9 Ein solches Wissen kommt auch dort zum Einsatz, wo ein aristokratisches Publikum einem virtuosen Künstler bei seiner Darbietung folgt. Das praktische Wissen der Zuschauer und -hörer um die Schwierigkeiten bestimmter Griffe oder Koloraturen, bestimmter Tanzschritte oder eines bestimmten Ausdrucks in einer Geste bildet die Grundlage seiner Beurteilung, die Voraussetzung dafür, Virtuosität überhaupt als solche wahrzunehmen. Und es bildet ebenso die Grundlage für
9 | Vgl. Baldassare Castiglione: Il Libro del Cortegiano, aus dem Ital. übers. und eingeleitet von Paul Seliger, 8. Aufl., Leipzig 1907.
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die Reaktionen auf das unverhältnismäßig Bessere, unverhältnismäßig Leichtere der virtuosen Performance. Die Berichte von den Auftritten etwa der berühmten Kastratensoprane verzeichnen häufig Ohnmachten im Publikum. Es gibt keinen Grund, das eins-zu-eins für eine historische Wahrheit zu halten, aber man kann sagen, dass die Ohnmacht in den zeitgenössischen Diskursen des Publikums zu einer bezeichnenden Figur für die Wirkung der virtuosen Performance geworden ist.10 Die Figur bringt keineswegs die Überwältigung eines passiven Rezipienten-Subjekts durch die Macht einer Illusion zum Ausdruck. Wenn sich das Publikum dieser Zeit einem lustvollen Überwältigtwerden hingibt, impliziert das die (selbst theatrale und theatralische) Hingabe von Kennern. Die Angehörigen der herrschenden Klasse gewähren dem Künstler für die Dauer seiner künstlerischen Präsenz die Ausnahmerechte eines anderen Souveräns. Und in gewissen Augenblicken scheinen die Figuren dieses Künstler-Souveräns und die des politischen Herrschers übereinanderzutreten – beispielsweise in Opern, wo der Kastraten-Virtuose die Rolle eines Königs sang oder eine Figur, in deren Gestalt er die Macht des Königs herausforderte.11 Diese Unterwerfung unter die Souveränität des virtuosen KünstlerTechnikers verbleibt jedoch innerhalb eines relativ eng umrissenen Bezirks. Die Herren und Damen im frenetisch entzückten Publikum von Farinelli und anderen Virtuosen seiner Zeit sind sich darüber im Klaren, dass ihre technischen Kenntnisse in Musik, Tanz und Schauspiel Teil ihrer repräsentativen Funktion auf der Szene einer politischen Öffentlichkeit sind. Überlassen sie die Szene des Öffentlichen für den Augenblick eines Rausches dem Virtuosen, dann in der Gewissheit, dass es niemals wirklich die politische Szene sein kann. Die Herrschaft des Bühnenkünstlers über den Ausnahmezustand mittels überragender Effekte wird nie10 | Dies durchaus unbeschadet anderer Erklärungsansätze – etwa der Hypothese, das unbewusste körperliche Mitvollziehen der Phrasierungen von Kastratensopranen habe bei Zuschauern zu Sauerstoffmangel geführt, da sie nicht über die Fähigkeit des Kastraten verfügten, den Atem extrem dünn und lang strömen zu lassen. 11 | Vgl. z.B. Ethel Matala de Mazza: Die Regeln der Ausnahme. Zur Überschreitung der Souveränität in Fénelons ‚Télémaque‘ und Mozarts ‚Idomeneo’, in: Gerhard Neumann/Rainer Warnig (Hg.): Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg i.Br. 2003, S. 257-286.
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mals effektiv den Charakter einer politischen Herrschaft annehmen. Die mindere Technik bleibt der besseren übergeordnet in einer sozialen Ordnung, in der die Rollen fest verteilt sind und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse das Handlungspotenzial definitiv begrenzt. Das ändert sich, wo ein zunehmend bürgerliches Publikum sich um den Virtuosen schart. Auch beim bürgerlichen Publikum des 19. Jahrhunderts gibt es einen Stand von Kenntnissen und Fähigkeiten, der die imaginative Partizipation der Rezipienten an der Performance erlaubt und die Einzigartigkeit des Virtuosen in dem Moment herausstellt, da das unverhältnismäßig Bessere der von ihm erfundenen und gemeisterten Schwierigkeiten die virtuelle Konkurrenz aussetzen lässt. Doch sind die technischen Fertigkeiten der Bürger, die dem Virtuosen Beifall spenden, der politischen Repräsentativität beraubt. Es sind social skills, die sich in der semiprivaten Sphäre des häuslich-geselligen Lebens entwickeln und nur im Rahmen gesellschaftlicher Anlässe, in Salons, unter Freunden und Bekannten einem erweiterten Familienkreis präsentiert werden. Die Willkür des Virtuosen, die er zusammen mit seiner meisterlichen Technik zum Vorschein kommen lässt, nimmt so einen anderen Sinn an. Ein bürgerliches Publikum erlebt den virtuosen Performer als jemanden, der das Wagnis einer höchst prekären Öffentlichkeit eingeht: Er betritt (und zwar jetzt gern aus der Mitte des Publikums heraus) ein Podium. Er stellt sich und seine Kunst dort zur Schau. Er exponiert den Genuss am eigenen Können. Er steigert die Schwierigkeiten immer weiter, um den Selbstgenuss in der Leichtigkeit zu steigern, lässt Leichtigkeit und Schwierigkeiten einander in die Höhe treiben, und er geht damit schließlich bis an die Grenze, wo selbst ihm die Kontrolle zu entgleiten droht, der äußerste Spitzenton vielleicht verpasst wird, der Sprung vielleicht in einen Sturz endet – nur, um sogar in dieser letzten Übersteigerung, die das Scheitern absolut wahrscheinlich macht, mit der es mitunter tatsächlich dazu kommt, wiederum die Kontrolle zu behalten und den Versammelten zu zeigen, dass man so etwas tun kann, ohne seinen Ruf zu verlieren. Richard Sennett hat darauf hingewiesen, dass dieser Virtuose, der souverän wirkend im Zentrum des populären Interesses steht und dort in einer Dynamik von Risiko-und-Bewältigung seine Kunststücke vorführt, für das bürgerliche Selbstverständnis im 19. Jahrhundert sowohl beängstigende Ausnahme als auch kathartische Reinigung von der Gefahr des Unkontrollierbaren bedeutet. Sennett legt nahe, die enorme Popularität und Autorität, die romantische Virtuosen vom Typ Paganini oder Liszt er-
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langten, darauf zurückzuführen, dass man sie für eine besondere Art von Selbst-Management bewunderte: Eine Ansammlung von Zuschauern, die bei ihrem Verhalten in Anwesenheit anderer extrem verunsichert gewesen seien, habe im virtuosen Performer einen Meister des kontrollierten öffentlichen Kontrollverlustes erblickt.12 Die virtuose Performance der charismatischen Stars schreibt sich damit als Grenz-Figur in die soziale Organisation des Lebens ein. Der Virtuose streift etwas Maßloses, Abnormes, aber er streift es nur und kehrt von dieser liminalen Berührung her in die Mitte der wesentlich normalen Übrigen zurück, aus der er hervorgetreten ist. Ihren sozialen Erfolg erzielt diese Virtuosität vor allem durch die Rückkehr in die Normalität. Das Publikum sieht und hört dem Virtuosen dabei zu, wie er sich bei der Reproduktion eines Kunstwerkes eine Freiheit nach der anderen leistet, wie er sich all jener Bedingungen entledigt, die dieses Reproduzieren als Dienst am Werk oder als verantwortliche Zusammenarbeit mit dessen Schöpfer ausweisen. Doch geschieht das nur, um am äußersten Punkt statt der sich immerfort ankündigenden Machtübernahme ein Aussetzen oder Entgleiten zu zeigen. Von allen Bürgern wagt der, den man als Virtuosen feiert, sich am weitesten in den Bereich dessen vor, was entweder ein souveräner Akt wäre oder aber das Ende der Souveränität, das Umkippen einer Herrschaft im Zeichen des Möglichen in ein irreversibel Wirkliches. Doch er verhält gewissermaßen am Rand zur Handlung, einen Schritt vor der Entscheidung für eines von beiden. Er deutet die Kon-
12 | Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M. 1986, S. 270. Dana Gooley führt in seiner LisztStudie eine Reihe zeitgenössischer Stimmen an, die bereits vermuten, dass die euphorischen Reaktionen auf Liszts Auftritte in Berlin mit einer doppelten Hemmung des Berliner Publikums zusammenhingen: dem Fehlen einer freien politischen Öffentlichkeit (die vom autoritären preußischen Regime unterdrückt wurde) und auf der anderen Seite dem Fehlen einer wirklich geschützten Privatsphäre, in der sich Intimität hätte entfalten können. Liszts Performance, so die naheliegende Hypothese, konnte deshalb eine so heftige kompensatorische Reaktion bewirken, weil darin Öffentlichkeit und Intimität in eine zugleich zugängliche und kontrollierte Form gebracht waren. Vgl. Das Kapitel „Anatomy of ‚Lisztomania‘: the Berlinepisode“ in: Dana Gooley: The Virtuoso Liszt, Cambridge 2004, S. 201-262, bes. S. 216-226.
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sequenzen des Ausnahmezustands an, ohne sie auf sich zu nehmen, und er lässt zugleich ein Anderes der Ausnahme durchscheinen, ein Gewöhnliches, das gleichwohl im Glanz des Großen erstrahlt, ohne auf dessen Seite zu treten. Seine Steigerung bis zum Äußersten bleibt Markierung, liminale Geste. Diese liminale Geste, mit der die künstlerische Virtuosität sich im 19. Jahrhundert als eine Art sozialer Dienstleistung mitteilt, rekalibriert die Souveränität des Virtuosen. Das Ich könnte es auch nicht tun wird zu einem Ich gehe mit dem, was ich tun kann, an die Grenze des Möglichen, wo über Nicht-Tun oder Tun nur noch das Ereignis entscheidet. Die provozierende, lasziv mit der Bereitschaft des Publikums zur Unterwerfung kokettierende Macht der willkürlichen Entscheidung läutert sich zu einer suggestiven (und darin zustimmungsfähigen) Delegierung des Entscheids an die höhere Macht des Schicksals. Die beunruhigende Frage, die sich die Zuschauer stellen, lautet schon nicht mehr „Wird er es tun?“ („Hat er es getan?“), sondern: „Wird er es schaffen?“ Und diese Unruhe enthält bereits die Gewissheit, dass der Künstler für sein Publikum alles tun wird, was in seiner Macht steht, und erst das objektive Scheitern sein Engagement und seine Selbstaufopferung begrenzt. Der Auftritt des Virtuosen versetzt in Aufruhr, setzt Regeln außer Kraft, aber er versammelt sein bürgerliches Publikum schließlich in einer sehr regulären Erschöpfung. Und diese Erschöpfung ist eminent sozial; sie ist die Verbindlichkeit des Sozialen selbst, an der Ausnahme gestestet und bestärkt.13
4. V O M
C H A R I S M AT I S C H E N VIRTUOSEN TEAM
DIRIGENTEN
ZUM
Die Fortsetzung dieser sozial produktiven Virtuosität musikalischer Solisten dürfte der Künstler-Dirigent sein, wie er mit Charles Lamoureux und Édouard Colonne in den 1880er und -90er Jahren die Szene betritt. In der Figur des Dirigenten gehen die Ökonomie des Werkes und die der virtuosen Performance eine Synthese ein, deren Erfolg im Musikbetrieb bis heute andauert. Dieser neue Typ von Dirigent schlägt nicht nur den Takt, 13 | Diese metaphysische Dienstleistung der virtuosen Überschreitung wäre vielleicht in einer Beziehung zu dem karitativen Engagement zu sehen, mit dem vor allem Liszt hervortrat und sein Image modellierte. Vgl. dazu ebd., S. 234f.
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er beherrscht mit seinen expressiven Gesten das Orchester und treibt es zu einer zuvor offenbar nie gehörten klanglichen Präsenz. Die überzeugt auch skeptische Zeitgenossen, dass das virtuose Selbstmanagement nicht im egomanischen Auftritt eines Einzelnen enden muss, sondern als organisierende Kraft auf eine ganze Gruppe von Menschen wirken kann: Ein derart geführtes, begeistert-diszipliniertes Kollektiv bringt die heftigsten Emotionen zum Ausdruck, während es sich auf der Höhe des musikalischen Exzesses doch bestens im Griff hat. Im romantischen Orchester ist der Ausnahmezustand Arbeitsalltag geworden. Der Dirigent agiert selber als Performer auf der Szene des Virtuosen. Er inszeniert sich selbst vor dem Publikum mit einer Art expressivem Tanz, der den Leuten im Saal vorführt, was ein exzellenter Hörender, Verstehender und Empfindender in der Partitur des Werkes zu lesen vermag. Doch diese Tanzbewegungen werden im selben Moment von der anderen Seite, von den Musikern wahrgenommen. Sie gehören ebenso zu einem Code von Zeichen, die der Organisation dienen, von denen jedes eine Weisung, ein Signal oder einen Impuls darstellt, der sich auf den sozialen Körper des Musiker-Kollektivs überträgt und dort einen deutlich wahrnehmbaren sozio-ökonomischen Ertrag erbringt. Das Orchester spielt unter einem brillanten Dirigat besser, es ist „mehr zusammen“; und das Kollektiv der Musiker lernt, die optimierte Interaktion zur Steigerung seiner Präsentation als Ganzes zu nutzen. Der virtuose Dirigent reüssiert, indem er eine neue Form sozio-performativer Bindung schafft – er übersetzt die auftrennende, vom geteilten Normalen losreißende Kraft des Virtuosen in Bindung zurück. Anders als der Solo-Virtuose usurpiert der Dirigent die Position des Souveräns nicht mittels eines zweideutigen ‚Als ob‘. Das Oszillieren zwischen künstlerischer und politischer Souveränität entspricht hier keinem Spiel von Schein und Sein. Im Rahmen der Miniaturgesellschaft, die das Orchester darstellt, ist der Dirigent tatsächlich ein tyrannischer Herrscher, der seine Herrschaft in ihrer eigenen, selbstgeschaffenen Normalität einer permanenten Schwellensituation ausübt und durch die Resultate legitimiert. Wir haben es beim Dirigieren mit einem sozialen Realismus des Virtuosen zu tun, in dem die Macht des Virtuosen-Charismas sich gewissermaßen selbst beim Wort nimmt. Und wir erleben während der Zeit, in der das romantische Orchester für sein Publikum an einem überwältigenden Erlebnis arbeitet, etwas, das einem permanenten Ausnahmezustand nahekommt.
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Es hat bis ins späte 20. Jahrhundert gedauert, bis eine ökonomische Para-Disziplin, die Organisationstheorie, den Dirigenten als Ideal des Unternehmensführers entdeckte. Das in den 1970er und 80er Jahren populäre Leadership by Enchantment empfahl Managern, ihre Untergebenen ebenso zu begeistern wie ein Dirigent seine Musiker und dabei auch die eigene Autorität von einer Frage der Hierarchie in „Charisma“ zu verwandeln.14 Die Paarung von Selbstbeherrschung mit Exzessivität und Expressivität soll zu einem Prozess des enabling führen, der Gewinn von virtuoser Steigerung sich als ein Mehr an Organisation realisieren, an dem jedes einzelne Mitglied des organisierten Zusammenhangs partizipiert. Mitte der 1990er Jahre kündigte sich jedoch ein weiterer Paradigmenwandel im Management an, der bis heute anhält: vom Leadership by Enchantment zu Leadership as Collective Virtuosity. „Virtuosity is in such a context no longer a property of the aesthetically skillful individual, but the emergent property of the interaction of many aesthetically skillful individuals in an organization“, schreiben Mark Marotto, Bart Victor und Johan Roos, die ihre Vision des virtuosen Ensembles am Beispiel einer Chorprobe erläutern, wo in einer kritischen Situation, nachdem der Dirigent mehr oder weniger resigniert hat, die Sängerinnen und Sänger selber die Musik organisieren.15 Führungskräfte großer Unternehmen besuchen die Proben des Orpheus Chamber Orchestra, das ohne Dirigenten arbeitet. Wissenschaftler schlagen vor, kollektive Improvisationstechniken wie das Jamming oder improvisatorische Formen von Jazz als Modelle für die „kreative Zusammenarbeit“ im Unternehmen zu nutzen.16 Es ist wiederum die parallele Steigerung von Kontrolle und Flexibilität, Verbesserung der (Selbst-)Disziplin und Vergrößerung des Spielraums
14 | Vgl. das sog. „neo-charismatic leadership paradigm“, das unmittelbar an die Thesen Max Webers zum Charisma anschließt, bei Robert R. House: A 1976 Theory of Charismatic Leadership, in: James G. Hunt/Lars L. Larson (Hg.): Leadership. The Cutting Edge, Carbondale IL 1977, S. 189-207; James M. Burns: Leadership, New York NY 1978; Bernard M. Bass: Leadership and Performance Beyond Expectations, New York NY 1985. 15 | Mark Marotto/Bart Victor/Johan Roos: Leadership as Collective Virtuosity. Working Paper 8/2001, S. 15, http://www.imagilab.org/pdf/wp01/WP8.pdf. 16 | Vgl. dazu ausführlicher Kai van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Paderborn 2013, S. 305-418.
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in der Übertragung des virtuosen Mehr auf ein Kollektiv, die diesen Ursprung von Organisation aus einem Moment der Verausgabung für die Wirtschaft interessant macht. Die Mitglieder eines virtuosen Ensembles interagieren miteinander im optimalen Fall, indem jeder sich frei bis zu seiner eigenen Leistungsgrenze steigert, während er auf dem Weg seiner Steigerung diese Grenze kommuniziert, so dass die Szene seiner eigenen Steigerung am Limit zugleich den Einstieg für einen anderen konfiguriert, der die Performance weiter steigert. Ein Gespür für die organisatorische Kraft des Ereignisses entwirft einen ungefähren gemeinsamen Zeithorizont, und innerhalb dieses Horizontes kommt es zu einer losen Synchronisierung und wechselseitigen Verstärkung der einzelnen Steigerungsprozesse. Kollektive Virtuosität ist eine Art gemeinsamer Arbeit an der Emergenz – und gemeinsam dank der Emergenz dessen, was sich allen Beteiligten jeweils als organisatorische Beziehung zwischen ihnen vermittelt. Was beim romantischen Solo-Virtuosen als liminale Geste für den Augenblick eine metaphysische Gemeinschaft stiftet, avanciert hier zum durchgängigen Modus der Selbstorganisation. ‚Das Ensemble‘ ist dann nicht mehr als die raumzeitliche Form dieser wechselseitig stimulierten Steigerung. Die Pointe der organisatorischen Funktionalisierung von Virtuosität für kollektive Performance lautet: Jeder dieser Musiker spielt als Mitglied eines Ensembles schließlich virtuoser, als er es als Solist getan hätte. Und Entsprechendes soll, so die Hypothese, auch den Beteiligten am relativ frei organisierbaren Workflow der zeitgemäßen Unternehmen widerfahren. Jeder einzelne Mitarbeiter muss hervorragend, ja in seinem Bereich nach Möglichkeit der Beste sein; aber der Schritt zur Virtuosität führt nunmehr über die Interaktion im Team. Der italienische Philosoph Paolo Virno hat im Zusammenhang mit einer Analyse der Arbeitsstrukturen im Postfordismus von einer „servile virtuosity“ 17 gesprochen. Er erinnert an Marx, dem bereits auffiel, dass in einer konsequent ökonomischen Klassifikation von Berufen die virtuosen Künstler in dieselbe Kategorie
17 | Vgl. Paolo Virno: Virtuosity and Revolution. The Political Theory of Exodus, in: ders./Michael Hardt (Hg.): Theory out of Bounds Vol. 7: Radical Thought in Italy. A Potential Politics, Minneapolis MN 1996, S. 189-212.
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gehören wie das niedrigste Service-Personal. Denn sie erzeugen nicht nur nichts Materielles, ihre Arbeit kann nicht einmal als Produktion immaterieller Waren oder Güter gelten wie etwa die eines Schriftstellers oder Komponisten, die geistige Werke hervorbringen, oder die von Ärzten, die das Gut Gesundheit herzustellen helfen. Der virtuose Performer hat überhaupt kein Produkt, in dem sich seine Arbeitsleistung objektiviert. Er setzt seine physischen und mentalen Kräfte ein, um etwas zu tun, was nur während der Tätigkeit wirklich ist. Und damit steht der berühmteste Pianist, der Millionen verdient, ökonomisch doch auf derselben Stufe wie ein Butler, der für einen bescheidenen Stundenlohn seinem Herren die Zeitung bügelt. In der Figur des Virtuosen bereitet sich so das vor, was heute unter dem Namen Dienstleistungsgesellschaft fast das gesamte Spektrum professioneller Tätigkeiten erfasst und redeterminiert hat: Hoch differenzierte Spitzenleistungen, die ein extremes persönliches Engagement fordern, gehen ein in Serviceleistungen der allgemeinsten Art, bei denen es lediglich darum geht, anderen die Arbeit bzw. das Leben zu erleichtern. Die Wirkung der virtuosen Leichtigkeit kommt letztlich als eine Erleichterung heraus, und die Souveränität, die einmal mit dieser Leichtigkeit verknüpft war, verliert ihren politischen Bezug und endet als eine sozio-ökonomische Größe.18 Der Arbeitsprozess stellt sich dabei selbst als unentwegte Suspendierung seiner Regeln dar. Wie Virno betont, verweist die dienstbare Virtuosität auf kein exzeptionelles Können, keine markanten Persönlichkeiten mehr; sie ist eine generelle Anforderung an work performance und speist sich aus einer Art performativem General Intellect, einem Set von Kommunikationsfähigkeiten, die den Gebrauch von Gemeinplätzen des Redens und Handelns betreffen: Jeder muss es verstehen, sich als exzellent zu inszenieren. Niemand darf noch weniger als virtuos sein (es gibt kein ‚solides Gutes‘ mehr, nicht deshalb, weil das Leistungsniveau tatsächlich so viel höher geworden wäre, sondern weil die postfordistische Bestimmung von anerkennenswerter Leistung das Solide eliminiert und nur die Steigerung übrig lässt). Und doch wird selbst der beste Performer in dieser Ökonomie nichts anderes tun dürfen, als eine Dienstleistung zu erbringen. Die Arbeitenden bilden ein Virtuosenproletariat. Sie sind die 18 | Zur Dienstleistungsgesellschaft und ihrer Ökonomie der Erleichterung vgl. Kai van Eikels: Nichtarbeitskämpfe, in: Jörn Etzold/Martin J. Schäfer (Hg.): NichtArbeit, Weimar 2011, S. 16-39, bes. S. 30ff.
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Agenten eines Kurzschlusses von Ausnahme und Normalität. Ihr Recht zu arbeiten, weiter zu arbeiten, müssen sie ständig dadurch erringen, dass sie sich mit und durch Leichtigkeit zum Herren über ihre eigene Unterwerfung aufschwingen. Die Macht, die sie unterwirft, repräsentieren in den flacher werdenden Hierarchien immer weniger jene Vorgesetzten, die den Rest an Dirigismus verkörpern. Die Agentur der Macht ist das ökonomisch disponierte Soziale selbst – ihr Imperativ verkapselt in der unwiderstehlichen Einsicht, dass man besser arbeitet, wenn man gut zusammenarbeitet, dass ein reibungsloser Flow, die Leichtigkeit sich von selbst synchronisierender Performanzen, in der Tat beflügelnd wirkt und peak performance zusammen mit dem emotionalen High beschert.
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Dabei könnte der Begriff des Virtuosen eine andere Größe des Handelns in Erinnerung rufen als die der souveränen Herrschaft. Vielleicht gehört Virtuosität sogar zu den achtbarsten Erscheinungsmerkmalen einer nichtsouveränen Macht, wie Hannah Arendt sie für das Politische reklamiert hat. Über das lateinische virtus, aus dem in der Renaissance das italienische virtuosità hervorgeht, gelangt man durch die Begriffsgeschichte zurück bis auf das griechische arete. Das Wort, oft verlegen mit „Tugend“ übersetzt, meint eine Vortrefflichkeit, die Menschen oder auch Tieren und Dingen eignet, deren besondere menschliche Dimension aber eine ethisch-politische Exzellenz ist. Dahinter verbirgt sich eine Auffassung des Politischen, die von der Figur des souveränen Herrschers ebenso weit entfernt ist wie von den modernen Anstrengungen, dessen Souveränität auf das Volk übergehen zu lassen, den Ort des Souveräns des Persönlichen zu entkleiden und in ein von Jedem und Jeder zu besetzendes Amt zu verwandeln. Am klarsten formuliert hat diese Auffassung Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik: Im Gegensatz zum Herstellen (der poiesis) habe das politische Handeln (die praxis) sein Ziel in seiner eigenen Verwirklichung, seiner energeia.19 Und anders als beim Herstellen, von dem 19 | „[...] jeder Hervorbringende tut dies zu einem bestimmten Zweck, und sein Werk ist nicht Zweck an sich, sondern für etwas und jemanden. Das Handeln [praxis] ist dagegen Zweck an sich. Denn das rechte Handeln ist ein Ziel, und das Streben geht darauf.“ Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch VI, 1139a (hier zit.
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er sagt, es finde in der Zweckdienlichkeit des hergestellten Gegenstandes seine qualitative Obergrenze, gilt die Güte des Handelns Aristoteles für unbegrenzt steigerbar. Ja, eine gewisse Übersteigerung, eine hybris, gehört bei der Politik von Anfang an dazu, insofern sie sich vermisst, die Verhältnisse des menschlichen Lebens von einem Ort irgendwo in deren Mitte her zu verändern. Das ist der heute verbreiteten Vorstellung genau entgegengesetzt: ‚Politik machen‘ erscheint uns chronisch enttäuschten Staatsbürgern wie ein Herstellen gewünschter Zustände. Die Politiker wiederholen in ihrem Verhalten unablässig das Versprechen, ihre Ziele – mehr Arbeitsplätze, bessere Gesundheitsversorgung, höhere Bildung usw. – ließen sich durch geeignete Entscheidungen quasi produzieren. Der Politikbetrieb sieht es auf seine Professionalität bei der organisierenden Verwaltung von Prozessen ab, die das Produkt ‚Leben‘ optimieren sollen. Politik kennt daher keine eigene Größe des Handelns mehr. Sie erhält ihr Maß von ökonomischen Größen, von der Resonanz beschlossener Maßnahmen im Verhältnis zur Enormität von deren Kosten (der Staatshaushalt sagt die Wahrheit dieser Politik). Auf der anderen Seite ist die Wirtschaft, die Domäne des Herstellens, zur neuen Sphäre der grenzenlosen Steigerung geworden. Anstatt es mit der Tauglichkeit eines produzierten Dings bewenden zu lassen, perfektioniert man dort die Produkte immer weiter oder ersetzt sie durch leistungsfähigere bzw. verkauft gleich offene, von den Usern mit zu entwickelnde Plattformen. Auch die Arbeitsvorgänge selbst werden seit Taylor systematisch daraufhin beobachtet, wie sie sich verbessern lassen. Neben der Organisationstheorie, die Steigerungsszenarien für work performance durchspielt, erhält im Postfordismus jeder Arbeitende die Aufgabe, sich und sein Umfeld immerzu auf Optimierungsoptionen hin zu scannen. Wir haben im späten 20. und 21. Jahrhundert also eine Vertauschung jener Größen, mit denen in der Antike Handeln und Herstellen bewertet wurden. Arendt gehörte zu den ersten, die dieses Umschlagen der Werte bemerkten. Ihr politisches Denken durchzieht der Wunsch, die alte Bestimmung der politischen praxis als ein von ökonomischen Herstellungszwängen freies, nur an seiner eigenen Steigerung interessiertes Handeln unter den Bedingungen der Moderne zu erneuern. Und dafür zog sie den nach der Übersetzung von Olof Gigon: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, griechisch-deutsch, Düsseldorf/Zürich 2001).
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Begriff des Virtuosen heran: Vom ursprünglichen Sinn des politischen Handelns sei in der Neuzeit am ehesten in den performativen Künsten ein Echo vernehmbar, wo diese ein Ideal der Virtuosität ausgebildet hätten.20 Schon Aristoteles nennt in der Nikomachischen Ethik, obgleich er deren Untersuchungen der „politischen Wissenschaft“ zuordnet, einen künstlerischen Performer, einen Kitharaspieler, als Beispiel für seine Bestimmung der arete.21 Arendt schließt hier an: Politik und Kunst haben ihr zufolge eine Beziehung im Hinblick auf die Steigerbarkeit der jeweils in ihrem Namen ausgeübten Tätigkeiten zum Vortrefflichen. Das spricht ausdrücklich nicht die herstellende, sondern die ausführende, performative Kunst an, denn der Zusammenhang ist keineswegs die Annahme, der Staat sei ein Kunstwerk und die Politik die Kunst, es in seiner harmonischen Totalität zu erzeugen. Arendt lokalisiert das Gemeinsame von politischem und künstlerischem Handeln diesseits des Staates und diesseits des Werkes, diesseits des Staats-Werkes, das Philippe Lacoue-Labarthe zufolge die beherrschende „Fiktion des Politischen“ in der abendländischen Geschichte gewesen ist.22 Anstatt einer für beide verpflichtenden Ausrichtung auf das zu schaffende Ganze der vollkommenen Gemeinschaft teilen politisches und künstlerisches Handeln die Freiheit eines Vollziehens, das hinsichtlich der Steigerung seiner Güte unendlich offen bleibt, gerade weil es in jeder seiner Wiederholungen endlich ist, weil jede Tat auf ein persönliches Ende zugeht und die Person des Handelnden in und mit der Endlichkeit dieser Handlung identifiziert. Die vielleicht größte politische Leistung der performativen Künste besteht, so gesehen, darin, dass sie eine Aufmerksamkeit für die Endlichkeit des Handelns kultiviert haben – für die besondere Größe, die ein Handeln nur deshalb haben kann, weil es restlos vergeht, weil ein jedes menschliches Handeln in einem präzisen Sinne des Wortes vergeblich gewesen sein wird.23
20 | Vgl. Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 2000 (2. Aufl.), S. 206f. 21 | Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1098a. 22 | Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen, Stuttgart 1990. 23 | „Daß Größe einerseits unbedingt an Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit gemessen wurde und daß andererseits menschliche Größe gerade in den vergänglichsten und vergeblichsten Tätigkeiten der Menschen, dem flüchtigen Wort, der Tat, die keine Spuren hinterläßt, sich zeigen sollte – dieser scheinbare Widerspruch
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Tatsächlich geht es mit dem Virtuosen um den steigerbaren Wert von etwas radikal Endlichem. Und Endlichkeit hat dabei, wie Arendt mit Bezug auf das griechische Verb prattein deutlich macht, eine politische Pointe: Ist Handeln ein Vollziehen, das nichts Dauerhaftes hervorbringt, worin es sich bewahrt, so erlangt es eine Wirklichkeit nur, insofern es in Anwesenheit anderer Menschen geschieht, die es bezeugen, erinnern, weitertragen, bei Gelegenheit weitermachen. Da ihm aufgrund seiner Flüchtigkeit eine bleibende Wirkung allein in den Reaktionen von Zeitgenossen und Nachgeborenen zuteil wird, hat das Handeln eine genuin kollektive Dimension. Einer reiche, um etwas zu erfinden, sagt Arendt – aber es müssen Viele sich beteiligen, um es handelnd zu verwirklichen. Im Virtuosen, der Steigerungsgröße des Handelns, ist so immer schon eine kollektive Dynamik impliziert. Darin zeigt sich das politische Wesen dieser Vortrefflichkeit des Flüchtigen, denn das Erkennen und die Anerkennung von Virtuosität haben unmittelbar damit zu tun, wie Menschen zusammenleben, wie sie ihr Zusammenleben einrichten und ausgestalten. Die Beziehungen, die sich aus diesem Aufeinander-Verwiesensein von Handelndem und Anerkennenden ergeben, sind aber – so die Behauptung, mit der Arendts politisches Denken jede Politik des Imperiums, des Reiches oder Staates herausfordert – prinzipiell unvereinbar mit der Souveränität. Insofern im Begriff der praxis die Erfahrung anerkannt ist, dass der Mensch stets unter seinesgleichen weilt, dass es ihn nur in einer Vielheit gibt, die weder dazu neigt noch dauerhaft dazu gebracht werden kann, sich einer Einheit ein- und unterzuordnen, werde Handeln niemals zur Souveränität führen und Souveränität immer auf die Abschaffung dessen am Handeln hinauslaufen, was als performative Freiheit die Wirklichkeit virtuoser Steigerung ausmacht. „Wo Menschen, sei es als einzelne, sei es als organisierte Gruppen, souverän sein wollen, müssen sie die Freiheit abschaffen. Wollen sie aber frei sein, so müssen sie auf Souveränität gerade verzichten.“24 zieht sich durch die gesamte griechische Dichtung und Geschichtsschreibung und hat selbst noch die Gelassenheit der Philosophen beunruhigt. Die gleichsam unphilosophische, jedenfalls vorsokratische Lösung dieses Widerspruchs war der unsterbliche Ruhm, von dem noch Heraklit meinte, daß ihm das edelste und menschenwürdigste Trachten der Sterblichen gelte.“ (Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 63) 24 | Die zitierte Stelle im Zusammenhang: „Wie die Souveränität des einzelnen ist
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So erbringt dieser Durchgang durch die Geschichte des Verhältnisses von Virtuosität und Macht als Fazit eine Einsicht in die widersprüchliche Disposition des Virtuosen: Im 18. und 19. Jahrhundert tritt das Virtuose als eine Herrschaftsfigur hervor, die künstlerische und politische Performanzen im Zeichen des Souveränen sehr eng miteinander verschränkt. Die Spur dieser Vorstellung einer ‚souveränen Performance‘ lässt sich bis in die Gegenwart verfolgen, wo die Souveränitätsversprechen einer postfordistischen Arbeitskultur die politischen Tugenden und künstlerischen Fähigkeiten für die Zwecke wirtschaftlicher Wertschöpfung absorbieren. Doch im 21. Jahrhundert, da Kunst und Politik auf neue Weise zueinander finden und künstlerische Performance teilweise sehr direkt zur agency für politische Praxis wird, eröffnet sich auch die andere Geschichte des Virtuosen erneut, die virtuose Steigerung im Diesseits souveräner Herrschaft verortet: Politisch-künstlerisches Agieren entdeckt jenen Exzess des Wirklichen über das Mögliche wieder, der in virtuoser Steigerung steckt. Es mobilisiert die Kräfte dieses Exzesses gegen das Regime des Möglichen, das jede souveräne Ordnung ist. Von den virtuosi der Renaissance, den Amateuren in Wissenschaften und verschiedenen Künsten des Handelns, über die virtuosen Künstler des 18. und 19. Jahrhunderts bis zu den kollektiven Virtuosen des Postfordismus kann man, wie ich mit dem hier Skizzierten zu zeigen versucht letztlich auch die Souveränität einer Gruppe oder eines politischen Körpers immer nur ein Schein; sie kann nur dadurch zustande kommen, daß eine Vielheit sich so verhält, als ob sie einer wäre und noch dazu ein einziger. Solch ein Verhalten ist allerdings möglich, wie wir aus vielen Phänomenen der Massengesellschaft nur zu gut wissen, aber es besagt auch, daß es gerade die Freiheit in einer solchen überhaupt nicht gibt. Wo alle das gleiche tun, handelt niemand mehr in Freiheit, auch wenn keiner direkt gezwungen wird. Unter menschlichen Verhältnissen also, die dadurch bestimmt sind, daß es nicht den, sondern nur die Menschen, nur viele Völker, aber nicht ein Volk gibt, sind Freiheit und Souveränität so wenig miteinander identisch, daß sie nicht einmal zusammen bestehen können. Wo Menschen, sei es als einzelne, sei es als organisierte Gruppen, souverän sein wollen, müssen sie die Freiheit abschaffen. Wollen sie aber frei sein, so müssen sie auf Souveränität gerade verzichten.“ (Ebd., S. 214f.) Wenn Arendt hier sagt, dass es „in einer Massengesellschaft“ keine Freiheit gebe, so richtet sich das nicht unbedingt gegen die Masse (die Vielen in großer Zahl), wohl aber gegen deren gesellschaftliche Ordnung im 20. Jahrhundert.
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habe, eine Komplexität des virtuosen Verhältnisses zum Maß von Steigerung beobachten, zu den Leistungsstandards einer Gesellschaft und den Institutionen, die deren Einhaltung überwachen. Die politisch entscheidende Frage dabei lautet: Wie bestimmt die Gesellschaft das Wesen und den Sinn von Steigerung? Für eine Repolitisierung des Virtuosen heute käme es darauf an, einen zugleich politischen und künstlerischen Streit um solche Bestimmungen zu entfesseln. Politischer Widerstand, der gegen die Zwänge der „Leistungsgesellschaft“ opponiert, beruft sich oft reflexartig auf das Dysfunktionale, die Leistungsverweigerung, das Scheitern, die Katastrophe. Abgesehen davon, dass dieses Kokettieren mit der eigenen Ineffizienz mitunter sehr schnell in Höchstleistung umschlägt, sobald sich die Chance auf Erfolg einstellt, hat der Kapitalismus es in vielerlei Hinsicht vermocht, die Kräfte der Verweigerung anzueignen, die Widerstände in Triebkräfte seiner Regeneration und Innovation umzuwandeln. Anstelle einer schlichten Entgegensetzung von ökonomischer Über- und politischer Unterbietung sollten wir nach Differenzen innerhalb der Steigerung fragen. Im Virtuosen sind Überbietung und Unterbietung durch die Suspendierung einer Mitte zwischen ihnen so nah beieinander, dass jede Bewertung erst aus der Entscheidung über den Wert des Wertes zu gewinnen ist, der Steigerung qualifiziert. Politische Debatten im Namen des Virtuosen haben Streit über den Wert des Wertes von Steigerung zu entfachen. Das berührt sehr grundsätzlich unser Verständnis dessen, was Menschen tun können – unser Verständnis des Menschen durch das, was wir uns in seinem Namen zutrauen, durch das Verhältnis von Wirklichem, Möglichem und Unmöglichem, in dem sich für uns etwas vom Wesen des Menschen reflektiert. Der Virtuose ist eine Reflexionsfigur der Leistung, die es bedeutet, Mensch zu sein. Anders als jene Projektionsfiguren des Heldenhaften, die von den antiken Heroen bis zum neuzeitlichen Genie ein primäres Mehr-als-Menschliches postulieren (und damit eine Leistungsdifferenz naturalisieren), agiert der Virtuose zu keiner Zeit jenseits dessen, was Menschen vollbringen können. Seine Überschreitung vollzieht sich diesseits dieser Grenze, und sie besteht zum großen Teil darin, dass er überhaupt tut, was er tut, und dass er dabei bleibt, die Bahn seiner Steigerung mit Entschiedenheit weiterverfolgt. Der Virtuose handelt als Mensch in dem Sinne, dass es den Menschen auszeichnet, Dinge zu tun, die ihn außerhalb des Für-möglich-Gehaltenen (vor-)führen und zur Bewunderung Anlass geben – oder mehr noch: das Mögliche in
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Frage stellen, indem sie ein Wirkliches vollziehen, das dem Maßstab des Für-möglich-Haltens heterogen ist und aus dieser Differenz heraus die Vorstellung vom Möglichen selbst verändert. Die Vermessenheit, die im Virtuosen an die hybris erinnert, ist nicht einfach quantitative Überschreitung eines Limits, sondern Erschütterung des Maßes durch etwas, das dessen Zumessung von Möglichem und Unmöglichem mit dem exzessiv Wirklichen eines leicht unverhältnismäßigen Handelns konfrontiert. In diesem Sinne heißt virtuos Handeln stets, Unmögliches zu vollbringen; doch muss dies Unmögliche in keinem dramatischen Kontrast zum Menschenmöglichen stehen. Politisch verstanden, bezeichnet das Wunderbare des Virtuosen innerhalb menschlicher Verhältnisse die Unsicherheit selbst jedes Maßes, das aus dem genommen wird, was die menschliche Gesellschaft über ihre Möglichkeiten und deren Grenzen zu wissen meint: eine Unsicherheit, die jede große Handlung wieder merkbar werden lässt und die sich in der Reaktion darauf als Unzuverlässigkeit des Reagierens bezeugt.
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Vom naturwissenschaftlichen Experiment zum Medien-Event Der Virtuose als Grenzfigur des Performativen Gabriele Brandstetter
Der Auftritt des Virtuosen markiert in der Geschichte – in der Geschichte des naturkundlichen Experiments ebenso wie auf der Bühne der Künste – je schon eine Grenzsituation des Performativen. Seine besondere Leistung verletzt und versetzt die geltenden Standards der Bewertung einer Handlung. Und das Exzessive seines Tuns und seiner Erscheinung (ver-) stört die Wahrnehmung körperlicher und technischer Machbarkeit. In seiner zumeist ambivalent beurteilten Transgressivität bewirkt der oder das Virtuose eine Kategorienkrise des Ästhetischen. So gesehen ist der Virtuose eine Grenzfigur des Performativen: eine Figur, die sich an und über performative Grenzen bewegt; und eine Figuration im Feld von künstlerischer und wissenschaftlicher Evidenz, die zugleich auf Grenzen des Performativen und des Performativitätsdiskurses verweist. Was ist virtuos? Diese Frage und das Dilemma einer Kategorienkrise beleuchtet eine Anekdote zum Auftritt des Virtuosen von Niccolò Paganini, den berühmten Violinvirtuosen: Nach einem seiner legendären Konzerte tauschen sich zwei – ebenfalls berühmte – Geiger-Kollegen im Gespräch aus, Eduard Jaëll und Joseph Benesch. Benesch sagt: „Wir können alle unser Testament machen.“ „Nein“, erwidert Jaëll, „ich bin schon tot.“ 1 1 | Vgl. Edward Neill: Niccolò Paganini, München/Leipzig 1990, S. 167. Zu Paganini vgl. auch: Walter G. Armando: Paganini. Eine Biographie, Hamburg 1960; vgl. u.a. auch: Virtuosen. Über die Eleganz der Meisterschaft. Vorlesungen zu Kulturgeschichte, hg. vom Herbert von Karajan Centrum, Wien 2001; Tomi Mäkelä: Virtuosität und Werkcharakter. Zur Virtuosität in den Klavierkonzerten der Hochromantik, München/Salzburg 1989; Kurt Blaukopf: Große Virtuosen, Teufen/
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Die kleine Geschichte bezeugt die außerordentliche Wirkung einer Performance – eines Konzertereignisses. Und sie inszeniert die Evidenz dieses besonderen Ereignisses, – seine Unbegreiflichkeit, die alle Maßstäbe bricht – indem sie eben diese Unbegreiflichkeit durch das Urteil von Experten des gleichen Faches beglaubigt. Virtuos ist diese Performance, indem sie die Konkurrenz unter den Besten einfach aushebelt – in der Überbietung aller Kategorien und Standards. Die Kollegen-Konkurrenten staunen nicht nur – wie das enthusiastische Publikum; sie kapitulieren. Und anscheinend deshalb, weil der Auftritt Paganinis nicht mehr mit den Schul-Standards und Exzellenz-Übungen des Spiels auf der Violine erklärbar ist. Es geht also nicht nur um die perfekte Technik, die stupende Beherrschung des Instruments. Der Virtuose bringt einen „anderen“ Geist von Kunst und Technik auf den Plan. Er tritt auf mit einem Charisma, das an Magie grenzt: Denn er scheint die Grenzen des physisch Möglichen in seinem Tun zu überschreiten, und er verbirgt dabei zugleich seinem verzückten Publikum – ebenso wie den Experten – worin das Geheimnis dieser Transgression des „Normalen“ besteht. Der Auftritt des Virtuosen ist mit einer besonderen Art der Aufmerksamkeit gekoppelt: Er erregt Staunen, ja Verblüffung – und Bewunderung. Von den großen Virtuosen des 19. Jahrhunderts, von Niccolò Paganini, Franz Liszt, Sigismund Thalberg, Friedrich Kalkbrenner oder Joseph Joachim, von Sängerinnen wie Henriette Sontag und von Tänzerinnen wie Marie Taglioni und Fanny Elßler, Schauspielern wie Benno Iffland und Ludwig Devrient wird in Erinnerungen, Anekdoten berichtet, wie sehr sie ihr Publikum überwältigten: so dass Schreie der Begeisterung, nicht enden wollender Applaus und reihenweise Ohnmachten der Frauen zum Erscheinungsbild dieses sensationellen Auftritts gehörten. Es ist ein
Bregenz/Wien 1957; Adolf Weissmann: Der Virtuose, Berlin 1920, S. 41-59; Zur Motivgeschichte des ‚Teufelsgeigers‘ im Kontext des mephistophelischen Musters des Teufelspaktes vgl. Pascal Fournier: Der Teufelsvirtuose. Eine kulturhistorische Spurensuche, Freiburg i. Br. 2001 (Reihe ‚Cultura‘ 22); Julius Kapp: Paganini. Eine Biographie, Berlin 1922. – Zu Grundstrukturen einer Ästhetik und (Medien-)Ökonomie des Virtuosen vgl. Gabriele Brandstetter: Die Szene des Virtuosen. Zu einem Topos von Theatralität, in: Gerhard Neumann [u.a.] (Hg.): Hofmannsthal Jahrbuch zur Europäischen Moderne, Freiburg i. Br. 2002, S. 213-243. (Wiederabdruck in diesem Band, S. 23-56).
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Effekt, den wir heute beim Auftritt von großen Pop-Idolen in veränderter Medien-Situation wiederfinden. Das Publikum und seine Bereitschaft, affiziert und begeistert zu werden, spielt also mit! Ohne seinen Enthusiasmus – als exzessive Anerkennung des Virtuosen – wäre die Exzellenz des Virtuosen nicht evident. Dabei bezieht sich der Applaus nicht nur auf die perfekte Körper- und Instrumentenbeherrschung, sondern auch auf das Charisma 2 des Auftritts des Virtuosen – das Begehren des Publikums nach dem Außerordentlichen. Im sich steigernden Aufführungs-Ereignis, zwischen Virtuosem und Publikum, geschieht etwas Singuläres, Unüberbietbares und alle Erwartungen Übertreffendes: So erscheint der oder das Virtuose als das Ereignis des Unwahrscheinlichen schlechthin. Halten wir einen Moment inne: Die hier beschriebene Figur des Virtuosen bezeichnet jene Merkmale einer – nennen wir es einmal – „performativen Exzellenz“, wie sie sich im 18. und 19. Jahrhundert durch die großen Stars in den darstellenden Künsten – in Musik, Tanz und Theater, herausbildete: einer Darstellungsästhetik, die bis heute das Bild dessen, was virtuos sei, prägt. In dieser Zeit der Ausdifferenzierung von unterschiedlichen Typen künstlerischer Produktivität, tritt der Virtuose in Kontrast zur Figur des Genies und des Dilettanten.3 Denn es sind je unterschiedliche Muster von Kreativität, die – in der Schwellenzeit um 1800 – mit diesen drei Gestalten und ihrem Verhältnis zur Kunst bezeichnet sind. Das Genie ist seit dem 18. Jahrhundert als jene Künstlergestalt bestimmt, deren Schöpfertum einmalige und die Zeit überdauernde „große“ Werke hervorbringt: jedoch nicht durch Übung, durch Regelpoetiken, nicht als erlerntes Können, sondern – so der Topos des Originalgenies –
2 | Zu „Charisma“ vgl. den gleichnamigen Artikel in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1, hg. von Joachim Ritter, völlig neubearb. Ausg., Darmstadt 1971, S. 996-999; sowie Max Webers Darstellung charismatischer Herrschaft: Vgl. Max Weber: Charismatismus, sowie ders.: Umbildung des Charisma, beide in: ders.: Max Weber Gesamtausgabe, hg. von Horst Baier [u.a.] Bd. 22, Abt. 1: Schriften und Reden, Wirtschaft und Gesellschaft: die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilbd. 4: Herrschaft hg. von Edith Hanke, Tübingen 2005, S. 454-472 und S. 473-535. 3 | Vgl. hierzu die Beiträge in: Gabriele Brandstetter, Gerhard Neumann (Hg.): Genie – Virtuose – Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik, Würzburg 2011.
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aus der Einzigartigkeit seiner Natur, seiner Begabung.4 Die Kreativität des Virtuosen ist demgegenüber ganz an die Aufführung gebunden. Seine Kunst ist performativ. Erst im flüchtigen Ereignis dieser „Szene“, zwischen Performer und Publikum, erhält das Virtuose seine Evidenz. Nicht in der Hervorbringung eines Produkts, eines „Werks“ besteht also das Vermögen und die Kreativität des Virtuosen; sondern in einer exzessiven Übersteigerung aller Erwartungen durch seine Performance: Die Aufführung also, und nicht das Werk bezeichnet den Spielraum des Virtuosen: eine Produktivität ohne Produkt.5 Dem Genie und dem Virtuosen steht im 19. Jahrhundert der Dilettant als Kontrastfigur gegenüber. Im 17. Jahrhundert hingegen waren „Amateur“ und „virtuoso“ noch verbunden, als gelehrte Liebhaber von Kunst und Wissenschaft. Im 18. und 19. Jahrhundert, im Zug der Ausdifferenzierung und Professionalisierung erhält der Dilettant eine andere Bewertung, die ihn aus dem Konzert- und Bühnenraum ausschließt. Dennoch bestehen weiterhin untergründige Verknüpfungen zwischen professioneller und amateurhafter Beziehung zur Kunst; der Dilettant ist z.B. häufig der Experte, der Promotor, ja der Mäzen und Medienvermittler des Virtuosen.6 Ich möchte im Folgenden drei Felder des großen Themas Virtuosität herausgreifen, sie in historischen Schnitten gegenüberstellen und damit offene Fragen beleuchten:
4 | Vgl. die Beiträge von Günter Oesterle: Imitation und Überbietung. Drei Versuche zum Verhältnis von Virtuosentum und Kunst, sowie Hans-Georg von Arburg: (An-)Gewandte Künste. Virtuosität als Problem der Ästhetik im technischen Zeitalter zwischen Individualismus und Historismus, in: Hans-Georg von Arburg [u.a.] (Hg.): Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne, Göttingen 2006, S. 47-59 und S. 102-126. 5 | Vgl. zur Produktion ohne Werk/Produkt: Kunstforum International, Bd. 143 (1998): Kunst ohne Werk. Ästhetik ohne Absicht; sowie Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter, Annemarie Matzke (Hg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren, Bielefeld 2010. 6 | Die Figur des Dilettanten hat in jüngster Zeit in den Kulturwissenschaften verstärkt Aufmerksamkeit erhalten; vgl. Stefan Blechschmidt, Andrea Heintz (Hg.): Dilettantismus um 1800, Heidelberg 2007; Safia Azzouni, Uwe Wirth (Hg.): Dilettantismus als Beruf, Berlin 2010.
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1. Sammlung und Experiment, Wunder und Staunen: „The English virtuoso“ des 17. Jahrhunderts 2. Enthusiasmus und technische Perfektion: die Überbietungsästhetik des Virtuosen im 19. Jahrhundert 3. Prekäre Exzellenz: Ökonomien des Virtuosen heute, im Zeitalter der „technischen Reproduzierbarkeit“, der körpertechnischen Manipulierbarkeit und der Anti-Virtuosität in der Kunst.
S A M M L U N G U N D E X P E R I M E N T , W U N D E R U N D S TAU N E N : „T H E E N G L I S H V I R T U O S O “ I M 17. J A H R H U N D E R T Ein Blick auf den Begriff „virtuoso“ und seine Geschichte mag die Komplexität des Phänomens erhellen: „virtuoso“ geht zurück auf (lateinisch) „virtus“ – im Sinne von Vermögen, Kraft; und auch in der Bedeutung von „kriegerischer Tüchtigkeit“, oder auch: „zum-Sieg-fähig“-sein; „virtus“ zeichnet einen Mann von hoher moralischer Qualität aus. Etwas von dieser Bedeutung von virtus ist in der Idee des Virtuosen noch erhalten.7 Insbesondere in der Auffassung vom „virtuoso“ in der Renaissance, die das Ideal eines gebildeten Menschen mit diesem Begriff von „virtus“ verband. Natur und Kunst des Betragens und Handelns sind hier – in der Idee des „uomo virtuoso“ – eng verknüpft. Niccolò Machiavelli beschrieb so den Politiker als Techniker der Macht, der es versteht, den richtigen Moment des Handelns zu nutzen. Für die Idee des „virtuoso“ in Europa noch einflussreicher war Baldassare Castigliones Il Libro del Cortegiano, in dem „virtù“, d.h. die Kraft, das Vermögen des „Hofmannes“ vor allem dadurch ausgezeichnet ist, dass das Können nicht etwa ausgestellt wird, sondern dieses vielmehr durch die Attitüde der Leichtigkeit, Mühelosigkeit und Eleganz – durch „sprezzatura“ – überspielt wird. Diese Konzepte der italienischen Renaissance waren höchst einflussreich in der Herausbildung einer Figur, die als „the English virtuoso“ einen bedeutenden Anteil an der Geschichte von Wissenschaft und Kunst des 17. Jahrhunderts einnimmt. „The virtuoso“, damit ist jener Typus 7 | Zur Begriffsgeschichte vgl. den Artikel von Ulrich Stadler: Vom Liebhaber der Wissenschaft zum Meister in der Kunst. Über die verworrene Begriffsgeschichte des Virtuosen im England und Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Hans-Georg von Arburg [u.a.] (Hg.): Virtuosität, S. 19-36.
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des Gelehrten gemeint, der sich als Sammler und Liebhaber sowohl von Kunstwerken als auch von Objekten der Natur hervortat. Wie Walter E. Houghton 8 gezeigt hat, war ein „virtuoso“ im England des 17. Jahrhunderts ein Gelehrter – ein „gentleman scholar“. Anders ausgedrückt: „virtuoso“ war nicht der Begriff für einen Wissenschaftler im strengen, heutigen Sinn des Begriffs, sondern er war ein Synonym für den wissenschaftlich interessierten Laien und Dilettanten im Bereich der Naturkunde. Freilich wird es hier schon kompliziert, denn die Grenzen zwischen Naturkundigem und Naturwissenschaftler waren nicht klar gezogen. So wurden „virtuosi“ nicht nur die Mitglieder der „Royal Society“ genannt ; 9 neben Robert Boyle, Francis Bacon (die beide zugleich auch über die „virtuosi“ schreiben), dem Kunstsammler Thomas Howard Arundel und dem Tagebuchschreiber und späteren Vorsitzenden der Royal Academy, Samuel Pepys wurden John Evelyn, Sir Nicolas Gimcrack und andere Inhaber von Naturalienkabinetts, Sammler sowohl von Natur- als auch von Kunstobjekten, mit diesem Begriff bedacht. Craig Ashley Hanson hat gezeigt, in welch weitem Umfang „the english virtuoso“ nicht nur Naturwissenschaften und Sammlungen, sondern auch Verbindungen zwischen „Art, Medicine, and Antiquarianism“ als Gebiete seiner Forschungen besetzt. Und schon in dieser Zeit des 17. Jahrhunderts war die Figur des virtuoso zwiespältig bewertet: „Similarity ridiculed and reviled, and yet also
8 | Vgl. Walter E. Houghton, Jr.: The English Virtuoso in the Seventeenth Century: Part I, in: Journal of the History of Ideas 3:1 (January 1942), S. 51-73; Part II, ebd. 3:2 (April 1942), S. 190-219; vgl. auch den Aufsatz von Elisabeth Strauß, der sich im Wesentlichen auf das umfangreiche Material von Houghton stützt: Elisabeth Strauß: Zwischen Originalität und Trivialität. Die Rolle der virtuosi für das Wissenschaftsprogramm der Royal Society, in: dies. (Hg.): Dilettantismus und Wissenschaft. Zur Geschichte und Aktualität eines wechselvollen Verhältnisses, Amsterdam 1996, S. 69-82. 9 | Nicht nur die Royal Society, gegründet 1660, war geprägt von dem Nebeneinander von „virtuosi“, Sammlern, „amateurwissenschaftlichen“ Gelehrten und Naturforschern – im neuen Sinn von Wissenschaft; auch die Vorläufer-Institution der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina trägt schon dies im Namen: „Academia Naturae Curiosorum“ (gegr. 1652).
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esteemed and vaunted [...] the word virtuoso could itself still connote respect, depending on its context.“ 10 Parallel zu den Experimenten und zur Praxis der „virtuosi“ in ihren Forschungen und Sammlungen erschien auch eine ganze Reihe von Abhandlungen über die Wissenspraxis und die Bedeutung der „virtuosi“. Henri Peachums Complete Gentleman (1634) war eine Art Handreichung für „virtuosi“. Robert Burton bespricht in seiner Anatomy of Melancholy (1621) Strategien der Aufmerksamkeit und der Forschungen der „virtuosi“ als ein Remedium gegen Melancholie. Francis Bacon beschreibt in seiner Abhandlung The Advancement of Learning (1605) Sammlungen und Forschungsgebiete eines „virtuoso“ (zugleich mit kritischen Abgrenzungen zur Wissenschaft); Robert Boyle, Mitglied der Royal Society und Verfasser der Abhandlung The Christian Virtuoso, nannte sich selbst und andere Gelehrte „virtuosi“. Und Sir Thomas Browne, ein hingebungsvoller Beobachter der Natur und begeisterter Sammler, fasste den Typus von Gelehrsamtkeit, den er selbst in seiner Forschung verkörperte, auch unter den Begriff des „virtuoso“.11 Was ist nun typisch für einen „gentleman scholar“, genannt „virtuoso“, im England des 17. Jahrhunderts? Die „virtuosi“ waren Amateure im Wortsinn: Sie beschäftigten sich mit Kunst, Altertümern, Mathematik, Raritäten der Natur. Und sie taten dies aus „delight“ und aus Neugier, aus Freude am Wissen. Die Leidenschaft für das Sammeln, für Galerien, Naturalienkabinette und Kunstkammern war den „virtuosi“ gemeinsam. Und wozu? Diese Frage stellt Mary Astell in ihrer Abhandlung The Character of a Virtuoso aus dem Jahr 1696: Wozu die Sammlungen von Raritäten aus aller Welt, von Chamäleons und Salamander-Eiern, fossilen Meerestieren, von Münzen, von Kuriositäten der Natur wie einem vierbeinigen Hahn? „I know that the desire of knowledge, and the discovery of things yet unknown is the Pretence; but what Knowledge is it?” 12 – so fragt sie, und sie stellt die Frage nach dem Nutzen, dem Ziel dieses Wissens. Die Antwort lautet: Wissen – um des Wissens willen; aus Begeisterung für das Neue, für das Finden; 10 | Vgl. Craig Ashley Hanson: The English Virtuoso. Art, Medicine, and Antiquarianism in the Age of Empirism, Chicago/London 2009, S. 5. 11 | Vgl. Arno Löffler: Sir Thomas Browne als Virtuoso. Die Bedeutung der Gelehrsamkeit für sein literarisches Alterswerk, Nürnberg 1972. 12 | Zit. nach Houghton: The English Virtuoso, Teil I, S. 53.
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aus Liebe zum Detail, zum Besonderen. „The study of things as they are in themselves… is the field of virtuoso endeavour.” 13 Wie so häufig ist es die scharfe Perspektive der Satire, die das Profil des „english virtuoso“ deutlich hervorhebt. Der englische Dramatiker Thomas Shadwell porträtiert in seiner Komödie The Virtuoso (1676) den Sammler und Naturkunde-Amateur Nicolas Gimcrack, der auf die Frage, zu welchem Zweck er seine Experimente und Sammlungen anstelle, antwortet: „I seldom bring any thing to use, ’tis not my way, Knowledge is my ultimate end.“ 14 Noch deutlicher wird dies in einem kurzen Wortwechsel zwischen Longvil und Gimcrack im Bezug auf ein physikalisches Experiment, das Gimcrack anstellt: Longvil: But to what end do you weigh this Air, Sir? Gimcrack: To what end shou’d I? to know what it weighs. – O Knowledge is a fine thing.15
Entscheidend ist also für die virtuosi nicht das Ziel einer Forschung oder der Nutzen eines Experimentes – sondern die Art und Weise des Erwerbs, des Experiments und des Findens dieses Wissens; der Wert des Neuen, Unerhörten, des Raren an sich; und schließlich sind es die Details in ihrer Konstellation, die eine Sammlung bedeutsam machen. Es lässt sich freilich – wissensgeschichtlich betrachtet – doch ein „Nutzen“ der „virtuosi“-Liebhabereien feststellen. Das Wissen, das hier kultiviert wird, ist ein soziales Distinktionsmerkmal. Die Anerkennung, die Begeisterung, die ein „virtuoso“ mit seiner Sammlung und seinem naturkundlichen Wissen ernten konnte, ist gekoppelt an eine sehr klassenbewusste Attitüde. Es ist jener Habitus, der schließlich, gegen Ende des 17. Jahrhunderts,16 in „virtuoso“-Kritiken und Satiren als der „Snob-appeal“ dieser gentleman-scholars hervorgehoben wird. Die Forschung eines „virtuoso“ besteht in der infiniten Suche nach dem Seltenen, Außergewöhnlichen. Im Sinne der eingangs genannten Bestimmung des Virtuosen gibt es hier eine unendliche Steigerbarkeit. 13 | Zit. nach ebd., S. 55. 14 | Zit. nach ebd., S. 54. 15 | Zit. nach ebd., S. 56. 16 | Zu den Gründen des Niedergangs der „virtuosi“ im Kontext der Wissenschaft (der Royal Society) vgl. Houghton: The English Virtuoso, Teil II.
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Der „virtuoso“ ist – mit den Worten von Houghton – „driven by a passionate enthusiasm, not only for the rare and the curious, but for everything that might […]‚ awaken the dead’.“ 17 Houghton hebt die Bedeutung des Staunens, der passionierten Neugier, der enthusiastischen Bewunderung, die der „virtuoso“ für die Objekte seines Wissenskultes hegt, hervor. 18 Dies ist eine Fragestellung, die Lorraine Daston in ihren Studien zur wissenschaftlichen Aufmerksamkeit in der Geschichte der Konstituierung naturwissenschaftlicher Objekte und der auf sie bezogenen „wissenschaftlichen“ Emotionen weitergeführt hat.19 Das Wunderliche und das Wunderbare fasziniert die Aufmerksamkeit des „virtuoso“. Er betrachtet mit dieser spezifischen, passioniert intellektuellen „curiosity“ sowohl die Wunderlichkeiten, Raritäten und Eigentümlichkeiten von Naturobjekten als auch Kunstwerke. Francis Bacon hat in diesem Zusammenhang – wiewohl er den „virtuosi“ kritisch gegenüber stand – gefordert, es müsse nicht nur „histories of Creatures and Mechanical Art“ geben, sondern auch eine „history of Marvels“.20 Der „virtuoso“ nähert sich mit derselben Attitüde dem Natur-Objekt wie dem Kunst-Objekt, inklusive den Artefakten der Mechanik. Die visuelle Anordnung, die Evidenz des Zeigens ist es, die den (ideellen) Wert dieser Empirie der „virtuosi“ ausstellt – und die eine infektiöse Begeisterung sowohl des Sammlers als auch des Betrachters auslösen soll. Genau in dieser „performativen“ Haltung des Ausstellens und Zeigens liegt das Faszinierende und Beschränkte der „virtuosi“: in einer Forschung, die ihr Ziel in sich hat – im Sammeln, Tiere sezieren und darin, Objekte, in entsprechenden Schau-Räumen der Kunstkammern zu konstellieren. Horst Bredekamp hat in seiner Studie über die Kunstkam17 | Vgl. ebd., S. 190. 18 | Vgl. ebd., S. 193f. 19 | Vgl. Lorraine Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Au f merksamkeit, München 2000; sowie Lorraine Daston, Katherine Park: Wonders and the Order of Nature, 1150-1750, New York 1998; und Lorraine Daston: Die kognitiven Leidenschaften: Staunen und Neugier im Europa der frühen Neuzeit, in: dies.: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a.M. 2001, S. 77-97. 20 | Darauf weist Houghton bzgl. Francis Bacon hin; Vgl.: The Advancement of Learning, zit. in: Houghton: The English Virtuoso, Teil II, S. 195; zu Bacons „Novum Organum“ vgl. ebd.
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mer 21 gezeigt, dass eine Sammlung, die Naturgeschichte und menschliche Kunst, „Naturalia“, „Artificialia“ und „Scientifica“ verbindet, einem primär visuellen Konzept (nicht einem sprachlichen/begrifflichen Modell) folgt.22 Darüber hinaus besitzt diese visuelle, räumliche Praxis des Zeigens eine eminent theatrale Dimension: Es ist mehr eine theatrale Forschung als eine naturwissenschaftliche in dieser „passion for things“, in diesem Durst nach „curiosities“. In solcher in sich selbst exzessiven – und doch begrenzten – Tätigkeit des 17. Jahrhundert-„virtuoso“ liegt zuletzt auch ihr allmählicher Niedergang: die Ablösung des Amateurs durch die Professionalisierung von Wissenschaftlern. Shaftesbury wirft den Virtuosen vor, dass die „Contemplation of the Insect-Life“ ihnen wichtiger sei als der Mensch – als „Mankind and their Affairs.“ 23 Es sei letztlich eine Passion für „Rarity for Rareness-Sake.“ 24 Aus dem Mund von Nicolas Gimcrack klingt das ganz „virtuoso-snob-like“: „’Tis below a Virtuoso, to trouble himself with Men and Manners. I study Insects.“ 25 Zum Ende dieser Betrachtungen zum „english virtuoso“ des 17. Jahrhunderts soll der satirische Blick, mit dem diese Experimentalisten der Royal Society in der Literatur bedacht wurden, die Ambivalenz des
21 | Vgl. Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993. 22 | Ebd. S. 63. So gesehen ist es nicht – wie die Ordnung des Wissens im 18. Jahrhundert, in der Enzyklopädie von D’Alembert/Diderot – eine taxonomische Ordnung anhand von Begriffen und Verweisen, sondern das „Verweisen“ selbst ist ein bildlich zur Schau stellender Akt des Zeigens. Hier liegt auch der Kern von Bredekamps Kritik an Foucaults Diskursgeschichte des Wissens. – Hier wäre die Verknüpfung von Visuellem (Bredekamp) und Theatralem (Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig) zu diskutieren: Die nicht nur bildnerische sondern räumliche Anordnung, die Visualität als Schaustellung ist ein „monstrare“, das sich – in anderer Form – als Paradigma auch in den Anatomien als „Theater“ zeigt. Vgl. u.a. Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hg.): Theatrum Scientiarum, Bd. 5: Spuren der Avantgarde: Theatrum anatonicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Berlin 2011. 23 | Zit. nach Houghton: The English Virtuoso, Teil II, S. 213. 24 | Ebd. 25 | Ebd.
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Diskurses beleuchten. In Shadwells Komödie The Virtuoso 26 wird das Experiment-Theater der „virtuosi“ auf die Bretter des Theaters gebracht und dort: demonstriert. Die Szene zeigt folgendes Bild: Der Held Nicholas Gimcrack liegt auf dem Bauch auf dem Labortisch und lernt schwimmen – „by imitating the motions of a frog in a Bowl of Water.“ 27 Zwei Besucher, Longville und Bruce, die den gefeierten „virtuoso“ Gimcrack kennenlernen wollen, führen mit ihm (während des Experiments!) das folgende Interview: Longville: Have you ever tri’d in the Water, Sir? Sir N. Gimcrack: No, Sir, but I swim most exquisitely on Land. Bruce: Do you intend to practise in the Water, Sir? Sir N. Gimcrack: Never, Sir; I hate the Water, I never come upon the Water, Sir. Longville: Then there will be no use of Swimming. Sir N. Gimcrack: I content myself with the speculative part of Swimming, I care not for the Practick. I seldom bring any thing to use, ’tis no(t) my way, Knowledge is my ultimate end.28
Der Niedergang der „virtuosi“-Gelehrten-Amateure Ende des 17. Jahrhunderts 29 besitzt politische und ökonomische Gründe.30 Er steht aber vor allem in engem Zusammenhang mit der Trennung und Differenzierung der Felder von Wissenschaft und Kunst. Wie Shaftesbury und Addison in ihrer Kritik des „virtuoso“ vermerken,31 wandelt sich das Bild des Wis-
26 | Vgl. Thomas Shadwell: The Virtuoso, von Marjorie Hope Nicolson und David Stuart Rodes, London 1966. 27 | Vgl. Marjorie Hope Nicolson: Artikel „Virtuoso“, in: Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, hg. von Philip Wiener, Vol. IV, New York 1973, S. 486-490, hier S. 487, sowie Shadwell: The Virtuoso, S. 43f. 28 | Shadwell: The Virtuoso, S. 46f. 29 | Wiewohl noch spät, gleichsam als Parallelorganisation zur Royal Society wurde „A Society of ‚Virtuosi‘“ (1689), für „Gentlemen, Painters, Sculptors, Architects“ gegründet; vgl. Houghton: The English Virtuoso, Teil II, S. 214. 30 | Vgl. ebd. 31 | Freilich beginnt zu jenem Zeitpunkt, als in der Naturwissenschaft sich das kognitive Interessen „vom Wunderbaren zum Gewöhnlichen“ (vgl. L. Daston: Eine
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sensinteresses vom „gentleman-scholar“ zum „gentleman of the world“.32 Es ist bezeichnend, dass es im 18. Jahrhundert – wiewohl die Praxis des virtuosen künstlerischen Spiels in Musik und Gesang bereits hoch in Blüte stand – keinen Artikel zum Begriff „virtuoso“ in den wichtigsten Wörterbüchern zur Kunsttheorie gab – z.B. in Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste oder in Friedrich Blankenburgs Dichtungstheorie .33 Nunmehr wird die Anthropologie – das Interesse am Wissen vom Menschen, seiner Natur und seiner Geschichte – für die Wissenschaft, Philosophie und Kunst leitend. Im Feld der darstellenden Künste hingegen lassen sich weiterhin Analogien feststellen zwischen dem Dilettanten-„virtuoso“ des 17. Jahrhunderts und dem Virtuosen-Performer in der Kunst des 19. Jahrhunderts.
ENTHUSIASMUS UND TECHNISCHE PERFEK TION: DIE ÜBERBIETUNGSÄSTHETIK DES VIRTUOSEN I M 19. J A H R H U N D E R T Ein Vergleichspunkt zwischen dem Begriff des „virtuoso“ im 17. Jahrhundert und der Performance im 19. Jahrhundert ist markiert durch die Bedeutung des Wunderbaren, die Faszination des Staunenswürdigen und die damit verbundenen Affekte der Bewunderung und der Verblüffung.34 kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, S. 13) bewegt und Joseph Addison (der mit Richard Steele 1710 noch The Will of a Virtuoso verfasst hat) über die „belanglosen Raritäten, mit denen das Kabinett eines Virtuoso vollgestopft ist [...]“ (zit. nach ebd., S. 29) spottet und fordert, „Forschungen dieser Art sollten der Zerstreuung, der Entspannung und dem Vergnügen dienen, und nicht etwa eine ernsthafte Lebensbeschäftigung sein“, (ebd.) jene Epoche, in der der Virtuose mehr und mehr in der Kunst, insbesondere in der darstellenden Kunst, hervorzutreten beginnt und selbst zum umstrittenen Gegenstand der Aufmerksamkeit und des Staunens wird. 32 | Vgl. Houghton: The English Virtuoso, Teil II, S. 218. 33 | Vgl. den begriffsgeschichtlichen und historischen Aufsatz zum „Virtuosen“ von Stadler: Vom Liebhaber der Wissenschaft zum Meister in der Kunst, S. 19. 34 | Vgl. Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit; vgl. auch Marjorie Garber: The Amateur Professional and the Professional Amateur, in: dies.: Academic Instincts, Princeton/Oxford 2001, S. 3-52, hier S. 12ff.
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In einer Geschichte der Aufmerksamkeit ist es der Virtuose, der eine ganz bestimmte, affektiv aufgeladene Selektion des Staunenswürdigen besetzt. Man könnte sagen, Virtuosen sind zugleich Medien und Attraktoren von Aufmerksamkeit für Szenen und Darbietungen des Staunens. Trotz dieser Analogie ist die Differenz zwischen dem „virtuoso“ des 17. Jahrhunderts und dem Virtuosen des 19. Jahrhunderts erheblich: Denn die Idee des Wunderbaren und des (Be-Wunderns) richtete sich im 17. Jahrhundert auf die Objekte der Natur und Kunst. Im 19. Jahrhundert ist es hingegen der Virtuose selbst – als ein libidinös besetztes Objekt/ Subjekt – dessen Performance, dessen Körper und artistisch-physische Brillanz als Geiger, Pianist, Tänzer, Sänger – den Enthusiasmus, die Faszination von etwas Einzigartigem, Seltenen (the „rare“ oder – im Sinn der Steigerungs-Superlative – ein rarissimum) hervorruft. Eine Skizze zu einer Phänomenologie des Virtuosen im 19. Jahrhundert basiert auf folgenden systematischen und historischen Beobachtungen: Ähnlich wie der gelehrte Wissenschaftler-„virtuoso“ des 17. Jahrhunderts (und doch anders) ist auch der Virtuose der performativen Künste im 19. Jahrhundert eine höchst ambivalent bewertete Figur. Im Rahmen der Herausbildung des Konzepts der Autonomieästhetik – in der Schwellenzeit um 1800 – wird das Auftreten des Virtuosen höchst widersprüchlich bewertet. Der Eindruck des Unbegreiflichen dieser Performance wurde nicht selten mythisiert. Dabei sind es in erster Linie die Metaphern des Übernatürlichen, die diese Effekte bebildern: die Topoi entweder des Teuflischen (so wurde Paganini, dem „Teufelsgeiger“, in etlichen Anekdoten ein Teufelspakt zugeschrieben),35 des Dämonischen, oder des Eng35 | „Das Aufsehen, das er [Paganini] erregte, war so außerordentlich, der Zauber, den er auf die Phantasie seiner Hörer ausübte, so gewaltig, daß diese sich nicht mit einer natürlichen Erklärung zufriedengeben wollten. Alte Hexen- und Spukgeschichten des Mittelalters tauchten vor ihr auf, man suchte das Wunderbare seines Spiels aus seiner Vergangenheit zu erklären, das Unerhörte seines Genies auf übernatürliche Weise zu begreifen, ja man munkelte, daß er seine Seele dem Bösen verschrieben, und daß jene vierte Saite, der er so zauberische Weisen entlockte, der Darm seines Weibes sei, das er eigenhändig erwürgt habe.“ F. Liszt zit. nach: Walter Salmen (Hg.): Critiques Musicaux d’Artiste. Künstler und Gelehrte schreiben über Musik, Freiburg i. Br. 1993, S. 228. – Auch Heinrich Heine, im Rekurs auf den Maler und Schriftsteller Lyser, berichtet diese Anekdote über Paganini und die Ermordung seiner „Amata“ als Beginn seiner Karriere als
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lischen (wie Scarlatti über den Gesang des Kastraten Francischello berichtet); 36 oder: der Topos der Maschine. Dem Mythischen und Mystifizierten gegenüber steht die Kritik am Virtuosen, die seine Effekthascherei, seine Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit (z.B. in der Wahl seiner Aufführungs-Programme) seine Selbstdarstellung auf Kosten des künstlerischen Werks als Scharlatanerie geißelt und ihn der Verwendung unlauterer Mittel verdächtigt. Der Gegensatz zwischen Genie und Virtuose, zwischen einem (großen) Werk der Kunst und der ephemeren (niemals „nachhaltigen“ oder als Produkt fassbaren) Performance des Virtuosen durchzieht das gesamte 19. Jahrhundert. Gottfried Friedrich Wilhelm Hegel hat diesen Konflikt auf den Begriff gebracht, in seinen Vorlesungen über Ästhetik, in denen er zwei Typen der „künstlerischen Exekution“ unterscheidet: Die eine versenkt sich ganz in das gegebene Kunstwerk und will nichts weiteres wiedergeben, als was das bereits vorhandene Werk enthält; die andere dagegen ist nicht nur reproduktiv, sondern schöpft Ausdruck, Vortrag, genug, die eigentliche Beseelung nicht nur aus der vorliegenden Komposition, sondern vornehmlich aus eigenen Mitteln. […] Solche Virtuosität beweist, wo sie zu ihrem Gipfelpunkt gelangt, nicht nur die staunenswürdige Herrschaft über das Äußere, sondern kehrt nun auch die innere ungebundene Freiheit heraus, indem sie sich in scheinbar unausführbaren Schwierigkeiten spielend überbietet, zu Künstlichkeiten ausschweift, mit Unterbrechungen, Einfällen in witziger Laune überraschend scherzt und in originellen Erfindungen selbst das Barocke genießbar macht.37 „Teufelsgeiger“ (wobei hier implizit das Wortspiel „von der ‚Amata‘ zur ‚Amati‘ [Violone]“ mitspielt): vgl. den Entwurf Heines: „So, z. B. Paganinis erstaunliches Violinspiel sucht das Volk dadurch zu erklären, daß dieser Musiker aus Eifersucht seine Geliebte ermordet, deßhalb lange Jahre im Gefängnis zugebracht, dort zur einzigen Erheiterung nur eine Violine besessen, und, indem er sich Tag und Nacht darauf übte, endlich die höchste Meisterschaft auf diesem Instrument erlangt habe.“ Vgl. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Düsseldorfer Ausgabe [DHA], Kommentar [S.975ff.], von Manfred Windfuhr, Band 5, Hamburg 1994, hier S. 977. 36 | Vgl. Gino Monaldi: Cantanti evirati del Teatro Italiano, Rom 1920, S. 94. 37 | Georg Friedrich Willhelm Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 15, Vorlesungen über die Ästhetik III, auf d. Grundlage der Werke v. 1832-1845 hg. und redigiert von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel, Frankfurt a.M. 1970, S. 219 und S.
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Im klassischen Tanz zeigt sich Virtuosität in einer doppelten Leichtigkeit: jener, die wie eine Überwindung der Körperschwere erscheint; und jener Leichtigkeit, die sich in der mühelosen Bewältigung scheinbar unmöglicher körpertechnischer Schwierigkeiten offenbart. Und ist es nicht diese Verheißung einer „unendlichen Leichtigkeit des Seins“, die das Publikum in der Betrachtung der spektakulären Virtuosenperformance genießt – um sich selbst „leichter“ zu fühlen? Wunderbar, magisch, elevated? Zugleich gesellt sich zum Genuss der Leichtigkeit jedoch auch der Schauer des riskanten Spiels: was, wenn etwas schief geht in der halsbrecherischen Performance, ein Sturz oder ein Gedächtnisverlust? Die höchst bemerkenswerte Analyse Hegels enthält schon die Argumente zum Thema „Werktreue“, wie sie in der Musikaufführungs- und in der Regietheater-Debatte im 20. Jahrhundert bis heute immer wieder geführt werden.38 Positiv hebt Hegel die „Freiheit“ dieses virtuosen, performativen Produzierens hervor – das Verzieren, Variieren, Phantasieren – und die Beherrschung des ‚Materials‘ (des „Äußeren“), sowie die Überbietungsästhetik und das Spiel einer Ausschweifung, der Überraschung und improvisatorischen Erfindung. Der Schauplatz des Virtuosen im 19. Jahrhundert wird zum Ort einer Querelle zwischen Komposition und Aufführung, zwischen Text/Werk und Performance. Die historischen und ästhetischen Veränderungen der Kunstproduktion erscheinen pointiert in einer Anekdote, die Hector Berlioz über die gefeierte Sängerin Henriette Sontag und Mozarts Don Giovanni überliefert:
221f. Vgl. auch Vernon A. Howard: Charm and Speed. Virtuosity in the Performing Arts, New York [u.a.] 2008; Dana Gooley: The Virtuoso Liszt (New Perspectives in Music History and Criticism), Cambridge [u.a.] 2004; Paul Metzner: Crescendo of the Virtuoso. Spectacle, Skill and Self-Promotion in Paris during the Age of Revolution, Berkeley [u.a.] 1998; Arburg: (An-)Gewandte Künste. 38 | Vgl. Sigrid Wiesmann (Hg.): Werk und Wiedergabe. Musiktheater exemplarisch interpretiert, Bayreuth ca. 1980, (Thurnauer Schriften zum Musiktheater; 5), sowie Clemens Risi: Keinen Wagner-Kult mehr. Sondern Theater, Theater, Theater. Der Ring des Nibelungen und das Regietheater, in: Bettina Knauer, Peter Krause (Hg.): Von der Zukunft einer unmöglichen Kunst. 21 Perspektiven zum Musiktheater, Bielefeld 2006, S. 139-147.
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Eine bewunderungswürdige Sängerin, die so sehr betrauerte Sontag, hatte für den Schluß des Maskenterzetts in ‚Don Juan‘ eine musikalische Wendung erfunden, welche sie an Stelle des Originals sang. Ihr Beispiel wurde bald nachgeahmt, es war zu schön, um es nicht zu werden, und alle Sängerinnen Europas adoptierten für die Rolle der Donna Anna die Erfindung von Frau Sontag. Als eines Tages bei einer Generalprobe in London ein mir bekannter Dirigent diese kühne Unterschiebung hörte, hielt er das Orchester an und sagte zu der Primadonna: ‚Nun? Was gibt’s? Haben Sie Ihre Rolle vergessen?‘ ‚Nein, Herr Kapellmeister, ich singe die Version Sontag.‘ ‚So! Sehr gut; dürfte ich aber so frei sein und Sie fragen, warum Sie die Version Sontag der Version Mozart vorziehen, der einzigen, mit welcher wir uns hier zu beschäftigen haben?‘ ‚Weil sie sich besser ausnimmt.‘ !!!!!!!!.................................................39
Szenen wie diese weisen auf den Streit zwischen Werk und Anspruch „authentischer“ Interpretation einerseits und der Freiheit und dem spielerischen Exzess des virtuosen Performers andererseits. Zwei Aspekte in diesen Debatten des 19. Jahrhunderts erscheinen dafür symptomatisch, sowohl für die Ästhetikdiskussion und die Kunsttheorie, als auch für die Übertragung des Virtuosenmodells von der Kunst in andere Bereiche der Kultur: zum einen die Bedeutung der Medien; zum anderen der Maschinentopos von Virtuosität. Richard Wagner war in der Debatte um Werktreue einer der schärfsten Gegner des Virtuosentums. In seinem Aufsatz Der Virtuos und der Künstler (1840)40 schreibt er, dass der ausübende Künstler mit „gewissenhafter Treue“ und unter „völliger Verzichtleistung auf eigene Invention“ nicht etwa der „Tyrann des Werks“, sondern der „Durchgangspunkt für die künstlerische Idee“ 41 sein solle. Damit verknüpft Wagner eine veritable Idee des Medialen mit der Aufgabe des Performers: er ist der Mittler – der „Durchgangspunkt“ – für den Geist des Werks, das er mit 39 | Hector Berlioz: Groteske Musikantengeschichten, aus dem Französischen von Elly Ellès, Frankfurt a.M. 1986, S. 40. 40 | Vgl. Richard Wagner: Der Virtuos und der Künstler, in: ders.: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in 10 Bänden, hg. von Dieter Borchmeyer, Bd. 5, Frühe Prosa und Revolutionstraktate, Frankfurt a.M. 1983, S. 171-186, hier S. 174. 41 | Ebd., S. 175.
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höchster Treue („high fidelity“ – wie das Grammophon?) zu übertragen hat. Heinrich Heine, ein überaus genauer und kritischer Beobachter der Virtuosenszene in Europa, beschreibt demgegenüber die Hintergründe und Auswüchse in seinen Erzählungen und Zeitschriftenartikeln immer wieder: Er kritisiert die „virtuosische Tours-de-force“ der „Taschenspielereyen, des Volteschlagens, der verschluckten Schwerter, der Balancierkünste und der Eyertänze“ 42 und ihrer schaustellerischen Ästhetik der Verblüffung; Heine konstatiert Lisztomanie als Zeitkrankheit,43 er analysiert das neue, mobile Konzertsystem als Basis für die Erscheinung der „Reisevirtuosen“ 44, die alljährlich wie die Heuschrecken in Paris einfallen. Heine beschreibt zudem das Antichambrieren vieler Möchte-gern-Virtuosen beim Direktor der Gazette musicale und konstatiert, dass diesen „neuen Fürsten“-Virtuosen ihre Macht nur durch Medien und Publikum verliehen werde. Damit analysiert er präzise die historisch neue Funktion der Medien im „making-of“ des „virtuoso“: Der Diskurs des Virtuosen ist selbst ein Bestandteil der virtuosen Performance. Der Mediendiskurs des Virtuosen im 19. Jahrhundert ist verschränkt mit dem Diskurs der Technik: In einer geradezu transgressiven Entfesselung ist der Triumph des Virtuosen des 19. Jahrhunderts gekoppelt an die Verbesserungen der Technik ihrer Instrumente und der damit verbundenen Erhöhungen der performativen Standards: in der Entwicklung der Instrumenten-Technik (z.B. des Hammerklaviers, der Klarinette oder der Entwicklung des Spitzenschuhs der Ballerina.). Es ist die Drehung einer
42 | Heinrich Heine im neunten Brief Über die französische Bühne, in: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Düsseldorfer Ausgabe (DHA), hg. v. Manfred Windfuhr, Hamburg 1975-1997, Bd. 12/1, S. 273 (Heine-Zitate im Folgenden unter der Sigle DHA mit Bandnummer und Seitenzahl). – Vgl. zu Heines Kritik am Virtuosen, insbesondere an Franz Liszt, sowie zur Debatte einer Ästhetik virtuoser Steigerung im Spiegel der Literatur Michael Gamper: Der Virtuose und das Publikum. Kulturkritik im Kunstdiskurs des 19. Jahrhunderts, in: Arburg [u.a.] (Hg.): Virtuosität, S. 60-82. Vgl. auch: Gesa von Essen: „…wie eine melodische Agonie der Erscheinungswelt“. Literarische und feuilletonistische Liszt-Paraphrasen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Arburg [u.a.] (Hg.): Virtuosität, S. 187-216. 43 | Heine: Lutezia, DHA, 14/2, S. 1385. 44 | Ebd. 14/1, S. 45ff.
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Spirale, die eine permanente Steigerung, einen Exzess in der Überbietung der technisch-professionellen Meisterschaft in Gang hält. Diese neuen technischen und disziplinären Virtuositäts-Dispositive stellen einen Spezialfall jener Entwicklung zur „Normalisierung“ im 19. Jahrhundert dar, die Jürgen Link beschrieben und analysiert hat.45 Zu diesem Verhältnis von neu-skaliertem Standard – z.B. durch Etüden bei Carl Czerny, durch Ballett-Technik bei Carlo Blasis, durch neue Stimm-Technik im Gesang etwa bei Rossini und Donizetti 46 – und einer exzessiven Überbietung äußern sich die Beobachter und Kritiker im 19. Jahrhundert sehr detailliert. Der Schauspieltheoretiker Heinrich Theodor Rötscher etwa schreibt in seiner Abhandlung über Das Virtuosenthum in der Schauspielkunst (1855),47 dass sich das Virtuosentum in der „vollständigen Unterwerfung des Körpers“48 zeige. Mit dieser „Unterwerfung“ verbindet sich zugleich eine Aura des Übermenschlichen, die im Phantasma der „perfekten Maschine“ ihr Sinnbild erhält. Heinrich Heine schreibt in seinem Text Lutezia kritisch, dass Virtuosität „ganz eigentlich vom Sieg des Maschinenwesens über den Geist zeuge“, und dass sich darin die „Präcision eines Automaten“ mehr noch: die „tönende Instrumentwerdung des Menschen“49 feiere. Die erotische Anziehung des Maschinen- und Technikphantasmas und der Widerstand dagegen verflechten sich – wie diese Äußerungen zeigen – mit der Figur des Virtuosen. Es ist – in neuer Weise – die Faszination des Technischen, das alte Bild der Mensch-Maschine, die der Figur des Virtuosen anhaftet und zugleich mit dem Mediendiskurs eine Allianz eingeht. Das Staunen, das der Virtuose erregt, sein Raffinement, seine Exzentrizität, so bemerkt Rötscher Mitte
45 | Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2006. 46 | Vgl. Clemens Risi: Koloratur des Wahnsinns – Wahnsinn der Koloratur, in: G. Brandstetter, G. Neumann (Hg.): Genie – Virtuose – Dilettant. 47 | Vgl. Heinrich Theodor Rötscher: Das Virtuosenthum in der Schauspielkunst, in: ders.: Kritiken und dramatische Abhandlungen, Leipzig 1859, S. 241-249; sowie Jörg Wiesel: Zwischen König und Konstitution. Der Körper der Monarchie vor dem Gesetz des Theaters, Wien 2001. 48 | Rötscher: Das Virtuosenthum in der Schauspielkunst, S. 242. 49 | Heine: DHA, 14/1, S. 45.
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des 19. Jahrhunderts, sei ein Medieneffekt. Denn die „arbeitende Lokomotive des Virtuosenthums“, so betont Rötscher, sei die „Reklame“.50 In diesen Bildern, in diesen Topoi und Diskursen wird das Virtuose modellbildend: Virtuosität ist ein Thema nicht mehr nur der Künste und der Ästhetik. Im Feld von Medien, von Körper- und Maschinen-Relationen wird das Virtuose auch zu einer kulturellen und einer ökonomischen Kategorie, in der das Verhältnis von körpertechnischer Beherrschung, von Professionalisierung und zugehörigen Standards, Leistungssteigerung und Arbeit (im Blick auf Produkt und Produktivität) verhandelt wird.51 Im Blick auf die Ökonomie solcher Leistungssteigerung und der Kapitalisierung von Produkt und Produktivität beanspruchte Karl Marx bereits den Begriff des Virtuosen und sprach von der „Virtuosität des Detailarbeiters“.52
D E R S TAT U S
D E S V I R T U O S E N I M Z E I TA LT E R D E R MEDIENTECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT
Mit der Frage nach dem Status des Virtuosen im Zeitalter der medientechnischen Reproduzierbarkeit von performativen Künsten ist ein weiterer historischer Schnitt gesetzt im Blick auf Fragen zum Virtuosen im 20./21. Jahrhundert. Was geschieht mit dem Virtuosen in einer Zeit, in der seine Performance in Bild und Klang technisch-medial reproduzierbar geworden ist? Ist damit das Singuläre seines Auftritts, das Charisma seiner Performance gekappt? Denn es finden sich vermehrt Argumente, dass darstellende Künstler-Virtuosen sich nun nicht mehr nur im Leistungs- und Steige50 | Rötscher: Das Virtuosenthum in der Schauspielkunst, S. 244. 51 | Zum Verhältnis von Körper-Maschine und Dampfmaschine im Kontext der Physiologie des 19. Jahrhunderts vgl. Maria Osietzki: Körpermaschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluß von Industrialisierung und Thermodynamik, in: Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hg.): Physio logie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1998, S. 313-346. 52 | Zit. nach Hans-Werner Heister: Virtuosen, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2., neubearb. Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel 1998, Sp. 1722-1432, hier Sp. 1723.
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rungsfeld unter Kollegen innerhalb der Live-Aufführung fänden, sondern dass sie nunmehr im Wettbewerb mit den Aufzeichnungen und Studio-Einspielungen eigener und fremder Performances stehen. Damit ist der darstellende Künstler, Musiker, Sänger, Tänzer in der Situation, der „Konserve“ eigener oder fremder Ideal-Produktionen hinterher (oder: entgegen) zu spielen. Hier tritt eine neue medien-performative Konstellation auf die Bildfläche: Wie verhalten sich Aufzeichnung und Live-Performance zueinander? Welche neue Beziehung von „Produkt“ – in Form einer Schallplatte, Video, CD oder DVD – und von transitorischem Ereignis/ Performance entsteht dadurch? Entwickelt sich damit eine neue, medien-bedingte Werkästhetik, ja: eine „Nachhaltigkeit“ der virtuosen Performance? Und in welcher Weise verändert sich dadurch die Leistungs-Anerkennungs-Situation zwischen Darsteller und Publikum? Vielleicht zeigt sich an diesen Fragen zu einer veränderten medienkulturellen und technikgeschichtlichen Situation ja vor allem, dass die Idee des Virtuosen wenn nicht verschwunden so doch einem Wechsel unterlegen ist. Eine solche Verschiebung lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen betrachten: Zunächst unter medienästhetischen Gesichtspunkten: Die Differenzierung und Verschiebung von Schwierigkeiten, die das Bild des Virtuosen in der Kunst des 20./21. Jahrhunderts prägen, zeigt sich am Beispiel von Glenn Gould, der sich weigerte, öffentlich im Konzertsaal vor Publikum aufzutreten.53 Ist nicht Goulds Umkehrung der typischen Virtuosen-Szene des 19. Jahrhunderts ein Schritt in ein neues Virtuosen-Paradigma: dadurch, dass die „Reproduktion“ nicht bloß als technische Aufzeichnung des „Eigentlichen“ (d.h. des Live-Events, der Aufführung) verstanden wird. Vielmehr wird die mediale Konstellation – das Studio, die Aufnahme der virtuosen Produktion – selbst zum Evidenz-Ort der Steigerung von virtuoser Technik.54 Der Virtuose Glenn Gould, der – wie er einmal sagte – sein Publikum hasste (und auch die Auftritte, die ihn ihm aussetzen)
53 | Vgl. Albrecht Betz: Das Vollkommene soll nicht geworden sein. Zur Aura des Virtuosen, in: Herbert von Karajan Centrum (Hg.): Virtuosen. Über die Eleganz der Meisterschaft, S. 9-31, hier S. 24. 54 | Vgl. Kevin Bazzana: Glenn Gould oder Die Kunst der Interpretation, Kassel [u.a.] 2001.
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macht so das Aufnahmestudio zur Bühne seiner virtuosen Exzesse ohne (öffentliches) Publikum.55 Thomas Bernhard schreibt in seinem Roman Der Untergeher über Glenn Gould: „Im Grunde wollen wir Klavier sein, sagte er […] Der ideale Klavierspieler […] ist der, der Klavier sein will […] Glenn hatte zeitlebens Steinway selbst sein wollen, er haßte die Vorstellung, zwischen Bach und dem Steinway zu sein nur als Musikvermittler.“ 56 Eine weitere offene Frage aus der Perspektive der Medien-(Re-)-Produktion entsteht durch die Beobachtung, ob nicht das Virtuose aus der Kunst (als ihrer primären Domäne im 19. Jahrhundert) ausgewandert ist in andere Bereiche der Kultur: z.B. in den Star-Kult der Pop-Szene, wo Live-Performance und Medien-Virtuosität ein perfekt balanciertes Spiel der großen Events entfalten. So wurde (und wird – nach seinem tragischen Tod) Michael Jackson nicht nur als Star, sondern auch als „Wunderkind“ und Publikumsvirtuose gefeiert.57 Virtuosität entfaltet sich in vielerlei kulturellen Bereichen: bei Rappern, Skateboardern 58 und vor allem bei Sportlern.59 Hier stellt sich erneut die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Technik und nach den Formen exzessiver Steigerung: Greift im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert nicht – entsprechend der Heineschen „Instrumentwerdung des Menschen“ – eine andere Form der performativen Über-Steigerung von Standards? Sie besteht nunmehr in der Manipulation des Körpers von innen: im Einsatz von Drogen, von Doping und allen biotechnischen Strategien des body-enhancements. 55 | Wobei die Publikums-Expertenrolle hier durch Aufnahmeleitung, Tontechnik etc. – d.h. ebenfalls durch den modernen Apparat – übernommen ist. 56 | Thomas Bernhard: Der Untergeher, Frankfurt a.M. 1986, S. 118f. 57 | Vgl. den Artikel von Caroline Fetscher: Michael Jackson. Das Weltwunderkind vom 5.7.2009, in: Zeit Online, Tagesspiegel: http://pdf.zeit.de/online/2009/28/ michael-jackson-wunderkind.pdf [Online-Zugriff: 10.11.2011], sowie Der Tagesspiegel, Nr. 20310, Sonntag, 5.7.2009, S. 8. 58 | Vgl. Gabriele Brandstetter, Bettina, Brandl-Risi, Kai van Eikels (Hg.): Prekäre Exzellenz. Künste, Ökonomien und Politiken des Virtuosen, Freiburg i. Br. [u.a.] 2011; Thomas Alkemeyer: Aufs Spiel gesetzte Körper: Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz 2003. 59 | Vgl. Gunter Gebauer: Poetik des Fußballs, Frankfurt a.M. [u.a.] 2006; vgl. auch: Horst Bredekamp: Florentiner Fußball: die Renaissance der Spiele. Calcio als Fest der Medici. Frankfurt a.M. 1993.
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Zuletzt schließlich stellt sich eine neue Frage – zum Status des Virtuosen – gerade angesichts der Auswanderung des „traditionellen Virtuosen“ nicht nur in Star-Kult und Sport, sondern auch in die Ökonomie, wo die Idee einer „collective virtuosity“ und zugleich die Perfektionierung im „Selbst-Management“ zu einer festen Größe der Organisationstheorie geworden ist.60 Ist also das Virtuose in der Kunst nicht mehr sichtbar? Oder verschoben, invertiert? Wenn Virtuosität eine Performance des Transgressiven war und ist – was ist davon in der zeitgenössischen Kunst noch wahrnehmbar und interessant? In welcher Weise kann noch – oder erneut – vom Virtuosen als Grenzfigur des Performativen die Rede sein? Eine These könnte sein: nicht mehr eine Steigerung im Sinne von „Höher-Schneller-Weiter“ markiert die Performance des Virtuosen. Das Unwahrscheinliche, das Exzessive zeigt sich vielmehr in einer umgewendeten Ästhetik. Hans-Jörg Rheinberger hat in einem Aufsatz zur Experimentellen Virtuosität dargelegt, dass es gerade die Ephemeralität in der Forschung und die Nachträglichkeit des Wissens über deren Prozessverlauf ist, worin sich das Faszinosum, das Neue: die „richtungsändernde“ Kraft des Experiments zeige.61 Der Forschungsprozess ist demnach ein „höchst nichtlineares Unternehmen“: Nicht in einer klaren, zielorientierten Route des Forschens, sondern in einer „Epistemologie der Irre“ ,62 so Rheinberger, besteht eigentlich das Virtuose im Sinn eines Findens von Neuem. Als Beispiel zitiert Rheinberger den Physiologen Claude Bernard: „Ein Künstler weiß nicht, wie er zu seinen Sachen kommt. Desgleichen weiß ein Wissenschaftler nicht, wie er die Spur seiner Dinge findet. […] Man muss finden, und zwar genau da, wo es nichts mehr zu wissen gibt.“ 63 Hier begegnen sich Experimental-Formen der Wissenschaft und die Expeditionen zeitgenössischer Künste 64 an der Grenze eines Balanceakts, der eine60 | Vgl. den Aufsatz von Kai van Eikels: Virtuosen-Herrschaft. Überlegungen zu Ausnahme-Performances und Macht, in diesem Band, S. 77-101; dort insbesondere S. 92ff. 61 | Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentelle Virtuosität, in: ders., Norbert Haas, Rainer Nägele (Hg.): Virtuosität, Eggingen 2007, S. 13-28, hier S. 13. 62 | Ebd., S. 24. 63 | Ebd. 64 | Zum Verhältnis solch „wissenschaftlicher Performance“ und Experiment- und Demonstrationsformen in der zeitgenössischen Performance vgl. Sibylle Peters:
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Topologie des Nicht-Wissens, des Nicht-Präformierten und Non-Präskriptiven betritt und damit das Risiko eines Prozesses eingeht, der auf eine neue und andere Art Virtuosität erfordert: nicht als Überbietung von Standards im Sinn einer kalkulierten Leistungssteigerung – sondern im Spiel mit den Unwägbarkeiten solcher Ephemeralität selbst. Es ist eine improvisatorische und zugleich aufs Äußerste ‚aufmerksame’, virtuose Performance, deren möglicher, jedoch nicht steuerbarer Überschuss emergent ist.65 Damit ist auch ein anderes Konzept des Risikos und des Umgangs mit dem Riskanten zu bemerken. Je schon zählte das Spiel mit dem Risiko zu jenem Faszinationspotential zwischen Performer und Publikum, das den Virtuosen als eine Grenzfigur des Performativen, als Figuration eines darstellerischen „Ausnahmezustands“ auszeichnete: bis zum „salto mortale“, jener Steigerung von Schwierigkeiten, die auch das Risiko des eigenen Lebens zum Teil der artistischen Performance machte. Demgegenüber besitzen die Risiken und Schwierigkeiten virtuoser Performance in zeitgenössischer Kunst und Kultur andere ästhetische und experimentelle Valeurs. Sie entfalten ihr Faszinationspotential in subversiver Weise, nämlich in der Inszenierung von improvisatorischen Performances, deren Risiko im Spiel mit der (Nicht-)Beherrschbarkeit des Unvorhersehbaren besteht. Kollektive Virtuosität – im Fußballspiel, in einer Jazz-Improvisation – oder das riskante Spiel mit einer irritierenden Unterbietung etablierter Standards machen das Aushandeln von Performances und ihre Anerkennung als virtuose Leistung zum Strukturbestandteil eines aktuellen Experimental-Konzepts von Virtuosität. Zeitgenössische performative Künstler arbeiten im Spannungsfeld solcher Virtuosität, die letztlich ihre eigenen Parameter immer wieder aussetzt, da in der Performance nicht nur die Standards einer Technik/Körpertechnik (z.B. im Tanz) überboten werden, sondern auch die Matrix, auf der diese Standards basieren, dekonstruiert, verschoben und überraschend rekonstruiert wird.66 Gerade in dieser Dynamik öffnet sich eine spezifiVon der Kunst des Demonstrierens. Zur Figuration von Evidenz in der Performance des Vortrags, in: Martin Jörg Schäfer und dies. (Hg.): Intellektuelle Anschauung. Bielefeld 2006, S. 201-222. 65 | Zur Improvisation: Vgl. Brandstetter [u.a.] (Hg.): Improvisieren. 66 | Eine andere Richtung dieser Virtuosen-Konzeption und ihres körpertechnischen Übersteigerungsmodells zeigt sich beispielsweise in Theater/Schauspielkonzepten wie jenen von René Pollesch: nicht die Über- sondern die Unterbietung
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sche Freiheit, die auch Grenzen des Performativen tangiert. Zwei Beispiele mögen diese Prozesse verdeutlichen, aus Choreographien von William Forsythe, der das Spiel mit den Grenzen des Koordinierbaren in der Bewegung einmal als Titel einer Choreographie formuliert hat: The Vertiginous Thrill of Exactitude. Das erste Beispiel bezieht sich auf einen Ausschnitt, ein Duo, aus Steptext; 67 das zweite Beispiel ist ein Ausschnitt aus dem Stück Solo,68 in dem er selbst tanzt. Im ersten Beispiel ist die Matrix der Bewegung noch erkennbar: der Code des klassischen Balletts, z. B. in den Spitzenschuhen und in den Formen der Arabeske. Doch schon hier wird in höchster Dynamik die Gliederung, Artikulation, vor allem die Balance in der Übersteigerung der Achsen-Verschiebungen über die Grenzen dessen, was bis dahin Ballett war, getrieben.69 Im zweiten Beispiel schließlich ist die Grenze des Perfekten schon überschritten. Die Koordinaten der Körperlichkeit und Bewegung sind nicht mehr von Beherrschung und Technik (z. B. des Balletts) ableitbar. Die Performance folgt vielmehr anderen Parametern: dem Spiel einer von Standards des (perfekten) Darstellens wird zum darstellungsästhetischen Paradigma, u.a. dadurch, dass das Scheitern, der Ausfall ein wesentlicher Bestandteil der Performance werden, eine Steigerung z. B. des Sprech-Tempos, der Textmenge, in deren Verlauf Versprecher, Unverständlichkeit, Lücken erscheinen, dies jedoch wiederum virtuos-imperfekt. Vgl. Bettina Brandl-Risi: „Ich bin nicht bei mir, ich bin außer mir.“ Die Virtuosen und die Imperfekten bei René Pollesch, in: Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.): Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld 2011, S. 137-156. 67 | Premiere: Aterballetto, Reggio Emilia, Italien; Premiere Frankfurt: 31. Januar 1985, Ballett Frankfurt. Choreographie, Bühne, Licht und Kostüme: William Forsythe. Abbildung in: Gerald Siegmund (Hg.): William Forsythe. Denken in Bewegung, Berlin 2004, S. 44. 68 | William Forsythe: Solo; (Video-Choreographie: 6:40 min), RD-Studio Productions, France 2, BBC TV; Premiere: 26. Dezember 1995; und u. a. New York, Whiney Biennial 1997, Director: Thomas Lowell Balogh, Choreographie: William Forsythe. 69 | Vgl. Gabriele Brandstetter: Defigurative Choreographie. Von Duchamp zu William Forsythe, in: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar 1997, S. 598-623.
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Abb. 1: Thomas McManns und Dana Caspersen in Steptext, Choreographie: William Forsythe
Multitude der Bewegungsimpulse, die für den Betrachter Oberfläche und Tiefe, Einheit/Fluss und Fragmentierung gleichzeitig evozieren. Nicht in einer Technik-Steigerung, sondern in einer Komplexitätssteigerung besteht hier – wenn überhaupt – eine Virtuosität. Es ist eine Körper-Performance, deren Dynamik und Widersprüchlichkeit den Betrachter in eine Kategorien-Krise stürzt. Komplexitätssteigerung bedeutet hier: das Aussetzen der Matrix und das Finden von neuen, noch nicht anerkannten Schwierigkeiten der tänzerischen Bewegung. Diese prekäre Virtuosität spielt mit neuen Risiken: z.B. mit dem Risiko, dass das Publikum die Fremdheit dieser transgressiven Überbietungen und die extreme Dynamik nicht als staunenswürdig oder als interessant aufnimmt; dass das Publikum somit aus seinem Part im Virtuosen-Anerkennungs-Spiel ebenso „austritt“ wie der Performer. Dies wäre dann in der Tat ein anderes Experimental-Szenario von Über- und Unterbietung im „virtuoso“-Zusammenspiel von Leistung und Anerkennung. Nicht mehr der Schock einer Avantgarde-Performance, oder das Staunen über ein „neues“ Risiko stellen sich hier ein. Sondern vielleicht Unaufmerksamkeit und Zerstreuung, Langeweile oder schlicht: die Abwendung aus dem Geschehen. Entzug – als Schlusspunkt des Virtuosen, einer Grenzfigur des Performativen.
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Abb. 2 und 3: William Forsythe in Solo, Choreographie: William Forsythe
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Unter den mannigfachen Theater-Szenen in Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre nimmt Mignons Eiertanz einen besonderen Raum ein: zwischen virtuosem Artistenstück der reisenden Schausteller und einem Tanzsolo als „Privataufführung“ vor Wilhelm Meister. Die folgenden Überlegungen suchen diese Auftritts-Szene Mignons im tanzhistorischen Kontext und im Rahmen des Virtuositätsdiskurses zu situieren und als eine aus der Tanz-Bewegung entfaltete ephemere Geste der Gabe zu lesen. Und weil der Tanz so eindrucksvoll beschrieben ist – er ist eine detaillierte Ekphrasis von Tanz-Bewegung – soll die Textstelle hier in extenso wiedergegeben werden: Wilhelm kommt nach Hause (aufgewühlt in Erinnerungen an Mariane), und Mignon bittet ihn, ihm „mit einem Kunststücke aufwarten“ zu dürfen.1 Sie trug einen Teppich unter dem Arme, den sie auf der Erde ausbreitete. Wilhelm ließ sie gewähren. Sie brachte darauf vier Lichter, stellte eins in jeden Winkel des Teppichs. Ein Körbchen mit Eiern, das sie darauf holte, machte die Absicht deutlicher. Künstlich abgemessen schritt sie nunmehr auf dem Teppich hin und her, und legte in gewissen Maßen die Eier auseinander, dann rief sie einen Menschen herein, der im Hause aufwartete und die Violine spielte. Er trat mit seinem Instrumente in die Ecke, sie verband sich die Augen, gab das Zeichen, und fing zugleich 1 | Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagbücher, Gespräche in 40 Bänden, hg. von Friedemar Apel [u.a.], I. Abt.: sämtliche Werke, Bd. 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Wilhelm Meisters Lehrjahre [u.a.], hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp, Frankfurt a.M. 1992, S. 355-992, hier: S. 468ff.
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mit der Musik, wie ein aufgezogenes Räderwerk, ihre Bewegungen an, indem sie Takt und Melodie mit dem Schlag der Kastagnetten begleitete. Behende, leicht, rasch, genau führte sie den Tanz. Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern nieder, daß man jeden Augenblick dachte, sie müsse eins zertreten oder bei schellen Wendungen das andre fortschleudern. Mit nichten! Sie berührte keines, ob sie gleich mit allen Arten von Schritten, engen und weiten, ja sogar mit Sprüngen, und zuletzt halb kniend sich durch die Reihen durchwand. Unaufhaltsam, wie ein Uhrwerk, lief sie ihren Weg, und die sonderbare Musik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauschenden Tanze bei jeder Wiederholung einen neuen Stoß. Wilhelm war von dem sonderbaren Schauspiele ganz hingerissen, er vergaß seiner Sorgen, folgte jeder Bewegung der geliebten Kreatur, und war verwundert, wie in diesem Tanze sich ihr Charakter vorzüglich entwickelte. Streng, scharf, trocken, heftig, und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm, zeigte sie sich. Er empfand, was er schon für Mignon gefühlt, in diesem Augenblicke auf einmal. Er sehnte sich, dieses verlassene Wesen an Kindesstatt seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen, und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken. Der Tanz ging zu Ende; sie rollte die Eier mit den Füßen sachte zusammen auf ein Häufchen, ließ keines zurück, beschädigte keines, und stellte sich dazu, indem sie die Binde von den Augen nahm, und ihr Kunststück mit einem Bücklinge endigte. Wilhelm dankte ihr, daß sie ihm den Tanz, den er zu sehen gewünscht, so artig und unvermutet vorgetragen habe. Er streichelte sie, und bedauerte, daß sie sich’s habe so sauer werden lassen. Er versprach ihr ein neues Kleid, worauf sie heftig antwortete: deine Farbe! Auch das versprach er ihr, ob er gleich nicht deutlich wußte, was sie darunter meine. Sie nahm die Eier zusammen, den Teppich unter den Arm, fragte, ob er noch etwas zu befehlen habe, und schwang sich zur Türe hinaus. Von dem Musicus erfuhr er, daß sie sich seit einiger Zeit viele Mühe gegeben, ihm den Tanz, welches der bekannte Fandango war, so lange vorzusingen, bis er ihn habe spielen können. Auch habe sie ihm für seine Bemühungen etwas Geld angeboten, das er aber nicht nehmen wollen. 2
2 | Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 470.
Mignons Eier tanz
Mignons „Auftritts-Szene“ vor Wilhelm ist detailliert beschrieben.3 Dabei enthält die Erzählung zwei miteinander verknüpfte Perspektiven: zum einen eine genaue Darstellung der Inszenierung und des Ablaufs des Tanzes; zum anderen eine Beschreibung der emotionalen Wirkung des Tanzes auf Wilhelm.4 Mignons Auftritt beginnt mit der Ankündigung eines „Kunst-Stückes“, ein Begriff, der changiert zwischen der Bedeutung von „Schaustellerei“, einer einstudierten, zirzensischen Nummer und von Kunst. Die Darbietung wird eröffnet mit der Inszenierung des Raumes: Mignon steckt den Tanz-Platz ab, indem sie einen Teppich ausbreitet und den theatralen Rahmen – die Grenzen zwischen Aktionsraum und Zuschauerraum – durch „vier Lichter“ markiert. Das Auslegen der Eier und das Verbinden der Augen schließlich weist (im Sinne einer ankündigenden Deixis) auf den Typus des Tanzes: ein blinder Tanz in den Zwischen-Räumen zwischen den Eiern. Die Präzision, die diese Bewegungen erfordern, wird in der Tanz-Beschreibung zwei Mal mit dem exakten Ineinandergreifen von (Zahn-)Rädern in einem mechanischen Apparat verglichen: „wie ein aufgezogenes Räderwerk“ seien ihre Bewegungen, und: „Unaufhaltsam, wie ein Uhrwerk, lief sie ihren Weg.“5 Die Exaktheit, mit der Mignon ihre Schritte in die Zwischen-Räume der Eier setzt, ohne sie zu berühren, wie sie ein Muster wechselnder Schritte – im Raum eines „Zwischen“– in die Leerstellen des mit zerbrechlichen Eiern besetzten Teppichs stickt wie eine Textur, wird mit einem (bewegungs-)technischen, motorischen Ablauf verglichen. Liegt darin der Reiz dieses virtuosen Schaustücks, von 3 | Meine Analyse bezieht sich hier nur auf die Text-Stelle in „Wilhelm Meisters r Lehrjahre“. Ein Vergleich mit der Tanz-Beschreibung in der „Theatralischen Sendung“, auch mit dem Unterschied zur „Mignon“-Figur müsste hier folgen; auf die Differenz der Texte und die unterschiedliche Kontextualisierung im Roman verweist Achim Aurnhammer in seinem Aufsatz: Bitextuelle Choreographie. Mignons Eiertanz mit Wilhelm als Zuschauer, in: ders., Günter Schnitzler (Hg.): Der Tanz in den Künsten 1770-1914, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2009, S. 171-189, hier S. 171f. u. S. 185ff. 4 | Zur historischen und narratologischen Interpretation von Mignons Eiertanz vgl. ebenso Aurnhammer: Bitextuelle Choreographie; – Aurnhammer interpretiert die Eiertanz-Szene im Kontext der ambivalenten Gefühle Wilhelms gegenüber Mignon, zwischen väterlichem Schutz und erotischem Begehren. 5 | Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 469.
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dem Wilhelm „ganz hingerissen“ 6 ist? Doch Mignon bezaubert ihn nicht nur durch ihre tänzerische Geschicklichkeit, zu der auch noch das Kastagnettenspiel zur Musik des Fandango gehört. Wilhelm meint in diesem Auftritt Mignons Charakter zu erkennen, er beobachtet und deutet Mignons Eiertanz als einen Ausdruckstanz, in dem sich ihr „Charakter vorzüglich entwickelte“7. Dabei ist die Beschreibung ihres „Wesens“ in den Tanz-Bewegungen keineswegs nur „anmutig“ und „angenehm“, sondern auch „streng, scharf, trocken“. Mignons Bewegungen erscheinen sowohl heftig als auch sanft und feierlich; ein Bild, das auch im Alltag Mignons „Auftritten“ Wilhelm gegenüber entspricht. Auch hier ist ihr Verhalten ambivalent: ihre Sprödigkeit und zugleich ihr Eifer, ihre Hingabe im „Dienen“; ihre heftige Widerspenstigkeit und zugleich ihre feine Sensibilität, ihre tiefe Empfindung; schließlich ihre ganz eigentümlichen Äußerungen über Gebärden und individuelle Gesten, die im Kontrast stehen zu ihrer partiellen Verweigerung „regulärer“ sprachlicher Kommunikation; und nicht zuletzt Mignons Äußerungen im Musischen – in Gesang, Tanz, Bewegung. In der Beziehung zwischen Wilhelm und Mignon ist dieser Eiertanz jedoch noch mehr als der Spiegel ihres Charakters. Mit ihrem „Auftritt“ vollzieht Mignon – mit nonverbalen Mitteln, durch Tanz, Musik, Gebärden – ein bandstiftendes Ritual zu Wilhelm.8 „Er sehnte sich“, so heißt es im Text, Mignon „seinem Herzen einzuverleiben.“ Mignon offeriert Wilhelm ihrerseits mit dieser Aufführung etwas in jeder Hinsicht Singuläres – als eine Gabe.9 Denn nur für ihn allein, als eine Privat-Auffüh6 | Ebd. 7 | Ebd. 8 | Achim Auerhammer interpretiert Mignons Eiertanz als eine Aufführung, die zwar „äußerlich einen Solotanz, aber latent einen erotischen Paartanz, der Wilhelm imaginär einbezieht“ repräsentiere, vgl. Auerhammer: Bitextuelle Choreographie, S. 179. Diese erotische, ambivalente Beziehung analysiert Aurnhammer narratologisch als „Bitextualität“. Der Fokus meiner Lektüre von Mignons Eiertanz richtet sich hingegen auf die theatrale Konstellation von (Solo-)Tanz-Auftritt vor (einem) Zuschauer, auf die Rahmenverschiebung vom öffentlichen zum intimen („Kammer“-)Schauplatz und die Inversion der virtuosen Geschicklichkeits-ArtistenNummer zu einer Gabe. 9 | Der Gedanke, dass Mignon mit ihrem Eiertanz, den sie aus dem kommerziellen Kontext der Artistenschaustellerei löst und Wilhelm offeriert, eine ephemere Gabe
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rung gewissermaßen, in der Intimität der Kammer und nicht auf dem öffentlichen Schauplatz von Jahrmarkt, Theater und Tanz, inszeniert sie eben jenen Tanz, dessen Aufführung sie auf dem Platz der Schausteller verweigerte, als Wilhelm Mignon zum ersten Mal in der Gruppe der gastierenden Gaukler und Seiltänzer begegnet. Er fühlt sich schon da von der geheimnisvollen, androgynen, „jungen, schwarzköpfigen düsteren“ Gestalt 10 angezogen; und er kauft sie vom „Herren der Seiltänzer“ los, von dem sie geschlagen wird, weil sie – wie er sagt – ihre Pflicht nicht tun wolle: sie „verweigere den Eiertanz zu tanzen“,11 der dem Publikum angekündigt war. Ein zweites Mal weigert sich Mignon, den Eiertanz öffentlich zu zeigen; und dieses Mal ist es Wilhelm, der sie aufgefordert hatte, dieses Schaustück vorzuführen. Ihm leistet sie Widerstand gegen eine Tanz-Schaustellerei, als er, nunmehr selbst in der Rolle eines Impresarios, für die Aufführung im gräflichen Schloss Mignons Eiertanz einplant. Die Situation ereignet sich kurz nach Mignons Privat-Aufführung des Eiertanzes in seinem Zimmer: Er hatte sich den größten Effekt von Mignons Eiertanze versprochen, und wie erstaunt war er daher, als das Kind ihm, mit seiner gewöhnlichen Trockenheit, abschlug zu tanzen, versicherte, es sei nunmehr sein und werde nicht mehr auf das Theater gehen. Er suchte es durch allerlei Zureden zu bewegen, und ließ nicht eher ab, als bis es bitterlich zu weinen anfing, ihm zu Füßen fiel und rief: Lieber Vater!
überreicht, folgt den Theorien zur Gabe bei Marcel Mauss, Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: „An artist is someone who imposes and exposes him/herself as gifted. It’s not that he/she displays a special ability or elaborate technical skill […], but that what he/she makes exists independently, removed from the very mastery that must know how to highlight it, especially not replace or hide it.“ Vgl. Jean-Luc Nancy: Preasens, in: Gianfranco Maraniello, Sergio Risalti, Antonio Somaini (Hg.): Il Dono/The Gift, Mailand 2001, S. 190-200; hier S. 193. – Die (Un-)Möglichkeit, die Gabe, jenseits von Tauschbeziehungen, als Anökonomie zu denken, (wie dies Derridas Philosophie verfolgt) zeigt sich auch in Wilhelms Reaktion, als er Mignon ein Kleid verspricht (als „Gegengabe“…). Vgl. Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit Geben I, (aus d. Franz. v. Andreas Knop u. Michael Wetzel), München 1993. 10 | Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 445. 11 | Ebd., S. 456.
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Bleib auch du von den Brettern! Er merkte nicht auf diesen Wink, und sann, wie er durch eine andere Wirkung die Szene interessant machen wollte.12
Die Privat-Auftritts-Szene von Mignons Eiertanz vor Wilhelm als einzigem Zuschauer – ein intimes Kammertheater, eine Séparé-Inszenierung – erhält erst vor dem Hintergrund dieser beiden Verweigerungen eines öffentlichen Auftritts mit dem Eiertanz ihr ganzes Gewicht. Mignons „Theaterfeindlichkeit“, ihre Anti-Theatralität, die sich insbesondere in der zweiten Verweigerungsszene zeigt, markiert erst die Singularität von Mignons Eiertanz als ein intimes Kammertheater. Diese Séparé-Inszenierung wechselt mit dem Rahmen von der öffentlichen zur intimen Aufführung auch die Bedeutung – obwohl der Tanz in seinem Ablauf unverändert ist: ein virtuoser Dressurakt der Glieder. Von der „interessanten“ Unterhaltung durch das Geschicklichkeits-Körpertheater der Gaukler, auf Effekt ausgerichtet, für ein zufälliges, zahlendes Publikum wird der Eiertanz nun, durch diese Rahmenverschiebung zu einem Stiftungsakt einer einzigartigen Beziehung: Mignons Auftritts-Szene mit dem Eiertanz erscheint als ihre körperliche Deklaration ihres Vertrauens und ihrer Liebe. Nicht mehr der performative Pakt zwischen Darsteller und Zuschauer konstituiert das Ereignis der Aufführung; sondern der Rahmen einer intimen Darbietung vor einem einzigen, von ihr gewählten Zuschauer, als bandstiftendes Ritual. Die Zerbrechlichkeit des Materials und die traumwandlerische Sicherheit ihrer „blinden“ Bewegungen verleihen diesem Tanz eine symbolische Dimension.
E I E R TA N Z Bevor ich der Frage weiter nachgehe, inwiefern sich mit dieser Dramaturgie von Mignons Eiertanz poetologische Fragen des Wilhelm Meister Romans verbinden, zunächst einige Überlegungen zum tanzgeschichtlichen Kontext. Eine begriffsgeschichtliche und kulturhistorische Recherche zum „Eiertanz“ führt zu einem auf den ersten Blick erstaunlichen Befund: Es scheint, als habe Goethe den Eiertanz, wie Mignon ihn tanzt, für
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seinen Roman erfunden. Ein Exkurs zur Begriffs- und Kulturgeschichte zum Eiertanz vermag zur Klärung dieser Frage beitragen. Einträge in Lexika, wie z.B. im Brockhaus, 13 bringen zumeist zwei Definitionen: Eiertanz als ein „volkstümliches Geschicklichkeitsspiel“; und in übertragener Bedeutung („einen Eiertanz aufführen“): „sich umständlich um heikle Dinge herumdrücken.“ 14 Das „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ 15 verzeichnet keinen Eintrag unter Eiertanz, führt aber volkstümliche „Eierspiele“auf, die „mit Läufen und Wettkämpfen der Geschlechter verbunden sind, auf uralte Frühlingsfeste und Riten“ 16 zurückgehen. Ein Blick in die Lexika der Goethezeit zeigt jedoch keine Einträge unter dem Stichwort „Eiertanz“: das Stichwort ist weder in Caspar Stielers Teutschen Sprach-schatz (1691) noch in Zedlers Universallexikon (1734) noch im Adelung (1793-1801) zu finden. Das Grimmsche Wörterbuch (1862) gibt eine kurze Herkunftsbeschreibung, die jedoch nur auf Goethes Wilhelm Meister bezogen ist: „‚Eiertanz‘, m., mit verbundenen augen zwischen eiern; sie verweigere den eiertanz zu tanzen. Göthe 18, 161“.17 Dass der Eiertanz früher allgemein bekannt gewesen sein muss, erweist sich somit als eine Redensart.18 In der Goetheforschung 19 und in den
13 | Vgl. Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. (neu bearbeitete) Auflage, Bd. 6, (DS-EW), Mannheim 1988, S. 150. 14 | Ebd. 15 | Vgl. Stichwort: „Eierspiele“, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von Hans Bächtold-Stäubli [u.a.], Bd. 2, Berlin/New York, S. 622 u. 624. 16 | Ebd. 17 | Vgl. Stichwort: „Eiertanz“, in: Deutsches Wörterbuch (1862), hg. von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 3, (Nachdruck der Erstausgabe), München 1984, Sp. 87. 18 | Vgl. Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 1-5, Freiburg/Basel/Wien 1994, hier: Bd. 2, S. 361ff. Hier wird noch einmal deutlich hervorgehoben: „Die Beleglage bestätigt, was schon Klier auffiel: Wir finden vor Goethe keine deutsche Erwähnung irgendeines Eiertanzes.“ (ebd., S. 362). 19 | In der historischen Forschung zu Goethe und dem Tanz ist Mignons Eiertanz wenig beachtet; vgl. Walter Salmen, der dazu in seiner Abhandlung Goethe und der Tanz nur einen sehr knappen Kommentar schreibt; Walter Salmen: Goethe und der Tanz. Tänze – Bälle – Redouten – Ballette im Leben und Werk, Hildesheim/Zürich/New York 2006, S. 98f. – Zur Quellenforschung und zu den
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volkskundlichen Untersuchungen zeichnet sich ein merkwürdiges Doppelbild ab: Schon Karl M. Klier (1940) fand es „merkwürdig“, dass „in der umfangreichen deutschen Tanz- und Volkstumsliteratur keine einzige Andeutung über den Eiertanz“ vorkommt und wir „allein bei Johann Wolfgang Goethe einen Eiertanz sowie eine Beschreibung finden.“ 20 Klier erwähnt die unterschiedlichen Hinweise aus dem Brauchtum, Eierspiele, die vor allem im Kontext des Oster-Brauchtums und als Hochzeitsritual, das die Konnotationen eines Fruchtbarkeitsrituals aufruft, vorkommen. Solche Hinweise hatte auch Albert Czerwinski in seiner Geschichte der Tanzkunst 21 bereits 1862 gegeben. Er beschreibt einen Kirmesbrauch, mit dem „bekannten Eier- und Strohtanz“ 22, ohne freilich weitere Erläuterungen oder Quellen anzugeben. Zusätzlich zu diesen volkskundlichen Befunden zieht die ältere GoetheLiteratur zwei schmale Aufsätze, der erwähnte von K. M. Klier, sowie eine Miszelle von Karl Borinski zu „Mignons Eiertanz“23 zwei Bilder als kulturgeschichtliche Quellen heran: Ein Gemälde von Pieter Aertsen, ca. 1557, das im Rijksmuseum von Amsterdam hängt, und einen Stich von Johann de Bry (1521-1623) aus den Emblemata saecularia (Oppenheim) 1611.24 Auf beiden Gemälden sieht man Eier auf einem ausgegrenzten Platz ausgelegt, zwischen denen ein junger Mann tanzt, vor ringsum sitzenden,
divergierenden Textdeutungen von Mignons Eiertanz in der Goetheforschung vgl. den kommentierten Bericht bei Aurnhammer: Bitextuelle Choreographie, S. 172. 20 | Vgl. Karl M. Klier: Der Eiertanz, in: Deutsche Volkskunde. Vierteljahresschrift der Arbeitsgemeinschaft für deutsche Volkskunde, Heft 2, 1940, S. 86-89. 21 | Vgl. Albert Czerwinski: Geschichte der Tanzkunst bei den cultivierten Völkern von den ersten Anfängen bis auf die gegenwärtige Zeit, Leipzig 1862 (Reprint: Documenta Choreologica, Bd. 8, Leipzig 1975), S. 253. 22 | Ebd. – Czerwinski baut seine Tanzgeschichte nach „Völkern“, d. h. nach NationalTanz-Gesichtspunkten auf; der Eiertanz ist den Tänzen der Böhmen, Ungarn und Polen zugeordnet. 23 | Vgl. Karl Borinski: Drei Goethe-Miszellen, in: Erich Petzet (Hg.): Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte, Franz Muncker zum 60. Geburtstage, München 1916, S. 83-88, darin: 1. Mignons Eiertanz, S. 83-85. 24 | Bei Klier: Der Eiertanz, S. 83.
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Abb. 1: Pieter Aertsen: Der Eiertanz (1552), Öl auf Tafel, 84 x 172 cm, Rijksmuseum, Amsterdam
Abb. 2: Johann de Bry: Eiertanz. Aus den Emblemata Saecularia, Oppenheim 1611
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stehenden Zuschauern und einem Musiker. Klier beschreibt die Szenen, beide Bilder vergleichend, folgendermaßen: Der Tänzer hat den Hut, die Schuhe und seine Seitenwaffe abgelegt; unter seinem Spielbein liegt ein Ei auf dem Boden: vielleicht ist es vorher auf der daneben befindlichen Schüssel gelegen und soll mit dem Fuß in den Kreidekreis befördert werden, der auf dem Bild hinter dem Ei zu sehen ist. Ein ähnliches Gefäß treffen wir auch auf dem Kupferstich aus dem Buch von Bry; der Tänzer bewegt sich in einem etwas vertieften Kreis – die magische Wirkung des Kreises spielt ja im Volksglauben eine Rolle. Außer dem Sackpfeifer lärmen links im Bild eine Frau und ein Mann in scherzhafter Art mit Küchengeräten. Man wird durch diese beiden an die Stelle im Fastnachtsreigen von Nicolais Almanach erinnert … 25
Die genauere Betrachtung des Bildes von Aertsen, der Details und der Komposition – die Blätter, Frühlingszwiebeln auf dem Boden, die erhobenen Weingläser, schließlich die fröhlich-vorsichtige, jedoch keineswegs anmutige oder virtuose Haltung des Tänzers, dessen Augen nicht verbunden sind – macht deutlich, dass es sich bei diesen Eiertänzen wohl tatsächlich eher um ein Spiel oder Ritual im Kontext eines jahreszeitlich gefeierten Festes handelt, als um ein virtuoses Schausteller-Stück, wie es bei Goethe im Wilhelm Meister geschildert ist. Borinskis Argument, dass es unwahrscheinlich sei, dass Goethe Pieter Aertsens Gemälde kannte, da es davon keine Stiche gab, und es überdies nicht bekannt ist, ob Goethe eine Kopie gesehen haben könnte, macht einmal mehr deutlich: Wir haben keinen Beleg für eine Quelle, die Goethe als Vorbild für Mignons Eiertanz gedient hätte. Auch die neuere Goethe-Literatur führt hier nicht weiter,26 wohingegen jüngere Studien zur Volkskunde und „Folkdance“ neue Quellen für Eierspiele und -tänze (vor allem in den Niederlanden 25 | Vgl. Klier: Der Eiertanz, S. 88. 26 | Ingrid Broszeit-Rieger: Practice and Theory of Dance in Goethe’s ‚Meister’, in: Neophilologus 2006, S. 303-320, behauptet ohne weiteren Hinweis oder Reflexion: „eggdance, a popular entertainment in Europe from the sixteenth to the eighteenth century“ (S. 309) – dabei ist gerade den volkskundlichen und begriffsgeschichtlichen Untersuchungen zu entnehmen, dass der Begriff „Eiertanz“ vor Goethe nicht nachzuweisen ist. Auch Walter Salmen gibt in seinem Band zu Goethe und der Tanz keine Quellenhinweise; vgl. Salmen: Goethe und der Tanz, S. 98f.
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und in der Schweiz) vorstellen, zugleich aber auch vorsichtig und kritisch mit den Befunden der Volkskunde und der (nationalen) Brauchtumsforschung der 30er und 40er Jahre umgehen.27 Aus den Quellen und ihren Deutungen, auch des Bildes von P. Aertsen,28 wird deutlich, dass es sich bei den Eiertanz-Bräuchen, die vor dem 18. Jahrhundert überliefert sind, um ein „fertility ritual“29 handele.30 Alle anderen Quellen, vor allem jene, die das Spiel oder den Tanz mit Eiern als Schausteller- oder Geschicklichkeits-Tanz-Stück beschreiben, liegen nach 1800. Hier auch taucht erstmals die Beschreibung der sich „blind“ bewegenden Tänzer auf – also ebenfalls nach der Darstellung von Mignon, die mit verbundenen Augen tanzt, in Goethes Wilhelm Meister. In den volkskundlichen Quellen zu „Eierspielen“ und Eiertanz ist auch nicht zu erfahren, welche Musik dazu aufgespielt wurde – beispielsweise im Kontext von Kirmes-Unterhaltungen. Goethe hingegen benennt im Wilhelm Meister auch die musikalische Begleitung von „Mignons Eiertanz“, welches „der bekannte Fandango“ (sei).31 Mignon selbst begleitet sich, wie es zu diesem spanischen Tanz gehört, mit Kastagnetten; und sie hat die Melodie einem Geiger solange vorgesungen, bis er „ihn habe spielen können“.32 Goethes „Erfindung“ von Mignons Eiertanz kontaminiert damit – so scheint es – zwei populäre Virtuosen-Tanzstücke; ein Schausteller-Geschicklichkeits-Tanz-Spiel: den Eiertanz; wobei das Verbinden der Augen (auch dafür findet sich vor Goethe keine Quelle) – ganz im Sinne von
27 | Vgl. Venetia Newall: The Egg Dance, in: Folk Music Journal 2/1 (1970), S. 35-44; Newall verweist u.a. auf eine frühe Quelle, überliefert durch den Anthropologen Arnold van Gennep, mit dem Eiertanz als Hochzeitsbrauch (ebd., S. 35). 28 | Vgl. Newalls Bild-Beschreibung und Deutung von Peter Aertsens „Eierdans“ mit dem Hinweis auf die Knoblauch-Ketten, Frühlingszwiebeln, Muschelschalen als Symbole für „fertility“, ebd. S. 42f. 29 | Ebd. S. 42. 30 | Zu einer kritischen, philosophischen Perspektive auf das „Ei“, im Kontext kulturhistorischer Semantik der „Fruchtbarkeit“ vgl. Elisabeth von Samsonow: Das Ei. Eine kleine Philosophie der Keimblätter, in: Éric Alliez/Elisabeth von Samsonow (Hg.): Biographien des organlosen Körpers, Wien 2003, S. 247-269. 31 | Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 470. 32 | Ebd.
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virtuosen Akrobaten-Kunst-Stücken – die Steigerung der körpertechnischen Schwierigkeiten anzeigt. Von dem Klavier-Wunderkind Wolfgang Amadeus Mozart ist beispielsweise die Anekdote überliefert, dass er, um seine besondere Geschicklichkeit und Treffsicherheit an diesem Instrument vorzuführen, am Wiener Hof Klavierstücke mit verbundenen Augen vorführte. Zu diesem virtuosen Tanz einer blinden Treffsicherheit der Schritte kommt noch hinzu: die Steigerungsdramaturgie des Fandango, dessen Schritte und Kastagnettenbegleitung mit „größter Genauigkeit“, so Czerwinsky 33, getanzt werden, sich steigernd „bis zum Extrem südlicher Leidenschaft.“ Ein Tanz, an dem alles „Leben und Action“ 34 sei. Goethe macht aus dem Paartanz „Fandango“, der im 18. Jahrhundert als spanischer Nationaltanz (andalusischer Herkunft) galt, ein Solo, mit dem Mignon in ihrer „südländischen“ Fremdheit gleichsam exotistisch und erotisch koloriert wird.35 Die Berichte über diesen Paartanz im 3/4 oder 3/8-Takt, in offener Haltung getanzt, zeigen zumeist eine ambivalente Haltung bezüglich dessen „kaum stilisierter Verwendung erotischer Signale“.36 Charakteristisch ist der Gesten-Reichtum dieses Tanzes, sowie seine einfachen Schrittkombinationen, die nahezu am Platz ausgeführt werden. Hinweise aus Quellen und Conversations-Lexika des frühen 19. Jahrhunderts zeigten, dass der Fandango als Schautanz auch solistisch durch „reisende spanische Tänzer“ 37 in Europa verbreitet wurde, in freien Adaptionen, zu deren berühmtester die Cachucha (aus dem Ballett von Jean Coralli, Le Diable boiteux, 1836) zählte. Es ist jener virtuose Solotanz, der zu den Glanznummern von Fanny Elßler zählte.38
33 | Vgl. Czerwinsky: Geschichte der Tanzkunst, S. 77. 34 | Ebd. 35 | Zum Fandango (Musik- und Tanzgeschichte) vgl. den Artikel von Monika Woitas, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Bd. 3, begr. von Friedrich Blume, hg. von Ludwig Finscher, Kassel [u.a.] 1995, Sp. 308-315. 36 | Ebd., Sp. 309. 37 | Ebd., Sp. 313. 38 | Vgl. dazu in diesem Band meine Ausführungen zu Fanny Elßlers Fuß, in: „Geisterreich“. Räume des romantischen Balletts, S. 180ff
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Im Damen Conversationslexikon von 1834 wird der Fandango romantisiert und mit jener Anekdote überliefert, die in Nachschlagwerken und in der Literatur des Öfteren als Mythos des „spanischen Tanzes“ auftaucht; so z. B. auch in der Tanzgeschichte von Czerwinsky 39. Über den Fandango, Spaniens „reizenden Nationaltanz“ heißt es da: Nur ein Tänzerpaar auf einmal führt den Letztern auf und beginnt im drei Viertel-Tact, anfänglich langsam, sich mit den klappernden Castagnetten begleitend, dann rascher und rascher bis zur lebhaftesten Bewegung, die den Triumph der Liebe bedeuten soll … 40
und weiter: Der Fandango sollte als unsittlich abgeschafft; doch vorher noch von einem eigens niedergesetzten Gerichte geprüft werden. Die geübtesten Tänzer erschienen, und führten den Tanz so lieblich und reizend aus, daß die Richter vom Zauber der Ausführung hingerissen, erklärten: einen solchen Tanz könne man nicht verbieten, er sei zu schön […] Wer ihn nicht selbst in Spanien zu bewundern Gelegenheit hatte, dem wurde er 1834 und 1835 durch die spanische Tänzergesellschaft, welche die bedeutendsten Städte Frankreichs und Deutschlands besuchte, namentlich durch die Kunst der schönen Dem. Serxal und Mad. Dubinon, in allen seinen üppig-graziösen, sinnlich seelenvollen, liebeathmenden Uebergängen und Verschlingungen zur Anschauung gebracht.41
Deutlich wird in diesem Artikel die romantisierende Idee spanischer Folklore und ihrer „südlichen“ Erotik. Dabei ist zudem die Professionalisierung dieses Tanzes (reisende Tänzergesellschaften), die internationale Popularisierung zu erkennen, die auch damit einhergeht, dass der Paartanz zu einem Solo-Tanz herausragender Tänzerinnen wird. Eingang auf die Kunst-Bühne fand der Fandango auch über die Rezeption einer der bekanntesten andalusischen Fandango-Melodien in Christoph Willibald Glucks Oper Don Juan sowie in Wolfgang Amadeus Mozarts Le nozze di Figaro. Vermutlich ist es jener Fandango, auf den 39 | Vgl. Czerwinsky: Geschichte der Tanzkunst. 40 | Vgl. Damen Conversations Lexikon, Bd. 4, hg. im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen von Carl Herloßsohn, Leipzig 1835, S. 65ff. 41 | Ebd.
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Goethes Wilhelm Meister mit der Formulierung „der Tanz, welches der bekannte Fandango“ anspielt. Mit diesem begriffsgeschichtlichen und quellenkundlichen Exkurs zurück zum Wilhelm Meister. Was also hat Goethe mit Mignons Eiertanz erfunden? Wie lässt sich dieser Tanz charakterisieren und kontextualisieren, und welche Dramaturgie erhält er in der Beziehung Wilhelm – Mignon? Goethes „Konstruktion“ von Mignons Eiertanz, die Prägnanz dieser Auftritts-Szene und ihre Dramaturgie in der Beziehung Wilhelm – Mignon soll nun noch einmal aus einer darstellungsästhetischen und poetologischen Perspektive betrachtet werden. Die Inszenierung des Eiertanzes – als intime Auftritts-Szene Mignons vor Wilhelm, als Aufführung eines singulärem Ereignisses, eingeklammert von den Verweigerungen des öffentlichen Auftritts – erhält damit eine herausgehobene Stellung für die erzählerische Figuration der Beziehung Wilhelm – Mignon im Roman.
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UND
GABE
Es lohnt sich, diese Konstellation im Blick auf die Bedeutung von Virtuosität zu betrachten: Die Ambivalenz der Figur des Virtuosen beleuchtet und verstärkt die Ambivalenz der Einstellung Wilhelms zu Mignon. Mignon stammt – soweit es die im Roman disparat gestreuten Spuren ihrer Herkunft erweisen – aus einer italienischen Schausteller-Familie. Ist Mignons Eiertanz eine virtuose Darbietung, oder umgekehrt: eine Darbietung von Virtuosität? Meine These ist, dass die Virtuosität ihres Tanzes sich – vor Wilhelm – zeigt, und dass sie doch zugleich in der „Szene“ und dem Arrangement dieses Auftritts als Virtuosen-Kunst-Stücks dekonstruiert wird. Die Figuration dieses Tanzes tritt dadurch nicht mehr für sich selbst ein, sondern wird zur Allegorie für einen anderen – einen poetischen Kunstbegriff. Zunächst jedoch zur Frage nach der Virtuosität dieses Eiertanzes. Ohne hier im Detail auf die Geschichte des Begriffs und die historischen Erscheinungsformen des Virtuosen näher einzugehen,42
42 | Vgl. Gabriele Brandstetter: Die Szene des Virtuosen. Zu einem Topos von Theatralität, in: Gerhard Neumann [u.a.] (Hg.): Hofmannsthal Jahrbuch zur Europäi-
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seien doch einige Merkmale des Virtuosen-Diskurses angeführt, um die Frage nach diesem besonderen Auftritt Mignons zu beleuchten. Anders als beim Genie, das durch einen emphatischen Begriff der Autorschaft und des Werkes bestimmt ist, zeigt sich das Können und die Kreativität des Virtuosen ganz und gar nur in der Aufführung. Sie existiert allein als das transitorische, an die Situation gebundene Ereignis, das sich zwischen Darsteller und Zuschauer herstellt. Das, was der Virtuose zeigt, ist nicht (oder nicht in erster Linie) die Aufführung eines Werks; sondern er stellt sich selbst als Instrument in einer atemberaubenden körperlichen Leistung aus. Er führt eine Bemeisterung von Schwierigkeiten vor, die sich – anscheinend – nicht allein durch Übung als eine nachvollziehbare Praxis ausweist und erklärbar macht. Goethe führt in den Gesprächen im Wilhelm Meister, über Körper-Darstellung, Schauspiel und (Seil-)Tanz, einen regelrechten Diskurs und Kommentar zur zeitgenössischen Debatte um virtuose Darbietung. So äußert Wilhelm im Gespräch: Hast du es nicht im Zirkel unserer Freunde bemerkt? So oft sich ein Virtuose hören läßt, finden sich immer einige, die sogleich dasselbe Instrument zu lernen anfangen. Wie viele irren auf diesem Weg herum; glücklich, wer den Fehlschluß von seinen Wünschen auf seine Kräfte bald gewahr wird. 43
Nicht allein also die körpertechnische Übung macht den Virtuosen. Es eignet ihm darüber hinaus ein Charisma, eine bezaubernde, ja magische Aura, die Staunen, Bewunderung, Enthusiasmus hervorruft, weil er mit dem, was er vorführt, zugleich ver-führt; und weil das, was er zur Schau stellt, die Grenzen des Menschen-Möglichen zu übersteigen scheint. Die schier unglaubliche Beherrschung des Körpers in der virtuosen Bewe-
schen Moderne, Freiburg i. Br. 2002, S. 213-243. (Wiederabdruck in diesem Band, S. 23-56); Hans Georg von Arburg [u.a.] (Hg.): Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne, Göttingen 2006; sowie Vernon A. Howard: Charm and Speed. Virtuosity in the Performing Arts, New York [u.a.] 2008; Speziell zur Begriffsgeschichte vgl. den Artikel von Ulrich Stadler: Vom Liebhaber der Wissenschaft zum Meister in der Kunst. Über die verworrene Begriffsgeschichte des Virtuosen im England und Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Arburg [u.a.] (Hg.): Virtuosität, S. 19-36. 43 | Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 434.
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gung (und: das Virtuose ist immer ein Bewegungs-Phänomen!) ruft dabei eine häufig ambivalente Bewertung dieses Körper-Technik-Wunders auf: Die Transgression des Menschlichen in der virtuosen „Instrumentwerdung des Menschen“ (H. Heine) evoziert häufig eine Ähnlichkeit mit mechanischer, mit maschinentechnischer Perfektion. Und selten ist, umgekehrt, die Virtuosität an die Entwicklung neuer Techniken und Instrumente gebunden;44 auch Mignons Eiertanz wird mit einem „Räderwerk“ verglichen. Zudem wird die Figur des Virtuosen oft mit Zügen des Mysteriösen aufgeladen. Seine übermenschliche Kunst wird sowohl als eine Engels-Erscheinung beschrieben oder als das dunkle Geheimnis eines Teufelspakts, wie z. B. Paganini. Auch Mignon wird durch eine mysteriöse Aura ausgezeichnet, durch deren Fremdartigkeit sie mehr und mehr als ein „angelisches“ Wesen poetisiert wird – bis zu den Exequien nach ihrem Tod.45 Daraus wird deutlich, dass das Virtuose nicht allein ein exorbitantes darstellerisches Vermögen ist, sondern dass sich dieses Ereignis als ein „unerhörtes“ zwischen Darsteller und Publikum herstellt: ohne dessen Aufmerksamkeit und enthusiastischen Respons gäbe es die Aufladung des Virtuosen und seiner Steigerungsdramatik nicht. Zugleich ist die virtuose Übersteigerung in der Performance immer auch Anlass des Zweifels an diesem Können und seiner Lauterkeit gewesen. Die narzisstische Selbst-Zur-Schau-Stellung, das Brillante, Zirzensich-Bravouröse zieht – im Kontrast zu einer Idee vom „wahren“ Künstlertum, vom Original-Genie und von schöpferischer Innerlichkeit – den Verdacht der Effekt-Hascherei und gar der Scharlatanerie auf sich. Im Diskurs der Goethezeit (sei es im Schauspiel, in der Gesangs- und Instru-
44 | Vgl. Paul Metzner: Crescendo of the Virtuoso. Spectacle, Skill and Self-Promotion in Paris during the Age of Revolution, Berkeley [u.a.] 1998; Howard: Charm and Speed. 45 | Auch in der Mignon-Geschichte gibt es die ‚andere Seite‘ des „teuflisch“-Virtuosen: Im Roman ist die Rede von Mignons Bruder, dem „großen Teufel“, der „tot“ sei und ein exzellenter Akrobat war. Dieser „satanische“ Mythos ist häufig Bestandteil des Bildes des Virtuosen. Vgl. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 451. Vgl. auch Gabriele Brandstetter: Die Szene des Virtuosen (Wiederabdruck in diesem Band).
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mental-Kunst und im Tanz) beherrschen diese Kontroversen zwischen wahrer Kunst und virtuosem Schein, zwischen Ausdruck und bloßer Technik die Debatte der Darstellungsästhetik46, so zum Beispiel wenn Jean-Georges Noverre die „bloß“ technische virtuose Beinarbeit eines Vestris verurteilt und vom Tänzer stattdessen die ausdrucksvolle Bewegung der Arme, des Körpers, der „Mienen“ verlangt.47 Mignon zeigt in ihrem Eiertanz beides: präzis-virtuose Beinarbeit, bis hin zu Sprüngen zwischen den Eiern, und die ausdrucksvolle Bewegung von Körper und Armen im Fandango. Im Wilhelm Meister wird die kontroverse, ästhetische Debatte zwischen Kunst/Genie und Virtuosität immer wieder aufgegriffen, so etwa, wenn Wilhelm bei der Darbietung der Seiltänzer, Springer und Gaukler die Steigerungsdramaturgie in deren virtuoser Risiko-Darbietung lobt, und angesichts der Begeisterung und des Applauses bemerkt:
46 | Vgl. zum historischen Kontext der Darstellungstheorie: Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995; Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Basel 2000; Gabriele Brandstetter: ‚Die Bilderschrift der Empfindungen’. Jean-Georges Noverres Lettres sur la Danse und Friedrich Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde, in: Achim Aurnhammer/Klaus Manger/Friedrich Strack (Hg.): Friedrich Schiller und die höfische Welt. Festschrift für Peter Michelsen zum 65. Geburtstag, Tübingen 1990, S. 77-93; Monika Woitas: Im Zeichen des Tanzes. Zum ästhetischen Diskurs der darstellenden Künste zwischen 1760 und 1830. Herbolzheim 2004; Christina Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld 2009. 47 | So schreibt Noverre über die Arbeit des Tänzers mit technischen Schwierigkeiten, er wolle keinen „zur Arbeit geprügelten Sklaven, […] keinen Artisten“ sehen; stattdessen: „Geben Sie mir nicht Beifall, m. H., daß uns nichts angenehmer ist, als ungezwungene Leichtigkeit? Die Schwierigkeiten können uns nur dann gefallen, wann sie sich mit Zügen des Geschmacks und der Grazie zeigen …“ Vgl. Noverre (1769): Briefe über die Tanzkunst und die Ballette, in: Kurt Petermann (Hg.): Documenta Choreologica. Studienbibliothek zur Geschichte der Tanzkunst, Bd. 15: Noverre, Briefe über die Tanzkunst, mit einem Nachwort v. Kurt Petermann, Leipzig 1977, neunter Brief, S. 166f.
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Welcher Schauspieler, welcher Schriftsteller, ja welcher Mensch überhaupt würde sich nicht auf dem Gipfel seiner Wünsche sehen, wenn er durch irgend ein edles Wort oder eine gute Tat einen so allgemeinen Eindruck hervorbrächte? Welche köstliche Empfindung müßte es sein, wenn man gute, edle, der Menschheit würdige Gefühle eben so schnell durch einen elektrischen Schlag ausbreiten, ein solches Entzücken unter dem Volke erregen könnte, als diese Leute durch ihre körperliche Geschicklichkeit getan haben. 48
Die Übertragungs-Beziehung zwischen Publikum und Virtuose – Aufund Entladung physischer und emotionaler Energien, verglichen dem „elektrischen Schlag“ – wird hier probeweise vom Jahrmarkt der Gaukler und Virtuosen auf die Bühne des Wortes und der „guten, edlen, der Menschheit würdigen Gefühle“ übertragen. Dieses Gedankenspiel bewegt sich exakt im Grenzbereich zwischen der performativen Figur des Virtuosen und dem Künstlergenie des auf Dauer gestellten Wortkunstwerks. Zugleich wird die Plötzlichkeit, der „elektrische“ Schock des Virtuosenstücks, das die Massen hinreißt, dem humanistischen Ideal einer Kunst, die zum Guten und Edlen führt, entgegengesetzt. Und gerade die Überlegung, ob dieses aufklärerische Kunstkonzept sich virtuoser Mittel bedienen könne – ob „ein edles Wort oder eine Gute Tat“ einen ebensolchen Begeisterungseffekt hervorrufen könne wie die „körperliche Geschicklichkeit“ virtuoser Artisten – markiert die unversöhnlichen Gegensätze von idealistischer Ästhetik und populärer Artistik. Mignons Eiertanz entsteht im Milieu von Artistik – im Kontext der Schausteller, Seiltänzer, Gaukler und Springer,49 zu denen sie gehörte, bevor Wilhelm sie „freikauft“. Das heißt, als Kind schon tritt sie auf mit 48 | Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 458f. 49 | Vgl. Sandra Schmidt: Kopfübern und Luftspringen. Bewegung, als Wissenschaft und Kunst in der frühen Neuzeit, München 2008; sowie die Aufsätze von Sandra Schmidt: Zur historischen Anthropologie des Sprungs. Die ‚inventio‘ der Kubistik durch Arcangelo Tuccaro (ca. 1530 bis vor 1616) und dies.: Die Kubistik, beide in: Rebekka von Mallinckrodt (Hg.): Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit, Wolfenbüttel 2008, S. 105-124 und 295-302; sowie den Aufsatz von Rebekka von Mallinckrodt: Leibesübungen, im selben Band, S. 303-316, dort insbesondere S. 311ff. – Vgl. auch Walter Salmens Ausführungen zum „Seiltanz“, in: Salmen: Goethe und der Tanz, S. 123-125.
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ihrem „Kunststück“, in einer öffentlichen Darbietung von Wundern und Sensationen der Körper-Artistik. Der Tanz mit verbundenen Augen ist damit ein Beispiel von Virtuosität, die die körpertechnische Perfektion durch die Erfindung von besonderen Schwierigkeiten zu steigern trachtet: Mignons Tanz zeigt eine blinde Sicherheit der Bewegung, die sich nicht (mehr) auf die visuelle Raum- und Bewegungskontrolle verlassen muss, die Bewegungs-Koordination, räumliches Empfinden und Erinnern, sowie kinästhetische Wahrnehmung in einer staunenswürdigen Weise verbindet – ein Tanz, der Leichtigkeit, Spiel und Grazie zum Ausdruck bringt. Die verbundenen Augen setzen dabei umso mehr den Körper der Tänzerin und jede ihrer Bewegungen dem Blick des Zuschauers aus: Der innerliche, verinnernde Akt des Augenschließens kreiert eine auratische, Präsenz der Tanzenden, die – blind – das improvisatorische Spiel der Schritte als Spiel mit dem Unvorhersehbaren inszeniert. Das Publikum wird zum Voyeur. In E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Zusammenhang der Dinge wird dieses Risiko-Spiel des Unvorhersehbaren mit lauten Ausrufen der Zuschauer begleitet. Der Fandango der Tänzerin wird immer leidenschaftlicher, „so daß sie beinahe einer Mänade glich: haardicht bei den Eiern setzte sie zuweilen fest und bestimmt den Fuß auf, so daß die Zuschauer oft sich eines lauten Schreies nicht erwehren konnten, meinend, nun sei eines von den zerbrechlichen Dingern zerstoßen.“ 50 Anders in der Auftritts-Szene Mignons vor Wilhelm Meister: Die Virtuosität des Eiertanzes zeigt sich zwar in der körpertechnischen Darbietung – ihr Exzess, die Überbietung von Schwierigkeiten, das Risikospiel mit den zerbrechlichen Eiern bietet sich jedoch nicht einem staunenden Publikum dar und es sucht nicht den Applaus. Das blinde „Sich-Zeigen“ in diesem Tanz wird von einem „Auftritt“ – einem Auftritt als Darbietung von Können – zu einer Darbietung ihrer selbst: Sie „zeigt“ nicht, narzisstisch, sich; sondern sie gibt (sich). Der Eiertanz ist das einzige, was sie hat – ein Vermögen, das sie der Szene des Virtuosen (dem öffentlichen Auftritt vor Publikum) entzogen hat und nun – als Gabe – vor dem einzigen Zuschauer, dem diese Performance gilt, zeigt und entfaltet. Wiewohl der „Tanz“ als virtuoses Körper-Geschicklichkeitsspiel „derselbe“ bleibt,
50 | Vgl. E.T.A . Hoffmann: Der Zusammenhang der Dinge, in: ders.: Werke, Bd. 3: Die Serapions-Brüder, hg. mit einem Nachwort v. Walter Müller-Seidel und Anmerkungen von Wulf Segebrecht, München 1963, S. 876-923, hier: S. 878.
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durchläuft er doch eine denkwürdige Inversion, die sich von der eingangs schon erläuterten Rahmen-Verschiebung von der Öffentlichkeit in die Intimität eines zwischen Ich und Du geteilten Raumes verlagert. Die Virtuosität wendet sich gegen sich selbst. Durch eine aus dieser einen Performance herausgetriebenen De-Figuration der Virtuositäts-Parameter wird sie zu einer anti-virtuosen Szene. Der Eiertanz wird zu einer persönlichen Geste – vergleichbar jenen Gesten, die Mignon jeweils für bestimmte Situationen und Personen erfindet. Eine Geste der Hingabe. Mignons Wort und Handeln – ihre Aussage, sie wolle „dienen“ – erhält aus dem Auftritt des Eiertanzes eine spezielle Beleuchtung. Es ist ihr Weg aus dem Theatralen ins Soziale, wie Wilhelms Bildungsweg, der hier gleichsam in Choreographie übersetzt erscheint. Die blinde, die traumwandlerische Sicherheit der Bewegung zwischen zerbrechlichen Gebilden gibt diesem Tanz – im Kontext des Romans – eine doppelte Verweis-Struktur. Mignon ist es, die dem (Wilhelm) „Meister“ dienen möchte – und doch erweist sie sich Wilhelm Meister gegenüber als „Meisterin“, denn sie ist es, die ihm zeigt, wie sich der Weg vom Virtuosen der öffentlichen Bühne zum „Meister“ des Sozialen, zum Handeln des Alltags und der Arbeit entfalten wird. Mignons Appell, Wilhelm möge auch nicht mehr zum Theater gehen, ist weniger als pauschale Kritik am Theater zu verstehen. Vielmehr erschließt sich daraus eine Deutung des Eiertanzes: Der „blinde Tanz“ als eine spontane, einmalige, improvisierte und intime Darbietung vor Wilhelm – als Gabe – wird zu einer Allegorie der Unverfügbarkeit:51 51 | Es wäre einer weitergehenden Überlegung im Kontext von Bildung, Übung und Schau-Darstellung wert, Mignon als Figuration des Bildungs-Konzepts des „Wilhelm Meister“ zu betrachten. Im Gegensatz zu Petra Leutner, die in Mignon „das Gegenteil von Bildung, schlimmer noch: die Unbildbarkeit“ (S. 91) verkörpert sieht, interpretiere ich Mignons Auftritt und ihre Geschichte als Verkörperung eines anderen, heterogenen Konzepts von Bildung. Ihre virtuose und bewegungsbetonte Körperlichkeit, ihre Stockungen in der Sprache, ihre Musikalität und schließlich ihre Herzens-Bildung – „Ich bin gebildet genug, um zu lieben und zu trauern“ – entwickeln sich jenseits klassischer Bildungsprogramme. Eben darin und in ihrer uneindeutigen sexuellen Identität liegt ihr Rätsel. Vgl. Petra Leutner: Goethes Gestalten Mignon und Helena, in: Matthias Luserke (Hg.): Goethe nach 1999. Positionen und Perspektiven, Göttingen 2001, S. 89-99. Ingrid Broszeit-Rieger liest in anderer Weise allegorisch „Mignon’s egg dance as an allegorical function of Wilhelm Meisters Lehrjahre.“ (Broszeit-Rieger: Practice and Theory of Dance in
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der Unverfügbarkeit der ephemeren Bewegung, der Unverfügbarkeit der Hingabe, der Unverfügbarkeit des Anderen. Ein Schaustück der Virtuosität, der Eiertanz, wird damit umbesetzt, in einem re-enactment des Kunststücks: in seiner Übertragung von der effektvollen Nummer im öffentlichen Programm der Schausteller in ein intimes Theater, in dem der Eiertanz in einem Raum der Innerlichkeit zu einem Unterpfand der Liebe und des Vertrauens wird. Goethes Reflexionen eines Diskurses über „Bildung“ im Wilhelm Meister öffnet einen Raum für Heterogenität – verkörpert durch Mignon, ihre individuelle Bewegungs-Sprache, die Fremdheit ihrer Aura, ihrer rätselhaften Herkunft. Gemeinsam mit der Figur des Harfners, durch Lieder und Gesänge und Tanz verkörpert Mignon im Wilhelm Meister-Roman eine Figur des Geheimnisses und der Poesie. Die Wirkungsgeschichte von Mignons Eiertanz, sowohl im Tanz als auch in der Literatur, setzt unterschiedliche Akzente in der Referenz auf das Tanzszenario bei Goethe: einige der Texte (und der tänzerischen Adaptionen) betonen die Disziplinarfigur der (körperlichen) Geschicklichkeit und der virtuosen Beherrschung einer (künstlerischen) Technik – wie z.B. Heinrich Heine; andere konzentrieren sich auf die Faszination des Erotischen und Fremden der zwischen den Eiern tanzenden FandangoTänzerin – wie etwa E.T.A. Hoffmann; und wieder andere, wie z.B. Clemens Brentano, aber auch zeitgenössische Choreographien eines „Eiertanzes“, spielen mit der Ambivalenz zwischen Technischem – als „Kunstfigur“ – und Poetischem. Der Eiertanz als virtuoses Spektakel, wurde im 19. Jahrhundert geradezu zu einem Übungs-Szenario. Darin bestätigt sich einmal mehr,
Goethe’s ‚Meister‘, S. 303). Sie analogisiert Sprache und Tanz: „Therefore, words as well as eggs can be described as pools of material in which all elements are metonymic, that is, of no hierarchical order, before they are chosen for a specific position within a context that is created when language is used practically or eggs are handled purposefully.“ (ebd., S. 312). Diese Analogisierung von Sprache und (Eiertanz-)Choreographie versetzt (Tanz-)Bewegung und Sprache in eine linguistische Matrix. Demgegenüber interpretiere ich Mignons Eiertanz, in seiner Rahmenverschiebung vom theatralen öffentlichen virtuosen Artisten-Schaustück zum intimen Ritual als Gabe, als eine Allegorie der Unverfügbarkeit als/in der Beziehung von Mignon und Wilhelm.
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dass die Körperbeherrschung von technischen Schwierigkeiten und ihre Steigerungen zum Setting der Produktion von virtuoser Performance gehören. So erfahren wir, dass schon 1801 die Performance des „egg dance“ in London, am Sadlers Wells Theater zum Programm gehörte und deutlich verkompliziert wurde.52 Für das Royal Corps de ballet in Kopenhagen wurde der Eiertanz sogar als ein Training eingeführt: „First a man, then a woman, and finally a couple, had to dance between a fixed number of eggs laid out on the floor, without breaking them.” 53 Mignons rätselhafte Herkunft, ihre musische, poetische Gestalt macht sie zu einer Schlüssel-Figur des Heterogenen, die in der Literatur der Romantik Fortschreibungen und Vervielfältigungen hervorbringt. Bekannt – und gut erforscht – sind die Mignon-Rollen-Spiele Bettina von Arnims.54 Mignons Eiertanz hingegen wurde im ästhetischen und poetischen Programm der Romantiker in durchaus gegensätzlicher Weise rezipiert. Eine Überschneidung zwischen der Figur des Virtuosen und dem Eiertanz findet sich bei Heinrich Heine in Die Bäder von Lucca.55 Er verwen-
52 | Vgl. Newall: The Egg Dance, S. 36: Newall bezieht sich auf Strutt’s Sports and Pastimes of the People of England (1801) und zitiert: „This performance was common enough about 30 years back, and was well received at Sadlers Wells; where I saw it exhibited, not by simply hopping round a single egg, but in a manner that much increased the difficulty. A number of eggs, I do not precisely recollect how many, but I believe about 12 or 14, were placed at certain distances marked upon the stage; the dancer, taking his stand, was blindfolded, and a horn-pipe being played in the orchestra, he went through all the paces and figures of the dance, passing backwards and forwards between the eggs without touching one of them.“ 53 | Vgl. ebd. S. 37. 54 | Vgl. Bettina v. Arnims Beschreibung einer Phantasie, wie sie vor Goethe tanzt, die Mignons Eiertanz nachempfunden ist; darauf weist hin: Klaus F. Gille: Der anmutige Scheinknabe. Bettina von Arnim und Goethes Mignon, in: Heinz Härtl, Hartwig Schulz (Hg.): „Die Erfahrung anderer Länder“: Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim [vom 18. bis 21. Dezember 1992], Berlin [u.a.] 1994, S. 271-285, hier S. 280f. 55 | Vgl. Heinrich Heine: Die Bäder von Lucca, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr; Bd. 7/1, Reisebilder III/ IV, bearbeitet v. Alfred Opitz, Hamburg 1986, S. 81-152, hier: S. 134ff.
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det den Begriff in seiner übertragenen Bedeutung; „Eiertanz“ wird zum Bild für eine leere Performanz virtuoser Rhetorik und Verse-Schmiede, in einer scharfen Parodie auf August von Platens „Ghaselen“-Dichtung: Der gewöhnliche Leser halte „die Glätte, Zierlichkeit und Politur jener Verse des Grafen für etwas Leichtes“ und er ergötze sich an der glatten Wortspielerei […], wie man sich bei Kunstspringern, die auf dem Seile balanziren, über Eyer tanzen und sich auf den Kopf stellen, ebenfalls einige Stunden amüsirt, ohne zu bedenken, daß jene armen Wesen nur durch jahrelangen Zwang und grausames Hungerleiden, solche Gelenkigkeitskünste, solche Metrik des Leibes erlernt haben. Ich, der ich mich in der Dichtkunst nicht so sehr geplagt, und sie immer in Verbindung mit gutem Essen, ausgeübt habe […] will von ihm rühmen, daß kein Seiltänzer in Europa so gut wie er auf schlaffen Gaselen balanzirt, daß keiner den Eyertanz über
u.s.w. so gut exekutirt wie er, daß keiner sich so gut wie er auf den Kopf stellt. […] Ungleich dem wahren Dichter, ist die Sprache nie Meister geworden in ihm, er ist dagegen Meister geworden in der Sprache oder viel mehr auf der Sprache, wie ein Virtuose auf einem Instrumente. Je weiter er es solcherart im Technischen brachte, desto größere Meinung bekam er von seiner Virtuosität.“ 56
Heine vergleicht Platen hier mit Paganini, auf dessen legendäres Spiel auf nur einer Saite, der G-Saite, anspielend: er [Platen] wußte ja in allen Weisen zu spielen, versifizierte ja die schwierigsten Passagen, er dichtete, so zu sagen, manchmal nur auf der G-Saite, und ärgerte sich, wenn das Publikum nicht klatschte. Wie alle Virtuosen, die solch einsaitiges Talent ausgebildet, strebte er nur nach Applaudissement ,57
56 | Ebd., S. 138f. 57 | Ebd., S. 139.
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und Heine endet sein satirisches Platen-Portrait erneut mit dem Bild des Eiertanzes: Denn auch „wenn er in seinen Oden noch so vortrefflich den Eyertanz exekutiert […] – so ist er doch kein Dichter.“ 58 Heines „Eiertanz“-Parodie auf die metrische Verse-Schmiede-Virtuosität Platens (die dennoch keine „Dichtung“ sei), ist Teil seiner ausgreifenden Kritik am Virtuosentum, das er in Paris – in der Musik – beobachtete und in der Lutezia beschrieb.59 Clemens Brentano hingegen integriert ein Zitat aus Goethes Wilhelm Meister – Mignons Eiertanz – in sein Märchen von Gockel Hinkel und Gackeleia. In der Geschichte um den Zauber der Kunstfigur erhält der Eiertanz eine herausgehobene Stellung: dieser wird im Rahmen eines großen Osterfestes von der königlichen Familie getanzt; die Eier sind selbstverständlich nicht einfach Hühnereier sondern „hundert vergoldete Pfaueneier, in zehn Reihen gelegt“ zwischen denen die „hohen Herrschaften“ mit verbundenen Augen tanzen: Bei der Eierburg waren viele Menschen auf einer grünen Wiese versammelt, wo getanzt und gespielt wurde um Eier; denn es war Ostern, und das große Osterfest des Ostereierordens. Man lief und sprang um die Wette nach aufgestellten Eiern, man warf mit Eiern nach Eiern, man stieß mit Eiern gegen Eier, und wessen Ei eingeknickt wurde, der hatte verloren. Die Kinder von ganz Gelnhausen suchten Eier, welche der königliche geheime Oberhof-Osterhas in versteckten Winkeln ins hohe Gras gelegt hatte; kurz die Freude war allgemein. Bei Gockels Ankunft war das Volk in einem weiten Kreis unter dem Baume versammelt, auf welchem die königlichen Hofmusikanten und die Gelnhauser Stadtpfeifer einen herrlichen Tanz aufspielten, nämlich den Eiertanz, den die königliche Familie mit der Ranggräflichen in höchsteigener Person tanzen wollte. Auf einem köstlichen Teppich wurden hundert vergoldete Pfaueneier, immer zehn und zehn, in Reihen gelegt. Nun trat die Königin Eilegia zu Gockel und verband ihm die Augen mit einem seidenen Tuch,
58 | Ebd. 59 | Vgl. Gabriele Brandstetter: Die Szene des Virtuosen, in: Neumann (Hg.): Hofmannsthal Jahrbuch zur Europäischen Moderne, S. 216 (Wiederabdruck in diesem Band, S. 23-56); sowie Michael Gamper: Der Virtuose und das Publikum. Kulturkritik im Kunstdiskurs des 19. Jahrhunderts, in: Arburg [u.a.] (Hg.): Virtuosität, S. 60-82, hier S. 67ff.
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und er tat dasselbe; ebenso verbanden der König Eifrasius und Frau Hinkel, und der Prinz Kronovus und Gackeleia sich die Augen und wurden nun von den Hofmarschällen auf den Eierteppich geführt, auf welchem sie mit den zierlichsten Schritten, Sprüngen und Wendungen zwischen den Eiern herumtanzen mußten, ohne auch nur eines mit den Füßen zu berühren. Die Zuschauer sahen mit gespannter Aufmerksamkeit ganz stille zu und bewunderten die erstaunliche Agilität der hohen Herrschaften.60
Dieser Eiertanz endet mit einem Einbruch: Die durch einen Zauberring bewirkte Pracht der Kleider, beim Auftritt von Gockel, Hinkel und Gackeleia fällt plötzlich von ihnen ab: Sie stehen da in schäbigen Kleidern. Die Desillusionierung bricht den „Zauber“ des virtuosen Tanzes – wie am Ende der Geschichte von Des Kaisers neuen Kleidern. Virtuoser Schein zerbricht: mit den zertretenen Eiern im allgemeinen Tumult. In ganz anderer Weise als in Goethes Wilhelm Meister wird der Eiertanz zu Allegorie der Kunst. Brentanos Gockelmärchen ist zentriert um einen Taschenspielertrick, durch den eine mechanische Puppe lebendig scheint, als eine „Kunstfigur“, ein „schnurrendes Apparätchen“, dessen Bewegungen mit ähnlichem Vokabular erzählt werden, wie Mignons einem „Räderwerk“ gleichende Tanzschritte zwischen den Eiern. Verschiedentlich ist Brentanos Geschichte dieser „Kunstfigur“ als Allegorie der Dichtung gelesen worden.61 Ein drittes Beispiel romantischer Umbesetzung des Eiertanzes findet sich bei E.T.A. Hoffmann, in den Serapionsbrüdern. In seiner Erzählung
60 | Vgl. Clemens Brentano: Das Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia, in: ders.: Werke, hg. von Wolfgang Frühwald und Friedhelm Kemp, Bd. 3, (2. Aufl.), München 1978, S. 617-930, hier S. 734; die hier zitierte Spätfassung des Gockelmärchens enthält in der Eiertanz-Szene eine markante Abweichung von der frühen Fassung des Märchen von Gockel und Hinkel (ebd., S. 484-565). Dort wird am Ende der Szene der Blick der Zuschauer auf die Tanzenden nicht als Bewunderung der „erstaunlichen Agilität“ der Herrschaften bezeichnet, sondern als „Geschicklichkeit“ (S. 535). Damit ist eine semantische Verschiebung vom artistisch-virtuosen zum politischen Handeln angedeutet. 61 | Vgl. Monika Schmitz-Emans: Eine schöne Kunstfigur? Androiden, Puppen und Maschinen als Allegorie des literarischen Werkes, in: arcadia 30/1, (1995), S. 1-30, hier S. 7ff.
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Der Zusammenhang der Dinge 62 wird der Eiertanz zum Herzstück der Geschichte. Es ist ein romantisierter Eiertanz: der Fandango einer jungen Spanierin namens Emanuela und ihres düsteren, verwachsenen, „Chitarre“ spielenden Begleiters. Der Tanz und die Tänzerin werden ausführlich und enthusiastisch beschrieben: Der Erzähler, (der Serapionsbruder) Sylvester, setzt den Eiertanz, einen Fandango der jungen Spanierin Emanuela an den Beginn der Geschichte – und gibt eine Reprise dieses Auftritts am Ende. Zur Dramaturgie der Erzählung gehört dabei auch, dass Tanz und Erzählung, Tanzen und erzählter Tanz ins Spiegelverhältnis gesetzt sind – und zwar dergestalt, dass der Bezug auf Goethes Wilhelm Meister in Zitatform, als Kontrafaktur, erscheint. Die Geschichte beginnt mit einem Gespräch der im Park spazierenden Freunde Ludwig und Euchar, in dessen Verlauf Ludwig seine Sicht des „Zusammenhangs der Dinge“ darlegt; Er leugnet die Möglichkeit eines Zufalls, huldigt einem mechanistisch-deterministischen Weltbild: „…das ganze Weltsystem mit allem, was sich darin begibt, der ganze Makrokosmos gleicht einem großen künstlich gefügten Uhrwerk …“ 63 In jenem Moment, in dem die Freunde über dieses veraltete Weltbild streiten (dem Euchar das Bild vom „roten Faden“ aus Goethes „Wahlverwandtschaften“ entgegenhält), stolpert Ludwig über eine Baumwurzel, so unglücklich, dass die Freunde genötigt sind, in das nächste Wirtshaus einzukehren, um Ludwig zu verbinden. Während er verarztet wird, folgt Euchar dem Klang von Gitarre und Tambourin und gewahrt ein „Schauspiel, das seltsam und anmutig zugleich, seinen ganzen Sinn gefangen nahm.“ 64 In der Mitte des Kreises tanzte ein Mädchen mit verbundenen Augen zwischen neun Eiern, die zu drei und drei hintereinander auf dem Boden lagen, den Fandango, indem sie das Tambourin schlug. Zur Seite stand ein kleiner verwachsener Mensch mit hässlichem Zigeunergesicht, und spielte die Chitarre. Die Tänzerin schien höchstens fünfzehn Jahre alt, sie ging fremdartig gekleidet, im roten goldstaffierten Mieder, und kurzem weißen, mit bunten Bändern besetzten Rock. Ihr Wuchs, jede ihrer Bewegungen war die Zierlichkeit, die Anmut selbst. Sie wußte dem Tambourin, das sie bald hoch über dem Kopfe, bald mit in malerischer Stellung ausgestreckten Armen seitwärts, bald vor sich hin, bald hinter den Rücken 62 | Vgl. Hoffmann: Der Zusammenhang der Dinge. 63 | Ebd., S. 876. 64 | Ebd., S. 877.
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hielt, wunderbar mannigfaltige Töne zu entlocken. Zuweilen glaubte man den dumpfen Ton einer in weiter Ferne angeschlagenen Pauke, dann das klagende Girren der Turteltauben, dann wieder das Brausen des nahenden Sturmes zu vernehmen; dazu dazu erklangen die wohlgestimmten hellen Glöckchen gar lieblich. Der kleine Chitarrist gab dem Mädchen in der Virtuosität des Spiels nichts nach, denn auch er wußte sein Instrument auf ganz eigene Weise zu behandeln, indem er die eigentliche Melodie des Tanzes bald klar und kräftig hervortreten, bald, indem er nach spanischer Weise mit der ganzen Hand über die Saiten fuhr, verrauschen ließ, bald volle helle Akkorde anschlug. Immer stärker und mächtiger sauste das Tambourin, rauschten die Saiten der Chitarre, immer höher wurden die Wendungen, die Sprünge des Mädchens; haardicht bei den Eiern setzte sie zuweilen fest und bestimmt den Fuß auf, so daß die Zuschauer oft sich eines lauten Schreies nicht erwehren konnten, meinend, nun sei eines von den zerbrechlichen Dingern zerstoßen. Des Mädchens schwarze Locken hatten sich losgenestelt, und flogen im wilden Tanz um ihr Haupt, so daß sie beinahe einer Mänade glich. ‚Endige!‘ rief ihr der Kleine auf spanisch zu. Da berührte sie tanzend jedes der Eier, so daß sie in einem Haufen zusammenrollten; dann aber mit einem starken Schlag auf das Tambourin, mit einem mächtigen Akkord der Chitarre, blieb sie plötzlich stehen wie festgezaubert. Der Tanz war geendet. 65
Das Goethesche Vorbild ist exotisiert, erotisiert: Das Fremdartige der Tänzerin besteht nicht in einer Uneindeutigkeit des Geschlechts und der Herkunft – wie bei Mignon, die Goethe in den Wanderjahren „der anmutige Scheinknabe“ nennt 66 – sondern in erotischer Weiblichkeit und dem kulturellen Imaginärem, das die „Spanien“-Mode in Tanz und Musik Anfang des 19. Jahrhunderts als Kolorit des Fremdartigen verkörpert.67 Der Eiertanz, sein virtuoses Spiel mit Blindheit, Körper-Technik, Unvorhersehbarkeit der Bewegung, Risiko und Leichtigkeit der Bewegung wird hier zur Schlüsselfigur für die philosophischen Debatten der Freunde Euchar und Ludwig um die Bedeutung von blindem Zufall und
65 | Ebd., S. 877f. 66 | Vgl. Gille: Der anmutige Scheinknabe, S. 277. 67 | Zur Bedeutung des „Spanischen“ für das Ballett im 19. Jh. vgl. den Aufsatz von Nicole Haitzinger, Gabi Vettermann und Claudia Jeschke: ‚Les Choses espagnoles’, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2, München 2007, S. 137-193; speziell zum Fandango vgl. dort S. 153f.
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vorherbestimmtem Schicksal – ironisch gebrochen in den Rollen-Spielen, in denen Ludwig der Tänzerin die Rolle Mignons zuschreibt, und sich selbst die Rolle Wilhelm Meisters, der die Tänzerin „rettet“. Der zitierte, der erzählte Eiertanz Mignons wird zum Shibholeth für die Verwicklungen der Geschichte, die Szenarien des blinden Zufalls – und der überraschenden Wendung des Endes. Mignons Eiertanz findet neue Szenen, nicht nur in der Geschichte der Literatur, sondern auch im zeitgenössischen Tanz. In dem Tanztheaterstück des Choreographen Wim Vandekeybus mit dem Titel Immer dasselbe gelogen (1991) 68 findet ein „Eiertanz“ in einer besonderen Weise statt – ein riskantes Spiel mit der Zerbrechlichkeit: In einer langen Sequenz tragen, stapeln und werfen die Tänzerinnen und Tänzer eine große Zahl Kartonpaletten mit Eiern – in einem extrem schnellen Bewegungsablauf mit akrobatischen Sprüngen, Würfen und Drehungen. Dazwischen schwingen Tänzerinnen in großen Hängematten wie Geschosse knapp über die Eierpaletten. Ab und zu geht eines der Eier zu Bruch. Das riskante Bewegungs-Spiel wirft dennoch die Frage auf: echt oder falsch? Sind alle Eier „roh“, ist es eine Risiko-Dramaturgie oder ein inszenierter Zufall, dem die Tanzperformance und ihre „Brüche“ unterliegen? 69 Ein anderes Beispiel aus dem zeitgenössischen Tanz zeigt Tänzer und Tänzerinnen des Masterstudiengangs Choreographie des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin bei einer Aufführung 2008: 70
68 | Wim Vandekeybus & Ultima Vez: Immer dasselbe gelogen, 1991, Choreographie: Wim Vandekeybus. Die Uraufführung fand im Rahmen des Sommer SZENE Festivals in Salzburg im Juli 1991 statt. 69 | Vgl. dazu Gabriele Brandstetter: ‚Fälschung wie sie ist, unverfälscht’. Über Models, Mimikry und Fake, in: Andreas Kablitz, Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation. Festschrift für Rainer Warning zum 60. Geburtstag, Freiburg i. Br. 1998, S. 419-449, hier S. 448f. 70 | Schulvorstellung des Masterstudiengangs Choreographie des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin vom 27. und 28. 02. im Rahmen der 1. Biennale 2008 in Berlin.
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Abb. 3 und 4: Schulvorstellung des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin, Masterstudiengang Choreographie, Berlin 2008
Findet hier überhaupt ein Eier-Tanz statt? Es fehlt – gemäß der von Goethes Darstellung besetzten Vorstellung von diesem Tanz – die blinde, rasche, virtuose Bewegung zwischen den ausgelegten Eiern. Eher ist es ein Gehen, sehr vorsichtig, auf rohen Eiern. Beiden Experimenten gemeinsam ist jedoch das Spiel mit der Zerbrechlichkeit der Eier – eine materielle und situative Gegebenheit also, die umso mehr die Kontrolle des Körpers und die Geschicklichkeit der Bewegung herausfordert. Der „Eiertanz“ der Berliner Choreographie-Studenten, ihr „Gehen“ auf Eiern, macht auf ein besonderes Merkmal des Tanzens ganz allgemein aufmerksam: das Spiel mit der Balance, die Verlagerung des Schwerpunkts im Fuß und im Körper, die mit jedem Schritt eine kinästhetische Modulation, die durch den ganzen Körper geht, erfordert. Und es erhebt sich auch hier die Frage, ob es sich um ein Spiel mit der Illusion handelt: Sind die Eier unter den Schuhen „echt“, roh? Ein theatrales Spiel mit der
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Illusion/Desillusion des Zuschauers, das freilich rasch verschoben wird. Die Materialität der Objekte selbst und diejenige der Körperbewegung werden zum Thema. Als ein letztes Beispiel eines „Eiertanzes“ sei die Choreographie Meine Mischpuche (Berlin 2008) von Zufit Simon genannt. Die Idee von Mignons Eiertanz, als Darbietung einer virtuosen Bewegung zwischen den zerbrechlichen Eiern, scheint hier völlig aufgegeben. Dennoch zeigen sich verbindende Elemente (siehe Abb. 5-8). Die Konzentration auf das Muster eines minutiös mit Hunderten von (Plastik-?)Eiern ausgelegten Tanzbodens macht deutlich, wie Choreographie von Bewegung jeden Schritt als „riskante“ Entscheidung zu präsentieren vermag: als ein Spiel in Zwischenräumen und als (Zer-)Störung einer Ordnung der Patterns. Nicht das virtuose Solo eines Eiertanzes wird hier demonstriert, sondern die gemeinschaftliche Bewältigung einer zerbrechlichen Situation, in einer Balance, die das Unvorhersehbare der Bewegung beim Gehen auf den Eiern im Blick auf den Anderen erfährt. 71 Abb. 5 -8: Meine Mischpuche, Choreographie: Zufit Simon, Berlin 2008
71 | Meine Mischpuche, Choreographie: Zufit Simon; Uraufführung: 28. 08.2008 in Berlin, im Rahmen des Festivals Tanz im August.
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„Geisterreich“ Räume des romantischen Balletts Gabriele Brandstetter
Das Motto, das ich den folgenden Überlegungen voranstellen will, stammt von Novalis und es schneidet einen Rahmen aus für jenen Raum, der in vielerlei Hinsicht ein bevorzugter romantischer Raum ist: nämlich das „Geisterreich“. „Der Geist“, so schreibt Novalis, „erscheint immer nur in fremder, luftiger Gestalt“.1 Solche Geistererscheinungen und ihre Räume sollen im Folgenden aus der Perspektive von Choreographie und Tanz betrachtet werden. „Geister-Räume“ sind ein Topos in der Philosophie und in der Literatur der deutschen Romantik. Die Ausfaltung und die Übertragung dieses Topos in ein anderes Medium – in den Tanz und in die Theaterräume der Metropolen Paris, Wien, Berlin, Mailand und St. Petersburg – ist Thema der hier angestellten Überlegungen. Dabei ist das Thema „Romantische Räume“ unter doppelter Perspektive betrachtet: Vor dem Hintergrund von Gaston Bachelards Poetik des Raumes sollen Interferenz-Räume, die mit der Kollision und Durchdringung von dualen Weltund Ordnungsmodellen, die aus der Kultur und der Literatur stammen – z. B. christliche und heidnische Sphäre, religiöse und naturmagische („Elementargeister“) Dimension – daraufhin betrachtet werden, wie sie in und durch Tanz, mit den Mitteln des Romantischen Balletts hervorgebracht, gestaltet und verwandelt werden. Romantischer Dualismus, wie er sich in der romantischen Literaturtheorie als Polarität von Endlichem und Unendlichem, von Volks- und 1 | Novalis: Schriften, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, hg. von R. Samuel i. Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz. München u. Wien 1978, S. 429.
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Kunstpoesie, von bürgerlichem Leben und Poesie in den Dichtungen etwa eines Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann und Friedrich de la Motte-Fouqué ausfaltet, wird auch zum Strukturmerkmal der Topik des Romantischen Balletts. Ich verwende hier den Begriff Topik, weil es sich tatsächlich um eine Konstruktion von Räumen handelt, durch die literarische Topoi romantischer Räume inszeniert werden – eine Übertragung also aus der Literatur in Topographien der Theaterwelt mit den Mitteln des Tanzes. Schon Novalis versetzt diesen Geisterraum in einen Raum, dessen Figuren buchstäblich als Revenants einer fremden, unverständlichen und unübersetzbaren Sprache auftreten: „Ehemals war alles Geistererscheinung. Jetzt sehen wir nichts als todte Wiederholung, die wir nicht verstehn. Die Bedeutung der Hieroglyfe fehlt […]“.2 Zum Zeitpunkt, als das romantische Ballett mit den ersten Stil prägenden Choreographien auf der Bühne des 19. Jahrhunderts erscheint, ist dieser Gedanke von Novalis bereits durch die Perspektive Heines gebrochen. Warum? Auch die Theatralisierung des romantischen Geisterreichs, seine Hervorbringung als Bewegung des Tanzes, besitzt Züge einer Inszenierung im Sinne von Heines Romantischer Schule. 3 Hier wird das Romantische selbst, die Unauflösbarkeit der Widersprüche, zum Thema einer Ästhetik des Flüchtigen. Die Bilder, die Gestalten und die Räume, die in diesen romantischen Balletten auf die Bühne treten, sind solche Wiedergänger. Es sind Wiederholungen der Geistererscheinungen im Sinne von Novalis: Gespenster und Revenants, Totenbilder einer romantischen Weltsicht am Übergang in eine andere politische Ära – die des Vormärz und seiner Medienöffentlichkeit. In Paris sind es Heinrich Heine und Théophile Gautier, die als Produzenten dieser öffentlichen Räume schreiben; insbesondere über Tänzerinnen als jene Geisterwesen, die die Bühne des romantischen Balletts bevölkern: Marie Taglioni, Carlotta Grisi, Fanny Elßler, Fanny Cerrito, Lucile Grahn und andere. In seinem Text Die Elementargeister 4 (1837), der – vermittelt über Théophile Gautier – zur Quelle für die „Wili“-Sage des Balletts Giselle wurde, betont Heine die literarische Genealogie dieses Geisterreichs: als 2 | Ebd., S. 545. 3 | Heinrich Heine: Die romantische Schule, erschienen zuerst auf Französisch 1833, dann erst auf Deutsch 1836. 4 | Heinrich Heine: Die Elementargeister, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, herausgegeben von Manfred Windfuhr (Düsseldorfer Ausgabe), Band 9, bearbeitet von Ariane Neuhaus-Koch, Hamburg 1987, S. 9-65.
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ein Raum der Poesie. So sind Die Elementargeister auch als Buch über die Paracelsus-Rezeption und über die romantische Auffassung des Wahnsinns zu lesen. All jene Elementargeister, die in den Volkssagen leben und durch Paracelsus in ein „systema naturae“ eingeteilt sind, werden bei Heine aufgerufen: Die Luftgeister, die Elfen insbesondere, seien Wesen, die aus der Literatur stammen, die „allein schon durch Shakespeare unsterblich“ seien. „Sie leben ewig im ‚Sommernachtstraum‘ der Poesie“.5 Die Idee einer solchen Szenographie eines Geisterreiches ist paradox: Wie lässt sich die Hervorbringung einer Topographie romantischer Räume im Ballett beschreiben? Ihre Produktion durch Bewegung? Sie operiert mit der Inszenierung von Absenz und Latenz: Die Poesie dieser Räume verlangt eine Choreographie von Unsichtbarem und von Unsichtbarkeit – die Darstellung einer Unsichtbarkeit, die durch den Tanz ins Sichtbare gehoben wird und die sich Schritt für Schritt, als magische Sphäre des Romantischen, als „Pas“, zeigt und wiederum verflüchtigt. Diese Sphäre wird abgesteckt und in den Raum gezeichnet durch den Fuß der Ballerina: Der Fuß wird zur Feder (zum Schreibinstrument) dieser Raum-Schrift; und er erscheint zugleich als Figur sowohl der Körperlichkeit als auch des Sylphisch-Unkörperlichen der Frau. Der Fuß der Tänzerin wird zum Symbol des Begehrens, und er avanciert – im MedienGeister-Raum – zum Fetisch solcher „rites de passages“ in romantische Räume. Dies möchte ich am Ende meiner Überlegungen am Kult um Fanny Elßler zeigen. Wie geschieht die Übertragung von Text in Tanz? Théophile Gautier schreibt 1838 anlässlich der Wiederaufnahme des Balletts La Sylphide an der Opéra in Paris – eine Wiederaufnahme, in der nicht mehr die Schöpferin dieser Rolle, Marie Taglioni, sondern ihre Konkurrentin, Fanny Elßler den Part übernahm: „It appears that writing for the legs is the most difficult form of literature, for no one has ever managed to make success of it.“ 6 Gautier selbst freilich war beim Schreiben für die Füße der Ballerina sehr erfolgreich. Er feierte sie nicht nur als enthusiastischer Rezensent der romantischen Ballettaufführungen, in denen er die großen romantischen Ballerinen, die er in seinen Artikeln im Figaró, in La Presse und anderen Journalen rezensierte, vom Geisterraum auf der Bühne in
5 | Ebd., S. 16. 6 | Vgl. Ivor Guest (Hg.): Gautier on Dance, London 1986, S. 51.
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den Raum der Medien versetzte, sondern auch als Librettist, als Szenario-Schreiber für das Ballett der Oper. Gautier verfasste das Szenario für das Ballett Giselle ou Les Wilis – im Rückgriff auf Heines Episode über die „Wilis“ in den Elementargeistern. Die Fabel des Balletts wurde (in Kooperation mit Gautier) von Jules Henri Vernoy, einem erfahrenen Ballett-Dramaturgen der Opéra, eingerichtet. Adolphe Adam komponierte innerhalb kurzer Zeit, zum Teil unter Rückgriff auf schon vorhandene Nummern aus seinem Faust-Ballett, die Musik zu Giselle, wobei insbesondere seine Arbeit mit Leitmotiven ein Muster vorgab, das bislang so im Ballett nicht eingesetzt wurde. Jean Coralli und Jules Perrot, die Choreographen des Balletts, übernahmen diese Leitmotiv-Struktur auch für ihre Komposition des Balletts. Die beiden wohl bekanntesten Werke des romantischen Balletts möchte ich nun heranziehen, um Grundstrukturen der Hervorbringung von Räumen durch Bewegung zu zeigen: Am Beispiel von La Sylphide (1832), choreographiert von Filippo Taglioni für seine Tochter Marie Taglioni in der Titelrolle; und Giselle (1841), knapp zehn Jahre später entstanden mit Carlotta Grisi als Giselle. Die folgende Betrachtung dieser Choreographien hat (dies sei hier grundsätzlich vermerkt) mit allem Vorbehalt zu geschehen, der hier methodisch angebracht ist; die ÜberlieferungsSituation ist mehr als lückenhaft. Inszenierungen beider Choreographien basieren auf langen oral/körperlichen Traditionslinien, die in den großen Opern- und Ballett-Theatern Europas (über Bournonville in Kopenhagen, Paris, Brüssel, St. Petersburg und London) bis heute, ins Film- und Video-Zeitalter weitergegeben wurden.7 Die folgenden Ausführungen
7 | Die Tradition der Hauptwerke des romantischen Balletts bis ins 20. Jahrhundert ist maßgeblich auch durch einen „Diskurs“ des Romantischen, des „ballet blanc“ geprägt; diese Auffassung des „Romantischen“ zeigt sich in Choreographien, die diesen „Geist“ aufnehmen und stilisieren (wie z. B. Les Sylphides, choreographiert von Michel Fokine für die „Ballets Russes“, 1907) ebenso wie in Texten, die das Echo der Kritiken von Théophile Gautier oder Jules Janin ins 20. Jahrhundert weitertragen, etwa in den sehr einflussreichen Essays von André Levinson zu „La Sylphide“ und zum „ballet blanc“; vgl. dazu Lisa C. Arkin und Marian Smith: National Dance in the Romantic Ballet, in: Rethinking the Sylph. New Perspectives on Romantic Ballet. hg. von Lynn Garafola, Hanover und London 1997, S. 11-68; hier S. 52.
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beziehen sich zwar auf vorliegende quellenkritische Untersuchungen,8 haben aber ihren Schwerpunkt nicht in einer Diskussion der komplizierten Überlieferungssituation. Mein Interesse richtet sich hier vielmehr auf das mythische Narrativ, das durch die spezifischen ästhetischen und medialen Mittel des romantischen Balletts eine Inszenierung von Begehrens-Räumen hervorbringt: 9 These supernatural creatures symbolized the essence of muteness, with all its attendant melancholia, its thwarted impulse to speak, and they also functioned as blatant allegories for unrealized dreams and desires.10
Beide Ballette – und sie stehen hier nur exemplarisch für eine Reihe ähnlicher Werke, in denen weibliche Elementargeister erscheinen wie z.B. Ondine, Le Papillon, La Peri, La Volière, Les Houris, Le Lac de fées oder auch Die wiederbelebte Sylphide – entfalten eine vergleichbare Raum-Dramaturgie: einen Wechsel, ja einen Übergang von Räumen, die durch einen auf den ersten Blick sehr klaren Dualismus bezeichnet sind: die Dualität von physischer und metaphysischer Realität, oder: von 8 | Zur Quellensituation vgl. u.a. Marian Smith: Ballet and Opera in the Age of ‚Giselle‘, Princeton and Oxford 2000; darin: die auf der Partitur von La Sylphide basierenden Analysen – sowie der Abdruck und die ausführliche Kommentierung des „répetiteurs“ (d.h. der Proben-Partitur von 1841) zu Giselle, ebd., S. 212226, sowie S. 167-200; zu Giselle vgl. auch Ivor Guest: Jules Perrot, Master of the Romantic Ballet, London 1984. – Es wäre darüber hinaus eine lohnende und umfassende Untersuchung, die Tradition der Giselle-Überlieferung anhand der 2006 vom Deutschen Tanzarchiv Köln erworbenen Notation von H. Justament zu analysieren, eine (mit Adagio-Anhang, datiert Brüssel 1864) ausführliche, aus Strichfiguren, Raumwegen und Bewegungskommentaren bestehende Aufzeichnung; sie war freilich zum Zeitpunkt der hier vorgetragenen Überlegungen für eine Auswertung noch nicht zugänglich. – Zu La Sylphide, (dessen Partitur-Autograph der Musik von Jean Schneitzhoeffer sich in der Bibliothèke de l’Opéra in Paris befindet) gehen die Dokumente auf die Überlieferung durch A. Bournonville zurück, vgl. Knud Arne Jürgensen: The Bournonville-Heritage, London 1990. 9 | Für eine umfassende Diskussion dieser Fragen vgl. Susan Leigh Foster: Choreography & Narrative. Ballet’s staging of story and desire, Bloomington 1996, bes. S. 234ff. (La Sylphide) und S. 242-251 (Giselle). 10 | Ebd.
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sozialen und imaginären Räumen. Diese Polarität prägt zugleich auch die Basisstruktur der Komposition und der Choreographie. Der I. und der II. Akt sind durch die Raumidee und die Art der Verräumlichung deutlich voneinander getrennt. Einander gegenübergesetzt werden dabei Alltagswirklichkeit, soziales Leben, bürgerliche Paar- und Familiengeschichte auf der einen Seite; und Traum-Räume, Phantasmen, das Geisterreich tödlicher erotischer Obsessionen auf der anderen Seite. Zwischen diesen Räumen – als Grenzfigur einer „rite de passage“ – ereignet sich das, was ich, mit Heinrich Heine, die „Hochzeitskatastrophe“ nennen möchte. Auch dies ist ein romantischer Topos, bekannt aus den Erzählungen von Ludwig Tieck (Der blonde Eckbert), E.T.A. Hoffmann (Der Magnetiseur), Friedrich de la Motte-Fouqué (Undine). Die Handlung spielt in beiden Balletten in romantischen bzw. „romantisierten“ Landschaften. In La Sylphide ist es das schottische Hochland – und man assoziiert Le Lac des fées, die Landschaften von Dickens, die Schottische Symphonie von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Giselle spielt ebenfalls in einer schon damals „literarischen“ Landschaft: in einem Rheintal zur Zeit der Weinlese – und auch hier stellen sich Bilder der Rhein-Romantik ein: die Brentanoschen Märchen, die durch Brentano und Heine gestaltete Figur der „Loreley“. Die Ballett-Szene öffnet also Räume, die durch literarische Topoi besetzt und produziert sind, die zugleich jedoch als auch sozialer Raum kodiert erscheinen: Haus und Kultur-Natur – „Kaminzimmer“ (La Sylphide), „Weingarten“ und „Wald“ (Giselle) – beherbergen den Raum der Familie und der Liebe. Demgegenüber steht der öffentliche Raum der gesellschaftlichen Begegnung. Diese Konstellationen sind freilich als Handlung eines Balletts sehr flach und schematisch gezeichnet. In Giselle ist es lediglich der Gegensatz zwischen Landbevölkerung (der Giselle, ihre Mutter und ihr Verlobter Hilario angehören) und Adel (der durch Herzog Albrecht und Prinzessin Bathilde, seine Verlobte, sowie den Hofstaat repräsentiert ist), durch den die Konfliktsphären markiert sind. Schon der sentimentalische Rückblick auf eine Handlungs- und Stoffkonstellation, die noch die Zeit des Ancien Régime und Themen des bürgerlichen Trauerspiels rekapitulieren, macht deutlich, dass romantische Räume im Ballett vielfach besetzte und lediglich als Topoi noch einmal aufgerufene Konstrukte enthalten. In diese Szenen ländlich-sozialen Lebens (Weinlese, Jagdpartie, Hochzeitsvorbereitungen) bricht ein Fremdes ein: die Figur eines Anderen, „Elementaren“, das – mit den Worten von Novalis – als Geist in „fremder, luftiger Gestalt“ erscheint. Die Bruchstelle, an der dies geschieht, ist
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durch den emphatischen Augenblick der Liebe bezeichnet. Genauer: zwei unvereinbare Liebeskonzepte kollidieren; auf der einen Seite das Modell einer standesgemäßen Ehe, auf der anderen Seite die Erfahrung einer Liebe, die unter dem Zeichen des Flüchtigen, Phantastischen steht – in einer Dimension des Nicht-Lesbar-Irrealen, das in die dunkle Sphäre des Wahnsinns und des Todes weist. 11 Mit dem Eintritt der Liebe verwandelt sich der Raum: Er erscheint – durch die Choreographie formiert – buchstäblich gespalten; durchwebt von einer erotischen Sphäre, die unirdisch und zugleich „elementar“ erscheint. Es ist der Raum der „Elementargeister“. Dramaturgisch betrachtet ist dies der Moment der Hochzeits-Katastrophe. Heinrich Heine beschreibt diese Katastrophen-„Legende“, auch im Sinne einer Lese-Anweisung: Es ist den Volkssagen eigentümlich, daß ihre furchtbarsten Katastrophen gewöhnlich bei Hochzeitsfesten ausbrechen. Das plötzlich eintretende Schrecknis kontrastiert dann desto grauslig-schroffer mit der heiteren Umgebung, mit der Vorbereitung zur Freude, mit der lustigen Musik […] Gewöhnlich ist es ein früheres Liebesversprechen, weshalb plötzlich eine kalte Geisterhand die Braut und den Bräutigam trennt.12
Eine solche Situation ist in La Sylphide gegeben: Die Hochzeitsvorbereitungen für den Bund von James und Effie sind in fröhlichem Gang. James schläft und träumt vor dem Kaminfeuer, da erscheint plötzlich die Sylphide. Sie, ein geflügeltes Luftwesen, fächelt dem schlafenden James Kühlung zu. Als er erwacht und sie zu fassen sucht, entschwindet sie durch den Kamin. Sie erscheint wieder durch das Fenster, als James über die bevorstehende Hochzeit nachdenkt, und schließlich beim Tanz der Hochzeitsfeier. Schon hier zeigt sich durch die Geisterbewegung eine fluide Verbindung von Innen- und Außenräumen. James – verzaubert von der Geister-Erscheinung – versucht, immer wieder vergeblich, die Sylphide zu 11 | Vgl. Sally Banes und Noel Carroll: Marriage and the Inhuman: ‚La Sylphide’s‘ Narratives of Domesticity and Community, in: Rethinking the Sylph, S. 91-107; Banes und Carroll interpretieren die Frage nach der Rolle der Frau, dem Phantasma des Weiblichen und der sozialen Funktion der Ehe u.a. mit Arnold Van Genneps „rites de passage“ (die Sylphiden als „tribe“) und mit dem soziologi-schen Modell von Erving Goffman. 12 | Heine: Elementargeister, S. 20.
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fassen. Die eigentliche Katastrophe bricht schließlich mitten in die Trauungszeremonie ein. Zwei unterschiedlich „figurierte“ symbolische Räume konfligieren und interferieren hier: der Raum der christlichen Welt und ihrer Sozialordnung und der Raum naturmagischer „Elementargeister“ und ihrer (erotischen) Faszination. Dieser Interferenz-Raum wird mit der Aktion, mit der Bewegung der „Figuren“ aus den gegensätzlichen Welten erst hervorgebracht. Die Sylphide nimmt den Ring, der eigentlich für die Braut von James, Effie, bestimmt ist, an sich. Sie erscheint James im Moment der Vermählung – in der Übergangs-Zeremonie in den Stand der Ehe: und sie umringt ihn gleichsam mit einem anderen, unsichtbaren Faszinationsraum. In diesen Raum, der sich inmitten des Ordnungsraums des Hochzeitsritus einnistet, folgt er ihr und verlässt die verwirrte, entgeisterte Hochzeitsgesellschaft mit ihr, dem Geistwesen. Die entscheidende Szene – der Hochzeitstanz des Brautpaares James und Effie – ist aus den Mitteln des Balletts gestaltet, solchermaßen, dass die Doppelung und Durchdringung der Räume als und durch Choreographie evident wird. Mitten in den Ritus der Eheschließung, der als eine Zeremonie des Ringtausches und des Braut-Tanzes choreographiert ist, tritt die Sylphide ein. Sie dringt ein als Figur eines Anderen, dieser Welt fremden. Sie verkörpert eine dritte Figur, die als elementare Gestalt – zauberisch und unsichtbar – das Hochzeits-Paar trennt und doch zugleich verknüpft. Die Sylphide ist so die Verkörperung eines transzendenten und transgressiven Prinzips. Interessant und innovativ ist dabei die Form, in der Filippo Taglioni diese komplexe Interaktion choreographiert. Auf den ersten Blick erscheint dieser Tanz wie ein „Pas de trois“, d.h.: als eine Konstellation, in der ein Tänzer mit zwei Tänzerinnen gleichzeitig Figuren ausführt. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Hochzeitstanz des Paares, der als ein klassischer „Grand pas de deux“ angelegt ist – mit seinem typischen Entrée des Paares, den abwechselnden Soli und Variationen sowie einem gemeinsamen Schlussteil – als ein in sich geschlossener Tanz, der jedoch immer wieder unterbrochen wird: In diesen „Pas de deux“ tritt nämlich wieder und wieder die Sylphide ein. Sie bewegt sich gleichsam in den Lücken und Leerstellen der als Hochzeits-Pas-de-deux vorgegebenen Figuren. Wie ein Schatten simuliert und spiegelt sie die Position der Braut. Sie interveniert als eine Figur, die da ist und doch unsichtbar bleibt (für alle, bis auf James) und die so die Präsenz des Abwesenden verkörpert. Damit geschieht aber, ähnlich wie mit der Inversion der Innen- und Außenräume in den Eingangsszenen der ersten Begegnungen im Kaminzimmer,
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auch hier eine Umkehrung der Situation. Das Anwesende, das Sichtbare – die Einheit des Paares – erscheint plötzlich als das Nicht-Vorhandene. Der „Pas de deux“ der Hochzeitszeremonie wird in einen „Pas de deux“ interruptus um-gestaltet: ein aufgesprengtes Duo, in das der Schritt eines Dritten sich einlässt. Wieder und wieder geschieht diese Einflechtung des Sylphidischen. Abb. 1: La Sylphide. Stich von Jules Collignon
Zum Schluss schließt sich der „Pas de deux“ noch einmal, um dann endgültig aufzubrechen. Der Hochzeitstanz wird so zur „Rite de Passage“ einer „Hochzeitskatastrophe“, die sehr leise in die andere, in die magische Wirklichkeit des Geisterreichs hinüber führt. Der Übergang geschieht durch und in Bewegung. Der Tanz öffnet und kodiert die polaren Räume. Mehr noch: es sind selbstbewegte Räume, die durch den Tanz ineinander überführt werden – perforiert, ineinander gefaltet und nach dem Übergang in eine diffuse Szenerie des Sichtbaren und Unsichtbaren wieder geschlossen. So ist der Raum der sozialen Realität über die Gestalt eines Dritten – durch den eindringenden „Elementargeist“ – schon infiltriert mit einem jenseitigen Raum.
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Abb. 2: La Sylphide. Stich von Jules Collignon
Abb. 3: Marie Taglioni als La Sylphide
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Mit Gaston Bachelards Poetik des Raumes könnte man hier von einer „Zerstückelungsdialektik“ von „Draußen und Drinnen“ sprechen. 13 Damit spricht Bachelard ein Raumverhältnis an, das nicht einfach reziprok erscheint, sondern intermittierend „sich in unzähligen Nuancen vervielfältigt und abwandelt“. 14 Anders aber doch strukturell vergleichbar in Bezug auf den sozialen Raum, die Verbindung von Innen und Außen im Bachelardschen Sinn gestaltet sich die Handlung des ersten Akts von Giselle . Hier freilich tritt nicht schon von Anfang an ein Elementarwesen als ätherisch-sylphische Verkörperung einer obsessiven und flüchtigen Liebe auf wie in La Sylphide. Die Liebe selbst ist vielmehr in Giselle als eine unmögliche dargestellt. Sie zerbricht die gesellschaftliche Ordnung; und sie zerbricht selbst an dieser Ordnung. Sichtbar wird dies dadurch, dass das Prinzip der standesgemäßen Ehe durch eine andere Liebe (die zugleich als eine un/mögliche Mésalliance erscheint) gestört wird. Es ist diese Bruchstelle, die durch die „Hochzeitskatastrophe“ markiert ist. Eine junge Frau vom Lande, Giselle, verlobt mit dem Jagdhüter Hilarion, verliebt sich in Herzog Albrecht, der verkleidet als Jagdhüter unter dem Namen Loys dem Repräsentationsleben des Hofs für einige Zeit zu entfliehen hofft. Die Land- und Liebesidylle wird bedroht, als der Prinz und seine Tochter Bathilde, die mit Albrecht verlobt ist, zu einer Jagdpartie erscheinen. Giselle muss erkennen, dass Albrecht nicht ihr, sondern Bathilde die Ehe versprochen hat. Verzweifelt beginnt sie, eine Tanzsüchtige, die immer schon am liebsten und zu ihrer Freude tanzte,15 nun aus Schmerz einen rasenden Tanz, der sich immer mehr in Wahnsinn steigert – bis sie an gebrochenem Herzen stirbt.16 13 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt a.M./Berlin/Wien o.J. 14 | Ebd., S. 242. 15 | Zu Giselles „Tanzsucht“ vgl. Smith: Ballet and the Opera in the Age of ‚Giselle‘ S. 295, in Bezug auf das Libretto und die entsprechenden Passagen aus dem „répétiteur“: „In Act One scene VI, Berthe first tells Giselle that dancing is not good for her, and then tells Albrecht that the doctor has warned Giselle that dancing may do her harm (this scene remains in place today although the detail about the doctor is usually left out). Finally, in Act One scene VIII, immediately after Giselle tells Bathilde that she loves to dance, Berthe interjects that this is foolish [...] ‚oui, dit Berthe, c’est la folie‘.“ 16 | Die Interpretationen dieses Todes sind unterschiedlich; häufig erscheint die Version, der zufolge Giselle den Degen Albrechts ergreift und ihn sich in die Brust
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Die „Hochzeitskatastrophe“ erscheint in Giselle in vergleichbarer Funktion wie in La Sylphide. Die Choreographie von Coralli/Perrot geht aber einen anderen Weg. Der Einbruch der Figur der Dritten erscheint fast statisch: Nicht als „Pas de deux“ oder „Pas de trois“, sondern als eine soziale Kon-Stellation wird der Raum choreographisch durch die Zuordnung der Personen gezeichnet: in der Reihe der Hofleute, ihrer Bediensteten und der Landleute zum einen; und als eine herausgehobene Bewegungsfigur zum anderen – im Solo von Giselle. Dies ist gewissermaßen die Choreographie des gesellschaftlichen Repräsentationsraums: Bathilde und ihr Vater, der Prinz, und sogar Albrecht, solange er in der Nähe Bathildes ist, erfüllen, choreographisch betrachtet, den höfischen Code: Sie tun dies, indem sie gerade nicht tanzen, sondern stehen und schreiten. Das Tanzen hingegen ist Ausdruck von Individualität – und einer selbstvergessenen Hingabe – „folie“ –, die sich aus dem Bezirk des höfischen ebenso wie des bürgerlichen Betragens hinausbewegt. Tanzen offenbart die Bewegung der Seele und die Liebe. Die choreographische Repräsentation als sozialer Code folgt aber dem höfischen Schreiten bzw. den Ordnungen eines statischen Verharrens: im gemessenen Schritt, in der Gebärde der Bienséance repräsentiert die Jagdgesellschaft den Bewegungs-Raum des Ancien Régime. In diese räumliche Kon-Stellation fällt für Giselle der Blitz des Erkennens der Situation. In der Musik ist dies durch einen entsprechenden Umschlag des Tempos und in einer raschen Bewegung der Streicher markiert. So wird Giselle aus dem Raum, in dem sie als Liebende keinen Platz besitzt, gleichsam herausgeschleudert in den Irrsinn der Verzweiflung. Dieser Einbruch erzeugt tänzerisch eine Figur der Brechung. Der choreographische Ausdruck dieses Zustands – im wahrsten Sinn eine Hochzeitskatastrophe – wird zur Verwandlung ihrer Liebespassion. Dies geschieht nicht im „Pas de deux“, sondern als Solo. Es ist ein Wahnsinnstanz, der, vergleichbar den Wahnsinnsarien in Opern des 19. Jahrhunderts etwa bei Donizetti oder Bellini, die Grenzen des Codes der „Danse d’école“ überschreitet und das Repertoire der romantischen Ballettform nahezu sprengt: ein im Kreis und an der Reihe der höfischen Gesellschaft Hin- und Herlaufen, ja Taumeln, ein Dis-Kursus der Verwirrung, zuletzt der Sturz, das Hinsinken und der Fall. Hier stößt; doch auch in dieser (dramaturgisch plausibleren) Handlung lässt sich – allegorisch gelesen – der Tod an „verletztem Herzen“ wahrnehmen. – vgl. dazu Marian Smith: „What Killed Giselle?“, in: Dance Chronicle 13, No. 1 (1990), S. 68-81.
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finden sich Elemente eines „Ausdruckstanzes“, der in seiner Bodenorientiertheit einen neuen Raum öffnet, wie er so in der Bühnenkonvention des Balletts bislang nicht vorkam. Es zeigt sich ein schwankender Raum ohne verlässliche Koordinaten, in dem die in die Vertikale gerichtete BallettOrdnung buchstäblich den Boden verliert, fremd wird und kippt. Giselles Tod – ob Selbstmord im Herzstich mit dem Degen Albrechts oder schlichtweg das Zerspringen des Herzens als Todesmetapher – markiert den Höhepunkt der Hochzeitskatastrophe und gleichzeitig das Ende des ersten Aktes. Es ist eine Passage an der Grenzlinie des Übergangs in eine andere Welt und in einen anderen Raum: nicht an der Schwelle zur Welt der Toten, wiewohl Giselle auch Züge des Mythos von Orpheus und Eurydike enthält, sondern im Übergang in jenes Geisterreich, in dem die Wilis leben – die verlassenen Bräute, die vor ihrer Hochzeit gestorben sind. Auch im Ballett Giselle zeigt sich mithin die Bachelardsche Dialektik von Drinnen und Draußen, oder wie er auch sagt: des „Diesseits und Jenseits“, und damit eine Dynamik, die sich ganz im Gestus romantischer Philosophie auf das Unendliche richtet. Hier meint „Unendlichkeit“ den infiniten und unvorhersehbaren Raum des Tanzes selbst. Und auch hier ist dieser Raum ein Interferenzraum; die Bindung an die christliche Welt wird durch das Grabkreuz repräsentiert: Dieses Symbol zirkelt in der nächtlichen Welt der Wilis, der Elementargeister, einen Raum aus, der diesseitige und jenseitige, physische und metaphysische Sphären verbindet – in den Bewegungsfiguren der Sehnsucht, des unerfüllten Begehrens und seiner WiederholungsSzenarien zwischen Liebe und Tod. „Der Tanz ist charakteristisch bei den Luftgeistern“, schreibt Heine in den Elementargeistern und: „Sie sind zu ätherischer Natur, als daß sie prosaisch gewöhnlichen Ganges, wie wir, über diese Erde wandeln sollten.“17 Sowohl die Sylphiden als auch die ätherischen Bräute, die Wilis, sind durch das Schweben, durch den Tanz als Medium ihrer Existenzform charakterisiert. Sie werden dadurch selbst zu Medien. Damit aber erscheinen diese Figuren und ihre Räume als Verkörperungen, geradezu als Allegorien der romantischen Ballettästhetik. Das Antigrave, die Flüchtigkeit der Bewegung, die Erscheinung von Wesen in einer anderen Materialität des Körperlichen – dies sind die Merkmale des Tanzes in der Romantik. Es ist eine Bewegung durch Räume, die keine Spuren hinterlässt. Oder: Spuren, die wiederum nichts anderes als eine eigentümliche, eine hiero17 | Vgl. Heine: Elementargeister, S. 19.
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glyphische Choreographie im Sinne von Novalis’ „Geisterreich“ bedeuten. So schreibt Heine über den Tanz der Luftgeister weiter: Indessen, so zart sie auch sind, so lassen doch ihre Füßchen einige Spuren zurück auf den Rasenplätzen, wo sie ihre nächtlichen Reigen gehalten. Es sind eingedrückte Kreise, denen das Volk den Namen Elfenringe gegeben.18
Rätsel-Spuren oder Spurenlosigkeit; beides gleichermaßen beschreibt diese Topographie eines Geister-Raumes. Im Diskurs der romantischen Ballettästhetik, insbesondere in den Rezensionen der großen Aufführungen in Paris ,19 wird immer wieder der Topos der Spurenlosigkeit des Schritts der Tänzerin verwendet. Die Leichtigkeit und Zartheit, so dass der Fuß nur mit der Spitze den Boden berührt, erscheint wie die Berührung einer unsichtbaren Wolke. Kein Grashalm biegt sich unter dem Schritt der Taglioni. So schreibt Castil-Blaze über Fanny Elßler und ihre perfekte Arbeit mit dem Tanz auf Spitze: „Her astonishing pointes, which give the impression that Mlle Fanny is dancing on an invisible cloud.“ 20 Und Théophile Gautier schreibt anlässlich der Wiederaufnahme von La Sylphide am 21. September 1838, in der Fanny Elßler die Rolle der von Marie Taglioni kreierten Sylphide übernimmt, dass „Mary-full-of-grace“, die einstmals ideale Verkörperung dieser Figur, viel von ihrer Leichtigkeit verloren habe; sie sei nun leider vom Erfolg beschwert: „Flowers and diamonds have weightened down those intangible feet that, like the amazon Camilla’s, bend not the blades of grass that she walks upon.“21 Im Zeichen dieser körperlichen Transfiguration ist die Topographie des Geisterreichs im zweiten Akt, im sogenannten „weißen Akt“ dieser Choreographien angelegt. In beiden Werken gibt es ein Medium: Es ist eine Vermittlerfigur, die dieses weibliche Feenreich beherrscht. In La Sylphide ist es Madge, die Hexe, die James, als er nach seiner Sylphide sucht, den Schleier gibt, mit dem er sie einfangen könne. Madge freilich verschweigt ihm, dass ein Elementarwesen, wenn es „gebunden“ wird, seine Unsterblichkeit verliert. Als er der Sylphide den Schleier umwirft, verliert sie ihre Flügel – und sie stirbt in seinen Armen. 18 | Ebd. 19 | Vgl. Ivor Guest: The Romantic Ballet in Paris, London 1966. 20 | Zit. nach Guest: ebd., S. 136. 21 | In Guest: Gautier on Dance, S. 53.
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Abb. 4: Sylphidenflügel Fanny Elßlers
Eine Geschichte von Verlust und Tod, Wiedergängerei und (Un-)Sterblichkeit der Liebe erzählt auch der zweite Akt von Giselle. Deutlicher freilich als in La Sylphide ist dieser Raum von einer Tanzlust, ja einem Tanzzwang gezeichnet, der nächtlich und rauschhaft die Leerstelle der Erotik besetzt. Die Unerlöstheit der ewigen Braut öffnet und schließt den Raum unendlicher Wiederholung im Tanz, dessen bacchanalische Macht unvermittelt in die Bedrohung eines „Zu-Tode-Tanzens“ umschlägt. Dieser Tanzzwang stammt aus dem Mythos der Wilis, den Heine gleich zweimal in seinen Texten gestaltet, einmal in seiner Schilderung der Pariserinnen auf den Bällen in den Florentinischen Nächten,22 und ein anderes Mal in den Elementargeistern, wo die Szene ausgemalt ist: Es ist die Sage von den gespenstischen Tänzerinnen, die dort unter dem Namen ‚die Willis‘ bekannt sind. Die Willis sind Bräute, die vor der Hochzeit gestorben sind. Die armen jungen Geschöpfe können nicht im Grabe ruhig liegen, in ihren 22 | Heinrich Heine: Florentinische Nächte, 1837, in: Sämtliche Werke. Band 12, S. 103-159.
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todten Herzen, in ihren todten Füßen blieb noch jene Tanzlust, die sie im Leben nicht befriedigen konnten, und um Mitternacht steigen sie hervor, versammeln sich truppenweis an den Heerstraßen, und Wehe! dem jungen Menschen, der ihnen da begegnet. Er muß mit ihnen tanzen, sie umschlingen ihn mit ungezügelter Tobsucht, und er tanzt mit ihnen, ohne Ruh und Rast, bis er todt niederfällt. Geschmückt mit ihren Hochzeitkleidern, Blumenkronen und flatternde Bänder auf den Häuptern, funkelnde Ringe an den Fingern, tanzen die Willis im Mondglanz, eben so wie die Elfen. Ihr Antlitz, obgleich schneeweiß, ist jugendlich schön, sie lachen so schauerlich heiter, so frevelhaft liebenswürdig, sie nicken so geheimnisvoll lüstern, so verheißend; diese todten Bacchantinnen sind unwiderstehlich. 23
Ganz ähnlich zeichnet Heine in den Florentinischen Nächten das Bild der Pariserin, die man auf dem Ball in ihrer flüchtigen, schmetterlingshaften Existenz beobachten könne: Diese Hast, diese Wuth, dieser Wahnsinn der Pariserinnen, wie er sich besonders auf Bällen zeigt, mahnt mich immer an die Sage von den todten Tänzerinnen, die man bei uns die Willis nennt. Dieses sind nemlich junge Bräute, die vor dem Hochzeitstage gestorben sind, aber die unbefriedigte Tanzlust so gewaltig im Herzen bewahrt haben, daß sie nächtlich aus den Gräbern hervorsteigen, sich schaarenweis an den Landstraßen versammeln und sich dort, während der Mitternachtsstunde, den wildesten Tänzen überlassen. Geschmückt mit ihren Hochzeitkleidern, Blumenkränze auf den Häuptern, funkelnde Ringe an den bleichen Händen, schauerlich lachend, unwiderstehlich schön, tanzen die Willis im Mondenschein, und sie tanzen umso tobsüchtiger und ungestümer, je mehr sie fühlen, daß die vergönnte Tanzstunde zu Ende rinnt und sie wieder hinabsteigen müssen in die Eiskälte des Grabes.24
Schneeweiß, auf der Lichtung im bläulichen Mondlicht: ein Raum wie nach der Romantischen Schule Heines entworfen. Und in der Tat war Théophile Gautier, der Librettist von Giselle, ein genauer Kenner der deut-
23 | Heine: Elementargeister, S. 16. 24 | Heine: Florentinische Nächte. In: Sämtliche Werke (Düsseldorfer Ausgabe), Bd. 5, bearbeitet von Manfred Windfuhr, S. 197-250, hier S. 238.
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schen Romantik.25 So erscheint die Bühne im weißen Akt von Giselle 26 als Szene der Magie mitternächtlicher Geistererscheinung. Die Illusionswirkung beruhte, soweit wir es aus Rezensionen wissen, nur teilweise auf der „Mise en scène“. Entscheidend war die Raum-Konstitution durch die Choreographie, durch tänzerische Bewegung. Eine längere Analyse des gesamten Abschnittes der Szene müsste hier erfolgen, damit die Eigentümlichkeit des durch Ballett formierten romantischen Raumes sichtbar wird. Ich will mich hier auf einen kleineren Ausschnitt beschränken, der nicht die großen Soli betrifft, sondern eine exemplarische Szene herausgreift. Wie in La Sylphide steht auch hier im Übergang der Räume vom ersten zum zweiten Akt eine Magierin und Herrschergestalt. Nicht Madge, die Hexe, sondern Myrta, die Königin der Wilis, erscheint im zweiten Akt zuerst auf der Bühne: als Verkörperung weiblicher Macht. Sie steht allein in der Mitte der Lichtung wie ein phantastisches Marmorbild, vollkommen still, sur la pointe schwebend, in der Hand einen Rosmarinzweig, mit dem sie den Wilis gebietet und mit dem sie die in ihren Bannkreis geratenen (männlichen) Sterblichen vernichtet. Sie ruft Giselle aus dem Grab als eine der ihren, der Wilis. Als Hilarion den Weg zu Giselles Grab sucht, wird er von den Wilis „zu Tode getanzt“ – ganz so, wie die Heinesche Beschreibung diese bacchanalische Todeschoreographie beschreibt. Die Wilis erscheinen als „Corps“ (wie an einer „Heerstraße“: die militärische Seite ist dem Corps de ballet an diesem Punkt immer noch ablesbar), in einer Formation, die streng unter dem Regiment der Königin agiert: Sie vollführen Linien, Kreise – die „Elfenringe“ – formieren sich in Blöcken und langen Reihen; 27 die Arm-Fächer und die regelmäßigen Muster der battments der Wilis, die eine lange weiße
25 | Théophile Gautier (1811–1872), Führer des extravaganten romantischen Kreises der „bousingos“ nach 1831 stand insbesondere unter dem Einfluss von E.T.A. Hoffmann. Vgl. Gerhardt Hoffmeister: Französische Romantik, in: Helmut Schanze (Hg.): Romantik-Handbuch, Stuttgart 1994, S. 142. 26 | Auch das Bühnenbild von Pierre Cicéri mit Licht-Gasbeleuchtung von Edmond Duponchel und vor allem die viellagigen spinnwebfeinen Mousselinkleider der Wilis mit kleinen Flügeln tragen sehr zum „romantischen“, nächtlich-metaphysischen Raumbild bei. 27 | Vgl. hierzu die Zeichnungen der „Bewegungspartitur“ von H. Justament im Deutschen Tanzarchiv Köln.
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„Gasse“ bilden, öffnen und schließen zuletzt endgültig den Raum des Todestanzes um Hilarion. Abb. 5: Carlotta Grisi als Giselle
Dieser – unbeholfen, verwirrt und dieser gespenstischen weiblichen Bewegungs-Macht ausgeliefert – bewegt sich eher passiv, getrieben, gejagt und geschoben. Seine Bewegungen sind charakterisiert durch eine Technik des Unvollkommenen, des Taumelns, vergleichbar dem Wahnsinnstanz von Giselle aus dem ersten Akt; zugleich aber weniger heftig und aus einer Übergangs- und Verlustsituation gezeichnet. Die Wili-Formation hingegen erscheint – anders als die locker verteilten, in Büschen, Bäumen, Blumen schwebenden Sylphiden in La Sylphide – planvoll, präzise und in der Vervielfältigung der Geistergestalten tatsächlich wie ein Corps, ein Körper. Die Geschichte von Giselle endet versöhnlich. Als auch ihr Geliebter, Albrecht, der sie verriet, an ihrem Grab erscheint und Giselle und die Wilis durch Myrta den Auftrag erhalten, auch ihn in einen Todesrausch zu tanzen, schützt Giselle ihn, indem sie ihn unter das Grabkreuz 28 drängt, 28 | Zur Interferenz der Räume – des Christlichen und des Magisch-Elementaren –, die sich im Symbol des Grabkreuzes auf dem nächtlichen Tanzplatz der Wilis materialisiert, siehe die Ausführungen oben zum ‚Giselle‘-Teil.
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wo die Magie der Geister nicht wirkt, solange, bis die Geisterstunde vorüber und der Bann gebrochen ist. Die Choreographie dieser Räume, alle Innovationen des romantischen Balletts binden sich freilich an die großen Ballerinen, die diese Sylphiden und Elfengestalten verkörpern: Marie Taglioni als La Sylphide und Carlotta Grisi als Giselle. Die Tanztechnik des romantischen Balletts, beeinflusst von Carlo Blasis’ System 29 bietet die Basis für die Evokation dieses Raums, geschaffen aus dem Weiblichkeits-Ideal von Schwerelosigkeit, von Körpern aus Licht und Luft, von „Schwebewesen“ in einem eigentümlich entrückten Raum, der zugleich keusch und erotisch, kühl und rauschhaft erhitzt erscheint. Das romantische Ballett bezaubert nicht mehr durch die kristalline Brillanz, durch die Idee einer Geometrie des Raumes und die Erscheinung eines Körpers, der durch präzise Technik besticht: wie noch in der Darstellungsästhetik vor Coralli und Perrot an der Pariser Opéra üblich – beispielsweise unter Pierre Gardel und Auguste Vestris. Nicht durch eine Meisterschaft, die ihre Virtuosität ausstellt, verführen diese romantischen Ballette. Sie entfalten ihren Zauber vielmehr auf der Basis einer noch weiter und feiner entwickelten Tanz-Technik: Es ist eine Ästhetik des Fluiden, der Indirektheit, des Magisch-Verborgenen – eine Aura, die Marie Taglioni als Sylphide zum Inbegriff des romantischen Tänzerinnen-Bildes machte.30 Elevation und Ballon, die hingetupften Momente auf Spitze, die Arabesken und Attituden, diese Grundelemente des Balletts werden – darin besteht die Aura der großen Ballerinen – in einer neuen Weise eingesetzt. Das Imaginäre, die Sphäre des Spectre 31 spinnt sich aus dem Körper heraus: indem dieser sich gleichsam entmaterialisiert und einen diffusen Strahl-Raum – einen kinesphärischen KörperRaum – in und durch Bewegung öffnet. Eines der tanztechnischen Mittel, durch die dieser Effekt erreicht wird, besteht in der „Attitude“ und „Arabeske allongée“: in der Ausführung einer Attitude oder Arabeske, die 29 | Vgl. Carlo Blasis: Traité élémentaire, théoretique et pratique de l’art de la danse, Mailand 1820. 30 | Zum Anteil, den eine Tradition der Taglioni-Familie an diesem Nimbus hatte vgl. Gunhild Oberzaucher-Schüller: Die Arbeitsteams des Taglioni-Clans. Und andere Interessenverbände, in: tanz-journal (2004) Heft 3, S. 7-13. 31 | Der Geist der Elemente ist – gleichsam als Geist des Romantischen – Thema eines Balletts zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Le Spectre de la Rose“ (1911) choreographiert von Michel Fokine, getanzt von Waslaw Nijinski.
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nicht in der (sowieso äußerst fragilen) Pose gehalten wird, sondern die sich – inmitten der Pose – in einer unmerklich fließenden Bewegung befindet, dadurch, dass die Arme sich aus der vorgeschobenen Figur lösen, sie überschreiten, weitertragen, verlängern und in einen imaginären und unendlichen Raum vermitteln. Die Dehnung, die in dieser minimalen Bewegung sichtbar wird, ist so etwas wie die Sehnsuchtsfigur als romantischer Körper- und Raumtopos.32 Diese Formen der Überschreitung der Figur in der Figur, die Diffusion der Bewegung sozusagen über die Ränder und Grenzen der Pose hinaus, fungieren ästhetisch bzw. illusionstechnisch als Strategien der Immaterialisierung. Der „Corps diaphane“, der diaphane Körper, wie er besonders Marie Taglioni zugeschrieben wurde, macht Unsichtbares sichtbar: Das romantische Geisterreich, um diesen Topos noch einmal aufzugreifen, emaniert so als ein Bewegungsraum aus dem Tanz; als Tanz-Raum des „Ballet blanc“. Wenn man hier noch einmal Bachelards Poetik des Raumes und die asymmetrische „Dialektik des Drinnen und Draußen“ heranziehen wollte, so hätte sich diese Dualität der Räume – in ihrer Verschränkung und in ihrer Transgression – in einen Raum des Ephemeren, des Unendlich-Flüchtigen, des „noch nicht“ und des „schon nicht mehr“ verwandelt. Das „Ballet blanc“ ist vergleichbar dem weißen Blatt, auf dem die Spur der Bewegungs-Schrift sich immer und immer noch einzutragen haben wird – ein Raum der Choreo-Graphie. In seiner Darstellung von Räumen des Imaginären, des Immateriellen, der Begegnung und der Transzendierung von sozialen Räumen thematisiert das romantische Ballett somit auch sich selbst: seine Ästhetik und sein Bewegungskonzept. An dieser Stelle ist es Zeit, noch einmal auf den eingangs erwähnten Kult der romantischen Ballerina zurückzukommen: die Aufladung des Körperlichen aus der Spannung und Vibration des „Spectre“ der Elementargeister. Die andere Seite der Ästhetik des Immateriellen, des Geisterreichs, einer entkörperlichten und gerade deshalb mit ErotischImaginärem aufgeladenen Welt, die andere Seite dieser Schattenbilder des Unerlösten und Unerfüllten zeigt sich im Kult mit dem Körper der Ballerina – als Szene eines stereotypisierten Weiblichkeitsmusters. Es ist ein StarKult, der vom spektakulären Mediendiskurs in den Rezensionen, Bildern 32 | Man kann es vergleichen mit den so genannten Sehnsuchts- oder Seufzerfiguren in der Musik.
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und sogar Karikaturen bis zur Fetischisierung des Ballerinen-Körpers reicht. Zum Fetisch werden dabei insbesondere der Fuß (und der Schuh) der Tänzerin. Dabei erscheint die Ballerina nun nicht nur als „Medium“, das einem Geisterreich in romantischem Sinne zugehörig ist, sondern ganz konkret auch als eine Figur der Medien: Ihre Bühne ist auch das Feuilleton der Journale und die Phantasie einer massenhaften, enthusiastischen Öffentlichkeit. Für den Ballerinenkult als Mediendiskurs soll hier exemplarisch Théophile Gautier mit seinen Rezensionen und Artikeln über die berühmten Ballerinen seiner Zeit stehen. Es sind Elogen, körpernahe Phänomenologien über die Erscheinung, die Technik, die Ausstrahlung der Tänzerinnen, die diese erst zu jener romantischen Figur profilieren, als die sie in die öffentliche Wahrnehmung und schließlich auch in die Tanzgeschichte eingehen. So z.B. Gautiers auf den romantischen Topos der Venus-Maria zurückgreifende Charakterisierung der Tänzerinnen Marie Taglioni und Fanny Elßler. Marie Taglioni wird von ihm als die ätherische Tänzerin stilisiert: She made you think of cool and shaded valleys, whence a white vision suddenly materialized from the bark of an oak tree before the gaze of a surprised and blushing shepherd.33
Demgegenüber Fanny Elßler als die temperamentvoll-feurige, erotische Ballerina. Gautier sieht Taglioni als christliche, Elßler als pagane Verkörperung des Tanzes. If I may express thus, Mlle Taglioni is a Christian dancer and Mlle Elßler is a pagan dancer. The girls of Miletus, those beautiful Ionians who were so celebrated in antiquity, must have danced like her. 34
Und er betrachtet Elßler als Ballerinentyp für Männer, Taglioni hingegen als Tänzerin, die eher Frauen anspricht:
33 | Guest: Gautier on Dance, S. 53. 34 | Ebd.
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She [Elßler] is a man’s dancer, just as Mlle Taglioni was a woman’s dancer. She has elegance, beauty, an intrepid and exuberant vigour, boldness to excess, a sparkling smile […].35
Solche Polarisierung wiederholt und proliferiert jene Topographie der romantischen Räume, für die die Ballerinen als Signifikanten, ja als Ikonen dieser imaginären Räume und ihrer rätselhaften erotischen Strahlkraft einstehen. Die Verwandlung des sterblichen Körpers in den unsterblichen Geister-Körper im Bewegungsraum des Balletts und im Diskurs der Medien. Mit dem „Geisterraum“ der Presse kehrt sich die Situation um: vom Unsichtbaren zum Kult mit dem Sichtbaren, dem begehrten Körper der Ballerina. Seine Verdinglichung in Warenform weist auch auf einen Wandel der Raum-Poetik: Diese scheint nunmehr nicht immateriell, sondern korporal transponiert. Exemplarisch kann hierfür der Kult mit dem Ballerinen-Schuh, mehr noch mit dem Fuß der Tänzerin betrachtet werden. Der Fuß der Fanny Elßler beispielsweise wird zum Fetisch, zum Abb. 6: Fanny Elßlers Fuß. Marmorplastik
35 | Ebd.
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Kultstück des Begehrens: eines Begehrens, das sie – in ihrer berühmten Cachucha – mit dem „taqueté“ ihrer Füße, dem Hüftschwung und der Eleganz ihrer Armbewegungen ihrem Publikum „zuwarf“. Der Gipsabguss ihres Fußes, die Marmorbüste von Fuß und Wade, die Zigarettenspitzen und Pfeifen in Form von Fanny Elßlers Fuß – hier präsentiert sich ein öffentlich kommerzialisierter Star- und Fetischkult der idealen Ballerina; ihr Fuß, oder ihr Schuh repräsentiert und substituiert pars pro toto, wofür die nie anzuhaltende Bewegung der Tänzerin einsteht. Die Flüchtigkeit selbst, die – als Bewegung des Begehrens und als Bewegung des Tanzes – als eine romantische Raum- und Zeitfigur erscheint, verdinglicht sich, in diesem Kult-Objekt. „Es hat in Wien, wo schöne Frauenfüße gedeihen, wohl nie einen mehr bewunderten, höher gepriesenen und volkstümlicheren Fuß gegeben als den Fuß Fanny Elßlers“, schreibt Ludwig Speidel in Gedenken an die große Tänzerin Fanny Elßler. 36 Er berichtet von einer Wiener Sammlerin, die allerlei Reliquien und Erinnerungstücke an Fanny Elßler aufbewahrte, darunter „ihr Fuß und ein Teil ihre Beines in Alabaster ausgeführt“; 37 die Betrachtungen und Beschreibungen enden nicht beim Knie: „Was hier von ihrem Körper, freilich nicht weiter als bis über das Knie, wo im Gipsabguß
Abb. 7: Zigarettenspitze mit Etui. Fanny Elßlers Bein
36 | Ludwig Speidel: Brief vom 5. 6. 1892, zit. aus: Fanny Elßler. Die Tänzerin des Biedermeier. – Nach Briefen und zeitgenössischen Berichten zusammengestellt von Ilse Linden (Hg.), Berlin 1921, S. 110-119, hier, S. 110f. 37 | Ebd., S. 114.
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vollere Formen beginnen wollen, geschildert worden, erregt wohl die Begier nach weiterer Kenntnis“ … ein Feld, das der Autor sodann dem Leser überlässt, mit dem Stoßseufzer: „Reliquia desiderantur.“ 38 Abb. 8: Marie Taglionis Spitzenschuh, gehalten von Alicia Markova
So gesehen ist der Schritt, der romantische Räume öffnet, der Pas, zugleich eine körperpolitische Figur. Sie weist von der Platzierung eines öffentlichen Körpers auf der Theater-Bühne in einen medialen, politisch verfassten Raum. Es zeigt sich hier ein Element der alltäglichen Theatralität in den Metropolen und in den mediengesteuerten Öffentlichkeitsräumen des 19. Jahrhunderts. Heine formuliert diesen Zusammenhang ganz deutlich, wenn er in den Florentinischen Nächten den Raum des Ballsaals und den der Politik, die Bühne des romantischen Balletts und der tanzberauschten Wilis auf der einen Seite und das „Theater der Juli-Revolution“ als Parallel-Aktionen beschreibt: 38 | Ebd., S. 119.
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Die Franzosen hatten so eben ihre Julius-Revoluzion aufgeführt und die ganze Welt applaudirte. Dieses Stück war nicht so gräßlich wie die früheren Tragödien der Republik und des Kaiserreichs. […] Auch waren die politischen Romantiker nicht sehr zufrieden und kündigten ein neues Stück an, worin mehr Blut fließen würde. 39
Die Fortsetzung dieser Frage – nach den Geisterräumen der politischen Romantik – wäre auf einer anderen Bühne zu betrachten.
39 | Heine: Florentinische Nächte, S. 234.
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Verwaltete Subjektivität, Detailarbeit, Musikermassen Acht Fragmente zur Modernisierung des Virtuosen
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1. U N P O P U L Ä R E V I R T U O S E N : Z U R T Y P O L O G I E D E S „M U S I C I A N S ’ M U S I C I A N “ Obwohl Popmusik bereits durch ihren Namen eine Publikumsorientierung zu signalisieren scheint, gibt es in ihren Szenen eine Anzahl von Musikern, die als „Musiker-Musiker“ gelten. Von anderen, teilweise sehr populären Musikern hoch geschätzt, ja verehrt, werden sie doch selbst nie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Dabei handelt es sich zumeist keineswegs um Künstler, die eine besonders schwer zugängliche, avantgardistische oder exzentrische Musik spielen, sondern im Gegenteil um solche, bei denen ein stärker technisch geprägter Zugang zu einer bestimmten Musikrichtung verhindert, dass sie eine allzu originelle Interpretation des Genres vorlegen oder sich vom Genre lösen. Diese Musiker-Musiker sind zu sehr damit beschäftigt, auf immer gekonntere Weise immer das Selbe zu spielen, um es zu Aufsehen erregenden Neuschöpfungen oder Stilmixes zu bringen. Sie produzieren eine Art von Blues, der eben gerade das ist: rauer, trockener, punktgenau trauriger Blues; eine Art von Singer-Songwriter-Folk, der exakt auf der Spur einer bekannten, von vielen Vorgängern ausformulierten Melancholie entlangläuft; eine Art von schnörkellos geradlinigem Rock, der das wohldefinierte Gitarrenriff als organische Einheit des Songs behandelt, als habe die Geschichte ihres Zerbrechens niemals stattgefunden. Ein Konservativismus, eine innerlich schwierige, nach außen hin umso grantiger verteidigte Liebe zur Tradition hält sie davon ab, die etablierten Konventionen eines Genres durch
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Neuerungen zu verraten oder am Spiel der De- und Refiguration teilzunehmen, das ‚Genre‘ zur Bezugsgröße einer postmodernen popkulturellen Ästhetik hat werden lassen. Wo sie ihr Spielen wie ein Interpretieren verstehen, agieren sie zu sehr als Kenner, um noch zu Laien zu sprechen (das Publikum findet sich stets im Vorfeld eines laienhaften Staunens, in einer Erwartung des Ereignisses, welche die vereinzelte Kennerschaft seiner Mitglieder gemeinsam suspendiert – d.h. in einem Augenblick, da der verfeinerte Sinn für das Selbe dem Gemeinschaftsdruck des Überraschtwerdenwollens durch etwas Anderes nachgibt). Wer die besondere Qualität dieser Musiker erfahren will, muss über ein ähnlich hervorragendes Know-who und Know-how des Genres verfügen wie sie. Und auch dann wartet keine Abweichung, nur eine unvergleichlich delikate Art, die Musik so zu spielen, wie sie auf der Höhe ihrer immanenten Ausdifferenziertheit, in ihrem Namen, gespielt zu werden gebietet. Mit anderen Worten, diese Musiker-Musiker sind ein besonderer Typ von Virtuosen: unpopuläre Virtuosen, die ihr Mehr an technischer Meisterschaft und Sophistication nicht für eine Öffentlichkeit Halbgebildeter nachvollziehbar machen. Die Popularität des Star-Virtuosen in der Musik hängt, wie Jankélévitch bemerkt hat, sehr viel eher vom Anblick seiner Performance ab als vom Klangereignis.1 Das Publikum braucht das Außergewöhnliche gar nicht zu hören, solange jeder es sehen kann (am Wirbel der Hände über den Klaviertasten, am Veitstanz des Geigers, an den Verrenkungen von Unterleib und Zungenspitze auf den Gitarrensaiten …). Auch den akustischen Merkmalen der im 19. Jahrhundert kodifizierten musikalischen Virtuosität, den Koloraturen, Arpeggien und Glissandi, Oktavsprüngen usw. eignet ein dem Visuellen zugedachtes, gebärdend-grimassierendes Moment. Die Virtuosität der Musiker-Musiker dagegen hält sich in der Dimension des Hörbaren verschlossen; ihr Spiel bringt keine gestische Figur hervor, die diese musikalische Produktion im Zeichen virtuoser Performance auszustellen erlaubte. Die Stars holen sie gern als Studio-Musiker für ihre Aufnahmen, da die Kombination von Brillanz und Unscheinbarkeit ideale Mitwirkende aus ihnen macht, und mitunter tritt einer dieser diskreten Virtuosen im Vorprogramm bei der Tournee eines Weltbekannteren auf. Häufiger jedoch liest man ihre Na-
1 | Vgl. Vladimir Jankélévitch: Liszt et la rhapsodie, Bd.1: Essai sur la virtuosité, Paris 1979, S. 124ff.
Ver waltete Subjektivität, Detailarbeit, Musikermassen
men nur in den Credits eines Albums bzw. erfährt von ihnen erst dort, wo sie eine andere Gruppe von Experten, die Musikjournalisten, beeindruckt haben, die ihre Bewunderung in einer massenhaft rezipierbaren Weise an das Publikum weitergeben, ohne dass dies wirklich zu einer Popularisierung der ehrfürchtig Erwähnten führt. In der gesamten Musik, ja in allen Künsten, die in der Neuzeit einen Anspruch auf Autonomie angemeldet haben, überlagern sich zwei Aufmerksamkeitsfelder: eine Szene, auf der die Künstler einander gegenseitig wahrnehmen, und eine, auf der die meisten von ihnen sich einem Publikum präsentieren. Georg Franck hat darauf hingewiesen, dass ästhetische Autonomie sich auf der ersten dieser beiden Szenen sozial realisiert. Zu einer Kunst, die ihren eigenen Gesetzen folgt, werden kulturelle Aktivitäten dort, wo Aktive zunächst auf die Arbeiten anderer Aktiver reagieren und darauf rechnen, mit ihrer eigenen Arbeit von jenen wahrgenommen zu werden.2 The audience ist diesbezüglich (nur) die Figur eines Dritten, der hinzukommt. Verleiht das Konkurrieren um die Gunst eines Publikums den Künstlern das Profil von Unternehmern, die auf einem gemeinsamen Markt mit ähnlichen Produkten um Abnehmer kämpfen, ist das Aufmerksamkeitsfeld, das die Sphäre der Produktivität konfiguriert, doch kein primärer Markt, der lediglich dem sekundären vorgeschaltet wäre. In seiner Beziehung zu anderen Kunstproduzenten geht es dem Kunstproduzierenden nicht in derselben Weise um Berühmtwerden, Akkumulation eines Maximums an Beachtung, Etablierung möglichst asymmetrischer, profitabler Beziehungen, bei denen er mehr Beachtung und Anerkennung bekommt, als er ausgibt. In der Ökonomie der Anerkennung von Produzierenden durch Produzierende bahnt die Wertschöpfung verschlungenere Pfade als auf Absatzmärkten. Die Frage des Status’ verknüpft sich hier allerorten mit der (Re-)Produktion von Produktivität. In der Popmusik fallen die Differenzen zwischen den beiden Aufmerksamkeitsfeldern nicht zuletzt deshalb besonders auf, weil der künstlerische Autonomie-Anspruch eher in der technischen Dimension des Performens vorgebracht wurde als durch die Abtrennung eines Werkes von den sozialen und ökonomischen Kriterien seiner Distribution und Verwendung. Die Produzenten haben kaum je auf ein „interesseloses
2 | Vgl. Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes, München/Wien 2005.
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Wohlgefallen“ bei der Rezeption spekuliert. Sie haben die ästhetische Signatur der Musik vielmehr in die Evidenz ihrer Wirksamkeit eingeschrieben, das Musik-Machen bewusst als strategische Auseinandersetzung mit der Vielfalt möglicher Gebrauchsweisen des Produktes verstanden. Wenngleich auch in der Popmusik die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts nicht ohne Resonanz blieben und immer wieder einmal Bands die Forderung erhoben, ihr Output solle wie „richtige Kunst“ gewürdigt, d.h. als Werk aus der Ökonomie der Verwertung geborgen werden, waren es nicht diese Forderungen, die dem Pop künstlerische Autonomie verschafft haben. Das geschah durch die vehemente Ausdifferenzierung jener Soziosphäre zwischen den Musikern, in der die vielen Aspekte des how to perform die maßgebliche Rolle spielten. Von den „rockistischen“ Figuren des Mucker-Daseins bis zu Elektronik-Gefrickel und Turntablism kann man im Technischen die unmittelbare Triebkraft der ästhetischen Autonomisierung erkennen – und zwar einem Technischen, das von Anfang an die Verschränkung von Spieltechnik (Umgang mit Instrumenten) und Sozialtechnik (Umgang miteinander) bedeutet. Das beginnt bereits beim Lernen des Instruments. Im Gegensatz zur klassischen Musik mit ihrer stark institutionalisierten Ausbildung ist das Lernen von Pop-Instrumenten in eine relativ wenig geregelte Interaktion zwischen Produzierenden eingelassen. Man lernt einerseits, während man bereits in einer Band spielt, so dass die technischen Fortschritte sich zumindest zum Teil in einer kollektiven Dynamik ergeben (mit der Konsequenz, dass Instrumente und Spieltechniken im Pop auch schon vor der Epoche des Sampling füreinander durchlässiger waren als in der Klassik), und andererseits in einem realen oder virtuellen Mitvollziehen des Spiels von persönlichen Helden.3 Das Begehren nach Professionalität sieht es nicht auf das Erlangen institutioneller Qualifikationen ab (obwohl die Musikhochschulen mittlerweile Pop in ihren Aus-
3 | Dieses mimetische Moment greifen Computerspiele wie Guitar Hero oder Rock Band auf – und eröffnen die Szene für eine weitere Variante von Virtuosität, deren populäre Dynamik sich parallel (und mitunter im Konflikt) zur Welt der Popmusik entfaltet. Vgl. dazu Kiri Miller: Virtuosity without Virtue. Guitar Hero Reception Discourses, in: Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.): Prekäre Exzellenz. Künste, Ökonomien und Politiken des Virtuosen, Freiburg i.Br. 2011, S. 103-120.
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bildungskanon integrieren); es belebt eine Dramaturgie sich wechselseitig steigernder Anerkennung. Ob ein Popmusiker als professionell gilt, bezieht sich vornehmlich auf seinen sozialen Status innerhalb der Szene von Musikern, zu der er gehört. Auch ein großer Publikumserfolg mit einer Veröffentlichung befreit eine Popband nicht vom Verdacht, ein Haufen Nichtskönner zu sein – im Gegenteil: je weiter die Medienkonzerne ihre ökonomischen Strategien des Star-Machens perfektionieren und das Startum von den technischen Leistungen eines Musikers ebenso abkoppeln wie von der schöpferischen oder persönlichen Originalität, desto prekärer wird der professionelle Status der Erfolgreichen.4 Professionalität ist in der Popmusik noch weitaus mehr als in anderen Bereichen eine Sache des Rufs. Und der Ruf ist weitaus mehr als woanders das Substrat der Fähigkeit, andere, renommierte Musiker für das eigene Spiel zu begeistern. Der Musiker-Musiker ist in diesem Zusammenhang jemand, der die Bedingungen der intraprofessionellen Anerkennung seines Könnens übererfüllt. Er erscheint den anderen als Figur ihrer Liebe zur Musik, ruft eine im mehr oder weniger dominanten Streben nach dem Publikumserfolg vergessene oder verdrängte ursprüngliche Motivation in Erinnerung, die nicht allein den persönlichen Status, sondern den der Pop-Kunst betrifft. Mit seinem Verzicht auf Öffentlichkeit genügt der Musiker-Musiker einem doppelten systemischen Zweck: Zum einen sichert er dem Genre, dem er sich verpflichtet, durch seine eigene Professionalität die Würde des professionell Betriebenen. Zum anderen gibt er den Erfolgreicheren, die ihm Anerkennung zollen‚ etwas von der unkompromittierten Wirklichkeit eines Performens zurück, das glücklich macht – etwas von jenem Glück des Selben, das sie für andere Versprechen eingetauscht haben. Seine unpopuläre Virtuosität hält so die populäre aufrecht. Er ist nicht nur ein großartiger Kollege; indem er ihre Begeisterung verdient, schützt er seine Kollegen vor der vielleicht unverdienten Begeisterung derjenigen, von denen sie leben.
4 | Dabei kann das Unvermögen im Pop strahlen. „Keiner kann es so gut nicht wie Ringo“, schreibt Diedrich Diederichsen in Über Pop-Musik (Köln 2014, S. 48). Das glanzvolle Unvermögen setzt vielleicht sogar den ersten Standard für einen poptypischen Erfolg, der sich dann genreabhängig mit technischen Kompetenzkriterien mehr oder weniger mischt, mal von beeindruckender Spieltechnik gekrönt, mal davon getrübt wird.
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2. S K A L I E R U N G E N „[D]as Verkäufliche ist selber die von Subjektivität verwaltete Subjektivität“, schreibt Adorno in den Minima moralia. „Der virtuose Gebrauch der ‚Skala‘, der den Artisten seit dem neunzehnten Jahrhundert definiert, geht aus der eigenen Triebkraft, nicht erst durch Verrat in Journalismus, Spektakel, Kalkulation über.“ 5 Es ist in der Tat wichtig, für eine Würdigung der Virtuosität nicht weniger als für ihre Verurteilung, das ästhetisch Inakzeptable daran dem Spiel selbst zuzuschreiben. Virtuose Performance ist von ihrem modernen Anfang im 19. Jahrhundert an Verwaltung dessen, was durch sie zum Ausdruck kommt. Und ihre Selbstbestimmung sollte in einem Realismus der Verwaltung, nicht in einem des Ausdrucks erfolgen. Die Technisierung des Handelns, die virtuose Performance voraussetzt und vorantreibt, findet in der Skala ein Format. Im Zeichen von Skalierung hängt jene ‚äußere‘ Zerlegbarkeit der Performance, an der journalistische Diskurse, Spektakel-Ökonomie und Verwertungskalküle ansetzen, mit deren ‚innerer‘ Zerlegung zusammen: Wo jemand virtuos werden soll, muss der Bereich dessen, was sich machen lässt, bereits aufgeteilt worden sein. Virtuos-Werden nimmt eine solche Aufteilung des Machbaren als Gelegenheit wahr. Und so er das Maximale aus der Gelegenheit herauszuholen sucht, nimmt der Performer sie auf sämtlichen Ebenen wahr: in der Konstruktion des Instrumentes; in den kompositorischen Strukturen; im Spektrum, das ein Konzert durchläuft; im Repertoire. Das Klavier ist für das Virtuosentum in der Musik ein exemplarisches und zugleich ein kritisches Instrument, insofern seine Mechanik der Klangerzeugung die Logik der Skalierung direkt umsetzt (der Name Pianoforte sagt das ganz unverblümt). Bei der Geige bleibt die Beziehung zwischen der mechanischen Aufteilung und dem Ton bzw. Klang noch disponibel. Paganini, der dafür berühmt war, Saiten reißen zu lassen und das Konzert allein auf der G-Saite zu Ende zu spielen, konnte deshalb die Behauptung von Novalis beweisen, die Aufteilung in Saiten sei „nur
5 | Theodor W. Adorno: Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 2001 (1951), S. 412f.
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zur Bequemlichkeit“, es gebe eigentlich „nur Eine Sayte“.6 Der Bau des Klaviers dagegen verknüpft dessen Elemente und das akustische Resultat relativ fest. Das Klavier vergegenständigt die materielle Seite der musikalischen Performance, es funktioniert weitgehend als Apparat. Heidegger zögert einmal, ob die Schreibmaschine wirklich schon Maschine sei oder noch Werkzeug – ob sie in das moderne Wesen der Technik gehöre und ihr Funktionieren dessen Bestimmung vollstrecke oder ob sie im Zuhandenen verbleibe, denn sie scheint als „Mechanismus“ gerade zwischen beidem angelegt und angehalten.7 Ein Klavier ist in ähnlicher Weise ein „Zwischending“, eine musikalische Schreibmaschine: Es ist viel mehr als zuhanden, aber das Mehr ist dem Menschen, der es verwendet, nicht endgültig aus der Hand genommen. Hände, die ihrerseits vermögen, weit genug über die Handhabung hinauszugehen, werden sich dieses Mehr wieder aneignen können – noch einmal, vielleicht zum letzten Mal in der Geschichte (in Gestalt des Klaviers wartet andererseits das ins einzelne Instrument befohlene Orchester, das dirigieren muss, wer z.B. Beethoven spielt 8). 6 | Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 3: Das philosophische Werk II, Stuttgart 1983 (3. Aufl.), S. 283f., Nr. 245. 7 | „In der ‚Schreibmaschine‘ erscheint die Maschine, d.h. die Technik, in einem fast alltäglichen und daher unbemerkten und daher zeichenlosen Bezug zur Schrift, d.h. zum Wort, d.h. zur Wesensauszeichnung des Menschen. Hier hätte eine eindringlichere Besinnung zu beachten, daß die Schreibmaschine noch nicht einmal eine Maschine im strengen Sinne der Maschinentechnik ist, sondern ein ‚Zwischending‘ zwischen einem Werkzeug und der Maschine, ein Mechanismus.“ (Martin Heidegger: Parmenides, GA Bd. 54, Frankfurt a.M. 1982, S. 126f.) 8 | Roland Barthes nennt Beethoven denjenigen Komponisten, mit dem die somatisch-imaginäre Mimesis, das Mitvollziehen, das es zur Wahrnehmung und zum Mit-Genießen von Virtuosität braucht, kollabiert. Die Musik Beethovens kann der bürgerlicher Amateur nicht mehr mit dem Gefühl der Befriedigung zu Hause spielen, da sie nicht mehr die manuelle Spur eines Machens ist, sondern auf ganzer Linie orchestral, Feld einer Totalisierung des Körpers als Kollektivsingular: „Der Leib will total sein; dadurch wird die Vorstellung eines Machens im engsten Kreis gestört; Beethoven spielen wollen heißt, sich in einen Dirigenten projizieren [...].“ (Roland Barthes: Musica Practica, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a.M. 1990, S. 264-268, hier S. 267)
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Virtuoses Spiel auf dem Klavier passiert, wenn der Musiker die fixe Aufteilung des Instruments mit ihrer hohen Ausgangskomplexität wiederum in eine freie(re) Disponibilität überführt: wenn er die lineare Ordnung der Klaviatur durch das Spiel darauf so in Bewegung versetzt, dass sich daraus andere Ordnungen zu ergeben, andere Beziehungen als das horizontale und vertikale Nebeneinander schwarzer und weißer Tasten hervorzutreten scheinen (scheinen – denn was die Performance erwirkt, hält sich, gerade auch als Wirkung auf das Instrument, schwebend zwischen Illusion und Realität; es besteht und es beeinflusst in der Fiktion). Indem er neue Skalen erfindet, reorganisiert der virtuose Pianist das Klavier. Das erneuert im komplexeren, starreren Mechanismus etwas von der Freiheit, die der einfachere, flexiblere Mechanismus gewährt hatte. Liszt orientierte sich nicht zufällig am Geigenspiel Paganinis, um eine virtuose Spielweise auf dem Klavier zu entwickeln. Seine Versuche, die andersartige Skalierung der Violine (die größere räumliche Nähe der Töne, die Möglichkeit des Gleitens auf den Saiten, die Alternativen zur Erzeugung desselben Tons, die höhere körperliche Beweglichkeit des Instrumentalisten) in entsprechenden Effekten mit der Mechanik des Klaviers zu reproduzieren, initiierte eine performative Neubestimmung des Tasteninstruments. Skalierung betrifft im Hinblick auf Virtuosität die Wechselbeziehung von (Spiel-)Technik und (Apparat-)Technologie: das Aufeinandertreffen zweier Steigerungen im Körper des Instruments, das sowohl ein Produkt technologischer Entwicklung ist als auch ein Medium des Hervorbringens von Effekten. Das findig-erfinderische Kalibrieren von Skalen – die Veränderung dessen, was wir unter einer Skala verstehen können – zählt zu den bis heute interessantesten Leistungen des Virtuosen. Adornos Kritik erfasst nur eine Seite der Skalierung. Zweifellos spielt die Aufsplittung der musikalischen Performance in eine Skala von artistischen Figuren, die der Musiker „drauf hat“ und die das Publikum zu hören (und möglichst zu sehen) begehrt, eine maßgebliche Rolle für den kommerziellen Erfolg der Virtuosen seit dem 19. Jahrhundert und damit für die Kommerzialisierung von Musik überhaupt. Doch dieselbe Reduktion ästhetischer Subjektivität auf das verwaltbare Spektrum von Sinn- und Emotionseffekten erschließt der Musik einen neuen Wirkungsbereich, ja eine neue Wirklichkeit, nämlich die eines Mediums der Organisation. Aus eben dem Grund, der sie ästhetisch diskreditiert, wird die musikalische Performance zu einem Untersuchungs- und Experi-
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mentierfeld für die Praxis des Organisierens. Die Aufführungen virtuoser Musiker bieten der Welt Anlässe, bei denen ihre Bewohner eine vom Ästhetischen halb ins Vergessen gedrängte technische Freiheit der Praxis (wieder-)entdecken können: eine performative Freiheit, die nichts mit der des kreativen Schöpfers gemein hat, die sich vielmehr dort äußert, wo die Performance das Werk als Material gebraucht, um ihre eigene materielle Realität, die der instrumentalen Klangerzeugung, einzurichten. Was heute in Software-Entwicklung und Workflow-Design unter der Bezeichnung „scalability“ große Aufmerksamkeit erfährt, wäre von den romantischen Virtuosen früh zu lernen gewesen, hätte man sie weniger als (pseudo-)geniale Gefühlsproduzenten und mehr als Experimentatoren einer niemals vollends im Technologischen aufzuhebenden Technik betrachtet.
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UND INDUSTRIE
Es besteht ein struktureller Zusammenhang zwischen den offiziell jeder Kunst und Würde beraubten Leistungen, wie die Manufaktur- und Industriearbeiter sie in Betrieben vollbrachten, und derjenigen Figur des Virtuosen, die sich im 19. Jahrhundert herausbildete. Was der Industriekapitalismus massenhaft umsetzte, entfaltete künstlerische Virtuosität auf der Szene des Subjekts bzw. im Format subjektiver Selbstinszenierung. Dem einen wie dem anderen liegt die Abtrennung der einzelnen Tätigkeit von ihrer Zweckbestimmung durch die zu schaffende Ganzheit eines Werkes zugrunde: Wo der Herstellungsvorgang zum Arbeitsschritt wird, dessen Ausführung für sich steht, öffnet dies das Reich der virtuosen Steigerung. Die Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit der jemand am Fließband ein ums andere Mal seinen Handgriff verrichtet, die unscheinbaren Steigerungen, die er selber in diesen vorgegebenen mechanischen Ablauf einfügt (oder aus ihm herausholt) und die nur work performance ergeben und keinen Beitrag zum Endprodukt – diese Anzeichen einer „Virtuosität des Detailarbeiters“ 9 sind dunkle Reflexe des Künstler-Virtuosen, der sich im Rampenlicht auf Koloraturen, Spitzentöne, Arabesken oder spektakuläre Sprünge kapriziert, statt eine angemessene, in Propor9 | So Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 4. Abschnitt, 12. Kapitel, Nr. 2 („Der Teilarbeiter und sein Werkzeug“), in: ders./Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA), Abt. II, Bd. 6, Berlin (Ost) 1987, S. 335 ff., hier S. 335.
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tion zur Harmonie des Ganzen stehende Wiedergabe des Kunstwerkes zu liefern. Und umgekehrt. Es lässt sich nicht einmal sagen, was früher war: Subjektivität ist in dieser Epoche längst so sehr technischer Effekt, dass die scheinbar unmenschliche Maschinenarchitektur geradezu danach schreit, vom Subjekt bespielt, zu seiner Bühne erkoren zu werden. Charlie Chaplins berühmte Tanzeinlage in Modern Times – eine Ensemble-Choreographie, die Räder, Hebel und Schrauben genauso zu Partnern nimmt wie menschliche Statisten – realisiert lediglich im wohlgelittenen Modus filmischer Illusion, was als Phantasma die ganze Zeit in der Luft der Werkhallen hängt, aber einer gesellschaftlichen Zensur unterliegt. Heidegger hat in seiner Erörterung der Technik das zentrale Tabu der bürgerlichen Gesellschaft hinsichtlich der industriellen Revolution benannt, das verhindern sollte, dass die industrielle Refiguration des Handelns und Herstellens wirklich revolutionäre Kräfte freisetzte: Die Maschinentechnologie ist in Wahrheit alles andere als das Resultat eines Bruchs mit dem Humanen. In ihr totalisiert sich vielmehr jenes Verhältnis, das die abendländische Metaphysik im Namen des Subjekts zwischen dem Menschen und ihm selbst konstruiert hat. Durch die Maschinisierung, die ‚Welt‘ in eine Menge von Wirkungsrelationen verwandelt und so etwas wie Natur, als Anderes des menschlichen Sicheinrichtens, schlicht einspart (oder auf ein störendes Objekt wie eine Biene vor der Nase komprimiert), erlangt dieses subjektive Selbstverhältnis erst eigentlich Universalität. Im technologisch betriebenen Universum gibt es keine Szene mehr, die nicht von einer Vorstellung des Menschen besetzt wäre.10 Mit der Maschine sehen wir das delikate Innenleben auf Selbststeigerung programmierter menschlicher Existenz in der Sphäre der res extensa entpackt und in Gestalt von Apparaten provisorisch dort befestigt. Die naheliegende Reaktion eines Humanoiden beim Anblick dieser Getriebe, nachdem einmal das Erschrecken vor dem nach außen Gekehrten halbwegs abklingen konnte, ist eben die Chaplins: mit den Maschinen zusammen zu tanzen; sich des Identischen 10 | „Indem aber der Mensch dergestalt sich ins Bild setzt, setzt er sich selbst in Szene, d.h. in den offenen Umkreis des allgemein und öffentlich Vorgestellten. Damit setzt sich der Mensch selbst in die Szene, in der das Seiende fortan sich vorstellen, präsentieren, d.h. im Bild sein muß. Der Mensch wird der Repräsentant des Seienden im Sinne des Gegenständigen.“ (Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: ders: Holzwege, Frankfurt a.M. 1972, S. 69-104, hier S. 84)
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von vorgestelltem Mensch und hingestellter Maschine in einer virtuosen Performance zu erfreuen, die zeigt, wie viel Spiel im Rationalisierungsprozess steckt und wie viel von Rationalisierung im Spiel.11 Virtuosität enthält das Eingeständnis der technischen Verfassung von Subjektivität – ein Geständnis, das Performance teilweise macht, wo sie der Verlockung virtuoser Steigerung nachgibt, und das wahrscheinlich nur so, als Teil für Teil herauskommende Wahrheit der effektiven Teilungen zu leisten ist. Das am schwersten Zuzugebende an dieser Wahrheit aber scheint das Glück, das empfindet, wer aufhört, sich um organische Totalität zu scheren und dem Totalen endlich in seinem freien, eiernden, holpernden Lauf folgt, den ‚Steigerung‘ auf der Schlussstrecke des Metaphysischen darstellt. Die Propagandisten (und später die Apologeten) der modernen Technik haben es immer wieder zwischen den Zeilen verraten, doch die bürgerliche Moral verlangte, dass es sich als Kunst verkleidet, um zumindest ein bisschen anerkennbar zu sein: Mechanische Bewegung macht glücklich. Denn in ihr genießt der Ausführende eine Freiheit, und zwar eine für die bürgerliche Ethik intolerable Freiheit: eine Freiheit-von. Sämtliche bürgerliche Freiheiten sind Freiheiten-zu (die wenigen Überreste der Freiheit-von wurden in Sicherheiten umdefiniert). Die Freiheit der mechanischen Bewegung dagegen ist Freiheit, gerade
11 | Der gleitende Übergang des Performers von einem Kollektiv in ein anderes ist ein wichtiger Teil der Komik in Modern Times. Der Arbeiter Charlie rastet aus – weil er woanders einrastet: Verrückt gemacht von den schnellen Rhythmen der Maschinen, die sich seiner Körperdynamik bemächtigen, bricht er aus der Reihe der gleichgeschalteten Arbeiter aus (und das wird auf der ‚moralischen‘ Ebene durch Einweisung ins Irrenhaus bestraft). Doch der Ausbruch führt direkt in ein viel großartigeres und in jeder Hinsicht schöneres Kollektiv: eine Welt, in der Menschen und Maschinen beliebig aneinander anschließbar und austauschbar sind, wo sogar das sexuelle Begehren im Spaß an der Passung zwischen Schraubenschlüssel und Mutter aufgeht. Wenn der Wahnsinn das ist, was kein Werk oder keinen Sinn für produktive Arbeit hat, wie Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft behauptet, dann ist die Wahrheit des Wahnsinns in der industriellen Epoche der virtuose Tanz, in dem Mensch und Maschine gleichermaßen ihre Bestimmung als Produktionsmittel vergessen und sich der nackten Performanz in jenen allseitigen Passungen hingeben, in die industrielles Produktionsdesign das Produzieren zerdacht hat.
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insoweit die Bewegungen von ihrem -zu befreit sind. Das Vergnügen, das sie bereitet, verdankt sich der Gleichgültigkeit gegen den Zweck. Das bürgerliche Weltbild kennt aber nur einen rechtmäßigen Ort der Zweckfreiheit: das Ästhetische. Deshalb löst das, was, auf der Szene des Ökonomischen vorgeführt, eine provozierende Obszönität darstellte, auf einer Szene der Kunst allgemein einstimmungsfähige Heiterkeit aus. Der Künstler Chaplin darf zum Subjekt jenes Genießens werden, das in vollkommener Harmonie mit der Industrieanlage das subjektive Wesen von dessen Technologie enthüllt. Einem Fabrikarbeiter, der dasselbe täte, dem es einfiele, das Inhumane der Fabrik zu enttarnen, indem er zeigte, wie leicht es jedem Menschen fällt, sich das dort Entfremdete wiederanzueignen, lohnte sein Publikum das mit Verachtung und Entsetzen. Ein Skandal, der uns erspart blieb – da der Fabrikarbeiter niemals ein Publikum hatte. Siegfried Kracauer registrierte in Das Ornament der Masse, wie die Rationalität der Massenproduktion im Entertainment, dem weniger von ästhetischer Theorie beschirmten Segment der Kultur, auf die Bühnenkunst übergriff. 12 Die in diesem allzu erklärlichen Vorgang verschlossene Frage lautet: Was verhinderte, dass die Fabriken im selben Zug zu Bühnen mutierten? In dem Moment, da an die Stelle handwerklicher Anfertigung mechanisches, maschinenkompatibles Ausführen tritt, bekommt das Management der Fabrikation die Aufgabe, die Zweckentfremdung der Bewegung unsichtbar zu halten. Das Vorenthalten eines Publikums muss sicherstellen, dass das Geschehen in den Fabriken nichts als Arbeit gewesen sein wird. Der Überwacher am Monitor besetzt den Platz des Zuschauers.13 Und so ist der Detailarbeiter zwar der erste Performer im Bereich der Produktion; aber die Tatsache, dass er mit Leichtigkeit arbei12 | Vgl. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse, in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M. 1963, S. 50-63, bes. S. 53f. 13 | Diese Szene gibt es auch in Modern Times, jedoch mit einer einflussreichen Verschiebung: Es wird suggeriert, dass der Fabrikdirektor, der die Arbeit in den Hallen mittels einer Kameraanlage überwacht, in Wahrheit ein Voyeur sei, der das Schauspiel der Produktionssteigerung wie ein Zuschauer genießt, nachdem ihm sein Puzzle und die Lektüre eines Comic-Magazins kein rechtes Vergnügen mehr bereiten. Die Wirklichkeit ist aber eben die umgekehrte: Die Aufgabe des Überwachers besteht darin, den Platz des Zuschauers zu blockieren; er sorgt dafür, dass niemand dort Platz nimmt, dessen Affekte die eines Publikums wären.
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tet, ohne etwas Richtiges gelernt zu haben, und dabei auf der Höhe des Vollziehens seiner Tätigkeit dasselbe Verhältnis dazu hat wie ein Jongleur zu seinen Bällen oder der Pianist zu einer Reihe von Triolen, bietet keinen Anlass zum Staunen, weil die Organisation der Fabrik den dort Beschäftigten bessere Zeugen verweigert als ihre Vorgesetzten. Neben dem tanzend-arbeitenden Chaplin taucht jedes Mal zuverlässig ein plumper Repräsentant des Funktionalismus auf, der von Virtuosität nichts weiß und dessen Körper nur eine einzige Bewegung kennt: das Zeigen mit dem Finger auf das nächste Stück auf dem Band. Das Aufmerksamkeitsregime, das man etabliert, um industrielle Arbeit in bürgerliche Gesellschaft einzugliedern, neutralisiert die Anwesenheit von anderen in der Fabrik – durch eine Neutralisierung des Anderen unter den Anwesenden. Die Gleichheit derer, die an den Maschinen spielen, systematisch ignorierend, bis jenen selbst die Gewissheit davon abhanden kommt, setzen die im abgesperrten Territorium der Werkhallen installierten Prozesse eine Gleichartigkeit durch. Im Zustand des Gleichartigen vermag niemand mehr Handlungen zu bezeugen, die ein anderer vollzieht, da alle unter dem Dach der Firma denselben Betrieb bedienen. Der industrielle Apparat, der das ökonomische Genie des Unternehmers und das technologische des Ingenieurs (später dann das organisatorische Genie des Managers) repräsentiert, zieht alle Achtung auf sich, und er zieht sie von dem ab, was die Arbeitenden in ihren subalternen Positionen tun können.14 In Arbeiter verlassen die Fabrik montiert Harun Farocki Filmmaterial aus hundert Jahren, das die Grenze des Werksgeländes als eine Art von Nicht-Szene zeigt, wo Menschen aus ei14 | Die Strategien und Verfahren dieser Invisibilisierung der Virtuosität und ihrer Grundlagen verdienten eine eigene Analyse. Taylors Kooperation mit Gilbreth, die Nutzung der Chronophotographie bei der Entwicklung der „time and motion studies“ scheint z.B. auf das Sichtbarmachen von work performance abzuzielen. Doch die objektivierende Zerlegung der Bewegung in Einzelbilder und die erneute Zusammensetzung des ‚Arbeitsablaufs‘ aus diesen Bildern drängte gerade ins Unmerkliche, wie diese Bewegung, die Taylor optimieren wollte, von ihrem Zweck abgetrennt war. Und diese Verdrängung schuf wiederum die Bedingungen dafür, dass dieselben Fotografien mit ästhetischem Genuss betrachtbar waren – und dies bis heute sind. Die ästhetische Zweckfreiheit fand keinerlei Widerstand an ihnen, da ihre eigene, ökonomisch induzierte Zweckfreiheit in dem von der Bilderfolge Dargestellten getilgt war.
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nem Privatraum kommen und ohne Aufenthalt im Off verschwinden. 15 So zahlreich die feinen Unterschiede im Gang, in der Körperhaltung, in den Gruppierungen und Vereinzelungen sind, machen die Bilder deutlich, in welch geringem Ausmaß das Innere der Fabrikhallen, der Ort, an dem die Arbeit stattfindet, die Öffentlichkeit eines Schauplatzes eingelassen hat. Die Sicherheitstechnologie, die Unbefugten den Zutritt und Einblick verwehrt, perfektioniert sich hingegen immer weiter. 16 Zu der großen Inszenierung, mittels derer der Mensch sich selbst in die Szene setzt, gehören solche Zonen des Aborts von Öffentlichkeit. Durch diesen Entzug von öffentlicher Aufmerksamkeit und der entsprechenden Anerkennung bleibt Fabrikarbeit eine niedrig bewertete Tätigkeit in der bürgerlichen Wertehierarchie, während man virtuose Musiker, Sänger, Tänzer und Schauspieler verehrt und das Zweifelhafte an ihrer Spitzenleistung zum Anlass nimmt, die Begeisterung, da sie für die Akkumulation auf einem emotionalen Sparkonto schlecht geeignet erscheint, in der unmittelbaren Reaktion vor Ort auszugeben. Keine Anstrengung, nicht einmal die Bemühungen um eine sozialistische Poetik der Arbeit, wie z.B. die Bitterfelder Beschlüsse in der DDR sie erzwingen wollten, hat das zu kompensieren, geschweige denn die Implementierung des Mangels an Anerkennung für das, was Menschen einfach so tun können, aufzuheben vermocht. Die bürgerliche Zuteilung von Freiheiten bestand allezeit darauf, dass die Arbeit zur Kunst kommen müsse, um etwas von der Freiheit des Virtuosen zeigen zu dürfen. In den 1990er Jahren hatte eine Gruppe namens Tap Dogs Welterfolg mit einer Show, in der muskulöse Männer im Arbeiter-Outfit Steptanz-Choreographien vorführten.17 Die Kombination aus einer industriell gefärbten Atmosphäre mit ihrer von Schweiß, Dreck und gestählten Körpern bestimmten 15 | In seiner ersten Fassung wurde der Film 1995 fertig gestellt; er bezieht sich auf den ersten vor zahlendem Publikum gezeigten Film La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon der Brüder Lumière von 1895. 16 | Die Videobilder einer elektronisch überwachten Schranke verknüpfen Arbeiter verlassen die Fabrik mit Farockis anschließender Studie Gefängnisbilder (2000). Eine ergänzte Version von Arbeiter verlassen die Fabrik präsentierte Farocki nach 2006 auf mehreren Ausstellungen als Installation mit nebeneinander angeordneten Monitoren. 17 | Die Truppe produziert weiterhin Shows und unterhält mittlerweile eine eigene Tanzschule. Vgl. http://www.tapdogs.com (letzter Zugriff: 20.07.2016).
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Maskulinität und dem ganz auf virtuose Leichtigkeit gedrillten Steptanz faszinierte eine ähnliche Zuschauergruppe, wie sie in den 1920ern die von Kracauer analysierten Revuen frequentiert haben mag. Dies geschah bezeichnenderweise zu einem Zeitpunkt, als die Figur des Arbeiters aus der Produktion bereits weitgehend entlassen war und damit verfügbar für Re-Inszenierungen als ‚Kultur‘, als Objekt eines apolitischen Genießens und seiner reaktionären Erotik (die ein irreguläres Können als sexuelle Potenz codiert, um potenziell politische Energien für ein garantiert privates Imaginäres zu absorbieren). Versuchten Bands wie Test Dept. oder die Einstürzenden Neubauten unter dem Label „Industrial Music“ im Schweren, Lauten und Brutalen der Bearbeitung von Stahl durch Stahl das Potenzial einer revolutionären Gewalt hörbar und tanzbar zu machen, die ökonomisch halb verlassene Fabrik durch Kunst zum Instrument politischer Bewegung umzuorganisieren (und blieben damit, auch gegen ihren Willen, Avantgarde), schöpfte das Erfolgsrezept von leichtfüßigem Tanz vor Industriekulisse ein Wohlbehagen aus der Gewissheit, die Gefahren der industriellen Epoche heil, unverändert überstanden zu haben. „[H]e recast the trope of the human motor itself as a site of nostalgic longing“, schreibt Judith Hamera über Michael Jackson, einen der Protagonisten dieser idyllisierend-nostalgischen Kulturindustrialisierung der Fabrik. „Fordist mechanization viewed retrospectively through the anxieties of deindustrialization was not standardized wage slavery but a vehicle for self-expression and mobility, just as Motown, modeled on the Ford’s River Rouge assembly line, conveyed the Jacksons out of the inferno of Gary’s steel mills to a phantasmatic place of control over their labor.“18 Kunst übernimmt hier im Nachhinein die Entschuldigung dessen, was an der Fließbandarbeit noch nicht so fließend war wie der postfordistische Workflow. Sie entzückt mit dem genau entgegengerichteten Sinn derselben Virtuosität, die Marx auffiel. Die virtuose Leichtigkeit des Tanzes überbringt die Botschaft: Schau, so schlimm kann es ja nicht gewesen sein – damals! Was stünde aber mit der Bewunderung für die Virtuosität von Arbeitenden, die nicht den Fluchtweg über eine ästhetische Läuterung des Ökonomischen nimmt, auf dem Spiel? Jacques Rancière überlegt in Aux bords 18 | Judith Hamera: The Precarious Excellence of Michael Jackson. Dancing American Deindustrialization, in: Brandstetter/Brandl-Risi/van Eikels (Hg.): Prekäre Exzellenz, S. 121-128, hier S. 126.
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du politique, ob man die Revolution statt als Umsturz der Besitzverhältnisse nicht eher als Wendung der Performance-Verhältnisse denken sollte: Vielleicht ist es in der Tat [en effet] nicht notwendig, dass die Arbeiter, um Gleiche zu sein, ihre Fabriken besitzen und sie selber betreiben. Es genügt vielleicht, wenn sie bei Gelegenheit [à l’occasion] demonstrieren, dass sie es tun können.19
Das knüpft Gleichheit an die Demonstration eines Könnens. Und dieses Können wäre sowohl von dem Effekt her zu verstehen, der es effektiv von der Notwendigkeit befreit, sich in einem Besitzen und Betreiben zu objektivieren, als auch von der Gelegenheit zur Demonstration. Das Genügen, das Rancière gegen den großen Anspruch einer Revolution zu den Konditionen der Ökonomie beiläufig einführt, hat seinerseits eine revolutionäre Pointe: Es ist eine endliche Größe des Wirklichen. Und es gibt Affekte – positive, öffentlich äußerbare Affekte der Anerkennung –, die dieser Größe entsprechen. „Vielleicht genügt es…“ lässt die Option gelten, für die Gleichheit gehe es nicht um den Aufweis einer Möglichkeit („Die Arbeiter könnten als Gleiche Anerkennung finden…“), die sich in einer Bedingung verwahrt („…wenn es ihnen gelänge, ihre Fabriken selber zu betreiben“). Es gehe nicht darum, eine solche Möglichkeit gegen die Realität in Anschlag zu bringen, in der die Arbeiter die Fabriken nicht besitzen und weit davon entfernt sind, diese selber zu verwalten. Der Kampf, den diese Rhetorik des politischen Handelns einrichtet, soll mit Bedacht nicht zwischen einem Möglichen und einem Realen stattfinden. Er hat seinen Ort und seine Zeit zwischen einer Wirklichkeit, die sich als Wirklichkeit eines Es-Tuns bei Gelegenheit („à l’occasion“) der Gegenwart bemächtigt, und der sich ihrerseits stets strategisch im Möglichen zurückhaltenden und vorbehaltenden Realität der ökonomischen und sozialen Ungleichheit. Die Demonstration des Könnens erlangt ihre Wirksamkeit darin, dass sie ihre Wirklichkeit – eben: die einer Demonstration – den von Arbeitgeberseite behaupteten Fakten entgegensetzt, anstatt den nahezu zwangsläufig zum Scheitern verurteilten Versuch zu unternehmen, sich in das Feld der ökonomisch und sozial ermittelten Fakten zu integrieren. Rancière zählt mehrere Beispiele auf, in denen es zur Übernahme von Fabriken durch die Belegschaft kam, und er lässt ihnen Gerechtigkeit 19 | Jacques Rancière: Aux bords du politique, Paris 1998, S. 91 (Übersetzung K.v.E.).
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widerfahren, indem er sie nach ihrem Wert als Demonstrationen beurteilt, nicht nach ihrem geringfügigen und rasch annullierten Beitrag zur Eroberung von Besitztümern. Die Leistung solcher Aktionen besteht darin, zusammen mit der Produktion eine Öffentlichkeit zu organisieren, die im selben Moment, da Menschen erblicken, was in den Fabriken passiert, die Freiheit innerhalb der work performance bezeugt, da man sie ausnahmsweise am Werk sehen kann, und die Normalität, die verhindert, dass diese Freiheit Wirkungen zeitigt. Zum Zeugen davon zu werden, dass Arbeiter eine Fabrik in eigener Regie betreiben können – dass sie ernsthaft Fabrik spielen können, weil sie schon lange im Schatten eines auferlegten Ernstes Fabrik spielen –, legt die Konstitution der realen Verhältnisse offen, unter denen sie arbeiten: Verhältnisse, die dem Spielerisch-Leichten der work performance sein Freiheitsmoment absprechen und „Organisation“ zum Bollwerk fremdbestimmter Schwierigkeiten erklären. Eine Demonstration bei Gelegenheit zeigt, dass die Ungleichheit nicht das Reale ist, an dem die Illusionen der Gleichheit bedauerlicher-, aber notwendigerweise zerschellen. Sie führt die Ungleichheit als eine Realität vor, deren Konstruktion eben dadurch Bestand hat, dass sie einen Teil der Wirklichkeit verleugnet und ausschließt: das virtuose Mehr der Arbeiter. Es ist der systematische Abzug dieses virtuosen Mehr, der das, was die Arbeiter tun, auf das Null-Niveau von nichts-als-Arbeit drückt, es zu einem zurecht untergeordneten Ausführen macht, das nicht imstande wäre, sich aus eigener Kraft zu organisieren. Marx wollte offenbar keine Hoffnung daran verschwenden, der Virtuosität des Detailarbeiters im Verlauf der historischen Zeit noch die Bewunderung zu verschaffen, die ihr gebührte. Seine Bestimmung des Proletariats als politischer Klasse ersehnte im Gegenteil das Fehlen von Anerkennung zur Quelle des Aufbegehrens. Und auf der Szene des revolutionären Aktes, wie Marx ihn dachte, scheint kaum Spiel für dieses Virtuose und seine Freiheit zu sein. Mit Rancières politischer Relektüre einer Geschichte der Arbeit könnten wir indes von jenem unscheinbaren Mehr ausgehen, das Arbeiter seit Anbruch der industriellen Epoche in ihrer Rolle von work performers kultiviert haben – von dem, was an der Leichtigkeit ihres Umgangs mit dem wiederholt zu Verrichtenden auf eine Distanz verweist und was die Gewinne, die Freiheit gegenüber der Sklaverei bedeutet, nach Steigerungen in und aus diesem Abstand zwischen Ausführung und Auszuführendem bemisst.
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4. M A S S E /K R I T I K D E R M A S S E (EINE POLITISCHE THEORIE DER LEICHTIGKEIT) Das Sade’sche „Noch eine Anstrengung…“ definiert den Republikanismus durch die Wiederholung, das Werden, das dem Republikaner-Sein zu jener Steigerung verhilft, die es braucht, um sich auf der revolutionär ersprungenen Höhe zu halten. Republikaner zu sein, sein zu wollen, heißt: weitergehen, weiter gehen. Nach der Staatsform gilt es auch die Sitten zu revolutionieren. Eingefügt in die Philosophie dans le boudoir, markiert der Text mit dem Titel „Français, encore un effort si vous voulez être républicains“ – eine Broschüre, die der Libertin Dolmancé auf der Place de L’Égalité gekauft zu haben behauptet und von der es später heißt, sie entspreche seinen Ansichten so genau, dass er ihr Autor sein könnte – den Übergang zwischen einer erotischen Pädagogik und einer Pragmatik politischen Handelns. Scheinbar fällt dieser Übergang mit dem zwischen der intimen Szene im Schlafzimmer einer Gruppe einiger Privilegierter und einer nationalen, bürgerlichen Öffentlichkeit zusammen: Die Schrift adressiert schon im Titel ohne Einschränkung alle Franzosen. Wie Roland Barthes bemerkt, bricht die textuelle Inszenierung aber im selben Moment mit der Idee/Ideologie eines homogenen Volkes. Der „Mann aus dem Volk“, Auguste, der junge Gärtner, der zuvor an den sexuellen Ausschweifungen teilgenommen hat, wird hinausgeschickt, als man den politischen Text verliest, da „das hier“ nicht für ihn gemacht sei.20 […] der Diskurs, der die republikanische Moral begründet, ist paradoxerweise ein linguistischer Sezessionsakt. Die Sprache des gemeinen Volkes, an der sich zunächst die aristokratische Sprache ergötzt, wird danach einfach aus der Dissertation, d.h. aus dem Austausch (zwischen Logos und Eros) ausgeschlossen […].21
Es gibt bei Sade eine klare Unterscheidung zwischen Körper und Sprache, nicht im Sinne einer Körper-Geist-Dichotomie, sondern zwischen dem Prinzip der körperlichen Vermischung und der Logik einer Trennung, der das Sprechen sich verpflichtet: Während die Libertinage beim Sex die 20 | Im Folgenden zit. aus Marquis de Sade: Die Philosophie im Boudoir oder Die lasterhaften Lehrmeister. Dialoge, zur Erziehung junger Damen bestimmt, übers. von Rolf Busch, Gifkendorf 1991 (4. Aufl.), S. 194. 21 | Roland Barthes: Sade Fourier Loyola, Frankfurt a.M. 1986 (1974), S. 181.
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Verkettung aller Körper unter dem ökonomischen Gesichtspunkt maximalen Lustgewinns betreibt (und dafür bereitwillig den Schwanz eines Fürsten in den Arsch eines Bauernjungen steckt oder eine adelige Dame mit dem Sperma, der Pisse und Scheiße von Seeleuten besudelt), kommt es der Sprache zu, die Trennung zwischen den Menschen zu bezeugen. Diese Trennung verläuft ebenso durch eine gesellschaftliche Klasse oder Familie: „[G]ib uns hier nur deinen Samen; wir schenken dir deine Moral“, sagt Mme de Saint-Ange zu ihrem Bruder, dem Chévalier, der noch etwas zärtelt und auf dem Mitleid, einem Rest christlicher Affekte beharrt.22 Sein unzulängliches Verständnis dessen, was er wegen seiner „schönen Stimme“ vorlesen durfte, disqualifiziert ihn – wenn auch nicht im selben Maße wie den Gärtnerjungen. Sades Philosophie kennt keine Kompetenzprüfungen; die Klassifizierung erfolgt nicht unter Vorbehalt, da das Vernünftige in Sades Schreiben immer schon die Evidenz auf seiner Seite hat und Argumente nur bekräftigen, nie umstimmen. Steht die Grenze zwischen dem aristokratischen Zustand der Sprache und ihrem gemeinen Zustand also fest und damit auch die Personenverteilung, so dennoch nicht, weil sie sozial etabliert wäre. Im Gegenteil stellt die Festigkeit dieser Grenze den härtesten Widerstand gegen die überkommene soziale Ordnung dar. Nur ein aristokratischer logos wird die Ungleichheit überwinden können. Die Sprache des Volkes erkennt bestenfalls Ähnlichkeiten für Gleichheiten und motiviert Reduktionen der Unterschiede, während es darauf ankommt, alles, was einen Unterschied macht, in ein Inzentiv der Gleichheit umzuwandeln. Auch in der erotischen Dimension wird die Trennung auf der Ebene der Sprache und nur dort manifest: Als Körper sind Libertins ebenso wie ihre Opfer und Helfer Module, die man nebeneinander anordnen, durch Bewegungen aneinander anschließen, in einer Mechanik (oder manchmal Kybernetik) zum Funktionieren bringen kann. Allein der logos sondert die Täter von den Opfern, die Überlebenden von den zum Tode Verurteilten, die Freien von den Geknechteten. Der Libertin ist derjenige, der, ob in der Position des Quälenden oder des Gequälten, zu sagen vermag, wie er genießt; ihm fehlt es zu keiner Zeit an großartigen Epitheta, um die Lust zu benennen, und diskursiven Wendungen, um sie theoretisch zu reflektieren. Das Opfer ist derjenige, der bloß schreit, sich selbst 22 | Sade: Die Philosophie im Boudoir, S. 281f. Der deutlichste Fall einer solchen Auftrennung der Familie sind natürlich die Schwestern Justine und Juliette.
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auf das körperliche Element reduziert. Den Sade’schen Kosmos gliedert eine logopolitische Differenz: die Macht des Wortes und die politische Macht sind streng synonym. Man kann sich der Sprache des Volkes als eines Schmiermittels bei der Ausführung körperlicher Vergnügungen bedienen, aber sobald es darum geht, die Verhältnisse in ihrer politischen Wirklichkeit zu bestimmen, übernimmt ein Sprechen die Gewalt, das sofort klarstellt, wer frei ist und wer nicht. Ein konsequenter Republikanismus brächte dementsprechend nicht die Rückführung aller Menschen auf die stumme Dynamik der Körper (alle, auch die, die vernünftig zu sprechen verstehen, einigen sich auf den Schrei). Er ginge im Gegenteil aus der Ablösung des politischen Diskurses von der Verkettung der Körper und ihrer Artikulationen hervor. Die revolutionäre Szene, die sich in diesem Republikanismus wiederholt, wäre nicht die des Zusammenströmens zu einer Masse, die von irgendwelchen Punkten her in Bewegung gerät, um alles zu überschwemmen. Sie eröffnete sich kraft einer Praxis des Sprechens, die bewirkt, dass das politische Wort nunmehr im Zustand der Trennung vernommen wird. Das Noch eine Anstrengung …, mit dem diese Praxis des Sprechens beginnt, bezieht sich auf eine Wiederholung im Zustand der Trennung – eine virtuose Wiederholung dessen, was bereits auf der Ebene der verklebten Körper getan wurde und eine gewisse Höhe markiert hat: eine Wiederholung, die das Selbe mit der gewonnenen Freiheit der Distanz zu den alten Sitten vollzieht und den Vollzug von den Bewegungsgesetzen der Materie namens Volk emanzipiert, indem er aus dieser Distanz auf die Sitten selbst zurückkommt. Die Unterweisung, wie die Philosophie dans le boudoir sie entfaltet, verzichtet keineswegs auf das Volk und den Körper. Aber die Politik der Anstrengung, die Sade fordert, beruft eine virtuose Praxis des Sprechens zur Aufsicht jener Bewegungsfiguren, als die sich kollektive Handlungen technisch darstellen. Ohne jene zweite, nochmalige, aus dem Leichtgewordenen die Konsequenzen ziehende Anstrengung, die eine virtuose Sittlichkeit in das Handeln einführt, ist mit dem Volk nichts zu erreichen. Ohne diese virtuose Wiederholung der revolutionären Bewegung als Veränderung der Praktiken des Zusammenlebens bleibt die Bewegung ein schwerfälliges, auf eine soziale Physik der Masse zurückbuchstabierbares Phänomen.23 23 | Sades Entwurf einer virtuosen Sittlichkeit ist in Vielem eine fast spiegel bildliche Opposition zu dem, was Novalis als sittliche Virtuosität denkt. Vgl. dazu
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Um freie Handlung zu werden, bedarf das revolutionäre Geschehen eines Diskurses, der seine Szene rekonfiguriert und in den mechanischen Verbindungen zwischen den vielen Beteiligten die Trennung geltend macht, die der Bewegung ihre glückliche, friedliche, das Grausame gelassen einbeziehende Leichtigkeit verleiht. Sade nennt diesen Diskurs Philosophie; er führt unter diesem Namen eine aufgeklärte sophistische Rhetorik ein, bei der es auf ihre Performativität ankommt. Das Philosophische ist ein Modus freieren Sprechens. Im philosophischen Diskurs führt der Gebrauch, den der Sprechende von den Wörtern macht, seine Freiheit von Vorstellungen vor, die das Denken an die körperliche Realität schlechter (dummer, lächerlicher) Gewohnheiten binden. Das ist eine aristokratische Demonstration, in der die „sprezzatura“, die von Castiglione für den Hofmann empfohlene leichte Distanz im Verhältnis zu allem, was man sagt und tut, einen politischen Wert annimmt. Genau das kann und soll die Aristokratie für die Revolution tun: ihr den aristokratischen logos schenken, das virtuose, auf leichte Distanz und Beweglichkeit bedachte Verhältnis zur Sprache, in dem die überlegene Vernunft ihre Wirksamkeit auf das erlangt, wovon man spricht. In Sades Welt ist die Aristokratie zur politischen Klasse geworden. Nachdem man ihr als sozialer Klasse die Herrschaft entzogen hat, liefert sie dem neuen politischen Subjekt das aus, was sie von der Gleichheit versteht, nämlich die Gleichheit auf der Ebene eines Besseren, in einem logischen aristeuein evident werden zu lassen. Das heißt im Gegenzug, die Materie im Volk zu befreien. Der Autor von „Français, encore un effort…“ ruft den Diebstahl zur republikanischen Tugend aus, weil er die Körper und Dinge zu verteilen hilft: „Ich wage zu fragen, […] ob der Diebstahl, der eine Angleichung der Reichtümer bewirkt, in einer Regierung, deren Ziel die Gleichheit ist, ein großes Übel ist. Nein, zweifellos nicht; denn so wie er einerseits die Gleichheit aufrechterhält, regt er andererseits dazu an, sein Eigentum besser zu hüten.“24 Sade adelt die vielleicht größte ‚volkstümliche‘ Virtuosendisziplin, indem er ihrer Dynamik einen politischen Sinn zuspricht. Und diese Kai van Eikels: Freie Bereicherung, raffinierte Glückseligkeit. Das Virtuose im ökonomischen und politischen Denken der Romantik, in: Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hg.): Genie – Virtuose – Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik, Würzburg 2011, S. 67-98. 24 | Sade: Die Philosophie im Boudoir, S. 227. Dabei ersetzt oder vertritt der
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Deregulierung von Praktiken, um Gleichheit des Besitzes herbeizuführen, gehört zur selben Vernunft, die ihn veranlasst, die sexuellen Praktiken so umfassend wie machbar von der verordneten Zähigkeit sozialer Bindungen zu lösen. Sogar der Mord wechselt in der Perspektive eines Materialismus, der die materiellen Angelegenheiten wirklich materiell sein lässt, aus der Kategorie des Verbrechens in die einer im Einzelfall bedauerlichen, für die Gesamtheit eines Volkes aber ungefährlichen, wo nicht förderlichen Gräueltat. Politik im Zeichen des Virtuosen gipfelt in der Empfehlung, die Tötung leicht zu nehmen.25 Die Leichtigkeit, von der er den Akt des Tötens nicht ausnimmt, aber ist bei Sade eine verteilte; und dadurch hat sein Egalitarismus für uns heutige Subjekte von Kompensations- und Exzessbegrenzungshoffnungen eine so irritierende Unmäßigkeit: Gleichheit, so Sades Pointe, verwirklichen nicht Bestimmungen, die es darauf absehen, denjenigen, die (zu) viel Macht haben, ihre Sache zu erschweren. Gleichheit hat die eine und einzige Wirklichkeit, allen das Leben leichter zu machen. Sie ist die Voraussetzung des Glücks, nicht
Diebstahl keineswegs einen gnädigen Akt der gerechten Umverteilung, den eine zentrale souveräne Instanz auszuführen unterlässt oder aufschiebt. Sade hält darauf, dass der Kampf zwischen Dieben und Besitzern andauert, denn er steigert die Geschicklichkeit beider Seiten. Der Besitzende lernt durch die Tricks der Diebe, sein Eigentum besser zu hüten. Der republikanische Liberalismus sieht das eine wie das andere als Fertigkeiten, die sich individuell, in freier Auseinandersetzung bilden. Sein äußerstes Gegenteil tritt ein, wo die Besitzenden Institutionen zur Sicherung ihres Eigentums etablieren bzw. die Institution Staat ihre Interessen exekutiert und die staatliche Souveränität mit einem Sicherheits-Dispositiv kurzschließt. Der republikanische Staat hat kein Recht, auf Seiten der Besitzenden zu sein. 25 | Einschließlich ihrer Schuld – was dennoch etwas ganz anderes ist, als sie zu entschuldigen. Der Mord braucht sich nicht als Wohltat zu maskieren, er darf Gräueltat bleiben, weil es nicht um ‚Erleichterungen‘ des Gewissens geht, die lediglich die Schwere der Schuld ausdrücken, sondern darum, der Schuld dieselbe Beweglichkeit zu verschaffen wie allem. Zur Bekräftigung dieses Zwecks greift Sade auf antike Beispiele für die Abgeltung von Tötungsdelikten mit Geld zurück. Das Töten soll billig sein, denn es gilt den Humanismus, der ein Menschenleben für unbezahlbar und teuer erklärt, Lügen zu strafen.
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eines verminderten Missvergnügens. Die Rache entspricht ihr so gut wie der Takt, das Zartgefühl im Umgang miteinander. Ja, ein Staat, in dem derjenige, der sich an seinem Feind rächt, nicht dieselbe souveräne Gnade findet wie dieser Feind für sein Verbrechen, wird niemals ein Volk bekommen, in dem das Zartgefühl die rechten Abstände zwischen den Menschen einzusetzen vermag.26
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UND
RADIKALISIERUNG
Noch eine Frage lässt sich von Sade her zur Politik stellen: Welche Art von Steigerung steht dem politischen Handeln in der Moderne offen? Unter dem Namen Radikalisierung hat sich uns ein ‚jakobinisches‘ Modell von Steigerung überliefert. Seine leitende Metapher ist die Pflanze und ihre Wurzel. Das Manifest in der Philosophie dans le boudoir macht ebenfalls von dieser Metapher Gebrauch, als der Verfasser fordert, nach dem feudalen Regime nun auch die katholische Religion abzuschaffen: „O ihr, die ihr die Sichel in der Hand habt, versetzt dem Baum des Aberglaubens den letzten Schlag; gebt euch nicht damit zufrieden, die Zweige abzuhauen: reißt dieses verheerende Gewächs mit seinen Wurzeln aus […].“27 Die dialektische Version dieser Metapher kennt die Identität von zarter Pflanze und Unkraut. Heiner Müller hat sie in Verse gesetzt: „wissend, das Gras noch / Müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt.“28 Linke Debatten der Gegenwart setzen das Adjektiv „radikal“ vor „Politik“, um das damit Angesprochene vom staatspolitischen Verwaltungsbetrieb abzugrenzen. Eine radikale Politik beabsichtigt eine andere Steigerung als das ökonomische Wachstum, das den Sinnhorizont dieses Betriebes bildet; sie versucht, ein anderes Ziel für die Energien der Menschen zu weisen als das
26 | „‚Ich gewähre Euch Gnade‘, sagte Ludwig XV. zu Charolais, der zu seinem Vergnügen einen Menschen getötet hatte, ‚aber ich gewähre sie auch dem, der Euch töten wird.‘ Alle Prinzipien eines Gesetzes gegen Mörder sind in diesem großartigen Wort enthalten.“ (Ebd., S. 270) 27 | Ebd., S. 197. 28 | Heiner Müller: Mauser. Heiner Müller Texte 6, Berlin 1978, S. 55, 57, 58, 59, 61, 65 und 68.
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Mehr ohne Rückweg, dessen Bedingungen die Politiker mit Reformen zu optimieren trachten. Worin anders? Radikalisierung will Weitergehen mit einer Wendung zurück zum Ursprung verbinden. Das scheint zwingend, wo der Ursprung der Einbruch des Neuen ist, ein mitten im Verlauf der Zeit erstrittener Anfang, den es ohne den Kampf für die Veränderung nicht gegeben hätte. Sofern sie aus dem Bruch mit dem Kontinuum entspringt, kann die revolutionäre Bewegung mit bruchlosem Weitergehen niemals einverstanden sein. Am wenigsten mit ihrem eigenen. Erst einmal außerhalb des Augenblicks, in dem sie anfing, läuft sie schon Gefahr, das zu verraten, wofür die mutig Vorgepreschten ihr Leben gaben oder wagten. Der Wunsch, dem Ereignis der Revolution als einem Anfang treu zu bleiben, ruft daher nach einer Steigerung, die im Andauern der ausgelösten gesellschaftlichen Prozesse wachsenden Schwierigkeiten begegnet – Schwierigkeiten, deren Meisterung darin besteht, im Vergehen der Zeit all das zu beseitigen, was das Dauern von einer Wiederholung des Ereignisses unterscheidet. Das wäre, in eine Formel gepresst, der Konnex von Steigerung und Treue in einer politischen Bewegung, die sich als radikal begreift: Nichts wiederholen außer das Ereignis. Die Wiederholung außer dem Ereignis irreversibel beenden. Müllers Stück Mauser, aus dem die zitierten Verse vom Ausreißen des Grases stammen, ist ein Kommentar zu Brechts Lehrstück Die Maßnahme, einem szenischen Skript, das dazu dienen sollte, revolutionäres Handeln zu üben, geschmeidiger im Umgang mit dessen Widersprüchen zu werden. Müllers Text brennt der Geschmeidigkeit eine Reflexion ein. Er spitzt die Dynamik der Steigerung, die Treue zur Revolution nötig macht, auf das Wie des Ausreißens hin zu: Es reicht nicht, bloß immer mehr Feinde der Revolution zu töten, selbst wenn deren Zahl in einer bestimmten Phase tatsächlich zunimmt. Es gilt, in diesem Töten, das nach außen hin gleichmäßig verfährt wie mechanisch verrichtete, mechanisch beschleunigte Rotation, eine dialektische Selbststeigerung zu vollziehen, um auf der Höhe der Anforderungen zu bleiben, die revolutionäre Zeit an ihre menschlichen Akteure stellt. Anders als bei Brecht ist das Versagen des Genossen, das es erforderlich macht, ihn zu töten und seine eigene Zustimmung dazu einzuholen, in Mauser nicht einfach ein Fehler zu viel, sondern ein Entgleisen des Steigerns: Der Revolutionär A gerät in einem heiklen Moment auf die falsche Bahn der Steigerung im Selbstverhältnis des Henkers, dessen Amt er versieht. Er gewinnt eine fatale Leichtigkeit
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beim Hinrichten der Verräter, eine Leichtigkeit, die sich nicht mehr dialektisch an den Widerständen in jene Vertikale erhebt, die Benjamin das Sichaufrichten einer Ordnung des Profanen an der Idee des Glücks nannte.29 So kommt es zu einem vorschnellen Erfolg: A hört auf, die Einsicht in die Notwendigkeit jenes Tötens, das Gleichheit ins Werk setzt, dem menschlichen Widerwillen gegen das Töten von Gleichen abzuringen. Statt bei jedem Schuss, jedem Schießbefehl aus der absoluten Ausnahme, die der Tötungsakt unter Menschen darzustellen hat, in die Geläufigkeit einer zuverlässig arbeitenden Revolutionsmaschine zurückzukehren (was täglich heldenhaftere Überwindung verlangt), gleitet er in einen Modus der Gewohnheit. Auf einmal gewohnt, diejenigen umzubringen, die man umbringen muss, ist er um nichts besser als ein Mörder. Es gehört zum Charakter dieser dialektischen Steigerung, dass das Gesteigerte dort, wo es dem Steigern nicht mehr gelingt, dialektisch zu bleiben, wo das Mehr-Werden sich selbst als Ertrag realisiert und ins Eigentliche umkippt, um nichts besser gewesen sein wird als das schlimmste Verbrechen. In einer Art feindseliger Unsicherheit in der Welt geltend gemachte Tugend vermag sich nur auf Augenhöhe direkt neben der Untat zu halten. Sades Republik milder, minimierter Gesetze, in der das Verbrechen eine Sphäre zur leichtsinnigen Entfaltung bekommt, liefert den Gegenentwurf zu diesem revolutionären Steigerungsprogramm. Trotz oder gerade in seinem Ruf nach einer nochmaligen Anstrengung beschreibt „Français, encore un effort …“ eine Treue zur Revolution, die darin beruht, das von der Revolution Erreichte endlich erreicht sein zu lassen. Statt mit Gewalt in den Augenblick des gewaltsamen Ursprungs zurückzudrängen, wie es „der niederträchtige Robespierre“ 30 tun zu müssen meinte, soll die republikanische Bewegung sich von dem tragen lassen, was der einmalige Luxus ist, den die Revolution ihren Kindern schenkt. Eine Steigerung, die immer wieder aufs neu den initialen Akt durchläuft, verrät die damit erkämpften Freiheiten, indem sie es versäumt, sie zu gebrauchen. Verbohrt in die Perpetuierung des Initiierens (und verliebt in dessen Brutalität), erschöpft die jakobinische Entschlossenheit sich in einem ewigen ersten 29 | „Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks.“ (Walter Benjamin: Theologisch-politisches Fragment, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 2.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 203-219, hier 203f.) 30 | Sade: Die Philosophie im Boudoir, S. 205.
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Schritt, während die Zeit für den zweiten unbeachtet verstreicht: die Welt so einzurichten, dass die Menschen darin frei und gleich bleiben können. Eben weil man die Ergebnisse der Revolution keineswegs für garantierten Bestand nehmen darf, weil es der Steigerung bedarf, um sie nicht zu verlieren, kommt es darauf an, dem Steigern die Obhut dieses Bleibens zum Auftrag zu machen. Wenn die Kräfte zur Steigerung nicht dem Erhalt von Freiheit und Gleichheit dienen, werden reaktionäre Tendenzen sich des Bleibens bemächtigen, und es wird jene ideologische Synthese von Konservativismus und Stabilität entstehen, die Angst ausbeutet und den Mut auf die Verwegenheit einer Handvoll Ruhestörer beschränkt. In einer Republik, soll sie nicht sogleich wieder zusammenfallen, muss der Mut hingegen allen zuteil werden. Und das heißt, man muss seine Verteilung organisieren. Sade bestimmt die Verfassung der Republik dazu, das zu leisten: die republikanischen Tugenden – den Mut, den Hochmut von Gleichen – zu steigern, damit das Leben in dieser Republik dem treu bleibt, dem es seine Freiheit verdankt. Zwei Determinierungen, die nach ihm für lange Zeit die Kontrolle über politisch-ethische Diskurse übernehmen werden, sind deshalb bei Sade unterbunden: der Versuch, dem Ereignis der Revolution selbst die Allgemeinheit eines Gesetzes einzuschreiben – und die subjektive Internalisierung des Gesetzes. Der Übergang der Revolution in etwas Andauerndes vollzieht sich für Sade nicht mittels dessen, was Hegel, der Bewunderer Napoleons, später als Wiederholung des Besonderen im Allgemeinen zur Figur der Geschichtsmächtigkeit überhaupt erklärt. Das Ereignis braucht nicht Institution zu werden, um wirksam zu bleiben; es muss in der Verfassung des Staates und im Umgang der Menschen nur wirksam vorausgesetzt sein. Der Staat darf darum bloß Gesetze für freie Menschen erlassen: Gesetze für Virtuosen in der Kunst des Zusammenlebens, nicht für Anfänger; Gesetze, die den Menschen nicht durch die Härte ehren, mit der sie sein Übertreten von Geboten bestrafen, sondern durch den Takt, das, wozu Menschen Neigung haben, nicht für schädlich zu halten. Statt staatlich-institutioneller Begrenzungen kommt dem zwischenmenschlichen Umgang eine Unterweisung durch die libertären „instituteurs“ zur Hilfe, wie die fünfzehnjährige Eugénie sie in der Philosophie dans le boudoir (deren Untertitel lautet Les Instituteurs immoraux) durchläuft: Virtuosen bringen Virtuosen auf den Weg des Werdens. In Sachen Freiheit, heißt das, muss niemand mehr in die Selbständigkeit umkehren; das Leben der Befreiten läuft bereits richtig herum.
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So denkt Sade an Gesetze, die dem Verhalten gegenüber stets ihre Äußerlichkeit behalten. Sie lassen die Steigerung zu, lassen auch ihre Exzesse gewähren, aber weder hält jemals ein strenges Verbot den Wunsch und Willen, etwas zu tun, so auf, dass es dessen Energien an sich bindet, noch erfolgt die damit verbundene Umkehrung des Verbotes in ein Gesetz, das Steigerung befiehlt. Die Lust an der Steigerung ist in der von „Français, encore un effort…“ dargestellten Welt im negativen wie im positiven Sinne ungebunden: Sie ist davon entlastet, durch Widerstände, an denen ihre Energie sich staut, zu endlosen Steigerungen aufgereizt zu werden. Und die Selbstverständlichkeit, mit der die öffentlichen Einrichtungen die Erfüllung der Wünsche gestatten, schützt das Genießen zugleich davor, in den Abgrund jener Leere zu stürzen, die das Gesetz in seiner permissiven Variante vor jedem wirklichen Schritt zur Befriedigung aufspannt. Sade respektiert Zwänge, die Menschen dazu treiben, andere zu quälen, zu vergewaltigen usw. (er schreibt das pauschal der Natur zu, was einfach ein Schulterzucken bedeutet: daran ändert man nichts). Aber die republikanischen Sitten werden weder in negativem noch in positivem Gehorsam gegen die Zwanghaftigkeit des Triebes gebildet; sie entsprechen, indem sie eine Welt ohne Widerstände anbieten, dem Freien. Deshalb die Annahme, das resultierende Zusammenleben werde in der Tat ein friedliches und ruhiges sein, keineswegs die Perpetuierung revolutionärer Gewalt in einem unnachgiebig erneuerten Aufbegehren. Sades Politik ist in diesem Sinn nicht radikal. Und seine Aktualität als politischer Denker für das 21. Jahrhundert liegt gerade im Fehlen dessen, was Lacan an ihm vermisste: der radikalen Entwurzelung des Begehrens in der Paradoxalität des Gesetzes.31 Den wenigen Gesetzen einer libertären Republik antwortet in der persönlichen Disposition der Bürger und Bürgerinnen ein Leichtsinn, kein Wahnsinn. Die Menschen verhalten sich wirklich vernünftig. Das macht ihre Virtuosität doppelt inakzeptabel, doppelt unverständlich für die Abkömmlinge einer Geschichte, deren eines Erbe der verinnerlichte Terror asketischer Tugend ist, deren anderes der folgsame Irrationalismus des Permissiven. Es lohnt, Sade wiederzulesen, sobald man sich stark und müde genug fühlt, beides auszuschlagen.
31 | Vgl. Jacques Lacan: Kant avec Sade, in: ders.: Écrits, Paris 1966, S. 765-790.
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6. W U N D E R K I N D E R Eine Figur, die Diskurse über das Virtuose seit dem 19. Jahrhundert mit aufrufen und von der sie sich jeweils rasch wieder abzutrennen versuchen, ist das Wunderkind. Der Fünfjährige, der zum Entzücken von Verwandten und Weltpublikum auf der Geige brilliert, verkörpert ein offenes Geheimnis des Virtuosen: Man kann es zur Virtuosität bringen, ohne Reife zu besitzen. Man kann sofort damit anfangen und sehr schnell sehr weit damit kommen. Die Zeit des Virtuos-Werdens ist eine durchaus andere als die der Reifungsbiographie. Wer virtuos wird, vollzieht nicht die richtigen Entwicklungsschritte im vorgesehenen Alter, sondern richtet seine Steigerung in einem unfertigen Augenblick ein. Und er verbleibt in diesem Augenblick, während technische Eigendynamik und deren strategische Auswertung seine Performance weiter und weiter steigert. Die Bahn der Steigerung führt niemals aus dem Verfrühten des ersten Erfolges heraus, weshalb der Virtuose später, nachdem die anderen ihre Fähigkeiten entfaltet haben, auf der einsamen Höhe seiner Spitzenperformance doch wie ein Zurückgebliebener anmuten kann. An den Glanz des wunderbar begabten Kindes erinnert das Kindische jenes Glanzes, auf dessen Erzeugung der Erwachsene sich einzig versteht. Wahre Virtuosen, betonen daher seit Hegel diejenigen, denen die ästhetische Dignität künstlerischen Handelns am Herzen liegt, sind mehr als Wunderkinder. Es bedarf hier eines Wahrheitswertes zur Rettung des Virtuosen. Denn der populistische Kult um die Wunderkinder scheint all das ans Licht zu zerren, was an der Virtuosität ohnedies im Verdacht steht, falsch zu sein: Kommt nicht jegliche Brillanz des Virtuosen aus einer Ausbeutung von Vorzeitigkeit? Fiele der artistische Theaterzauber nicht kläglich in sich zusammen, erhielte das Publikum die Chance, auch nur einen Moment länger in der Gegenwart zuzubringen, die den großen Gesten des Virtuosen als Szene dient? Die Frühreife hat im bürgerlichen Leben ein Schicksal. Es ist ihr bestimmt, vom regulären Vergehen der gemeinen Zeit entlarvt zu werden. Wer genau hinhorchte und -schaute, konnte „schon damals“ bemerken, wie das forsche Auftreten der kleinen Zuvielkönner die Entlarvung erwartete. Adorno verglich sie mit Treibhauspflanzen: Sie sind ein Ärgernis der naturhaften Ordnung, und hämische Gesundheit weidet sich an der Gefahr, die ihnen droht, so wie die Gesellschaft ihnen als sichtbarer Negation der Gleichung von Erfolg und Anstrengung mißtraut. In ihrer inwendigen
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Ökonomie vollzieht sich, bewußtlos, doch unerbittlich, die Strafe, die man ihnen stets gönnte. 32
Die standardisierte Zeitlichkeit einer „altersgemäßen Entwicklung“ setzt sich, wo die Dinge ihre Ordnung haben, schließlich gegen das Irreguläre durch, indem das Leben selbst für das Mehr, das es anfangs gewährte, etwas zurückfordert: Bazzini mit fünf kostet entweder eine verarmte, durch die einseitige Konzentration auf das Instrument und die unzähligen Stunden des Übens verkrüppelte Persönlichkeit. Oder – und hier liegt dieselbe Kalkulation zugrunde – es kostet die wahre Kunst, die Fähigkeit, mit fünfundzwanzig etwas Besseres, Tieferes, künstlerisch Anspruchsvolleres als Bazzini zu spielen. ‚Das Leben‘ (eine bestimmte Ökonomie der Zeit) hat in diesen bürgerlichen Vorstellungen vom Künstlertum die Aufgabe, den Frevel des Verfrühten zu sühnen. Mehr zu können, als die geltenden sozialen Standards für möglich annehmen, das darf, ja soll es geben, solange es sich an das Modell eines Pakts mit dem Teufel hält, für den der Profitierende seine Seele verpfändet. Vom 19. zum 20. Jahrhundert wechselt lediglich das diskursive Register, in dem die Gesellschaft die sie befriedigende Verrechnung von Mehrung und Minderung formuliert: Die Psychologie übernimmt das Amt des bürgerlichen Kassenwartes. Was geschieht aber mit dieser so eifersüchtig soliden Bilanz von Mehr-Leistung und Mangel heute, da die neoliberale Reformpädagogik sich offenbar anschickt, das hochbegabte Kind zu einem sozialen Faktum zu erklären – also gerade jenen Bruch mit der „naturhaften Ordnung“ zu naturalisieren? Die ökonomische Direktive dieser Pädagogik, der man an Privatschulen mit hervorragenden PISA-Ergebnissen folgt, lautet, das Potenzial eines Schülers bis zur Neige auszuschöpfen. Zu diesem Zweck ist man bereit, ein einheitliches Notensystem oder die fixe Einteilung in Klassenstufen aufzugeben. An die Stelle der Standardisierung soll ein Individualismus treten, der jeden Lernenden nach seinen spezifischen Möglichkeiten fördert und ihm hilft, das Maximum dessen zu erreichen, was er (oder natürlich: sie) zu erreichen vermag. Die Individualisierung findet hier in der Dimension des Möglichen statt. Die Pädagogik definiert kein Leistungsniveau mehr, von dem sie voraussetzt, dass alle es erreichen können. Sie verlegt sich darauf, in einer aufwändigen persönlichen Einzelbetreuung das Möglichkeitsprofil eines jeden 32 | Adorno: Minima Moralia, Nr. 101, S. 302.
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Schülers zu ermitteln. Um die Leistungen des Einen nicht gegen die der anderen zu rechnen, verrechnet man nun jedes Leistungssubjekt mit sich selbst. An die Stelle einer Ordnung von Norm und Überschreitung, sei es nach oben oder nach unten, tritt eine freie Dynamik der Normalisierung, die Gerechtigkeit verspricht, weil sie das Zuviel ebenso wenig kennt wie das Zuwenig – weil sie am Vielen wie am Wenigen nirgends ein Zu- mehr zu erkennen versichert. Es werden keine Abstände zwischen Wirklichem und Möglichem, nur Verteilungen registriert, in denen Realität und Möglichkeit immer schon zu einem einzigen Wert verschmolzen sind, da das Mögliche ebenso individualisiert ist wie das Reale, sich dem Realen angepasst hat. Diese Haltung zur Leistung eliminiert das Staunen nicht anders als den korrespondierenden negativen Affekt, die Enttäuschung. Die Hoffnungen, die Eltern und Politiker auf die Reforminstitutionen projizieren, gehen darauf aus, dass man dort die zahllosen Wunderkinder ausheben wird, deren außerordentliche Talente bislang in den konventionellen Bildungseinrichtungen keine Beachtung fanden und verkümmerten. Und die Schulen kommen dem entgegen. Doch tatsächlich kündigt eine neoliberale Pädagogik nicht mehr an, als dass sie jedes Kind zu dem machen wird, was es ist. Es wird keine neue Ära des Wunderbaren anbrechen, vielmehr die alte, noch durch die Widersprüche und Paradoxien der immanenten Auflehnung des Menschen gegen die Natur bestimmte, definitiv an ihr Ende gelangen. Die Naturalisierung von Leistung bewahrt vor den gewaltsamen Konsequenzen des Unnatürlichen. Sie tilgt indes im selben Zug die Spuren jenes Menschlichen, das nur als Über-Natürliches, sich über die Bedingungen der eigenen Existenz Hinwegsetzendes Achtung beanspruchen konnte. Sie radiert die Spuren des Virtuosen dort mit weg, wo Virtuosität eine Berufungsinstanz für die Nichtübereinstimmung eines Menschen mit dem Leben seiner Spezies darstellte. Und damit verschwindet ebenfalls die Chance, diese Instanz allen Menschen für ihre Streitsachen gegen ‚die Gesellschaft‘ zu öffnen. Die neuen Virtuosen werden Bio-Sozio-Virtuosen sein: Vertreter ihrer Art bis in die abwegigsten Ausbildungen von Fähigkeiten hinein. War das Wunderkind noch ein Symbol der Verausgabung (ihrer Pracht und des Elends, das man dafür in Kauf nahm), ist das seinen Möglichkeiten entsprechend geförderte hochbegabte Kind Ressource, Produktionsmittel und Produkt einer Bio-Sozio-Ökonomie, die auf keinen Ertrag zu verzichten weiß, am wenigsten auf den Gegenwert für den verauslagten Betrag an psychosozialer Betreuung.
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7. T O O L T I M E ( E I N E P R O FA N I E R U N G ) Auch wenn er das Wort nicht verwendet, impliziert Giorgio Agambens Versuch, die Profanierung wiederzuentdecken, eine Theorie der soziotechnischen Virtuosität.33 Es geht dabei um nicht weniger als die Erlösung des Instrumentellen, die Entbindung dessen, was Handeln an Dingen vorfindet, von der Kontrolle durch eine metaphysische Ordnung. Es geht um die Befreiung der Handlung zur irdischen Endlichkeit durch das Spiel. Agamben deckt ex negativo einen Sachverhalt von großer Tragweite auf: Es gibt in der abendländischen Kultur keine direkte, unkomplizierte Handhabung der Dinge. Wo Gebrauch stattfindet, ist er eine Wiederaneignung von Dingen, die dem menschlichen Zugriff entzogen waren durch etwas, das im Wesen der menschlichen Hand und im Wesen der Dinge über das Ding und die Handlung hinausweist, um zugleich in einer Mangelhaftigkeit davor zurückzubleiben: eine Absonderung, das Sicherrichten einer Schwelle in der Bewegung selbst, mit der die Hand nach dem Ding langt, das Ding die Hand abwartet. Erst in dem Moment, da bestimmte Dinge profaniert, dem Bereich des Heiligen (des für den Gebrauch Gesperrten, explizit als unzugänglich Markierten) entwendet oder aus ihm ausgesondert werden, ergibt sich für die Menschen allgemein die Möglichkeit, einen Gebrauch von ihnen zu machen. Weit davon entfernt, ein primäres Verhältnis zu den Dingen zu sein, in das die Religion einbricht, das sie unterbricht, um eine Grenze zum Transzendenten zu ziehen, hängt der Gebrauch umgekehrt von der Chance zu einer Vernachlässigung des Heiligen ab. Das Heilige ist seinerseits nur ein technisches Zeichen für die Unbrauchbarkeit, die mit dem Menschen in die Welt kommt. Religion bannt das, was das Praktische behindert, in die Form institutionalisierter Praxis. Ihr kultureller Sinn liegt darin, sich abzuschaffen – und das Unvermögen, das Verzweiflung und Verschlagenheit in ihr zum Gegenstand von Ritus und Bekenntnis gemacht haben, ins Verschwinden mitzunehmen. Die Profanierung, wie Agamben sie denkt, führt zu einer Formel des Handelns in einer Form von access, von Zugang-zu. Dinge zu profanieren gewährt Zugang zu einer Eignung, die man dem Ding dann wie eine Eigenschaft zusprechen kann, wofür die Dinge aber zunächst einmal dem 33 | Vgl. Giorgio Agamben: Profanierungen, Frankfurt a.M. 2005, bes. den Abschnitt „Lob der Profanierung“, ebd., S. 70-91.
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Vergessen entsprechen müssen: der Vernachlässigung dessen an ihnen, was im Einsatz, zu dem sie kommen, aus der Praxis heraussteht, in ihr widersteht. Dinge, auch mit Zwecken im Sinn gefertigte Dinge, sind nicht ohne weiteres zuhanden; sie müssen im Profanen angekommen sein, damit diejenigen, die sie in die Hand bekommen, die Freiheit haben, sie für ein Element ihrer Lebenspraxis zu nehmen. Diese Profanierung geht größtenteils unmerklich vonstatten; das Unmerkliche ist gerade ihr Effekt. Sie gehört zu dem, was Nietzsche gemeint haben mag, als er von der positiven, befreienden Kraft des Vergessens sprach. Jedes Heilige wird eines Tages ein paar Unbeschwerten begegnen, die es für etwas Praktisches verwenden. In allem, das uns praktisch ist, sind wir über Absonderungen hinweg, die, folgt man Agambens Definition, einen religiösen Charakter besitzen.34 Das übersah Heidegger, als er im Kunstwerk-Aufsatz seinen Blick durch die ästhetische Oberfläche von van Goghs Gemälde hindurch auf ein Paar Holzschuhe richtete: Sie waren nicht nur von den Füßen einer Bäuerin geglitten, sondern diese Füße hatten im Holz und in der Form zuvor schon Götter ausgetreten. Kein Ding teilt mit, dass es Zeug ist. Die Zeughaftigkeit des Zeugs besteht im Ausbleiben (oder achtlosen Verhallen) des Widerspruchs dagegen, dass man es benutzt. Hätte Heidegger das Ästhetische etwas weniger souverän ignoriert, wäre ihm sogar aufgefallen, wie sehr van Goghs Pinsel noch danach fragte, ob nicht ein Rest Gott im Schuhzeug dringeblieben sei. Die ästhetische Zweckfreiheit unterhält eine zweideutige Nähe zur Gebrauchsabsperrung des Heiligen. Indem ästhetisch erfahrene und produzierte Kunst über das Gebrauchen hinaus will, entwickelt sie ein neuartiges, in gewisser Weise perverses Interesse für das, was man in vorästhetischen Epochen jenseits des Gebrauchs zurückgehalten hatte. Das Spiel, von dem die Erfinder der Ästhetik sprechen, lässt die Weltbestandteile so unangefasst, als seien es heilige Dinge. Und die von Künstlern hergestellten Objekte wandern ins Museum, damit niemandem einfällt, sie für irgendetwas anderes als zum Erfahren zu verwenden („Die Museifizierung der Welt ist heute eine vollendete Tatsache“,
34 | „Als Religion läßt sich definieren, was die Dinge, Orte, Tiere oder Menschen dem allgemeinen Gebrauch entzieht und in eine abgesonderte Sphäre versetzt. Nicht nur gibt es keine Religion ohne Absonderung, sondern jede Absonderung enthält oder bewahrt in sich einen genuin religiösen Kern.“ (Ebd., S. 71)
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lautet ein Satz bei Agamben 35). Dass der subjektiv-spielerische Umgang mit der Objektwelt diese nicht abnutzt oder durch Benutzung entweiht, verdankt sich dennoch keinem Respekt, keiner Ehrfurcht, keinem Zurückschrecken vor der eventuellen Anwesenheit göttlicher Mächte. Wenn Kunst die Welt selbst in der Epoche der rücksichtslosen Industrialisierung nicht mitruiniert, so allein deshalb, weil das Begehren des Subjekts ästhetischer Erfahrung – in seiner Rolle als Produzent nicht weniger als in der des Rezipienten – im Subjekt selbst ein weitaus faszinierenderes Spielzeug findet. Mit den technologischen Erfindungen glückt es seit dem 20. Jahrhundert beinahe, die Welt zu zerstören. Nur beinahe, kann man mutmaßen, weil die Kunst das menschliche Herummachen im stets zu wenig und stets schon mehr als Zuhandenen auf ein Feld ablenkt, wo dessen Effekte relativ konsequenzlos verpuffen. Ehe der Mensch sich auf dieselbe Weise technologisch umzuwandeln lernt wie andere Objekte, mildert die ästhetische Subjektivierung des Weltverhältnisses die Kollateralschäden der ‚kreativen Aneignung‘ – jener Einstellung gegenüber der umgebenden Sphäre, die, da es mir nicht gegeben ist, die Dinge so, wie sie sind, zu verwenden, fragt, was wäre, wenn ich sie geschaffen hätte: Könnte ich nicht ebenso gut, ja noch besser andere schaffen? Agamben bezeichnet das Spiel als wichtigstes Performativ der Profanierung, ja als deren Prinzip: Das spielende Kind nimmt etwas aus der strukturell religiösen, durch die Einhaltung und Überwachung von Grenzen konfigurierten Welt der Erwachsenen und verwandelt es in ein Spielzeug.36 Das Kind erreicht so eine besondere Autonomie, denn es findet immer etwas Brauchbares zum Spielen, egal, wie ärmlich oder feindselig die Umwelt ausschaut. Es spielt mit seinen Exkrementen, und in gewisser Weise bleibt dieses erste, profanste Spielzeug unübertroffen, ist alles, was sich im Folgenden findet, ein köstlicher Scheiß. Agamben zögert nicht, eine Klammer um die kindliche Selbstermächtigung durch Profanierung und die Tätigkeit des Philosophen zu setzen:
35 | Ebd., S. 81. 36 | Das ist z.B. auch das Prinzip der amerikanischen Fernsehserie Tool Time, deren Komik darauf beruht, dass der Heimwerker-Ehemann als Prototyp des großen Kindes alles – Liebe, soziale Beziehungen, Beruf, psychische Probleme usw. – profanieren und in ein Spielwerkzeug verwandeln kann.
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Ein Auto, eine Schußwaffe, ein juristischer Vertrag verwandeln sich mit einem Schlag in ein Spielzeug. […] Und dies bedeutet nicht das Fehlen von Sorgfalt (keine Aufmerksamkeit hält dem Vergleich mit der eines spielenden Kindes stand), sondern eine neue Dimension des Gebrauchs, die der Menschheit von Kindern und Philosophen geliefert wird. 37
Der Philosoph und das Kind wissen um eine Wendung der Dinge, in der diese dem Menschen vollkommen gelegen kommen. Heidegger behauptete geradeheraus, das Denken sei das eigentliche Handeln. Agamben lässt sich mithilfe eines Manövers in die Praxis zurückgleiten, das die Vertreter der religiösen Ordnung infantile Regression nennen würden. Agambens Darstellung überspringt dabei eben den Künstler und die Tradition des ästhetischen Spiel-Begriffes. Das vermeidet eine sehr viel problematischere Refiguration des Kindes als die durch den Philosophen. Wenn die Think Tanks der Wirtschaft im Künstler heutzutage ein höchst attraktives Vorbild für den kreativen work performer erblicken, zählen sie zur Attraktivität ganz maßgeblich dessen Fähigkeit, alles zum Mittel des Handelns zu machen, kraft seines spielerischen Zugangs zur Welt einen Gebrauchswert aus den Dingen herauszukitzeln, der direkt ziel- und interessegeleiteten Annäherungen verwehrt bleibt. Der große Spieler, als den man den Künstler seit 1800 feiert, lebt in einem Paradies der unbeschränkten Brauchbarkeit. Seine schöpferischen Initiativen treffen anscheinend auf keine Gegenwehr der Welt außer dort, wo er bewusst und bereitwillig Reibungen sucht, weil sie seine Tätigkeit intensivieren, den Input, den Schwierigkeitsgrad und damit letztlich den Genuss erhöhen. Die künstlerische Produktivität des Spiels steht im Mittelpunkt einer Ökonomie der Profanierung, die der Kapitalismus seit einiger Zeit neugierig verfolgt. Agamben, der die Profanierung explizit gegen den Kapitalismus in Position bringt (Kapitalismus fällt ihm unter Religion 38),
37 | Ebd., S. 73. 38 | Er beruft sich auf Benjamins Fragment Kapitalismus und Religion: „Versuchen wir Benjamins Überlegungen unter dem Gesichtspunkt weiterzuführen, der uns hier interessiert. Dann können wir sagen, daß der Kapitalismus, indem er eine schon dem Christentum innewohnende Tendenz bis zum Äußersten treibt, die Struktur der Absonderung, die jede Religion bestimmt, in alle Bereiche hinein verallgemeinert und absolut macht.“ (Ebd., S. 79)
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träfe in der Figur des Künstlers auf einen zwar kindlichen, aber dabei sehr berechnenden Meister des Spiels. Unbeschadet aller Argumente, die man zur Verteidigung der Kunst (einmal mehr: einer wahren Kunst) gegen die ökonomische Ausbeutung ihrer kreativen Energien vorbringen kann, bleibt die Frage: Warum fällt es so leicht, die Produktivität des Spiels kapitalistischen Interessen dienstbar zu machen? Eine verbreitete Lesart der Aneignung künstlerischer Produktionsweisen durch den Kapitalismus schreibt dem „nouvel esprit du capitalisme“ eine quasi dämonische Intelligenz zu. Hätte es die aber überhaupt gebraucht? Hat die Kunst sich dieser Aneignung ihres Mehrwertes – des Mehr an Leichtigkeit und Vielseitigkeit, des Versprechens auf eine universelle Instrumentalisierbarkeit der Welt, auf Autonomie in der Stellung eines Abhängigen – nicht mit Macht angeboten? War die Ästhetik nicht die Maklerin dieses Deals, indem sie unablässig anpries, um wie viel besser der Kunst selbst das Scheitern gelingt? Erkannten nicht schon die Frühromantiker, dass die Zukunft der ästhetischen Reflexivität in ökonomischen Gewinnen liegen würde und Spiel das war, was der Arbeit aufhelfen konnte, sobald man mehr von ihr zu sein begehrte als Arbeit? 39 Wie Agamben sieht Jeremy Rifkin in Access die böse Absicht des Kapitalismus darin, „das Spiel zu kolonisieren“.40 Er hält das Spielen für eine ursprüngliche, authentische und freie Form kultureller Produktivität. Wer die Geschichte der Kunst verfolgt, kommt indes zu einem anderen Schluss: Einmal zur Dynamik des Ästhetischen erklärt, hat das Spiel immer schon die Tendenz, sich in eine ökonomische Version seiner selbst hineinzusteigern. Die Ökonomie tut ab einem gewissen Punkt nichts anderes, als diese Tendenz aufzugreifen, sie zu verstärken und ins Extrem zu treiben. Die kulturanthropologischen, philosophischen und pädagogischen Modelle eines Spiels, das man als Gegenpol zur ökonomisch bestimmten Sphäre der Arbeit auffassen wollte, waren einseitige Idealisierungen. Sie bildeten eine bürgerliche Ordnungsvorstellung ab, die zwischenzeitlich hatte soziale Norm werden können. Nachdem die Grenze von Spiel und Arbeit ihre normierende und schützende Macht nahezu verloren hat, kommt das Spiel in der Totalität seiner produktiven 39 | Vgl. zu den vielfältigen Implikationen dieser Frage: Netzwerk Kunst und Arbeit, Art Works. Ästhetik des Postfordismus, Berlin 2015. 40 | Jeremy Rifkin: Access. Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt a.M. 2000, S. 351.
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Kraft heraus. Und die profanierende Wirkung des Spielens mit Dingen, materiellen oder immateriellen, ist nicht die geringste unter dessen ökonomischen Tugenden. Es mag sein, dass der Kapitalismus in der von Marx analysierten Phase, da die Redeterminierung des Gebrauchswertes durch den Tauschwert und die des Tauschwertes durch einen gespenstischen Mehrwert die Matrix seiner Ermächtigung darstellte, tatsächlich religiösen Charakter hatte. Es ist aber seither etwas mit dem Mehrwert geschehen. Der Mehrwert bestimmt sich in der Ökonomie des späten 20. und 21. Jahrhunderts zunehmend als Überschuss des Produzierens über das Produkt. Er spiegelt sich im Überschuss der Verwendung eines Produkts über das, was es an Funktionen mitbringt. Insofern die Unternehmen, wie Rifkin zutreffend sagt, nicht mehr vornehmlich Dinge, sondern Zugang zu Funktionalität verkaufen, wofür die aktuelle Version eines Dings jeweils nur eine Plattform ist, fallen added value und surplus value in dieser Bestimmung des Mehrwerts zusammen.41 Wir sind vielleicht noch nicht so weit, die Auswirkungen dieser Entdifferenzierung in ihrem vollen Ausmaß zu verstehen. Doch eine davon dürfte sein, dass der Kapitalismus seine religiöse Formatierung überschreibt. Die „kapitalistische Religion“, die laut Agamben „die reine Form der Absonderung [ist], ohne noch etwas abzusondern zu haben“, 42 installiert sich nun als sozio-ökonomisches Programm, das den Zugang-zu verwaltet, die Abschöpfung des Mehrwerts in die sozialen Wertschöpfungsprozesse einschaltet. Statt „Warenfetisch“ und „Spektakel“ („wo alles von sich selbst abgesondert zur Schau gestellt wird“ 43) ist der organisatorische Unit dieses Kapitalismus gerade die vergleichsweise unspektakuläre Szene, wo ein Handeln Zugang zu sich selbst erhält. Agambens Definition der Profanierung – etwas zuvor religiös Gebundenes und Entzogenes werde den Menschen zum allgemeinen Gebrauch zur Verfügung gestellt – unterstellt, die Menschen, so wie sie als zur Menschheit gehörig von der Religion angesprochen wurden (durch einen gemeinsamen Ausschluss ihres Handelns vom Bereich des Heiligen), seien auch die Empfänger des Profanierten. Dass dieser Plural intakt bleibt, 41 | Dasselbe diagnostiziert Diedrich Diederichsen – ebenso zutreffend – für die Kunst. Vgl. Diedrich Diederichsen: On (Surplus) Value in Art/Mehrwert in der Kunst, Rotterdam/Berlin 2008. 42 | Agamben: Profanierungen, S. 79. 43 | Ebd.
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wo das Heilige vergessen werden durfte, sollte aber bitte niemand erwarten. Was dem Heiligen entnommen und in die Verfügung des Gebrauchs gestellt ist, das entzieht sich dem unmittelbaren Zugriff durch etwas anderes als die sorgsam und gewaltsam überwachte Grenze zwischen Religiösem und Profanem. Es entzieht sich durch die Notwendigkeit der Teilnahme an jenen sozio-ökonomischen Prozessen, die den Brauch ersetzen. Die Welt, in die das Profane fällt, regeln die sozialen Be-Dingungen der Partizipation, die es auf Wegen zirkulieren lassen, zu denen es immer wieder erst Zugang zu erlangen gilt. Und eben in diesen Zirkulationen richtet das Ökonomische sich ein. Wenn Rifkin feststellt, nicht mehr der Besitz von, sondern der Zugang zu Ressourcen entscheide im 21. Jahrhundert über Macht, Einfluss, Prestige (und letztlich auch Reichtum), so gilt das ebenso für das Handeln selbst: Nicht mehr das Vollziehen von Handlungen, sondern der Zugang zu Handlungsfähigkeit bestimmt das Profil des Erfolgs. Man müsste das Heilige also nicht nur dem Profanen entgegensetzen, sondern auch dem Sozialen: Während die Religion den Entzug lokalisiert, ihn auf einen Bereich des Geheiligten begrenzt, um den herum sich die Menschen versammeln, verteilt die total sozial gewordene Ordnung des entheiligten Lebens den Entzug flächig und gleichmäßig. Die Distribution der profanen Dinge und die Verbreitung des Entzugs geraten hier zu ein und demselben Vorgang. Um den Entzug zu beheben, mich in den Genuss der Dinge zu bringen, muss ich meine sozialen Beziehungen optimieren. Die Access-Gesellschaft erzieht ihre Mitglieder zu sozialen Virtuosen. Für diese Gesellschaft gilt, was Adorno von der Virtuosität gesagt hat – sie sei „Herrschaft als Spiel“.44
8. D A S P R E S T I G E Seit meinen eigenen, mehr oder weniger erfolglosen Versuchen, in dem Standard-Zauberkasten, den ich als Siebenjähriger zum Geburtstag bekommen hatte, die wenigen wirklichen Tricks aufzuspüren, hat mich die Zauberei zugleich gelangweilt und gefreut. In Verkehrung dessen, was mir mit dem Schach widerfahren ist, kommt die Langeweile in diesem Fall gewissermaßen zuerst, die Freude setzt mit der Beharrlichkeit ein. 44 | Theodor W. Adorno: Mahler, in: ders./Max Horkheimer: Gesammelte Schriften XIII, Frankfurt a.M. 1971, S. 305f.
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Je länger ich eine Zauberei-Darbietung verfolge, desto mehr nähere ich mich einem glücklichen Zustand. Bei einem großartigen Zauberer habe ich anschließend, manchmal auch erst viel später, die Gewissheit, dass mit dem, was er scheinbar möglich gemacht hat, noch ein anderes Unmögliches möglich geworden ist (oder doch hätte werden können). Wobei ich diese Chancen regelmäßig verspiele, aber der Eindruck bleibt: Die magische Wirkung eines Zaubertricks sollte eigentlich darin zum Ausdruck kommen, dass irgendwo in der Umgebung dieses Irregulären eine weitere Gesetzmäßigkeit nachgibt. Jemand kann auf einmal etwas tun, wovon er zuvor überzeugt war, es nicht zu können. Jemandem fällt etwas schwer Geglaubtes unverhofft leicht. Die Leute im Publikum finden sich gelenkiger, ihre Finger fühlen mehr Luft zwischen sich und den Dingen. Die Welt scheint für eine Weile ein Stück weit aus ihrem Bedingungsgefüge gedrückt, und es gibt daran ein Vergnügen, wie man es beim Einrasten von Teilen hat, nur eben am Gegenteil: Teile werden frei schwenkbar und biegbar. Ein Fragment von Novalis über die Zauberei im Märchen verzeichnet ebenfalls diesen Effekt: Bedeutender Zug in vielen Mährchen, daß wenn Ein Unmögliches möglich wird – zugl[eich] ein anderes Unmögliches unerwartet möglich wird – daß wenn der Mensch sich selbst überwindet, er auch die Natur zugleich überwindet – und ein Wunder vorgeht, das ihm das Entgegengesezte Angenehme gewährt, in dem Augenblicke als ihm das entgegengesezte Unangenehme angenehm ward. Die Zauberbedingungen z.B. die der Verwandl[ung] des Bären in einen Prinzen in dem Augenblicke, als der Bär geliebt wurde, etc. Auch bey dem Mährchen der beyden Genien.45
Der Effekt eines großartigen Zauberers wäre genau der entgegengesetzte zu dem Bann, von dem Thomas Mann in Mario und der Zauberer erzählt. Der Magier Cipolla – ein Hypnotiseur, dem das Image des Taschenspielers als Tarnung dient – tritt in einem italienischen Badeort auf. Eine Allegorie des faschistischen Führers, knechtet er sein Publikum, formt es zu einer verschreckt-euphorischen, ohnmächtigen Menge. Der Text entwickelt detailliert, wie das vonstatten geht: Mittels eines möglicherweise inszenierten Streites, in dem der angereiste Virtuose den kleinen Ort beleidigt, provoziert er die Leute zunächst zu einer Auseinandersetzung 45 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 389, Nr. 653.
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mit ungleich verteilten Rollen. Wie Paganini, von dem überliefert ist, dass er am liebsten vor einem feindselig eingestellten Publikum spielte, weiß Manns Zauberer offenbar um die Psychodynamik der Unterwerfung. Verunsicherte Menschen sind eher bereit, sich der Illusion einer Übermacht zu beugen; und das funktioniert umso besser, wenn sie ihre Ängste und Unsicherheiten nicht als solche erkennen, sondern sie in Affekten der Wut äußern. Der erste Schritt daher: die Leute glauben machen, es finde ein Kampf statt, in dem sie Stärke zeigen müssten, während man sie lediglich aus ihrer Deckung lockt, um desto wirkungsvoller mit ihrer Schwäche zu kooperieren. Als er zu ‚zaubern‘ beginnt und einen Fischerjungen aus dem Ort in seine Gewalt bringt, spricht Cipolla mit der Stimme der natürlichen Notwendigkeit. Ehe er daran geht, seinen Opfern ‚übermenschliche‘ Kräfte zu verleihen, befiehlt (bzw. „empfiehlt“) er dem Jungen, sich vor Magenschmerzen zu krümmen.46 Und auch bei dem ‚Übermenschlichen‘ handelt es sich dann um eine Härte des Körpers, durch die der Mensch zu einem mechanischen Gegenstand wird, auf dem man große Lasten abstellen kann.47 Mann beschreibt, wie Empörung und Faszination sich unter den Anwesenden wechselseitig in die Höhe treiben, wie die Zuschauer das „eigentümlich Entehrende […], das für den einzelnen wie für alle in Cipollas Triumph lag“, durchaus bemerken, aber, einmal von der Attraktion gefangen, nicht umhin können, eben diese Entehrung zu genießen. Der Einfluss des Magiers wächst in dem Maße, wie das Genießen, das er orga46 | „‚Krümme dich‘, wiederholte Cipolla. ‚Was bleibt dir anderes übrig? Bei solcher Kolik muß man sich krümmen. Du wirst dich doch gegen die natürliche Reflexbewegung nicht sträuben, nur weil man sie dir empfiehlt?“ (Thomas Mann: Mario und der Zauberer, in: ders.: Der Tod in Venedig. Erzählungen, Berlin/Weimar 1989 (2. Aufl.), S. 310-360, hier S. 335) 47 | Das Planking avant la lettre zumindest ist es, was das Publikum – vertreten durch den Erzähler – beeindruckt: „Daß aber eine ältere Dame, auf einem Strohstuhl schlafend, von Cipolla in die Illusion gewiegt wurde, sie mache eine Reise nach Indien, und aus der Trance sehr beweglich von ihren Abenteuern zu Wasser und zu Lande kündete, beschäftigte mich viel weniger, und ich fand es weniger toll, als daß, gleich nach der Pause, ein hoch und breit gebauter Herr militärischen Ansehens den Arm nicht mehr heben konnte, nur weil der Bucklige ihm ankündigte, er werde es nicht mehr tun können, und einmal seine Reitpeitsche dazu durch die Luft pfeifen ließ.“ (Ebd., S. 347f.)
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nisiert, die Menschen das an ihrer Menschlichkeit ablegen lässt, was sich der Unterwerfung widersetzt. Wissend, dass der Zauberer ein Mensch ist wie sie, bietet die Veranstaltung für das Publikum diesem Wissen doch von Anfang an keine Gelegenheit zur Anwendung. Der Krüppel Cipolla präsentiert sich in einem Format, das dem Begehren stattgibt, von der Ungleichheit – von der wahren, natürlichen Überlegenheit und der wahren, natürlichen Unterlegenheit – überzeugt zu werden.48 Der Nationalismus, dessen Ausbrüche und ständige latente Gegenwart der Magier sich zunutze macht, unterstützt das. Doch die Erzählung portraitiert nicht lediglich ein nationalistisch gestimmtes Publikum; sie zeigt, wie die aus einem Minderwertigkeitsgefühl entspringende Identifikation des Einzelnen mit der Vorstellung eines großen Ganzen die Haltung des Publikums ist, das sich versammelt, um von einem Ausnahmekünstler hingerissen zu werden. Der Magier Cipolla treibt das Spiel mit dem Begehren nach Überwältigung durch das Ungleiche, ungleich Mächtigere ins Extrem, und als Extremes offenbart hier die Ungleichheit ihre hässliche Fratze. Doch was, wenn der Herrscher mit dem zwielichtigen Charisma rechtzeitig aufzuhören versteht? In dem Film The Prestige von Christopher Nolan (2006)49 wird das Funktionieren eines Zaubertricks als Publikums-Performance an einem der bekanntesten Beispiele des Metiers erläutert: Der Zauberer zeigt dem Publikum zunächst etwas Vertrautes, das jeder wiedererkennt – einen kleinen Vogel. Dann macht er mit diesem Ding etwas Wunderbares und lässt den Vogel verschwinden. In diesem Augenblick des Verschwindens konzentriert sich das Dubiose des Zauberkünstlers als eines Virtuosen, d.h. eines mutmaßlich außergewöhnlich geschickten Menschen, dessen Geschicktheit aber zugleich etwas Unverhältnismäßiges, Überirdisches und in gewisser Hinsicht Übermenschliches hat. Was sich 48 | Peter Sloterdijk hat die Beziehung zwischen einer bestimmten Art erfolgreicher Virtuosität und der Verkrüppelung hervorgehoben – vgl. das Kapitel „Nur Krüppel werden überleben“ in: Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2009, S. 69-99. Zu einer Kritik von Sloterdijks Ideologie der kulturellen ‚Hyperkompensation‘ vgl. den Abschnitt „Eine andere Virtuosität“ in: Kai van Eikels: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Paderborn 2013, S. 258-264. 49 | Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Christopher Priest (1995).
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in diesem Augenblick ereignet, stellt den Erregungspunkt der virtuosen Darbietung dar (und das Motiv für die Anwesenheit des Publikums); aber es ist auch ein Skandalon, die Quelle einer Aggression, einer Entrüstung, eines existenziellen Vorbehaltes gegen denjenigen, der die Gemeinschaft aus ihrer Mitte heraus verlässt, sie als leerer Zirkel der Übriggebliebenen am Boden zurücklässt, während er selbst oben in der dünnen Luft einer symbolischen Zirkuskuppel ein die allgemeinen Gesetze der Realität verlachendes Kunststück vollführt. Um den Beifall des Publikums zu erringen, ist es daher unerlässlich, dass der Zauberer noch eine weitere Wendung vollzieht. Die virtuose Darbietung bedarf nach der Exposition von etwas Normalem und einem verblüffenden Umschlag ins scheinbar Unerreichbare noch einer dritten Phase. Diese dritte Phase heißt, wie der Zauberer im Film verrät, im Jargon seiner Zunft the prestige. Es geht hier in der Tat darum, sich für die Leistung, die man vollbracht hat, so zweifelhaft sie als solche bleibt, ja bleiben muss, eine reale Anerkennung zu verschaffen, die Wirklichkeit des Vollbrachten rückwirkend in der Wirkung auf das Publikum, in der affektiven Reaktion der Zuschauer überwältigend werden zu lassen. Ein verschwundener Vogel hinterlässt stumme und unzufriedene Leute im Zuschauerraum. Erst in dem Moment, da der Zauberer den Vogel irgendwo anders, aus seinem Zylinder, aus dem Decolleté seiner Assistentin oder der Handtasche einer Dame in der ersten Reihe wieder hervorholt, bricht der Saal in Applaus aus. Erst nachdem die Normalität wiederhergestellt ist, um das Zauberhafte bereichert, aber nicht dadurch verändert, hat die magische Performance Erfolg. Die meiste Zeit des Abends über beherrscht auch Manns Cipolla sich und sein Gewerbe so weit, dass er exakt zum richtigen Zeitpunkt die Ausgangssituation restauriert: Nachdem er Frau Angioleri, die Pensionswirtin des Erzählers, gegen die hilflosen Rufe ihres Mannes dazu verführt hat, ihm aus dem Saal heraus zu folgen, lässt er an der Schwelle „den Siegeskranz gleichsam fallen“, bricht ab und bietet „der aus Wolken zu sich Kommenden mit komödiantischer Ritterlichkeit den Arm, um ihn Herrn Angiolieri wieder zuzuführen.“ 50 Der Gedemütigte, wie Gehörnte, findet sich so doppelt übertölpelt. Unversehens stürzt er aus dem Ausnahmezustand zurück in die alte eheliche Normalität, und obgleich in Wahrheit nichts mehr beim Alten ist und nach dem Schrecken der Hohn kommt, der sich von allen Seiten über ihn ergießt, unterscheidet nichts, was er 50 | Mann: Mario und der Zauberer, S. 349.
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nennen, worauf er sich berufen könnte, dieses Nachher vom Vorher. Und genau in diesem Augenblick, als der Zauberer nach der Rückerstattung der geraubten Frau wieder die Bühne betritt, applaudiert ihm das Publikum: Gravitätisch und gebläht kehrte der Cavaliere aufs Podium zurück unter einem Beifall, dem seine Beredsamkeit doppelte Fülle verliehen hatte. Namentlich durch diesen Sieg, wenn ich mich nicht irre, war seine Autorität auf einen Grad gestiegen, daß er sein Publikum tanzen lassen konnte – ja, tanzen.51
Weder Thomas Manns Zauberer noch die beiden (Anti-)Helden von Christopher Nolans The Prestige bringen indes ihren Auftritt der empfohlenen dreiphasigen Dramaturgie gemäß zu Ende. Das Virtuose hat eine exzessive Tendenz. Auf ganzer Linie die Behauptung eines Mehr, zwingt etwas den erfolgreichen Virtuosen, zu weit zu gehen – etwas, dem er selbst sich nicht entziehen kann, dem er seinerseits unterworfen, von dem er seine Macht nur geborgt zu haben scheint. Nachdem schon „acht oder zehn Menschen“ in blöd lächelnder Trance auf dem Podium herumtanzen und selbst der willensstärkste und aufmüpfigste unter den Zuschauern bezwungen ist, hypnotisiert Cipolla, dessen „pfeifende Ledergerte mit Klauengriff [unumschränkt] herrschte“,52 den unscheinbaren Mario, einen Kellner aus einem Café, der schon von Berufs wegen dienstfertig ist und ihm ein Übermaß an Bereitwilligkeit entgegenbringt, so dass der zur Allmacht gesteigerte Bann tödlich entgleist. Vom Cognac schon betrunken, wodurch „in sein ganzes Gehabe und auch in den Tonfall seiner Worte etwas Sattes und Paschahaftes, etwas von Räkelei und Übermut eingetreten war“,53 missbraucht der Zauberer den besonders Schwachen für eine besonders brutale Entsublimierung. Er lässt ihn das wirklich demonstrieren, was der Bühnenkünstler sich für gewöhnlich von seinem Publikum nur symbolisch durch die Geste des Applauses bestätigen lässt: dass es ihn liebt. Indem er die Position eines Mädchens einnimmt, in das der Junge verliebt ist, nötigt Cipolla ihm inmitten des totenstillen Saales einen Kuss ab. Als ein Peitschenknall die Trance aufhebt und Mario von der Bühne zurück in die anderen Zuschauer taumelt, die ihn auslachen, 51 | Ebd., S. 349f. 52 | Ebd., S. 352. 53 | Ebd., S. 355.
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wirft er sich herum und erschießt den Magier mit einer winzigen Taschenpistole. Nolan, der statt vom faschistischen Totalitarismus von der Totalisierung der Konkurrenz im Kapitalismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts erzählt, lokalisiert den Exzess im Exzellenzwettbewerb zweier Zaubererkollegen. Zuerst Freunde und co-competitors, dann durch eine persönliche Rache verfeindet, treiben sie sich mit der Überbietung ihrer Tricks im Ringen um die Marktherrschaft bis an den Punkt, wo nur noch echte Magie eine weitere Steigerung zu verheißen scheint. Einer sucht den Sieg in einem Pakt mit Wissenschaft und Technologie, um mithilfe eines Generators tatsächlich materiell zu verschwinden und an einem anderen Ort wieder zu erscheinen. Er erhält Hilfe durch den Ingenieur Nikola Tesla, der selbst den Wettstreit gegen Thomas Edison zu verlieren droht und daher zu allem bereit ist. Diese echte Magie entpuppt sich jedoch nur als ein weiterer Spielzug im Duell der Intrigen, in die beide Konkurrenten den jeweils anderen verwickeln – tödliche Intrigen, die wiederum die Tricks an Virtuosität überbieten und am Schluss zu einem unentscheidbaren, für beide fatalen Ausgang führen. So oder so scheint gegen die Macht des populären virtuosen Performers, der mit der Bereitschaft seines Publikums zur Unterwerfung umzugehen vermag, nur das unbändige Mehr selbst ein narrativ plausibles Mittel. Ob das Attentat auf den Diktator, dessen Untertan den kurzen Sprung von der Ohnmacht zur Gewalt macht, oder die destruktive Wende in den Innovationsketten der Konkurrenten – nichts gibt hier mehr Anlass zu der Meinung, die Gleichheit könne aus eigener Kraft die Ungleichheit wieder aus dem Feld schlagen, nachdem diese einmal ihr Regime errichtet hat. Für den Ausgang der Geschichte bleibt nur die Hoffnung darauf, dass der Triumph der Herrschaft zugleich ihr Ende bedeute: dass das Monopol nicht minder katastrophal sei als der Faschismus. „War das auch das Ende?“, wollen die Kinder wissen, die der Erzähler von Mario und der Zauberer und seine Frau leichtsinnigerweise mit in die Zaubervorstellung genommen haben. „Ja, das war das Ende“, bestätigten wir ihnen. Ein Ende mit Schrecken, ein höchst fatales Ende. Und ein befreiendes Ende dennoch – ich konnte und kann nicht umhin, es so zu empfinden.54 54 | Ebd., S. 360.
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Aber wovon befreit dieses Ende, das ein weiteres Mal erzwungene Empfindungen produziert? Sicher nicht vom Begehren des Publikums. Nach der Aufführung ist vor der Aufführung. Wer ernsthaft etwas gegen die Eventualität des Beherrschtwerdens durch Virtuosen unternehmen wollte, müsste die Dramaturgie sabotieren, die ihnen das Prestige verschafft. Das heißt nicht, sich vom Populären abzuwenden, als sei die unheilvolle Wirkung des bannenden Wundermannes eine Frage niedrigen Niveaus. Es geht darum, dem Wunder etwas weniger Verängstigtes zuzugesellen als ein Publikum: Menschen, die darin nicht das erkennen wollen, was sie nie können werden, sondern eine vergnügliche Variante dessen, was jeder kann. Menschen, von denen jeder den furchterregenden Magier auf dem Podium durch seinen Kuss in einen Prinzen verwandeln würde.
Neue Szenen des Virtuosen Überbietung und Imperfektion im Gegenwartstheater Bettina Brandl-Risi
Das Problem ist: Wie kann man Tobias Moretti, das Herrchen von „Kommissar Rex“ in der gleichnamigen Krimiserie, als Hitler in Heinrich Breloers Dokudrama Speer und Er (2005) in der Gegenwart seines Schäferhunds zeigen, ohne dass den Zuschauern sofort Moretti und Kommissar Rex in den Sinn kommt? Die Lösung: Zeige ihn nie zusammen mit einem Schäferhund, sonst wird das Fernsehpublikum nie überzeugt sein zu glauben, er sei Hitler. Berlin, Januar 2006: Die neue Produktion des Dramatikers/Regisseurs René Pollesch hat Premiere im Prater, der Nebenspielstätte der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Wie zu erwarten, reiht sich Strepitolino – I giovanotti disgraziati in den Dialog mit den vorangegangenen und nachfolgenden Pollesch-Stücken dieser Saison, insbesondere Cappuccetto Rosso (2005), das mit dem Dilemma um Moretti, Kommissar Rex und Hitler beginnt. Auf Video-Leinwänden springt hier ein Schäferhund wiederholt Moretti als Hitler an – eine Montage natürlich. Pollesch, der für das Programm der gesamten Spielzeit des Praters verantwortlich zeichnet, schickt drei Schauspieler auf Bert Neumanns Bühne, die die Fassade eines uninspiriert durchschnittlich aussehenden Mittelschichts-Bungalows zeigt. Mittels Video-Live-Übertragung werden längere Szenen, die sich hinter den Mauern des Hauses abspielen, auf Leinwände auf der Bühne projiziert; die Darsteller bombardieren das Publikum mit Bruchstücken und Thesen aus theoretischen Diskursen unterschiedlicher Herkunft (u.a. von Giorgio Agamben), durchsetzt von Aktionen, die auf völlig inkohärente Weise, aber unterhaltsam und ironisch, wie gewohnt, komisch und politisch, auf Geschichten oder Filme
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(in diesem Fall auf Godards Le mépris) Bezug nehmen. Polleschs ‚italienische‘ Spielzeit, in der alle Produktionen italienische Titel tragen (zwei verweisen auf Märchen – Cappuccetto Rosso auf Rotkäppchen und Strepitolino auf Rumpelstilzchen), ist getragen von der neuen Obsession des Regisseurs, Repräsentation als dasjenige Problem zu befragen, das jeglichem theatralen Akt zugrunde liegt. Das Motto dieser Spielzeit lautet „Heterosexualität, Repräsentation, Mittelstand …. und alles, was sonst noch nicht als Problem markiert ist!“ 1. Unter den Schauspielern ist Martin Wuttke, ehemaliger Star-Darsteller und Intendant des Berliner Ensembles, wo er in der Rolle des Arturo Ui (in Heiner Müllers legendärer letzter Inszenierung von 1995, die noch immer vor ausverkauftem Haus spielt) brillierte, und der nun seine eigene schauspielerische Virtuosität in einem Umfeld wohl kalkulierter Imperfektion kultiviert. Ein vergleichbares Szenario findet sich in Polleschs Cappuccetto Rosso, 2005 im Rahmen der Salzburger Festspiele uraufgeführt. Wenn Sophie Rois, eine der Diven von Frank Castorfs Volksbühne und gefragte Filmschauspielerin, auftritt, wird als kinematographische Referenz Ernst Lubitschs Film To Be or Not To Be von 1942 aufgerufen. Lubitschs Film zeigt eine Gruppe polnischer Theater-Schauspieler, die zu Zeiten der TerrorHerrschaft des Nazi-Regimes in Polen Hamlet aufführen und schließlich gezwungen sind, im wirklichen Leben Nazis zu spielen, um zu überleben. Pollesch benutzt dies als Folie, um den Status theatraler Repräsentation in Frage zu stellen. Die gewählte Konstellation wird darüber hinaus noch weiter verkompliziert auf Grund der Tatsache, dass Sophie Rois zuvor selbst in einem Doku-Drama Heinrich Breloers im Fernsehen in der Rolle der Erika Mann zu sehen war. Die anderen Pollesch-Darsteller konfrontieren sie deshalb in Cappuccetto Rosso – ernsthaft/ironisch – damit, wie sie so ohne weiteres an einem Tag die Erika Mann bei Breloer spielen und am anderen Tag im berühmt-berüchtigten Kartoffelsalat an Frank Castorfs Volksbühne herumwühlen könne. Rois scheint einige Passagen von Lubitschs Figur, Maria Tura, zu sprechen, in denen sie den Verlust ihres Zaubers betrauert. Aber natürlich hat Sophie Rois nichts dergleichen verloren. Sie ist weit davon entfernt, die
1 | „Diese Prater-Produktion gehört zur Reihe ‚Heterosexualität, Repräsentation, Mittelstand … und alles, was sonst noch nicht als Problem markiert ist!‘“ http:// www.volksbuehne-berlin.de/praxis/strepitolino/ (letzter Zugriff: 13.06.2015).
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Rolle „Maria Tura“ zu spielen, denn Polleschs Darsteller tun alles andere, als eine Figur zu verkörpern. Stattdessen schreit sie mit ihrer unvergleichlichen, hysterischen, ironischen, heiseren Art zu sprechen und mit der für sie charakteristischen, drastisch übersteigerten Körpersprache und selbstsicheren Bühnenpräsenz Sätze wie „Ich habe meinen Zauber verloren!“ oder „Ich muss mich doch jetzt nicht mit so einer bürgerlichen Scheiße wie Inspiration beschäftigen oder doch?“ 2 Ihre Gegenspielerin, Christine Groß, die als Schauspielerin schon viele Jahre mit Pollesch zusammenarbeitet, agiert als Antagonistin im wahrsten Sinne des Wortes; sie kultiviert, was Pollesch seit den frühen 1990er Jahren als ‚seinen‘ Sound etabliert hat – eine nicht sehr artikulierte, flache Art des Sprechens jenseits eines einfühlenden Schauspielstils, die den Darstellern häufig die Fähigkeit abverlangt, große Mengen von Text in hoher Geschwindigkeit zu bewältigen, so dass die Anwesenheit einer Souffleuse auf der Bühne notwendige Voraussetzung des Spielens wird. Das ist alles andere als brillantes Schauspielen, sondern eine Form von absichtlicher Imperfektion, die jedoch in sich so erstaunlich differenziert und übersteigert ist, dass sie als eine Art von Virtuosität in der Imperfektion selbst erscheint. Polleschs Arbeiten verweisen auf ein grundlegendes Problem im zeitgenössischen (nicht nur deutschsprachigen) Theater: Ist die Beobachtbarkeit von Virtuosität, die untrennbar verbunden scheint mit Momenten des Imperfekten, lediglich eine zufällige Erfahrung, oder ist diese Ästhetik von größerer Bedeutung für das Theater? Wie verhält es sich mit Frank Castorfs Volksbühnen-Schauspielstil, berühmt für das Changieren der Sprechstile zwischen anscheinend privatem Kantinen-Tonfall und eher theatralen Sprechweisen? Wie lassen sich Christoph Marthalers bewusste Verweigerung, die Erwartungen seiner Zuschauer zu erfüllen, die Langsamkeit seiner Inszenierungen, die voll von scheinbaren Pannen und Momenten des Scheiterns sind und doch erstaunlich bewegend in ihren imperfekt-perfekten Szenen des Gesangs, vor diesem Hintergrund lesen? Oder Christoph Schlingensiefs Performances, die häufig seine eigene sehr besondere Gruppe von Darstellern einbinden – Laien, Menschen mit Behinderungen und mit besonderen Fähigkeiten ebenso wie Film- oder Theaterstars? Was ist mit den Produktionen des Theaterkollektivs Rimini Protokoll, die mit nicht-professionellen Schauspielern arbeiten, die jedoch 2 | http://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/cappuccetto_rosso/ (letzter Zugriff 11.05.2014).
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Profis in ihren jeweiligen Bereichen und Berufen sind, Experten ihres Alltags? Und hat die typisch deutsche, Ostinato-hafte Besessenheit, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, etwas damit zu tun? Inwiefern kann diese neue Art der Virtuosität auch als politisches Statement verstanden werden?
DAS DRAMA
DER
PERFEK TION
Der Begriff „Virtuosität“, so wie er in den letzten zweihundert Jahren auf künstlerische Phänomene angewendet wurde, war nie ein neutraler Terminus. Wenn eine Aufführung als „virtuos“ beschrieben wird, so impliziert dies immer, dass eine intensive Reaktion auf das Erlebte stattgefunden hat, sei es Begeisterung oder Ablehnung. Diese Momente von Zustimmung oder Ablehnung belegen die Existenz von Strategien der Aufführung, die entweder sehr wirkungsvoll sind oder überhaupt nicht funktionieren. Der Begriff der „Virtuosität“ vermag als Indikator einer neuen Künstlichkeit und einer neuen Kunsthaftigkeit zu fungieren, die im Angesicht der neuen Medien, der Filmindustrie und der zunehmenden Theatralisierung des Alltags die Relevanz des Theaters zu bewahren sucht. Berücksichtigt man den Grad an Perfektion, den der Film hinsichtlich des Realismus und Naturalismus der Darstellung entwickelt hat, muss sich das Theater heute auf die ihm eigenen Mittel konzentrieren, indem es gerade die ihm innewohnende Künstlichkeit und den Vorgang der Repräsentation selbst ausstellt. Der Dramaturg Carl Hegemann, der mit Frank Castorf und Christoph Schlingensief zusammengearbeitet hat, vertritt bezüglich der Zukunft des Theaters eine radikale Position: „Wenn das Halbnaturalistische vom Theater konserviert wird, wird man das Theater wahrscheinlich nicht retten können.“ 3 Die gängige Vorstellung von Virtuosität ist die einer virtuosen Darbietung, die Standards und Erwartungen übertrifft und damit eine verblüffende und exzessive Differenzierung produziert. Im Zuge dieser 3 | Carl Hegemann: Das Theater retten, indem man es abschafft? Oder: Die Signifikanz des Theaters, in: ders.: Plädoyer für eine unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters 1980-2005, hg. von Sandra Umathum, Berlin 2005, S. 129.
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Transgression inszeniert sich der Virtuose selbst sowohl als ausführendes Subjekt der Performance als auch als Objekt der Bewunderung, die seine Darbietung evoziert. Als ein ästhetisches Konzept geht Virtuosität auf die Hofmänner der italienischen Renaissance zurück, die in den Künsten und Wissenschaften als Nicht-Professionelle agierten und darin besondere Leistungen – „virtutes“ im eigentlichen Sinne des Wortes – vollbrachten.4 Spätestens im Laufe des 18. Jahrhunderts kam es zu einem Wandel im Begriffsverständnis, und die Verwendung des Begriffs „virtuoso“ für die künstlerischen Qualitäten des ausübenden Künstlers, mit einem besonderen Fokus auf technische Fertigkeiten in musikalischen Aufführungen, etablierte sich als die dominante Bedeutungsebene. Problematisch wurde Virtuosität erst im Laufe des 19. Jahrhunderts mit dem Auseinandertreten von Komposition und Ausführung und den Kämpfen der Komponisten und Dramatiker gegen die autokratisch agierenden ausführenden Künstler. Mit Beginn des industriellen Zeitalters und angesichts der zunehmenden Spezialisierung und Forderung nach gesteigerter Leistungsfähigkeit (performance) und Effektivität waren Darsteller und Zuschauer gleichermaßen fasziniert und abgestoßen vom Mechanischen, das in den Aufführungen von Instrumentalisten, Opernsängern und Ballett-Virtuosen zu bestaunen war. Virtuose Darbietungen zogen große und begeisterte Zuschauermengen an. Das schwindelerregende Gefühl der Bewunderung im Verbund mit der Wahrnehmung der Aura oder des Charismas des Künstlers ermöglichten eine ästhetische Erfahrung von Virtuosität. Erzürnte Kritiker und bestimmte Publikumsgruppen warfen den Virtuosen einen Mangel an künstlerischem Potential und Oberflächlichkeit vor, kritisierten sie dafür, dass sie Kunst in Zirkus verwandelten und dass sie nichts als das Ziel verfolgten, ihre eigenen Fähigkeiten und ihre Persönlichkeiten zur Schau zu stellen und sich selbst auf Kosten des aufzuführenden Werks und der anderen Darsteller ins Rampenlicht zu stellen. Schauspielerische Virtuosität war eine wesentliche Komponente des westlichen Theaters im 19. Jahrhundert, untrennbar verbunden mit dem Aufkommen des bürgerlichen Individuums als einem Modell theatraler 4 | Zu einem kurzen historischen Abriss von Virtuosität und einigen theoretischen Aspekten vgl. Bettina Brandl-Risi: Art. Virtuosität, in: Metzler Lexikon Theatertheorie, hg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat, Stuttgart 2005, S. 382-385.
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Verkörperung. Das moderne Konzept des „Charakters“ kann als (Vor)Bedingung für virtuose Performance gelten, aber in einer Epoche, in der vorrangig die Identifikation mit der zu verkörpernden Rolle angestrebt wird, fungiert Virtuosität zugleich als Stolperstein theatraler Repräsentation. Virtuosität im Theater ist nicht so sehr eine Frage der künstlerischen Bemeisterung technischer Schwierigkeiten als der Suche nach einem performativen Mehrwert mittels Übersteigerungen einer anderen Art: der Gestaltung eines ausgefeilten individuellen Stils mit wiedererkennbaren körperlichen Handlungen, besonderen Gesten und Gesichtsausdrücken wie auch Sprechweisen. Zudem sind Virtuosen auf ihr – mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln kultiviertes – Charisma angewiesen. Typischer Weise wurde ein anerkannter Virtuose mit wenigen ausgewählten Rollen identifiziert – oder vielmehr identifizierte man diese Rollen mit seiner oder ihrer Person. Man denke nur an Sarah Bernhardt, die als herausragende Figur (im wirklichen Leben) wahrgenommen wurde und der zuweilen sogar dämonische Qualitäten zugeschrieben wurden. Doch gerade indem die Virtuosen so stark ihre körperliche Individualität ins Spiel bringen und die materiellen Aspekte ihrer Darstellung ausstellen – ihre „Virtuosenmätzchen“ –, macht sich eine signifikante Abständigkeit zwischen dem virtuosen Darsteller und der von ihm oder ihr zu verkörpernden Rolle bemerkbar, womit die darstellungstheoretische Rahmung des Schauspielvorgangs selbst in Frage gestellt wird. Ein Virtuose repräsentiert nur sich selbst und sein technisches Können, nicht etwas anderes – die Figur –, womit auch die Illusion der Einheit von Darsteller und darzustellender Figur, die Illusion eines Verschwindens des Schauspielers hinter der repräsentierten Rolle verhindert wird. Das idealistische System theatraler Repräsentation erweist sich insofern als gefährdet: Virtuoses Spiel kann somit als Zeichen einer Krise innerhalb dieses Systems gesehen werden und verdeutlicht nicht zuletzt die Anfechtbarkeit des Systems selbst.5 Die Geschichte der Virtuosität – auch wenn diese so explizit mit ästhetischen Debatten des 19. Jahrhunderts verknüpft ist – geht, so meine These, mit dem 19. Jahrhundert jedoch noch nicht zu Ende. Gegenstand der folgenden Überlegungen ist die Erörterung ihrer Verlagerungen und 5 | Zum historischen Konzept von Virtuosität im Theater des 19. Jahrhunderts vgl. Jörg Wiesel: Zwischen König und Konstitution. Der Körper der Monarchie vor dem Gesetz des Theaters, Wien 2001.
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ihres Geltungsbereichs in der Gegenwart, um die Funktion und den Status von Virtuosität in einer Logik des Überbietens und Erfolgs zu untersuchen und das Verhältnis von Virtuosität und Perfektion, Imperfektion und Scheitern zu erhellen. In den Aufführungen, die ich in diesem Beitrag diskutiere, lassen sich verschiedene Konzepte von Virtuosität nachzeichnen: Virtuosität als Überbietung und zugleich in deren Negation, was ich als Virtuosität als/ in der Imperfektion bezeichnen möchte, die sich in außergewöhnlichen Darstellungsweisen oder anderen Überbietungsstrategien auffinden lässt, während zugleich herkömmliche Vorstellungen von Virtuosität in Frage gestellt werden und die Figur der Überbietung selbst konterkariert wird. In den diskutierten Aufführungen können verblüffende technische Perfektion in Stimmbeherrschung und Sprache sowie die stilistische Überdeterminierung im Schreiben und in der Darstellung einhergehen mit inszeniertem Dilettantismus und Momenten des Scheiterns; beides wird in den Aufführungen selbst zum Thema.
IMPERFEK TION Berlin, Januar 2006: Der holländische Video-Künstler Jaap de Ruig zeigt sein neues Video, The Power of Imperfection. Imperfektion scheint Konjunktur zu haben. Gegenwärtige Theater-Künstler finden eine lohnende Herausforderung im Unterbieten, nicht Überbieten, im Unterlaufen anstelle Übertreffen der Standards, im Spiel mit dem Dilettantismus, das Publikum nicht überfordernd. Indem sie nicht professionell sind, oder zumindest vorgeben, dies nicht zu sein, spielen diese Aufführungen mit der Grenze zum Dilettantismus. Die Produktionen des US-amerikanischen Regisseurs Richard Maxwell und seiner New York City Players sind ein gutes Beispiel für diese Strategie, die Shawn-Marie Garrett überzeugend als das Produzieren und Ausstellen von „awkwardness“ 6 bezeichnet hat. Indem er exzessiv schauspielerische Darstellungskonventionen der Angemessenheit ausstellt, zeigt Maxwells Ästhetik eine Form von Imperfektion, die jenseits des Diskurses um Virtuosität und abgetrennt von der Frage 6 | Shawn-Marie Garrett: The Awkward Age. New York’s New Experimental Theater, in: Theater 31 (2001), S. 45-54.
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nach technischem Können und der Spannung zwischen überbotenen und unterlaufenen Standards funktioniert. Auf der anderen Seite ist die Imperfektion des Körpers Gegenstand unterschiedlicher zeitgenössischer Performances, namentlich in der anhaltenden Auseinandersetzung etwa der Choreographin Meg Stuart mit der Monstrosität und Normalität des Körpers und William Forsythes Recherchen zu diesem Thema (You Made Me a Monster) 7. Ein starker Fokus auf den menschlichen Körper und seine unvollkommene Erscheinung kann auch in denjenigen Produktionen beobachtet werden, die gezielt nicht professionelle Darsteller einsetzen, wodurch gleichsam eine neue Form dokumentarischen Theaters begründet wird. Mittels dessen, was Jens Roselt Die Arbeit am Nicht-Perfekten nennt, der Tatsache also, dass die Darsteller als Schauspieler ungeübt sind, konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer hauptsächlich auf deren Biographien und die Zur-Schau-Stellung ihrer Körper, die – gerade weil sie ungeübt sind – besonders überzeugend oder beschämend wirken, die Haltung der Zuschauer hinterfragen und Momente des Scheiterns und der Peinlichkeit in Kauf nehmen.8 7 | Eine davon nochmals unterschiedene Perspektive auf das körperlich NichtPerfekte liegt Doris Koleschs Überlegungen zur ästhetischen Qualität „anderer“ Körper auf der Bühne zugrunde. Ihr Konzept des „Imperfekten“ bezieht sich dabei auf das fundamental Unvollkommene und Unvollendete des Menschen, und dies in seiner Duplizität des fehlerhaften, nicht „normalen”, behinderten Körpers und zugleich (im linguistischen Sinne einer unvollendeten Vergangenheit) des geschichtlichen Bedingtseins, des „Unabschließbaren“ des Lebens selbst, aber nicht zuletzt wird damit auch der Status des Theaters als einer transitorischen Kunstform aufgerufen. Koleschs Hauptinteresse richtet sich dabei auf Körper, die sich auf Grund ihres Alters (wie die Schauspielerin Marianne Hoppe jenseits der 80 oder alternde Tänzer) oder bestimmter Qualitäten (die Arbeit der Socìetas Raffaello Sanzio mit fettleibigen oder magersüchtigen Darstellern, mit Körpern mit fehlenden Extremitäten oder sichtbaren Spuren operativer Eingriffe) von Vorstellungen des Perfekten unterscheiden. Vgl. Doris Kolesch: Imperfekt. Zur Ästhetik anderer Körper auf der Bühne, in: Einbildungen (= Interventionen 14), hg. von Jörg Huber, Zürich 2005, S. 193-206. 8 | Vgl. Jens Roselt: An den Rändern der Darstellung. Ein Aspekt von Schauspielkunst heute, in: Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock- bis zum postdramatischen Theater, hg. von Jens Roselt, Berlin 2005, S. 376-380. Roselt
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Als die Gruppe Rimini Protokoll Wallenstein: eine dokumentarische Inszenierung (2005) auf die Bühne bringen, sehen wir echte Soldaten und echte Politiker, die zur gleichen Zeit sowohl sich selbst als auch eine Version von Schillers Drama darstellen. Die Darsteller als Laien zu bezeichnen, würde jedoch dem Gezeigten nicht gerecht; sie sind Experten der eigenen Biographie und Spezialisten in eigener Sache. Wallenstein war Rimini Protokolls erster Versuch, einen kanonischen Dramentext zu bearbeiten; frühere Inszenierungen arbeiteten mit Bewohnern eines Altersheims (Kreuzworträtsel Boxenstopp, Frankfurt 2000), mit Menschen, die im Bestattungsbusiness tätig sind (Dead Line, Hamburg 2003), und Betroffenen des Konkurses der Fluggesellschaft Sabena (Sabenation, Brüssel 2004), um nur einige Beispiele zu benennen. In Wallenstein erzeugen die Darsteller eine komplexe Schichtung von ‚Realität‘ (die auf der Bühne berichtet wird und für die die Menschen mit ihren Biographien einstehen) und fiktionaler Handlung, die die biographischen Erzählungen und dargestellten Szenen mit Passagen aus Schillers Drama verschränkt. Unter den Darstellern sind ein Polizist, eine Astrologin, eine Frau, die einen Dating-Service betreibt, zwei Vietnam-Veteranen und ein deutscher Soldat, der von seinen Erfahrungen im Kosovo-Einsatz berichtet. Die Soldaten erzählen von ihren traumatischen Erlebnissen im Krieg und während des Trainings. Dabei stellen sie ihre Emotionen nicht nur dar, sondern erleben diese zum Teil offensichtlich nach und thematisieren diese Erfahrung in der Situation selbst („This is really hard for me“). Ein Kommunalpolitiker erzählt recht nüchtern von seinen kleineren Machenschaften und Schummeleien während des Wahlkampfs, aber auch die Geschichte seines Gemobbed-Werdens durch die anderen Parteimitglieder und fragt schließlich das Publikum, ob sie ihn bei einer zukünftigen Wahl wiederwählen würden. Ein Schiller-Fan, der als Elektriker arbeitet und seit Jahren Freude daran hat, Tag für Tag Verse von Schiller auswendig zu lernen, trägt diese in einem hölzernen Pathos vor, ebenso befremdend wie anrührend in seinem Eifer. ist einer der wenigen Theaterwissenschaftler, die sich der Rolle des Schauspielers im sogenannten postdramatischen Theater gewidmet haben. Er bezieht das Konzept der Virtuosität allerdings ausschließlich auf die virtuose Verwandlungskunst des dramatischen Theaters und die virtuosen Körperinstrumente der Schauspieler. Vgl. ders.: In Ausnahmezuständen. Schauspieler im postdramatischen Theater, in: Text+Kritik XI (2004): Theater fürs 21. Jahrhundert, S. 166-176.
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Als eine Koproduktion des Nationaltheaters Mannheim und des Deutschen Nationaltheaters Weimar – den traditionsreichen Nationaltheatergründungen des 18. Jahrhunderts – warf Wallenstein ein spezielles Licht auf die deutsche Geschichte und leistete einen besonderen Beitrag zu den Feierlichkeiten zu Schillers 200. Todestag in Deutschland im Jahr 2005. In der Wallenstein-Version von Rimini Protokoll werden die ethischen Dimensionen von Handlungsmacht und Verantwortung für die eigenen Taten aus verschiedenen historischen Perspektiven beleuchtet, ausgehend von Schillers Szenario über die katastrophalen Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts bis zu den etwas näher zurückliegenden politischen Verstrickungen in Ost- und West-Deutschland. Die Fragilität der nichtprofessionellen Darsteller – das Bewusstsein des Nicht-Perfekten, das Bewusstsein, sich nicht hinter eine Rolle zurückziehen zu können – spielt dabei eine große Rolle für das theatrale Konzept der Gruppe, das sich an der Grenze zwischen Authentifizierung der Darstellenden und ihrer ‚Figuren‘ und theatraler Repräsentation abarbeitet. Ihre Recherchen zur Trennlinie zwischen Kunst und Leben, zwischen dem Professionellen und dem Nicht-Professionellen, kann als eine spezielle Erscheinungsform von Jens Roselts These zur „Arbeit am Nicht-Perfekten“ gelten. Auch vordergründig eher traditionelle Theaterarbeiten, die auf professionelle Schauspieler zurückgreifen, setzen Imperfektion gezielt ein und stellen diese bewusst aus, insbesondere Imperfektion im Dialog mit Virtuosität. So lässt sich Virtuosität heute nicht mehr nur als sich selbst affirmierende Praxis verstehen, die sie ehedem zu sein schien, sondern ist untrennbar verknüpft mit ihrem Gegenpart: dem Nicht-Gelingen, der technischen Imperfektion, dem Dilettantismus und dem Scheitern. Ebenso wie die Staunen erregende technische Perfektion verwandeln auch der ausgestellte Dilettantismus und das kalkulierte Scheitern die Szene des Virtuosen in ein potentielles Katastrophenszenario. Aber im Gegensatz zu einer Ästhetik des Nicht-Perfekten – z.B. mittels der Zurschaustellung ungeschulter Körper, durch welche die Zuschauer in ihrer Betrachterposition verunsichert werden – orientiert sich das Imperfekte stets an den Normen und Idealen der perfekten Ausführung und spielt so mit der inszenierten und ausgestellten Unterbietung der gesetzten Standards. Das Imperfekte fordert heraus, ohne peinliches Berührtsein zu produzieren. Es kann den Körper der Darsteller überfordern, wie im Fall der Pollesch-Darsteller, wenn die schiere Geschwindigkeit des Sprechens Versprecher zu einem notwendigen und einkalkulierten Bestandteil der
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Textproduktion wie -rezeption macht und die Souffleuse im Angesicht der immensen Textmengen, die jeder einzelne Darsteller von sich gibt, selbst zum Performer wird. Die den Darstellern abverlangte Sprechweise überschreitet die Grenzen ihrer stimmlichen Belastbarkeit und bewirkt, dass Heiserkeit als Effekt des Schreiens lediglich als eine zusätzliche Art und Weise des Sprechens erscheint. Imperfektion stellt nicht allein die Materialität und Widerständigkeit des Körpers aus, noch benutzt sie Körper als lediglich virtuose Instrumente, die darin vollständig kontrollierbar sein sollten. Polleschs Darsteller changieren in ihren Körpertechniken vielmehr zwischen beiden Polen. In der Imperfektion operieren professionelle Darsteller mit Spielarten des Dilettantismus oder unterbieten gezielt ihre eigene Professionalität. Polleschs Schauspieler – und in gewisser Hinsicht auch diejenigen Castorfs – unterbieten explizit ihre schauspielerischen Fähigkeiten im Sinne einer mehr oder weniger naturalistischen Darstellungsweise, während die Darsteller in Christoph Marthalers Inszenierungen, wie z.B. der schauspielende Musiker Jürg Kienberger, vorsätzlich ihr professionelles Können etwa als Musiker zur Disposition stellen. Anstatt die Secco-Rezitative in Mozarts Le Nozze di Figaro in der üblichen professionellen Weise auf einem Tasteninstrument zu begleiten, wählt Kienberger die Rolle des Dilettanten und bläst die Rezitativbegleitung stellenweise auf ungewöhnlichen Instrumenten wie unterschiedlich gefüllten Bierflaschen. Seine Darbietung ist alles andere als peinlich, sondern vielmehr anrührend und großartig in ihrer eigenen Virtuosität, der jedoch das Imperfekte inhärent bleibt, da die benutzten Objekte eben keine Musikinstrumente sui generis sind. In einigen Fällen kann eine solche professionelle Imperfektion mit dem Nicht-Professionellen oder Nicht-Perfekten interferieren. Dies ist z.B. der Fall, wenn Christoph Schlingensief seine bekannte Darstellergruppe gemeinsam mit Schauspiel-Stars wie Sepp Bierbichler oder Irm Hermann auftreten lässt oder wenn er umgekehrt 2001 für seine HamletInszenierung am Züricher Schauspielhaus die Schauspielertruppe mit aussteigewilligen deutschen Neonazis besetzt, dem Motto „Nazis rein!“ als Antwort auf die Neonazi-Parole „Ausländer raus!“ folgend. Die Inszenierung erregte großes öffentliches Aufsehen auch außerhalb des Theaters, was in erster Linie der dezidierten Einmischung in die in Deutschland und in der Schweiz geführten politischen Debatten geschuldet war, wie in beiden Ländern mit rechtsextremistischen Tendenzen umzugehen sei, einer Einmischung, die jedoch nicht als eindeutige Stellungnahme ver-
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bucht werden konnte, sondern mit einer für Schlingensief charakteristischen Ambiguität und Verkomplizierung ausagiert wurde.
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Polleschs frühe Arbeiten geben einen Einblick in seinen Umgang mit Virtuosität in der Arbeit mit Sprache, Dramaturgie und verschiedenen Schauspielstilen. Pollesch, seit 1999 vornehmlich an der Volksbühne tätig, äußerte sich dazu selten so explizit wie in Drei hysterische Frauen (1998). Seine Regieanweisungen lesen sich als programmatischer Prolog: „Großbuchstaben kennzeichnen laute – und in Abwechslung mit den entspannten – die hysterischen Stellen. […] Zeremonielle Schnelligkeit, zeremonielle Hysterie. Hiev diesen Textblock hinein in dein Gehirn und sei nicht mit ihm identisch.“ 9 Paradoxer Weise impliziert Lautstärke hier Entspannung. „Hysterische Haltungen: Den Körper von der Lautstärke mitreißen lassen, nichts forcieren. Der Körper bleibt in einer einigermaßen entspannten Haltung, wie es das Schreien eben gerade noch zuläßt.“ 10 Die Aufführungen leben von diesen Spannungen: den „Clips“ und Dialogen, kurzen Action-Szenen und Wortgefechten, unbeweglichen Körpern und exzessiven Aktionen. Polleschs Plot-Struktur hat opernhafte Züge („Arien versus Rezitative“, wie der Autor das nennt 11), wobei die Wechsel jedoch der Kürze und dem Tempo von Pop-Songs entsprechen: „Du willst Songs die sechs Stunden dauern? Dann geh Opern hörn!“ 12 Ungeachtet des Tempos beschreibt Pollesch die Methode seiner Stücke als „eilendes Verweilen“, eine Denkfigur, die an Paul Virilios „rasenden Stillstand“ erinnert.13
9 | René Pollesch: Drei hysterische Frauen/Three Hysterical Women/Trois Femmes Hysteriques, Unveröffentlichtes Bühnenmanuskript, Reinbek 1998, S. 1f. 10 | Ebd., S. 2. 11 | René Pollesch: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, Unveröffentlichtes Bühnenmanuskript, Reinbek 1999, S. 2. 12 | René Pollesch: Heidi Hoh, Unveröffentlichtes Bühnenmanuskript, Reinbek 1999, S. 33. 13 | Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Essay, Frankfurt a.M. 1999, S. 216.
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Pollesch charakterisierte seine älteren Arbeiten als Splatter Boulevard (Theater am Turm, Frankfurt, 1992) oder Snuff Comedies (Theater am Turm, Frankfurt, 1994), wobei er mit den verwendeten Gattungsbegriffen bewusst Medienästhetiken aufgreift. Diese „Theater-Soaps“ sind beeinflusst vom Gesprächstempo, den Gags und Kalauern von Comedy ebenso wie von Filmen. So wurde Polleschs Theater auch als Hochzeit von Bühne und B-Movie bezeichnet. Seine Aufführungen versuchen auf spezielle Weise, Theater mit Film bzw. Video zu fusionieren, indem etwa Filmprojektionen in den Plot eingearbeitet sind. Die Schauspieler wechseln zwischen Bühne und Film hin und her oder werden abgefilmt, während sie auf der Bühne spielen. Pollesch benutzt filmähnliche Strukturen für seine Inszenierungen, und der Darstellungsstil in den Aufführungen wird durch Operationen des Filmischen bestimmt: „Die Schnitte finden in den Spielern statt und sind nirgendwo sonst aufzuspüren. […] Das Personal hat die Schnitte in sein Sensorium übernommen, Kameraeinstellungen, Plots.“ 14 Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiß-Hotels hatte im Oktober 2001, kurz nach dem 11. September, in Berlin Premiere. Obwohl hier in erster Linie die Frage verhandelt wird, was aus der Unterscheidbarkeit von Arbeit und Leben unter den Bedingungen von Telearbeit und Homeoffice wird, greift Insourcing des Zuhause (wie immer bei Pollesch) unmittelbar damals aktuelle Geschehnisse und Erfahrungen auf, hier in direkten Anspielungen auf die Katastrophe des 11. September: Ein Fernseher zeigt Bilder der Taliban, und eine Sequenz aus Coppolas Apocalypse Now wird nachgestellt, in der ein Helikopter-Krieg zur Musik von Richard Wagners „Walkürenritt“ mit Alltags-Requisiten wie einem umgedrehten Büro-Drehstuhl und Frolic-Hundefutter als Bomben aufgeführt wird. Die Aufführung fand in einer Art Wohnzimmer-Bühne statt, die aus mehreren, für das Publikum einsehbaren Containern bestand. Zusammen bildeten diese eine Art Wohnung, die die Zuschauer in U-Form umgab. Die Zuschauer selbst saßen in der Mitte des Raumes auf Drehstühlen.
14 | Pollesch: Drei hysterische Frauen, S. 2.
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Abb. 1: Claudia Splitt, Christine Groß, Nina Kronjäger in René Polleschs Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiß-Hotels (Prater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, 2001)
Drei Schauspielerinnen diskutieren die sozialen und ökonomischen Arbeitsbedingungen von Angestellten in Dienstleistungsberufen und die Anforderungen an Effizienz und Virtuosität in Kommunikation und Zusammenarbeit, mit der Tele-Arbeiter konfrontiert sind: C: Da gibt es dieses Hotel und da übernachten die Leute nicht nur, die arbeiten da auch alle. N: In diesem Hotel, und das sieht aus wie ein Büro-Hochhaus, und da kannst du deine Subjektivität über Notebooks verkaufen. Und irgendwelche emails schreiben, an deine Mitarbeiter oder an Frei-er, wenn du eine HURE BIST! Oder an MITARBEITER ODER ANDERE UNTERGEBENE, WENN DU EINE HURE BIST!
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T: Und das bietet all diese Dienstleistungen an, die es erlauben, in diesem Hotel zu arbeiten. C: Und die Einrichtung sieht echt scheiße aus, aber alle Angebote sonst sind attraktiv. Alles das, was man nicht sieht. Diese Fabrik, die eine Vorstellung von Zuhause produziert. T: Alle Dienstleistungen hier sind irgendwie attraktiv. Und echt. Die sind alle so ECHT, DIE GEFÜHLE, DIE MIR ENTGEGENGEBRACHT WERDEN UND DIE PERSÖNLICHE ANTEILNAHME! SCHEISSE! N: Ich bin in diesem Hotel, und da gibt es diese fließenden Über-gänge zwischen Wohnen und Arbeiten! C: Und da arbeiten alle, in diesem Hotel. Und stöpseln ihr Note-book ein in diese ISDN-Hotels! T: Obwohl das Hotel ein Zuhause anbietet oder herstellt, arbeiten hier alle. N: Insourcing von Arbeit und Zuhause in Hotels! 15
Diese Zeilen müssen schnell gesprochen werden. Pollesch nennt das „auf Anschluss sprechen“.16 Der Eindruck von Virtuosität, den diese Aufführungen produzieren, wird zu einem großen Teil durch diese Art des Sprechens konstituiert. Die Stimmen markieren nicht länger „bürgerliche Subjekt-Positionen“; sie erklingen sozusagen über den Körpern und springen von einem Körper zum anderen, nehmen einen Körper nach dem anderen in Besitz. Über sich selbst sagen die Sprechpositionen in den Texten, sie würden schreien „… wie ein ausgeflippter Nô-Schauspieler.“ 17 In den Aufführungen wird der Sound durch Verstärkung definiert, durch die schnellen Wechsel von verstärkten und nicht-verstärkten Stimmen, die durch oder auch ganz ohne akustische Technologien produziert werden. Die daraus resultierende Sprachmelodie erinnert an manche deutsche Synchronisierungen billiger Sitcoms oder amerikanischer Werbesendungen, was insbesondere in dem unnachahmlich emotions15 | René Pollesch: Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiß-Hotels, in: Wohnfront 2001-2002. Volksbühne im Prater. Dokumentation der Spielzeit 2001-2002, hg. von Bettina Masuch, Berlin 2002, S. 50f. 16 | René Pollesch, zit. nach: Bettina Brandl-Risi: Verzweiflung sieht nur live wirklich gut aus. René Pollesch, in: Stück-Werk 3. Neue deutschsprachige Dramatik. Arbeitsbuch, hg. von Christel Weiler und Harald Mueller, Berlin 2001, S. 119. 17 | Pollesch: Heidi-Hoh, S. 38.
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losen „OH MEIN GOTT!“ hervorsticht. Polleschs Stil springt von Manifest-artigen Passagen, Film- und Song-Zitaten, theoretischem Fachjargon zu Plattitüden und einer Montage von Klischees und bon mots, lediglich verbunden durch Wortspiele oder Assoziationen, und zeichnet sich aus durch Übertreibungen, Redundanz, Parodie und Inkongruenz. Polleschs Theater bietet nichts, was einer realistischen Darstellung nahekäme, besonders nicht, was die damit einhergehende Behandlung des Sprechens betrifft. Die Souffleuse ist immer sichtbar und beschäftigt und spielt gelegentlich selbst eine aktive Rolle in der Aufführung. Pollesch lässt seine Figuren im Bewusstsein dessen sprechen, dass alles ohnehin schon gesagt ist. Sie sind alle Bauchredner – nicht nur die der Inszenierung Harakiri einer Bauchrednertagung (Theater Bremen, 2000). Polleschs Methode als Dramatiker ließe sich auch als Selbst-Plagiierung kennzeichnen: Er repetiert Themen, Figuren und Textpassagen, die von Text zu Text weiter übertragen werden. Jeder Theatertext von Pollesch beruht auf Variationen eines Themas (oder eines Films, einer Seifen-Oper oder Telenovela) und weist eine Fülle an Wiederholungen, Permutationen und Loops auf. 18 Jeder Text produziert und perpetuiert den Pollesch-Sound und den Pollesch-Diskurs: eine Mischung aus soziologischem und feministischem Diskurs, Wirtschaftstheorie und -Kritik (mit besonderem Augenmerk auf postfordistische Arbeitsverhältnisse und die globalisierten Städte), übersetzt in die grammatikalische Form der ersten Person Singular. Wie Diedrich Diederichsen bemerkt, sind es die Konzepte und Ideen, die als Helden in Polleschs Stücken fungieren.19 Theorie und Alltagsleben befinden sind nicht im Widerspruch zueinander und sind einander nicht entgegengesetzt, wie bei Pollesch zu lesen ist: „Aber das hier, das hier ist mein theoriefreundlicher Alltag. Der ist intensiv und wird langsam theoriefähig! … und nicht die Kunstscheiße und son Scheiß!“ 20 Um Virtuosität als solche erkennen zu können, ist es entscheidend, die Standards zu kennen, die virtuos überboten werden. In Polleschs Fall ist die Kenntnis bestimmter theoretischer Diskurse die entscheidende Vorbedingung, um wahrnehmen zu können, in welcher 18 | Vgl. Diedrich Diederichsen: Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. Das kulturtheoretische Theater des René Pollesch, in: Theater heute 3/2002, S. 60f. 19 | Ebd., S. 61. 20 | René Pollesch: Pablo in der Plusfiliale, in: Zeltsaga. René Polleschs Theater 2003/2004, hg. von Lenore Blievernicht, Berlin 2004, S. 153.
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Weise aus diesen Diskursen eine virtuose Darbietung hervorgetrieben wird. (Große Teile von Polleschs Publikum scheinen diesbezüglich einschlägig gebildet.) Insofern allerdings Virtuosität im Ausstellen der Materialität und Medialität der eingesetzten theatralen Mittel (die Stimme, die Bewegung) begründet liegt, bezeichnet sie in erster Linie eine Figur der Entsemantisierung, die Lust an der meisterhaften Beherrschung von Technik etwa im exzessiven Ausspielen von Wiederholungen und Variationen, die Lust an einer Ästhetik der Oberfläche. In dieser Hinsicht wären Polleschs Schauspieler Virtuosen im überkommenen Sinne des Wortes. Den traditionellen Schauspiel-Virtuosen vergleichbar unterbinden sie die Amalgamierung von Darsteller und Rolle, indem sie nichts anderes repräsentieren als die eigenen Fertigkeiten als Pollesch-Darsteller. Sie erhalten zu jeder Zeit die Distanz aufrecht zu allem, was in seinen Szenarios als Figur oder Rolle erscheinen könnte. Die Darsteller implementieren ihre Subjektivität in den Darstellungsvorgang: jedoch nicht in der traditionellen Manier des Zeigens großer Persönlichkeiten, sondern in ihrer jeweiligen Unterschiedlichkeit, grundiert von einer umfassenderen Tendenz zur emotionslosen Entindividualisierung. Die Mätzchen und Marotten, die sie kultivieren, die Schrei-Anfälle, denen sie zwischen langen Passagen des Sprechens erliegen, sind ihrerseits Pollesch-Markenzeichen, die den Eindruck stilistischer Uniformität unterstützen. Diese Mittel konstituieren einen eigenen Code, eine eigene Technik, die insgesamt eine Abweichung von naturalistischen Darstellungen markiert, aber nicht in dem Maße individualisiert ist, wie dies bei den traditionellen Virtuosen der Fall war. Konfrontiert mit der vorherrschenden Suche nach ‚Authentizität‘ in Sprache und Darstellung, nach der die meisten ausgebildeten Schauspieler streben, versucht Pollesch, Sprechweisen durch Beschleunigung und exzessives „Auf-Anschluss-Sprechen“ an ihre Grenzen zu bringen, was einen strikten technischen Formalismus und eine ganz eigene virtuose Technik hervorbringt. Aber die Virtuosität, die hier erzeugt wird, ist eine Form von Virtuosität als (und in der) Imperfektion und keine, die die Erwartung befriedigt, noch weitere Grenzen zu überschreiten. Wenn nun Frank Castorfs Star-Schauspielerin Sophie Rois in Cappuccetto Rosso auf Polleschs Protagonistinnen trifft, wird der Status der Schauspieler selbst zum Thema der Aufführung. Pollesch-Aufführungen arbeiten stets mit dem Strukturprinzip wechselnder Tonlagen. Die Virtuosität der
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Diva prallt nun mit der Virtuosität und Imperfektion des Pollesch-Sounds zusammen; die Diva zweifelt an sich als Schauspielerin, die ihren Zauber verloren hat, und mokiert sich über die Darstellung von Nazis auf der Bühne („Ein Nazi! Was mach ich denn jetzt?“ 21). Die Darsteller verstecken sich nicht hinter Rollen und kommen oftmals nicht einmal in die Nähe einer Charakterdarstellung. So eine „bürgerliche Scheiße wie Inspiration“ wird von den Sprechern abgelehnt und – in einem für Polleschs Arbeiten charakteristischen produktiven Widerspruch – zugleich funktionalisiert. Auf ihre eigenen Körper zeigend toben und schreien Rois und Caroline Peters: „Ich kann in diese Scheiße hier [...] kein bürgerliches Subjekt mehr reinbringen“,22 „keine Nora, keine Hedda, keine Kriemhild. Alles gegangen. Jedenfalls die bürgerlichen Varianten davon“,23 und tatsächlich: „der ganze Ibsen, Shakespeare, alles weg weg weg. Gefressen von einem Pilz.“ 24 Aber wenigstens, so sagen sie, könnten sie sich auf die gemeinsame Überzeugung verlassen, dass diese „Vorrichtungen, mit denen wir gemeinsam die Bühne betreten, [...] uns nicht im Stich lassen“ 25 werden, diese Körperlichkeit als eine Art physischer Apparat, der sein eigenes Leben führt. Dennoch gibt Pollesch Hinweise, dass andere Annahmen bezüglich des performativen Rahmens der Aufführungen unbestritten Geltung haben: „Und dass die da unten wissen, was Theater ist, darauf können wir auch aufbauen!“ 26
FRANK CASTORFS DIVEN Selbstredend sollten nicht alle diese Äußerungen für bare Münze genommen werden. Aber unbestreitbar erproben und befragen sie die Brauchbarkeit und Reichweite der theatralen Übereinkunft grundlegend. Dies gilt auch für Frank Castorfs Arbeit an der Volksbühne im ehemaligen 21 | René Pollesch: Cappuccetto Rosso, in: ders.: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke, Texte, Interviews, hg. von Corinna Brocher und Aenne Quiñones, Hamburg 2009, S. 15-60, hier S. 32. 22 | Ebd., S. 53. 23 | Ebd., S. 56. 24 | Ebd. 25 | Ebd., S. 57. 26 | Ebd.
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Ost-Berlin, wo er seit 1992 als Intendant tätig ist. Seine Schauspieler sind berühmt für ihre Abschweifungen und das Beiseite-Sprechen, Nebenbemerkungen und den plötzlichen Wechsel in einen ‚Kantinen-Tonfall’. Ein Tonfall, der changiert zwischen scheinbar ‚privatem‘ und eher ‚theatralem‘ Sprachduktus. Castorf lässt die Rolle der Schauspieler und ihrer Virtuosität explizit zum Thema werden, auch wenn das Heraustreten aus der Rolle immer innerhalb eines (mehr oder weniger) klar markierten Bezugsrahmens geschieht: Die Darsteller verkörpern Rollen und weichen innerhalb eines zumeist klar erkennbaren und benannten Szenarios von diesem repräsentationalen Vorgang ab, eines Szenarios, das seinerseits auf einem dramatischen Text oder einem anderen Prätext basiert, wie z.B. einem Dostojewski-Roman, der der Inszenierung ihren Titel verleiht. Seinem ästhetischen Credo im Berlin der Nachwendezeit folgend – „übergenau hinzusehen, die Krankheitsherde dieses nationalen Körpers Deutschland so bösartig wie möglich zum Gegenstand der Theaterarbeit zu machen und Gefühle der Verunsicherung auszulösen“27 –, inszenierte Castorf 1996 Carl Zuckmayers Des Teufels General. Zu dieser Zeit war das Stück nicht nur dafür berüchtigt, dass es als Versuch galt, die deutsche Wehrmacht als eigentlich unpolitisch (als ‚anständige Jungen’) zu rechtfertigen, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass es als Lieblingsstück des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl galt. Castorf engagierte für sein Vorhaben, Nazi-Deutschland zu inszenieren, für die Hauptrollen die Ex-DDR-Film-Diva Corinna Harfouch und den Volksbühnen-Star Bernhard Schütz, die im Verlauf der Inszenierung abwechselnd die Rolle des Luftwaffen-Generals Harras spielten. Im Verlauf des Stücks nimmt Corinna Harfouch ironisch Bezug auf ihren Star-Status und ihre Stellung als Volksbühnen-Außenseiterin, wenn sie plötzlich bemerkt: „oh je, ich muss noch ins BE“, da sie zur selben Zeit in einem neunzigminütigen Monolog die Rolle der Eva Braun am Berliner Ensemble spielte. Eine der bemerkenswertesten Szenen aus Des Teufels General zeigt Bernhard Schütz und Sophie Rois als General Harras und Pützchen. Zu Beginn der Szene versucht Rois als Pützchen, den vollständig verwirrten Schütz als Harras auf durchaus ernsthafte Weise davon zu überzeugen, 27 | Frank Castorf, zit. nach: Sandra Umathum: „Ich geb’ Euch kein Leitbild!“ Christoph Schlingensiefs Volksbühnenüberschreitungen, in: Zehn Jahre Volksbühne – Intendanz Frank Castorf, hg. von Thomas Irmer und Harald Müller, Berlin 2003, S. 72.
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dass er all seine Probleme leicht lösen könne, da er der geborene Führer und ein „echter Mann“ sei, den sie bewundere und begehre. Bernhard Schütz hingegen bringt lediglich ein „ich habe so viele Probleme, Probleme“ heraus, während er wie ein Betrunkener über die Bühne torkelt, erst über seinen Lehnstuhl und dann mit diesem in Richtung Publikum stolpert und schließlich während Pützchens Versuchen, ihn sexuell anzumachen, zu kotzen beginnt. Nach einem langen und virtuosen Kampf miteinander sowie mit diversen Requisiten – der Darsteller wie Publikum in gleicher Weise ermüdet, dabei aber die Zuschauer Tränen lachen lässt – wechseln die Darsteller die Plätze, als wäre nichts passiert, und fahren in einem nahezu naturalistischen Schauspielstil mit ihrer Unterhaltung fort. Völlig unvermittelt lässt ein Country-Western-Song beide von ihren Sitzen springen und einen Twist tanzen; sich zu den Projektion einer Luft-Kampf-Szene (möglicherweise aus dem Zweiten Weltkrieg) im Hintergrund der Bühne umdrehend, unterbrechen sie ihren Tanz mit einem Schrei und dem Refrain: „Probleme! Probleme! Probleme!“, zum Publikum gewendet. Diese Tanz-Refrain-Sequenz wiederholt sich einige Male. Auf ähnlich abrupte und nicht vorhersehbare Weise setzen sich Schütz und Rois plötzlich wieder auf ihre Sessel und führen den Dialog weiter. Abb. 2: Bernhard Schütz als General Harras und Sophie Rois als Pützchen in Frank Castorfs Inszenierung von Carl Zuckmayers Des Teufels General (Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz Berlin, 1996)
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Es ist offenkundig, dass die Schauspieler im Zentrum dieser Form von Theater stehen, nicht die Figuren, die sie darstellen. Letztlich verbindet gerade dies den anti-naturalistischen Stil der Castorf-Darsteller mit den Schauspielvirtuosen des 19. Jahrhunderts. Sie alle sind Diven eigenen Rechts, mit ihren sehr eigenen Persönlichkeiten und Eigenarten. Der Virtuose und Star Martin Wuttke (berühmt geworden als Arturo Ui in Heiner Müllers Inszenierung am Berliner Ensemble), der nach und nach Teil des Volksbühnen-Ensembles wurde, sticht mit seinen virtuosen ‚epileptischen‘ Anfällen und körperlicher Verausgabung hervor. Markenzeichen des auch als Fernseh- und Filmschauspieler bekannten Henry Hübchen sind Slapstick-Szenen wie etwa in Dämonen (1999), einer Aufführung, in der er am Pool von Bert Neumanns containerartigem Bungalow einen andauernden Kampf mit einem Liegestuhl ausficht. Virtuose Performance in diesem Sinne verweist auf ein Unterlaufen von Kohärenz in der Rollendarstellung wie in der Herstellung von Zusammenhängen und dramatischen Handlungen. Castorfs Inszenierungen, die in Kultivierung der Überlänge häufig vier Stunden und länger dauern, zeichnen sich durch Fragmente und Einschübe aus Fremdtexten, assoziative Verknüpfungen und den Einsatz von fremdsprachig aufgeführten Sequenzen aus. Nach 2000 vornehmlich russische Romane adaptierend – Dämonen sowie Erniedrigte und Beleidigte (2001), Der Idiot (2002) und Meister und Margarita (ebenfalls 2002) –, bringt Castorf eine Methode zur Anwendung, die er selbst als „forcierten Eklektizismus“ beschreibt.28 Übertreibungen und Trivialität in Sprache, Stimme oder körperlichen Aktionen resultieren in einer Spielweise, die Gitta Honegger treffend beschreibt: „Insanity at the Volksbühne has become the norm, a freewheeling, hyperactive performance mode and a way of life unmodified by Prozac.“ 29 Die Hysterie, das Ausflippen, das an die Grenzen des körperlich und stimmlich Machbaren Gehen markieren beides: die Virtuosität der Schauspieler und deren Komplizenschaft mit dem Imperfekten. Das Ausstellen der Materialität der Stimme gehört dabei zu den Hauptaufgaben:
28 | Frank Castorf, zit. nach: Thomas Irmer: Leitbild, Glauben, Depression und Erniedrigung. Frank Castorfs Volksbühnenarbeit ab Mitte der neunziger Jahre, in: Zehn Jahre Volksbühne, S. 52. 29 | Gitta Honegger: Theater in Berlin. Last Stop. Amerika and the Volksbühne Experience, Plus New Voices and Ekkehard Schall, in: Theater 32/2 (2002), S. 41.
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„Der Mensch spricht bei Castorf erst wahr, wenn er kreischt.“ 30 Castorf und seine Schauspieler suchen beim Sprechen nicht nach der perfekten oder gepflegten Muttersprache, sondern vor allem nach „dem Lallen, Stottern und sich Verhaspeln“ 31, das die linguistische Geschliffenheit der Darstellung destabilisiert. Castorfs Darsteller spielen mit der Imperfektion, mit dem nicht kalkulierbaren Risiko des Stolperns und Ausrutschens, das der – häufig buchstäblich – unsichere Bühnenboden der Volksbühne bereitet. Improvisation und ein Bewusstsein für die Möglichkeit des Nicht-Gelingens bestimmen insbesondere jene Momente, in denen die Interaktion mit dem Publikum und dessen Reaktionen gefordert sind. So können Situationen entstehen, in denen die Aufführung nicht weiterzugehen scheint, bis irgendein Zuschauer mit einem Zwischenruf interveniert, auf dass die Schauspieler dann die Szene wiederaufgreifen, in der sie vorher scheinbar steckengeblieben waren. Castorfs exzessive Nutzung von Video und Film in den letzten Jahren beförderte seine Recherchen zum Status der schauspielerischen Darstellung. Die Omnipräsenz von Live-Video-Aufzeichnungen, die auf Leinwände und Monitore auf der Bühne übertragen werden, reduziert zwar die Präsenz der Live-Darsteller, intensiviert jedoch im selben Moment die seltenen Momente, in denen die virtuosen Schauspieler live auf der Bühne erscheinen. Der Theaterkritiker Robin Detje beschreibt die Anziehungskraft, die Castorfs Theater auf das Publikum ausübt, als eine Art Reprogrammierung: „Gegen die ‚Seht-mal-her-wie-toll-ich-tief-undschwierig-fühlen-kann’-Manier des spätbürgerlichen Einfühlungstheaters hat er im ausgehenden 20. Jahrhundert eine Attacke geritten, von der die Bühnenkunst sich auf Jahre nicht wieder erholen wird. [...] Weil sie [Castorfs Schauspieler] es so gut können, trampeln sie dabei große Teile des klassischen Einfühlungstheaters und unserer in hohen Traditionen wurzelnden Bühnen-Geisteswerte kaputt – des ‚Erbes’, wie man in der DDR gesagt hätte. Diese Schauspieler sind so lange so schön aus der Rolle gefallen, bis sie ihr Publikum erfolgreich umerzogen haben: Es wartet nun auf das schöne Aus-der-Rolle-Fallen und hält es für den eigentlichen kathartischen Augenblick des Abends.“32
30 | Robin Detje: Castorf. Provokation aus Prinzip, Berlin 2002, S. 170. 31 | Ebd., S. 187. 32 | Ebd., S. 254.
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CHRISTOPH MARTHALERS
P E R F E K T E /I M P E R F E K T E
MUSIKER
Während die Schauspieler in Castorfs Inszenierungen ihre virtuosen Qualitäten in überbordenden und brillanten Abschweifungen zur Schau stellen, unterbieten die Darsteller in Marthalers Theater diese Komplexitätsstandards. Aber auch Marthalers Schauspieler sind Virtuosen, nur eben in ihrer eigenen Liga. Marthaler lässt sie jedoch weniger tun – und er lässt sie singen. In Die Fruchtfliege (2005) an der Volksbühne setzte Marthaler – der Schweizer Regisseur, Theatermusiker und von 2000 bis 2004 Intendant des Züricher Schauspielhauses – nicht mehr ganz junge Schauspieler mit all ihren körperlichen bzw. stimmlichen Einschränkungen ein, um Opernsänger und Operngesang darzustellen. Die Fruchtfliege lässt sich in vielerlei Hinsicht als ein Rückblick auf und eine Revision von Marthalers Debüt als Regisseur bei den Bayreuther Festspielen im selben Jahr mit seiner Inszenierung von Richard Wagners Tristan und Isolde verstehen. Die Fruchtfliege reflektiert Virtuosität und Imperfektion in Hinblick auf Emotionen, auf das Theater- und Opernrepertoire des 19. Jahrhunderts und auf die musikalische Interpretation. In einer Szene wird die klassische Konzertvirtuosität zum Thema: Der Pianist, der sich die meiste Zeit damit begnügen muss, die Sänger und Schauspieler lediglich am Klavier zu begleiten, bricht in Tschaikowskys 1. Klavierkonzert aus. Die übrigen Darsteller stellen sich hinter ihm in einer Reihe auf und imitieren die Körperbewegungen eines Klavier-Virtuosen – das Nicken mit dem Kopf, das Sich-Hin-und-Her-Wiegen des Oberkörpers, das Hochwerfen der Arme. Die visuelle und theatrale Dimension des ‚klassischen‘ Virtuositätskonzepts wird hier evident. Während die Schauspieler dieses Konzept von Virtuosität jedoch lediglich imitieren, liefert der Pianist tatsächlich eine staunenerregend perfekte Darbietung der virtuosen Komposition. Am Ende fallen Exzess und Lächerlichkeit, Perfektion und der Moment des Scheiterns zusammen: Die Gesten des Pianisten werden zunehmend extravaganter und überladener, bis er sich schließlich selbst ohrfeigt und abrupt den Flügel verlässt. Hier stolpert Virtuosität buchstäblich über sich selbst. Musik ist der wichtigste Bestandteil von Marthaler-Produktionen, die häufig Liederabenden ähneln. Marthaler hegt eine besondere Leidenschaft und Liebe für das Veraltete, Altmodische und Marginalisierte. Er selbst ebenso wie seine Bühnenbildnerin, Anna Viebrock, finden ihre In-
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spiration und ihr Personal in der Abgelebtheit und Schäbigkeit realer oder ‚gefundener‘ Räume und Situationen wie etwa in Bahnhofsbüffets oder Kneipen. Die Bühnenbilder in Marthaler-Produktionen zeigen in erster Linie derartige Interieurs. Auf der Suche nach guten Sänger-Schauspielern für seine erste Produktion an der Volksbühne 1993 – das langjährig gespielte Erfolgsstück Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!, das den Durchbruch des Regisseurs in der deutschen Theaterlandschaft brachte – rekrutierte und reaktivierte er einige der älteren Ensemble-Mitglieder der Volksbühne, die Castorf zu Beginn seiner Intendanz vorgefunden hatte. Marthaler hat eine kleine Gruppe ihm zugetaner Schauspieler um sich versammelt, die darin brillieren, bizarre Figuren auf die Bühne zu stellen, skurrile Gestalten, stets in unvorteilhafte, billige, altmodische, schäbige oder zu kleine und zu enge Kostüme gekleidet. Diese Andeutungen von Figuren führen häufig Manieren und ein Bewegungsvokabular einer untergegangenen Zeit aus, von Zeit zu Zeit in akrobatische Ausbrüche verfallend, in Slapstick, Tollpatschigkeit, Missgeschicke oder den Kampf mit der Tücke der Objekte – Brillengestelle, abbrechende Stifte oder Klappliegen, die ihren eigenen Willen zu haben scheinen. Sie scheitern in und an vielen Situationen. Gelegentlich fallen sie unvermittelt um oder versinken in Schlaf. In der Regel stellen sie im Verlauf der Aufführung keine kohärenten Figuren dar, sondern Situationen, in denen die Darsteller für einen begrenzten Zeitraum miteinander agieren und wieder auseinandergehen oder manchmal regelrechte Soli geben (Seemannslieder, Gent 2004; Die Fruchtfliege). Anders als bei Pollesch und Castorf spielen Männer die Hauptrolle in Marthalers Theaterwelt, allerdings Männer im Kollektiv, in einer klischeehaften, infantilen, verklemmten Macho-Männlichkeit. Die Aufführungen erzeugen dabei ein Stimmungsgemisch aus Melancholie, Traurigkeit und im selben Moment Komik, aus Peinlichkeit und schmutzigen Witzen. Aber – im Unterschied zu Pollesch oder Castorf – wird sehr wenig geredet und sehr viel geschwiegen. Nur gelegentlich kommt es zur Entfaltung von Handlungen, die aber häufig nur angedeutet bleiben. Annäherungsversuche an das andere Geschlecht scheitern grundsätzlich, sind entweder zu zaghaft und beiläufig oder zu eruptiv.
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Abb. 3: Bettina Stucky, Ueli Jäggi und Olivia Grigolli in Christoph Marthalers Die Fruchtfliege (Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz Berlin, 2005)
Marthalers Themen sind auch seine Darstellungsmittel: Erschöpfung, Apathie, Warten, Einsamkeit, Schweigen, Scheitern, Langsamkeit, Stillstand, Wiederholungen. Ihnen ist eine weitergehende historische und politische Dimension inhärent, indem darin vergangene Epochen und verstörende Präsenzen aufscheinen. Virtuosität entfaltet sich z.B. im mit großer Ernsthaftigkeit ausgeführten Wiederholen sinnloser Bewegungen und gestischer Ticks, bis diese in Klamauk und Slapstick enden und die Marotten als das ausstellen, was sie sind. So gesehen wurde Marthalers Theater treffend auch als „Wurzel aus Samuel Beckett und Buster Keaton“ 33 beschrieben. Marthalers Aufführungen widersetzen sich gezielt den Erwartungen des Publikums nach theatraler Befriedigung, aber inmitten der Langsam33 | Klaus Dermutz: Christoph Marthaler. Die einsamen Menschen sind die besonderen Menschen, Salzburg 2000, S. 51.
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keit der Aufführungen, durchsetzt mit Missgeschicken und Momenten des Scheiterns, entstehen häufig außerordentlich schöne Momente durch die Musik. Die transformative Kraft des Singens, seine emotionale Ausdrucksstärke, kann ein utopisches Potential enthüllen: Die Musik berührt Aspekte des Lebens, die jenseits der beschädigten menschlichen Existenzen verborgen sind. Matthias Lilienthal, Marthalers früherer Dramaturg, bemerkt dazu: „Wie an Alain Resnais’ On connait la chanson zu sehen ist, traut man der Verschlissenheit von Schlagern mehr an Wahrheit und Sehnsucht zu als vielen ideologiekritischen Reflexionen.“34 In den Gesangs-Sequenzen arbeitet Marthaler sowohl mit ausgebildeten Sängern als auch mit Schauspielern, die gut singen können, und schafft so Momente fragiler Schönheit – bewegend gerade auf Grund ihrer imperfekten Perfektion. Aber noch aus einem weiteren Grund spielt Gesang so eine fundamentale Rolle in Marthalers Inszenierungen: „Wenn Schauspieler erst einmal singen, gibt es eine klare Struktur jenseits einer psychologischen Spielweise.“35 Eine von Marthalers Lieblingsschauspielerinnen, Olivia Grigolli, erinnert sich daran, wie Marthaler den Schauspielern bei der ersten Probe zu Horváths Kasimir und Karoline (Deutsches Schauspielhaus Hamburg 1996) lediglich eine einzige Anweisung erteilte: „Das einzige, was er gesagt hat, war: Wir sollen nur stehen, nicht spielen und die Texte einfach nur einmal sagen. Wenn man sich eine Atmosphäre vorstellen sollte, dann wie in den Filmen von Aki Kaurismäki, in denen die Akteure nur herumstehen. Dass man nicht versucht, die Texte zu färben, sondern jene Laienhaftigkeit zu erreichen, die die Filme von Kaurismäki ausmachen. [...] Man muss nicht versuchen, perfekt zu spielen, sondern eher das Herumstehen auszuhalten.“36 Das Verhältnis von Virtuosität und Imperfektion erweist sich als die grundlegende Triebkraft für Marthalers Theaterkonzept: Während er einerseits die Standards von schauspielerischer Perfektion gezielt unterbietet, fordern seine Szenarien eine Ausstellung virtuoser Fertigkeiten in einem anderen Feld, und sei es als Virtuosität des Scheiterns oder des Umherstehens und Wartens. 34 | Matthias Lilienthal: Eine untergegangene Welt ein letztes Mal imaginieren, in: Dermutz: Christoph Marthaler, S. 123. 35 | Ebd., S. 120. 36 | „Man hat gesagt, er ist ein Spinner“. Gespräch mit der Schauspielerin Olivia Grigolli, in: Dermutz: Christoph Marthaler, S. 151.
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Wenn seine gemeinsam alternden Ensemblemitglieder als perfektimperfekte Musiker brillieren, kann dies als Teil des immerwährenden Projekts des Regisseurs gelten, den Leichnam „Theater“ wiederzubeleben. Eine bessere Beschreibung von Marthalers diesbezüglicher ironischer Ambivalenz als in einem seiner Mini-Dramen, RUF DER WILDNIS oder EIN BESSERER HERR, lässt sich kaum finden: Musik. Der Vorhang öffnet sich. Auf der Bühne liegen 9 Särge. Musik aus Schweigen. Der Deckel des 7. Sarges öffnet sich. Eine Leiche richtet sich langsam auf. Leiche: Ich mache seit 35 Jahren lebendiges Theater. (Deckel zu) VORHANG 37
„S C H E I T E R N
ALS
C H A N C E “: C H R I S T O P H S C H L I N G E N S I E F
Wie Marthaler benutzte auch Schlingensief († 2010) eine Produktion an der Volksbühne, um seine Erfahrungen mit Wagner und den Bayreuther Festspielen zu verarbeiten, in diesem Fall die Premiere seines Parsifal aus dem Jahr 2004. In Kunst und Gemüse: A. Hipler (2004) befragt er „Theater ALS Krankheit“, mit den Verweisen auf „Theater als Krankheit“ und „Theater – Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) – Krankheit“ spielend, eine Assoziation, die auf Grund der damaligen Skandale um den deutschen Künstler Jörg Immendorff zusätzlichen Zündstoff erhielt. Immendorff († 2007) litt an ALS und war in der Folge seiner viel kritisierten ‚Orgien‘ mit Kokain und Prostituierten als Professor für Malerei entlassen worden. Schlingensief entwickelt ein Szenario aus Live-Performance, Musik, Film-Projektionen, Installationen, Sprache und Schrift, mit sehr hetero-
37 | Christoph Marthaler: Ruf der Wildnis oder Ein besserer Herr, zit. nach Dermutz: Christoph Marthaler, S. 52.
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genen Referenzen, etwa Schönbergs Oper Von heute auf morgen, Wagners Parsifal, den Klatsch über die Familie Wagner (Schlingensiefs Ausschluss von den Bayreuther Festspielen im Jahr nach seiner dortigen ParsifalPremiere eingeschlossen), Godards und Bachs Matthäus-Passion sowie Adolf Hitler und den Holocaust. Opernsänger und professionelle Musiker interagieren mit Schlingensiefs außergewöhnlichem Ensemble aus Menschen mit sehr einmaliger Ausstrahlung und einzigartigen Fähigkeiten, die dem Bühnengeschehen einen beunruhigend anderen Tonfall geben. Abb. 4: Szene aus Christoph Schlingensiefs Kunst und Gemüse: A. Hipler (Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz Berlin, 2004)
Das wohl erschütterndste Moment der Aufführung ist Angela Jansen, eine an ALS leidende Frau, die in der Mitte des Zuschauerraums in ihrem Krankenhausbett liegt, unterstützt von einer Person, die als ihre Krankenschwester fungiert. Jansen ist nicht in der Lage zu sprechen oder sich zu bewegen; sie kommuniziert mit Hilfe eines Apparats, der ihre Augenbewegungen erkennt und in Schrift übersetzt. In dieser Situation hat das ‚Weniger Tun‘ eine grundsätzlich andere Bedeutung als im Kontext von Marthalers Szenarien. Hier geht es nicht um eine vorsätzliche künstlerische Limitierung, sondern um das Ausstellen von körperlichen Einschränkungen und die Frage, inwiefern diesen ein künstlerisches Potential inhärent ist. Schlingensiefs radikale Verwendung des Nicht-Perfekten in diesem Sinne ist zentral für seine Arbeiten, ebenso wie sein Credo „Scheitern als Chance“ und seine Bereitschaft, jene unvermeidlichen Risiken in der Herstellung von Situationen einzugehen, in denen
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die Grenzen und Sicherheiten der vierten Wand aufgegeben werden und die außer Kontrolle geraten können. Das Betrachten von Angela Jansen konfrontiert uns mit Grenzen – Grenzen, die auch das hergebrachte Verständnis von Zuschauern reflektieren, auf eine mehr oder weniger passive Wahrnehmung und Teilhabe beschränkt zu sein, selbst wenn Angela Jansen als die eigentliche Regisseurin und Initiatorin der gesamten Produktion deklariert wird. Kunst und Gemüse ist eine von Schlingensiefs gemäßigteren Produktionen, verglichen mit der Reihe von öffentlichen Skandalen, die er provozierte, wie z.B. mit seinem Aufruf „Tötet Helmut Kohl!“ bei der documenta 1997. In diesem Jahr begann er mit groß angelegten Projekten außerhalb des Theaters, so z.B. mit dem Projekt Chance 2000, das in der Gründung einer Partei bei der Bundestagswahl 1998 bestand, und angetreten war, das etablierte Parteiensystem und besonders Helmut Kohl herauszufordern und in Frage zu stellen. Theater und Politik verschränken sich hier auf eine Weise ununterscheidbar miteinander, dass niemand sagen kann, wo Kunst endet oder das (Alltags-)Leben beginnt: Das Publikum wird aufgefordert, der Partei beizutreten, Parteitagsbesucher werden adressiert als Teil des „größten Theaterstücks aller Zeiten“ und Zeitungen wissen nicht, in welchem Ressort zu berichten – ob „Kultur“ oder „Politik“. (Das Wahlergebnis für Chance 2000 belief sich bundesweit auf 28.500 Stimmen.38) Nach dieser Erfahrung kehrte Schlingensief ans Theater zurück – auch der Versuch eines Rückzuges aus der Medienöffentlichkeit, die ihn zu instrumentalisieren drohte. Er inszenierte an der Volksbühne die Aufführungsserie Berliner Republik, eine „vergleichsweise normale Boulevardkomödie“ 39 über das Kanzlerehepaar Schröder. Mit Beginn des Kosovokriegs brach er die Aufführungsserie ab und reiste in den Kosovo, um Kriegsflüchtlinge an die Volksbühne zu holen. Eine Reihe von öffentlichen Aktionen, Arbeiten an Theatern und mehrere Talkformate folgten, häufig unterschiedliche mediale Formate und Publika einbegreifend wie bei der Wiener Aktion Bitte liebt Österreich! (2000), in deren Rahmen die Öffentlichkeit aufgefordert war, Asylbewerber aus einem Container heraus zu wählen, vergleichbar dem Rauswählen der Kandidaten bei der zu dieser Zeit beliebten Reality-TV-Sendung Big Brother. 38 | Vgl. Umathum: „Ich geb’ Euch kein Leitbild!“, S. 74. 39 | So die Beschreibung bei Hegemann: Das Theater retten, S. 134.
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Schlingensiefs Dramaturg, Carl Hegemann, spricht den radikalen Grenzüberschreitungen dieses Regisseurs eine zentrale Scharnierstelle für die gegenwärtige Entwicklung des Theaters zu: Seiner Ansicht nach habe allein Schlingensief (und auf Augenhöhe mit ihm sonst nur der zum Zeitpunkt seiner Äußerung schon verstorbene Regisseur Einar Schleef) „das Theater weiterentwickelt und das spezifisch Theatrale auf eine Weise reanimiert, die von elektro- und zelluloidgeprägten Medienmaschinen nicht substituierbar ist. Die vierte Wand wackelt, stürzt ein und richtet sich wieder auf. Unterscheidungen werden dekonstruiert und rekonstruiert.“ 40 Bereits mit seiner ersten Produktion an der Volksbühne, 100 Jahre CDU. Spiel ohne Grenzen (1993), hatte Schlingensief seine Haltung zum Theater und zum Publikum in Form eines programmatischen Prologs formuliert: „Ich weiß, dass Ihr Theaterbild nicht zu verändern ist, und das soll es auch nicht, denn jeder hat sein eigenes Theaterbild, und das ist sehr schön. Aber wir können helfen! Helfen auch Sie mit!“ 41 Schlingensief fordert unsere Vorannahmen und Vorurteile über Theater heraus, indem er seine außergewöhnliche Darstellergruppe, bestehend aus Laien, Behinderten und Personen mit besonderen Fähigkeiten neben Film- und Fernsehstars in einem Ensemble präsentiert. Eine Überfülle an Material, Assoziationen und Zitaten trifft auf der Bühne aufeinander, vergleichbar dem Resultat eines wilden Zappens durch Fernsehkanäle. Schlingensief nimmt Bezug auf Politiker, Künstler und Personen des öffentlichen Lebens, auf Alltagskultur und Trash und produziert auf diese Weise Komik und Ironie, aber auch Ernsthaftigkeit und Peinlichkeit: „Zuweilen weiß man kaum, wo man lieber nicht hinsehen möchte.“ 42 Unverzichtbar sind spontane Live-Interaktionen auf der Bühne und zwischen Bühne und Publikum; das Inszenierte und Geprobte wird während der Aufführung von den Darstellern reflektiert und verändert, häufig auch in radikaler Weise. In vielen Fällen werden die Zuschauer direkt in die Performances eingebunden und die hergebrachten Grenzen bürgerlicher Theaterkonzeptionen übertreten. Als Schlingensief-Publikum werden die Zuschauer dazu angeregt, ihre eigenen Einstellungen zu der Aufführung in jedem einzelnen Moment erneut zu befragen. Sie sind 40 | Hegemann: Schle. und Schli., in: Plädoyer für eine unglückliche Liebe, S. 104f. 41 | Christoph Schlingensief, zit. nach: Umathum: „Ich geb’ Euch kein Leitbild!“, S. 71. 42 | Umathum: „Ich geb’ Euch kein Leitbild!“, S. 73.
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dabei auf sich selbst und ihre eigenen Erfahrungen zurückgeworfen. In dieser Hinsicht ist Schlingensiefs Arbeit eine Übung in der „Fähigkeit, unklare, unstrukturierte Situationen zu ertragen“,43 ein fortlaufendes Projekt, einen „erweiterten Theaterbegriff“ (eine Formulierung, die an Joseph Beuys’ „erweiterten Kunstbegriff“ erinnert) herzustellen. Letztlich geht es darum, das Leben in Theater zu verwandeln und umgekehrt, oder – in Schlingensief eigenen Worten – eine Situation zu schaffen, die „die Wirklichkeitsinszenierung uminszeniert“.44 Wenn in Schlingensiefs Arbeiten Dinge gesagt oder getan werden, die jenseits aller Grenzen von „political correctness“ sind, so ist dies keine schlichte Provokation, sondern die Befragung eben jener Mechanismen, Ideologien und Tabus, die gebrochen werden. Eines dieser Tabus – zumindest in Deutschland und in dessen Nachbarländern – liegt ohne Frage darin, Neonazis und Skinheads eine Bühne zu geben. Aber genau dies tat Schlingensief 2001 mit seinem Züricher Hamlet. An diesem Punkt bindet sich meine Argumentation an ihren Ausgangspunkt zurück: Der Frage nach der jüngeren deutschen Geschichte und den Verflechtungen mit dem NS-Thema, den Darstellungsfragen, Virtuosität und Politik. Während in Polleschs Dialogen die Unmöglichkeit, Nazis darzustellen, zur Diskussion steht und Castorf wiederum Schauspieler benutzt, um Nazis darzustellen, wobei diese alle ihnen zur Verfügung stehenden virtuosen Mittel einsetzen, um Illusion zu verunmöglichen, ist Schlingensiefs Ansatz ein signifikant anderer: Er engagiert keine Schauspieler, um Nazis darzustellen, sondern bringt Neonazis dazu, Schauspieler darzustellen. So wurden für die Besetzung der „Schauspieler“ in Shakespeares dramatis personae in der 2001 er Inszenierung aussteigewillige westdeutsche Neonazis ausgewählt, die bereit waren, ihre rechtsextremistische Einstellung aufzugeben. Jenseits der bloßen Inszenierung des Dramas waren öffentliche Interventionen Teil des Projekts: Schlingensief gründete zusammen mit Torsten Lemmer, einem der Neonazis, einen Verein für aussteigewillige Neonazis. Zudem intervenierte Schlingensief in die Schweizer Innenpolitik und startete einen Verbotsaufruf gegen die rechts-nationale Schweizerische Volkspartei (SVP), die gegen das Züricher Schauspielhaus hetzte 43 | Carl Hegemann, zit. nach: Umathum: „Ich geb’ Euch kein Leitbild!“, S. 76. 44 | Christoph Schlingensief, zit. nach: Schlingensief! Notruf für Deutschland. Über die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief, hg. von Julia Lochte und Wilfried Schulz, Hamburg 1998, S. 84.
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und versuchte, die Premiere zu verhindern. (Zu diesem Zeitpunkt war Christoph Marthaler Intendant des Schauspielhauses.) Schlingensiefs Hamlet-Produktion wirft Fragen bezüglich der Beziehungen von Theater und Politik auf, insbesondere zum Verhältnis des Theaters zum Nazi-Regime, nicht zuletzt, indem sie ästhetische Verfahrensweisen dieser Zeit reproduziert und thematisiert. Schlingensief inszeniert nicht Shakespeares Drama (wie auch immer dies ausgesehen haben könnte), sondern eigentlich Gustaf Gründgens’ Inszenierung von Shakespeares Drama und dessen Hamlet-Darstellung, seiner in Gründgens’ Augen bedeutendsten Rolle. Gründgens, einer der einflussreichsten Regisseure des deutschen Theaters im 20. Jahrhundert und bewunderter Schauspielvirtuose, war in den Jahren von 1934 bis 1945 Intendant des Preußischen Staatstheaters in Berlin; sein Schauspiel- und Regiekollege, der Emigrant Fritz Kortner, attestierte Gründgens einen „Reichskanzleistil“, auf dessen Verstrickungen mit der politischen Macht anspielend. Schlingensief benutzte für seine Version des Hamlet Tonaufnahmen aus Gründgens’ Hamlet-Inszenierung, ließ die aufgezeichneten Tonspuren manchmal durch Schauspieler stimmlich verdoppeln und manchmal als Playback für das stumme Agieren. Sebastian Rudolph, der die Rolle des Hamlet spielt, erscheint als Gründgens-Wiedergänger der Hamlet-Inszenierung von 1936. Er trägt ein Kostüm, das dem Original-Kostüm von Gründgens ähnelt, und übernimmt dessen typische Körperposen und seinen Bewegungsstil, imitiert aber auch die charakteristischen, virtuosen Marotten und Eigenarten, für die Gründgens seinerzeit berühmt war. Wie Jörg Wiesel gezeigt hat, war Schlingensiefs Entscheidung, seine Produktion am Züricher Schauspielhaus umzusetzen, gerade aus dem Grund von besonderer Schlagkraft, da dieses Theater in den Jahren zwischen 1933 und 1945 zur Spielstätte für all jene Emigranten aus NaziDeutschland avancierte, die versuchten, am Züricher Schauspielhaus einen Theaterstil des eher intimen Kammerspiels zu etablieren in Abgrenzung zum repräsentativen staatstragenden „Reichskanzleistil“.45 Zugleich verdeutlichen die Verweise auf Gründgens’ spätere Inszenierung 45 | Zu Schlingensiefs komplexer Auseinandersetzung mit Gründgens’ Hamlet vgl. Jörg Wiesel: „Reich Chancellery Style“ in Switzerland: Christoph Schlingensief’s Hamlet, in: Western European Stages, hg. von Marvin Carlson, Bd. 13/3, New York 2001, S. 43-44. Die Produktion selbst wurde inklusive aller Reaktionen in der Öffentlichkeit in einer Suhrkamp-Publikation dokumentiert: Christoph
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aus dem Jahr 1962 die frappierende und alarmierende Kontinuität der ästhetischen Muster, die das Staatstheater Gründgens’scher Prägung in den Jahren zwischen 1934 und 1945 bestimmten, zu jenen ästhetischen Strategien, mit denen der Regisseur aus seiner einflussreichen Position heraus die Nachkriegsästhetik der Bundesrepublik mitprägte. In einem so vielschichtigen Szenario mit absichtsvoll verunklarten Strukturen werden das Verhältnis von Theater, Politik, Repräsentation und der Diskurs um Virtuosität und Imperfektion auf Schwindel erregende Weise verschränkt: Man betrachte nur die öffentlichen politischen Aktionen wie die Agitationen des Regisseurs gegen die nationalistische Schweizerische Volkspartei und die öffentliche Begrüßung der Neonazis, als diese am Züricher Hauptbahnhof ankamen, und auf der anderen Seite das Einbinden der Neonazis in die Theaterinszenierung selbst; den Dialog zwischen den ‚nicht-perfekten‘ Laien und den ‚perfekten‘ Profi-Schauspielern; die unvermeidliche und gesuchte Imperfektion im Nachspielen der historischen Aufführung; die Zitationen, Repräsentationen und Reflektionen von bzw. über Gründgens; oder die Virtuosität, mit der der HamletDarsteller Sebastian Rudolph 2001 Gründgens’ Virtuosität nachahmt. Schließlich kommt die Aufführung an einen Punkt, an dem Schlingensief die Bühne an die Neonazis abzutreten scheint, die eine unerträglich dumme Hymne auf Deutschland aus ihrem Neonazi-Musikrepertoire singen. In dem Moment, als die Musik und die Texte des Skinhead-Rock die Bühne besetzen, gibt es kein diskursives oder inszenatorisches Gegengewicht mehr. Lässt sich eine derartige Situation im Theater ertragen? In diesem Moment wird die Aufführung unkontrollierbar. Einzelne Zuschauer revoltieren gegen das, was sie sehen und hören, und beginnen, die Neonazis auf der Bühne anzuschreien und auszubuhen, die ihrerseits zurückschreien, was in einem allgemeinen Tumult endet.
V I R T U O S I TÄT
UND DIE
POLITIK
DER
R E P R Ä S E N TAT I O N
Der italienische Philosoph und ehemalige politische Aktivist Paolo Virno schreibt Virtuosität – in seiner Auseinandersetzung mit philosophischen Positionen – zwei Hauptmerkmale zu: Sie sei eine Aktivität ohne ein Schlingensiefs Nazis Rein/Torsten Lemmer in Nazis raus, hg. von Thekla Heineke und Sandra Umathum, Frankfurt a.M. 2002.
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dauerhaftes Produkt, und sie bedürfe der Gegenwart anderer. 46 Diese Formulierung ließe sich leicht auch auf das Theater beziehen, aber Virno verwendet sie in Bezug auf die Dienstleistungs-Ökonomie postfordistischer Produktions-Mechanismen: als Aktivität, die ihren Zweck in sich selbst findet und die auf Zusammenarbeit angewiesen ist – ein neuer Prototyp von Lohnarbeit. Virtuosität in diesem Sinne ist nach Virnos Diagnose eine Anforderung an professionelle Kommunikationsprozesse und die diesen zugrunde liegende linguistische Kompetenz. Doch was impliziert eine solche Engführung des Ästhetischen, des Politischen und des Ökonomischen für das Theater im Zeitalter postfordistischer oder dienstleistungsbasierter Ökonomien? Anders gesagt: Inwiefern ließe sich eine Aufführung – eine Aktivität ohne ein dauerhaftes Produkt – von anderen Formen der ‚Dienstleistung‘ oder der nichtmateriellen Produktion unterscheiden? Wenn wir also im Zeichen der Dienstleistungsökonomie konstant unter dem Druck stehen, „intelligente“ Kommunikation zu betreiben und kreativ zu sein, was steht dann für das Theater auf dem Spiel? Ehedem eine einzigartige Leistung eines singulär begabten Subjekts bezeichnend, wird Virtuosität nun zum ökonomischen Faktor. Als nichtmaterielle Produktion ist intellektuelle Arbeit virtuoser Steigerung zugänglich und auf sie angewiesen, doch erhält eine solche kommunikative Virtuosität in ihrer auf ökonomische Verwendbarkeit fokussierten Dimension eine dienend-abhängige Qualität. Virno fragt, inwiefern virtuose Fertigkeiten auf nicht dienende („nonservile“) Weise entfaltet werden können und ob der „general intellect“ nicht von der Indienstnahme durch Lohnarbeit befreit und (wieder) als Momentum politischer Aktion handlungsfähig gemacht werden könnte. Vermutlich würde René Pollesch (ähnlich wie die anderen hier diskutierten Regisseure) für sich nicht ein Selbstverständnis des Künstlers als Aktivist reklamieren, gleichzeitig fordert er aber explizit und aktiv politische Verantwortung ein. Auch wenn sich die Volksbühne als diejenige Institution, an der die Mehrzahl der hier vorgestellten Arbeiten beheimatet ist, für soziale Projekte wie Theaterprojekte für unterprivilegierte 46 | Vgl. Paolo Virno: Virtuosity and Revolution. The Political Theory of Exodus, in: Radical Thought in Italy. A Potential Politics, hg. von dems. und Michael Hardt, Minneapolis/London 1996, S. 189-210; Paolo Virno: A Grammar of the Multitude. For an Analysis of Contemporary Forms of Life, Cambridge/London 2004, S. 47-71.
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Jugendliche oder mobile Theaterbusse, die in die Außenbezirke Berlins fahren, engagiert, ist es eine ästhetische Entscheidung der Künstler, im Rahmen einer professionellen Theaterinstitution, mit professionellen Schauspielern, in einem stabilen und etablierten Theater zu arbeiten. Nähme man alles, was man bei den diskutierten Aufführungen zu hören bekommt, ernst, könnte es unerträglich werden, doch ist der Referenzrahmen ja eben nicht ein naturalistisches Darstellungsparadigma. Es ist virtuoses Theater, unterhaltsam und explosiv, zugleich ernst und ironisch, komisch und politisch. Gesellschaftskritik in einem bürgerlichen Theaterformat ist Regisseuren wie Pollesch zuwider, der dazu bemerkt: „Das Problem ist, dass politisches Theater noch immer als Repräsentationstheater gemacht wird, in dem Kritik einfach nur eine Verabredung ist, in dessen Produktionsprozess sich aber keiner kritisch verhält.“ 47 Dementsprechend tritt er an, die aktuellen kulturellen Marktmechanismen unter den Bedingungen des Neoliberalismus zu reflektieren und insbesondere die Rolle des Künstlers als prototypischen Selbstverwirklichungs-Arbeiter in diesem neuen Arbeitsmodell zu problematisieren. Pollesch meint dazu: „Wir sind bereit, vollkommene Selbstausbeutung zu betreiben, und die wird mit Erfüllung markiert ... Außerdem verkaufen wir im Theater unsere Subjektivität als Ware. Da ist die Frage: Wo liegen die Widerstandspraktiken?“ 48 Wie Patrick Primavesi formuliert, sieht sich Pollesch nicht in der Tradition des politischen Theaters (in der Tradition Brechts z.B.), aber er will das Theater politisch machen, was bedeutet, Theater auf politische Weise zu machen.49 In jeder dieser Aufführungen lässt sich eine Vervielfachung virtuoser Dimensionen beobachten, die auf ihre Art eine Kritik der Virtuosität selbst darstellen: Überbietung und Imperfektion, das Reden über und der Vollzug zugleich. Polleschs ästhetisches Programm beinhaltet die Virtuosität der (geschriebenen und gesprochenen) Sprache ebenso wie die performative Virtuosität der nichtmateriellen Produktion (Schauspielen als 47 | „Wir sind ja oft so glücklich, wenn wir überhaupt Reaktionen bekommen“. Ein Gespräch zwischen René Pollesch und Theaterformen 2004/REpublicACTION, in: Zeltsaga. René Polleschs Theater 2003/2004, hg. von Lenore Blievernicht, Berlin 2004, S. 180. 48 | Pollesch, zit. nach: Patrick Primavesi: Beute-Stadt, nach Brecht. Heterotopien des Theaters bei René Pollesch, in: Brecht-Jahrbuch 29 (2004), S. 372f. 49 | Vgl. Primavesi: Beute-Stadt.
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Form der nichtmateriellen Arbeit) bis hin zu Themen der Aufführungen, die eben diese nichtmaterielle oder dienende Arbeit verhandeln, von der Prostituierten bis zur Büroangestellten. Indem Stil und Praxis in einem sehr umfassenden Sinn zusammenfallen, vollziehen und repräsentieren die Aufführungen die Virtuosität der nichtmateriellen Produktion als eine Kritik der gegenwärtigen Konzeption von Lohn-Arbeit. Wenn Virtuosität, wie Virno hervorhebt, die Gegenwart anderer erfordert, die sie als solche wahrnehmen, welche Art von Gemeinschaft wird dann durch virtuoses Theater konstituiert? Polleschs Vorliebe für tagesaktuelle Referenzen und seine stilistische Beharrlichkeit wurden viel kritisiert, ebenso wie die Tatsache, dass sein Publikum zu einem überwiegenden Teil aus Insidern (Schauspieler- und Künstler-Kollegen, Journalisten und Theaterwissenschaftlern) zu bestehen scheint. Auch wenn dies sicherlich in mancherlei Hinsicht zutreffen mag, erschöpft sich Polleschs Theater jedoch nicht im „preaching to the converted“, sondern stellt die Frage nach alternativen kommunikativen Räumen und nach der sozialen und politischen Verantwortung. Indem die Bedingungen unserer Lebens- und Arbeitswirklichkeit ausgestellt und in den Aufführungen neu kontextualisiert werden, stellen diese Aufführungen einen Raum her, in dem kommunikative Fähigkeiten neu ausagiert werden können. Sie vermögen eine Ahnung davon zu vermitteln, wie wir uns nicht-dienende Virtuosität und eine neue Form politischen Handelns vorstellen könnten. Das Problem bleibt: Es ist immer noch Theater, was Pollesch macht, keine politische Aktion, wie sie beispielsweise Schlingensief mit Chance 2000 realisierte, um das politische System herauszufordern. Worin liegt das subversive Potential? In der Virtuosität der an Theatern arbeitenden Künstler wird eine besondere Allianz von Subversion und Subvention evident. Ein gewisser Grad an Professionalität garantiert, dass dieses Theater als ein verlässlicher Raum dienen kann, in dem klar definiert ist, wer Theater spielt und wer nicht, in dem also nicht jeder Theater spielt – ein beruhigendes Gefühl angesichts der allgemeinen Theatralisierung des alltäglichen Lebens. Andererseits beschränken die Grenzen der Institution den Möglichkeitsraum, Virnos Forderung zu folgen und Handlungsweisen zu entwickeln, die das revolutionäre Potential einer solchen neuen Virtuosität realisieren.
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S AT I R I S C H E S P O S T S C R I P T U M Deutschland, Februar 2006: ein Theaterskandal erschüttert das Land – Gerhard Stadelmaier, der als konservativ bekannte Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wurde während der Premiere von Ionescos Jeux de massacre am Schauspiel Frankfurt von einem der Schauspieler angegriffen. Die Inszenierung stammte von Sebastian Hartmann, einem Regisseur, der auch des Öfteren an der Volksbühne Berlin tätig war. Der besagte Schauspieler, Thomas Lawinky, unterbrach die Aufführung und wandte sich direkt an den Kritiker, warf ihm einen Schwan (ein Requisit) auf seinen Schoß, riss Stadelmaier den Notizblock aus der Hand und attackierte ihn verbal. Nachdem der Kritiker den Zuschauerraum unter Protest verlassen hatte, forderte die Frankfurter Oberbürgermeisterin die Intendantin des Schauspiel Frankfurt auf, den Schauspieler zu entlassen. Der Kritiker gab zu Protokoll, verletzt und erniedrigt worden zu sein, und als berüchtigter Hüter eines Theaters der vierten Wand deklarierte er das Aus-der-Rolle-Fallen des Schauspielers als justiziablen Bruch des Theaterkontrakts. Der Weg scheint noch weit, aber vielleicht könnte das Üben von Virtuosität ja ein erster Schritt in die richtige Richtung sein.
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Ich habe Thomas Bernhard immer zu schnell gelesen. – „Quand on lit trop vite ou trop doucement on n’entend rien“, schrieb Pascal.1 Gemessen am Lesetempo einer verstehenden, den Signifikationsprozessen des Textes entlang geführten Lektüre (doch wie schnell wäre diese genau?) habe ich mich verführen lassen von der Auftürmung von Wort- und Satzkaskaden, nicht versucht, alles nachzubuchstabieren, sondern die Lektüreerfahrung eines Geschwindigkeitsrausches genossen. Die Bewegung meiner Lektüre durch den Text zielt ganz auf den Effekt der Beschleunigung, einer virtuosen Steigerung, der ich mich ausliefere, die ich mir aneigne, und transformiert mein Lesen in eine Bewegungserfahrung des Gleitens auf den Textmassen des Buches. Aber lesen Sie selbst, und seien Sie nicht zu langsam: Der Denkende faßt ja auch sein Denken als ein Gehen auf, sagt Oehler. Er sagt mein oder sein oder dieser Gedankengang. Es ist also vollkommen richtig zu sagen, gehen wir in diesen Gedanken hinein, wie wenn wir sagten, gehen wir in dieses unheimliche Haus hinein. Weil wir es sagen, sagt Oehler, weil wir diese Vorstellung haben, weil wir, so hätte Karrer gesagt, diese sogenannte Vorstellung von einem solchen Gedankengang haben. Gehen wir (in Gedanken) weiter, sagen wir, wenn wir einen Gedanken weiterentwickeln wollen, wenn wir vorwärts kommen wollen in einem Gedanken. Dieser Gedanke geht zu weit und so fort, wird gesagt. Wenn wir glauben, rascher gehen zu müssen (oder langsamer), denken wir, rascher denken 1 | Blaise Pascal: Pensées, in: ders.: Œuvres Complètes, Paris 1963, S. 504. Dies figuriert als Paul de Mans Motto für die „Allegorien des Lesens“. Siehe Paul de Man: Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 30.
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zu müssen, obwohl wir wissen, daß Denken keine Frage der Geschwindigkeit ist, es handelt sich zwar, wie wenn es sich um Gehen handelte, um etwas, das Gehen ist, aber mit Geschwindigkeit hat Denken nichts zu tun, sagt Oehler. Zwischen Gehen und Denken besteht der Unterschied, daß Denken nichts mit Geschwindigkeit zu tun hat, Gehen aber tatsächlich immer mit Geschwindigkeit. Zu sagen also, gehen wir rasch zum Obenaus hinein oder gehen wir rasch auf die Friedensbrücke, ist vollkommen richtig, aber zu sagen, denken wir rascher, denken wir rasch, ist falsch, es ist Unsinn, und so fort, so Oehler. Wenn wir gehen, sagt Oehler, handelt es sich um sogenannte Gebrauchsbegriffe (so Karrer), wenn wir denken, handelt es sich ganz einfach um Begriffe. Wir können aber ohne weiteres, sagt Oehler, Denken zu Gehen machen, umgekehrt Gehen zu Denken, ohne daß wir davon abgehen, daß Denken nichts mit Geschwindigkeit zu tun hat, Gehen alles. Wir können auch immer wieder sagen, sagt Oehler, jetzt sind wir den und den Weg, gleich welchen Weg, zuende gegangen, während wir niemals sagen können, jetzt haben wir diesen Gedanken zuende gedacht, das gibt es nicht und es hängt damit zusammen, daß zwar Gehen aber nicht Denken mit Geschwindigkeit zu tun hat, Denken überhaupt nicht, Gehen ganz einfach Geschwindigkeit ist.2
Auf der Ebene der Bedeutungen rekonstruierenden Lektüre entwirft Thomas Bernhards Gehen ein Übertragungsszenario von äußerer Bewegung auf die Bewegung des Denkens, das jedoch in erster Linie ein Szenario der Lektüre produziert, das wiederum Bewegung (das Gehen) als Attribut des Lesens vorstellt. ‚Gehen‘ erweist sich in diesem Text als Steigerungsform von (Fort-)Bewegung.3 Gehen habe etwas mit Geschwindigkeit zu tun, sei eine (schnelle) Bewegung, Denken hingegen nicht – und Lesen? Bernhards Permutationen über Gehen und Denken, vermittelt über Geschwindigkeit, möchte ich gern weiterdrehen in die Frage nach den Beziehungen von Bewegen und Lesen, vermittelt wiederum über das Problem der Geschwindigkeit. Dass Gehen in diesem Prosatext mit Permutationen gekoppelt wird, mit einer unendlichen Variation von Wörtern und syntaktischen Konstruktionen, verweist auf das Verhältnis von Bewegung und Prosa, auf das Friedrich Kittler aufmerksam gemacht hat: „Prosa heißt Bewegungen anschreiben oder, allgemeiner, speichern, deren Zukunft vorhersagbarerweise unvorhersagbar ist, die Wahrscheinlichkeit 2 | Thomas Bernhard: Gehen, Frankfurt a.M. 1971, S. 90f. 3 | Vgl. hierzu auch Gabriele Brandstetter: Stück mit Flügel. Über gehen schreiben, in: Eva Horn, Bettine Menke, Christoph Menke (Hg.): Literatur als Philosophie –
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von Kreisläufen also auf das statistische Minimum reduziert.“ 4 Hingegen kennzeichne Poesie gerade das Verfahren der rhythmischen Wiederkehr. Bernhards Gehen zeigt Bewegung in einem expliziten Verhältnis von nichtfinaler, unabschließbarer äußerer Bewegung (Gehen) und text- wie lektüreimmanenter Dynamik (stilistische Permutationen über Gehen als Lektüreangebot). Inwiefern die Lektüreerfahrung eine ist, die sich verstehen lässt als „bewegen, in Bewegung setzen“, „einwirken, Eindruck machen, beeinflussen“, „eine Einwirkung erleiden“, „erregen“, möchte ich zum einen versuchen, im Kontext des movere-Diskurses zu diskutieren, dem alle diese Wirkungsverben entlehnt sind.5 Zum anderen wird es mir darum gehen, auch innerhalb – oder jenseits – von movere Lesen als eine spezifische Form gesteigerter und insofern virtuoser Wahrnehmung zu bestimmen.
BEWEGENDE LEK TÜREN – LEK TÜREN
IN
BEWEGUNG
Movere als Konzept der Rhetorik lässt sich als jene Wirkung von Rede bestimmen, die durch Affizierung und Überwältigung in einer Wechselwirkung von Strategie/Inszenierung und unbeabsichtigter Wirkung funktioniert und die sich historisch unterschiedlich definierter Mittel bedient, also etwa im Falle von literarischen Texten bestimmter Textstrategien und Lesepraktiken. Gleichwohl – um dem vorangestellten Lektürematerial Rechnung tragen zu können und in Abgrenzung vom rhetorischen Verständnis – möchte ich movere nicht als Wirkung im Sinne der Überzeugung von einer Meinung/einem Urteil verstehen und damit nicht als Mittel der Evozierung von Sinn durch Affizierung, sondern zugleich konkret und metaphorisch als ein Bewegen/Bewegt-Werden ohne Ziel: Bewegt-Werden um des Erregungszustands willen. Dies sei jedoch keineswegs als ‚Erfindung‘ und Signum der Prosa des 20. Jahrhunderts behauptet, sondern ist vorbereitet etwa in Klopstocks „Poetik der motio“ Philosophie als Literatur, München 2006, S. 319-330. 4 | Friedrich Kittler: Von der Poesie zur Prosa. Bewegungswissenschaften im 19. Jahrhundert, in: Gabriele Brandstetter, Hortensia Völckers (Hg.): ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung, Ostfildern-Ruit 2000, S. 260-270, hier S. 264. 5 | Art. „moveo“, in: Josef M. Stowasser: Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, München 1980, S. 288f.
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(Menninghaus) 6, die Bewegung vom Ziel der „persuasio“ entkoppelt, um dem „Durst nach Bewegung“ gegen das Verharren in Langeweile durch Rhythmus und Beschleunigung Rechnung tragen zu können. In den Übertragungsprozessen des movere gehen motio und emotio Allianzen ein, die als Produktion und Emergenz affektiver Zustände in der Übertragungsbewegung von äußerer Bewegung zu innerer Bewegtheit und wiederum äußerer Bewegung gefasst wurden. Wenn hier Bewegt-Werden um des Erregungszustands willen beschrieben werden soll, gilt es, dem Motorischen und Körpergebundenen der Bewegung eine größere Aufmerksamkeit zu schenken, als dies in den Affekttheorien der Bewegung, die sich traditionell movere-Prozessen zumal in der Rezeption von Literatur widmen, üblicherweise geschieht. Dabei lässt sich anknüpfen an die Überlegungen zu „jener anderen Seite von Bewegung, die movere als körperlich gezeichnete Spur in Raum und Zeit auslegt“ 7, die Gabriele Brandstetter und Christina Thurner anhand der Übertragungsprozesse im Tanz des 18. Jahrhunderts vorgestellt haben. 8 Dass sich movere selbst im ursprünglichen Begründungszusammenhang der Rhetorik auch als explizit körperliche Bewegung denken lässt, die nicht auf die Spiegelung innerer Bewegtheit beschränkt bleibt, zeigen im Übrigen schon Quintilians Bemerkungen über den Witz: Hier wird die Reaktion des Lachens als Bewegung des Körpers beschrieben, die mehr als eine affektive ist. Lachen überfällt den Menschen bei Quintilian als Zwangswirkung, als „unwiderstehlichste Gewalt“. Mit Fokus auf das Motorische und Körperliche von Bewegung stellt sich die Frage, wie die Lektürebewegung als Prozess von Übertragungen zwischen Bewegen und Bewegt-Werden und das In-Bewegung-Versetzen als Erfahrung von Beschleunigung und Lust an dieser Beschleunigung 6 | Winfried Menninghaus: Dichtung als Tanz – Zu Klopstocks Poetik der Wortbewegung, in: Comparatio 2 (1991), S. 129-150, hier S. 132. 7 | Gabriele Brandstetter: Schillers Spielbein: Bewegung und Tanz. Zu einer Ästhetik im Zeichen von movere, in: Felix Ensslin (Hg.): Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute, Berlin 2006, S. 165-181, hier S. 165. 8 | Vgl. Christina Thurner: „Ein Blitz, der aus dem Herzen fährt“. Zur Wirkungsgeschichte des Tanzdiskurses im 18. Jahrhundert, in: Margrit Bischof, Claudia Feest, Claudia Rosiny (Hg.): e_motion (= Jahrbuch Tanzforschung 16), Hamburg 2006, S. 123-138.
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zu konzeptualisieren wäre.9 In Anlehnung an einen Handlungsbegriff, wie ihn de Certeau entwickelt, wird es möglich, den Akt der Lektüre seinerseits als einen produktiven Akt und eine Bewegung im Text/des Textes zu verstehen: „Das Lesen: eine verkannte Tätigkeit“ 10 jenseits der Zuschreibung von Passivität, die Bewegung des Lesens im Sinne einer Prozessualität. Damit kann die Praxis des Lesens in den Blick rücken als eine Kunst des Lesens, die sich als Prozess virtuoser Aneignung vollzieht: Über einzelne Texte/Bücher hinweg entwickelt der Lesende sich zum virtuosen Leser, d.h. seine Lektüre bekommt eine eigene Dynamik, bringt eigene Kriterien hervor. De Certeau entwirft das Konzept einer Lektüre, die durch „Angriffe und Rückzüge, durch Taktiken und Spiele mit dem Text“ gekennzeichnet ist: „Sie kommt und geht, wird ab und zu aufgesogen […], ist verspielt, aufsässig und flüchtig.“ 11 Die Bewegungen der Lektüre setzen auch körperlichen Mitvollzug frei: Man müßte die Bewegungen der Lektüre auch am Körper selber wieder finden, der scheinbar gelehrig und schweigsam ist und sie auf seine Weise nachahmt: in der Abgeschiedenheit aller möglichen Lese-‚Kabinette‘ (vom Studierzimmer bis zum Klo) werden unbewußte Gebärden freigesetzt: Gemurmel, Zuckungen, Herumgekrame oder Drehungen, ungewöhnliche Laute, sozusagen eine wilde Orchestrierung des Körpers.12
Allerdings, das räumt de Certeau gleichfalls ein, sei diese Körperlichkeit des Lesens historisch in den letzten drei Jahrhunderten zunehmend auf Bewegungen des Auges beschränkt worden. Dass die Dynamiken der Übertragung den Körper mittelbar oder unmittelbar betreffen, zeigen die Debatten über movere zu allen Zeiten. Eine aufschlussreiche Konstellation von Bewegungskonzepten entwickeln allerdings jene Reformbewegungen im Tanz des 18. Jahrhunderts, für die insbesondere Noverre einsteht. In seinen Briefen über die Tanzkunst 9 | Ein völlig andersgeartetes Verständnis von Textrezeption als Bewegung vertritt das von Paul Zumthor eingeführte und von Thomas Cramer ausgearbeitete Konzept der mouvance, des offenen, nichtfesten Textes, wie er sich in der Strophendichtung des Hochmittelalters darstellt. Vgl. z. B. Thomas Cramer: Mouvance, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 116 (1997), S. 150-181. 10 | Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 297. 11 | Ebd., S. 309. 12 | Ebd.
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identifiziert er zwei augenscheinlich konträre Bewegungsweisen, die ebenso durch einen spezifischen Stil gekennzeichnet sind wie eine spezielle Wirkung hervorbringen. Vermag eine Art des Tanzens, die sich über Charakter, Ausdruck und Empfindung bestimmt, Rührung, innere Bewegtheit und Tränen beim Publikum zu evozieren, so ist sie damit in der Argumentation des Ballettreformers derjenigen Bewegungsweise überlegen, die durch technisches Vermögen und virtuose Perfektion ebenso wie durch die reizende Ausführung bei den Zuschauern nicht mehr als Bewunderung hervorruft.13 Die movere-Dynamik im tradierten Sinn wird damit einer neuen Ästhetik der Wirkung durch Übertragung entgegengesetzt. In der Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die auch die Anfänge der Virtuosenkultur hervorbringt, scheinen die Fronten klar. Die Diskurse über movere und Virtuosität lassen sie wie zwei Seiten einer Medaille erscheinen: einerseits Rührung und Identifikation, andererseits Bewunderung, Staunen, Begeisterung, Verzauberung, Euphorie erregend; der inneren Bewegung steht Atemlosigkeit, körperliche Affizierung gegenüber; Ausdruck und Tränen stehen gegen kalte Technik. Ließe sich aber nicht auch jene „reizende“ Bewegung des Virtuosen für ein spezifisches In-Bewegung-Setzen des Betrachters in Anschlag bringen, wie es für die atemlosen Zuschauer und -hörer der Instrumental- und Tanzvirtuosen des 19. Jahrhunderts überliefert ist? Die Frage, ob Virtuosität das ganz Andere des movere ist oder wie sich das Verhältnis denken ließe, ist sowohl historisch als auch methodisch von Interesse. Inwiefern ist das Ausschlussverhältnis – technische Virtuosität ruft kalte Bewunderung hervor, während der Affektausdruck emotionale Identifikation und Rührung ermöglicht – symptomatisch für eine Zeit widerstreitender Ästhetiken, aber auch für eine neue Konjunktur des Virtuosen seit dem frühen 19. Jahrhundert? Wie wird die diskursive Dominantsetzung einer Wirkungsästhetik, die auf emotionale Identifikation (Einfühlungsästhetik) abzielt, infrage gestellt durch eine Wirkungsästhetik, die Staunen über technische Perfektion ins Zentrum rückt; und dies im Spannungsfeld der interagierenden Werk- und Genieästhetiken, der Ästhetik des Natürlichen und gleichzeitig der Effekte von ökonomischer
13 | Jean Georges Noverre: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette. Hamburg/Bremen 1769, Faks. hg. von Kurt Petermann, Leipzig 1977.
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Spezialisierung, Leistungssteigerung und effektiveren Organisation von Arbeit, die das Konzept von Virtuosität im 19. Jahrhundert maßgeblich prägen? 14 Für meine Arbeit an zeitgenössischen Texten sei hier ein methodischer Vermittlungsversuch vorgeschlagen, ein Konzept von movere zu denken, ohne die Wirkungsdimension notwendigerweise ausschließlich oder vornehmlich als ‚innerlich‘-emotionale beschreiben zu müssen. In diesem Versuch, Virtuosität des Lesens als Bewegung, Bewegt-Werden, In-Bewegung-Versetzen, körperliches Affiziert-Werden (und damit als Wahrnehmungsstil) zu konzeptualisieren, soll deutlich werden, inwiefern der Begriff movere eine Vorstellung von Dynamik liefert, die den Effekten des Staunens eben jenes Bewegungsmoment hinzufügt, das in den historischen Diskursen des Virtuosen sonst fehlt.
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Im Anschluss an die These, dass die „Szene des Virtuosen“ als „Muster von Theatralität“ sich erst durch die „Geschichte ihrer Bezeugung“ in Texten als Figur der Evidenz konstituiert,15 erscheint es notwendig, Virtuosität nicht nur als Charakteristikum der Aufführung eines charismatischen Darstellers, sondern dezidiert im Sinne eines spezifischen Verhältnisses von Textualität und Performativität zu verstehen. Dass Virtuosität als exzessive Steigerung einer Tätigkeit sich auf jede Handlung, jedes „vollendete technische können“ 16 beziehen lässt, also auch auf Sprache und Literatur, belegt der Eintrag im Grimm’schen Wörterbuch, der es erlaubt, als Virtuosen „jemanden zu bezeichnen, der auf irgend einem gebiete das können bis zur denkbaren vollendung gebracht 14 | Zur Ästhetik des Virtuosen vgl. Gabriele Brandstetter: Die Szene des Virtuosen. Zu einem Topos von Theatralität, in: Gerhard Neumann u. a. (Hg.): Hofmannsthal Jahrbuch zur Europäischen Moderne, Freiburg i. Br. 2002, S. 213-243 (Wiederab druck in diesem Band, S. 23-56), und Bettina Brandl-Risi: Virtuosität, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 381-385. 15 | Brandstetter: Die Szene des Virtuosen, S. 215. 16 | Jacob und Wilhelm Grimm: virtuosität, in: dies.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 26, Leipzig 1951, Reprint 1991, Sp. 374.
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hat, können in körperlichem wie geistigem sinne genommen“. Mit Benennung des „instrumentes, das der virtuose beherrscht“, sei dieser ein Meister „in der sprache oder vielmehr auf der sprache, wie ein virtuose auf einem instrumente“ (Heine über Platen); daher könne man nicht nur „virtuose des gesanges“ sagen, sondern „virtuose der farbe, des sprechens, des stils, des reims“.17 Bereits in der griechischen Rhetorik war Virtuosität als Vermögen des Redners präsent, als Kunst der Überzeugung und des Charmes.18 Zudem teilen Virtuosität, wie sie in den performativen Künsten erscheint, und Rhetorik den starken Bezug auf die „actio“, die Performativität des Vortrags.19 Die Wirkung über die Körperlichkeit des Performers, die sich auf den Körper des Zuhörers oder Zuschauers überträgt, bestimmt Virtuosität – ebenso wie movere – als relationales Konzept: Entsprechend der Beobachtung von Judith Hamera, dass der tanzende Performer der wahrnehmenden Kritikerin begegnet und erst in dieser Wechselseitigkeit sich Virtuosität ereignet,20 lässt sich festhalten, dass das Virtuose mich affiziert, und zwar auch dann, wenn statt körperlicher Präsenz ein Text Virtuosität erzeugt. Dabei sei vorausgeschickt, dass das hier entwickelte Verständnis von Virtuosität des Textes eine große Affinität, um nicht zu sagen notwendige Verbindung mit dem Modus des Erzählens hat und weniger mit der Vorstellung einer lyrischen Selbstreflexivität. Es steht also nicht in erster Linie jene performative Dimension des literarischen Textes als „Kunst der Sprache“ (Jakobson) in Rede, also dasjenige, was man am ehesten in der Lyrik zu finden erwarten dürfte, wo sich die Sprache am nachhaltigsten auf sich selbst bezieht. Vielmehr geht es um eine performative Dimension im Sinne von etwas, was mit der Sprache passiert – sodass man ihr am ehesten dort auf die Spur kommt, wo die literarische Sprache wie beim Erzählen noch im Dienst einer Praxis steht oder zumindest eine starke Verbindung zu bestimmten kulturellen Praktiken hat. Virtuosität ginge 17 | Jacob und Wilhelm Grimm: virtuose, virtuos, in: dies.: Deutsches Wörterbuch, Sp. 372-374, hier Sp. 373. 18 | Zum Virtuosen als „Techniker des Erfolgs“ vgl. Vladimir Jankélévitch: Liszt et la Rhapsodie, Bd. 1: Essai sur la virtuosité (= De la musique au silence, Bd. V/1), Paris 1979, S. 48. 19 | Vgl. Brandstetter: Die Szene des Virtuosen, S. 220-223. 20 | Judith Hamera: The Romance of Monsters. Theorizing the Virtuoso Body, in: Theatre Topics 10 (2000), S. 144-153.
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also weniger auf eine innere Differenzierung des Textes zurück, vielmehr ist sie der Effekt einer radikalen Veräußerlichung jener Bezüge, die ‚den Text‘ als Gewebe von Bedeutungen charakterisieren. In der Virtuosität des Textes und des virtuosen Lesens desselben wird die Sprache also mitsamt ihren Selbstbezügen der Bewegung des Weiterlesens unterworfen; daher gibt es eine besondere Beziehung zum Erzählen. Lässt sich Virtuosität denn erzählen? Die Darstellbarkeit des NichtGreifbaren, des singulären Ereignisses virtuoser Zurschaustellung steht hier auf dem Spiel. Darstellung von Virtuosität als Reflex auf die Performanz, die Erzeugung von Evidenz durch bestimmte Strategien des literarischen Textes geraten in den Blick, sobald ein Text von Virtuosität handelt.21 Thomas Bernhards Untergeher, der Roman über Glenn Gould und die verhinderten Klaviervirtuosen, bedient sich eines Tricks. Es ist ein Text über Virtuosität, der virtuos erzählt, aber nicht Virtuosität erzählt: Evident ist, dass im ganzen Roman die spieltechnische Virtuosität des Klavierspiels Leerstelle bleibt, nichts als Behauptung in superlativischen Formulierungen – die technische Virtuosität verlagert sich ganz auf die Verfügung über sprachliches Material, die ihre eigene Virtuosität erzeugt: […] allerdings war ich in Sintra im Laufe dieser zugegeben herrlichen Untätigkeit in der frischen Luft und, wie ich sagen muß, einer der schönsten Gegenden der Welt, auf die Idee gekommen, über Glenn etwas zu schreiben, etwas, ich konnte nicht wissen, was, etwas über ihn und seine Kunst. Mit diesem Gedanken ging ich in Sintra und Umgebung hin und her und verbrachte schließlich ein ganzes Jahr dort, ohne mit diesem etwas über Glenn anzufangen. Eine Schrift anfangen ist das Allerschwierigste und ich bin immer monate- oder sogar jahrelang nur mit dem Gedanken an eine solche Schrift umhergelaufen, ohne sie anfangen zu können, so auch Glenn betreffend, der, wie ich damals dachte, beschrieben werden muß, beschrieben allerdings von einem kompetenten Zeugen seiner Existenz wie seines Klavierspiels, einem kompetenten Zeugen seines ganz und gar außerordentlichen Kopfes. Eines Tages getraute ich mich, die Schrift anzufangen, im Inglaterra, wo ich nur zwei Tage hatte bleiben wollen, in welchem ich aber dann sechs Wochen, ohne mit der Schrift über Glenn aufzuhören, geblieben war. Am Ende hatte ich aber doch nur Skizzen in der Tasche, als ich nach Madrid übersiedelte, und diese 21 | Musikererzählungen, historisch enggeführt mit der Entstehungszeit des modernen Virtuosen, wie etwa E.T.A. Hoffmanns Die Fermate oder Balzacs Sarrasine könnte man dahingehend lesen.
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Skizzen vernichtete ich, weil sie mich auf einmal in meiner Schrift behinderten, anstatt mir nützlich zu sein, ich hatte zu viele Skizzen gemacht, dieses Übel hat mir schon viele Arbeiten verdorben; wir müssen Skizzen zu einer Arbeit machen, aber wenn wir zuviel Skizzen machen, verderben wir alles, dachte ich, so auch damals im Inglaterra, pausenlos saß ich in meinem Zimmer und machte Skizzen solange, bis ich glaubte, verrückt zu sein und erkannte, daß diese Glennskizzen die Ursache meiner Verrücktheit sind und ich hatte die Kraft, diese Glennskizzen zu vernichten. Ich steckte sie ganz einfach in den Papierkorb und beobachtete, wie das Zimmermädchen den Papierkorb packte und aus dem Zimmer hinaustrug und im Müll verschwinden ließ. Das war mir ein angenehmer Anblick, dachte ich, zu sehen, wie das Zimmermädchen meine Glennskizzen, nicht nur Hunderte, sondern Tausende, packte und verschwinden ließ. Ich bin erleichtert, dachte ich.22
Thomas Bernhards Prosa in ihrer Virtuosität der Wiederholung und Variation wird häufig unter dem Beschreibungskriterium der „Rhetorik“ und „Musikalität“ begriffen23. Negativ als „Koloratur-Sprechen“ 24 abqualifiziert, liegt im ‚Sound‘ der Texte aber gerade ihre Strategie der Evidentialisierung und Intensivierung.25 Die Lust an meisterhafter Beherrschung von Technik, am exzessiven Ausspielen von Wiederholung und Variation, und damit: die Überformalisierung von Text als virtuoses Spiel erzeugt Staunen: In der spezifischen Gestaltung des Textes (der endlosen Wiederholung und Reformulierung) erzeugen Thomas Bernhards Texte Evidenz – nicht Evidenz von etwas, sondern das Gefühl „das ist es! Oder mehr noch: das ist es für mich!“ 26 Der ‚Klavierradikalismus‘ in Bernhards Untergeher transformiert sich in einen Radikalismus der sprachlichen Mittel; Bern22 | Thomas Bernhard: Der Untergeher, Frankfurt a.M. 1988, S. 106f. Auf zwei weiteren Seiten werden die Themen Anfangen und Vernichten fortgeführt. 23 | So etwa bei Franz Eyckeler: Reflexionspoesie. Sprachskepsis, Rhetorik und Poetik in der Prosa Thomas Bernhards, Berlin 1995, S. 72-112. 24 | Hugo Dittberner: Der Dichter wird Kolorist. Thomas Bernhards Epochensprung, in: Text und Kritik 43 (1991), S. 18. 25 | Vielleicht ist eine Entsprechung zum historischen (starken) Konzept des Virtuosen in der DJ-Culture zu finden: Eine performative Re-Inszenierung von vorgegebenem Material, bei der es auf technische Perfektion ankommt und die das Publikum in Staunen und Ekstase versetzt (das reproduzierende Moment des Virtuositätsbegriffs wäre da wieder eingeholt/eingefangen). 26 | Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1974, S. 21. Eine ähnlich
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hard wird zum Virtuosen der Wiederholung und Variation. Das exzessiv gesteigerte Prinzip des Stils 27 erweist sich als Echo auf jenen Diskurs um Artistik, den das 19. Jahrhundert um die „geschickte, meisterhafte Beherrschung der Kunst“ und ihr „besonderes Formbewusstsein“ führte.28 In der Heine-Zeit als Urteil der Hochschätzung verwandt, ging die Verwendung des Begriffs ‚Artistik‘ allerdings in Deutschland – vergleichbar der Kritik an der Virtuosität – häufig mit einer Herabsetzung „als ‚bloßer‘ Formalismus“ und „‚nur‘ handwerklicher Geschicklichkeit“ 29 einher, während in Nietzsches Verständnis der Artist als der moderne Künstler schlechthin firmierte und Heine als dessen erstes Beispiel: „Man wird einmal sagen, daß Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind.“ 30 Ähnlich wie ‚Artistik‘ präsentiert sich ‚Virtuosität‘ als Beschreibungskategorie von Literatur in Literaturkritik und -wissenschaft als ebenso inflationär benutzter wie unterdefinierter Begriff. „Virtuos“ galten und gelten Texte von Autoren wie Jean Paul über Thomas Bernhard bis in die gegenwärtige Textproduktion etwa eines René Pollesch; in den Blick rückte damit zumeist deren „Musikalität“ oder „Rhetorizität“. Dass es keine nicht-zielgerichtete „Faszination durch die Materialität des Stils und der Schrift“ artikuliert Hans Ulrich Gumbrecht über Geoffrey Hartman, der „verwirrt und fasziniert“ durch Derridas Stil ist (Hans Ulrich Gumbrecht: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit – Eine Geschichte des Stilbegriffs, in: ders., K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a.M. 1986, S. 726-789, hier S. 780f.) – Auch Martin Seel reklamiert für die vordergründig nicht der „Sinnlichkeit des Erscheinens“ zuzurechnenden Prosa-Texte eine spezifische Ästhetik des Erscheinens, die in der Schreibweise begründet liegt und dem ästhetisch und rhetorisch aufmerksamen Lesen zugänglich ist. (Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München/Wien 2000, S. 204f.) 27 | Zum Begriff des Stils vgl. etwa Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil; Michael Riffaterre: Kriterien für eine Stilanalyse, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 41993, S. 163-195. 28 | Hartmut Steinecke: Unterhaltsamkeit und Artistik. Neue Schreibarten in der deutschen Literatur von Hoffmann bis Heine, Berlin 1998, S. 10. 29 | Ebd. 30 | Friedrich Nietzsche: Ecce homo, in: Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari, 5. Abteilung, Bd. 3, Berlin 1969, S. 284.
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literaturwissenschaftliche Theoretisierung des Virtuositätsbegriffs gibt, ist symptomatisch, scheint doch damit ein im besten Falle feuilletonistisches Qualitätsurteil verbunden. Dieser feuilletonistische Gebrauch des Begriffes Virtuosität versucht, eine meisterhafte Beherrschung von ‚Techniken‘ (die als solche aber im Zeitalter einer schwerpunktmäßig als subjektiver Ausdruck begriffenen Literatur nicht mehr eigens thematisiert werden) durch den Autor zu beschreiben, denen gegenüber der Leser bestenfalls passiv nachvollziehend gedacht wird. Die Literaturwissenschaft hat zwar einen impliziten Leser konzipiert, aber bislang nicht nach dessen Rolle zur Bezeugung/Konstruktion von Virtuosität und den dafür notwendigen Kompetenzen gefragt. So sind traditionelle literaturwissenschaftliche Konzeptualisierungen von (virtuosen) Stilen entweder reduziert auf ausschließlich textinhärente Strategien oder eine Thematisierung der Leserrolle, die auf den Bedeutungshorizont eingeschränkt ist. Im Gegensatz dazu fokussiert hier Virtuosität – im Sinne einer Ästhetik des Performativen – die Aufmerksamkeit auf das Aufeinanderverwiesensein von Subjekt und Objekt als die konstitutive Bedingung für Virtuosität, und zwar im Modus der „Lust am Text“ (Barthes), die allererst das Staunen über Effekte der meisterlichen Beherrschung von (sprachlicher) Technik bezeichnet. Virtuosität in der Literatur erweist sich somit als spezifisches Verhältnis von Textualität und Performativität, von Darstellungsstil und Wahrnehmungsstil; die Konfiguration Text – Leser ist damit als Ermöglichungsraum von Virtuosität beschreibbar. „Aber auch zum Lesen gehört Virtuosität“:31 Schon 1799 formuliert Johann Adam Bergk in seiner Abhandlung Die Kunst, Bücher zu lesen, dass Lesen eine Tätigkeit des Lesers gegenüber dem Text fordert, die der des Schauspielers gegenüber dem Schriftsteller entspricht: „Der Leser eines Buches muß das thun, was der Schauspieler, der Künstler ist, thut. Er muß dem Schriftsteller nachhelfen: er muß das Selbstdenken nicht aufgeben, sondern er muß ihm vor- und nachdenken. Er muß nicht ein Sklav fremder Materialien werden, sondern er muß als Selbstherrscher über sie regieren.“ 32 Angesichts der Virulenz und Omnipräsenz des Virtuosen31 | Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. Roman in neun Büchern, hrsg. von Reinhold Gensel, Berlin u.a. 1912, Bd. 2 (eigentlich 14), S. 422. 32 | Johann Adam Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller, Jena 1799, Reprint Leipzig 1966, S. 66. Vgl. dazu Jochen Schulte-Sasse: Einbildungskraft/Imagination, in: Karlheinz Barck (Hg.): Äs-
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Diskurses in den performativen Künsten des 19. Jahrhunderts stellt sich die Frage, ob und wie ‚Lesen‘ innerhalb eines Szenarios der Virtuosität auch und gerade von Rezeption beschrieben werden kann, die als notwendiges Komplement einer virtuosen Leistung eines Produzenten (Musikers, Schauspielers, Autors) aufgefasst wird. Ist das Mechanische des VirtuosenDiskurses, die „Instrumentwerdung des Menschen“ (Heine), hier aufgerufen im Sinne einer Einübung in literarische Stile und Formen sowie Praktiken der Lektüre, die zur zweiten Natur werden müssen, um virtuos sein zu können? Welchen Ort hat die virtuose Steigerung der Tätigkeit des Lesens als eminent körperliche Erfahrung, die den Leser in einen bewegten, atemlosen Performer der „Kunst des Lesens“ transformiert, im Verhältnis zu Körperdisziplinierungstechniken wie der Schule der Geläufigkeit in der Musik, die auf die Naturalisierung des Leselernprozesses der Alphabetisierung aufgesetzt werden? Friedrich Kittler bezeichnet die zeitgleich erscheinenden Alphabetisierungsbücher für Mütter, die Alphabetisierung durch Lautierung erreichen wollen, als „Czerny-Schule der Geläufigkeit für musikalische Damen und Mütter ohne Pianoforte“.33 Folgen also die Einführungen in die Kunst des Buchstabierens (in Gestalt der Fibeln für Kinder) und des Lesens (in den Anleitungen zur angemessenen Lektüre für Erwachsene) denselben Prämissen, bzw. sind sie ähnlich beschreibbar als Schule der Virtuosität (im Doppelsinn von Disziplinierung und Ermächtigung)? Bergks Die Kunst, Bücher zu lesen begreift das Bücherlesen zwar als „Instrument“,34 macht sich jedoch nicht eine Einführung in freie künstlerische Entfaltung zum Ziel, sondern ein Disziplinierungskonzept mit moralischen Maßstäben (gegen die geistlosen Romane) und mit normativen Absichten; zudem ist der Leseakt selbst wiederum in den Kriterien der Werkästhetik eingehegt: „Der Leser muß ein Buch wie ein geschickter
thetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart/Weimar 2001, Bd. 2, S. 88–120, hier S. 112, über Bergks Kunst als ein „Buch, das wie kein anderes die pädagogischen und die subjekt- und sozialisationstheoretischen Implikationen moderner Text- und Lesekultur (und die Bedeutung der Einbildungskraft für diese) auf den Punkt bringt“. 33 | Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900, 3., vollst. überarb. Aufl., München 1995, S. 45. 34 | Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, S. V.
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Künstler behandeln, der an seinen Stoffen so lange arbeitet und bildet, bis er ein herrliches Werk daraus gemacht hat.“ 35 Andererseits geht es ihm bereits um eine Entfaltung der Einbildungskraft, die eine enorme Stärkung der Subjektposition des Lesers impliziert: „Das Buch, das wir lesen, darf uns nicht als Sklaven behandeln, sondern wir müssen als freies Wesen über seinen Inhalt herrschen.“ 36 Lesen ist auch für Bergk als „Thätigkeit“ beschreibbar, allerdings auf dem Felde der Einbildungskraft: Wir müssen das Buch, das wir lesen, durch unsere eigene Thätigkeit lebendig machen und zum Sprechen bringen, wie müssen wir es nun anfangen, wenn wir dies bewirken wollen? Wir müssen selbstthätig sein und den Inhalt des Buches durch die Bewegungen unsers Gemüthes und durch die Thätigkeiten unsers Verstandes in uns erzeugen, um denselben uns verständlich zu machen.37
Bergk formuliert die Emanzipation des Lesers als einen Kampf um Herrschaft, der die Vorstellung des genialen schöpferischen Ringens genau kopiert. Der (virtuose) Leser ist zunächst nur die Verdopplung des (virtuosen) Autors. Für eine Poetik des virtuosen Lesens käme es aber auch darauf an, den Unterschied in den Performanzen von Autor und Leser zu verstehen, in denen sie es jeweils zur Exzellenz bringen. So geben Überlegungen wie etwa Barthes’ Konzepte des Lesens Anlass zur Vermutung, dass ein Leser sein Vermögen auch gerade dort steigert, wo er sich von dem, was der Autor geschrieben hat, löst und willkürlich liest. Demnach lässt sich ein Versuch, Virtuosität als Darstellungsstil und als Wahrnehmungsstil aufeinander zu beziehen und dies mit einem Szenario von Übertragung von Bewegung und Bewegtheit zusammen zu denken, aus Barthes’ Begriffen des „lisible“ und „scriptible“, des „lesbaren“ und „schreibbaren Textes“ (S/Z), entwickeln 38, die in anderer Form in den Formulierungen „Text der Lust“ und „Text der Wollust“ (Die Lust am Text) wieder auftauchen: Text der Lust: der befriedigt, erfüllt, Euphorie erregt; der von der Kultur herkommt, nicht mit ihr bricht, an eine behagliche Praxis der Lektüre gebunden ist. Text der Wol35 | Ebd., S. 415. 36 | Ebd., S. 63. 37 | Ebd., S. 61. 38 | Vgl. Roland Barthes: S/Z, Frankfurt a.M. 1987, S. 8 und öfter.
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lust: der in den Zustand des Sichverlierens versetzt, der Unbehagen erregt (vielleicht bis hin zu einer gewissen Langeweile), die historischen, kulturellen, psychologischen Grundlagen des Lesers, die Beständigkeit seiner Vorlieben, seiner Werte und seiner Erinnerungen erschüttert, sein Verhältnis zur Sprache in eine Krise bringt. 39
In beiden Konzepten lässt sich Virtuosität verorten, und zwar indem einer bestimmten Disposition des Textes eine bestimmte Disposition von Lektüre zu antworten vermag, und beide Lektüreerfahrungen sind an Bewegung und Übertragung von Bewegung gebunden, einerseits im Sich-Einlassen auf z.B. einen Rhythmus, andererseits in einer Autonomie des lesenden Handelns. Diese Spannung von reproduzierendem und souveränem Agieren charakterisiert jede virtuose Performance: Virtuoses Lesen als eine Erfahrung von Steigerung kann also zum einen in der bedingungslosen Auslieferung an die Strategien der (Text-)Komposition entstehen – jeder virtuose Musiker muss sich geschmeidig dem Steigerungsszenario kompositorischer Strategien hingeben, um Virtuosität entwickeln zu können; zum anderen impliziert Virtuosität auch ein Moment der Freiheit gegenüber der Erfüllung dessen, was die (Text-)Strategie vorgibt – erst derjenige Instrumentalist, der das Erfüllen von Vorgaben des Instruments und der Komposition transzendiert, ist in der Lage, virtuos zu spielen und die notwendige Souveränität gegenüber dem Vorgegebenen zu demonstrieren. Damit kommen in der Bestimmung dessen, was als Virtuosität des Lesens adressiert werden kann, jene Logiken des Aktiven und Passiven ins Spiel, die für die Debatten um movere zwischen Ermächtigung und Überwältigung so zentral sind.40 Virtuosität verknüpft sich bei Barthes explizit mit einer Struktur des Begehrens, mit dem, was Barthes als „plaisir“ und „jouissance“, Lust und Wollust, umschrieben hat (Die Lust am Text). Im Sinne einer affektiven Übertragung wäre der „Text der Lust“ (befriedigen, Euphorie erregen) Produkt einer klassischen movereDynamik, jedoch korreliert Barthes die zweite Kategorie noch deutlicher mit Bewegung, Erregung, Erschütterung (auch: Langeweile), also dem Gewaltsamen des movere, wenn auch nicht moralisch gedacht. Die Lust am Text proklamiert, dass es eine Ästhetik zu entwerfen gelte, die auf 39 | Barthes: Die Lust am Text, S. 22. 40 | Vgl. Bettina Brandl-Risi u.a.: Übertragungen. Eine Einleitung, in: Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels (Hg.): Schwarm(E)Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i. Br. 2007, S. 52-54.
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der Lust des Konsumenten beruht, die allerdings nicht immer als ‚glatte‘ Konsumption erscheinen muss und kann, sondern ebenso Stolpern, Anhalten, Krisen impliziert.41 Stolpern, Fallen und Leerstellen verhindern zwar die befriedigende Erfahrung der Synchronisierung des Lesens mit den Stilen des Textes, ermöglichen aber andererseits eine neue Virtuosität des Kombinierens. Dem entsprechen zwei Arten der Lektüre: die eine steuert direkt auf die Wendungen der Anekdote zu, sie betrachtet die Ausdehnung des Textes, sie ignoriert die Sprachspiele (wenn ich Jules Verne lese, komme ich sehr schnell voran, ich verliere etwas vom Diskurs, und dennoch ist meine Lektüre von keinerlei verbalem Schwund fasziniert […]); die andere Lektüre läßt nichts aus; sie ist schwerfällig, sie klebt am Text, sie liest, wenn man so sagen kann, mit Akribie und Besessenheit, […] nicht die (logische) Ausdehnung fesselt sie, die Entblätterung der Wahrheiten, sondern das Blattwerk der Signifikanz. 42
Virtuosität als Bewegungseffekt lässt sich damit als euphorisierendes Steigerungsszenario einer gleichwohl „behaglichen Praxis“ entlang des Textes und des Sinns verstehen wie auch als Erfahrung von Beschleunigung und/oder Stocken bei einer Tätigkeit, die in einer gewissen Freiheit von Signifikation operiert. 43 Virtuosität als rein selbstbezügliches Verfahren quasi jenseits von Sinnzuschreibung ist dabei ein Topos, den schon der Diskurs des 19. Jahrhunderts über Virtuosität in den performativen Künsten kannte, wie Vladimir Jankélévitchs Studie über Franz Liszt ge41 | Barthes: Die Lust am Text, S. 87. Dass auch Virtuosität nicht immer den Aspekt des Genießens und Staunens haben muss, sondern ebenso einen kritischen Impetus haben kann, zeigt Edward Said an Goulds Klavierspiel als „dislocation of expectation“. (Edward W. Said: Glenn Gould, the Virtuoso as Intellectual, in: Raritan 20 (2000), S. 2.) 42 | Barthes: Die Lust am Text, S. 19. 43 | Ähnlich formuliert Finter über die Szenarien der Lektüre in den Texten der Avantgarde als einem „ephemeren (mentalen) theatralischen Akt“, der nicht auf die Abgeschlossenheit der Darstellung zielt, sondern in der Bewegung der Signifikanten verbleibt: „Die Bewegung fordert den tanzenden Blick des Betrachters, wie das offene Ohr für die Musik, um bewegt, nicht in Faszination zu erstarren.“ (Helga Finter: Der subjektive Raum, Bd. 1: Die Theaterutopien Stéphane Mallarmés, Alfred Jarrys und Raymond Roussels: Sprachräume des Imaginären, Tübingen 1990, S. 281.)
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zeigt hat: „L’apparence dit bien ce qu’elle dit, montre ce qu’elle montre, chante ce qu’elle chante: elle ne renvoie pas, comme les arcanes sibyllins, à un sens allégorique distinct du sens littéral; son vrai sens est la profondeur ‚tautégorique‘ de la superficialité elle-même.“ 44 Insofern erweist sich Virtuosität als Paradigma einer Ästhetik der Oberfläche 45 und somit als eine Denkfigur, die in jüngster Zeit wieder Konjunktur hat, ohne jedoch explizit mit der Figur des Virtuosen in Verbindung gebracht zu werden. Diese Überlegungen zu einer Ästhetik der Oberfläche gehen von der Vorstellung einer Oberfläche aus, die sich nicht der dahinter liegenden Tiefe verdankt. Wenn nun in Texten wie denen von Thomas Bernhard die Gefahr einer „konsumierenden, kulinarischen Lektüre“ beschworen wird, die „nur das Altbekannte bestätigt sehen will“ 46 und der die Texte keinen Widerstand zu bieten scheinen, geht es mir demgegenüber gerade darum, zu zeigen, inwiefern das Vergnügen am Spiel mit und auf der Oberfläche ein integrativer Bestandteil der Virtuosität ist. In diesem Sinn konstatiert Eyckeler, ohne daraus allerdings weitergehende Konsequenzen zu ziehen: Im Zentrum der Texte steht ihre materiale, ihre sprachliche Seite und der dadurch hervorgerufene Rhythmus und ‚Sprachsog‘. Schlicht gesagt, inszenieren Bernhards Texte eine Art literarischer performance, bei der Teilhabe, nicht Sinnverständnis, 44 | Jankélévitch: Liszt et la Rhapsodie, S. 155. 45 | Zur Konjunktur einer Ästhetik der Oberfläche vgl. etwa Plurale. Zeitschrift für Denkversionen 0 (2001): Oberflächen; Neue Rundschau 113.4 (2002): Tiefe Oberflächen. Um eine „Rehabilitierung der Oberfläche, also der Äußerlichkeit unseres Sprachverhaltens“, geht es auch Sybille Krämer: Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Thesen über Performativität und Medialität, in: Paragrana 7.1 (1998): Kulturen des Performativen, S. 33-57, hier S. 42. Vergnügen am „surface play“ bestimmt dabei insbesondere jenen alltäglichen Erfahrungsbereich der „Visual Digital Culture”: Charakteristisch für den Betrachter der „Visual Digital Culture“ sei, dass dieser sich befinde „in pursuit of the ornamental and the decorative, modes of embellishment, the amazing and the breathtaking, the nuances of the staged effect and the virtuoso moment, the thrill of vertigo or the agôn of competition”. (Andrew Darley: Visual Digital Culture. Surface Play and Spectacle in New Media Genres, London/New York 2000, S. 169.) 46 | Willi Huntemann: Artistik und Rollenspiel. Das System Thomas Bernhard, Würzburg 1990, S. 184.
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das Entscheidende ist. Eben dies begründet ihre spezifisch musikanaloge Wirkung: Sie haben Ereignischarakter, sie sind Ereignis. 47
Dieser Fokus auf der Materialität und dem Performance-Charakter von Sprache und Lektüre ruft jene Überlegungen zur Selbstreferentialität poetischer Sprache auf, die in unterschiedlichen literaturtheoretischen Kontexten mit Performativität zusammengedacht werden, häufig gekoppelt mit der Vorstellung von „Nicht-Referentialität“ und „Desemantisierung“.48 Damit steht im Falle der Virtuosität die Qualität einer Handlung in Rede, die nicht primär auf Bedeutungserzeugung bezogen ist (vielmehr einen Überschuss produziert), sondern ihr Ziel in sich selbst hat. Diese Beschreibung korreliert mit jenen Konzepten von Virtuosität, die virtuose Praxis auch jenseits künstlerischer Zusammenhänge in ökonomischen und politischen Kontexten zu identifizieren vermögen – mit jenen Konzepten also, die Virtuosität einerseits als Kennzeichen von nichtmaterieller Produktion (Marx) sowie andererseits als Modell politischen Handelns und der darin geborgenen Freiheit (Arendt) begreifen.49 Virtuosität als Praxis geht im Vollzug auf. Auch Virtuosität als Schreib- und Leseweise begriffen macht keine Ausnahme. Denn es geht hier nicht zuerst um Bedeutung, sondern um das ‚Mehr‘. Allerdings gehört zu den Effekten des virtuosen Lesens durchaus, dass die Bedeutungsproduktion in die Dynamik der Steigerung mit einbezogen wird, dass eine Verbindung zwischen der ‚abstrakten‘ Erzeugung von Bedeutungen und der ‚körperlich-materiellen‘ Bewegung entsteht und als solche auch erfahrbar wird. Damit wird deutlich, dass der Horizont der Bedeutungsproduktion nicht der Finalismus eines ‚angemessenen Verstehens‘ ist, sondern die Exzessivität eines Spiels von Differenzen. Gerade weil Bedeutungsproduktion diese spielerisch-exzessive Dynamik hat, eignet sich ein Text für virtuose Lektüren. 47 | Franz Eyckeler: Reflexionspoesie, S. 112. 48 | Vgl. Uwe Wirth: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: ders. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9-60, hier S. 26ff. 49 | Vgl. i.d.S. Hannah Arendt: Freiheit und Politik (1958), in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz, München ²2000, S. 201-226, hier S. 206f., und im Anschluss an Arendt Paolo Virno: Virtuosity and Revolution. The Political Theory of Exodus, in: ders., Michael Hardt (Hg.): Radical Thought in Italy. A Potential Politics, Minneapolis/London 1996, S. 189-210.
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D I E T ÄT I G K E I T
DES
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Wie aber lassen sich die Übertragungsprozesse, die Bewegung zwischen der Virtuosität der Darstellung und der Virtuosität der Wahrnehmung in den Blick bekommen? Die Bewegung der Lektüre, wie sie ein Text wie Bernhards Gehen herausfordert, resultiert in einer Bewegung (des Gehens), in der der Rhythmus „unhintergehbar“ wird.50 Bernhard selbst macht als zentrales Verfahren seines Schreibens aus: „[…] es ist eine Frage des Rhythmus“.51 Virtuoses Lesen wurde adressiert im Nachvollziehen des Sounds, des Rhythmus, des Manischen des Darstellungsstils, das Atemlosigkeit produziert. Das Festhalten an einem Stil bei Bernhard 52 korrespondiert der Aktivität des unablässigen, nicht zu bremsenden Lesers, der sich immer und immer wieder genau diesem Stil aussetzen und anverwandeln will. Übertragung ließe sich so verstehen als ein Effekt von Synchronisierung, bei dem das Lesen genau diese Übertragung einfach nur am Laufen halten will: die Erfahrung der Atemlosigkeit, der Gebanntheit etc. Dies entspricht aber wiederum dem Verhältnis von Inszenierung und Wirkung schon in der Quintilian’schen Rhetorik: „Erregungs-Simulation auf Seiten des Sprechers führt zu Erregungs-Assimilation auf Seiten des Hörers.“ 53 Verstanden als Synchronisierung und Affizierung lässt sich so jener (Unter-)Titel eines Romans von Thomas Bernhard noch wörtlicher verstehen: Holzfällen. Eine Erregung. Im historischen Rückgriff auf die Epochenschwelle um 1800, die sowohl zentrale Verschiebungen im movere- und im Virtuositätsdiskurs wie in demjenigen über das Lesen produzierte, stellt sich die Frage der Übertragung im Lesen als körperlicher Affizierung ganz wörtlich und erstaunlich traditionell: Das laute Lesen, das um 1800 schon weitgehend durch Praktiken stiller Lektüre verdrängt war, wird für Bergk zu einem zentralen Argument der Bewegung und Übertragung: „Lautes Lesen vertritt die Stelle 50 | Stefan Rieger: Gehen: Eine Verfehlung. Physiologie der menschlichen Motorik bei Thomas Bernhard, in: Franziska Schößler, Ingeborg Villinger (Hg.): Politik und Medien bei Thomas Bernhard, Würzburg 2002, S. 31. 51 | Zit. nach Huntemann: Artistik und Rollenspiel, S. 180. 52 | Entsprechendes ließe sich auch für die Textgenerierungsmaschinen eines René Pollesch formulieren. 53 | Joachim Knape: Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte, Stuttgart 2000, S. 155.
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eines Spazierganges. Die Anstrengung, die es uns kostet, setzt unser Blut in Bewegung, verhütet die Stockung der Säfte, und verscheucht Krankheiten und Missvergnügen.“ 54 Übertragung wird hier sogar im Sinne der Säftelehre und deren physiologischer Wirkung verstanden. Gleichwohl diagnostiziert Erich Schön im Leseerlebnis seit dem 18. Jahrhundert einen zunehmenden „Verlust der Sinnlichkeit“: Es ginge nun nicht mehr um die „Erregung eines Affektes beim Leser […], die von ihm selbst oder vom Autor des Textes beabsichtigt ist und die durch einen quasi körperlichen Transfer vom Text zum Leser bewerkstelligt wird“, sondern um die Teilhabe an einer „fiktiven Welt“, bei welcher der Körper eher störe 55 und demzufolge immobilisiert werden müsse. Damit einher ging auch die Verabschiedung des lauten Lesens. Neuere Forschungen zur Körperlichkeit des Lesens in unserer Gegenwart, also unter der von Schön bereitgestellten Perspektive der verlorenen Sinnlichkeit, lenken jedoch die Aufmerksamkeit gerade wieder auf den Körper und die sinnliche Wahrnehmung: auf Körperhaltungen bei der Lektüre in unzähligen Variationen und den modus legendi des Bücher-Biegens, -Knickens, -Herumtragens, der eine „intensive und direkte Beziehung zum Buch“ aufbaut.56 Zudem weisen die Forschungen der Neurobiologie und der neurokognitiven Psychologie entschieden darauf, dass „Lesen ein Vorgang ist, der auch motorische Aktivität beinhaltet: Über Blickbewegungen, die gezielte Steuerung der Augenmuskulatur, sammeln wir erst die relevante Leseinformation“.57 Dies funktioniert über sogenannte „Blicksprünge (Sakkaden) über die Zeilen hinweg zu bestimmten Punkten, die ganz kurz fixiert werden“ im „Wechselspiel 54 | Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, S. 69. 55 | Erich Schön: Mentalitätsgeschichte des Leseglücks, in: Alfred Bellebaum, Ludwig Muth (Hg.): Leseglück. Eine vergessene Erfahrung?, Opladen 1996, S. 151-175, hier S. 165. Vgl. in diesem Sinne auch Schöns große Studie zur Entsinnlichung des Lektürevorgangs: Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987. 56 | So Armando Petruccis Studie über die „Zukunft der Lektüre“ bei jungen (italienischen) Lesern (Armando Petrucci: Lesen um zu lesen. Eine Zukunft der Lektüre, in: Guglielmo Cavallo, Roger Chartier (Hg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 499-530, hier S. 526; zit. nach: Jürgen Gunia, Iris Hermann: Einleitung, in: dies. (Hg.): Literatur als Blätterwerk. Perspektiven nichtlinearer Lektüre, Sankt Ingbert 2002, S. 7-19, hier S. 14, Anm. 25.) 57 | Marc Wittmann, Ernst Pöppel: Neurobiologie des Lesens, in: Bodo Franz-
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von Fixationen und Sakkaden“.58 Auch werde zum Lesen „sprachlautliche Kompetenz“ benötigt; Buchstaben müssen „in ihre Lauteigenschaften umgewandelt werden“, was manchmal vernehmbar wird anhand der sogenannten „inneren Stimme“.59 Dass Lesen als psychophysische Bewegung durch die Textreihen verstanden werden kann, dass der Verlauf der „Lektüre als ein wandernder Blickpunkt“60 bezeichnet wurde, ist dabei keine Erkenntnis der neurologischen Forschungen. Schon die Rezeptionsästhetik etwa Stanley Fishs bezog sich auf die „aktualisierende Rolle des Betrachters“ und die Literatur als „kinetische Kunst“: Ein Buch bewege sich, wenn wir es lesen, zum einen im Umblättern der Seiten, zum anderen im „Zurückbleiben der Zeilen in der Vergangenheit“. Dabei vergäßen wir, „daß auch wir uns mit ihm bewegt haben“. 61 Fishs Vorstellung von der „Tätigkeit des Lesens“ impliziert sogar, dass Literatur sich in der Wahrnehmung nicht grundsätzlich vom Theater unterscheidet.62 Praktiken nichtlinearer Lektüre sind in der jüngeren Zeit verstärkt in den wissenschaftlichen Blick gekommen, insbesondere die in den letzten Jahren vermehrt geführte Debatte über Hypertext, aber auch das Umblättern der Codices, die Nichtlinearität wissenschaftlicher Texte (Aufbremann [u.a.] (Hg.): Handbuch Lesen, München 1999, S. 224-239, hier S. 224. 58 | Ebd., S. 225f. 59 | Ebd., S. 228. Arthur Jacobs räumt einschränkend über die Ergebnisse der neurokognitiven Psychologie in der Leseforschung ein: „Auch wenn die Frage, was beim Lesen ganzer Texte und Bücher passiert, aus methodischen Gründen neurowissenschaftlich noch weitgehend unerforschtes Terrain bleibt, hat die aktuelle Leseforschung schon sehr viel über die – entscheidende – erste halbe Sekunde der Worterkennung herausgefunden […].“ (Arthur Jacobs: Wie arbeitet das Gehirn beim Lesen? Ergebnisse der neurokognitiven Leseforschung, in: Forschung & Lehre 10 (2006), S. 580f., hier S. 581.) Das gilt natürlich nur für alphabetische oder sonstige Lautschriften. Tatsächlich ist diese Übersetzung von Schriftzeichen in Laute ein retardierendes Moment – man kann z.B. Japanisch deutlich schneller lesen als alphabetische Texte. (Für diesen Hinweis danke ich Kai van Eikels.) 60 | Wolfgang Iser: Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik, S. 253-276, hier S. 260. 61 | Stanley Fish: Literatur im Leser. Affektive Stilistik, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik, S. 196-227, hier S. 210. 62 | Ebd., S. 211.
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chen der Linearität in Fußnoten, Literaturverzeichnis u.a.) und die Strategien literarischer Texte etwa von Jean Paul (die im Text Lektürevorschläge machen, Kapitel zu überspringen, oder – auch hier – Fußnoten, die die Linearität brechen): „Blättern impliziert die Sinnlichkeit des Lektüreaktes als solchen […]. Blättern zeugt von einer Intensität der Lektüre, welche die Wahrnehmung des Mediums Buch als Buchkörper impliziert. Neben dem rezeptiven Moment, das Entdeckungen und Wiederentdeckungen einschließt, ist Blättern zugleich etwas Produktives.“ 63 Dabei meint, so Gunia und Hermann, Nichtlinearität eine „(poststrukturalistische) Praxis, die die Geschlossenheit eines Textes aufsprengt und eine Totalität des Sinns negiert.“ 64 Zu fragen wäre, inwiefern auch hier schon Überlegungen aus dem Zusammenhang der Rezeptionsästhetik der 1970er Jahre zur Rolle des Lesers und zu einem Stilbegriff, der den Leser mit einbegreift, in eine produktive Richtung wiesen, namentlich Studien von Michel Riffaterre, Stanley Fish und Wolfgang Iser. Die Aktivität des Lesers wurde dort vielfach beschrieben, allerdings nur von Iser explizit mit einem Konzept des Performativen in Verbindung gebracht.65 Iser benutzt den Begriff der „Performanz“ für die Aktivität des Lesers, sofern durch Schnitt- und Montagetechnik oder ähnliche Verfahren in Texten die „Anschließbarkeit ihrer Textmuster aneinander“ nicht mehr in hohem Maße vorgeschrieben ist.66 Die dort formulierten Theorien bleiben im hier diskutierten Zusammenhang zwar grundsätzlich unbefriedigend, da sie immer von einem Verstehenshorizont ausgehend argumentieren und das kommunikative Gelingen der Lektüre zur Prämisse haben. Sie sind möglicherweise aber dahingehend zu rekonstruieren, inwiefern etwa auch Isers LeerstellenTheorie die Vorstellung einer Virtuosität des Lesens impliziert, wenn er „die spezielle schöpferische Aktivität“ adressiert, „zu der uns das Lesen literarischer Texte immer wieder verlockt“. 67 63 | Gunia, Hermann: Einleitung, S. 10f. 64 | Ebd., S. 11. 65 | Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976; ders.: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1991. 66 | Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik, S. 228-252, hier S. 241. 67 | Iser: Der Lesevorgang, S. 259.
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In Anlehnung an Stanley Cavells Formulierung von „continuous presentness“ in der Lektüre spricht Iser von „Gegenwärtigkeit“, die durch Lektüre entsteht. In dieser Gegenwärtigkeit und durch Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung verwandle sich das Leser-Subjekt durch die Lektüre. 68 Diese Erfahrung von Zeitlichkeit als Gegenwärtigkeit ist in jüngerer Zeit mit dem Konzept des Flow in Verbindung gebracht worden. Mihaly Csikszentmihalyis 69 Bestimmung des Flow – so resümiert Ludwig Muth – meint „jenen höchst erwünschten Zustand, in dem ein Mensch seine Einbindung in Zwecke und Ziele hinter sich lässt und in ein befreiendes Stromerlebnis eintaucht.“70 Ein Flow-Erlebnis ist eine „autotelische Erfahrung“, insofern es eine „sich selbst genügende Aktivität“ bezeichnet, die man „ohne Erwartung künftiger Vorteile ausübt, einfach, weil sie in sich lohnend ist“.71 Jorge Luis Borges war es, der darauf hinwies, dass das Buch „eine Möglichkeit des Glücks ist, die die Menschen haben.“ 72 Übertragen auf den Lektürevorgang identifiziert Muth Flow als „Leseglück“, das sich weder durch Über- noch Unterforderung des Lesenden auszeichnet, Konzentration und Hingabe fordert, eine Veränderung des Zeitgefühls und Verschmelzen mit der Aktivität selbst impliziert. Darin lassen sich wiederum die von Barthes als „lesbare“ Texte der „Lust“ adressierten Leseerfahrungen finden, die dem Sich-Überlassen an einen Rhythmus und dem Genießen dieses Sich-Überlassens zuzurechnen sind. Allerdings meint Muth, als nötiges „feedback“ das Verstehen anführen zu müssen.73
SCHNELLLESEN Virtuosität als Szenario von Dynamisierung und Steigerung habe ich zu Beginn schon beschrieben unter dem Vorzeichen der Schnelligkeit und der Beschleunigung. In der Tat ist Schnelligkeit eine der definierenden 68 | Iser: Der Akt des Lesens, S. 252. 69 | Mihaly Csikszentmihalyi: Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 1992. 70 | Ludwig Muth: Leseglück als Flow-Erlebnis. Ein Deutungsversuch, in: Alfred Bellebaum, Ludwig Muth (Hg.): Leseglück, S. 57-81, hier S. 60. 71 | Csikszentmihalyi: Flow, S. 97. 72 | Jorge Luis Borges: Die zwei Labyrinthe, München o.J., S. 261, zit. nach Muth: Leseglück, S. 80. 73 | Muth: Leseglück, S. 65f. Diese optimistische und euphorische Seite des Flow,
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Eigenschaften von Virtuosität, folgt man wiederum Jankélévitch, wenn er über musikalische Virtuosität befindet, es sei „la mobilité essentielle qui caractérise le fait virtuose. La virtuosité, disions-nous, s’exprime dans le mouvement perpétuel, moto perpetuo, et dans le vertige de la vitesse […].”74 Das Phänomen der Beschleunigung identifiziert Susan Bernstein in ihrer Studie Virtuosity of the Nineteenth Century 75 als gemeinsames Charakteristikum ebenso wie als parallele Entwicklung von Virtuosität und dem sich ausbreitenden journalistischen Schreiben, die auch Kommerzialisierung und Adressierung eines Massenpublikums umfasst. Gesteigertes Tempo wird zu einem Topos der ‚modernen‘ Lektüreerfahrung seit 1800. So argumentieren zahlreiche Studien zur „Kunst des Lesens“ auch noch im 20. Jahrhundert, Virtuosität und Schnelllesen gingen in eins. Olof Lagercrantz adressiert in Die Kunst des Lesens und des Schreibens (1985) Schnelllesen als körperliches Einverleiben: Die meisten Menschen, schreibt der amerikanische Dichter Henry James, betrachten einen Roman wie einen Pudding. Sie lesen ihn – essen ihn auf –, und das war’s dann. […] Gäbe es nicht die Puddingleser, würde die Buchbranche zusammenbrechen. Bevor ich Professioneller wurde, las ich Bücher mit rasender Geschwindigkeit. Griff gierig nach dem nächsten, sobald ich eines durchgelesen hatte. Was ich gelernt habe, weiß ich nicht. Ich erinnere mich an nahezu nichts. 76
der sich einem rhythmischen Geschehen ausliefert, hat auch ein dunkles Gegenstück, da Rhythmus, genauer: das Sich-Überlassen an einen Rhythmus, durchaus auch als gewaltsamer Prozess erfahren werden kann – als (lustvolles) Erleiden und Ausgeliefertsein und insofern derjenigen Zwangswirkung des rhetorischen movere verwandt, die Gorgias als vergleichbar einer Drogenerfahrung beschrieben hat. Vgl. Gorgias: Encomium Helenae (Fragment 11), Abschnitt 14, in: Gorgias von Leontinoi. Reden, Fragmente und Testimonien, hg., übers. und komm. von Thomas Buchheim, Hamburg 1989, S. 11. Vgl. dazu Ulrike Zellmann u.a.: Übertragungen. Eine Einleitung, in: Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels (Hg.): Schwarm(E)Motion, S. 39-41. 74 | Jankélévitch: Liszt et la Rhapsodie, S. 162. 75 | Susan Bernstein: Virtuosity of the Nineteenth Century. Performing Music and Language in Heine, Liszt, and Baudelaire, Stanford 1998. 76 | Olof Lagercrantz: Die Kunst des Lesens und des Schreibens [1985], aus dem Schwedischen von Angelika Gundlach, Frankfurt a.M. 1988, S. 21f.
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Explizit benennt Erwin Ackerknecht in Die Kunst des Lesens (1931) virtuoses Schnelllesen als Signum der Moderne (nämlich des Zeitunglesens), das allerdings der „Kunst des Lesens“ diametral entgegengesetzt sei, insofern es keine Aufmerksamkeit für die stilistische Finesse aufbringe: Eine der ersten ‚Künste‘, die der Zivilisationsmensch unserer Zeit lernt, ist bekanntlich das Lesen, und es bietet sich ihm dann, nachdem er die Schule glücklich hinter sich hat, auch wenn sein Beruf ihn nicht an die Druckerschwärze fesselt, zeitlebens reichliche Gelegenheit, jene Kunst zu üben. Ist er doch im Normalfall zum mindesten Zeitungsleser. So bringt er es schließlich, namentlich wenn er Großstädter ist (wer die Fahrgäste der Berliner Stadt- und Untergrundbahn beobachtet hat, kennt den großstädtischen Leser in Reinkultur), zu einer geradezu märchenhaften Virtuosität im Lesen. Verdient nun aber diese Virtuosität, als Kunst des Lesens bezeichnet zu werden? Ganz und gar nicht! Sie ist vielmehr eine bloße Fertigkeit, und zwar eine Fertigkeit, die wesentlich im Dienste des begrifflichen Erfassens steht (und die man höchstens eine ‚Kunst des Überlesens‘ nennen könnte). Der Leser will ‚sich orientieren‘, er will möglichst rasch und reibungslos feststellen, was in der Zeitung steht. Er liest fast buchstäblich ‚in der Diagonale‘, übrigens selbst wenn es sich um den Zeitungsroman handelt. Darum merkt er auch kaum, wenn Grammatik und Satzbau lässig behandelt sind, wenn die Bildersprache schablonenhaft, kitschig oder widerspruchsvoll ist (nur ganz grobe Widersprüche werden als ‚Stilblüten‘ bemerkt), wenn Banalitäten, die sich in wenigen Worten mitteilen ließen, zu ganzen Spalten breitgewalzt sind. Und wenn etwas ‚zwischen den Zeilen stünde‘, würde es ihm sicher nicht zum Bewusstsein kommen. So steht die Lesefertigkeit unserer Zeit geradezu dem im Wege, was mit Recht als Kunst des Lesens bezeichnet werden kann, und was wir vorläufig einmal als ausschöpfendes, als hingebendes Lesen umschreiben wollen. 77
Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass die Beschleunigung des Lesetempos seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zusammenfällt mit jenem paradigmatischen Wechsel in der Ästhetik, der den Nachahmungsbegriff von der Frage der Ähnlichkeit ablöst, wie Inka Mülder-Bach in Zusammenhang mit Lessings Laokoon herausgearbeitet hat: „Beschleunigung des Lesetempos“ als Ergebnis der „Extensivierung der Lektüre“ fordert eine Adaptierung der Nachahmungslehre: „Nicht 77 | Erwin Ackerknecht: Die Kunst des Lesens. Mit drei Übungsbeispielen, Stettin ²1931, S. 5. Harald Weinrich beleuchtet Techniken des Schnelllesens von Zeitungen
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mehr die Übereinstimmung mit einer außersprachlichen Wirklichkeit, sondern allein die Kraft ihrer poetischen Evokation entscheidet über das Täuschende einer Nachahmung – und Kraft heißt vor allem: ‚Geschwindigkeit‘ [Laokoon].“ 78 Eine neue doppelte Lesekompetenz, nämlich „sowohl beschleunigt (kursorisch) als auch verlangsamt (statarisch) lesen zu können“, bildet sich im Laufe des 18. Jahrhunderts heraus und legitimiert schließlich das schnellere Lesen, das „jenen Freiraum für die Rezeptionsaktivität des Lesers“ erst schafft, „wodurch er die Menge des Neuen erfassen und verarbeiten kann“.79 Diese Beschleunigungserfahrung transformiert sich allerdings um 1800 in die „Lesesucht“ als Problem sowie das Viellesen, das Lesen als Zeitvertreib und zur Unterhaltung, das Bergk als „Hochverrath an der Menschheit“ bezichtigt.80 Dennoch: Passioniertes Lesen, das auf Intensivierung und Steigerung der Leseerfahrung aus ist, setzt sich durch. Letztere allerdings geht einher mit der Stillstellung des Körpers, auch durch neuerfundene „Lesemöbel“. 81 Neue Organisationen/ und Lexika unter der Maßgabe schnellerer Informationsverarbeitung auch hinsichtlich typographischer Vorentscheidungen wie dem Druck in Spalten und geeigneten grammatischen Strukturen in Gebrauchstexten, um dann ähnlich wie Ackerknecht die Technik langsamen Lesens als notwendiges Gegengewicht für die Rezeption literarischer Texte zu propagieren. (Harald Weinrich: Lesen – schneller lesen – langsamer lesen, in: Neue Rundschau 95.3 (1984), S. 80–99.) 78 | Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 128f. Zur Historisierung von „Geschwindigkeit als Lektüretechnik“ im Gefolge des gewandelten Nachahmungsbegriffs vgl. insbesondere Matthias Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens, Tübingen 1999, S. 134-173. Vgl. zu diesen Entwicklungen, insbesondere in Zusammenhang mit der Briefkultur, auch Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, und Georg Witte: Bewegte und bewegende Briefe. Schriftbeschleunigung als Imaginationstechnik der Empfindsamen, in: Inke Arns [u.a.] (Hg.): Kinetographien, Bielefeld 2004, S. 413-451. 79 | Peter Stein: Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens, Darmstadt 2006, S. 259 und 260. 80 | Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, S. 59. 81 | Es gab sogar ein „Lesekleid“ für Damen („liseuse“, vgl. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 73ff.).
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Institutionen entstehen (Leihbibliotheken, Lesegesellschaften), neue Leserschaften (Frauen, Dienstboten, Jugendliche), neue Lesehaltungen („Vielleserey“, Lesesucht). Mit der Massenalphabetisierung, die in Westeuropa Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen war, entsteht eine neue Leserschaft, die „modern“ liest: Lesen in/von Fortsetzungen kultiviert die Fähigkeit, flüchtig zu lesen, und damit die Befähigung zu „dynamisiertem Lesen“.82 Statt intensiver Lektüre entsteht seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Praxis extensiver Lektüre: „Man liest ohne Zweck alles durch einander, man genießt nichts und verschlingt alles, nichts wird geordnet, alles nur flüchtig gelesen und eben so flüchtig vergessen“,83 wie ein Kritiker dieser neuen Lektürepraxis beklagt. Eckhard Schumacher verweist darauf, dass noch die zwei Arten von Lektüre, die Barthes in Die Lust am Text differenziert, die Debatte des 18. Jahrhunderts zwischen kursorisch und statarisch Lesen in Erinnerung rufen.84 Während die „moderne“ Einstellung der Beschleunigung zur Leistungssteigerung des Lesers mutiert, die schließlich Effizienzsteigerung durch „Improved Reading“ (Professionalisierung der Technik des Querlesens) fordert, 85 proklamierte Friedrich Nietzsche bekanntermaßen dagegen Philologie als Kunst des Langsamlesens: Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens […]. […] Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor allem eins heischt, beiseitegehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden –, als eine Goldschmiedekunst und
82 | Stein: Schriftkultur, S. 300. 83 | Johann Georg Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht [1794], zit. nach Kittler: Aufschreibesysteme, S. 149. Vor dem Flüchtiglesen warnt auch Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, S. 34. Zu den Konzepten der „intensiven“ und „extensiven“ Lektüre vgl. Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500-1800, Stuttgart 1974. 84 | Eckhard Schumacher: Aufschlagesysteme 1800/2000, in: Jürgen Gunia, Iris Hermann (Hg.): Literatur als Blätterwerk, S. 23-45, hier S. 37, Anm. 40. 85 | „Improved Reading“-Kurse werden in den letzten Jahren verstärkt auch im wissenschaftlichen Kontext beworben, vgl. z.B. http://www.improved-reading. de/ index1.html (letzter Zugriff 17.03.2011); vgl. auch Rudolf Känzig: Schneller lesen – mehr behalten. Anleitung für rationelles Lesen, Zürich ²1976.
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-Kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzutun hat und nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. 86
Die im 18. Jahrhundert entstehende Virtuosität des Lesens als Demonstration von Schnelligkeit und selektivem Lesen resultierte aus der Verfügbarkeit vieler unterschiedlicher Bücher, erzeugte aber zugleich den Bedarf nach einer neuen Literatur. Lessings Abschied von der Beschreibungsliteratur markiert dabei auch jenen Moment in der Entstehung von Schreibtechniken und Darstellungsstilen, der Digressionen nicht mehr gutheißt und stattdessen ein Tempo des Lesens provoziert, das aus einer Spannungsdramaturgie resultiert. Die entsprechende Technik der Spannungserzeugung 87 durch Steigerung der Erzählgeschwindigkeit entsteht erst mit dieser ‚neuen‘ Literatur und der explosionsartigen Entwicklung der Romangattung, die auf dem „Fabelprinzip“ 88 beruht und neues – ungebildetes – Publikum attrahieren und deswegen neue Techniken erproben muss, die u.a. auch die Verkaufbarkeit der Bücher garantieren: Das Verkaufsmodell der Auslieferung in einzelnen Lieferungen machte sowohl eine gesteigerte Erwartung auf die Fortsetzung zur Garantie des materiellen Erfolges nötig, wie es auch die Kategorie des „Interesses“ und der Interessantheit zu marktförmigen Kriterien werden ließ. Die Differenz der Medien, die virtuosen Steigerungen unterzogen werden und solche Dynamisierungen ermöglichen, spielt hier ein eigenes Argument ein: Es wäre zu fragen, ob es einen grundlegenden Unterschied zwischen der Rezipientenkompetenz beim Lesen und der beim Hören von Musik gibt, einem klassischen locus des Virtuosendiskurses. Gab das Medium Buch seinen Verwendern eine Freiheit, die andere Medien, die 86 | Friedrich Nietzsche: Vorrede zur zweiten, erweiterten Auflage von „Morgen-röte“ [1887], in: ders.: Werke in vier Bänden, Bd. 3, hg. und eingeleitet von Ger-hard Stenzel, Erlangen o. J., S. 426. 87 | Den besonderen Fall der Leser-Beschleunigung durch Techniken von Spannungserzeugung, den insbesondere, aber nicht nur, Kriminalromane anwenden, könnte man ebenfalls mit Barthes’ Kategorie des lisible korrelieren. Zur marginalisierten Kategorie der Spannung in der Literatur vgl. insbesondere Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 1998, S. 150-171: Spannungskunst und Glückstechniken. 88 | Christian Berthold: Fiktion und Vieldeutigkeit. Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert, Tübingen 1993.
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eher auf einem Nachvollziehen oder auf Informationsverarbeitung bestehen, so nicht einräumten? Virtuosität des Lesens ließe sich in diesem Sinne möglicherweise sogar als den virtuosen literarischen Stilen vorgängige Wahrnehmungsdisposition identifizieren, die die Schule des Lesens durch medientechnische Verfügbarkeit von Büchern möglich gemacht hat. Demgegenüber entpuppte sich die Schule des Hörens von Musik als sehr viel aufwändigerer Prozess, den es durch wiederholtes Partizipieren an Aufführungen zu durchlaufen galt: Könnte man sagen, dass sich hier die Virtuosität der Wahrnehmung (des Hörens) erst im Nachhinein ausbildet? Dagegen bei der Lektüre als Voraussetzung?89 Und wie wird die Zukunft der Virtuosität des Lesens aussehen, wenn das Medium Buch durch technologische Veränderungen ‚aufgehoben‘ oder redeterminiert wird? Virtuose Dynamisierung des Lesens erwiese sich somit als Effekt medialer Szenarien, ausgehend von der banalen Verfügbarkeit von Büchern. Damit rückt wiederum jene Auffassung einer Affekttheorie von Bewegung in den Blick, die zugleich eine Theorie der Effekte von Bewegung ist und sich nicht schon eingerichtet hat in den mehr oder weniger codierten Refigurationen von (E)Motionen und deren ästhetischen Formalisierungen und Übersetzungen, sondern Bewegen und Bewegt-Werden auf der Ebene von Effekten, von
89 | Kai van Eikels formuliert im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Lesen, das „Buch als Instrument“ um 1800 gestatte „den direktesten, schnellsten und freiesten Übergang zur Virtuosität“ aufgrund seiner „beispiellos einfachen Zweiseiten-Form, in der man nichts tun muss als umzublättern, zu lesen und die Wörter, die es enthält, während des Weiterblätterns und Weiterlesens neu zu verknüpfen […]. Bis zum virtuosen Spiel mit den Saiten, Tasten, Klappen oder Löchern eines Musikinstrumentes steht zumindest eine erste Zeitspanne an, in der ein Lernender sich der mechanischen Aufteilung nur anpassen darf […]. Dagegen fängt der Leser des Buches mit der Virtuosität an. Die Selbststeigerung des Virtuosen ist hier nicht mehr eine zusätzliche, auf einige Ausnahmeindividuen beschränkte Chance, sondern das Prinzip der Lektüre selbst – sofern es sich, und darauf kommt es an, um die Lektüre des Buches und nicht des Werkes handelt.“ Vgl. Kai van Eikels: Die Schule der Virtuosen. Verblüffende Steigerung und politische Gleichheit in Rancières Le maître ignorant, unveröffentlichtes Manuskript. Siehe auch: ders.: Die Schule der Virtuosen. Zur emanzipatorischen Kraft des Übersetzens, in: Christine Ivanovic, Hiroshi Yamamoto (Hg.): Übersetzung – Transformation. Umformungsprozesse in/von Texten, Medien, Kulturen, Würzburg 2010, S. 77-89.
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„möglicherweise banalen Effekten“90 versteht. Denn ein solches Szenario, das ganz auf den Effekt der Beschleunigung abzielt, eröffnet das Lesen von Romanen ungebrochen seit der sich steigernden Konjunktur dieser Gattung, sei es als Ergebnis einer Strategie, der sich der/die Lesende unterwirft, sei es als eigenbewegtes Gleiten auf den Textmassen des Buches selbst.
90 | Kai van Eikels [u.a.]: Übertragungen. Eine Einleitung, in: Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels (Hg.): Schwarm(E)Motion, S. 16.
Abbildungsverzeichnis DIE SZENE DES VIRTUOSEN Abb. 1 und 2 (S. 44): Carlo Blasis: The Code of Terpsichore, London. The Art of Dancing: Comprising its Theory and Practice, and a History of its Rising and Progress from the earliest Times, London 1830. Abb. 3 (S. 47): Jean Ignace Grandville: Das Reich der Marionetten; Offenbarung des Balletts (1834), in: Grandville. Das gesamte Werk, Bd. 2, mit einer Einleitung von Gottfried Sello, München 1969, Seite: [1200] – Das Reich der Marionetten/Offenbarung des Balletts. Abb. 4 (S. 49): Maria Taglioni in La Gitana, Lithographie von Facosi, Museo Teatrale alla Scala – Milano. New York Public Libary, The Digital Collection. Abb. 5 (S. 49): Fanny Cerrito in La danse de l’ombre (1843), Online-Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ondine_-_Illustrated_London_ News.png (letzter Zugriff am 10.07.2015). Abb. 6 (S. 52): Gemälde von J. H. Jacob, Niccolò Paganini; Lithographie von L. Rados (1813), in: Julius Kapp: Paganini – Eine Biographie, Berlin 1922, Abbildungsanhang S. 168 ff.; dort: Abbildungsteil S. 6. Abb. 7 (S. 53): Paganini-Karikatur von Johann Peter Lyser (1803–1870), Karikatur auf die Wiener Konzerte, in: Julius Kapp: Paganini – Eine Biographie, Berlin 1922, Abbildungsanhang S. 168 ff.; dort: Abb.-Teil S. 9. A P P L AU S Abb. 1 (S. 57): Via Lewandowsky: Applaus/Applause. Ausstellung Haus am Waldsee Berlin, 9.11. – 28. 12.2008. Installationsansicht Haus am Waldsee, Foto: Bernd Borchardt. Abb. 2 (S. 62): Gipsabguss von Liszts rechter Hand (im Alter). Liszt Museum Weimar/Klassik Stiftung Weimar, Foto: Louis Held. Abb. 3a/b (S. 63): Karikaturen von Franz Liszt aus der ungarischen SatireZeitschrift Borsszem Jankó, 6.4.1873, in: Gesa von Essen: „… wie eine
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melodische Agonie der Erscheinungswelt“. Literarische und feuilletonistische Liszt-Paraphrasen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Hans-Georg von Arburg (Hg.): Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne, Göttingen 2006, S. 202f. Abb. 4a-d (S. 64, 65): Wilhelm Busch: Der Virtuos. Ein Neujahrskonzert: Fuga del diavolo, Forte vivace, Fortissimo vivacissimo, Finale furioso (1865), in: Wilhelm Busch: Sämtliche Werke. Münchner Bilderbogen 18591871, hg. von O. Nöldeke, München 1943, S. 231-238.
V O M N AT U R W I S S E N S C H A F T L I C H E N E X P E R I M E N T Abb. 1 (S. 127): Thomas Mc Manus und Dana Caspersen in Steptext. Foto ©Dominik Mentzos. Abb. 2 und 3 (S. 128): William Forsythe in Solo. Die Abbildungen sind dem Video entnommen: William Forsythe: Solo; (Video-Choreographie: 6:40 min), RD-Studio Productions, France 2, BBC TV; Premiere: 26. Dezember 1995; und u. a. New York, Whitney Biennial 1997, Director: Thomas Lowell Balogh, Choreographie: William Forsythe. M I G N O N S E I E R TA N Z Abb. 1 (S. 137): Pieter Aertsen: Der Eiertanz (1552), Öl auf Tafel, 84 x 172 cm, Rijksmuseum, Amsterdam. Abb. 2 (S. 137): Johann de Bry: Eiertanz. Aus den Emblemata Saecularia Oppenhaim 1611. Abb. 3 und 4 (S. 157): Schulvorstellung des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin, Masterstudiengang Choreographie, Berlin 2008. Abb. 5 bis 8 (S. 158, 159): Meine Mischpuche, Choreographie: Zufit Simon, Berlin 2008.
GEISTERREICH Abb. 1 (S. 169): La Sylphide. Stich von Jules Collignon, aus: Les Beautés de l’Opéra, ou chefs-d’oeuvre lyriques, illustrés par les premiers artistes de Paris et de Londres sous la direction de Giraldon, avec un texte explicatif rédigé par Théophile Gautier, Jules Janin et Philarète Chasles (Paris: Soulié, 1845), in: Rethinking the Sylph. New Perspectives on the Romantic Ballet, hg. von Lynn Garafola, Hannover and London 1997, S. 94. Abb. 2 (S. 170): La Sylphide. Stich von Jules Collignon, aus: Les Beautés de l’Opéra (Paris: Soulié, 1845), in: Rethinking the Sylph, S. 95.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 3 (S. 170): Marie Taglioni als La Sylphide. Lithographie nach einer Zeichnung von Achille Devéria, basierend auf einer Statue von JeanAuguste Barre, 1837. Dance Collection, New York Public Library for the Performing Arts, Astor, Lenox and Tilden Foundations, in: Rethinking the Sylph, S. 216. Abb. 4 (S. 175): Sylphidenflügel Fanny Elßlers, o.O., o.J. – Textil, Metall, 150 x 450 mm, in: Jarmila Weissenböck: Fanny Elßler. Materialien bearb. von Jarmila Weissenböck, übers. von Stefanie Winkelbauer, Wien/Köln/ Graz 1984, S. 66. Abb. 5 (S. 178): Carlotta Grisi als Giselle, Lithographie von Pierre Joseph Challamel. Dance Collection, New York Public Library for the Performing Arts, Astor, Lenox and Tilden Foundations, in: Rethinking the Sylph, S. 239. Abb. 6 (S. 182): Fanny Elßlers Fuß. Marmorplastik von Felice de Faveau. Florenz 1847. Sign., dat., 230 x 135 x 260 mm, in: Jarmila Weissenböck: Fanny Elßler. Materialien, S. 53. Abb. 7 (S. 183): Zigarettenspitze mit Etui. Fanny Elßlers Bein. Wien o. J. – Meerschaum, Bernstein mit braunem Lederetui, Seide gefüttert, L: 103 mm, in: Jarmila Weissenböck: Fanny Elßler. Materialien, S. 54. Abb. 8 (S. 184): Marie Taglionis Spitzenschuh, gehalten von Alicia Markova. Foto von Gordon Anthony. Theatre Museum, London, in: Rethinking the Sylph, S. 125.
NEUE SZENEN DES VIRTUOSEN Abb. 1 (S. 244): Claudia Splitt, Christine Groß, Nina Kronjäger in René Polleschs Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiß-Hotels (Prater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, 2001), Foto:©Thomas Aurin. Abb. 2 (S. 250): Bernhard Schütz als General Harras und Sophie Rois als Pützchen in Frank Castorfs Inszenierung von Carl Zuckmayers Des Teufels General (Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz Berlin, 1996), Foto©david baltzer/bildbuehne.de. Abb. 3 (S. 255): Bettina Stucky, Ueli Jäggi und Olivia Grigolli in Christoph Marthalers Die Fruchtfliege (Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz Berlin, 2005), Foto©david baltzer/bildbuehne.de. Abb. 4 (S. 258): Szene aus Christoph Schlingensiefs Kunst und Gemüse: A. Hipler (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, 2004), Foto ©david baltzer/bildbuehne.de.
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Wiederabdrucke Gabriele Brandstetter: Die Szene des Virtuosen. Zu einem Topos von Theatralität, zuerst erschienen in: Hofmannsthal-Jahrbuch. Zur europäischen Moderne 10 (2002), Freiburg i.Br.: Rombach 2002, S. 213-243. Bettina Brandl-Risi: Applaus: Die Gesten des Virtuosen, zuerst erschienen in: Wulf, Christoph/Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung und Praxis, München: Fink 2010, S. 266-280. Gabriele Brandstetter: Vom naturwissenschaftlichen Experiment zum Medien-Event: die Szene des ‘virtuoso‘, zuerst erschienen in: Jahrbuch 2009 der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (Halle/Saale), LEOPOLDINA Reihe 3, Jahrgang 55 (2009), hg. v. Volker ter Meulen, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH 2010, S. 525-529. Gabriele Brandstetter: Mignons Eiertanz. Goethes Auftrittsszene im theaterund literaturgeschichtlichen Kontext, zuerst erschienen in: Walter Hettche/ Rolf Selbmann (Hg.): Goethe und die Musik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 67-92. Gabriele Brandstetter: ‚Geisterreich’. Räume des romantischen Balletts, zuerst erschienen in: Inka Mülder-Bach/Gerhard Neumann (Hg.): Räume der Romantik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 217-37. Bettina Brandl-Risi: Neue Szenen des Virtuosen – Überbietung und Imperfektion im Gegenwartstheater, zuerst in englischer Sprache erschienen als „The New Virtuosity: Outperforming and Imperfection on the German Stage“ in: THEATER (Duke Univ. Press on behalf of the Yale School of Drama/ Yale Repertory Theatre) 37 (2007), Heft 1, S. 8-37. Bettina Brandl-Risi: Virtuos(es) Lesen, zuerst erschienen als „Hingerissen zur Bewegung. Effekte virtuoser Dynamisierungen des Lesens“, in: Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.): Schwarm(E)Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i. Br.: Rombach 2007, S. 301-327. Wir danken allen Herausgeber/innen und Verlagen für die Wiederabdruckrechte.
Zu den Autor/innen Gabriele Brandstetter ist Professorin für Theater- und Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin und seit 2008 Mitdirektorin des Internationalen Kollegs Interweaving Performance Cultures. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Ästhetik von Tanz, Theater und Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart, Virtuosität in Kunst und Kultur sowie die Beziehung von Körper, Bild und Bewegung. Jüngere Veröff. u.a.: Poetics of Dance. Body, Image and Space in the Historical Avant-Gardes (2015); Choreographic Practices. Special Issue: Dis/abilities: The Politics of a Prefix (Hg. zus. mit Ann Cooper Albright, 2016); Moving (Across) Borders (Hg. zus. mit Holger Hartung, 2016). Bettina Brandl-Risi ist Professorin für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Performance und Gegenwartstheater an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichte, Theorie und Ästhetik des Theaters und der Literatur seit dem 18. Jh. bis zur Gegenwart, Virtuosität, Partizipation und Publikum, Theater und die anderen Künste und Medien. Jüngere Veröffentlichungen u.a.: BilderSzenen. Tableaux vivants zwischen Bildender Kunst, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert (2013); Tannhäuser – Werkstatt der Gefühle. Wagner-»Concil« Bayreuther Festspiele 2011 (Mithg., 2014); Kunst der Oberfläche. Operette zwischen Bravour und Banalität (Mithg., 2015). Kai van Eikels ist Philosoph, Theater- und Literaturwissenschaftler und arbeitet am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kollektivformen wie „Schwärme“ oder „Smart Mobs“, Kunst und Arbeit, Performance und Politik. Jüngere Veröffentlichungen u.a.: Die Kunst des Kollektiven (2013), Art works – Ästhetik des Postfordismus (mit dem Netzwerk Kunst + Arbeit, 2015); Theorie-Blog: https:// kunstdeskollektiven.wordpress.com. Zusammen haben sie bereits die Bände Schwarm(E)Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse (2007) und Prekäre Exzellenz: Künste, Ökonomien und Politiken des Virtuosen (2012) herausgegeben.
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