Kulturkontakte: Szenen und Modelle in deutsch-japanischen Kontexten [1. Aufl.] 9783839427392

This book presents research on cultural contacts, especially between Japan and Germany, from theoretical, historical, an

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German Pages 372 Year 2015

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Inhalt
Einleitung
I. Modelle
Pfropfung als Kulturkontakt
»Die weiße Sprache des Austauschs«. Zu Michel Serres’ Interpretation von Katsura Rikyu
Kulturkontakt kulturpoetisch gesehen. Am Beispiel von Kraftklubs Zu jung
Ambivalente Kontakte. USA und US-Marken in deutschsprachiger Pop-Kultur. Drei Stichproben
Hybridität und Transformation in Christian Krachts Roman.Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008)
II. Szenen
Die Rezeption der Militärmusik in Korea vor dem Hintergrund des Kulturtransfers im Dreieck Deutschland – Japan – Korea
Schriftblindheit in der Fremde. Die Grenzen des Lesbaren in der ›exotischen‹ Literatur des 20. Jahrhunderts
Die fließende Grenze der Idee Österreich. Analysedes Briefwechsels zwischen Hugo von Hofmannsthal und tschechischen Intellektuellen
Heimat als Ort der Heterogenität in Werken von Joseph Roth
»Where I am, there is Germany!«. Zur narrativen Konstruktion von Kultur und Identität am Beispiel Thomas Manns
Der Schrecken des Lagers. Eine filmisch-literarische Spurensuche zwischen Antizipation und Retrospektive
Bushido als Intertext? Lafcadio Hearn und Nitobe Inazo
Der Widerstand Asiens. ›Moderne‹ und ›Nation‹ im Verständnis Takeuchi Yoshimis
Yanase Masamus Proletarische Mangas im Licht seiner Grosz-Rezeption
Japan-Thematik bei Elfriede Jelinek. Von Gedanken zur Fotokunst Nobuyoshi Arakis zu Kein Licht
Eigenständig, hybrid, innovativ. Literaturpreise in Japan
Kulturkontakt in Stimmen. Am Beispiel »Autodafé« von Matsuda Masataka
Rhythmus im Theater als Transitraum – Idiorrhythmie bei Laurent Chétouane und Alain Platel
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Kulturkontakte: Szenen und Modelle in deutsch-japanischen Kontexten [1. Aufl.]
 9783839427392

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Yuichi Kimura, Thomas Pekar (Hg.) Kulturkontakte

Edition Kulturwissenschaft | Band 43

Yuichi Kimura, Thomas Pekar (Hg.)

Kulturkontakte Szenen und Modelle in deutsch-japanischen Kontexten (unter Mitarbeit von Mechthild Duppel-Takayama)

Gedruckt mit Fördermitteln der Gesellschaft zur Förderung der Literatur an der Gakushuin Universität Tokyo Gakushu¯in Daigaku Bungaku-kai und der Gesellschaft zur Förderung der Germanistik in Japan Doitsu Gogaku Bungaku Shinko¯-kai.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Zeichnung Soziales Netz von Norbert Schmitt (www.nobt.de) © 2014 Onlineatelier Innenlayout und Satz: Monika Grucza, Berlin Lektorat und Korrektorat: Mechthild Duppel-Takayama, Tokyo Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2739-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2739-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort | 9 Einleitung Yuichi Kimura/Thomas Pekar | 11

I. Modelle Pfropfung als Kulturkontakt Uwe Wirth | 29 »Die weiße Sprache des Austauschs« Zu Michel Serres’ Interpretation von Katsura Rikyū Walter Ruprechter | 49 Kulturkontakt kulturpoetisch gesehen. Am Beispiel von Kraftklubs Zu jung Moritz Baßler | 61 Ambivalente Kontakte. USA und US-Marken in deutschsprachiger Pop-Kultur. Drei Stichproben Markus Joch | 75 Hybridität und Transformation in Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) Yeon Jeong Gu | 97

II. Szenen Die Rezeption der Militärmusik in Korea vor dem Hintergrund des Kulturtransfers im Dreieck Deutschland – Japan – Korea Kyungboon Lee | 117

Schriftblindheit in der Fremde. Die Grenzen des Lesbaren in der ›exotischen‹ Literatur des 20. Jahrhunderts Arne Klawitter | 135 Die fließende Grenze der Idee Österreich. Analyse des Briefwechsels zwischen Hugo von Hofmannsthal und tschechischen Intellektuellen Yuichi Kimura | 149 Heimat als Ort der Heterogenität in Werken von Joseph Roth Satomi Nobata | 159 »Where I am, there is Germany!« Zur narrativen Konstruktion von Kultur und Identität am Beispiel Thomas Manns Christian Baier | 171 Der Schrecken des Lagers. Eine filmisch-literarische Spurensuche zwischen Antizipation und Retrospektive Leopold Schlöndorff | 197 Bushidō als Intertext? Lafcadio Hearn und Nitobe Inazō Thomas Pekar | 219 Der Widerstand Asiens. ›Moderne‹ und ›Nation‹ im Verständnis Takeuchi Yoshimis Ryu Itose | 241 Yanase Masamus Proletarische Mangas im Licht seiner Grosz-Rezeption Akane Nishioka | 267 Japan-Thematik bei Elfriede Jelinek. Von Gedanken zur Fotokunst Nobuyoshi Arakis zu Kein Licht Asako Fukuoka | 291 Eigenständig, hybrid, innovativ. Literaturpreise in Japan Mechthild Duppel-Takayama | 305

Kulturkontakt in Stimmen. Am Beispiel »Autodafé« von Matsuda Masataka Mariko Harigai | 327 Rhythmus im Theater als Transitraum – Idiorrhythmie bei Laurent Chétouane und Alain Platel Mai Miyake | 347 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 365

Vorwort Der vorliegende Band dokumentiert die Beiträge zu einer internationalen Tagung, die unter dem Titel »Grenzen der Lesbarkeit von Kulturen. KulturkontaktModelle« im September 2013 an der Gakushuin Universität in Tokyo stattfand. Die Tagung wurde durch Forschungsmittel der Japanese Society for the Promotion of Science (JSPS)1 und des Research Institute for Humanities der Gakushuin Universität ermöglicht. Die Gesellschaft zur Förderung der Literatur an dieser Universität (Gakushūin Daigaku Bungaku-kai)2 und die Gesellschaft zur Förderung der Germanistik in Japan (Doitsu Gogaku Bungaku Shinkō-kai)3 übernahmen die Druckkosten für dieses Buch. Diesen Institutionen sei an dieser Stelle recht herzlich gedankt. Die Tagung sowie das Buch wurden durch eine Tokyoter Forschungsgruppe vorbereitet, deren Mitglieder hier mit Beiträgen vertreten sind. Ihnen allen sei recht herzlich für ihre Kompetenz und ihren Elan gedankt. Ohne sie hätte dieses Projekt nie seinen Weg nehmen können. Einen herzlichen Dank auch an Wakiko Kobayashi (Tokyo) für die Begutachtung und an Monika Grucza (Berlin) für die schnelle und professionelle Erstellung des Layouts. Der größte Dank gebührt Mechthild Duppel-Takayama (Tokyo) für die wiederholten Durchsichten und Korrekturen all der Texte.

1 | JSPS Grant Number 23520394 2 | 学習院大学文学会研究成果刊行助成金支給 3 | 公益財団法人ドイツ語学文学振興会刊行助成

Einleitung Yuichi Kimura/Thomas Pekar

1. ›Kulturkontak te ‹ –

ein antiquierter

B egriff?

Früher erschien alles viel einfacher: Da kannte man klar voneinander abgegrenzte Kulturen, die man so unterschiedlich voneinander dachte, dass man sie gar ›Welten‹ nannte (wie z. B. ›alte‹ und ›neue Welt‹) und die sich dann in bestimmten­›Formen des Kulturkontaktes‹ aufeinander bezogen.1 In diesem festgefügten dichotomischen Weltbild von ›wir‹ und ›die anderen‹ (mit nahezu beliebig austauschbaren Begriffspaaren)2 waren die Hierarchien, war also die Macht, durch die Setzung von Unterschieden klar verteilt. Diese Macht – sprich vor allem der Kolonialismus3 – legitimierte sich in erster Linie durch diese Unterschiede: Andere zu beherrschen war aus der Perspektive der Kolonialmächte nicht nur erlaubt, sondern geradezu notwendig, weil die anderen eben ›Heiden‹, ›Wilde‹, ›Barbaren‹, ›Schwarze‹, ›Gelbe‹ oder ›Rote‹4 waren und deshalb – durch die koloniale Herrschaft – christianisiert und kultiviert werden sollten oder, wenn dies nicht möglich war oder opportun erschien, ganz einfach übervorteilt, ausgebeutet oder gar versklavt werden durften. Das Ende des Kolonialismus bedeutete auch das Ende für diese klar strukturierte Welt, und damit wurden auch – zumeist jedenfalls – die wohlgeordneten dichoto1 | Vgl. Bitterli 1992 [1986]. Er unterscheidet drei Grundformen des Kulturkontakts: Kultur­ berührung, Kulturzusammenstoß und Kulturbeziehung. Dabei ist Kulturzusammenstoß der euphemistische Begriff für etwas, was durchaus auch den Völkermord meinen kann: »Zu Kulturzusammenstößen kam es in allen Weltgegenden, wo der weiße Mann auftauchte [...]. [D]er Kulturzusammenstoß [führte] oft zur völligen Liquidation der Urbevölkerung [...]« (ebd.: 27). Mittlerweile spricht man in dieser Hinsicht eher von ›Kulturkonflikten‹, was allerdings immer noch euphemistisch ist. Verfehlte Kulturkontakte hat ebenfalls Burke im Blick, wenn er schreibt: »Kulturelle Begegnungen können immer auch dasjenige mit einschließen, was im Portugiesischen mit disencontros bezeichnet wird: verfehlte Zusammenkünfte oder Dialoge zwischen Tauben« (Burke 2000: 13). 2 | Wie ›das Eigene und das Fremde‹, ›Okzident und Orient‹, ›Zivilisierte und Wilde‹, ›West und Ost‹ etc. 3 | Der, als neuzeitlicher, mit der portugiesisch-spanischen Expansion gegen Ende des 15. Jahrhunderts begann und gegen Ende des 20. Jahrhunderts, mit der ›Entkolonialisierung‹ nach dem Zweiten Weltkrieg, endete. 4 | Sprich ›Nicht-Weiße‹. Auch der Rassismus kann als eine Spielart dieser dichotomischen Differenzsetzung angesehen werden.

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mistischen Schemata im Kopf der vom kolonialistischen Denken beeinflussten Wissenschaftler zerstört.5 Mit dem Aufstieg zunächst antikolonialistischer,6 dann postkolonialistischer Ideen wurden zugleich auch die Beziehungen zwischen den Kulturen komplizierter: Anscheinend festgefügte Einheiten, wie z. B. ›der Orient‹, erwiesen sich, folgt man Edward W. Said, als eine diskursive Formation (als ›Orientalismus‹)7 – oder, allgemeiner gesagt, schlechtweg als eine ›Erfindung‹, wie dann überhaupt, im Anschluss an Benedict Andersons einflussreiches Buch Die Erfindung der Nation,8 sich alles Mögliche als eine Erfindung entpuppte: Nationen9 und Regionen10, aber auch ganz grundlegende geografische Bezeichnungen wie z. B. Erdteile.11 Wenn also Gemeinschaften, wie z. B. Nationen oder auch Völker, ›erfunden‹ sind, wie steht es dann mit ihrer Kultur (von Johann Gottfried Herder im 18. Jahrhundert immerhin als ›Blüte ihres Daseins‹ bezeichnet)?12 Hierbei ist nun 5 | Wie z. B. der Orientalisten, Kolonialhistoriker, Ethnologen und Volkskundler. Ein typisches Beispiel für die traditionelle Kolonialgeschichtsschreibung im deutschsprachigen Bereich ist Rein (1931); vgl. dazu auch Bitterli 1992 [1986]: 7 ff. Als dazu gegenläufige Bewegung sei hier die Kulturtransferforschung genannt, in der Kulturen immer schon als ›gemischte‹ vorausgesetzt werden (vgl. Keller: 2011). 6 | Hier wäre die »Négritude-Bewegung« in den 1930er und 1940er Jahre zu nennen oder dann in den 1950er Jahren das Werk des auf Martinique geborenen afro-französischen Philosophen und Vordenkers des Antikolonialismus Frantz Fanon (1925-1961). 7 | Vgl. Said 1981 [1979]. In Hinsicht auf Japan wird dementsprechend von einem ›Japanismus‹ gesprochen (vgl. Griesecke 2001: 186). 8 | Vgl. Anderson 1988 [1983]. Bei aller Unterschiedlichkeit der theoretischen Rahmungen von Said und Anderson, ist ersterer doch der foucaultschen Diskurstheorie, letzterer dem Konstruktivismus verpflichtet, so sehen beide doch den erfundenen Charakter von Gemeinschaften (›imagined communities‹ bei Anderson) bzw. von geografischen Bezeichnungen (›imagined geographies‹) bei Said.

9 | Zur willkürlichen Konstruktion der Nation durch Narrationen vgl. auch Bhabha 2000 [1994]: 211 ff. 10 | So gibt es z. B. Bücher über die ›Erfindung‹ Japans (vgl. Shimada 2000), Russlands (Groys 1995) oder des Balkans (vgl. Todorova 1999), um nur einige Beispiele zu nennen. 11 | In Hinsicht auf ›die Erfindung Asiens‹ bzw. die Vorstellung von Asien als einem ›europäischen Begriffsentwurfs‹ vgl. Richter/Waligora 1996 u. Lee 2003. 12 | Genauer gesagt, da Herder nur über das antike Griechenland sprach, heißt es bei ihm: »Die Kultur eines Volkes ist die Blüte seines Daseins, mit welcher es sich zwar angenehm, aber hinfällig offenbaret« (Herder 1989 [1784-1791]: 571). Auf die ursprüngliche Koppelung der Entstehung von ›Kultur‹ überhaupt im 18. Jahrhundert und ›Nation‹

Einleitung

die Beobachtung zu machen, dass die, wenn man so sagen will, herdersche Koppelung von ›Volk‹ und ›Kultur‹13 immer mehr als ›Erfindung‹ oder auch Ideologie verstanden – und dementsprechend aufgekündigt wurde. Kulturen werden somit nicht mehr als essentialistische14 und homogene Gebilde verstanden, sondern als etwas Heterogenes – und diese Heterogenität wird grundsätzlich (also nicht etwa nur für gegenwärtige Kulturen, sondern überhaupt für Kulturen) gesetzt. Wolfgang Welsch, der Theoretiker der ›Transkulturalität‹, spricht diesbezüglich davon, dass das mit Kultur verbundene »Vereinheitlichungsmoment [...] fragwürdig geworden« sei.15 Versteht man Kulturen im (post-)strukturalistischen Sinn als »Ensemble symbolischer Systeme« (Lévi-Strauss 1974: 15) oder von ›Codes‹,16 dann wäre in Anknüpfung an Foucault zu sagen, dass in den »fundamentalen Codes einer Kultur« (Foucault 1986: 22) selbst bereits Heterogenität bzw. Differenz angelegt ist.17 Der vielleicht wichtigste Theoretiker des Postkolonialismus, Homi K. Bhabha, spricht diesbezüglich davon, dass Kulturen in sich selbst ein »self-alienating

macht Luhmann aufmerksam: »Mit dem Begriff der Kultur wird der Begriff der Nation aufgewertet, ja in seiner modernen Emphase überhaupt erst erzeugt. Und erst von diesem Standort aus erscheint Kultur als etwas, was immer schon gewesen ist [...]« (Luhmann 1995: 41). 13 | Anders ausgedrückt: Für Herder ist Kultur »die spezifische Lebensform eines Kollektivs in einer historischen Epoche« (Reckwitz 2000: 72). Der Begriff der ›Kultur‹ selbst kann hier nicht definiert werden (zur historischen Dimension dieses Begriffs vgl. u. a. Luhmann 1995: 31-54); zum Kulturbegriff in den modernen Kulturtheorien vgl. Reckwitz 2000: 64  ff. oder auch grundsätzlich z. B. Moebius 2009: 14 ff. 14 | Spätestens seit den 1980er Jahren hat man den Mechanismus durchschaut, dass essentialistische Beschreibungen fremder Kulturen im Grunde negative Selbstbeschreibungen sind; so entspricht z. B. dem ›geheimnisvollen Orient‹ eine wachsende Profanisierung und ›Entzauberung‹ des Okzidents (vgl. dazu u. a. Busch 2003: 164). 15 | »Ganz offensichtlich ist das [...] Vereinheitlichungsmoment heute fragwürdig geworden. Man könnte sogar Zweifel hegen, ob es die Verhältnisse je getroffen hat, ob es je mehr als ein Wunsch war. Freilich gehörte es bis in die Gegenwart hinein zum Vorstellungshaushalt – oder zur Ideologie der Kultur« (Welsch 1994: o. S.). 16 | Die Vorstellung hier ist die, dass die manifeste Oberfläche der Kultur (als gesamte Lebens­weise eines Kollektivs und damit eben auch die Individuen) von ›Ordnungen‹ (oder Codes bzw., wie Foucault sagt, ›Wissenscodes‹) bestimmt wird. 17 | Auf individueller Ebene ist diese Einsicht von Heterogenität schon lange vollzogen worden; vgl. dazu vor allem Kristeva 1990, in Anlehnung an Arthur Rimbauds berühmten Satz: »Je est un autre«.

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limit­« (Bhabha 1990: 210) tragen würden,18 was man als den (›eigen-‹)kulturellen Fremdheits­aspekt bezeichnen könnte. Dies ist eine wichtige Bestimmung: Differenz kommt also nicht von ›außen‹, sondern haust schon immer im Inneren der (›eigenen‹) Kultur, was damit nicht zuletzt auch die Dichotomie von ›fremd‹ und ›eigen‹19 oder die Rede vom ›Multikulturalismus‹20 auflöst bzw. überflüssig macht. Konkret manifestieren sich die (in sich selbst Differenz/Heterogenität tragenden) kulturellen Codes in den kulturellen Praktiken,21 die zugleich ›Kultur‹ sind und diese erzeugen, was man auf die Formel von »Doing Culture« (Hörning/ Reuter 2004) bringen kann.22 Weiter sind gegenwärtig Kulturen ›in Bewegung‹ geraten,23 stehen ›interkulturell‹ zueinander, wenn sie nicht gar schon ›hybrid‹ im ›Dritten Raum‹24 miteinander vermischt sind. Kulturelle Grenzen lassen sich da kaum mehr bestimmen,25 ja sind flüssig, überflüssig geworden. ›Transkulturali18 | Deutschsprachige Autoren übersetzen diesen Begriff erst gar nicht; vgl. Bonz/Struve 2011: 134. Sicherlich hat Bhabha den marxschen Begriff der ›Selbstentfremdung‹ mit im Blick. 19 | Man kann dies so ausdrücken: »Bhabhas Hybriditätsbegriff stellt die Reinheit oder Ursprünglichkeit der Kultur selbst in Frage. [...] [Er] besagt, daß die Stimme des Anderen, des Fremden immer schon im Eigenen präsent ist« (Han 2005: 26 u. 29). 20 | Aus dekonstruktivistischer Sicht argumentiert Hamacher so: »Es gibt keine einzige Kultur, die eine autarke, selbstbegründete und suisuffiziente Einheit bilden würde. Jede Kultur kultiviert sich an anderen Kulturen und wird von anderen kultiviert. Es gibt nicht eine, die nicht aus der Konfiguration von anderen – und also a limine allen anderen – Kulturen hervorgegangen und von diesen anderen nicht in jedem Augenblick ihrer Geschichte mitbestimmt und transformiert würde. Und das heißt: Es gibt nicht eine Kultur. Kultur ist ein plurale tantum; es gibt sie nur im Plural [...]. Kultur – das heißt schon Multikultur [...]« (Hamacher 2003: 167). 21 | Vgl. Reckwitz 2000: 276 ff. Dies entspricht der Wendung hin zu den ›sozialen Praktiken‹ im ›Spätwerk‹ Foucaults (vgl. ebd.: 293 ff.). 22 | Man könnte dies auch eine ›interaktionistische Wende‹ im Kulturverständnis bzw. der Kulturtheorie nennen, die davon ausgeht, dass ›Kultur‹ situativ, in konkreten Interaktionssituation ausgehandelt werde (vgl. Busch 2013: 165 ff.). 23 | Vgl. Kimmich/Schahadat 2012. 24 | Dies verweist auf Vorstellungen Bhabhas; vgl. dazu u. a. Bonz/Stuve 2011: 136 ff. 25 | So z. B. vor allem im Gegenwartsjapan; nostalgisch wäre hier ein »Übermaß an Hybridisierung des [japanischen] Lebensalltags« zu beklagen, »der eine Ausrichtung nach Kategorien von Japanisch und Nicht-Japanisch schon lange nicht mehr erlaubt. Die Globalisierung hat auch die Japaner in gewissem Sinne heimatlos gemacht [...]« (Hijiya-Kirschnereit 2013: 231). Dies schließt allerdings eine gleichsam rhetorisch-nostalgische Beschwörung eines japanischen Nationalismus nicht aus, sondern begünstigt sie sogar.

Einleitung

tät‹ ersetzt die einzelnen Kulturen; avancierte Positionen nehmen bereits ein (dekonstruktivistisches) Ende des (konstruktivistischen) Kulturbegriffs26 überhaupt in den Blick und sprechen vom »Ende der Kultur« (Goodson 2001: 29) oder von ›Postkulturalität‹.27 Warum da also noch, wie im Titel dieses Buches, von ›Kulturkontakten‹ sprechen? Dafür gibt es zumindest fünf Gründe, nämlich einen lokalen, historischen, methodischen, räumlichen und pragmatischen Grund: a) Die Euphorie über das Ende der Volks- bzw. National-Kulturen erscheint aus nicht-westlicher Perspektive ein sehr lokales Phänomen zu sein. Während z. B. einige westeuropäische Intellektuelle dieses Ende herbeisehnen und Studien zur Interkulturalität diese (und damit sich selbst) euphorisch als »Überwindung eurozentrischer Paradigmen« und als Beiträge zu »einer immer internationaleren, kosmopolitischeren und globalisierten Welt« (Antor 2006: 9) feiern, sieht man dies offensichtlich in anderen Weltgegenden ganz anders, etwa in Ostasien, wo die Grenzen und Abgrenzungen der Kulturen voneinander, von China, Japan und Südkorea (von Nordkorea ganz zu schweigen) eine fast schon bedrohliche Phase erreicht hat. Aber auch in Europa selbst, z. B. im Zuge der EU-Skepsis, zeigt sich bei Volksabstimmungen und Wahlen, dass viele wieder die alten, verschwimmenden Grenzen neu ziehen möchten;28 ja in anderen europäischen Krisen und gar Kriegen (etwa in der Ukraine) wird gegenwärtig blutig um Grenzen und neue Grenzziehungen gekämpft. Somit scheint ›Transkulturalität‹ – die Überwindung des Denkens »von Kulturen 26 | Wenn Kultur als »Cultural Construction« (Kahn 1995: 128) oder als »Gegenstand diskursiver Konstruktion« (Busch 2013: 172) aufgefasst wird, wäre die Dekonstruktion dieser Konstruktion nur der nächste Schritt. 27 | »Postkulturalität beschreibt die mehr oder weniger willkürlich kultur-dekontextualisierte Wiederaufnahme bereits bekannter, aber nunmehr relativierter und enthierarchisierter Kulturgüter (auch) verschiedenster, beliebiger historischer Epochen in verschiedenen Kultur-Kontexten. [...] [Sie] beschreibt [...] die konsequenteste Form [...] einer absoluten wechselseitigen kulturellen Durchdringung [...]« (Hahn 1997: 53 f.). Der Koreaner Byung-Chul Han nennt diese entgrenzten Kulturen ›Hyperkultur‹: »Nicht das Gefühl des Trans-, Interoder Multi-, sondern das des Hyper- gibt exakter die Räumlichkeit der heutigen Kultur wieder. Die Kulturen implodieren, d. h. sie werden ent-fernt zur Hyperkultur« (Han 2005: 17). 28 | Diese Position wird zwar von der Transkulturalitätstheorie gesehen, aber daraus werden keine theoretischen Konsequenzen gezogen: »[Wir] können [...] auch beobachten, dass Menschen sich nicht nur als transkulturelle hybride Schnittpunkte multipler kultureller Einflüsse verstehen, sondern ihre Identität vielfach durch monokulturell gedachte narrative Positionierungen konstruieren« (Antor 2006b: 36).

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als separaten Einheiten« (Antor 2006a: 10) – weniger deskriptiv als vielmehr normativ (pessimistisch gesehen vielleicht sogar utopisch) zu sein.29 b) Ein zweites Argument für den Begriff des ›Kulturkontakts‹ ist seine historische Relevanz: Wenn beispielsweise Japan von den 1630er Jahren an über zweihundert Jahre so gut wie abgeschlossen war und, wie im Übrigen China auch, nur ›kontrollierte Kulturbeziehungen‹30 zuließ, um dann allerdings durch die Schwarzen Schiffe des US-amerikanischen Commodore Matthew Perry 1853 gewaltsam (und für die Japaner auf traumatische Weise) geöffnet zu werden, so war dies natürlich ein Kontakt zwischen zwei ganz unterschiedlichen Kulturen. Da viele Beiträge in diesem Band kultur- bzw. literaturgeschichtlich ausgerichtet sind, erscheint uns der Begriff des ›Kulturkontakts‹ für diese historische Perspektive unabdingbar zu sein. c) Wenn es einen methodischen Grund gibt, von ›Kulturkontakten‹ zu sprechen, dann dieser, dass in ihm, unserer Meinung nach, am ehesten auf jene produktive Reziprozität hingedeutet wird, die sich durch die Differenz von Kulturen ergibt, setzt ›Kontakt‹ doch einen grundsätzlichen Abstand des einen von dem anderen voraus.31 Diese Sichtweise benutzt die, um es mit Robert Musil zu sagen, »gleitende Logik«32 von Identität und gleichzeitiger Nicht-Identität/ Differenz (was man z. B. in Hinsicht auf Japan, um eine Region großen Abstands zu nennen, auf die Formel bringen kann: ein japanischer Ausdruck, ist / ist nicht ein deutscher Ausdruck, wie z. B. ›haji‹ ist / ist nicht ›Scham‹).33 Dieses Zugleich von ›ist / ist nicht‹ eröffnet verschiedene Dimensionen: z. B. die einer »produktive[n] Fiktionalität« (vgl. Griesecke 2001)34 bei Kultur­ 29 | Ähnlich pessimistisch fragt Jullien, ob der »kosmopolitische Humanismus [...] nicht gerade im Begriff ist, vor unseren Augen zu sterben« (Jullien 2009: 51). 30 | Darunter versteht Bitterli dies: »Die Vertreter der Fremdkultur bestimmen die Handelsplätze, die Zahl der zugelassenen Händler, Art und Beschaffenheit der Waren [...]. Europäische Einflüsse werden bewußt nur selektiv aufgenommen [...]« (Bittlerli 1992 [1986]: 46 f.). 31 | Dieser ›Abstand‹ wäre auch ein Garant für die Vielfältigkeit von Kulturen, deren wachsende Uniformität beklagt wird (vgl. Jullien 2009: 23 ff.). 32 | Musil spricht von der »gleitende[n] Logik der Seele«, welches das »Gleichnis« sei (Musil­1970: 593). Damit, so kann man dies verstehen, spricht er von etwas, was sich »einem unmittelbaren Ausdruck im Denken und in der Sprache entzieht« und plädiert »für das experimentelle Denken« und für »offene Systeme« (Hofmann 2001/2002: 164). 33 | Vgl. Griesecke 2001: 119. Damit hat sie natürlich das Schamkultur-Modell für Japan von Ruth Benedict (411986 [1946]) im Blick. Ein anderes Beispiel lautet: »Bunraku ist / ist nicht ›Puppentheater‹« (Griesecke 2001: 161). 34 | Von dieser ›produktiven Fiktionalität‹ spricht sie im Untertitel ihres Buches. Jullien spricht diesbezüglich von ›Äquivalenzbegriffen‹ (vgl. Jullien 2009: 109), eingedenk allerdings

Einleitung

beschreibungen oder die des Hinweises auf gewisse Leerstellen in der eigenen Kultur oder zumindest Unterbelichtungen bzw. Randständigkeiten von Phänomenen in ihr, die durch den ›Umweg‹ über die andere Kultur ins Bewusstsein rücken können.35 d) Die Rede von ›Kulturkontakten‹ eröffnet eine räumliche Dimension, die die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Mary Louis Pratt »contact zone« (Pratt 22010 [1992]: 1) genannt hat. Diese Zone – Uwe Wirth spricht von einem »Grenzzwischenraum« (Wirth 2012: 12)36 – wäre aber besser nicht nur in den Außenbereichen der Kultur als »interkultureller Zwischenraum« (ebd.) zu lokalisieren (wobei immer die Gefahr eines essentiellen Kulturverständnisses besteht),37 sondern auf ›Kultur‹ überhaupt auszuweiten – Kulturen insgesamt müssten als solche Kontaktzonen angesehen werden, die gerade durch ihren wohl v. a. sprachlich bedingten Abstand voneinander38 (durch ihre »differente Heterogenität«)39 in ein produktives Verhältnis zueinander geraten können.40 des Wissens, dass ein bestimmter übersetzter Begriff (beispielsweise aus dem Chinesischen ins Deutsche) »fehlerhaft und nicht adäquat ist, oder vielmehr, dass [er] nur ein Umweg ist und man darunter ›etwas anderes‹ verstehen muss« (ebd.: 113). 35 | Grieseckes Beispiel dafür ist ›haji‹/›Scham‹: Die Zentralstellung dieses Phänomens in der japanischen Kultur (z. B. auch bei psychischen Erkrankungen) könnte den Blick auf gewisse Leerstellen oder Randständigkeiten in westlichen Konzepten richten, z. B. in der Psychoanalyse bzw. den Schriften Freuds, wo eine Vernachlässigung von ›Scham‹ zugunsten von ›Schuld‹ (im Zusammenhang mit der Zentralstellung des ›Ödipuskomplexes‹) zu beobachten ist (vgl. Griesecke 2001: 132). 36 | Und knüpft damit an Bhabhas Begriff des ›in-between-space‹ an (vgl. Wirth 2012: 11). 37 | Die Rede von ›Interkulturalität‹ setzt eine »Essentialisierung der Kultur voraus«; sie »legt der Kultur ein ›Wesen‹ zugrunde« (Han 2005: 56). 38 | Dieser »Abstand der Kulturen von der Sprache aus« (Jullien 2009: 185) soll eine Essentialisierung von Kultur verhindern – so heißt für Jullien »das ›chinesische Denken‹ [...] schlichtweg [...] das Denken, das auf Chinesisch ausgedrückt wird« (ebd.). Es ist eine, gegenüber z. B. dem griechischen Sprach-Denken, andere »Sprache-Kultur-Denkweise« (ebd.: 191). 39 | Jullien spricht von einer »differente[n] Heterogenität, was die innere Konstitution verschiedener Kulturen betrifft« (Jullien 2009: 97). Eine solche Heterogenität erkennt er darin, dass der Westen (sprich Europa) das Allgemeine/Universelle denke und der Osten (sprich China und Japan) eben nicht: China habe sich die Frage seiner »möglichen Universalität nicht einmal gestellt« und Japan sei »[a]us der Sicht der Japaner [...] eine Kultur der Singularität; die Frage des Universellen sagt ihnen nichts« (Jullien 2009: 99). Seine Thesen wurden allerdings heftig kritisiert, u. a. von dem Schweizer Sinologen Jean-François Billeter. 40 | Vgl. hier z. B. Julliens Kritik an der Brücken-Metapher, die häufig für diesen kulturellen Zwischenraum benutzt wird (vgl. Wirth 2012: 15 ff.), dass sie nämlich eine illu-

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e) Schließlich spricht noch ein letzter, sozusagen pragmatischer Grund für ›Kulturkontakte‹: Anders als bei Begriffen wie ›Hybridität‹, ›Inter-‹ oder ›Transkulturalität‹ müssen sich mit dem Begriff des ›Kulturkontakts‹ keine expliziten theoretischen Grundlagen verbinden.41 Es ist (auch!) ein Begriff der Praxis – oder ›nur‹ eine mögliche Perspektive, unter der Texte (oder andere Medien) und ihre literarischen und/oder kulturellen Kontexte gelesen werden können, mehr nicht.42 Wie die Beiträge dieses Bandes zeigen, herrscht hier ein fröhlicher Methodenpluralismus, der – wie wir hoffen – mit der Klammer ›Kulturkontakte‹ zusammengehalten wird. Inwieweit dies gelungen ist, darüber mag der Leser, die Leserin urteilen! Eine weitere zusammenhaltende Klammer ist die Bezeichnung ›in deutsch-japanischen Kontexten‹ im Untertitel dieses Buches; der Plural von ›Kontext‹ soll den Versuch markieren, eine grundlegende Dichotomisierung zu vermeiden, was in diesem Band durch die Beteiligung koreanischer Forscherinnen43 ganz konkret geschehen ist.44 Zum anderen haben wir auch solche Kulturkontakte-Forschungen aufgenommen, die sich thematisch nicht auf den ostasiatischen Bereich beziehen, sorische Äquivalenz beschreibe; das Problem liege zwischen zwei entfernten Kulturen, wie z. B. der chinesischen und europäischen, ganz woanders, nicht in der (zu überbrückenden) Differenz, sondern in dem, was Jullien »Indifferenz« nennt, d. h. es gebe keinen gemeinsamen Maßstab: »Kein im Voraus gegebener gemeinsamer Rahmen, in dem das ›Gleiche‹ und das ›Andere‹ ins Spiel kommen könnten: diese beiden Kulturen sprechen nicht miteinander und betrachten sich nicht einmal gegenseitig« (Jullien 2009: 111).Zur Kritik am Brücken-, d.  h. ›Dazwischen-‹Konzept, aus ganz anderer Perspektive vgl. auch Adelson 2006. 41 | ›Hybridität‹, in Verbindung mit der Vorstellung eines ›Dritten Raums‹ bzw. ›Zwischenraums‹, basiert vor allem auf Überlegungen Bhabhas (vgl. 2000 [1994]). ›Interkulturalität‹ im literaturwissenschaftlichen Bereich ist vor allem in den Arbeiten der ›interkulturellen Germanistik‹ zu finden (vgl. dazu u. a. Hofmann 2006 u. Wierlacher/Bogner 2003). Zur ›Transkulturalität‹ vgl. Welsch 1994 und 1999. 42 | Diese uns sehr sympathisch erscheinende Position vertritt etwa Wolfgang Riedel in Hinsicht auf die ›literarische Anthropologie‹ (vgl. Riedel 2004: 356). 43 | Dass die chinesische Perspektive explizit nicht einbezogen werden konnte (implizit in einigen Beiträgen, z. B. in demjenigen von Ryu Itose, durchaus), wird auch von uns als Mangel empfunden. ›Deutsch‹ ist übrigens auch ›plural‹ (d. h. auch als ›österreichisch‹) zu verstehen. 44 | Wie die Kulturtransferforschung gezeigt hat, verlängern sich die Transferketten von binären Konstellationen (wie z. B. deutsch-japanischen Kulturkontakten) sehr schnell zu weiteren Konstellationen, triangulären, quadrangulären usw. (vgl. Keller 2011: 113).

Einleitung

sondern z. B. literarisch-kulturelle Kontakte zwischen der US-amerikanischen Pop-Kultur und dem deutschsprachigen Bereich thematisieren oder sich in historischer Hinsicht mit den sozusagen ›intrakulturellen‹ Beziehungen ÖsterreichUngarns beschäftigen. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass sich beispielsweise ostasiatische Kultur- und Literaturwissenschaftler (wie Germanisten) nicht immer und auch nicht immer gern mit Fragen der deutsch-asiatischen Beziehungen beschäftigen, sondern ihr Forschungsgebiet im deutschsprachigen Literatur- und Kulturbereich selbst sehen.45 Bis auf zwei Beiträger (nämlich Uwe Wirth und Moritz Baßler, die beide an Universitäten in Deutschland lehren) stammen alle Beiträge von Forschern und Forscherinnen, die in Japan oder Korea leben und arbeiten. Allein dieser Umstand gibt natürlich eine bestimmte Forschungsperspektive vor, die es ermöglicht, auch Beiträge, die Ostasien nicht explizit thematisieren, in diesen allgemeineren Kontext einzurücken. Damit soll dieses Buch nicht zuletzt auch die Leistungsfähigkeit einer kulturwissenschaftlich orientierten Auslandsgermanistik in ihren anderen Zugriffsmöglichkeiten und in ihrem produktiven Abstand zur Inlandsgermanistik dokumentieren.

2. Z u

den einzelnen

B eiträgen

Die ersten fünf Beiträge liefern Anstöße in Hinsicht auf theoretische Überlegungen zu Kulturkontakten, während die anderen Beiträge praktische Beispiele in diesem Themenfeld verhandeln. Einen ganz eigenen theoretischen Ansatz vertritt der Gießener Literatur- und Kulturwissenschaftler Uwe Wirth in seinem Beitrag Pfropfung als Kulturkontakt. Mit dem Begriff der ›Pfropfung‹,46 der an Derridas ›greffer‹ (›aufpfropfen‹) anknüpft, entwickelt Wirth einen Gegenbegriff zu dem inflationär verwendeten Begriff der ›Hybridität‹ für Kulturkontakte. Pfropfung wird als Metapher bzw. als ›Figur‹ für parasitäre Abhängigkeitsverhältnisse verstanden, bei denen jedoch, 45 | Es sind, so zeigt die langjährige Erfahrung, oftmals die Erwartungen europäischer Forscher, dass sich z. B. japanische Germanisten gleichsam ›automatisch‹ zu Fragen der deutsch-japanischen Kulturbeziehungen – oder, schlimmer noch, zur japanischen Kultur selbst – äußern müssten (was sie natürlich als Germanisten disqualifiziert), was nun durchaus bei einigen von ihnen eine gewisse und nachvollziehbare Oppositionshaltung erzeugt, sich gerade dazu eben nicht zu äußern. Gleichzeitig gibt es aber auch gegenläufige Überlegungen zur Neuausrichtung der (japanischen) Germanistik als einer ›kontrastiven Kulturkomparatistik‹ (vgl. Takahashi 2006). Aber dies nur am Rande. 46 | Vgl. dazu auch Wirth 2011.

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anders als bei der Hybridisierung,47 die Differenzqualität der zusammengefügten Elemente erhalten bleibt. Dem in den Diskussionen um Kulturkontakte so bedeutsamen kulturellen Zwischenraum, dem ›Third Space‹, ist der Aufsatz von Walter Ruprechter (Tokyo) über Michel Serres’ Interpretation der kaiserlichen Katsura-Villa in der Nähe Kyotos gewidmet. Ruprechter folgt diesem originellen französischen Philosophen bei seiner Suche nach ›Tauschoperatoren‹, die kulturelle Übergänge ermöglichen. Serres findet einen solchen ›échangeur‹ (Tauschoperator) erstaunlicherweise in Gestalt dieser Villa, die ihm eine Vermittlerin zwischen westlicher Moderne und Japan ist. Der Münsteraner Literaturwissenschaftler Moritz Baßler, dessen Forschungen u. a. einem literatur- und kulturwissenschaftlichen Text-Kontext-Modell gelten,48 entwickelt in seinem Beitrag Kulturkontakt kulturpoetisch gesehen ein struktura­ listisches Modell von Kulturkontakten, in dem diese semiotisch lesbar gemacht werden: Wenn Material von einem Kulturraum in einen anderen importiert wird, gerät ein Syntagma in einen neuen paradigmatischen Zusammenhang, in dem es plötzlich mit anderen Dingen verglichen wird als in seinem ursprünglichen Kontext und gewinnt so unter Umständen ganz neue Bedeutungsdimensionen. Der Literaturwissenschaftler Markus Joch (Tokyo) untersucht in seinem Beitrag über die deutschsprachige Pop-Kultur die Beziehung dieser zu den – wie könnte es anders sein – USA und US-Marken. Dabei stellt er einen mehrdeutigen, changierenden Umgang im Kulturkontakt mit den USA fest; US-Marken erscheinen in Jochs Analysen als ›disponible Signifikanten‹, die sich mit auch gegenläufigen Bedeutungen füllen lassen. Damit wird die banale Vorstellung einer ›Amerikahörigkeit‹ der deutschen Pop-Kultur zurückgewiesen. Ein früher Pop-Literat wie Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) erweist sich in seinen Gedichten damit als weitaus vielschichtiger als bisher angenommen. Weitere Beispiele bei Joch sind Film, Billy Wilders (1906-2002) Komödie Eins, Zwei, Drei (1961), und Musik und Text der 1979 gegründeten deutschsprachigen Punk-Band Fehlfarben. In theoretischer Hinsicht bezieht sich Joch bei seinen Analysen sowohl auf die Hybriditäts- als auch auf die Pfropfungs-Theorie und zeigt ihre ergänzenden Funktionen auf. Auf Hybridität allein bezieht sich dann die koreanische Literaturwissenschaftlerin Yeon Jeong Gu (Seoul), die mit ihrem Aufsatz über Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) den ersten Teil des Bandes abschließt. Allerdings versteht Gu diesen Begriff nicht nur im politischkulturellen Kontext der Beziehung zwischen Kolonisator und Kolonialisiertem, 47 | Grundsätzlich ist darunter »the mixing together of previously discrete cultural elements to create new meanings and identities« (Barker 2004: 89) zu verstehen. 48 | Vgl. vor allem Baßler 2005.

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sondern weit darüber hinausgehend auch zwischen dem Humanen und dem Nicht-Humanen, wodurch sie Anschluss an den aktuellen post- bzw. transhumanistischen Diskurs findet, der insbesondere einer technischen Verbesserung des Menschen das Wort redet. Überzeugend weist Gu nach, dass diese Dimensionen in Krachts Roman selbst zu finden sind. Den zweiten Teil des Bandes, Szenen – und darunter wären ›Szenen‹ von Kulturkontakten zu verstehen – eröffnet der Beitrag der koreanischen Musikwissenschaftlerin Kyungboon Lee (Seoul) über den Komponisten Franz Eckert (18521916), der sowohl die japanische wie auch die koreanische Nationalhymne schuf, im Zusammenhang mit der Rezeption der Militärmusik in Korea, die zugleich auch das Beispiel für einen triangulären Kulturkontakt ist, denn Japan ist hier, als Vorbild, aber auch als Kolonialmacht, mit involviert. Anschließend beschäftigt sich Arne Klawitter (Tokyo) in seinem Beitrag mit Schriftblindheit in der Fremde und nimmt damit eine dem westlichen (und zumeist des Japanisch unkundigen) Japan-Reisenden nur zu vertraute Erfahrung auf. Am Beispiel von zwei Japan-Reisenden der Jahrhundertwende, den ›exotistischen‹­ Schriftstellern Max Dauthendey (1867-1918) und Bernhard Kellermann (18791951), fragt Klawitter nach ihrem Umgang mit den ihnen ›unlesbaren‹ japanischen Schriftzeichen, die sie aber doch in positiver Weise als Inspirationsquelle nutzen konnten. Die drei sich hieran anschließenden Beiträge thematisieren Fragen des Kulturkontakts außerhalb des asiatisch-europäischen Bereichs, wobei die beiden ersten auf die besondere Situation des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn eingehen, in dem hegemoniale ›intrakulturelle‹ Beziehungen zu finden waren, etwa zwischen den Deutschösterreichern und den Tschechen. Mit diesen Beziehungen beschäftigt sich Yuichi Kimura (Tokyo) in seiner Analyse des Briefwechsels zwischen Hugo von Hofmannsthal und tschechischen Intellektuellen. Dabei geht es um das von Hofmannsthal 1914 begonnene Projekt, einen Fotoband, Ehrenstätten Österreichs betitelt, herauszugeben. Mit diesem letztlich dann gescheiterten Projekt wollte Hofmannsthal die österreichische Idee, nämlich einen ›geistigen Universalismus‹, sozusagen kontrafaktisch verwirklichen. Allerdings wurde dieses Projekt schon damals von tschechischen Intellektuellen als eine Mystifikation zurückgewiesen. Satomi Nobata (Tokyo) lenkt in ihrem Beitrag Heimat als Ort der Heterogenität in den Werken von Joseph Roth den Blick auf eine andere Beziehung des deutschösterreichischen Zentrums zu seiner Peripherie, in diesem Fall auf Galizien, die Heimat Roths, die Nobata als eine kulturelle Grenz- und Kontaktzone versteht. Während man im Allgemeinen die Vorstellung hat, dass das Zentrum, also Wien, Österreich repräsentiere, sah Roth dagegen ›das Wesen Österreichs‹ gerade in seinen Peripherien liegen.

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Christian Baier (Seoul) untersucht am Leitfaden des ricœurschen Begriffs der narrativen Konstruktion das Verhältnis von Kultur und Identität sowohl in Thomas Manns Joseph-Romanen als auch in Manns eigener Lebensgeschichte. In beiden Fällen, bei Joseph in Ägypten und bei Thomas Mann in den USA, geht es um narrative Versuche der Neu-Konstituierung von Identität in der Interaktion mit der jeweils fremden Kultur. Als Besonderheit erkennt Baier hier, dass Thomas Mann in den USA (s)ein ›Deutschtum‹ neu erfindet, indem er es mit ›amerikanischen‹ Kulturmerkmalen verbindet. Leopold Schlöndorff (Tokyo) knüpft mit seinem Beitrag Der Schrecken des Lagers an der Internierung von US-Amerikanern in Lagern während des Zweiten Weltkriegs an und untersucht in diesem Zusammenhang zwei Dokumente, einen 2006 erschienenen Dokumentationsfilm zu diesem Thema und den heute in Vergessenheit geratenen Roman Bansai! (1908) von Ferdinand Grautoff, der von Schlöndorff als ein Dokument für den rassistischen Diskurs von der ›Gelben Gefahr‹ gewertet wird, der bekanntlich insbesondere im wilhelminischen Deutschland verbreitet war. Thomas Pekar (Tokyo) analysiert intertextuelle Beziehungen zwischen Texten des Japan-Enthusiasten Lafcadio Hearn und dem berühmten japanischen Bushidō, so wie es 1900 von Nitobe Inazō kodifiziert wurde. Was auf den ersten Blick als etwas ›Ur-Japanisches‹ erscheint, erweist sich, so zeigt Pekar auf, bei näherer Betrachtung als Resultat eines Kulturkontaktes. Das problematische Verhältnis Japans zu Asien, zum Westen wie zur Moderne steht im Mittelpunkt des Aufsatzes Der Widerstand Asiens von Ryu Itose (Tokyo), wenn er Schriften des Kulturtheoretikers Takeuchi Yoshimi (1910-1977) untersucht, die um Fragen eines eigenen japanischen Weges der Kulturerneuerung gehen und Asien als eine ›Denkmethode‹ empfehlen.49 Als ein weiteres Beispiel für westlich-japanische Kulturkontakte, nun in der Taishō-Zeit (1912-1926), die als eine Phase der Modernisierung und Demokratisierung gilt, stellt Akane Nishioka (Tokyo) in ihrem Beitrag Proletarische Mangas des japanischen Zeichners und Karikaturisten Yanase Masamu (1900-1945) vor, der insbesondere auch die George-Grosz-Rezeption in Japan för­derte. Fragen gegenwärtiger Kulturentwicklungen, die unter dem Stichwort der ›Hybridität‹ als Bezeichnung für transkulturelle Überschneidungssituationen diskutiert werden können, nehmen die abschließenden vier Beiträge auf: Zuerst 49 | Von einer »methodische[n] Verwendung Chinas« spricht im Übrigen auch Jullien (1999: 104). In Hinsicht auf Japan handelt es sich allerdings um einen recht problematischen Diskurs, da er insbesondere mit der aggressiven Expansion Japans im Zweiten Weltkrieg verbunden ist; man könnte diesbezüglich auch von einer ›japanzentrische Ideologie‹ (vgl. Lee 2003: 398) sprechen.

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untersucht Asako Fukuoka (Kobe) die Japan-Thematik bei Elfriede Jelinek und geht hier besonders auf Jelineks Rezeption der Texte und Bilder des japanischen Aktfotografen Nobuyoshi Araki (1940-) ein, wobei erstaunlicherweise eine anerkennend positive Sicht dieser feministischen Autorin auf den für seine weiblichen Bondage-Bilder bekannten Fotografen zu konstatieren ist. Daran anschließend analysiert die Germanistin und Japanologin Mechthild Duppel-Takayama (Tokyo) Literaturpreise in Japan wie z. B. den renommierten Akutagawa-Preis. Im Unterschied zu Deutschland werden diese Preise in Japan nicht von staatlichen Stellen, sondern fast ausschließlich von Verlagen gestiftet. Ihr Beitrag gibt überhaupt Einblicke in die Organisationsformen des japanischen Literaturmarkts. Auf eine bislang vernachlässigte Dimension von Kulturkontakt macht Mariko Harigai (Tokyo) aufmerksam, wenn sie am Beispiel einer gegenwärtigen japanischen Theaterinszenierung auf den Kulturkontakt in Stimmen reflektiert, wobei sie zunächst grundsätzlich Stimmen als ›Stimmgesten‹ begreift, die für die Subjektbildung fundamentale Funktionen haben. In ihrem Theaterbeispiel verschränken­sich japanische Stimmen u. a. mit christlich-europäischen, was auf die lang zurückliegende Missionierungsgeschichte Japans anspielt. Der Aufsatz der Theaterwissenschaftlerin Mai Miyake (Leipzig/Tokyo) über Rhythmus im Theater als Transitraum beschließt den Band, auch in, wenn man so will, theoretischer Hinsicht, insoweit sie Abschied von kulturellen Kontexten überhaupt nimmt und sich auf den von Roland Barthes geprägten Begriff der ›Idiorrhythmie‹ (als Bezeichnung für eine Gemeinschaft, in der unterschiedlichste, vor allem auf den Körper bezogene Lebensrhythmen sich entfalten können) bezieht, um damit ein mögliches Modell für einen transitären Raum zu bezeichnen, welcher sich zunächst einmal im Theater entfaltet. Es wäre aber auch möglich zu sagen, dass, wenn das Subjekt Produkt von kollektiv-kulturellen Wissenscodes ist, die sich ihm vor allem auch körperlich einschreiben, körperliche Rhythmen und Bewegungen die letzten Einheiten einer kulturwissenschaftlichen Analyse, gerade auch unter Gesichtspunkten des Kulturkontaktes, sein könnten.50 Damit würde sich vielleicht sogar am Ende dieses Bandes der Ausblick auf ein neues Forschungsfeld eröffnen.

50 | Vgl. Reckwitz, der für den ›späten‹ Foucault »eine Wende von den Diskursen zu den Körperbewegungen als den letzten Einheiten der sozialwissenschaftlichen Analyse« konstatiert (Reckwitz 2000: 307, Anm. 208).

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I. M O DEL L E

Pfropfung als Kulturkontakt Uwe Wirth

Der Begriff des Kulturkontakts steht, wie es scheint, unter dem Vorzeichen der Begegnung mit dem ›Anderen‹: Der Andere als Exot, mit dem man zum ersten Mal in Berührung kommt – und das heißt auch: der Andere, der außerhalb des Rahmens der eigenen kulturellen Erwartungen steht, ja, diesen womöglich sprengt – und eben deshalb befremdet. Insofern ist es kein Wunder, dass die Synonyme von »Kulturkontakt« entweder »Kulturbegegnung« oder »Kulturberührung« lauten – mitunter ist sogar von »Kulturzusammenstoß« die Rede (vgl. Bitterli 2004: 81 ff.). Es handelt sich, wenn man so will, um transkulturelle Körper­metaphern, die darauf hinweisen, dass hier nicht nur unterschiedliche Weltanschauungen – repräsentiert durch unterschiedliche Sprachen –, sondern auch unterschiedliche Lebenswelten und Lebensgewohnheiten aufeinander treffen. Als da wären: andere Gesten und Rituale, andere Essgewohnheiten oder eine spezifische Art sich zu bekleiden. Diese – im weitesten Sinne – körperlichen Formen des Kulturkontakts sind Anlässe des Staunens und, wie gesagt, des Befremdens. Sie sind zugleich Anlässe der Reflexion über die Differenz zum sogenannten Eigenen – also den Lebensgewohnheiten, die man vor dem Kontakt mit einer fremden Kultur als selbstverständlich angenommen hatte. Wenn man den Begriff des Kulturkontakts in dieser Weise versteht, dann wird deutlich, dass damit auch ein Konzept kultureller Differenz impliziert ist: die Differenz zwischen dem Fremden und dem Eigenen. In diesem Zusammenhang erfährt der soziologische Begriff des »Fremden« unter transkulturellen Vorzeichen eine Transformation: Aus dem Phänomen einer »gegenseitigen Fremdheit«, die Georg Simmel als Grundverfasstheit ausmacht, die das moderne Zusammenleben in der Großstadt prägt und die sich in einer »leisen Aversion« (Simmel 1995: 123) gegenüber dem Hausnachbarn äußert, wird eine Fremdheit, die nicht mehr nur durch Anonymität und soziale­Differenz geprägt ist: Vielmehr kommt es zu einer Überlagerung der gesellschafts­politischen Dimension gegenseitiger Fremdheit durch die Kategorie der kulturellen Differenz. Der Fremde als potentiell Wandernder, der »heute kommt und morgen bleibt«, wie Simmels berühmte Formulierung im »Exkurs über den Fremden« heißt (Simmel 1992: 764), wird zu einer Figur, die den Kontakt mit der von ihm verkörperten fremden Kultur provoziert. Doch gerade weil dies so zu sein scheint, stellt sich zum einen die Frage, ob und wie sich der Dualismus zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹ konzeptionell überwinden oder doch zumindest reformulieren lässt. Zum anderen

30 Uwe Wirth

gilt es aber auch zu klären, wie sich die Prozesse der Kontaktaufnahme beschreiben lassen: das Feststellen von Ähnlichkeiten trotz offenkundiger Differenzen, aber auch das Markieren von Differenzen trotz offenkundiger Ähnlichkeiten; das Vermischen und Verbinden des Fremden mit dem Eigenen – bis hin zum Integrieren und Assimilieren, aber auch das provozierende Separieren und Konfrontieren: All dies erfordert eine dichte Beschreibung jener Veränderungen, die durch Kulturkontakte ausgelöst werden, also die »Veränderungen sowohl des Eigenen als auch des Fremden« (Takahashi 2004: 197).

1. K onzepte

des

K ontak ts

von

K ulturen

Der Begriff »Kontakt« im Sinne Mary Pratts verweist auf eine Situation, in der die Modalitäten des Begegnens und Berührens noch nicht festgelegt sind: Eine Situation also, die interaktiven und improvisierten Charakter hat und häufig – aber nicht immer – in eine asymmetrische Konfiguration mündet, wie sie etwa das Verhältnis von Kolonisierenden und Kolonisierten auszeichnet (vgl. Pratt 2008: 8). Entscheidend für Pratt ist dabei jedoch, dass diese Asymmetrien im Moment des Kontakts noch nicht festgeschrieben sind – insofern fokussiert der von ihr geprägte Begriff der contact zone jene transkulturellen Schnittstellen, an denen Angehörige verschiedener Kulturen ihre Beziehungen zueinander initialisieren und konstituieren. Hier kommt nun noch ein zweiter Aspekt ins Spiel, nämlich der Aspekt der Interferenz von körperlichen und konzeptionellen Formen der Berührung zwischen einander fremden Kulturen, der eine eigentümliche Analogie zum Problem sprachlicher Übersetzung aufweist (vgl. Bachmann-Medick 2006: 238 ff. sowie Bachmann-Medick 2008). Seine pragmatische Rahmung erhält dieser Aspekt dadurch, dass das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen häufig dadurch geprägt ist, dass man dem anderen etwas verkaufen will. Sei es ein Handelsgut, sei es eine Idee oder eine Ideologie oder eine religiöse Weltanschauung. In diesen Fällen sind Situationen des Kulturkontakts Situationen, in denen immer auch kulturelle Übersetzungen vollzogen werden müssen, um erfolgreich zu sein. Dies schildert Peter Burke in seinem Buch Was ist Kulturgeschichte? mit Blick auf die christlichen Missionierungsversuche folgendermaßen: »Als die Missionare aus Europa sich daran machten, die Bewohner anderer Kontinente zum Christentum zu bekehren, versuchten sie ihre Botschaft oft in einer Weise zu vermitteln, die mit der örtlichen Kultur in Einklang zu stehen schien. Anders gesagt, sie glaubten, das Christentum müsse übersetzt werden, und sie versuchten, lokale Äquivalente für Ideen­wie ›Erlöser‹, ›Dreifaltigkeit‹ oder ›Mutter Gottes‹ zu finden.

Pfropfung als Kulturkontakt

Empfänger und Gebende waren gleichermaßen an dieser Übersetzung beteiligt. Man sagt, Einheimische in China, Japan, Mexiko, Peru, Afrika oder anderswo, die sich als einzelne oder als Gruppen von bestimmten Aspekten der westlichen Kultur angezogen fühlten, etwa von mechanischen Uhren oder von der Perspektive in der Kunst, hätten diese Aspekte ›übersetzt‹. Sie hätten sie an ihre eigenen Kulturen angepaßt, das heißt sie aus einem Kontext herausgelöst und in einen anderen eingefügt« (Burke 2005: 175 f.).

Ich möchte in meinem Beitrag der Frage nachgehen, wie sich dieses »Anpassen« und »Einfügen« beschreiben lässt, und zwar vor dem Hintergrund der Problemfelder contact zone einerseits und kulturelle Übersetzung andererseits. Dabei kommt es mir auf zwei Punkte an: Erstens möchte ich das »Anpassen« und »Einfügen« des Fremden in das Eigene im Rückgriff auf das Konzept der Pfropfung begreifen – und mich damit von jenen Ansätzen abgrenzen, die Kulturkontakte als Hybridisierungsprozesse fassen. Zweitens möchte ich das »Anpassen« und »Einfügen« mit zwei Begriffen kontrastieren, die in der Debatte um transkulturelle Beziehungen eine lange und höchst problematische Geschichte haben: Ich meine die Begriffe der Assimilation und der Integration. Der Begriff der Assimilation impliziert nämlich nicht nur, dass man sich an fremde Lebensgewohnheiten anpasst – oder andere dazu zwingt, sich den eigenen Lebensgewohnheiten anzupassen (vgl. Kilcher 2010: 160 f.). Der Begriff der Assimilation impliziert auch, dass das Eigene und das Fremde als identifizierbare, homogene Einheiten fassbar sind. Dies klingt in jener Definition von Assimilation an, die Haim Hillel Ben-Sasson in der Encyclopedia Judaica gibt – danach ist Assimilation ein soziokultureller Prozess, »[…] in which the sense and consciousness of association with one national and cultural group changes to identification with another such group, so that the merged individual or group may partially or totally lose its original national identity« (Ben-Sasson 2007: 605). An diese Definition schließen sich für mich drei Fragen an, nämlich erstens: Was hat es mit der »original national identity« auf sich, wenn man sie auf das bezieht, was eingangs als Lebensgewohnheiten bezeichnet wurde? Die zweite Frage betrifft das, was man unter »merged individual« zu verstehen hat: to merge bedeutet soviel wie ›einverleiben‹, ›aufgehen‹, ›verschmelzen‹, ›fusionieren‹ – und verweist damit auf eine Semantik, die im weitesten Sinne das umschreibt, was wir heute als ›hybrid‹ bezeichnen (vgl. Bronfen/Marius 1997, Bachmann-Medick 1998 sowie Wirth 2011a). Insbesondere in den postcolonial studies ist Hybridität ein zentrales Konzept geworden. Hierbei lautet die Leitthese, dass die Beziehung zwischen verschiedenen Kulturen, aber auch die Beziehung innerhalb einer Kultur als ambivalenter

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Hybridisierungsprozess beschrieben werden kann: als Kontakt zwischen Körpern, Sprachen und Weltbildern höchst unterschiedlicher Herkunft, durch deren Vermischung etwas Neues, etwas Drittes entsteht. Die klassischen Konzepte für die Beschreibung dieser Fusionsdynamiken sind, wie García Canclini in seinem Buch Culturas Hibridas schreibt (vgl. Garcia Canclini 2005: XXXII): Kreolisierung, Synkretismus, Mestizaje. Personifiziert durch Malinche, die indigene Übersetzerin des spanischen Eroberers Cortés, die von ihm ein Kind gebar und dadurch zur Urmutter der sogenannten ›Mestizen‹ wurde. Bis heute eine, gerade auch in politischer Hinsicht, höchst umstrittene Figur. Gleichzeitig aber auch so etwas wie eine Kronzeugin für die Interferenzen von körperlichen und konzeptionellen Aspekten, die Kulturkontakte mit sich bringen. Darüber hinaus findet der Begriff der Hybridisierung in den postcolonial studies jedoch noch in anderer Weise Verwendung: Zum einen dient er, etwa bei Homi Bhabha, der Beschreibung von kolonialen Konstellationen, in denen die Kolonisierten die Vermischung der eigenen Kultur mit der fremden Kultur der Kolonisatoren als subversive Strategie einsetzen. Vermischung steht hier für eine bloß scheinbare Assimilation, nämlich für eine koloniale Mimicry (vgl. Bhabha 1994: 75 f.). Zum anderen bezeichnet der Hybridisierungsbegriff ein crossing of culture, bei dem das Sich-Kreuzen nicht mehr nur in einem biologischen Sinne verstanden wird, sondern als Sich-Kreuzen von Wanderungs-Wegen. In diesem Sinne verkörpern Migranten und Intellektuelle Hybridität, »insofern sie sich kosmopolitisch zwischen den Kulturen bewegen« (Bachmann-Medick 2006: 200) – hier findet Simmels Figur des Fremden ihre Reprise. Die dritte Frage folgt in gewisser Weise aus den ersten beiden – sie betrifft das Verhältnis zwischen Assimilationsprozessen und Übersetzungsprozessen: Inwieweit setzen Übersetzungsprozesse ein Ähnlich-Machen, ein An-Ähneln, ein Assimilieren der fremden Sprache an die eigene voraus? (vgl. Kilcher 2010: 269) – eine Fragestellung, die über die rein sprachliche Übersetzungsproblematik hinausreicht und das berührt, was man als kulturelle Übersetzung bezeichnet. Auch dieser Begriff wurde maßgeblich durch Homi Bhabha geprägt, wobei er sich auf Walter Benjamins Essay Die Aufgabe des Übersetzers aus dem Jahre 1921 bezieht. Unter kultureller Übersetzung versteht Bhabha einen Prozess, in dem es kein statisches Eigenes und kein originales Selbst als Ausgangspunkt des Übersetzungsprozesses mehr gibt: »In that sense«, so Bhabha, »there is no ›in itself‹ and ›for itself‹ within cultures because they are always subject to intrinsic forms of translation. This theory of culture is close to a theory of language, as part of a process of translations – using that word […] not in a strict

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linguistic sense of translation as in a ›book translated from French into English‹, but as a motif or trope as Benjamin suggests for the activity of displacement within the linguistic sign« (Bhabha 1990: 210).

In Bhabhas Lesart wird die Übersetzung zu einem »way of imitating […] an original« (ebd.), bei dem die Vorherrschaft des Originals aufgeht in der Möglichkeit, kopiert und transformiert zu werden und sich damit als eine Art von Original zu erweisen, »that is never finished or complete in itself« (ebd.). Dies impliziert das Konzept eines Originals, das gerade nicht als homogene, statische Einheit gefasst werden kann, sondern als etwas Unfertiges auftritt, das noch in Bewegung ist. Solch eine Vorstellung von einem zusammengesetzten, nicht-homogenen, noch nicht vollständigen Original – wirkt sich sowohl auf das Verständnis von Assimilationsprozessen als auch von kulturellen Übersetzungsprozessen aus: Das Original ist nicht mehr unveränderbares Urbild, an dem sich alle Prozesse der Anpassung und Übersetzung orientieren. Vielmehr wird das Original nun selbst zu einer Größe, die sich während des Übersetzungsprozesses verändert: ein Original in Bewegung. Die Idee, dass das Original selbst im Übersetzungsprozess eine Veränderung erfährt, ja dass es ein Eigenleben führt und sich nicht mehr am Prinzip der Äquivalenz oder der Treue zum Original orientiert, greift das zentrale Argument von Benjamins Überlegung zur Tätigkeit des Übersetzens auf, nämlich, dass »keine Übersetzung möglich wäre, wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen nach anstreben würde. Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original« (Benjamin 1991 [1921]: 12). In dieser Passage erteilt Benjamin der Idee eines assimilierenden ›An-Ähnelns‹ der Übersetzung an das Original eine klare Absage. Stattdessen wird die Übersetzung als lebendiger Prozess beschrieben, der in der Lage ist, das Original im Verlauf des Übersetzungsprozesses zu verändern. In diesem Zusammenhang muss man freilich auch fragen, wie sich ein derartiges Konzept von Übersetzung zu den eingangs entfalteten Bedeutungsfiliationen von Hybridität verhält, wobei man eine erstaunliche Entdeckung machen kann: das Ausmaß, in dem die historischen Semantiken von Übersetzungstheorien auf biologische und organologische Metaphoriken rekurrieren (vgl. Wirth 2011a). Allen voran die Verwendung des Bildes vom »Verpflanzen« von Sprachen, dem wir auch bei Benjamin begegnen, wenn er schreibt: »Übersetzung verpflanzt also das Original« (Benjamin 1991 [1921]: 15). Damit schließt Benjamin an eine Tradition in der Geschichte der Übersetzungstheorie an, die das verpflanzende Versetzen als Form der Übersetzung, ja, der kulturellen Übersetzung in Dienst nimmt.

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Ich möchte nun versuchen, die Implikationen dieser In-Dienst-Nahme vor dem Hintergrund der beiden problematischen Begriffe Assimilation und Original zu beleuchten, wobei ich aber auch noch ein anderes Anliegen habe, nämlich zu zeigen, dass der Hybriditätsbegriff alleine nicht ausreicht, um der Komplexität des Vorgangs kulturelle Übersetzung gerecht zu werden. Vielmehr benötigt man, so meine These, noch einen zweiten Begriff: den der Pfropfung (vgl. Wirth 2011a und 2011b).

2. H ybridität und P fropfung im S pannungsfeld von    Ü bersetzung und K ulturkontak t Ich werde zuerst plausibel machen, warum ich glaube, dass dieser Begriff für das Problemfeld »Übersetzung« relevant ist, bevor ich dann kurz erläutere, was Pfropfung überhaupt bedeutet. In seiner Abhandlung Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens vergleicht Friedrich Schleiermacher die Tätigkeit des Übersetzens mit einer exotischen gärtnerischen Intervention, wenn er schreibt, dass durch das »vielfältige Hineinverpflanzen fremder Gewächse […] unser Boden reicher und fruchtbarer geworden« sei (Schleiermacher 1973 [1813]: 69). Die entscheidende Frage ist freilich, was bei dieser übersetzenden Verpflanzung geschieht. Schleiermacher bezeichnet die Methode der Übersetzung als eine »Haltung der Sprache, die nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Aehnlichkeit hinübergebogen sei« (ebd.: 55). Hier bezieht sich Schleiermacher auf eine Form der Übersetzung, die sich so genau wie möglich »an die Wendungen der Urschrift anschließ[t]«, und so die Leser fühlen lässt, »daß sie ausländisches vor sich haben« (ebd.: 54). Es handelt sich also um das, was man in der Übersetzungstheorie als verfremdende Übersetzung bezeichnet. Anne Bohnenkamp hat – im Rekurs auf Michail Bachtin – vorgeschlagen, diese Art der Übersetzung als »phänotypisch hybride Übersetzung« zu bezeichnen, die darauf abzielt. »Elemente des Ausgangstextes und der Ausgangssprache mit Elementen der Zielsprache so zu mischen, daß in der Übersetzung die Mischung als Mischung – also die Heterogenität ihrer Bestandteile – erkennbar bleibt. Die Antithese einbürgernd – verfremdend wäre damit durch ein Modell ersetzt, das nicht nur die Unterschiede, sondern auch die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Übersetzungsverfahren deutlich macht« (Bohnenkamp 2004: 20).

Die Pointe dieser Reformulierung betrifft die sprachliche Oberfläche der Übersetzung, denn dass Übersetzungen genotypisch betrachtet immer ›hybrid‹ sind,

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daran besteht ohnehin kein Zweifel. Das scheint auch bei Schleiermachers Übersetzungsaufsatz durch, wenn er schreibt: »Wer möchte nicht lieber Kinder erzeugen, die das väterliche Geschlecht rein darstellen, als Blendlinge?« (Schleiermacher 1973 [1813]: 54) Damit führt er offensichtlich den Begriff der Hybridität in die Übersetzungstheorie ein – zugleich aber auch einen merkwürdigen Diskurs der Reinheit. Ein Blendling ist, so lesen wir im Grimmschen Wörterbuch mit Verweis auf den griechischen Ausdruck hibrida, ein »bastart und zwitter, wodurch die reine, natürliche art getrübt und gemischt wird, von menschen, thieren und pflanzen« (Grimm 1854 ff., Bd. 2, Sp. 106-107; vgl. hierzu auch: Giuriato 2011). Interessanterweise zieht Schleiermacher ein anderes metaphorisches Register, sobald die fremde Ähnlichkeit zweier Sprachen von der kulturellen Differenz zweier Denkstile überlagert wird und statt der Frage der Verunreinigung, die Frage der Vereinbarkeit aufscheint. In Hermeneutik und Kritik stellt Schleiermacher mit Blick auf den »Christlichen Geist« fest, dieser trete im Neuen Testament »in einer Sprachmischung hervor, in der das Hebräische der Stamm ist, worin das Neue zunächst gedacht worden ist, das Griechische aber aufgepfropft« (Schleiermacher 1977 [1833]: 90). Hier wird die Agrikulturtechnik der Pfropfung zu einer Metapher, die das Versetzen in einen anderen syntaktischen Kontext als gedankliches und sprachliches Übersetzen in einen anderen kulturellen Kontext fassbar macht. Ja, sie wird genau genommen zu einer Metapher für einen Aneignungsprozess von Fremdem, bei dem man das Fremde einbürgert, aber nicht assimiliert, bei dem sich das Eigene mit dem Fremden verbindet, aber nicht vermischt. Insofern kann man Schleiermachers zweifache Beschreibungen der Übersetzung auch als Indiz dafür lesen, dass der Rekurs auf das Modell der Hybridität allein nicht genügt. Vielmehr scheint die Übersetzungs-Situation durch eine Interferenz von Pfropfungs- und Hybriditätsmodell ausgezeichnet zu sein. An dieser Stelle sei nun kurz erläutert, wie sich Hybridität und Pfropfung zueinander verhalten: Versteht man Hybridisieren und Pfropfen in ihrem biologischbotanischen Sinne, so kann man sie, im Verein mit der Auslesezüchtung, als im wahrsten Sinne des Wortes grundlegende Kulturtechniken bezeichnen. Während es bei der Auslesezüchtung zu einer absichtlichen Verstärkung oder Abschwächung bestimmter genetischer Eigenschaften innerhalb einer biologischen Art kommt, nimmt die Hybridisierung eine Kreuzung verschiedener Arten vor. Ihr crucial point ist die genetische Vermischung von Verschiedenartigem. So entsteht aus Pferd und Esel der Maulesel, aber auch alle Neuzüchtungen von Obstbaumsorten beruhen auf Kreuzungserfolgen. Anders als bei der Hybridisierung kommt es bei der Pfropfung gerade nicht zu einer genetischen Vermischung (vgl. hierzu Mudge et al. 2009). Vielmehr werden zwei verschiedenartige Teile zu einer funktionalen organischen Einheit verbunden. Die beiden verbundenen Teile bleiben aber als genetisch differente

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Einheiten erhalten, auch wenn sie miteinander verwachsen. Während die Hybridisierung der Logik der geschlechtlichen Fortpflanzung (sprich: der Logik des Sexualkontakts) folgt, nämlich: Aus zwei mach drei, lautet die Formel der Pfropfung: Aus zwei mach eins. Ein Blick in ein populäres Handbuch der Gartenkunde (das den prägnanten Titel Pfropfen und Beschneiden trägt) verdeutlicht, was diese Formel bedeutet: Die Pointe der Pfropfung besteht darin, dass man »Teile von zwei Pflanzen verletzt und dann so zusammenfügt, dass sie miteinander verheilen. Der eine Teil wird als Unterlage bezeichnet. Er ist eine Art Gastgeber, der im Boden wurzelt und den anderen Teil, den Reis, mit Nährstoffen versorgt« (Allen 1980: 62). Der Pfropfreiser wird hier als ein freundlicher Parasit beschrieben, der mit seinem Gastgeber verwächst. Die Voraussetzung hierfür ist ein passgenauer Zuschnitt – mit Hilfe spezieller Werkzeuge –, damit das verletzte Kambium der Unterlage mit dem verletzten Kambium des Pfropfreises unmittelbar in Kontakt kommt. Anschließend werden beide Teile verbunden und mit Baumwachs verklebt. Die Schnittstelle zwischen Unterlage und Reis gewinnt hierbei eine besondere kulturtheoretische Relevanz, denn sie impliziert eine anderer Form des Kontakts als die des Sexualkontakts: Die Pfropfung erweist sich nicht nur als eine botanische bricolage, die durch ein Verfahren des cut and paste einander fremde Körper verbindet; sie erweist sich auch als ein Konzept, bei dem die kulturtechnische Intervention die natürliche Zirkulation der Pflanzensäfte nicht abschneidet, sondern kanalisiert. Insbesondere im 18. Jahrhundert wird die Pfropfung zu einer ökonomischen Amplifikationsfigur: zu einer Figur, die für die Steigerung der natürlichen Kräfte steht, auf die hin die Interventionen erfolgen, nämlich die qualitative und quantitative Steigerung der Erträge. So lesen wir in Zedlers Universallexicon: »Baum pfropffen wird sonst auch impffen, pelzen, und zweigen genennet, und heißet bey dem Garten-Bau diejenige Arbeit, dadurch ein wilder und unfruchtbarer Stamm vermittelst eines darauf gesetzten, von einem fruchtbaren Baum gebrochenen Zweiges oder so genannten Pfropf-Reises verbessert wird. Es ist dieses eine herrliche Erfindung, dadurch wilde Bäume zahm, unfruchtbare fruchtbar, und wohltragend gemacht […], ja sogar die Farbe und der Geschmack an denenselben verwandelt und verändert werden« (Zedler 1961 [1753]: 762).

Das Fruchtbar machen, das Verwandeln, das Verändern und das Verbessern der Natur werden um 1800 zu Chiffren einer Haltung, in der die Kulturtechnik der Pfropfung als eine Art Herrschaftstechnik erscheint. Dies wird besonders deutlich in der Encyclopédie Diderots und D’Alemberts. Dort heißt es unter dem Lemma »Greffe«, die Aufpfropfung sei der »triomphe de l’art sur la nature« (D’Alembert

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1757: 921), denn man könne mit diesem Verfahren die Natur zwingen, eine neue Pflanzenart herzustellen. Der Pfropfung wird damit das Potential zugeschrieben, ursprüngliche – und das heißt um 1800 immer auch: originale – Pflanzenstämme in etwas Neues zu verwandeln – zu transformieren, indem man sie mit einem fremden Pfropfreiser in Kontakt bringt: Veredelung durch Kontakt mit anderen Kulturpflanzen. Bereits im 18. Jahrhundert – bis heute andauernd – kann man eine zweite Tendenz beobachten, nämlich die metaphorische Indienstnahme der Agrikulturtechnik Pfropfung für die Beschreibung der symbolischen Kulturtechnik Schrift. So findet man die Pfropfung im Rahmen poetologischer und poetischer Diskurse als Metapher für die sekundären Praktiken des Zitierens, Kopierens, Kommentierens und Nachahmens. Im 20. Jahrhundert hat Jacques Derrida die Pfropfmetapher als Schriftmetapher prominent gemacht. Vor allem in seinem einflussreichen Aufsatz Signatur Ereignis Kontext aus dem Jahr 1972, in dem er die Pfropfung als Metapher für die »wesensmäßige Iterabilität« (Derrida 2001 [1972]: 27) der Zeichen einführt. Die Pfropfung wird für Derrida zur Metapher für den Prozess des Schreibens und Zitierens, insofern sie die Möglichkeit eröffnet, eine Zeichenfolge aus ihrer syntagmatischen Verkettung herauszunehmen und zu versetzen, indem man sie »in andere Ketten einschreibt oder ihnen aufpfropft« (ebd.). Die Pfropfung steht hier für die Möglichkeit einer ubiquitären »Kraft zum Bruch« mit externen (historischen, räumlichen, sozialen), aber auch internen, sprachlich-syntagmatischen Kontexten (Stichwort cut and paste). Allerdings erweist sich das Wiedereinfügen in andere Kontexte als eine ambivalente Geste: Mit dem Akt der Integration wird zugleich immer auch die Differenz zwischen Pfropf und Unterlage markiert: Es entsteht eine brüchige Einheit aus heterogenen, künstlich zusammengefügten, nicht assimilierten Teilen, die aber gleichwohl organisch kompatibel, nämlich vegetativ affin sind (vgl. Hertwig 1923 [1906]: 505 ff.). Dies ist, wenn man so will, ›natürliche‹ Voraussetzung für einen langfristigen Kulturkontakt zwischen Pflanzen. Hier deutet sich ein weiterer Aspekt des Pfropfungsmodells an, der von erheblicher kulturwissenschaftlicher Relevanz ist, nämlich einerseits die Rolle der Pfropfung als Beschreibungsfigur ambivalenter kultureller Integrations- und Übersetzungsprozesse, bei denen die Fremdheit und die Differenz des Übersetzten sichtbar bleibt; andererseits die Rolle der Pfropfung als Beschreibungsfigur für politische Konstellationen, die sich durch dominante Verhältnisse auszeichnen. So spricht Max Weber von »aufgepfropften Gesellschaftsordnungen« (Weber­1988 [1918]: 516) oder beschreibt das Verhältnis der europäischen Kultur zur chinesischen als bloß äußerliches Aufpfropfen einer fremden Denkweise (vgl. Weber 1986 [1920]: 440) – ein Gedanke, der sich übrigens auch bei Betroffenen

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findet, so reflektiert Takeuchi Yoshimi in seinem Vortrag Asien als Methode über die Gefahr, dass die japanische Kultur das westliche Modernitätskonzept nicht als etwas von innen heraus hervorgebrachtes, sondern als bloß äußerlich aufgesetztes Konzept übernommen habe (vgl. Takeuchi 2005: 154). In eine ähnliche Richtung zielt Robert Young, wenn er in seinem Buch Colonial desire. Hybridity in theory, culture, and race den politischen, vor allem auch den begriffspolitischen Implikationen nachspürt, die die Verwendung organischer Metaphern für gesellschaftliche Organisationsformen birgt. Dabei stehen Konzepte der hybridity und des grafting insofern im Zentrum des Interesses, als es in beiden Fällen um das Phänomen »of forcing incompatible entities to grow together (or not)« (Young 1995: 4) geht. An diesem Punkt setzt das Forschungsprojekt ein, das ich zurzeit verfolge und in dem es darum geht, eine Alternative für das Hybriditätsmodell vorzuschlagen, nämlich dass erst die Annahme einer Interferenz zwischen Hybriditätsmodell und Pfropfungsmodell eine adäquate Beschreibung kultureller Übersetzungsprozesse – und damit auch von Situationen des Kulturkontakts – möglich macht. Übersetzung wird dann, wie wir bereits in der eingangs zitierten Passage von Bhabha erfahren hatten, zu einer Trope für die »activity of displacement within the linguistic sign« (Bhabha 1990: 210). Der Begriff des displacements bezeichnet in diesem Zusammenhang nun aber offensichtlich zweierlei: Erstens wird der Begriff des displacement – ähnlich wie bei Derrida – auf die interne Zeichenstruktur von Äußerungen bezogen und von dort aus auf die externen Dynamiken des Zeichengebrauchs projiziert. Zweitens bezeichnet displacement eine Dynamik, die Menschen aus ihren angestammten lebensweltlichen Zusammenhängen herausreißt und auf eine ungewisse Reise schickt. Einem so gefassten Konzept der kulturellen Übersetzung liegt, so möchte ich behaupten, die gleiche Dynamik zugrunde, die Derrida als greffe citationelle bezeichnet: Der »Bruch mit dem Kontext« und die pfropfende Wiedereinschreibung in andere Kontexte finden hier ihr re-entry in Form einer greffe culturelle. In diesem Zusammenhang werden nun aber auch die prekären politischen Implikaturen sichtbar, die das Pfropfungsmodell mit sich führt: Es trägt die Spuren des Herausgerissen-Seins als Zeichen kultureller Differenz in den anderen, fremden Kontext hinein – und wird damit zu einem Begründungsmodell sowohl für die Möglichkeit einer Integration von Menschen und Zeichen als auch für die Mobilisierung von Abstoßungskräften gegen die von außen kommenden ›Fremden‹, die kulturell nicht affin sind. Darüber hinaus impliziert das Pfropfungsmodell eine bestimmte Form der kulturellen Dominanz: Im Kontext kolonialer Konstellationen bringt es eine überlegene Machtposition zum Ausdruck: Es weist

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den Kolonisierten die Rolle einer wilden Unterlage zu, die es durch die quasigärtnerischen Eingriffe der Kolonisatoren zu veredeln gilt. So schreibt Amar Acheraïou in seinem Buch Rethinking Postcolonialismus: »grafting was a crucial component of the Western civilising mission. It contained in germ the idea of transplanting the European spirit onto the stagnant natives in order to regenerate them« (Acheraïou 2008: 33). Das Hybriditätsmodell begegnet dieser dispositiven Machtmetaphorik mit einer Subversionssemantik, wodurch zwischen der Logik der Pfropfung und der Gegenlogik der Hybridität ein Verhältnis gespannter Interferenz entsteht. Besonders deutlich wird dies in Salman Rushdies Roman Satanic Verses: Gleich mehrfach wird in diesem Roman ein chimeran graft erwähnt: Ein Baum, der aufgrund seines Gepfropft-Seins und seines Verpflanzt-WordenSeins zum Symbol eines, wie es heißt, »body eclectic« (Rushdie 1988: 647) in einer »incompatible world« (ebd.: 471) erwächst: »After Otto’s death Alicja […] planted vegetables in what Otto had insisted should be an English floral garden (neat flowerbeds around the central, symbolic tree, a ›chimeran graft‹ of laburnum and broom)« (ebd.: 476). Die hier erwähnte Kopplung von Besenginster und Gold­regen in einem in Indien liegenden englischen Garten, impliziert einen Kulturkontakt der besonderen Art. Bei Rushdie wird die Pfropf-Chimäre zu einer Metapher für ein kulturelles Übersetzungsgeschehen, das als Vorgang des Versetzens und Verpflanzens nicht mehr nur die Sprache allein betrifft, sondern die Rückbindung der Sprache an den Körper, an die gesamte Lebensumwelt – zu der offensichtlich auch die Pflanzenwelt gehört.

3. Verpflanzen als Übersetzen bei S chleiermacher und H erder Vor dem dem Hintergrund dieser Passage möchte ich noch einmal fragen, was es bedeutet, wenn Schleiermacher die Tätigkeit des Übersetzens als »vielfältiges Hineinverpflanzen fremder Gewächse« bezeichnet, durch die »unser Boden reicher und fruchtbarer geworden« ist (Schleiermacher 1973 [1813]: 69). Das Motiv der wechselseitigen Beeinflussung von fremdem Gewächs und einheimischem Boden wird von Schleiermacher interessanterweise nicht im Sinne eines Terroire-Konzepts ins Spiel gebracht, bei dem der Boden durch die Wurzeln in die Pflanze hineinwirkt, sondern umgekehrt: Der Boden wird durch die fremde Pflanze beeinflusst. Dies ist ein Gegenmodell zu jenem Originalitätskonzept, das die europäische Genie-Ästhetik, angeregt durch Edward Young, prominent gemacht hat. In seinen 1759 erschienen Conjectures on Composition – in der deutschen Übersetzung heißt das Buch dann: Gedanken über die Original-Werke – geht

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Young davon aus, dass das Original auf dem Nährboden eines naturgegebenen Ingeniums wurzelt: »An Original may be said to be of a vegetable nature; it rises spontaneously from the vital root of Genius« (Young 1759: 12). Im Gegensatz dazu erscheint der Nachahmer als »transplanter of Laurels, which sometimes die on removal, always languish in a foreign soil« (ebd.: 10). Mit anderen Worten: Der Vorgang des Kopierens und Imitierens wird hier als Verpflanzen in einen anderen Boden beschrieben, wobei es zu einer Schwächung der versetzten Pflanzen kommt. Nun gibt es noch eine dritte Möglichkeit, das problematische Verhältnis von Assimilation und Transplantation zu reformulieren, nämlich im Rekurs auf ein Originalitätskonzept, das sich zwar botanischer Metaphern bedient, ohne aber jener Idee einer homogenen Urwüchsigkeit zu huldigen, die wir gerade bei Young kennen gelernt haben. Diese Möglichkeit formuliert Herder in seinen Fragmenten über die neuere deutsche Literatur aus dem Jahr 1768, wo es – zunächst noch durchaus im Anschluss an Young – heißt: »Jedes Buch ist ein Beet von Blumen und Gewächsen; jede Sprache ein unermäßlicher Garten voll Pflanzen und Bäume« (Herder 1985 [1768]: 552). Kurz darauf zieht Herder dann ein sprachkritisches Resümee ganz eigener Art, wenn er – anders als später Schleiermacher – ziemlich xenophobe Töne anstimmt, wobei er dem Garten-Paradigma treu bleibt: »Welche Revolutionen hat die deutsche Sprache teils in ihrer eigenen Natur, teils durch die Zumischung fremder Sprachen und Denkarten erfahren müssen, daß sich ihr Geist wandelte, wenn gleich ihr Körper derselbe blieb? Wie voll fremder Kolonien insonderheit die gelehrte Sprache ist, die deutsche Tracht, deutsches Bürgerrecht, und deutsche Sitten angenommen haben? Wie viel fremde Äste auf den Stamm unserer Literatur gepfropft sind – wie sie auf demselben wo nicht ausgeartet, so doch verartet, und oft verädelt sind?« (ebd.: 567)

Selbstredend stellt sich hier die Frage, was mit der Formulierung »fremde Kolonien« gemeint ist. Wenn ich es recht sehe, dann wird damit – wir befinden uns ganz zu Beginn des sogenannten Antiqua-Fraktur-Streits – auf die typographische Konvention angespielt, alle Fremdworte in Antiqua zu drucken, während der deutsche Text in Fraktur gehalten ist (vgl. Wehde 2000: 216 ff.).

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Seite aus Herders Fragmenten über die neueste deutsche Literatur (Dritte Sammlung)

Im Zuge dieser typographischen Konvention wird die Differenz zwischen Antiqua und Fraktur zur Chiffre einer ostentativen Nicht-Assimiliertheit. Fremdworte bleiben Fremdkörper im Feld der einheimischen Frakturschrift. Doch wenn die Fremdworte Kolonien sind, die durch eine andersartige typographische Kleider­ordnung (Stichwort Antiqua) als Fremdworte markiert werden, übernehmen dann nicht die in Fraktur geschriebenen deutschen Worte die Systemstelle der ›Eingeborenen‹? Was bedeutet es aber dann, wenn Herder behauptet, die fremden Kolonien hätten »deutsche Tracht, deutsches Bürgerrecht, und deutsche Sitten angenommen«? Wenn mit »deutscher Tracht« das typographische Kleid der Fraktur gemeint ist, dann spielt »deutsches Bürgerrecht« womöglich auf eine Form der einbürgernden Übersetzung an. Das Annehmen des deutschen Bürgerrechts und der deutschen Sitten würden dann eine sprachliche Assimilation der Fremdworte mit Blick auf ›deutsche Grammatik‹ und ›deutsche Typographie‹ implizieren.

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Bemerkenswert erscheint mir dabei jedoch noch ein anderer Umstand, nämlich dass Herder – trotz des etwas mauligen Tons, mit dem er zunächst die deutsche Sprache als zusammengepfropftes Gebilde charakterisiert – in diesem Zusammen-Gepfropft-Sein das »ursprüngliche, eigentümliche« einer Nationalsprache erkennt: Eine Sprache, die »so wie sie ist, nach allen von ihr losgeschnittenen und verpflanzten Ästen, mit allen in sie gepfropften fremden Zweigen, doch als ein selbstgewachsener Stamm dasteht, verletzt, aber doch nicht zerstückt von rohen Händen« (Herder 1985 [1768]: 571). Insofern die Sprache als Nationalsprache um 1800 – dann aber auch im ganzen 19. Jahrhundert – den maßgeblichen Orientierungspunkt für das bildet, was eingangs als »original national identity« (Ben-Sasson 2007: 605) bezeichnet wurde, entpuppt sich Herder in dieser Passage als Vordenker einer Vorstellung von Nationalsprache, bei der Ursprünglichkeit und Zusammen-Gepfropft-Sein interferieren. Die auf heimatlichem Boden wachsende Nationalsprache erweist sich als zusammengesetzte Einheit, nämlich als zusammengepfropfter Baum, der merkwürdig unfest und unfertig ist und bleibt. Die Nationalsprache ist dabei nicht nur ein Original in Bewegung, das transformiert wird, insofern man ihm fremde Zweige aufpfropft; dieses Original transformiert auch andere Originale, da es selbst potentieller Spender von Ästen und Zweigen für andere Sprachbäume ist.

4. S chluss Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen möchte ich abschließend die Behauptung zur Diskussion stellen, dass die Pfropfung ein unverzichtbarer Bestandteil für ein Modell von Kultur und von kultureller Übersetzung wird, das nationale Identität und Originalität nicht mehr im Paradigma einer homogenen Reinheit denken will, sondern als Form eines stets unfertigen ZusammengesetztSeins. Dieses Zusammengesetzt-Sein ist, so denke ich, nicht nur als hybride Mischung, sondern immer auch als gepfropfte Verbindung respektive Verwachsung zu fassen. Eine derartige Neu-Konzeptionalisierung des Problemfelds kulturelle Übersetzung, die im Spannungsfeld von Hybridität und Pfropfung steht, hat zwei Konsequenzen, die zugespitzt formuliert so lauten: Erstens wird der gepfropfte Baum zu einem Modell für Originale in Bewegung. Zweitens ist die Pfropfung zugleich ein Modell für den Prozess kultureller Übersetzung, im Sinne einer Versetzung von Sprachzweigen. In eben diesem Sinne möchte ich auch einen Gedanken des analytischen Sprachphilosophen Norman Quine deuten, der an zwei prominenten Stellen seines Hauptwerks Wort und Gegenstand (1960) ein eminent botanisches Register zieht. Das erste Mal, wenn er am Beginn seiner Untersuchung schreibt:

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»Menschen, die mit derselben Sprache aufwachsen, sind wie Büsche, die man so zurechtstutzt und formt, daß sie alle die gleiche Gestalt eines Elefanten annehmen. Wie sich die anatomischen Einzelheiten der Zweige und Äste zur Elefantenform fügen, ist von Busch zu Busch jeweils verschieden, aber das äußere Ergebnis ist bei allen in etwa das gleiche« (Quine 1980 [1960]: 30).

Interessant finde ich hier die merkwürdige Interferenz zwischen einer natürlichen Verwurzelung der Sprache auf der einen und der kulturellen Überformung durch gärtnerische Interventionen auf der anderen Seite. Hatten wir es bei Rushdie mit einem englischen Garten in Indien zu tun, so wartet Quine mit einem rabiaten französischen Gärtner auf, der die Flora so lange zurechtstutzt, bis sie selbst für die Darstellung der Fauna in Dienst genommen werden kann: einer kolonialen Fauna, wohlgemerkt. In der zweiten Stelle geht es explizit um ein Problem kultureller Übersetzung, genauer gesagt um eine Situation des Kulturkontakts, in der man die Sprache der anderen noch überhaupt nicht versteht. Um den fremden Lauten eine Bedeutung zuzuweisen, bedarf es, so Quine, einer »radikalen Interpretation«, die mit dem Aufstellen analytischer Hypothesen über die mögliche Bedeutung der unverständlichen Sprachäußerungen beginnt. »Die Methode der analytischen Hypothesen ist ein Verfahren, sich unter Ausnutzung der Schwungkraft der Heimatsprache in die Dschungelsprache zu katapultieren. Sie ist das Verfahren, exotische Schößlinge so lange auf einen alten wohlvertrauten Baum zu pfropfen [...] bis nur noch das Exotische sichtbar ist« (ebd.: 133).

Ich frage mich, ob und wie man dieses auf den ersten Blick recht sonderbare Bild auf die Übersetzungstheorien von Schleiermacher, Herder und Benjamin beziehen kann – ist der »wohlvertraute Baum« bei Quine womöglich in funktionaler Analogie zu jenem »selbstgewachsenen Stamm« Herders zu sehen, auf den man allerhand »fremde Zweige« gepfropft hat? Wenn dem so wäre – was bedeutet dann dieses Gedicht von Tawada Yōko, das ihrem Band Abenteuer der deutschen Grammatik entstammt:

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Übersetzung des Gedichts »Die Flucht des Mondes« aus Tawada, Abenteuer der deutschen Grammatik, S. 41.

Ein Gedicht, das, wie sie in einer Anmerkung schreibt, die Transkription der Übersetzung ihres Gedichts »Die Flucht des Mondes« ist – geschrieben nach der gleichen Methode, wie man im Japanischen chinesische Ideogramme und phonetische Lautschrift kombiniert. »Um Japanisch zu schreiben, muss man die Bedeutungsstämme mit chinesischen Ideogrammen schreiben und alles andere (Hände und Füße der Wörter) mit einer phonetischen Schrift. Das Gedicht zeigt, dass man mit dieser Mischmethode auch Deutsch schreiben kann« (Tawada 2000: 41).

Die fremden Kolonien sind hier nicht mehr die in Antiqua gesetzten Fremdworte, die aus der Fraktur der ›einheimischen Worte‹ hervorstechen. Die Fremden Kolonien sind nun chinesische Ideogramme, die nach der Japanischen Methode der

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Indienstnahme fremder Schriftzeichen mit der deutschen Lautschrift verbunden werden. Dies ist eine konzeptionelle und körperliche Form der Transplantation von Schriftzeichen, um diese in eine abenteuerliche grammatische Situation zu bringen: die Situation eines Schrift-Kultur-Kontakts: chinesische Wort-Stämme in ein deutsches Beet gepflanzt von einer japanischen Sprachgärtnerin

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»Die weiße Sprache des Austauschs« Zu Michel Serres’ Interpretation von Katsura Rikyū Walter Ruprechter

1. K atsura R ikyū Seit Bruno Taut in den 1930er Jahren die Kaiservilla Katsura Rikyū bei Kyoto in höchsten Tönen gepriesen hat, haben sich viele Architekten und Intellektuelle in Japan und im Ausland mit dem Phänomen Katsura beschäftigt (Taut 2003; Isozaki 2008). Durch eine lange Tradition literarisch-essayistischer und fotografisch-künstlerischer Interpretationen ist Katsura zu einem Mythos geworden, der jede wissenschaftliche Analyse der Anlage überstrahlt und immer weiter genährt zu werden scheint. Eine der eigenartigsten Interpretationen der Anlage findet sich in Michel Serres’ Buch Atlas (1994), wo Katsura weniger als Beispiel einer außergewöhnlichen architektonischen Raumgestaltung gewürdigt, als vielmehr als Modell für den Zwischenraum, der sich in der Begegnung von Kulturen öffnet, imaginiert wird. Auch in früheren Auseinandersetzungen kam Katsura eine interkulturelle Vermittlerfunktion zu, insofern dem Gebäude aus dem 17. Jahrhundert Merkmale der Moderne attestiert wurden, und zwar der westlichen Moderne, wie sie sich am Beginn des 20. Jahrhunderts in der Architektur herauszukristallisieren begann und am Bauhaus in Dessau ihre gültige Formulierung fand. »Ist das nicht total modern?« (Taut 1997: 272) fragte schon Bruno Taut rhetorisch am Eingangstor zur Anlage. Die Projektion westlicher Attribute (der Funktionalität und Schlichtheit) auf ein traditionelles japanisches Objekt formt eben dieses zu einem Vermittler zwischen den Kulturen. An ihm vollzieht sich ein Austausch, der für die weitere Entwicklung der Architektur in beiden Kulturen Folgen hatte – übrigens nicht nur für die Architektur, sondern auch für die Politik in Japan, doch das ist ein anderes Thema, wie auch die Tatsache, dass die Projektion vielleicht nur ein Missverständnis war, allerdings ein fruchtbares. Bei Michel Serres ist Katsura dagegen in einer anderen Kulturkontaktzone angesiedelt. In seiner charakteristischen Wissenschaftspoesie des Atlas beschreibt er die Interferenz von lokalen und globalen Räumen auf der Basis von persönlichen Erfahrungen und mit eindringlichen Bildern. Eines dieser Bilder ist das eines mutigen Schwimmers, der einen breiten Fluss oder eine Meerenge durchschwimmt und dabei im gleichen Abstand von beiden Ufern einen »breiten neutralen, weißen Streifen« durchquert,

50 Walter Ruprechter »in dem er weder das eine noch das andere oder vielleicht bereits das eine und das andere zugleich ist. In einem Zustand der Unruhe, des Schwebens, des labilen Gleichgewichts bemerkt er einen unerforschten Raum, der auf keiner Karte verzeichnet ist und den weder der Atlas noch ein Reisender jemals beschrieben hat« (Serres 2005: 22).

Das Bild vom Schwimmer besagt, dass man eine neutrale Zone durchqueren muss, wenn man die beiden Ufer verbinden will, bzw. dass man zwei Ufer nur mit dem Abstand dazwischen bezeichnen kann. Für Ufer kann man Kulturen einsetzen. Der Kontakt zwischen Kulturen läuft über etwas Drittes, das weder zur einen noch zur anderen Kultur gehört oder bereits beide enthält. Um diesen »unerforschten Raum« zu charakterisieren, der sich zwischen den Kulturen im Moment ihres Kontaktes öffnet, hat Serres noch andere Bilder und Modelle gesucht. »Ich suche nach Tauschoperatoren, nach Universalwerkzeugen, die durch ihre Konstruktion und Form für einen Übergang sorgen und eine Transformation ermöglichen, und hier haben wir den échangeur, den Austauscher, Wechsler, Verkehrsknotenpunkt [...]« (ebd.: 30)

Als Beispiele dafür nennt Serres die Waage, deren Bewegungen zu »weißer Bewegungslosigkeit« in der Waagachse tendieren. Oder das Autobahnkreuz, französisch: échangeur, das »selbst gar keine Richtung, gar keinen Sinn [...] oder jegliche Richtung und jeglichen Sinn [birgt]« (ebd.: 25). Waage oder Autobahnkreuz versinnbildlichen Relaisstationen, die den Austausch ermöglichen, selbst aber neutral sind, d. h. alle Bewegungen und alle Richtungen auf einen Nullpunkt hin ausgleichen. Serres’ Suche nach Bildern und Modellen sollen seine Erfahrungen als Seefahrer und Weltreisender, als Reisender in und zwischen vielen Kulturen erhellen. Denn seine Erfahrung ist die, dass Kulturen in den Kontaktzonen des Austauschs sich gegenseitig erhellen. Als Beispiel zieht Serres seine Erfahrungen in Japan heran. »Ich bewundere die Farbenvielfalt des japanischen Frühlings, weil ich eine ähnliche, nicht ganz so reiche Farbenpracht in meiner Kindheit erlebt habe, und ich verstehe die sanfte Schönheit des Tales, in dem ich geboren bin, weil ich den japanischen Frühling liebe« (ebd.: 26). »Erstaunlich! Die prachtvollen Kimonos, die einen androgynen Körper mit weiß geschminktem Gesicht vielfach umhüllten, vermittelten mir einst eine so heftige sinnliche Freude und eine so unvermittelte Erhebung meiner Seele, dass ich ganz unerwartet und plötzlich die Prachtentfaltung der katholischen Liturgie verstand, die mir in meiner Kindheit so kompliziert erschienen war« (ebd.: 24).

»Die weiße Sprache des Austauschs«

Hier findet ein Kulturaustausch auf der Ebene persönlicher Erfahrungen statt, wobei sich Elemente zweier Kulturen gegenseitig erhellen: der japanische den aquitanischen Frühling und der Kimono das Messgewand. Serres fragt nun nach dem Ort, an dem dieser Austausch erfolgt, ein Austausch, der etwas ungenau als »Phasenwechsel, Mischung, Legierung, Kreuzung« (ebd.: 27) bezeichnet wird. Und dieser Ort wird attributreich als »unsichtbares, virtuelles Universum«, als »unermessliche transparente Welt« bezeichnet, als »leerer Raum« und »leeres Volumen«, als »dritter Ort der Utopie« usw. Da Serres seine Überlegungen zum Kulturaustausch an französisch-japanischen Beispielen erörtert, ist es nicht verwunderlich, dass er den im Japandiskurs wohlbekannten Topos der »Leere« bemüht, um jene Durchgangsstelle zu bezeichnen, die weder zur einen noch zur anderen bzw. sowohl zur einen als auch zur anderen Kultur gehört. Es ist aber wohl erstaunlich, dass Serres diesen leeren Raum, dieses leere Volumen, nicht nur theoretisch postuliert, sondern behauptet, diesen Raum empirisch erfahren, also wirklich betreten zu haben. Und zwar beim Besuch von Katsura Rikyū: »Welch ein Wunder! Ich habe diesen Ort gefunden. Besuchen wir ihn gemeinsam, bevor wir in ihrer musikalischen Stille die weiße Sprache des Austauschs hören« (ebd.: 28). Und dann beschreibt er die Anlage in einer Weise, die über Tauts Eloge noch weit hinausgeht. Hatte dieser vor allem die Reinheit und Schlichtheit der Formen und die Aufhebung von hierarchischen Verhältnissen zwischen Gebäuden und ihrer Verteilung in der Gartenanlage gepriesen und darin ein Modell für eine demokratische Gesellschaft gesehen, so sieht Serres in Katsura eine noch weiter reichende Aufhebung von westlichen Klassifizierungskategorien am Werk: Außen und Innen, Offen und Geschlossen, Haus und Garten, Architektur und Natur sowie andere Künste, Lebendiges und Totes, nichts ist in dieser Anlage gegeneinander abgegrenzt, alles verschmilzt oder geht ineinander über. »Die auf unmerkliche Weise behauenen toten Steine einer möglichen Bebauung sind über den Garten verstreut, in dem sämtliche Häuser aus lebendigem Holz gebaut sind. Die Wohnhäuser schaffen keine Trennung zwischen außen und innen, der Park trennt nicht zwischen Pflanzen und Baulichkeiten [...]. Das architektonische Konzept verschwindet und löst sich auf in der Natur, deren Konzept mit der Architektur verschmilzt. So wenig abgegrenzt wie das Zimmer selbst, zeichnet das Fenster keine leere Fläche ins Volle und kein Loch in dichte Materie, ist weder offen noch geschlossen. In geschlossenem Zustand wird es zur Wand und verschwindet, in geöffnetem wird es zur Landschaft und verschwindet gleichfalls. Tausend Fenster nehmen ihren Ausgang von einem kontinuierlichen Spektrum des Geschlossenen oder Offenen, einer unscharfen Menge mit gleitenden Übergängen.

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52 Walter Ruprechter Dank eines solchen Kontinuums unterscheidet sich das Außen nicht vom Innen, nichts grenzt sich ab oder untergliedert sich, weder die Kunst in Bereiche noch die Dinge in Elemente. Mansart und Le Nôtre, Gartenarchitekt und Baumeister, rivalisieren nicht miteinander, stehen einander nicht gegenüber wie unterschiedliche Arten aus dem Tierreich oder der Welt der scholastischen Unterteilungen. Das Haus verschmilzt mit dem Garten, der Park mit der Wohnung – zwei Orte, an denen man Ruhe findet. Die Architektur löst sich auf im Fluss der vermischten Künste. Wenn ich das Haus durch die Gartentür betrete, wohne ich auch dann noch darin, wenn ich wieder über die Schwelle hinausgetreten bin. Der Gartenarchitekt dort lehrt mich die Bedeutung des Wortes ›Tür‹ hier« (ebd.: 28 f.).

Die Bedeutung des Wortes »›Tür‹ hier« hat schon Georg Simmel gelehrt, nämlich als ein Symbol für das Trennende, Geschlossene, das freilich geöffnet werden muss. (Simmel 2001) In Katsura gibt es in diesem Sinne keine Türen, genauso wenig wie Fenster, da diese in geschlossenem Zustand zur Wand werden und verschwinden und im geöffneten zur Landschaft und ebenfalls verschwinden, wie Serres schreibt. Serres hat in Katsura auch eine Verschiebung im Zeichen- und Symbolsystem bemerkt, die ihn, gleich wie Roland Barthes in Japan, in eine Situation versetzt hat, in der, wie dieser geschrieben hat, »eine gewisse Zerrüttung der Person eintritt, eine Umwälzung der alten Lektüren, eine Erschütterung des Sinns, der zerrissen und bis zur unersetzlichen Leere erschöpft wird, ohne daß freilich das Objekt jemals aufhörte, bedeutsam und begehrenswert zu sein« (Barthes 1981 [1970]: 16). In dieser Situation, die von Barthes als Satori, also als Erleuchtung, bezeichnet wird, erfährt er die oft beschworene Leere (ebd.: 16). Auch Serres’ Katsura-Erlebnis mag man als eine solche Erleuchtung bezeichnen, wobei er das »leere Volumen« durchquert und die Dinge mit üblichen Bezeichnungspraktiken nicht mehr fassen kann: »Hier ist nichts Symbol, Bedeutung oder Zeichen von anderen und für anderes, weil die Objekte ebenso wie die Begriffe ins Universelle der Nuance getaucht sind, und da nichts sich, von beidem getrennt, auf anderes bezieht, verliere ich meine gewohnten Denkinstrumente [...]« (Serres 2005: 29).

Doch dies wird positiv vermerkt, da diese Erfahrung ihn »von der erdrückenden Pflicht des Bezeichnens [befreit]« (ebd.: 29). In Katsura vernimmt Serres also die »weiße Sprache des Austauschs«, wie er schreibt. »Weiß« erscheint bei Serres als Attribut all jener Gegenstände und Begriffe, die jenen neutralen Durchgangsraum charakterisieren sollen, der bei Übersetzung, Übergang und Austausch der Kulturen durchquert werden muss. Die »weiße Bewegungslosigkeit« (ebd.: 30) der Waage, die »weiße Achse« und

»Die weiße Sprache des Austauschs«

der »weiße Garten« der Katsura-Villa (ebd.: 32), der »weiße Streifen in der Achse des Wassers« (ebd.: 25) oder die »weiße Gerechtigkeit« (ebd.: 33) der Weltkarte. Es bezeichnet jenen »Zwischenraum«, um den sich die Unterschiede der Welt drehen: »Und da all diese Unterschiede ihre jeweilige Färbung in diesem unterschiedslosen Zentrum vereinen, durch das wir alle hindurch müssen, um zu allen anderen zu gelangen, addieren sich die Farben zu einem transparenten Weiß, denn das Weiß enthält als Summe und Realität alle Farben des Regenbogens. Diese Weißglut macht es unsichtbar« (ebd.: 22).

Die Charakterisierung Katsuras als »leeres Volumen« und als »weißer Garten« bei Serres folgt gerade im Zusammendenken des Leeren und Weißen einem Muster der Fremd- wie auch Selbstbeschreibung der japanischen Kultur. Als Beispiel möchte ich Hara Kenya anführen, der die vielfältigen Beziehungen zwischen der Leere und dem Weiß in der japanischen Kultur untersucht hat (Hara 2010). Wie eng diese sind, zeigt sich schon darin, dass das Wort kūhaku (空白), das leerer Raum, leere Stelle bedeutet, mit den Zeichen für Leere (空) und Weiß (白) geschrieben wird. Oder ein anderes Beispiel: Ein Shintō-Schrein ist ein leerer Raum, der mit dem Wort yashiro (屋代) bezeichnet wird, wobei »shiro« ein Homonym zu »Weiß« bildet (ebd.: 46). Und dieser »Leerraum« wird auch als »Raum unermesslicher Möglichkeiten« gesehen, genauso also, wie Serres die Attribute »leer« und »weiß« besetzt. Hara schreibt: »Manchmal verwenden wir Weiß in der Bedeutung Leere. Weiß als Nichtfarbe wird dann zum Sinnbild für das Nicht-Sein. Es kommt allerdings häufig vor, dass sich diese Leere nicht als Nichts oder als Fehlen von Energie zeigt, sondern vielmehr als Möglichkeit des Noch-nicht-Seins, kizen, also als etwas, was erst noch mit Inhalt gefüllt werden muss. Unter dieser Voraussetzung kann die Verwendung von Weiß eine ungeheuer kraftvolle Energie im Hinblick auf die Kommunikation freisetzen. [...] Weiß ist sehr eng mit dieser kommunikativen Kraft des leeren Raums beziehungsweise der Leere verbunden« (ebd.: 42).

In Haras Beispielen wird Weiß zuweilen eine ähnliche Funktion zugeschrieben wie bei Serres. Zwar beziehen sich viele Beispiele für die Bedeutung von Weiß auf konkrete Dinge wie Papier, Wasserfälle oder Steingärten, meinen also wohl die Farbe Weiß, doch andererseits führt er als Beispiel auch eine Empfehlung Yoshida Kenkōs aus dem Tsurezuregusa an, beim Bogenschießen nur einen Pfeil in der Hand zu halten. Warum? »In der uneingeschränkten Konzentration­, die Zielscheibe nur mit einem einzigen Pfeil ins Visier zu nehmen, finden wir

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Weiß« (ebd.: 78). Hier ist Weiß keine Farbe, sondern eine Metapher für den Durchgangs- und Ermöglichungsraum, den auch Serres ins Visier genommen hat.

2. K ultureller Zwischenraum Über den Raum zwischen den Kulturen, also einen kulturellen Zwischenraum, ist schon viel diskutiert und geschrieben worden. Dieser Zwischenraum ist von verschiedenen Seiten her konzipiert worden, etwa als »third space«, »liminal space« oder »in-between-space« bei Homi Bhabha, als »contact zone« bei Mary Louise Pratt, als »Zwischenbereich« bei Michel de Certeau, als »frontier« bei Frederik Jackson Turner, als »Schwellenphase« bei Van Gennep, aber auch in der Metapher der Brücke bei Simmel und Heidegger, des Treppenhauses bei Homi Bhabha und – kann man hier ergänzen – als Kaiservilla bei Serres. Uwe Wirth hat ihn in Zwischenräumliche Bewegungspraktiken (Wirth 2012: 11 ff.) diskutiert. Er führt dabei mehrere Positionen an, die alle einen Übergangsraum zwischen zwei Bereichen konzipieren und in manchem dem Konzept von Serres gleichen. Die von Arnold van Gennep in Übergangsriten beobachtete »Schwellenphase«, bei der man im Übergang durch eine »neutrale Zone« »zwischen zwei Welten schwebt«, gleicht etwa der Situation des Schwimmers bei Serres. Und von den verschiedenen Repräsentationsformen des Zwischenraums benutzt Serres ebenfalls ein architektonisches Beispiel, eben die Villa Katsura Rikyū. Die Frage, die sich dabei stellt, ist, wie dieses Dazwischen im Austausch und Übergang von Kulturen zu denken ist. Viele der angeführten Beispiele einschließlich Serres’ legen räumliche Vorstellungen nahe, einen Zwischenraum, eine Zone, doch Austausch und Übergang sind Prozesse, deren Kontaktmomente auch zeitlich gefasst werden müssten. Es ist daher fraglich, ob die Raum- oder Gebäudemetaphern der Dynamik von Kulturaustausch-Phänomenen überhaupt angemessen sind. Sind Brücken, Treppen, Gebäude oder Türen nicht zu statisch, um Austauschprozesse zwischen Kulturen, die selbst in Bewegung sind, zu beschreiben?1 Serres weicht diese Statik dadurch auf, dass er die Katsura Villa lediglich als ein Glied einer Vergleichs- und Metaphernkette behandelt, mit der er seine zwischenkulturelle Erfahrung zu erfassen sucht. Es geht ihm nicht um ein wissenschaftliches Modell, sondern um Bilderreihen, welche die Dynamik von 1 | Wie Tawada Yōko einmal bemerkte: »Es gab Zeiten, in denen man Brücke als Metapher für eine gelungene Kulturvermittlung benutzte. Heute kann man die Kulturen nicht mehr als feste Ufer verstehen, und daher kann man sie nicht mehr durch ein unbewegliches Bauwerk miteinander verbinden« (Tawada 2013).

»Die weiße Sprache des Austauschs«

Austauschprozessen um einen Nullpunkt herum versinnbildlichen. Auch Uwe Wirth hat sich mit dem Paradox von statischen Architekturmetaphern und dynamischen Austauschprozessen beschäftigt und schlägt einen »Grenz-ZwischenRaum« vor, wobei »der Begriff Zwischenraum [...] hierbei in zwei Bedeutungen verwendet [wird]: zum einen als abstrakter Raum, als Sphäre der Überblendung von verschiedenen kulturell codierten Lebensweisen und Weltanschauungen; zum anderen als konkreter Ort der Begegnung [...]« (Wirth 2012: 12).

Der Grenz-Raum soll ein zweideutiger, ambivalenter Raum sein (ebd.: 10), der nicht mehr physikalisch räumlich zu denken wäre, sondern in der Potenzialität von Grenzziehungen im Übergang zwischen Kulturen aufgehoben erscheint. Es soll ein Raum sein, der durchquert werden muss, wobei Wege nicht vorgezeichnet sind, sondern erst entstehen, indem man sie beschreitet. Auch Michel Serres hat davon gesprochen, dass man durch solche potentiellen Räume hindurch muss, wobei nicht Wege, sondern »Umwege« und »schräge Durchquerungen« beschritten werden müssen: »Es führt kein direkter Weg von Frühling (in Japan) zu Frühling (in Frankreich), von einem Pflaumenbaum zu einem gepfropften Pflaumenbaum, mit demselben Farbspektrum. Übergang oder Austausch müssen dann nach Umwegen oder paradoxen Verbindungen suchen, nach Korridoren, deren schräge Durchquerung nicht immer der exakten Identität der Dinge folgt. Da wir für den Vergleich keine Parallele finden, weil es solch eine Parallele nicht gibt, versuchen wir es mit der Kreuzung von Unvergleichbarem. Dann erhellt das Selbe das Andere oder Fernes das Nahe [...]« (Serres 2005: 23).

Da Kulturen nicht als kategorial gleichartig angenommen werden können, gibt es keine transversalen Verbindungen zwischen ihnen. Der Übergang zwischen den Kulturen, die Verbindung des Nahen mit dem Fernen, des Selben mit dem Anderen, erfordert vielmehr eine »List«: »Die List verlangt einen Umweg, eine Krümmung, eine Abweichung, die zunächst verwirrend erscheinen, weil Profanes und Heiliges sich hier überschneiden, doch deren tiefer liegende Wahrheit in Wahrheit niemals vergeht. Dort lassen Abstände und Unterschiede sich exakt messen, und zugleich zeichnet sich ein Weg ab, der sie verbindet, wenn auch gelegentlich auf Umwegen [...]« (ebd.: 26).

In ähnlicher Weise wie Serres hat auch der Sinologe François Jullien die Frage nach dem Übergang zwischen den Kulturen gestellt. Auch er setzt eine grund-

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sätzliche Asymmetrie von Kulturen und die Unmöglichkeit, durch einfache Äquivalente Brücken zwischen ihnen zu schlagen, voraus: »Wenn man nicht mehr in vereinfachender Weise glauben kann, dass es zwischen den Kulturen eine prinzipielle Korrespondenz gibt, wie soll man dann den ›Übergang‹ zwischen ihnen bewerkstelligen?« (Jullien 2009: 108)

Seine Antwort: Da man nicht auf Invarianten zwischen den Kulturen zählen kann, muss man solche herstellen, indem man Äquivalente in der anderen Kultur sucht. Und da solche Äquivalente nicht direkt sein können, muss man den Äquivalenzbegriff überarbeiten, »indem man ihn nicht so sehr analog und auf Ähnlichkeit und Überschneidung gegründet fasst, sondern funktional« (ebd.: 109) Das heißt, dass man seine Vorstellungen im Tauschakt so weit transformiert und anpasst, »bis sie [...] auf eine Problematik existenzieller Ordnung trifft, welche die gleiche Rolle spielt und sie zumindest in bestimmter Hinsicht ersetzen kann« (ebd.: 109). Es wird also ein ähnlicher Prozess der »Kreuzung von Unvergleichbarem«, der Überarbeitung von Kategorien im Akt des Austausches und der Übersetzung angenommen und dabei ebenso wie bei Serres eine Durchgangszone postuliert: »Zu übersetzen, und vor allem zwischen zwei Sprachen und Kulturen, die sich nicht kennen, versetzt uns in jene abenteuerliche und verstummende Zone [Hervorh. von W. R.], in der das, was wir als Evidenz unseres Denkens mitbringen, sich plötzlich im Spiegel des anderen als in einem Netz von fremden Entscheidungsmöglichkeiten gefangen erweist [...]« (ebd.: 108).

Aber wie ist diese Zone zu denken, da Jullien andererseits betont, dass wir keinen äußeren Standpunkt haben, der es ermöglicht, gleichzeitig beide Sprachen oder Kulturen zu beobachten? »Man ist in der einen Sprache oder in der anderen – es gibt ebenso wenig eine Hinter-Sprache wie eine Hinter-Welt. [...] [E]s gibt kein medium, auf das man hoffen könnte, anders gesagt, so etwas wie eine ›Zwischensprache‹, ein ›Zwischendenken‹« (ebd.: 108).

Zeigt sich hier nicht ein Widerspruch? Einerseits wird eine Zone des Übergangs postuliert, andererseits wird betont, dass man sich immer schon entweder im einen oder im anderen befindet. Nach welcher Logik lässt sich ein solcher Widerspruch auflösen? Wirth postuliert, die Logik des Entweder-Oder, die das Denken der Grenze bestimmt, in eine Logik des Sowohl-als-Auch, das dem Denken des Grenz-Zwischenraums entspricht, zu überführen:

»Die weiße Sprache des Austauschs«

»In diesem Sowohl-als-auch scheint das Konzept eines Grenz-Zwischenraums durch, das dem Konzept der frontier analog ist: ein Raum zwischen den Grenzen, in dem die Frage des Hüben und Drüben ebenso wenig entschieden ist wie die Frage nach den Verbindungs- und Übergangsmöglichkeiten [...]« (Wirth 2012: 15).

Serres’ und Julliens Überlegungen zum Austausch zwischen Kulturen beziehen sich auf ihre Erfahrungen in Japan und in China. Könnten Beispiele aus diesen Kulturen geeignet sein, die Paradoxien einer zwischenkulturellen Zone weiter zu erhellen? Gerade in diesen Kulturen ist die Logik des Sowohl-als-Auch nichts Unvertrautes und findet auch in alltäglichen Konzepten Ausdruck.

3. D ie D enkfigur

des

» ma«

Als Beispiel dafür kann gerade auch jener Ausdruck genannt werden, der in Japan für Zwischenraum oder das Dazwischen gebraucht wird und mit den genannten Beispielen in enger Beziehung steht. Es handelt sich dabei um das Zeichen 間, das als »ma«, »aida«, »kan« oder »ken« gelesen werden kann und nach dem Lexikon soviel wie »Zwischenraum«, »Lücke«, »dazwischen«, und zwar sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht, bedeutet. Doch als philosophischer Begriff übersteigt das Zeichen die lokale bzw. temporale Bedeutung bei weitem und ist sowohl in buddhistischen wie in ästhetischen Konzepten eine zentrale Denkfigur. So z. B. auch in der Ethik Watsuji Tetsurōs mit dem Zentralbegriff »aidagara«(間柄), der das unaufhebbare In-Beziehung-Sein der Menschen hervorhebt, mithin den Fokus auf ihre Zwischenmenschlichkeit vor jeder menschlichen Autonomie und Selbstbestimmung richtet (Watsuji 2006). Schon im japanischen Begriff des Menschen (人間ningen) ist sein Status im Dazwischen durch die chinesischen Zeichen angezeigt: Er setzt sich aus dem Zeichen für Person (人) und dem für dazwischen (間) zusammen. In der Interpretation des französischen Japanologen Augustin Berque ist »ma« ein leerer Raum (»empty space«, »free space«),2 der vom Zwang der Bezeichnung frei ist und gerade deshalb als Feld voller Kommunikation und als Raum der Intersubjektivität bezeichnet werden kann, wie er schreibt (Berque 1997: 89). Er ist der bedeutungsgeladene Raum, in dem der sensus communis das Selbst mit dem Anderen in Abwesenheit jeder Form vereint (ebd.: 89).3 2 | Auch Günter Nitschke bezeichnet »ma« als »place, space, void« (Nitschke 1993: 49). 3 | »A spacing charged with meaning in which the sensus communis unites Self an Other in the absence of any form« (Berque 1997: 89). Von der Befreiung vom Zwang des Bezeichnens durch die japanische Symbolpraxis sprechen auch Barthes und Serres, siehe oben.

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Diese Bestimmung von »ma« durch Berque lässt sich sowohl mit Serres’ Interpretation von Katsura als auch mit Haras Vorstellung von Weiß als Zeichen für Leere in Zusammenhang bringen. Hara sieht im Teeraum jenen Ort, wo Leere als Bedingung der Möglichkeit von Fülle erscheint, wobei sich Fülle auf Wahrnehmung, Bedeutung und Kommunikation bezieht. »Ma« wird somit als eine Zone des Übergangs, der Vermittlung von kommunikativen Akten zwischen heterogenen Positionen bezeichnet. Die Vermittlung fremdkultureller heterogener Elemente und deren Transformation wird aber auch als ein Grundzug der japanischen Kultur selbst beschrieben. »Ma« kann somit auch als jene Leerstelle angesehen werden, die den Austausch im Sinne von Serres’ »échangeur« regelt. Da sie selbst leer, neutral, ist, wird sie zugleich zum Ermöglichungsraum von Beziehungen zwischen ambivalent und offen gehaltenen Positionen. Daraus ergibt sich jenes kulturelle Muster in Japan, dessen charakteristisches Merkmal es ist, dass Phänomene nebeneinander existieren können, die im Westen als unverträglich oder einander ausschließend betrachtet würden, wie der Japanologe Peter Pörtner schreibt (Pörtner 1987: 655). Die Frage wäre dann, ob es das Konzept von »ma« ist, das diesem oft bewunderten, aber auch oft kritisierten Sachverhalt zugrunde liegt.4 In Bezug auf eine nicht zu sättigende Leerstelle stellt sich Kultur selbst als ein Apparat von permanenten Austauschprozessen dar, die heterogene Elemente nicht vereinheitlicht und homogenisiert, sondern in variablen Figurationen miteinander in Spannung versetzt. Dieser intrakulturelle Prozess, wie er in Japan beobachtet werden kann, lässt sich aber auch interkulturell verstehen. Michel Serres’ Idee von einem Zwischenraum als leerem, neutralem Raum wird gerade dafür in Anspruch genommen. Denn dieser Raum, den er in Katsura metaphorisch betreten hat, ist auch ein Raum, in dem die »Unterschiede der Welt« aufhoben sind, wie er sagt, und der daher nicht nur ein Begegnungsraum »zwischen Nah und Fern«, »zwischen Japan hier und Frankreich dort« ist, sondern »am Schnittpunkt aller Kulturen« (Serres 2005: 26). 4 | Während Pörtner in der Koexistenz heterogener Ideen die »uniqueness« der japanischen Kultur bewundert (Pörtner 1987: 650), sieht Maruyama Masao darin nur ein »unproduktives Nebeneinander«, das auf einen Mangel an wirklicher Aneignung der Ideen verweist. »Das Neue, ja sogar das eigentlich Heterogene wird ohne genügende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit übernommen und gewinnt deshalb so unglaublich rasch die Oberhand«. »Der Gedanke, mit dessen Hilfe man häufig die Verbindung heterogener Ideen zu rationalisieren versucht, ist bekanntlich eine vulgarisierende Adaption der buddhistischen Philosophie mit ihrem ›A ist B‹ oder ›A und B sind eins‹« (Maruyama 1988: 26).

»Die weiße Sprache des Austauschs«

Diesen Raum mit dem Begriff »ma« in Verbindung zu bringen, scheint also nicht nur deshalb plausibel zu sein, weil es sich im Falle Katsuras ja um japanische Architektur handelt, deren räumlichen Gestaltungsprinzipien ohnehin »ma« zugrunde liegt, sondern weil »ma« darüber hinaus einen Ermöglichungsraum bezeichnet mit der Potenz, ausschließende Unterscheidungen wie die von Eigen und Fremd zugunsten von Kategorien der Gegenseitigkeit und des Miteinander aufzuheben.

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Kulturkontakt kulturpoetisch gesehen. Am Beispiel von Kraftklubs Zu jung Moritz Baßler

Als ich im Jahre 2005 zum ersten Mal nach Japan kam, hatte ich die Gelegenheit, mit japanischen Kollegen in Fukuoka zum Karaoke zu gehen. Es gab eine große Auswahl an Titeln internationaler, englischsprachiger Popmusik, aus der wir uns zunächst bedienten. Im Laufe des Abends wählten die Kollegen jedoch zunehmend auch Titel aus dem japanischen Pop. Auf dem Bildschirm sah ich, während sie sangen, den springenden Punkt die für mich unlesbaren Schriftzeichen entlanghüpfen, zwischen denen dann und wann in lateinischer Schrift ein paar englische Wörter auftauchten – baby baby oder Ähnliches. Ich freute mich dann immer auf den Moment, wo die Sänger an diese Stelle kamen, der Effekt war ein unglaublich komischer.

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I Der hybride Text, den Tawada Yōko und andere Autorinnen und Autoren künstlich als E-Literatur des Kulturkontakts herstellen,1 ist längst die popkulturelle Realität und Norm. Was in asiatischer Popmusik bereits am Schriftbild auffällt, visualisiert nur einen Zustand, der im deutschsprachigen Bereich genauso verbreitet ist. Die Sprache des globalisierten Pop ist nun einmal, schon aus historischen Gründen, das Englische, und bis heute nehmen die allermeisten Popsongs dieser Welt auf diesen Sachverhalt irgendwie Bezug. Nicht selten geschieht dies eben durch eine Beimischung englischer Versatzstücke in den Text der eigenen Sprache oder umgekehrt, was zu einem Phänotyp führt, der unzweifelhaft hybrid ist: zusammengesetzt aus Material aus zwei klar definierbaren, heterogenen Ursprungszusammenhängen (Schriftsystemen bzw. Sprachen), und zwar so, dass »in der Übersetzung die Mischung als Mischung – also die Heterogenität ihrer Bestandteile – erkennbar bleibt« (Bohnenkamp 2004: 20). Davon zu unterscheiden wären schwieriger zu bestimmende Phänomene wie englischsprachige Popmusik mit deutschem oder deutscher Schlager mit ausländischem Akzent in den Vocals. Hier könnte man auch über Pfropfung sensu Uwe Wirth nachdenken. Dabei ist es auffällig, dass zwar im Schlagerbereich ausländische Sänger und Sängerinnen mit starkem Akzent auffällig beliebt sind (Gus Backus, Bill Ramsey, France Gall, Karel Gott, Howard Carpendale etc.), nicht aber in deutschsprachiger Popmusik.2 Texttheoretisch ausgedrückt verweist ein hybrides Syntagma auf ein ebensolches Paradigma. Es ruft einen doppelten paradigmatischen Hintergrund, zwei Kulturen sozusagen, auf, vor denen es verstanden werden will und kann. Man könnte argumentieren, dass selbst rein deutsch- oder japanischsprachige Texte in Popsongs auf ein englischsprachiges Paradigma verweisen, und zwar einfach qua Pop, also z. B. vermittels der Musik selbst, die sich auf englische oder amerikanische Genres bezieht (Blues, Rock’n’Roll, Beat, Punk, Rap etc.) und damit unweigerlich auch deren bekannte Werke und Lyrics mit aufruft. Hybridität in Popmusik wäre dann schon einen Schritt weiter: Sie ist ein Mittel zur Reflexion der eigenen Gebundenheit an den anglo-amerikanischen Pop auch noch in Zeiten, wo dieser zur Musiksprache einer globalisierten Kultur geworden ist. Es wäre naiv anzunehmen, die Urszene des Kulturkontakts verliefe so, dass ein Syntagma aus der dominanten Kultur (hier: der englischsprachigen Popkultur) in eine homogene fremde Kultur (z. B. die japanische oder deutsche) verschoben­und 1 | Vgl. Tawada Yōkos Die Flucht des Mondes in: Uwe Wirth: Pfropfung als Kulturkontakt, in diesem Band S. 44. 2 | Eine Ausnahme wäre Françoise Cactus von Stereo Total.

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dann entsprechend vor einem Paradigma gelesen würde, das nicht mehr dem der Ursprungskultur, sondern vollständig dem der Empfängerkultur zugehört. Man wird kaum mehr dem Fall begegnen, dass irgendein Produkt der Kulturindustrie, ein Film oder ein Song, von einer ›reinen‹, indigenen Kultur adaptiert wird, die von der globalen Massenkultur noch unberührt wäre. Nur in einem solchen Fall aber würde das kulturindustrielle Produkt vollständig über Paradigmen semantisiert, die seinem Ursprung gänzlich fremd wären. Vielleicht hat es das in dieser Form überhaupt nie gegeben, definitiv aber nicht mehr, seit die Popkultur, die ab ca. 1955 ihren Siegeszug in die Welt angetreten hat, als Kultur des Weltbürgers westlicher Prägung »die Rolle des ästhetisch-umgangsformalen Allgemeinmediums übernommen [hat], auf dessen Grundlage indische, japanische und amerikanische Angestellte sich miteinander verständigen und voneinander distinguieren können« (Wackwitz 1996: 56). Unter den Bedingungen der Globalisierung gibt es kein kulturelles Außen mehr, und das heißt: Popkultur ist nicht einfach ein Produkt made in America und von dort in die ganze Welt exportiert. Vielmehr entsteht sie allererst in reziproken Transferprozessen zwischen den USA, Europa, Japan und anderen Kulturen. Rob Kroes hat darauf hingewiesen, dass zahlreiche amerikanische Ikonen wie etwa der Cowboy, Mickey Mouse oder die Golden Gate Bridge »ihre Nabelschnur nach Amerika verloren haben und als eine frei flottierende visuelle lingua franca« um den Globus zirkulieren (Kroes 1996: 175). Und andersherum fungiert die amerikanische Kulturindustrie immer noch als der Welt größter kultureller Transformator, der sein Material aus verschiedenen Kulturen weltweit zusammensammelt. Nicht-amerikanische Dinge, Motive und Traditionen wie Sushi, die Pizza, der VW Käfer, Scrooge oder Bruce Lee werden dabei in Symbole, Mythen und Waren von globaler Bedeutung verwandelt, die dann wiederum von indigenen Kulturen weltweit adaptiert oder gar re-adaptiert werden.

II Wenn wir als Literaturwissenschaftler und Philologen danach fragen, wie ein konkreter Text mit seinem kulturellen Kontext zusammenhängt, dann tun wir gut daran, klare Kriterien für eine Antwort zu bestimmen, die unserem wissenschaftlichen Anspruch genügt. Dazu gehören unbedingt Analysierbarkeit und Überprüfbarkeit; die Antwort muss sich also erstens aus einer konkreten Analyse ergeben, und zwar zweitens so, dass dies für andere nachvollziehbar und wiederholbar (und also auch widerlegbar) ist – zwei Basiskriterien für Wissenschaftlichkeit überhaupt, sollte man meinen. In dieser Hinsicht nun sind Texte ein echter Glücksfall. Sie laufen nicht weg, sie verflüchtigen sich nicht, sie halten still, weil

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sie per definitionem auf einem Medium gespeichert sind. (Woraus man sogleich ersehen kann, dass Texte keine Kommunikationen oder sonstige Handlungen sind, diese sind nämlich flüchtig – aber dies nur nebenbei.) Allerdings gilt dies genau genommen nur für eine der beiden konstitutiven Komponenten eines jeden Textes: das Syntagma, die Sequenz. Nur diese ist, wie schon de Saussure notierte, in praesentia gegeben. Die paradigmatische Achse dagegen, die den Text allererst lesbar macht, indem sie die systemisch-kulturell gegebenen Äquivalenzen, die anderen Möglichkeiten dessen, was an einer gegebenen Stelle des Syntagmas sonst noch stehen könnte, als Vergleichsmöglichkeiten zur Verfügung stellt – die ist leider nur in absentia gegeben. Der klassische Strukturalismus und nach ihm die Diskursanalyse Foucault’scher Prägung hatten diesen paradigmatischen Hintergrund eines jeden Syntagmas regel- oder codeförmig gedacht. Gegen eine solche Lösung spricht allerdings immer wieder neu unser Kriterium der Analysierbarkeit. Textualisten stellen die Wo-Frage – WO, auf welchen Datenträgern, ist das, was ich hier analysieren will, in dazu geeigneter und das heißt: materieller Form vorhanden? Die Kulturpoetik fordert also die Materialität auch des Paradigmas, sie kann und will sich nicht mit einer ungreifbaren Regelhaftigkeit des Codes oder Diskurses zufrieden geben.3 Was sich als paradigmatisch analysieren lässt, ist mit anderen Worten genauso da, muss genauso zuhanden sein wie das Syntagma – nur WO? Die Antwort kann nur lauten: in anderen Texten derselben Kultur, wie auch immer die in diesem Fall bestimmt wird, z. B. als Synchronschnitt einer bestimmten zeitlichen Dicke oder als Subsystem (z. B. alle medizinischen Texte). Und wenn wir als fröhliche Positivisten wie neugierige Kinder auch hier noch weiter fragen: Und WO sind diese Texte? dann lautet die Antwort: im Archiv. Und WO ist das Archiv? Wenn wir, wie es in Arbeiten zur Popkultur gelegentlich nicht zu vermeiden ist, das gegenwärtige Archiv der eigenen Kultur meinen, dann ist es zunächst in unseren Köpfen, dort allerdings schwer zugänglich, vom eigenen mal abgesehen. Materialiter zugänglich wird es im Web 2.0 sowie in den traditionellen Archiven (wie Bibliotheken, Zeitungsarchiven etc.). Versuchen wir dagegen, einen älteren Text vor den Paradigmen seiner Entstehungszeit zu lesen, arbeiten wir also historisch (und Kulturen werden sehr schnell historisch!), dann können wir nur auf die überlieferten Dokumente der entsprechenden Kultur zurückgreifen (hier unterscheidet sich unser Archivbegriff also ausdrücklich von dem Foucaults). Was überliefert ist, ist irgendwo auch gespeichert, auf einem Datenträger oder in einer Wunderkammer oder sonstigen Sammlung, und entspricht damit einem weiten Textbegriff. 3 | Zur ausführlichen Darstellung und Begründung des theoretischen Rahmenwerks, das hier nur angedeutet werden kann, vgl. Baßler 2005.

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Man kann sogar noch konkreter werden: Für die tatsächliche Arbeit des Kulturwissenschaftlers ist das Archiv ja letztlich das, was er auf seinem Schreibtisch und Rechner, in Ordnern und staubigen Stapeln an Texten zusammenträgt. Was da nicht auftaucht, was er nicht gesichtet und gelesen hat, kann auch nicht in seine Arbeit eingehen und folglich nicht dazu dienen, den manifesten Text, um den es zentral geht, zu semantisieren. Zugleich erfüllt das zusammengetragene Archiv aber unsere wichtigsten Ansprüche: Es ist synchron da, hält alle seine Dokumente gleichzeitig und in vollständiger Nebenordnung präsent, es hält still wie der einzelne Text, sodass auch die paradigmatischen Vergleichsoperationen nunmehr in praesentia möglich werden. Damit garantiert das Archiv Analysierbarkeit und Überprüfbarkeit und erfüllt unsere Minimalbedingungen kulturwissenschaftlicher Methodik. Im Archiv ist jeder Text in bestimmten Merkmalen potentiell paradigmatisch für jeden anderen. Der Modus des Archivs ist folglich Textualität, genauer: Intertextualität, und zwar reziproke Intertextualität sensu Kristeva und nicht bloß lineare im Sinne einer Einflussforschung.4 Erst in der Paradigmatisierung durch die anderen Texte, »the many voices of the dead« (Greenblatt 1988: 20), werden die Texte überhaupt lesbar, zuvor und zunächst sind sie einfach als materiale Sequenzen ohne Bedeutung im Archiv aufgehoben, sans ordre et sans ordre (hier unterscheidet sich unser Archivbegriff also ausdrücklich von dem Derridas). Alles andere, insbesondere auch alle Hypothesen darüber, was in diesem Archiv im Vergleich mit dem Ursprungsarchiv der in Rede stehenden Kultur etwa fehle, sind in analytischer Hinsicht gegenüber dem Archiv selbst sekundär. Wie kann man aus dem Archiv, als Sammlung von Sequenzen, aber die historischen Paradigmen rekonstruieren? Indem man nach Äquivalenzstellen sucht, das heißt: per Suchbefehl zunächst die Okkurrenzen eines Textbefundes (z. B. eines Begriffs) im Archiv markiert. Das allein ergäbe natürlich nur eine Liste identischer Begriffe, also noch kein Paradigma. Erst wenn man zu diesen Okkurrenzen in den jeweiligen Fundtexten (dem Diskurskorpus) auch Kookkurrenzen listet, also das, was mit ihnen an bestimmten Stellen des Textes kombiniert wurde, hat man ein Paradigma rekonstruiert. Generell gilt: Kulturpoetisch interessant wird es immer dann, wenn entweder Kombinationen, also syntagmatische Strukturen, paradigmatisch oder umgekehrt Äquivalenzen, also paradigmatische Verhältnisse, syntagmatisch werden. Letzteres hat Roman Jakobson bekanntlich unter dem Begriff der poetischen Funktion 4 | Stephen Greenblatt führt diese Form von Intertextualität paradigmatisch in seinem Aufsatz über Shakespeare und die Exorzisten vor. Die ältere Forschung sah in Harsnetts Traktat nur einen Einfluss auf Shakespeares King Lear, Greenblatt belegt die Reziprozität des Verhältnisses (vgl. Greenblatt 1988: 94-128).

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beschrieben. »Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. Die Äquivalenz wird zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben« (Jakobson 1979: 94). Auf diese Weise entstehen Texte, die konstitutiv von Parallelismen geprägt sind, z. B. in Form von Reim, Metrum, Katalogen oder Vergleichen. In der Analyse, und um die allein geht es uns ja, muss diese Projektion aber genau umgekehrt werden. Aus dem, was in poetischen Texten äquivalent gesetzt wird, erkennen wir, was sie für paradigmatisch nehmen. Dabei können sie zwar gelegentlich auch ihre eigenen, originellen Paradigmen bilden, vor allem aber machen sie für uns sichtbar, was in einer gegebenen Kultur als äquivalent empfunden wird. Welche dieser beiden Möglichkeiten jeweils vorliegt, kann nur im Vergleich mit anderen Texten des Archivs ermittelt werden. Analytisch gilt also streng genommen: Äquivalenzen positivieren sich nur, wenn sie in Syntagmen des Archivs irgendwo mal als solche gesetzt wurden. Nihil est in paradigmate quod non fuerit in syntagmate. Äquivalenzen und Kontiguitäten sind Funktionen von Kultur, über ihr Auftreten in Texten – und nur darüber! – lässt sich analysieren, was in einer in Rede stehenden Kultur als einander entsprechend empfunden oder einem gemeinsamen Frame zugeordnet wird.

III Eben deshalb lässt sich an hybriden Texten der Popmusik das Mischverhältnis von Fremd- und Eigenkultur ablesen. Der dreimal wiederholte Refrain des Songs Zu jung, der ersten Single (2011) der Chemnitzer Band Kraftklub, läuft auf je vier Wiederholungen des Verses »Wir sind zu jung to rock’n’roll« hinaus. Die Sprachmischung wird deutlich ausgestellt durch das englische »to«, das die weltweit und so auch im Deutschen eingebürgerte Bezeichnung Rock’n’Roll in die Ursprungssprache zurückversetzt. Das leistet vor allem eine Ent-Automatisierung selbstverständlich gewordener Verhältnisse – das Fremdwort wird wieder fremd – die sich von einer unmarkierten Verwendung des Ausdrucks, wie sie sich auch im dritten Vers der ersten Strophe findet, unterscheidet. Bei »Rockstars« im ersten Vers der vierten Strophe, gesungen mit deutschem R, aber mit englischem st, ist die Hybridität in einem einzigen Wort manifest. Durch die korrekte Aussprache amerikanischer Namen wie Philip Roth oder Kurt Cobain im selben Song ist klar, dass diese sprachlichen Mischphänomene dem Sänger nicht einfach unterlaufen. Bereits der Name der Band, Kraftklub, spielt bewusst mit solchen Zusammensetzungen heterogenen Materials: Die erste Silbe stammt aus dem Namen der ersten international erfolgreichen deutschen Band überhaupt, Kraftwerk, die zweite vom ostdeutschen Getränk Club-Cola. Dass dieses DDR- und Ostalgie-Kulturgetränk (Werbung: »Die gute alte Cola

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von damals. War gut, ist gut!«)5 im Bandnamen Mit K geschrieben wird (wie die erste LP der Band von 2012 denn auch heißt), betont nur, was ohnehin gilt: Das Getränk wurde 1967 vom VEB Chemische Fabrik Miltitz als ostdeutsche Konkurrenz zur westlichen Coca-Cola auf den Markt gebracht, die wie keine andere Marke dieser Welt den Siegeszug der amerikanischen Konsumkultur symbolisiert. Kulturkontakt als Aneignung. Wie der Bandname verweist auch die sprachliche Hybridität der Refrainzeile von Zu jung also explizit auf die Herkunftssphäre der längst globalisierten, bereits Jahrzehnte vor der Gründung der Band auch in Chemnitz angekommenen Rock’n’Roll-Musik und ruft damit auch ähnliche Songs aus diesem kulturellen Raum auf, an die man sonst vielleicht nicht gleich gedacht hätte, namentlich Too Old To Rock’n’Roll: Too Young To Die der britischen Prog Rock Band Jethro Tull aus dem Jahre 1976.6 Geht es in diesem Song um einen alternden, aus der Zeit gefallenen Rocker, dem sein alter Habitus nicht mehr steht (»The old Rocker wore his hair too long, / wore his trouser cuffs too tight«), drehen Kraftklub diese Aussage um: Der idolisierte Rock ist jetzt die Domäne der Eltern- und sogar Großelterngeneration, an deren Leistungen in Sachen Sex, Drogen und eben Rock’n’Roll man nicht herankommt. So heißt es im einheitlich deutschen ersten Teil des Refrains: »Unsre Eltern kiffen mehr als wir, wie soll man rebelliern? / Egal wo wir hinkommen, unsre Eltern war’n schon eher hier«. Das titelgebende »zu jung« bezeichnet damit eine doppelte Spätlingssituation: inhaltlich gegenüber der Elterngeneration und sprachlich-künstlerisch gegenüber der amerikanischen und englischen Popmusik. Der Clou des Songs folgt aber noch: Nach jeder der insgesamt zwölf identischen Wiederholungen der Choruszeile (mit Ausnahme der vierten) wird von einer zweiten Stimme, gleichsam in Parenthese (und auch im Druckbild der Lyrics so dargestellt), noch etwas eingeworfen, und zwar auf Deutsch: »Wir sind zu jung to rock’n’roll (Wir sind zurück in Schwarz)«. Beim ersten Mal mag sich der Hörer noch nicht sicher sein, aber spätestens mit »Süßes Zuhause Alabama« wird klar, dass es sich dabei um Übersetzungen bekannter Refrains und Phrasen aus der klassischen Rockmusik handelt, die sich leicht identifizieren lassen. Die Spielregel ›Rückübersetzen!‹ formuliert ja schon die hybride Refrainzeile, die diesen Titeln jeweils vorgeschaltet ist. In dieser Liste schafft sich der an formalen Spielereien

5 | ›http://www.ostprodukte-versand.de/cnr-26_58/Lebensmittel-Getraenke/anr-631/ Club-Cola-1-0-L.html‹ (Zugriff am 30. 3. 2014). 6 | Beide Songs phrasieren übrigens »Rock’n’Ro-ho-holl«, was eher ungewöhnlich ist. Die Asymmetrisierung und Aufweichung des Ausdrucks enthält vielleicht schon einen Hinweis auf eine gewisse Ermüdung dieser Musik.

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auch sonst nicht arme Song7 seine deutlichste eigenständige Äquivalenzstruktur. Über drei Refrains kommt da ein durchaus signifikantes Paradigma zusammen (in Klammern sind die Originalsongs mit Interpreten und Datum angefügt): – Wir sind zurück in Schwarz (Back In Black, AC/DC, 1980) – Süßes Zuhause Alabama (Sweet Home Alabama, Lynrd Skynrd, 1974) – Rauch auf dem Wasser (Smoke On The Water, Deep Purple, 1972) – Hey, ho, lass uns geh’n (Blitzkrieg Bop, Ramones, 1976) – Jeder tanzt den Gefängnis Rock (Jailhouse Rock, Elvis Presley, 1958) – Diese Stiefel sind zum Laufen gemacht (These Boots Are Made For Walking, Nancy Sinatra, 1966) – Das ist die Autobahn zur Hölle (Highway To Hell, AC/DC, 1979) – Hey Jo, wohin rennst du mit der Knarre? (Hey Joe, Jimi Hendrix, 1966) – Das ist der Wind der Veränderung (Wind Of Change, Scorpions, 1990) – Eingefärbte Liebe (Tainted Love, Soft Cell, 1981) – Für immer jung (Forever Young, Bob Dylan, 1974 oder Alphaville, 1984) Wie ist das zu lesen? Zunächst schafft sich der Song durch Auswahl aus dem Archiv klassischer Rockmusik ein Paradigma, das er sich durch Übersetzung ins Deutsche auch sprachlich aneignet. Die wirkt zum Teil etwas schief (Alábamá wird z. B. falsch betont, auch würde man Tainted Love vielleicht eher mit ›Befleckte Liebe‹ übersetzen), aber keineswegs durchgehend – das ließe sich als Kommentar zur Aneignung der Rockmusik durch die Elterngeneration verstehen. Der Katalog umfasst zeitlich die Jahre vom frühen Rock’n’Roll Elvis Presleys bis zur Wendehymne der Scorpions, stilistisch sind Rock’n’Roll, Country, Singer-Songwritertum, Hendrix’ psychedelischer Bluesrock, Hardrock, Punk und 80er-Synthie-Pop vertreten. Das ist wohlgemerkt nicht im engeren Sinne das Paradigma, aus dem Kraftklub selbst ihre musikalischen Anregungen nehmen. »Kraftklub haben einfach aus zwei sich selbst zu Tode langweilenden zeitgenössischen Musikgenres – das sind IndieRock und DeutschRap – ein neues, aufregendes Musikgenre gemacht«, heißt es auf ihrer Facebook-Seite.8 Damit beruft man sich auf zwei Musikrichtungen, die sich im Wesentlichen erst nach dem hier abgedeckten Zeitraum entwickelt haben. Andererseits steht die Auswahl aber auch nicht einfach in Opposition zu ihrem Œuvre – Rock und Punk sind darin ja durchaus gegenwärtig, und im einheitlichen Auftreten in Collegejacken etc. knüpfen sie, nach dem Vorbild von The Hives, explizit auch an ältere Rock’n’Roll-Traditionen an. Und überhaupt funktioniert Zu jung ja nur, wenn das (zu) junge Publikum dieser (zu) jungen Band (Jahrgänge um 1990 7 | Vgl. etwa das Reimspiel im dritten und vierten Vers! 8 | ›https://www.facebook.com/kraftklub/info‹ (Zugriff am 30. 3. 2014).

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herum) die alten Songs, die hier genannt werden, auch identifizieren kann. Und es kann, auch wenn diese (Eltern-)Musik ihm zunächst fernliegen mag: Smoke On The Water hat jeder schon mal irgendwie gehört; und hat man das Muster erst identifiziert, lässt sich der Rest auch rasch über Google und YouTube zusammentragen. Das Archiv ist im Netz synchron verfügbar, und nur so geht es: In ihrer spezifischen Auswahl, ihrer Äquivalentsetzung per poetische Funktion, werden diese Songs und das, wofür sie stehen, kulturpoetisch als paradigmatischer Hintergrund vorausgesetzt und festgeschrieben. Ja man kann sogar sagen, sie werden durch diesen Song in ihrem kanonischen Status aktualisiert. Damit definiert der deutsche Popsong aus der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts das Archiv mit, in dessen Kontext er gelesen werden will und verstanden werden kann. Dieses Verstandenwerden, die Semiotisierung des Syntagmas, geschieht wie gesagt dann über Vergleichsoperationen mit anderen Archivtexten, und Vergleiche erfolgen immer »um der Gleichheit willen« und »um der Ungleichheit Willen« (Jakobson 1979: 108; Jakobson zitiert hier zustimmend Gerald M. Hopkins). Im Vergleich mit den genannten Texten können sich also Ahnenfolgen ergeben, die das Eigene in Äquivalenz und Kontinuität definieren, aber durchaus auch Oppositionen, die das Eigene vor allem in der Differenz zum aufgerufenen Horizont bestimmen. Indem Zu jung gerade dieses Vergleichsarchiv aufruft (und nicht ein anderes), werden dessen Texte zu solchen der eigenen Gegenwart erhoben; denn Archive sind, wie ebenfalls bereits gesagt, per definitionem synchron. Ordnungen im Sinne der genannten Oppositionen vorher vs. nachher und deutsch vs. englisch sind gegenüber diesem Archiv sekundär.

IV Im aktuellen Diskurs über Popmusik gibt es eine viel diskutierte Position, die das globale Archiv, das sich auf diesem Feld seit den 1950er Jahren gebildet hat und das im Netz jederzeit synchron und vollständig zur Verfügung steht, als Problem empfindet. Federführend beklagt etwa Simon Reynolds in Retromania, das im selben Jahr erschien wie Zu jung, »die süchtige Abhängigkeit der Popkultur von ihrer eigenen Vergangenheit«9 (Untertitel). Das Problem ist das eines popkulturellen Historismus: Positivistische Datenfülle und relativistische Nebenordnung verhindern, so die Befürchtung, das radikal Neue, die jugendliche Zukunftsverheißung, die man immer mit Pop assoziiert hatte. Stattdessen fänden sich endlos wiederholende Retro-Moden. 9 | Vgl. den Untertitel von Reynolds 2011: Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past.

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70 Moritz Baßler »This kind of retromania has become a dominant force in our culture, to the point where it feels we’ve reached some kind of tipping point. Is nostalgia stopping our culture’s ability to surge forward, or are we nostalgic precisely because our culture has stopped moving forward and so we inevitably look back to more momentous and dynamic times?« (Reynolds 2011: XIV).

Wie über hundert Jahre vor ihm Nietzsche befürchtet Reynolds eine Art Stasis, die durch die ständige Gegenwart des Archivs entstehe: »Musicians glutted with influences and inputs almost inevitably make clotted music: rich and potent on some levels, but ultimately fatiguing and bewildering for most listeners« (Reynolds 2011: 75).

Sterilität stelle sich ein, gerade auch dann, wenn nachgeborene Musiker anderer Kulturen eine Meta-Form von Popmusik praktizieren, wie die Japaner im sogenannten Shibuya-kei:10 »[T]here is a profound connection between meta-ness (referentiality, copies of copies) and stasis (the sensation that pop history has come to a halt)« (Reynolds 2011: 140). Genau diese Anxiety of Influence ist nun einerseits das Thema von Zu jung, andererseits erscheinen Kraftklub im Gestus ihrer Musik von jedweder lähmenden Wirkung dabei gänzlich unangekränkelt. Ihr offensives Spiel mit dem Archiv wirkt nicht nur befreiend, sondern sie schaffen es gleichzeitig, sich gerade der Reize intertextueller Semiose zu bedienen, die ein reichhaltiges Archiv ermöglicht. Diese intertextuellen Effekte im engeren Sinne sind als Spezifizierungen der kulturpoetischen Funktion zu lesen, die zunächst einmal allgemeiner das eigene Archiv definiert. Back In Black (1980) ist beispielsweise kein beliebiger AC/DCSong, sondern er markiert das Weitermachen der australischen Hardrockband nach dem Tod ihres legendären Sängers Bon Scott, das viele Fans als eine Art Sündenfall betrachtet hatten.11 AC/DC werden hier sozusagen in der epigonalen Version von sich selbst aufgerufen. Der zweite AC/DC-Song der Liste dagegen stammt vom letzten Album mit Scott, hier ist der Witz die Übersetzung von ›highway‹ durch das sehr deutsche ›Autobahn‹, das unter anderem den größten internationalen Hit von Kraftwerk (Autobahn, 1974) aufruft – und damit die Umkehrung der dominanten Einflusslinie von den USA nach Deutschland. Potenziert wird die deutsch-englische Mischung im Zitat aus dem Blitzkrieg Bop der Ramones. Aufgerufen wird eine angelsächsische Tradition, das Überwältigende des Rock und 10 | Vgl. vor allem das Kapitel »Turning Japanese« (Reynolds 2011: 162-179). 11 | Seither gibt es AC/DC-Revival-Bands wie die Band Bon Scott, obwohl die Originalband eigentlich noch existiert.

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Punk ausgerechnet mit der deutschen militärischen Überwältigungsstrategie des Blitzkrieges zu assoziieren (vgl. schon Ballroom Blitz von Sweet, 1973). Da aus dem Song ausnahmsweise nicht der Titel, sondern der Vers »Hey, ho, let’s go« zitiert wird, steht die Aufforderung, hier etwas von Deutschland aus zu erobern und nicht nur von der amerikanischen Popkultur erobert zu werden, im Raum. Der schnelle, aber auch lustige Punk der Ramones ist überdies von allen aufgerufenen Songs dem musikalischen Konzept von Kraftklub vielleicht am nächsten. Die Bezüge verdichten sich im letzten Chorus. Mit den Scorpions wird hier erstmals eine zwar englischsprachige, jedoch in Hannover ansässige deutsche Band aufgerufen, deren Wendeballade Wind Of Change zwar einerseits Aufbruch und sogar Ostdeutschland konnotiert, zugleich aber als Bombastkitsch mit Pfeifmotiv (der Legende nach von der NS-Schauspielerin Ilse Werner eingepfiffen) auch das Verfettete und Peinliche einer in die Jahre gekommenen Rocktradition aufruft.12 Die Liebe zur Tradition ist daher, so könnte man sagen, ambig oder auch tainted. Diese Reihe gipfelt in Forever Young, der natürlich Titel und Thema des Songs (Zu jung) wieder explizit aufgreift. Wenn Rock für immer jung ist, dann kann auch die Generation Kraftklub eigentlich nicht zu jung sein. Aber was wird hier eigentlich aufgerufen, der Klassiker Bob Dylans (vom Album Planet Waves, 1974), jenes Altmeisters, der im ständigen Bewusstsein der möglichen Epigonalität seiner selbst schon in Dylan-Maske aufgetreten ist? Oder doch der 80er-Jahre-Synthiepop-Hit der Gruppe Alphaville aus Münster? Die konstitutive Ambiguität, die Kraftklubs Bezug auf den paradigmatischen Hintergrund ROCK prägt, ist auch im Status der Parenthesen selbst codiert. Wer spricht hier eigentlich? Das lyrische Ich bzw. Wir, das der Enkelgeneration angehört? Die andere, etwas krächzende Stimme, die die alten Titel in den Refrain hereinruft, könnte auch der älteren Generation zugeschrieben werden; zumal es in der Zeile vor dem Viererblock jeweils heißt: »Und wir sitzen am Feuer, hören zu, was die Alten [bzw. die Dinos] erzählen« – eine Art Doppelpunkt, der ja das »Wir sind zu jung to rock’n’roll« nicht einleiten kann,13 wohl aber den jeweiligen Nachsatz. Dieses Verwechslungsspiel setzt sich im Video zu dem Song fort, in dem vier Rentner in Kraftklub-Collegejacken vandalisierend durch Berlin stromern und mit viel Spaß und Energie in Rock’n’Roll-Manier blässliche junge Leute terrorisieren.14 12 | Unvergessen ist die Verwendung des Songs im SPD-Wahlkampf Gerhard Schröders (aus Hannover) mit dem Pop-Beauftragten Sigmar Gabriel. 13 | Oder doch? Im Redebericht könnte natürlich auch das junge lyrische Ich sagen, die »Alten« würden behaupten, »Wir [hieße: die Jungen] sind zu jung to rock’n’roll«. Als Mitsing-Refrain wird diese Haltung aber zumindest adaptiert. 14 | Hier öffnet sich ein weiterer höchst komplexer Zusammenhang, denn das Video zitiert wiederum ausführlich das umstrittene und kein bisschen lustige Video zu Stress der

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V Die Aussage lautet hier also nicht einfach: ›Die gute alte Rockmusik von damals. War gut, ist gut!‹ – was hier geschieht, ist komplizierter als Nostalgie. Das tendenziell Verfettete und Obsolete des Rock wird durchaus registriert (wie schon im Jethro-Tull-Stück von 1976). Dennoch tritt der Song Zu jung über seine paradigmatische Struktur ein Erbe an, das auch positiv ins Spiel gebracht wird. Gegenwärtige Pop-Phänomene werden in den Strophen dagegen explizit und unironisch abgewertet: Green Day als Kommerzpunk, MTV als Klingeltonverkaufsladen. »Bei euch starb Kurt Cobain, bei uns ein bleicher Michael Jackson« verfestigt die Opposition Rock (+) vs. Pop (–), auch der rhetorische Katalog, die Welt sei »voller Angst, Hass, Lady Gagas und Massenvernichtungswaffen«, wertet ein gegenwärtiges Pop-Phänomen ab. Dagegen steht das Rock’n’Roll-Erbe als positive Tradition, auch wenn es in den Händen der Eltern und Großeltern vielleicht nicht (mehr) das ist, was es einmal war. Daraus ergibt sich – hey, ho, lass uns geh’n – das Programm einer spezifischen Aneignung in Form der deutschsprachigen Musik von Kraftklub selbst. Fassen wir zusammen: Im hybriden Refrain steckt eine Leseanweisung: ›Zurückübersetzen in die Ursprache des Rock!‹. Folgt man ihr, erschließt sich über die dominante Äquivalenzstruktur des Songs ein Archiv der klassischen Rockmusik, das zeitlich mit dem Geburtsjahr der Bandmitglieder aufhört. Der Song ruft dieses Archiv auf als die ihm angemessene Kultur, in der sich die Paradigmen finden, über die er semantisiert werden will. Tut man dies dann, indem man konkreten intertextuellen Verweisen nachgeht, zeigt sich zum einen, dass bereits das vermeintlich der eigenen Kultur fremde Songmaterial des klassischen Rock zahlreiche deutsche Elemente enthält (Blitzkrieg, Autobahn), und zum anderen, dass einige Stücke, obwohl englischsprachig, sogar deutsche Produktionen sind (Scorpions, Alphaville). Die Kulturen sind also von Beginn an wechselseitig kontaminiert. Es gibt keinen reinen Ursprung, keine ersten Worte. Das Archiv der lokalen Kultur (Chemnitz, Opas Garten) impliziert die Artefakte der internationalen Massenkultur als bekannt und paradigmatisch für die eigenen Pop-Produkte. Und andersherum werden anglo-amerikanische Popsongs durch deutsche Paradigmen re-semantisiert und womöglich umcodiert – auch für den ostdeutschen Rockhörer ist Alabama irgendwie ein »süßes Zuhause«.15 Statt einer starren französischen Formation Justice (2008, Regie: Romain Gavras), in dem gewalttätige Jugendliche aus den Pariser Banlieues marodierend durch die Stadt ziehen – in Kutten mit dem Justice-Logo auf dem Rücken. Aber das wäre ein eigener Aufsatz. 15 | Dazu muss er noch nicht mal die Südstaatenflagge rausholen, die auf den Montags­ demonstrationen 1989 gelegentlich zu sehen war.

Kulturkontakt kulturpoetisch gesehen

Opposition von Ursprungsparadigma (Popkultur der USA und Englands) und Empfängerkultur gibt es immer schon Verhandlungen (negotiations) zwischen beiden, und Kraftklubs Zu jung setzt diese Verhandlungen fort. Die Lokalität des Globalen und die Globalität des Lokalen – beide lassen sich analytisch im Rahmen einer textualistischen Kulturtheorie fassen. All dies ist noch einmal zu unterscheiden vom eigentlichen Thema des Songs, dem Verhältnis von jung und alt in der Popkultur. Wer 2011 siebzig wird, ist bereits mit Elvis und Rock’n’Roll groß geworden. Somit ist es einfach eine soziologische Tatsache, dass ein Großteil der Tradition den »Dinos« gehört, und das gilt insbesondere für den von Diederichsen so genannten Pop I, den frühen Pop mit seinen dominant gegenkulturellen Tendenzen. Michael Jackson, MTV und Lady Gaga stehen dagegen prototypisch für einen Pop II, den Pop als Mainstreamkultur der kapitalistischen Überflussgesellschaften. Dass es um die ästhetische Möglichkeit gegenkultureller Provokation geht, davon zeugen auch die Verweise auf James Dean und Philip Roth (den die Jungen genau genommen nicht »10 Jahre danach gelesen« haben, wie es in Vers 8 heißt, sondern eher vierzig Jahre, Portnoy’s Complaint erschien 1969). Auch hier dominiert die Ambiguität: Einerseits führen Kraftklub den Epigonalitätsdiskurs selbst, andererseits legen sie ihn aber auch den Älteren in den Mund und wiederlegen ihn performativ durch ihre originelle, entspannt-heitere und dabei sehr erfolgreiche Musik, die zwar Rockelemente enthält, dabei aber keineswegs als Retro, sondern fraglos als Pop im aktuellen Sinne daherkommt.

VI Kulturkontakte werden kulturpoetisch analysierbar in der Betrachtung hybrider Texte. Hybride Syntagmen verweisen auf ebensolche Paradigmen, sie rufen ein Archiv, einen kulturellen Hintergrund auf, der nicht ›rein‹ ist, sondern in dem sich bereits verschiedene Sprachen und Kulturen begegnen und mischen, ja, immer schon begegnet sind und gemischt haben. Der hybride Text ist nicht einfach ein Produkt dieser Kultur (etwa, negativ ausgedrückt: der globalen Massenkultur industrieller oder amerikanischer Prägung), sondern selbst ein Ort kultureller Poiesis: Er verweist nicht bloß auf die globale Popkultur, sondern schreibt an ihr mit, indem er bestimmte Teile aufruft und in Beziehung zueinander und sich selbst setzt und andere nicht. In jedem deutschen und japanischen Popsong werden Verhandlungen dieser Art ausgetragen, die letztlich unsere Kultur hervorbringen oder: sind.

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L iteratur Baßler, Moritz (2005): Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen. Bohne­­nkamp, Anne (2004): »Hybrid statt verfremdend? Überlegungen zu einem Topos der Übersetzungstheorie«, in: Peter Colliander/Doris Hansen/Ingeborg Zint-Dyhr (Hg.): Linguistische Aspekte der Übersetzungswissenschaft, Tübingen, S. 9-26. Greenblatt, Stephen (1988): Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley/Los Angeles. Jakobson, Roman (1979): »Linguistik und Poetik [1960]«, in: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a. M., S. 83-121. Kroes, Rob (1996): If You’ve Seen One, You’ve Seen The Mall. Europeans and American Mass Culture, Urbana/ Chicago. Reynolds, Simon (2011): Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past, London. Wackwitz, Stephan (1996): Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen, Frankfurt a. M.

Ambivalente Kontakte. USA und US-Marken in deutschsprachiger Pop-Kultur. Drei Stichproben Markus Joch

In Christian Krachts Imperium, dem Südsee- und Aussteigerroman von 2012, macht der Held, August Engelhardt, gegen Ende der Geschichte eine verstörende Bekanntschaft. Er, der sein Projekt von Nudismus und reiner Kokosnuss-Ernährung noch in der Hochzeit des deutschen Kolonialismus begonnen hat, 1902 auf einem kleinen Eiland von Deutsch-Neuguinea, wird nun, fast ein halbes Jahrhundert später, unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als alter Mann von den siegreichen Amerikanern in Gewahrsam genommen. Wie nimmt der Einsiedler die neuen Herrn der Südsee wahr? »Er sieht staunend allerorten sympathische schwarze GIs, deren Zähne […] mit einer unwirklichen Leuchtkraft strahlen; alle erscheinen so außergewöhnlich sauber, gescheitelt und gebügelt; man gibt ihm aus einer hübschen, sich in der Mitte leicht verjüngenden Glasflasche eine dunkelbraune, zuckrige, überaus wohlschmeckende Flüssigkeit zu trinken […]; ein Offizier hält sich mit verzückt lauschendem Ausdruck eine kleine perforierte Metallschachtel ans Ohr, aus deren Innerem enigmatische, stark rhythmische, doch überhaupt nicht unangenehm klingende Musik dringt; man […] schlägt ihm aufmunternd auf den Rücken; dies ist nun das Imperium; man serviert ihm ein mit quitschbunten Soßen bestrichenes Würstchen […]« (Kracht 2012: 240).

Bei derlei Darstellung von Kulturkontakt sind einem kritischen Leser »Ahnungen eines antidemokratischen Antiamerikanismus« gekommen, »ohne dass man dem Text diese Botschaft eindeutig nachweisen könnte«.1 Was man auf den ersten Blick für schlicht abwegige Lektüre halten mag ‒ ist nicht von sympathischen schwarzen GIs die Rede? ‒, wirkt auf den zweiten schon bedenkenswerter. Dann nämlich, wenn man, wie der Kritiker, die Romanpassage auf Krachts E-MailWechsel mit dem Amerikaner David Woodard bezieht, in dem es von autoritären Diktatur- und NS-Koketterien nur so wimmelt.2 Der naheliegende Einwand, es 1 | Jan Süselbeck: Wollt ihr den totalen Kracht?, in: Jungle World, Nr. 11, 15. März 2012. ›http://jungle-world.com/artikel/2012/11/45082.html‹ (Zugriff am 8. 4. 2014). 2 | Vgl. ebd.

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sei unzulässig, textexterne Informationen wie einen Mailwechsel zur Interpretation von Textinternem heranzuziehen, da man so dessen Eigenlogik missachtet, machte es sich jedenfalls, brächte man ihn vor, zu einfach. Das in den Mails Bekundete, etwa Krachts starkes Interesse an der Rassistensiedlung Nueva Germania (Paraguay), korrespondiert womöglich mit einer Formulierung der Erzählerstimme. In deren »dies ist nun das Imperium« scheint Hohn mitzuschwingen, dem erhabenen Begriff kontrastiert die Banalität des Hot Dogs arg. Und kann sich der Eindruck, das neue, amerikanische Imperium werde als Schwundstufe des wahren, nur unverwirklichten deutschen Weltreichs gedeutet, nicht auch ohne die textexterne Information einstellen? Nein, kann er nicht, zumindest nicht auf den dritten Blick. Im Gegenteil, der Kritiker (Jan Süselbeck) hat gut daran getan, seine politisch misstrauische Lesart mit einem Fragezeichen zu versehen (»ohne dass man dem Text…«) und sich so von der berüchtigten Brachial-Rezension abzuheben, die Kracht als »Türsteher der rechten Gedanken« abstempelte (Diez 2012: 103). Abgesehen davon, dass die Aussagekraft der textexternen Informationen zumindest bezweifelbar ist ‒ Verehrer von Kracht pflegen selbst dessen diskursive Äußerungen unter Ironievorbehalt zu stellen ‒, bleibt eins festzuhalten: Ohne den Rekurs aufs Diskursive ist noch niemand auf die Idee gekommen, besagter Passage Anti-Amerikanismus nachzusagen. Wie auch, handelt es sich bei der Assoziation von Imperium und Hot Dog um Spott, dann ersichtlich um milden: Was sollte ernstlich gegen eine Kultur zu sagen sein, die eine wohlschmeckende Flüssigkeit in attraktivem Design hervorbringt, deren dunkelhäutige Angehörige sympathisch wirken, in der man auf adrettes Äußeres Wert legt, deren Soldaten einen versprengten ›Kraut‹ aufmuntern, statt ihn zu demütigen (oder ihn nur durch die Aufmunterung demütigen), und die eine »enigmatische, stark rhythmische, doch überhaupt nicht unangenehm klingende Musik« zu bieten hat? Das Gefallen am Jazz liest sich wie ein Einspruch gegen das Urteil zweier bekannterer Deutscher, denen, fast zur gleichen Zeit, Jazz als Beispiel für US-amerikanische Geschmacklosigkeit galt, typisch für ein Land der »ästhetischen Barbarei« (Adorno/Horkheimer 1981 [1944]: 152). Verstärkt wird die sich vom Bildungsbürger-Dünkel absetzende Wertungssteuerung durch die hier fehlende Distanz zwischen Erzähler- und Figurenstimme, die in erlebter Gedankenrede zusammenklingen. Vor allem aber trägt die Erzählsituation zur Aufwertung einer uramerikanischen Musikrichtung bei. Da ›Engelhardt‹ ‒ das heißt die fiktive Figur, in die die historische Person transformiert wird3 ‒ fast ein halbes Jahrhundert Eremitentum hinter sich hat, ihm seine Herkunftskultur ebenso fremd (geworden) ist wie die US-amerikanische 3 | Die Realperson, geboren 1875, verschied bereits 1919.

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noch unbekannt, lauscht er den Klängen der Metallschachtel unbefangener und neugieriger als ein Liebhaber der Zwölftonmusik. Und das von kulturellem Vorwissen/-urteil nicht mehr / noch nicht bandagierte Ohr gewinnt einen positiven Eindruck. Durchgespielt wird eine First-Contact-Situation, in der ein Deutscher den Amerikanern so erstaunt und naiv begegnet wie weiland indigene Menschen den europäischen Kolonialherren ‒ nicht einmal die Marken/Produktnamen von Coca-Cola und Hot Dog kennt unser Held. Doch die evozierte Parallele zum kolonial verfassten Kulturschock dient offenbar nicht einer Kritik der Quasi-Kolonialisten, eher schon wird dem Leser ein Faszinationswert der USA zu verstehen gegeben. Wer dennoch auf Anti-Amerikanismus befinden will, kann einen ausgesprochen deutschnationalen Kommentar der Erzählerstimme anführen, der 2012 für einige Irritation in der Literaturkritik sorgte. In ihm heißt es, vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ‒ als Engelhardt in die deutsche Südsee zog ‒ bis zur knappen Hälfte der Periode (1945) habe es so ausgesehen, »als würde es das Jahrhundert der Deutschen werden, das Jahrhundert, in dem Deutschland seinen rechtmäßigen Ehren- und Vorsitzplatz an der Weltentischrunde einnehmen würde« (Kracht 2012: 18). Wer in diesem Syntagma die wahre Erzählerhaltung ausgeplaudert sieht, darf schließen, dass in der fiktionalen Logik die Botschafter von Coca-Cola und Hot Dog einen Platz besetzen, dessen sie unwürdig sind. Allein, wie ernst ist das »rechtmäßig« zu nehmen, wenn die teutonischen Kolonialherren so geschildert werden wie in Imperium? (Ganz abgesehen davon, dass Erzählerstimme und Autorperson nicht das Gleiche sind.) Heißen die »Deutsche[n] auf dem Welt-Zenit ihres Einflusses« nicht gerade Engelhardt, treten sie als trunksüchtige und gefräßige Pflanzer auf, äußerlich »an Erdferkel erinnernd«, obendrein syphilitisch, »von barbusigen Negermädchen« träumend, und dies »schmatzend« (ebd.: 12 f.). Da nehmen sich die Amerikaner doch überaus kultiviert aus, vergleichsweise. Andererseits: Die Erfinder der ersten industriell hergestellten Frühstücksflocken, die Gebrüder Kellogg, lernt man als »unverbesserliche, vom Geschäft als raison d’être überzeugte, reine Yankees« kennen (ebd.: 104). Aha. So viel dürfte an unserem Beispiel klar geworden sein: Wofür Coca-Cola und Hot Dog stehen, lässt sich nur im Kontext erschließen, wenn überhaupt. Mitunter nimmt mit jedem weiteren einbezogenen Zusammenhang die Eindeutigkeit ab. Wiewohl im vorliegenden Fall die dominante Wertungssteuerung angebbar scheint, das pro-amerikanische das anti-amerikanische Moment wohl überlagert ‒ schon durch die Relation zu den ridikülisierten deutschen Kolonialisten ‒, bezeichnender ist, dass in der Frage, ob der Erzähler auf amerikanischen Segen oder Kulturimperialismus hinaus will, eine gewisse Unsicherheit bleibt. Interessant ist diese weniger als Erfolg einer bestimmten Autor-Posture (gesinnungsmäßige­ Un-

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greifbarkeit gehört­, wie sattsam bekannt, zu Krachts Markenzeichen). Zu betonen wäre vielmehr, wie verbreitet der mehrdeutige und/oder changierende Umgang mit den USA in der deutschsprachigen Nachkriegskultur ist. Anzutreffen ist er auch bei einem rechtsradikaler Umtriebe unverdächtigen Autor, einem Spätadepten der Frankfurter Schule und berüchtigten Polemiker, geboren 1945, einem 68er also. In der Theorie des Gebrauchswerts, seiner Dissertation von 1976, schlägt Wolfgang Pohrt noch Töne an, wie sie im linksradikalen Spektrum seinerzeit üblich waren; in den Bahnen von Adorno/Horkheimers Kritik der Kulturindustrie diagnostiziert er einen erfolgreichen »Kulturimperialismus von Coca-Cola, Dosenbier und Hamburgern« (Pohrt 1976: 22). Worum es in der Hauptsache geht, die Kritik kapitalistischer Warenproduktion, erhält eine amerikakritische Färbung auch durch den Buchumschlag. Der zeigt eine für die Stadt Venedig und zugleich einen US-Konzern werbende Postkarte, Tauben auf dem Markusplatz, die in riesigen Charakteren den Namen Coca-Cola bilden. Erklärung: Man hatte auf dem Platz vorher die Schriftzüge des Markenzeichens mit Taubenfutter streuen lassen. Der verächtliche Ton, in dem ein anderer Marxist damals die Werbeaktion kommentierte: »Die Tauben flogen nicht herbei, um das Markenzeichen zu bilden, sondern um ihren Hunger zu stillen. Das Futter wurde nicht gestreut, um die Tauben zu füttern, sondern um sie auf seiner Spur als Statisten arbeiten zu lassen« (Haug 1971: 151), dürfte im Sinne Pohrts gewesen sein. Die Coca-ColaTauben eignen sich als Sinnbild für eine Produktionsweise, in der der Tausch- den Gebrauchswert (angeblich) dominiert, in der die Gegenstände nur noch »für die Müllverbrennungsanlage Gebrauchswert haben« (Pohrt 1976: 19). Ganz anders der Tenor beim gleichen Autor fünf Jahre später: »Mögen anderswo dem amerikanischen Kulturimperialismus die tradierten Lebensformen ganzer Nationen zum Opfer gefallen sein ‒ in Deutschland aber begann mit dem amerikanischen Kulturimperialismus nicht die Barbarei, sondern die Zivilisation. In diesem Land ist jede weitere Filiale der McDonald-Hamburgerkette eine neue Insel der Gastfreundschaft und eine erfreuliche Bereicherung der Eßkultur« (Pohrt 1981: 42).

Der vorderhand erstaunliche Akzentwechsel, der vordem Verachtetes plötzlich zur Wohltat erklärt, erklärt sich situativ. Eine Sicht wie die eigene, in der die USA als Schrittmacher des sich auch in (West-)Deutschland entfaltenden consumer capitalism erscheinen, nicht etwa als das ganz Andere deutscher Kultur, will Pohrt unterschieden wissen von jener Einstellung, die er den Gegnern einer Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen nachsagt: Die Friedensbewegung entpuppe sich als deutschnationale Erweckungsbewegung, ihre Rede von ›Yankee-Kultur‹, ›besetztem Land‹ und ›Kolonialismus‹ gleiche dem kulturkonservativen Ressentiment wie ein faules Ei dem anderen. Überheblichkeit

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und Überfremdungsgerede, nach Pohrts Empfinden skandalös im Zeichen von Auschwitz, soll mit der Behauptung amerikanischer Zivilisation und (implizit) deutscher Barbarei begegnet werden. Wobei der konzessive Zwischenton ‒ »mögen anderswo dem amerikanischen Kulturimperialismus…« ‒ erkennen lässt, dass es beim Hoch auf den Burger weniger ums Aufwerten von amerikanischer als ums Abwerten deutscher Kultur geht, die als noch übler klassifizierte. Kurz, wahre Größe gewinnen die USA nur, wenn in Deutschland präsent. (Nicht zufällig sollte es das Bonmot von McDonald als Bereicherung deutscher Esskultur zum Zitatklassiker der so genannten anti-deutschen Linken bringen). So unterschiedlich die Fälle Kracht und Pohrt gelagert sind, in beiden operieren die Autoren im Dazwischen von Pro- und Anti-Amerikanismus. US-amerikanische Marken/Produkte erweisen sich in beiden als disponible Signifikanten, die sich mit differenten, ja gegenläufigen Bedeutungen füllen lassen. Es kommt nun einmal auf die Bedeutungszuweisung an ‒ oder, mit einer ehrwürdigen Einsicht der Semiologie zu sprechen: »Der Signifikant ist leer, das Zeichen ist voll, es ist ein Sinn« (Barthes 2010 [1957]: 256). Die Herausforderung besteht im bisweilen übervollen, will heißen: (mindestens) zweideutigen Zeichen. Der ambige oder komplexe, jedenfalls nicht auf Anhieb entschlüsselbare Einsatz von Americana verdichtet sich, so mein Eindruck, in jenem Bereich, den man gemeinhin für besonders US-affin hält: der Pop-Kultur. Dazu je ein Beispiel aus Film, Literatur und Musik.

1. B illy Wilder

als

H idden P ersuader

Zählen wir zur Pop-Kultur, neben Pop-Musik und den von ihr handelnden Texten, diejenigen Artefakte, die sich zu ihrer massenmedialen und marktförmigen Verbreitung bekennen4 und/oder die von Pop-Musikern, Filmemachern, Werbeleuten, Produktdesignern oder Comiczeichnern gestaltete ›Prätexte‹ als Ausgangsmaterial nutzen, verstehen wir darunter also alles, was die Zeichenproduktion von Massenkultur neu rahmt, statt sich über sie zu beklagen5 ‒ dann zeigt Billy Wilders Film Eins, Zwei, Drei eine pop-kulturelle Ebene avant la lettre. Denn die Screwball Comedy von 1962 kreist nicht nur um den Konflikt Kalter Krieger im geteilten Berlin, um Ost versus West. Ihre Komik bezieht sie aus dem Aufeinandertreffen von amerikanischer Massen- und Markenkultur, 4 | Moritz Baßler über Pop und Pop-Kultur. ›http://www.youtube.com/watch?v=DjBRWU9 trN‹ (Zugriff am 8. 4. 2014). 5 | Ich erweitere, was Schäfer (2003: 15), zur Definition von Pop-Literatur vorgeschlagen hat, auf Film und Musik.

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postfaschistischen Westdeutschen und den Kommunisten, aus dem Kontakt dreier Seiten. Wilder erweist sich (wie I.A.L. Diamond, mit dem zusammen er das Drehbuch verfasste) als Meister angetäuschter Äquidistanz. Man könnte meinen, jede der drei Seiten bekomme gleichermaßen ›ihr Fett weg‹ (das DVD-Cover von 2012 preist denn auch eine Komödie, »die allen Kalten Kriegern mit Lachsalven einheizte«).6 Aufkommen kann der Eindruck aufgrund der Eingangssequenz, die Amerika-Verächter gewissermaßen in Sicherheit wiegt. Zu hören ist aus dem Off die Stimme der Hauptfigur, C.R. MacNamara (James Cagney), des Direktors der Coca-ColaFiliale in West-Berlin, der sich über die FDJ-Aktivisten im Ost-Sektor lustig macht, die gegen das Marschieren (der ›US-Aggressoren‹) pausenlos marschierten, statt endlich die im Bild zu sehenden Kriegstrümmer zu beseitigen. Anders, so MacNamara, die West-Berliner: »Unter dem Schutz der Alliierten bauten sie ihre Stadt wieder auf« ‒ was eine Aufnahme der properen Budapester Straße an der KaiserWilhelm-Gedächtniskirche bestätigt ‒ »und genossen alle segensreichen Einrichtungen der Demokratie«. Genau in dem Moment, in dem diese letzten, die hehren Worte fallen, fährt die Kamera auf den Slogan »Mach mal Pause«, rückt ein Plakat von Coca-Cola ins Bild, auf dem eine blonde Bikini-Schönheit fürs Erfrischungsgetränk wirbt. »Übrigens«, erfahren wir noch, »das ist zufällig das Unternehmen, für das ich damals in Berlin tätig war«. Auf das Unterlegen von Reklame mit Demokratie-Emphase reagierte das bun­ desdeutsche Programmkino-Publikum von 1985 mit dankbarem Gelächter, aus dem gleichen Grund, aus dem 1962 die meisten deutschen Zuschauer den Film abgelehnt hatten: Wilder führt die größte der Schutzmächte West-Berlins offensichtlich vor. Gemäß der bewährten Figur ›x (hier: Demokratie) ist nichts anderes als y (Geschäft, Konsumismus, Sex sells)‹ demontiert die Bild- die Textinformation. Nur wird, eleganter als in klassischer Ideologiekritik, die Differenz von Schein und Sein nicht explizit angesprochen. Es genügt, die Werbung durch ihre Platzierung ›für sich sprechen‹ zu lassen. Ja, da wird entlarvt, dass es eine Freude ist, zumal man MacNamara auch noch bei einem Akt unerklärter Werbung erwischt (»zufällig das Unternehmen, für das ich…«) und er uns vorher mitgeteilt hat, dass die Augen Amerikas am 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus, nicht auf Berlin gerichtet waren, sondern auf ein wichtiges Baseball-Spiel. Geschäftemacher, Schlitzohren und Ignoranten! Das überwiegend studentische Publikum von 1985, bei dem die Amerikaner wegen der zweiten Amtszeit Ronald Reagans gerade besonders tief im Kurs standen, empfand Wilders Eingangspointen als Balsam ‒ wenn man schon politisch verloren hatte (die Mittelstreckenraketen waren stationiert), konnte man wenigstens seinen kulturellen Vorbehalten Luft machen. Sollte dieses Publikum 6 | One, two, three [1962]. ARTHOUSE 2012. Sämtliche Filmzitate nach dieser Edition.

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Wilder aber als eine Art Bündnispartner betrachtet haben, hat es ihn, den Wiener Exilanten jüdischer Herkunft, der in Hollywood Fuß fasste, gründlich missver­ standen. Eins, Zwei, Drei ist ein Hohelied auf die US-Kultur, gerade weil es so nicht auftritt. Es will auf eine Überlegenheit Amerikas indirekt hinaus; kenntlich wird die Superiorität am Kontakt von Amerikanischem mit Nicht-Amerikanischem. Die russische Handelskommission etwa bietet MacNamara als Gegenleistung für den Vertrieb von Coke in der UdSSR eine Tournee des Bolschoi-Balletts an ‒ statt Prozenten vom Umsatz in Dollar. Als der Manager ablehnt: »Bitte keine Kultur, nur Kasse!«, zischt einer der Russen »diese Kunstbanausen«. Trotz der eingängigen Alliteration von Kultur und Kasse ist es nicht wirklich der Amerikaner, der hier demaskiert wird, es sind die drei Genossen. Keiner von ihnen macht den Eindruck, das Bolschoi jemals von innen gesehen zu haben. Die Kunst bemühen sie nur, um die Devisenknappheit zu kaschieren. Der Amerikaner, so die hintergründige Sympathielenkung, mag ein Banause sein. Aber er ist kein Heuchler. Er spricht sein Prinzip offen aus, während die Kommission sich doppelt unaufrichtig verhält ‒ aus der Not der Mangelwirtschaft die Tugend angeblichen Kunstsinns macht und partout nicht eingestehen will, wie erpicht man auf den Sirup aus Atlanta ist (»mildly interested«). Bereits hier spitzt die Komödie zu, was sich bei Pohrt und Kracht nur abzeichnen wird: Die US-Mentalität, oder das, was als solche vorgestellt wird, gewinnt im Vergleich. Deutlicher noch wird der Primat der Relationen an MacNamaras Verhältnis zu den Deutschen, die ihm als hackenschlagende Jawohl-Sager auf die Nerven gehen. Das Preußische, politisch erledigt, überdauert in deren Hexis und Sprechweise (ein Habitusproblem, hätte Bourdieu gesagt). Hinzu kommt ihre blühende Ausfluchtskultur. Der deutsche Assistent des Filialleiters, der dienstbeflissene Schlemmer (Hanns Lothar), jetzt selbst vor einer Kuckucksuhr strammstehend, wenn Uncle Sam aus ihr grüßt, war vor ’45, wie MacNamara spottet, wohl ganz anderen Leuten gehorsam. Schlemmer aber versichert, als U-Bahn-Fahrer (»Under­ ground!«) damals nichts vom oberirdischen Geschehen mitbekommen zu haben. Später stellt sich heraus: Er war bei der SS. Aber nur ‒ so die neue Ausrede ‒ als Konditor. »Ich war ein sehr schlechter Konditor!« Böse Pointen wie diese ‒ wie viel Zorn muss der geflohene Wilder in Witz verwandelt haben ‒ werfen auf MacNamaras eigene Deformationen ein vorteilhaftes Licht. Die karrieristische Konkurrenzfixiertheit, in der er verhindert, dass auf einer Feier mit dem Coca-Cola-Chef von Atlanta deutsche Volkslieder gespielt werden, in denen Bier und Rheinwein vorkommen, wirkt zwar wie pervertierter Geschäftssinn respektive lachhaft. Und doch nicht halb so penetrant wie die Märchen deutscher Unschuldslämmer. Am effektivsten, da subtilsten aufgewertet wird Amerika, wenn Reklame auf Propaganda trifft, ihr östliches Pendant. »300.000 durstige Genossen […] lechzen nach der Pause, die erfrischt!«: Der ironiefreie Spruch MacNamaras klingt, als

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er fällt ‒ im ersten Filmviertel ‒, amerikanisch im unschönen Sinn, nach Marktschreierei im Extrem. Geradezu sachlich jedoch mutet er an, je länger Otto Ludwig Piffl schwadroniert, ein deutscher Kommunist, linientreuer als alle Russen zusammen. Des Managers junger, zeitweiliger Gegenspieler (Horst Buchholz) schwelgt im Bolschewiken-Pathos: »Ich ziehe den ehrlichen Stahl der Kanonen von Stalingrad vor!« und pflegt ein eigenwilliges Verhältnis zu physikalischen Fakten: Reden von Minus-Temperaturen auf dem Roten Platz sind für ihn »faschistische Lügen«. Auf die Spitze treibt Piffl die unfreiwillige Komik mit dem Satz »Das Leben in Amerika sieht so aus: Arbeitslosigkeit, Klassenhass, Gangsterei, Verbrechen Jugendlicher ‒ aber mit unserem neuen 20-Jahresplan werden wir euch schon noch einholen!«. Kommentiert Mac Namara das merkwürdige Planziel mit »Mach mal Pause«, verschiebt sich die Semantik des Werbeslogans. Dass er nun dazu dient, Parteiphrasen auflaufen zu lassen, die neue, unerwartete Rahmung, lässt die Funktion, die er zunächst erfüllte ‒ amerikanisches Sendungsbewusstsein zu konterkarieren ‒ nicht unberührt. Die erste Spitze, zeigt sich im Nachhinein, war eher liebevoll, beißender ist der Hohn auf die Roten. Erinnern wir uns, um die Entsicherung des Signikanten Coca-Cola-Plakat zu verstehen, an Roland Barthes’ berühmtes Beispiel für Mythenbildung im Alltag. Ein Foto in Paris Match hat zunächst nur den Sinn: Schwarzer Soldat entbietet der Trikolore den militärischen Gruß. Auf einer zweiten, metasprachlichen Ebene erhält das Foto Mitte der 1950er Jahre eine umfassendere Bedeutung: dass »Frankreich ein großes Imperium ist, daß seine Söhne, ungeachtet der Hautfarbe, treu unter seiner Fahne dienen und daß es keine bessere Antwort auf die Gegner eines angeblichen Kolonialismus gibt als den Eifer, mit dem dieser Schwarze seinen angeblichen Unterdrückern dient« (Barthes 2010 [1957]: 260 f.). Der Sarkasmus eines französischen Analytikers französischer Befindlichkeiten hat zur Voraussetzung, dass beim zweiten Signifikat keine Doppeldeutigkeit möglich ist (ebd.: 261). Das Coca-Cola-Plakat im Film hingegen weist sie auf. So schlicht der primäre Sinn ist: »amerikanischer Konzern wirbt für Kaltgetränk«, das zweite Signifikat schwankt zwischen, sagen wir, »Amerikaner liegen einem mit Verkaufe in den Ohren« und »vergleichsweise erträgliche Penetranz, Zeugnis der zu Recht führenden Zivilisation auf Erden«. Durch das Kontextualisieren steuert Wilder die Bedeutungszuweisungen, und wechselt er zwischen zwei gegensätzlichen, letztlich der americanophilen zuneigend, verweist das auf die zwiespältige, nicht jedoch neutrale Position des Emigranten. Den USA fremd genug, um mit ihnen spöttischer umzugehen als jeder andere zeitgenössische Hollywood-Regisseur, zeigt er sich der neuen Heimat doch allemal verbundener, als er Europäern, besonders Deutschen noch sein könnte. Der Semiologe wollte den salutierenden Schwarzen ausdrücklich nicht als Symbol verstanden wissen, »dafür hat er zuviel Präsenz, er erscheint als ein

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reiches, gelebtes, spontanes, unschuldiges, unbestreitbares Bild« (Barthes 2010 [1957]: 263). Dass das Bild keinen Urheber kennt, der es es mit Bedeutung hätte aufladen wollen (woran der Symbolbegriff bei Barthes offenbar gebunden ist), dass also scheinbar nur dokumentiert, nichts bedeutet werden soll, diese gewissermaßen reine Präsenz mache das Bild zum besten Komplizen des Mythos vom unverwüstlichen französischen Imperium ‒ und damit zum Gegenstand gehobener (nicht anprangernder) Ideologiekritik. Wilder hingegen nutzt die Omnipräsenz von Coca-Cola-Plakaten im Wirtschaftswunder-Deutschland, um mit einem schon kollektiv als Konsumsymbol verstandenen Signikanten zweistufig umzugehen. Lässt er dem Symbol zunächst eine ideologiekritische Behandlung angedeihen ‒ beladen mit Demokratie-Emphase kann es nur verlieren ‒, zehren die folgenden Wertungsteuerungen die Ideologiekritik aus ‒ dezent, indem sie den ach so aufdringlichen Konsumismus mit den Penetranz- und Verlogenheitswerten westdeutscher wie kommunistischer Rede konfrontieren, dadurch als harmloser bedeuten, weniger entzauberungsbedürftig. Kurz, für Amerika wirbt der Film unterschwellig. Wenn auch nicht intentional, funktioniert er ähnlich wie die in den USA der Fünfzigerjahre entwickelte Reklametechnik.

2. C oke

macht mehr draus

(R olf D ieter B rinkmann)

Aus verwandten Gründen wie Wilders Streifen lässt Krachts jüngster Roman ein pop-kulturelles Element erkennen, wenn auch nicht mehr.7 Spielt der eine durchgehend mit Werbung, so der andere am Schluss mit Kulturindustrie. Die Begegnung des fiktiven Engelhardt mit den Amerikanern hat Folgen, sein abenteuer­liches Leben bringt es zum Thema eines Hollywood-Films. Mehr, in einer metafiktionalen Wendung stellt Kracht am Romanende dessen Anfang als Vorlage des betreffenden Drehbuchs vor. Die Produktionen von 2012 und 7 | Kracht selbst verbittet sich seit je, mit dem P-Wort in Verbindung gebracht zu werden, und wird es auch immer seltener. Gilt Faserland, das Debüt von 1995, vielen als Gründungsphänomen deutscher Pop-Literatur, so pflegt man Imperium dieser nicht nur nicht zuzurechnen; der Südsee-Roman gilt als das Werk, mit dem der Erzähler den pop-literarischen Anfängen, so es sie gegeben hat, endgültig entwachsen sei. Vgl. pars pro toto den Anfang der Rezension von Schütz, Erhard: »Kunst, kein Nazi-Kram«, in: Der Freitag ›http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/kunst-kein-nazikram‹ (Zugriff am 8. 4. 2014). Faserland zum Beginn deutscher Pop-Literatur zu stilisieren, scheint mir im Übrigen fragwürdig, da deren Emergenz eher 1983 anzusetzen wäre, mit Texten von Rainald Goetz (Subito) und Peter Glaser (Der große Hirnriß), die den vorausgegangenen, solitären Einsatz von Rolf Dieter Brinkmann stabilisierten.

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1962 haben zumindest an dieser Stelle gemein, Populärkultur, statt als Gegenpol von Kunst, als deren Spielmaterial zu nutzen ‒ einen augenzwinkernden Umgang mit den USA, zur Dichotomie von Pro- und Antiamerikanismus quer stehend. Letzteres gilt selbst für den Urvater deutscher Pop-Literatur, Rolf Dieter Brinkmann, was zu erwähnen nötig sein mag, da er schon zu Lebzeiten als »Vorgartenzwerg der US-Pop-Szene« verschrien war (so Karsunke 1970). Die Unterstellungen von Amerikahörigkeit mach(t)en es sich zu einfach, ebenso wie später jene Art Kanonisierung, die das Vorzeichen nur umkehrte, einen treuen Freund der USA und frühen Postmodernisten auszeichnete.8 Zutreffend und ein Gemeinplatz ist, dass Brinkmann sich beim Öffnen der deutschen Literatur für Massen- und Medienkultur auf amerikanische Vorbilder bezog, sein Projekt polemisch von alteuropäischen Stilisierungszwängen und Oberflächenphobien abgrenzte, wie er sie im Umfeld der Gruppe 47 wirken sah.9 Richtig ist indes auch, dass er an den zeitgenössischen Lyrikern des US-Underground schätzte, weniger als ihre Vorgänger »zwanghaft amerikanisch« zu sein (Brinkmann 1969: 10). Worin aber liegt dann Ende der Sechziger ihre Attraktion? Was der angehende deutsche Lyriker von ihnen lernt, allen voran von den ›I-do-this,-I-do-that-poems‹ des Frank O’ Hara, ist, »daß schlechthin alles, was man sieht und womit man sich beschäftigt, wenn man es nur genau genug sieht und direkt genug wiedergibt, ein Gedicht werden kann« (Brinkmann 1968: 8 f.). Allerdings, und wie der Forschung seit Längerem geläufig,10 nimmt der deutsch-amerikanische Kulturvermittler die Gedichte O’ Haras selektiv wahr, er stellt dem deutschen Publikum nur diejenigen vor, die zu seinem, Brinkmanns, Interesse passen: zum Verarbeiten der Schrift- und Bildbotschaften in der Populärkultur, vor allem zur Ästhetisierung der Oberfläche. »[W]ir leben«, heißt es im Vorwort zur Edition, »an der Oberfläche von Bildern, ergeben diese Oberfläche, auf der Rückseite ist nichts ‒ sie ist leer. Deshalb muß diese Oberfläche endlich angenommen werden, das Bildhafte täglichen Lebens ernst genommen werden« (Brinkmann 1969a: 69). Das Programm in der Nationalkategorie ›amerikanisch‹ zu fassen, wäre abwegig; schließlich ist die in Rede stehende Lebenswelt jen- wie diesseits des Atlantik anzutreffen. Die erste Person Plural, »wir leben«, sagt es schon. Wie sich Oberfläche ernst nehmen lässt, ist einem Auszug aus dem Gedicht auf einen Lieferwagen u. a. ablesbar, publiziert im Piloten-Band von 1968:

8 | Vgl. Luckscheiter 2001: bes. 42 ff. 9 | Vgl. Rolf Dieter Brinkmann 1968a. 10 | Vgl. Kramer 2003: 32.

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»Es ist Samstagnachmittag / und nichts los: ich lehne / mich über die Balkonbrüstung // Die Sonne scheint / die Sonne scheint / und unten auf der / Straße steht ein / sauber gewaschener / Lieferwagen mit der Aufschrift / Coke ges. gesch. // die neue Form der Schrift / für eine alte Marke aus der / Nachkriegszeit mit Photos / von General Eisenhower, jetzt / Farmer in den / USA ges. gesch. // und ich kann nichts dafür, daß / es so ist, ich kanns nicht, baby / komm wir spritzen ab vor diesem // neuen Lieferwagen und werden / zusammen gelb und rot, warum / auch nicht? Das / Wetter ges. gesch. / ist schön wie nie zuvor mit / so einem neuen Lieferwagen im Kopf […]« (Brinkmann 1968: 67 f.).

Wenn der Lyriker den Markennamen Coke in fettem Großdruck setzt, viermal größer als den Rest, und dabei die vom Konzern gewählte, neue Schriftform selbst verwendet (d. h. eine vertikale ‒ nicht die bekannteren, nach rechts geneigten, elegant geschwungenenen Jugendstil-Lettern), sodann »USA« und »Wetter« dem Markennamen in Schriftgröße, -format und -art angleicht, die Angleichung schließlich semantisch komplettiert, indem er auch »USA« und »Wetter«, wie die richtige Marke, mit dem »ges.[etzlich] gesch.[ützt]« versieht,

dann liegt eine mitteleuropäisch-amerikanische Mischform vor. Mit der Konkreten Poesie, der in Österreich, Deutschland und der Schweiz entwickelten, teilt das Gedicht die Idee, Wörter nicht mehr (nur) als Bedeutungsträger, sondern als visuelle Gestaltungselemente einzusetzen. Zudem gilt zumindest für das »Coke«, wie gehabt das Schriftbild auf das Signifikat verweisen zu lassen. In der Konkreten Poesie vor den Piloten werden die Wörter jedoch erst so geformt (angeordnet, wiederholt, geschnitten, ausgelassen etc.), dass ihr Bild der inhaltlichen Bedeutung entspricht ‒ man denke an Reinhard Döhls Apfel von 1965. Anders Brinkmann, der das Schriftbild von Coke vorfindet und es dem Gedicht unverändert einbaut, wie mit einem Objét trouvé und Ready-made verfährt. Hauptunterschied im Ähnlichen: Weder zu den Signifikaten der Konkreten Poesie noch zu den vorfabrizierten Objekten, die ‒ nach André Bretons Wort ‒ die Würde eines Kunstwerks erlangen durch die Wahl des Künstlers, zählte je, was Brinkmann zum Gegenstand erhebt: ein amerikanischer Markenname.

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Als Pfropfung im metaphorischen Sinn11 ist die Mischform beschreibbar, insofern a) ein amerikanisches Markenzeichen versetzt und einer literarischen Gattung bzw. gleich zwei künstlerischen Verfahren der europäischen Avantgarde eingefügt wird, b) das Gedicht eine Schnittstelle darstellt, die zwei voneinander unabhängige Größen, amerikanische Markenkultur und europäische Wortkunst, zu einer funktionalen Einheit verbindet, zuvorderst aber c), weil die Verbindung eine kultivierende Qualität besitzt. Welche? Die Funktionsmöglichkeiten der ›Unterlage‹, das heißt der Größe, der man etwas implementiert, hier: die Konkrete Poesie, werden durch das Hinzugekommene, das Design des Markennamens, gesteigert ‒ auf zwei sehr unterschiedliche Weisen. Was die literarische Strömung ohnehin kennzeichnet: Aufmerksamkeit auf die visuelle Gestalt von Wörtern zu lenken und von ihrer Bezeichnungsfunktion abzuziehen, radikalisiert sich, wenn man die Bezeichnungsfunktion eines Wortes wie »Coca-Cola« bagatellisiert. Zugunsten der reinen Oberflächenqualität, der »neuen Form der Schrift«, wird ein Wort semantisch entleert, das als schweres Zeichen gilt, weil es, wie wir sahen, ein zweites Signifikat tragen kann ‒ und davon wiederum zwei: amerikanischen Segen oder Kulturimperialismus. Steht nun bei Brinkmann das Wort für überhaupt keinen Hintersinn mehr, stattdessen für einen Oberflächenreiz, deckt sich das mit der programmatischen Austreibung von Metaphysik: »Auf der Rückseite ist nichts«. Doch hat das Treffen von Konkreter Poesie und amerikanischer Marke noch einen zweiten, gegenteiligen Effekt. Sobald die Schriftform der Marke auf die ›falschen‹ Signifikanten »USA« und »Wetter« übertragen wird, wuchern die möglichen Bedeutungszuweisungen. Nicht nur, dass die Übertragung den Stand der literarischen Reihe verschiebt, die Bildlichkeit der Schrift nunmehr dem Inhalt kontrastiert, statt ihn, wie vordem in Konkreter Poesie üblich, zu unterstreichen. (Die Entsprechung bei Döhl wären etwa graphische Bearbeitungen des Worts »apfel«, die eine Birnenoder Bananenform ergeben.) Die Übertragung stimuliert auch die ärgste aller Deutschlehrer-Fragen, nämlich die, was uns der Dichter damit sagen will. Womöglich signalisiert das graphische Angleichen von Coca-Cola, USA und Wetter, dass die Vereinigten Staaten ein einziges großes Unternehmen sind, keine andere Gesellschaft so vom Geschäft bestimmt ist wie diese, man ihre Abkürzung daher gleich wie ein Warenzeichen behandeln sollte. Dass auch noch das Wetter, das letzte Refugium vom Kapital unbeherrschbarer Natur, als eingetragenes Warenzeichen auftritt, könnte hyperbolisch auf eine totalisierte Markenkultur verweisen, die unsere Lebenswelt zu kolonialisieren beginnt. Ein ›kritischer Gehalt‹, an dem Habermas seine Freude hätte? Nun ja. Dass dem Lyrischen Ich die CokeSchrift auf dem Lieferwagen so gut gefällt, dass es Lust auf Sex bekommt, mutet 11 | Vgl. Wirth 2011.

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schon mal wenig kritisch an. Und sieht »Wetter« wie »Coke« aus, liegt das nur auf Linie des wertungsfreien, wenn nicht bejahenden Autorkommentars, demzufolge die moderne Umwelt aus Technik und massenkulturellen Zeichen, die zweite Natur, längst an die Stelle der ersten getreten ist. »Das Wetter ist ein Technicolor-Wetter. […] Alle Bilder und Landschaften sind künstliche Bilder und Landschaften« (Brinkmann 1969: 25). Es mag schon sein, dass die USA durch die Angleichung ans Coke-Design und das »ges. gesch.« aufs Korn genommen werden. Doch was ändert das an ihrer im Ganzen positiven Konnotation, der, Abwechslung zu bringen in einen langweiligen Samstagnachmittag? Auch löst die neue Schrift der US-Marke beim Ich eine mémoire involontaire aus. Die Kindheit von Brinkmann, dem 1940 im Niedersächsischen Geborenen, führte statt durch die Lüneburger Heide durch die zweite Natur, an der alten Form der Coke-Schrift und an Photos von General Eisenhower entlang. Die Differenz zwischen alter und neuer Schrift markiert fürs Ich den Abstand zwischen Kindheit und Jetzt, wenn nicht die neue Schrift sogar das Ende der Nachkriegszeit einläutet. Zumal angesichts der umflorten Kindheitsreminiszenz spricht einiges für eine Verbeugung vor Coke. Konkrete Poesie mit US-Markendesign zu pfropfen, ermöglicht also Sinnentzug wie -überschuss. Welche der Interpretationen wir bevorzugen, ist letztlich unerheblich. Das eigentlich Erinnernswerte, weil 1968 neu, ist, dass ein deutschsprachiges und von einer US-Marke handelndes Gedicht amerikafreundliche Lesarten überhaupt zulässt. Schon die nicht eindeutig kulturkritische Intention verschafft ihm einen beträchtlichen Distinktionswert im zeitgenössischen literarischen Feld, macht den Unterschied aus vor allem zu Ingeborg Bachmanns Reklame, dem eine Dekade zuvor erschienenen Text, der Mitte der Sechziger seinen Siegeszug durch die Schulbücher antritt. Wie ganzen Gymnasiasten-Generationen geläufig, heißt es am Ende des Besinnungsklassikers: »und wohin tragen wir / am besten / unsre Fragen und die Schauer aller Jahre / in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge / was aber geschieht / am besten / wenn totenstille / / eintritt« (Bachmann 21967 [1956]: 44). In einer »denunziative[n] Katachrese« (Stanitzek 2008: 138) verschneidet die Wortbildung »Traumwäscherei« ›Gehirnwäsche‹ mit ›Traumfabrik‹, sprich: das, was deutsche Studienräte mit Gehirnwäsche seinerzeit am liebsten verbanden, die ›typisch amerikanische‹ Manipulation durch Werbung, mit genauso Schlimmem, Hollywood. Bei Bachmann, die bei allen Vorbehalten gegen Heidegger dessen Aversion gegen das öffentliche Gerede des Man teilte, ist die penetrant seinsvergessene (»sei ohne sorge«) Werbestimme unverkennber amerikanisch codiert. Genau solche europäischen Selbstvergewisserungen sind es, von denen sich Brinkmanns Mischung verabschiedet. Am Gedicht auf einen Lieferwagen u. a. werden noch weitere Aspekte von Kulturkontakt sichtbar. Zunächst einmal dessen Herstellung ‒ hier durch einen deutschen Schriftsteller, der aus europäischer Literatur und amerikanischer Waren­

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ästhetik jeweils das spontan aufgreift, was ihm zusagt, und es kombiniert. Ergebnis des, nach seinem Empfinden, Besten von allem: ein vergleichsweise alterungsresistenter, noch heute lesbarer Text. Dem lässt sich, Spontaneität ausgenommen, das Beispiel von Wilder zur Seite stellen. Er zeigt das gleiche Verhalten in der Gegenrichtung, bringt amerikanische und deutsche Schaupieler ›auf Augenhöhe‹ zusammen, statt die deutschen, wie damals in Hollywood die Regel, in Nebenrollen abzuschieben. Zwei Top-Komödianten der USA, neben Cagney Leon Askin ‒ im Film der Sprecher der Russen, im wirklichen Leben wie der Regisseur ein Wiener Emigrant ‒ treffen auf die Crème junger deutscher Darsteller, Lothar und Buchholz, wodurch enorme Reibungsenergie entsteht. Die Vier treiben sich wechselseitig zur Höchstleistung. Das Ergebnis ist ein Film, der als mit dauerhaftem Wert behaftet gilt, ein Klassiker. Kulturkontakt, dürfen wir aus beiden Fällen schließen, taugt als Konservierungsmittel. Drittens zeigt uns das Gedicht, in welcher Form die USA im Deutschland der Sechzigerjahre präsent waren: in aller Regel medial. Von einer Schrift ist bei Brinkmann die Rede, in vielen anderen Arbeiten des Piloten-Bands von Film und Comic, doch ein GI ist weit und breit nicht zu sehen. Offenbar kannte der Autor keinen; war dem so, dann ging es ihm wie den meisten seiner Leser. Schon wegen des Fehlens von Face-to-face-Beziehungen zu Amerikanern, für weite Teile der westdeutschen Bevölkerung typisch, wohnte man nicht gerade in Garnisonsstädten, erweist sich die Metapher von der ›US-Kolonie‹ Bundesrepublik als schief. Viertens ist das »komm wir spritzen ab vor diesem // neuen Lieferwagen« zwar vorteilhaft, als ein intermedialer Vorsprung beschreibbar ‒ »Why don’t we do it in the road«, der Beatles-Song, wird erst etwas später veröffentlicht (November ’68). Und doch scheint in den Gedichtzeilen, trotz des gelungenen Enjambements, ein ästhetisches Problem durch. Der ständigen Verwendung von »spritzen«, »ficken« und »wichsen« (Brinkmann 1968: 35, 54, 93 f.), dem schwer tabubrecherischen Sprachgebrauch, ist das symbolische Altern auf die Stirn geschrieben. Die Pornografisierungen in Brinkmanns Lyrik (nicht aber in Lennon/McCartneys Lyrics) bilden das Element, dessen Provokationswert sich am schnellsten verbrauchen sollte, einfach aufgrund einer in den Siebzigern immer permissiver werdenden Bundesrepublik. Bedenkt man weiter, dass der Autor die Dirty Speech aus den USA übernahm, teils von der Beat Generation, teils von der Rockband The Fugs, ergibt sich, dass Kulturkontakt auch zum Verfallsbeschleuniger werden kann. Andererseits, fünftens, setzten Pornografisierung und Dirty Speech eine wichtige, weil binnenamerikanische Unterscheidung. Sexualisiert Brinkmann in einem anderen der Piloten-Gedichte Robin und Batman, die im Original noch strikt asexuellen Comic-Helden, und zwar in forciert derber Manier ‒»nein, Batman / laß deine / Bathose an / ich fick / durch den / Batstoff« (ebd.: 94) ‒, dann setzt er Stilmittel des US-Underground ein, um cleane Ikonen der US-Jugendkultur zu

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entweihen. Mit Amerikanern gegen Amerikanisches: Die Allianz von US-Underground und deutschem Autor erinnert uns daran, dass das, was bi-nationaler Kontakt zu sein scheint, meist bi-nationaler Milieukontakt ist. Kenntlich wird die Ambivalenz des Piloten-Autors gegenüber den USA: So nahe er ihrer Counterculture stand, so zuwider war ihm ihre aseptische WASP-Kultur. Dennoch kam Brinkmanns ›unterkomplexes‹, da einfach proamerikanisches Image nicht von ungefähr. Zu seinem Entstehen genügte 1968 schon, von USComics, -Filmen und -Marken zu sprechen statt vom Vietnam-Krieg; auch durften sich die deutschen Altersgenossen von einem Detail provoziert fühlen. »Alle reden vom Wetter. Wir nicht«, das im Januar ’68 kreierte Plakat des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, das einen Slogan der Deutschen Bundesbahn mit den heroischen Profilen von Marx, Engels und Lenin kombinierte und so umfunktionierte, ›im Interesse des Vietcong‹, dieses linke PR-Kunststück wird seinerseits vom Dichter ironisiert. Keiner redet mehr vom Wetter, Brinkmann schon, er findet das amerikanisierte »Wetter ges. gesch.« sogar »schön wie nie zuvor«.

3. U nter der C oca-C ola-S onne (M onarchie und A lltag , Fehlfarben) Einen Schritt der Emanzipation von Amerika machen gut ein Jahrzehnt später deutsche Pop-Musiker, als sie sich entscheiden, auf Deutsch statt auf Englisch zu singen. »Im Gefolge des Punk hatte sich […] eine Idee festgesetzt: Wir machen unser eigenes Zeug. Gegen den angelsächsischen Rock’n’Roll-Imperialismus wurde an Bruchstellen deutscher und europäischer Kultur neu angesetzt, beim deutschen Schlager der Fünfziger und Sechziger Jahre ebenso wie beim Dadaismus der Zwanziger«,

fasst der Schriftsteller Peter Glaser rückblickend zusammen. Und er fügt hinzu, dass das Album von 1980, das wie kein anderes für den Aufbruch stand, Monarchie und Alltag von den Fehlfarben, einen prominenten Vorbehalt gegen deutsche Texte widerlegte. »Sänger Peter Hein brachte es sogar zuwege, ein Wort wie ›Lieblingsfernsehonkel‹ mitreißend zu singen. Der Satz des Dichters Rolf Dieter Brinkmann, auf Deutsch könne man nur denken, nicht singen, erwies sich als falsch« (Glaser 2000: 3 f.). Glasers Booklet-Text, verfasst für eine digitale Neuauflage des Albums zum 20-jährigen Jubiläum, beschreibt allerdings weder eine einfache Abkehr vom Angelsächsischen, noch wird insinuiert, es sei allein ums Deutsch-Singen gegangen. Zum Leitstern der N(euen) D(eutschen) W(elle) ‒ in deren Anfangsphase,

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vor der 1982 einsetzenden Verflachung ‒ bringt es die Platte der Düsseldorfer Gruppe auch durch einige Merkmale, die sie von vorausgegangenen deutschsprachigen Produktionen abheben. Eine Bemerkung im Booklet deutet es an: »Nachdem Udo Lindenberg nur noch Schlagzeilen sang und Nina Hagen ihren Operettenpunk vorgeführt hatte, versuchten sich nun neue Gruppen an einer eigenständigen deutschen Popmusik« (ebd.: 3). Mit ›eigenständig‹ ist schon mal nicht Operettenpunk gemeint, er erscheint als eher schrullige Abweichung vom Standard ‒ nicht nur einem Glaser im Nachhinein, vermutlich auch den Fehlfarben seinerzeit. Sie nämlich bewegten sich, im Unterschied zur Nina Hagen Band von 1978 (der noch rockorientierten), im schneidenden Postpunk-Idiom, im neuesten angelsächsischen Rahmen. Am ehesten ähnelte ihr unvergleichlicher Klang noch dem Sound von The Fall, einer 1976 gegründeten Band aus Manchester. Das erste Unterscheidungsmerkmal der Fehlfarben in der Bundesrepublik ist also die Kombination aus deutschen Texten und Postpunk. Damit hat man Lindenberg zweierlei voraus: die interessanteren deutschen Lyrics ‒ keine »Schlagzeilen« ‒ und die Ferne zum musikalisch Überholten. Denn auch wenn es im Rückblick heißt: »in der Rockmusik der ausklingenden Siebziger drückte sich nur noch eitle Geschwätzigkeit aus« (ebd.: 4), darf sich der Hamburger Deutschrocker angesprochen fühlen. Dessen Panikorchester neigte zu musikalischen Phrasen ‒ dumpfen Gitarrenriffs und quengelnden Soli wie die Rolling Stones in ihren trüberen Momenten. Beteiligt sind die Fehlfarben mithin an Umstürzen auf unterschiedlichen Ebenen: »Im Gefolge des Punk« bricht man mit dem Rock-Idiom und hat so Anteil an einer Bewegung, die englische wie auch amerikanische (The Stooges, Talking Heads) Bands eingeleitet hatten, an einer angelsächsische und deutsche Kultur übergreifenden Entwicklung. Von der gesamten angelsächsischen Kultur im Gefolge des Rock’n’Roll wiederum, auch von den Postpunk-Varianten, hebt man sich durch die Wahl deutscher Texte ab. Die Absage an den »angelsächsischen Rock’n’Roll-Imperialismus« erweist sich als doppelwertiger Kulturkontakt, der musikalisch an eine angelsächsische Neuerung anschließt und im gleichen Zug, textuell, deutschen Eigensinn geltend macht. Ein Ineinander von Distanz und Anschluss zeigt auch der Umgang der Gruppe mit den USA. Ablehnung spricht nicht nur aus »graue b film helden regieren bald die welt«,12 der heute geläufigsten, auf die heraufziehende Reagan-Regentschaft bezogenen Zeile des Demo-Klassikers ein jahr (es geht voran). Verneinung ist ebenso zu hören aus »marder wiesel wiking phantom.13 albatross milan tornado. 12 | Fehlfarben: Monarchie und Alltag (1980). EMI Electrola 2000. Sämtliche SongtextZitate nach dieser Edition. 13 | Kleinschreibung und (eigenwillige) Zeichensetzung folgen dem Booklet von 2000.

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aus den waffenschmieden der nation. tag für tag in steter produktion. einkaufsbummel im erdnussland. was übrig bleibt wird entwicklungshilfe genannt«. Apokalypse assoziiert die westdeutsche Rüstungsindustrie mit den USA des NochPräsidenten Jimmy Carter (im Nebenberuf Erdnuss-Farmer). Hintergrund der gedanklichen Verbindung ist der 1979 von US- und bundesdeutscher Regierung gefasste Beschluss, bei scheiternden Abrüstungsverhandlungen mit der UdSSR ›nachzurüsten‹. Apokalypse, einer der Soundtracks der oben erwähnten Proteste gegen die Stationierung von Pershing II und Marschflugkörpern, evoziert eine deutsch-amerikanische Allianz bedrohlicher Art. In den Schreckensphantasien vom nuklearen Inferno (»Ich bettle nicht um Sekunden / Ich sehe schon ein flammendes – // Ernstfall – es ist schon längst soweit«) trifft sich die deutsche Formation mit dem linken Flügel des britischen New Wave, insbesondere mit Fischer-Z, deren ebenfalls bereits im Titel untergangsgestimmtes Album Red skies over paradise (1981) die explizit stationierungskritische Nummer Cruise Missiles enthält. Stiftet der Postpunk im Ganzen eine angelsächsisch-deutsche Nähe, so der politische Anti-Amerikanismus im selben eine deutsch-britische Achse. Ebenfalls negativ konnotiert ist auf Monarchie… das bekannteste Waren­ zeichen der USA, wie aus dem textuellen Zusammenhang hervorgeht: »wir tanzten bis zum ende zum herzschlag der besten musik. Jeden abend jeden tag wir dachten schon das ist der sieg. das war vor jahren das war vor jahren. die coca cola sonne scheint aufs neue auf den glanz unserer republik. es gibt bei uns leute die finden das chic«. Der Anfang im Präteritum handelt von der Sternstunde der eigenen Jugend ‒ 1977/78 kommt Punk nach Deutschland ‒, das Präsens hingegen von der Gewissheit, »dass man das Beste allemal hinter sich hat« (Diederichsen 2005: 141).14 Was auf Seiten der schlechteren Gegenwart steht, die CocaCola-Sonne, spielt auf etwas dem Punk Folgendes und Unerfreuliches an. Ob nun speziell auf die Popper, eine 1979 von Hamburger Gymnasien ausgehende, apolitisch-konsumistische Strömung, oder allgemeiner auf den konservativen Rollback, der sich 1982 in einem Regierungswechsel manifestieren sollte ‒ so oder so rücken mit dem Cola-Symbol ›deutsche MacNamaras‹ ins Visier, die die USA als Hort von Freiheit und Wohlstand betrachten. Insoweit liegt auch die zweite Amerika-Referenz im linken Mainstream. Allein, das gesinnungsmäßig Vertraute ist ungewöhnlich formuliert, »Coca-Cola-Sonne« ein Bild mit Seltenheitswert. Es verschmilzt Natur und US-Marke, so wie es das Brinkmannsche »Wetter« im Coke-Design tat. So gegensätzlich man die Gesangsqualitäten deutscher Sprache einschätzt, wie der (Wahl-)Kölner Lyriker 1968 wählen die 14 | Das Fazit von Diederichsen, der von einer bei Mittzwanzigern doch etwas »präpotenten Sicherheit« spricht, bezieht sich aufs Trackganze. ohne auf die Coca-Cola-Stelle einzugehen.

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Düsseldorfer Musiker 1980 eine Metaphorik mit Markenkultur als Bildempfänger, Natur als Bildspender. Sei es bewusstes, sei es indirekt-unbewusstes Zitieren oder auch nur Zufall, es sind Musiker, die Brinkmanns poetisches Verfahren fortsetzen ‒ was das Etikett »Pop-Autor« nachträglich plausibilisiert (überdies die Kulturkreise Köln und Düsseldorf in Kontakt bringt, aus rheinischer Sicht erstaunlich). Gleichwohl lässt sich auch der Unterschied im Ähnlichen akzentuieren: Anders als im Piloten­-Gedicht, ist das Sprachbild der Fehlfarben eben US-kritisch intendiert. Umso irritierender nimmt sich für anti-amerikanisch disponierte Hörer der Track abenteuer und freiheit aus.15 Das mit dem umgestellten Marlboro-Slogan betitelte Stück macht nicht etwa das Markenimage lächerlich ‒ das vom einsamen, harten Mann in der Weite des Wilden Westens. Vielmehr entwendet man den Slogan wie auch die Erkennungmelodie der Marlboro-Country-Kampagne aus dem angestammten Zusammenhang, stellt beide in einen anderen und lässt sie dort eine neue Funktion erfüllen. (Neben schriftlichen erzeugen auch musikalische Zitate in verändertem Kontext neue Bedeutungen.)16 Aufgepropft wird das US-Material dem Thema der Nummer, einer Kampfansage an die angestaubte Gegenkultur von 1968. »es ist zu spät für die alten bewegungen. Was heute zählt ist sauberkeit. Ihr kommt nicht mit bei unseren änderungen. Für uns seid ihr noch nicht reif. wir sind noch wenige doch wir haben uns gefunden. wir stehen im dunkeln bereit« ‒ direkt nach den manifestartigen und zu einem flotten Ska-Rhythmus vorgetragenen Zeilen spielt das Saxofon eine Variation des Marlboro-Themas. Durch Transponieren und Hinzunehmen bzw. Weglassen einzelner Töne wird das bekannte Thema Henry Mancinis angepasst (aus acdcbf / acdcbg in F-Dur wird egagfc / egaaagf in C-Dur). Marlboro-Zitat und Ska-Nummer funktionieren synergetisch: Das eine verleiht der anderen Feierlichkeit, ohne den treibenden Rhythmus abzubremsen, durch den es seinerseits gewinnt. Das Fremdmotiv verstärkt die Punkhymne auch durch die ausgelösten Assoziationen. Neben Freiheit und Abenteuer, den Begriffen des dazugehörigen Werbeslogans, die nun mit dem Punk verbunden werden dürfen, sind dies Härte und Schneid, die vom Marlboro-Mann im Werbespot verkörperten Eigenschaften, vom Punk wiederentdeckt/aufgewertet und gegen eine als allzu soft empfundene Gegenkultur gewendet. Im Verein mit dem Titel maximiert das musikalische 15 | Eine Single von 1979, nicht zur Originalfassung von Monarchie… zählend, erst auf der Jubiläums-Edition als Bonus-Track wiederveröffentlicht. 16 | Jacques Derrida beschreibt in Signatur Ereignis Kontext (1972) neue Kommunikationsmöglichkeiten von Zitaten durch Kontextwechsel ausschließlich am schriftlichen Zitattyp. Vgl. den Hin- und Nachweis von Wirth 2011: 20.

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Marlboro-Zitat, wovon die Lyrics ›nur‹ verbal handeln: die Distanznahme zu den »alten Bewegungen«. Denn gleich, ob man dazu Späthippies, Ökobewegte oder 68er-Studienräte zählt, zum Zeitpunkt der Fehlfarben-Intervention eint sie alle die Gewohnheit, »Freiheit und Abenteuer« für eine Phrase zu halten und den Marlboro-Mann für ein habituelles Auslaufmodell, den Inbegriff peinlichen Machotums. Dem Marlboro-Zitat ist, wenn es die Attackierten denn zur Kenntnis nehmen, eine befremdete Aufnahme sicher. Es parodiert eine US-Marke so wenig wie es Amerika wirklich ehrt (das signalisiert schon die Inversion abenteuer und freiheit); es verdankt sich einer strategischen Affirmation, mit der man einem verhassten Inlandsmilieu eins auswischen will: Konsum- immer noch lieber als eure Gegenkultur! Um einen transnationalen Kulturkontakt geht es erst in zweiter Linie, weil primär um ein gegen ein bestimmtes Inlandsmilieu gerichtetes Distinktionsbedürfnis. Der gleichen Logik ist die Ambivalenz der US-Bezüge geschuldet. Ob man amerikanische Marken mit negativem oder zustimmendem Zungenschlag aufruft, hängt davon ab, ob man sich gerade von CDU/CSU-Anhängern abgrenzen möchte (dann »Coca-Cola-Sonne«) oder aber den für die Gegengegenkultur konstitutiven Anti-68er-Affekt laut werden lässt (dann abenteuer und freiheit). Das zwiespältige Verhältnis zu Amerika resultiert aus einem Zweifronten-Kampf im Inland. So erinnernswert wie die gegensätzlichen Bewertungen der 1980 populärsten US-Marken ist im Nachhinein, auf welche Produkte die Fehlfarben mit ihnen verwiesen. Heutige Twens, die mit US-Kultur eher ein weißes f auf blauem Grund oder einen angebissenen Apfel verbinden, können dem Wissensspeicher Pop entnehmen, dass es einmal eine Zeit gab, in der, neben einem noch heute weltweit beliebten Kaltgetränk, Karzinogenes wie Zigaretten als US-Symbol galt. Lange her. Der Pop-Song bezieht sich auf ein untergegangenes oder doch im Niedergang befindliches Segment der Markenkultur; archiviert er diese, legt er auch ihren Zeitkern offen. Und ein Theorieaspekt ist beachtenswert: Britischer Ska trifft auf amerikanische Werbemelodie trifft auf deutschen Text, britisch inspirierter Punk trifft auf deutschen Text mit amerikanischer Markenmetapher ‒ die auf Monarchie… beobachtbare Massierung transnationaler Kontakte, begünstigt durch die Wort-Musik-Relation der Gattung Pop-Song, lässt sich sowohl im Kulturmodell Pfropfung als auch in dem der Hybridisierung beschreiben. Die beiden in botanische Metaphern gefassten Modelle eröffnen unterschiedliche Perspektiven, die zusammenzuführen sich empfiehlt, will man der hier verhandelten Mischung gerecht werden. Bei einer Pfropfung wird, wie erwähnt, A B eingefügt, um B zu veredeln. Das trifft auf das Marlboro-Zitat zu, das Ska wie deutschen Text anreichert; umgekehrt verleiht die Coca-Cola-Sonne Punk-Lyrics ungewohnt poetische Valeurs. Auch dass bei einer Pfropfung voneinander unabhängige Organismen zu einer

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Einheit verbunden werden, ohne ein gekreuztes Drittes zu ergeben,17 ist im außerbotanischen Zusammenhang bedenkenswert: die Fehlfarben mutierten nicht zu Deutsch-Amerikanern oder Deutsch-Engländern. Sie kombinierten ein den Anglizismen weitgehend abholdes Deutsch mit der neuesten Musik angelsächsischer Herkunft; auf Denglisch aber sang man nicht. Gegen eine wechselseitige Durchdringung zweier Kulturen ‒ eine der mit dem Hybriditätsterm verbundenen Figuren ‒,18 spricht auch, dass die bedeutendste Platte der NDW im angelsächsischen Raum nicht durchdrang.19 Es fehlt die Entsprechung zu jener Rückwirkung der kolonialisierten auf die kolonialisierende Kultur, auf die die Postcolonials besonders nachdrücklich abheben. Das Ausbleiben des brisantesten Hybriditätseffekts ist ein Argument mehr, die Vor-89er-BRD nicht als eine Art Kolonie zu behandeln. Andererseits erfasst der Hybriditätsbegriff einen Gesichtspunkt, der in der Rede vom »angelsächsischen Rock’n’Roll-Imperialismus« überdeutlich wird: den kompetitiven. War die BRD auch keine Kolonie, so ihre Jugendkultur doch eindeutig angelsächsisch dominiert. Insoweit bestand immerhin eine Ähnlichkeit zu Zentrum-Peripherie-Beziehungen. Gerade wer als Künstler für Attraktionen aus dem Westen offen war, einen germanischen Selbstabschluss schlicht zu langweilig fand, sah sich von der Pop-Kultur nicht nur angeregt. Nahm man als Produzent an ihr teil, konkurrierte man à la longue auch mit ihren Akteuren. Auf Englisch singen zu müssen war Ausdruckshindernis wie Wettbewerbsnachteil; auf Deutsch artikulierte man sich und erreichte man die einheimischen Konsumenten leichter. Spricht der Hybriditätsdiskurs von situativen ›Verhandlungen‹ kultureller Differenzen, ist der Wettbewerbsaspekt zumindest angedeutet, während er im Pfropfungsmodell gänzlich ausgeblendet bleibt. Beider Modelle bedürfen wir, da Anreicherung und Anregung hier, Wettbewerb dort zwei Seiten des Kulturkontakts darstellen, die (wohl nicht nur) im Popsegment ineinander greifen. Beispiel: Mit einem Kulturkonservativismus, der Pop im Westen verortet und für eine Bedrohung deutscher Identität hält, haben die Beschwerde über den angelsächsischen Rock’n’Roll-Imperialismus und die Sehnsucht nach eigenständiger deutscher Popmusik nichts zu tun. Im Gegenteil, aus Glasers Worten spricht die Ansicht, dass Pop viel zu interessant ist (schnell, aktuell, alltagsnah, bunt o. Ä.), als dass man ihn der englischen Sprache allein überlassen dürfte. Gerade weil Pop niemandem gehört, sich trotz angebbarer Herkünfte keiner Nation und auch keinem Sprachraum zurechnen lässt, 17 | Ein Akzent bei Wirth 2011: 11. 18 | Vgl. Hamann/Sieber 2008: 8. 19 | Sie rangiert in einer vom deutschen Rolling Stone erstellten Liste der 500 wichtigsten Pop-Alben auf Platz 61, in der Liste der amerikanischen Ausgabe taucht sie nicht auf.

Ambivalente Kontakte

die Lokalfarbe­ fast jeder seiner Hervorbringungen rasch abblättert; weil er einen Dritten Raum zwischen den Nationalkulturen bildet und deren Begriff unter Druck setzt ‒ insoweit ein ergiebiges Feld für Hybriditätstheoretiker ‒, machen sich innerhalb dieses Raums wieder nationale Interessen geltend. Und sei es nur das Interesse der Sprachwahl bzw. der Ehrgeiz nachzuweisen, dass sich auch auf Deutsch (und generell: Nicht-Englisch) gut singen lässt. Wie Anregung und Wettbewerb ineinander übergehen, manchmal bis zur Ununterscheidbarkeit, dokumentiert im Übrigen ein Stilmittel von Glaser selbst. Der gebürtige Grazer und Wahl-Düsseldorfer, Anfang der Achtziger unversehens ins Zentrum der NDW geraten, bereicherte deren literarische Umwelt zuvorderst mit einer von einem amerikanischen Autor inspirierten Technik. Von Raymond Chandlers Philip-Marlowe-Krimis, in den Vierzigerjahren geschrieben, in den Siebzigern ins Deutsche übertragen, erlernte er die Kunst der ausgefallenen Vergleiche. Mit dem Ergebnis, dass Glaser, in der zweiten Generation deutschsprachiger Pop-Autoren der artistischste (wie es sich für einen Österreicher gehört), mit dem Vorreiter der hardboiled novels in einen edlen Wettstreit um die überraschendste Assoziation trat. »Selbst auf der Central Avenue, wo man nun wirklich nicht die dezentest gekleideten Leute der Welt sehen kann, sah er etwa so unauffällig aus wie eine Tarantel auf einem Quarkkuchen«, heißt es einmal beim Kalifornier (Chandler 1976 [1940]: 6). Glaser wusste gleichzuziehen, nur wählte er als Material seine eigene Umgebung, etwa das in Düsseldorfer Diskotheken zu Hörende: »Eine Pianomusik hörte sich an, als hetze eine mit Aufputschmitteln gefütterte Ratte über die Tastatur« (Glaser 1985: 117). So kam der Sound der Neuen Deutschen Welle zu seiner treffendsten Beschreibung, unverschämterweise­ im US-Stil.

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Hybridität und Transformation in Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) Yeon Jeong Gu

1. E inleitung In der letzten Zeit wird die deutsche Literatur meist mit Worten wie ›jung, schick und heiter‹1 beschrieben: Die betreffenden Werke lesen sich rasch, sind humorvoll geschrieben und verkaufen sich in hohen Auflagen. Volker Hage hat diese jungen deutschen Schriftsteller als die »Enkel der Nachkriegsliteratur« bezeichnet, weil sie »befreit von mancher Beschwernis der vom Zweiten Weltkrieg geprägten Vorgänger-Generation« (Hage 1999: 245) auftreten könnten. Karen Duve, Judith Hermann, Thomas Brussig und Christian Kracht sind einige Vertreter dieser Generation. Vor allem Kracht wird seit Faserland als ein »Prototyp[…] einer Riege junger Autoren« (Baßler 2005: 111) und sein Roman als ›Gründungsphänomen‹ der Pop-Literatur angesehen (ebd.: 110). In diesem Buch zeige Kracht also eine Erzählstrategie, die über popkulturelle Faktoren, wie z. B. die Erwähnung von Markennamen und Hinweise auf die Clubkultur, indifferentiell verfüge und sie beliebig miteinander kombiniere. Daher seien schwierige Themen zur schwerelosen Leichtigkeit erhoben. Aufgrund dieser popkulturellen Eigenschaften liest sich der deutsche Pop-Roman zwar ganz leicht, doch führt diese Leichtigkeit am Ende zum zivilisationskritischen Pessimismus. Daraus ergibt sich die Frage, ob man Kracht überhaupt als einen Pop-Autoren betrachten kann. Diese Frage verdichtet sich, wenn man seinen dritten Roman, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008), liest: Der Roman entwickelt einen alternativen Verlauf der Weltgeschichte, in dem eine fiktive Schweizer Sowjet Republik (genannt SSR) die imperialistische Weltordnung bestimmt und mit den faschistisch gewordenen Weltmächten Deutschland und England einen fast 100 Jahre dauernden Krieg führt: Im Laufe dieses Krieges haben die Weltmächte immerfort andere Länder kulturell und politisch kolonialisiert. Wie in der Realität, so geschah dies im Namen von ›Zivilisation‹ und ›Menschlichkeit‹, doch wurden diese Ideale am Ende als bloße Illusionen entlarvt, als eine menschliche Katastrophe. Daraus erweist 1 | Vgl. z. B. Harding (2006), Araghi (2006) und Hage (1999).

98 Yeon Jeong Gu

sich, dass die Menschheit die Fehler der Vergangenheit nicht überwinden kann, und die europäische Welt, die das heutige Weltsystem und die humanistischen Werte hervorgebracht hat, wird einer radikalen Kritik unterzogen. In Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten werden die weltgeschichtlichen Tatsachen und Realitätsbezüge spielerisch in die Fiktion überführt und auch die kanonische Popliteratur und -Kultur parodiert. Daraus läßt sich schließen, dass Krachts Roman immer noch dem Phänomen der Pop-Literatur verpflichtet ist (vgl. Baßler 2010: 265ff.). Jedoch lässt sich deutlich die radikal kritische, ernsthafte Haltung des Autors erkennen, für den der Glaube an die individuelle Entwicklung und den geschichtlichen Fortschritt eine Illusion geworden ist. Aus diesem Grund geht es hier nicht um die Diskussion, ob Krachts Roman der Pop-Literatur zuzurechnen ist oder nicht, sondern um eine Analyse des kritischen Potenzials der Hybridität in diesem Text,2 zwischen Westen und Nicht-Westen, zwischen dem Kolonisator und dem Kolonisierten und zwischen dem Weißen und dem Schwarzen. Tatsächlich ist im Roman die Hybridität auf verschiedenen Ebenen kodiert, vor allem in der Figur des schwarzen Protagonisten: Der namenlose Ich-Erzähler kommt ursprünglich aus einer afrikanischen Kolonie der SSR, wird aber nachher zu einem schweizerischen Kommissar. Dadurch glaubt er, die koloniale Beschränkung überwinden und sich in die weiße, kolonisatorische Welt der SSR erfolgreich integrieren zu können, sodass in der SSR am Ende des Kriegs das humanistische Ideal realisierbar wird: In seiner Person vereint er die Weltanschauung der Schwarzen und der Weißen, die Positionen des Kolonialherren und der Kolonialisierten, die humanistische und posthumanistische Kultur. Doch wird er von dem weißen Parteioberst Brazhinsky als ein schwarzer Sklave bezeichnet und muss am Ende lernen, dass das Zentrum, das Réduit, von dem er geglaubt hatte, es sei erfüllt von humanistischem Sinn, ein ›leeres Zentrum‹ ist. Also wird sein Glaube an den Menschen und die Menschlichkeit am Ende desillusioniert, und er verlässt Europa auf der Suche nach seinem eigenen Weg und seiner eigenen Identität und Würde. Dieser Vorgang prägt sich in der Veränderung seiner Augenfarbe, von braun zu blau, aus. Diese Veränderung der Augenfarbe liest sich als ein Symptom der Hybridität, als ein Hinweis darauf, dass seine kolonialisierte Identität sowohl zum postkolonialisierten Subjekt als auch in eine posthumane Geschichtsphase übergeht. In dieser Arbeit versuche ich zuerst den Begriff der Hybridität kurz vorzustellen, um dann neue Aspekte der Hybridität in Krachts Roman zu erläuteren. 2 | Diese Hybridität gilt auch als eine wichtige Eigenschaft der deutschen Pop-Literatur. So sagt Thomas Meinecke: „[G]uter Pop war zu allen Zeiten ein Bastard, unrein [...]“ (Meinecke 1994: 83).

Hybridität und Transformation

2. E in

neuer

A spek t

der

H ybridität

Der Begriff der Hybridität geht geschichtlich auf den wissenschaftlichen Diskurs um Rassismus und Organismus im 19. Jahrhundert zurück. Am Anfang der Diskussion wurde Hybridität in Zusammenhang mit der biologischen Fruchtbarkeit untersucht. Eine typische Äußerung eines Rassentheoretikers lautet: »[T]he Hybrids are often absolutely infertile one with another« (Huxley 1893-5: 424). In diesem Kontext wurde der Hybriditätsbegriff negativ konnotiert. Jedoch wird diese Negativität des Begriffs erst in Michail Bachtins Sprachphilosophie, vor allem in seinem Verständnis der Dialog-Rede, aufgehoben. Nach Bachtin besteht der Dialog aus Sprecher, Zuhörer und dem Dazwischen-Bereich; jeder Dialog operiert aus dem Ergebnis der Interaktion der beiden Personen. Diese Interaktion geschieht im Dazwischen-Bereich. Hier vermischen sich die beiden Äußerungen und es kann eine Hybridbildung entstehen, in der z. B. eine Äußerung ironisiert oder eine andere Äußerung demaskiert werden kann (vgl. Young 2002: 21). Davon ausgehend ergibt sich oft ein neues Wort oder eine neue Lösung, die einen neuen Gesichtspunkt mitbringt. In dieser Theorie wird der Begriff der Hybridität positiv verwendet. Bei Bachtin geht es darum, dass der Begriff der Hybridität als kategorienüberschreitender Begriff verstanden wird und aus der Vermischung der Phänomene, die als verschieden und geteilt gelten, etwas Neues entsteht. In dieser Hinsicht ist es wichtig, dass trotz der Vermischung in der Hybridbildung die Differenz bewahrt werden kann. Der britische Postkolonist Young sagt deutlich: »Hybridity is itself an example of hybridity, of a doubleness that both brings together, fuses, but also maintains separation. For Bakhtin himself, the crucial effect of hybridization comes with the latter, political category, the moment where, within a single discourse, one voice is able to unmask the other« (Young 2002: 22).

Die Differenz eröffnet die Möglichkeit, das Andere zu demaskieren. Dieses Moment spielt eine wichtige Rolle für den postkolonialistischen Diskurs, denn der Begriff der Hybridität führt hier durch die Vermischung nicht zur Identifikation beider Parteien, sondern zur Entdeckung der Differenz. Diese Differenz kann als Kritik an der Vereinheitlichung der Gegensätze zugunsten einer westlichen Identifikationskultur gelten (vgl. Young 1990: 99): Die Logik der Differenz orientiert sich an Begriffen wie ›Ereignis‹, ›Bruch‹, ›Diskontinuität‹ und ›Partikularität‹. Davon ausgehend spielt die Hybridität im Postkolonialismus eine entscheidende Rolle, nicht in Hinsicht auf Assimilation, sondern in Hinsicht auf die Entdeckung des heterogenen vielfältigen Subjekts:

99

100 Yeon Jeong Gu »Rather than seeking a wholeness of the self, we who are the subjects of this plural and complex society should affirm the otherness within ourselves, acknowledging that as subjects we are heterogeneous and multiple in our affiliations and desires« (Young 1990: 124).

Wenn jede Differenz in der Vermischung der verschiedenen Personen oder Parteien unterstrichen wird, könnte der Identifikationsversuch eines Subjekts zur Entdeckung eines anderen Subjekts oder Ichs führen und damit die »Pluralität eines partikulären Subjekts« (Young 1990: 99) bilden. Jedoch führte das westliche Identitätsdenken nicht zur Entdeckung eines fruchtbaren, vielfältigen Ichs, sondern zur (Re-)Produktion des westlichen Subjekts: Also ergibt sich aus der Vermischung der Oppositionen, aus der dialektischen Bewegung, nicht das Dritte, basierend auf einem Weder-Noch, sondern ein Replikat, das dem westlichen dominierenden Subjekt ähnelt. Diese Gedankengänge werden von Homi Bhabha noch deutlicher entwickelt. Nach Bhabha verweist die Hybridität auf die Ambivalenz der kolonialen Begegnung, weil sie in dem Prozess entsteht, in dem die koloniale Autorität versucht, die Identität des Kolonisierten bzw. des Anderen zu verändern und dabei scheitert. Aus diesem Scheitern ergibt sich die hybride Subjektivität, die sich durch das Zeichen des »Un(an)geeigneten und auch der Widerspenstigkeit« (Bhabha 2000 [1994]: 127) gegenüber der kolonialen Macht ausprägt. Der Kolonialisierte wird als das »Subjekt einer Differenz« wiedergeboren (Bhabha 2000 [1994]: 126), mit anderen Worten: Das postkolonialisierte Subjekt versucht, aus der binären Struktur und Logik auszubrechen, die Kolonisten und Kolonialisierte, Weiße und Schwarze, das Eigene und das Fremde usw. umfasst. Davon ausgehend eröffnet das hybridisierte Subjekt die Möglichkeit für die Hervorbringung einer dritten Daseinsform, die nicht mehr auf eine dualistische weltliche und ontologische Struktur reduziert werden kann. Die Hybridität bei Bhabha verbindet sich so mit dem Moment, den Binarismus in der westlichen philosophischen Tradition aufzubrechen, den »dritten Raum« (Bhabha 2000 [1994]: 5) zu eröffnen, wo der Mensch sich die Diskontinuität gewährt und permanent in eine andere Daseinsform transformiert werden kann: So kann das kolonialisierte Subjekt z. B. auch in diesem Vermischungsraum in das postkolonialisierte Subjekt übergehen und einen neuen ontologischen Horizont konstituieren. Hier kann die Beziehung zwischen dem Kolonisten und dem Kolonialisierten vermischt und die Hierarchie der beiden zugleich aufgelöst oder sogar umgekehrt werden. In diesem Sinne kann dieser Raum als die Metapher für Orte des Widerstands der Kolonialisierten, der Unterdrückten, also der Anderen verstanden werden. Dieser kritische Hybriditätsbegriff von Bhabha kann auch als eine Kritik an der westlichen humanistischen Tradition verstanden werden, die sich auf der Grundlage einer zweistelligen Opposition von Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich, Zentrum

Hybridität und Transformation 101

und Peripherie, Mensch und Nicht-Mensch konstituiert hat. Entsprechend kann das hybridisierte Subjekt als die Enstehung des anti-humanistischen Subjekts angesehen werden. In diesem Kontext kann sich Bhabhas hybride Subjektivität gewissermaßen mit dem posthumanistischen Subjektbegriff überschneiden, der auch dem humanistisch-homogenen Menschen-Begriff kritisch gegenübersteht. Tatsächlich nimmt der Begriff der Hybridität im aktuellen Diskurs des Posthumanismus eine neue Bedeutung an. Der Posthumanismus, der die Geschichtsphase nach dem Menschen und der menschlichen Geschichte auslotet, geht von dieser Realität aus, dass die Menschenfigur nicht mehr homogen, sondern heterogen ist, immer wieder (re-)konstruiert und mit fremden Körpern oder künstlichen Objekten verbunden wird (Hayles 1999: 3): Im 19. Jahrhundert fing z. B. die Tendenz an, die Prothese als körperlichen Ersatz in den Menschenkörper einzusetzen. Seit Ende des 20. Jahrhunderts werden chirurgische Eingriffe verstärkt vorgenommen. Der Mensch entwickelt sich gegenwärtig immer mehr zu einem Hybriden, der durch neue Technologie (etwa der Gen- bzw. Biotechnologie) teilbar und (re-)konstruierbar geworden ist. In diesem Denkparadigma verschwimmt die Grenze zwischen Mensch und Natur, Künstlichem und Natürlichem, Geborenem und Gemachtem (vgl. Graham 2002: 1 f.). Hier geht es darum, dass die Hybridität sich nicht nur zwischen den verschiedenen Menschengruppen und Kulturen, sondern auch zwischen Menschen und NichtMenschen vollzieht. Davon ausgehend kann die Hybridität, über die humanistische Menschen-Kultur hinaus, als eine Essenz einer neuen Daseinsform der Menschen fungieren. In dieser posthumanistischen, ja sogar posthumanischen Menschenfigur erkennt man eine die Grenze zwischen Menschen und Nicht-Menschen überschreitende, heterogen konstruierte Hybridität. Bei dieser hybriden Zusammensetzung geht es nicht um die anthrophozentrische Identifikation, sondern um die Zusammensetzung des Menschen und des Nicht-Menschen, die die Differenz der beiden Parteien noch erkennbar macht. Bei dieser Hybridbildung spielt die Technik eine große Rolle. Mit der Technik werden »infoldings of flesh« (Haraway 2008: 8) zwischen Menschen und Nicht-Menschen realisierbar. Ein amerikanischer Posthumanist, Thomas Philbeck, postuliert: »In this constitution, the human is no longer a cloven entity, half-in and half-out of the physical world. Instead, there is only one world wherein nature, technology and the human are unified in their foundation« (Philbeck 2013: 128). Damit ist der Mensch nicht mehr ein Wesen mit einer einheitlichen festen Identifikation, sondern es entsteht ein neues Menschenbild als ein Konglomerat aus Natur, Technik und dem Humanen. Der zukünftige Mensch erweist sich als radikal heterogen, sodass das Nichtmenschliche mit dem Menschlichen in der

102 Yeon Jeong Gu

neuen vielfältigen Daseinsform koexistieren kann. Diese hybridisierte ontologische Struktur kann in dem humanistischen Menschenbegriff keine Entsprechung mehr finden. In dem Sinne kann diese posthumanische Menschen-Vorstellung antihumanistisch sein und auch ein Ende des humanistischen Menschbegriffs ankündigen. Wie Donna Haraway in ihrem Cyborg-Manifest definiert, lässt sich unser Zeitalter des 21. Jahrhunderts schon als das Zeitalter der »theorized and fabricated hybrids of machine and organism« (Haraway 1991: 150), also als das Zeitalter der Cyborgs, ansehen. Nach Haraway können diese Cyborgs als Hybride die Welt verändern, indem sie die politische Kontrolle und die Herrschaftsstruktur unterminieren. In dem Sinne erklärt Haraway diese Hybriden zu »our most important political construction, a world-changing fiction« (Haraway 1991: 149). Daher kann die posthumane Hybridität nicht im Kontext der apokalyptischen Weltanschauung als das Verschwinden der Menschheit betrachtet werden, sondern verweist auf ein in der kommenden historischen Phase neu entstehendes Ethos, auf dessen Grundlage ein neues Konzept des Menschen definiert werden kann. Im Folgenden wird herausgearbeitet, wie die verschiedenen semantischen Gefüge der Hybridität in Christian Krachts Endzeitsgeschichte Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten dargestellt werden; damit wird letztlich danach gefragt, wie der ›neue Mensch‹ als Hybride, also als Zusammensetzung des Menschen und des Nicht-Menschen, konstituiert wird.

3. D ie A nalyse

des

R omans

von

C hristian K racht3

Wie oben gesagt, geht Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten4 als eine Art Alternativweltgeschichte von der Annahme aus, dass Lenin 1917 in der Schweiz nicht den Zug nach Sankt Petersburg genommen hat, sondern die bolschewistische Revolution in der Schweiz ausgebrochen ist und vollendet wurde. Die so entstandene Schweizer Sowjet Republik (SSR) gilt als ein utopisches menschliches Land, das Antisemitismus, Sexismus und Rassismus überwunden sowie eine »nie gekannte Gleichheit« (IW 77) erreicht hat, obwohl die SSR zur Nachwuchsrekrutierung umfangreiche Kolonien in Südafrika­ unterhält.

3 | Diese Textanalyse orientiert sich in Teilen an meinem auf Koreanisch veröffentlichten Aufsatz (vgl. Gu 2013). 4 | Im Folgenden zitiere ich diesen Roman nach der Ausgabe München 2010 mit der Bezeichnung IW und der Seitenzahl.

Hybridität und Transformation 103

Der Ich-Erzähler kommt ursprünglich aus einer dieser afrikanischen Kolonien. Nun ist er politischer Kommissar in der SSR und damit beauftragt, den Parteioberst Brazhinsky zu verhaften, der früher die »Hoffnung der SSR« (IW 41) war, aber nun eine Gefahr für sie geworden ist. Auf der Suche nach Brazhinsky erfährt der Protagonist vom Tod unschuldiger Menschen und gelangt schließlich zu dem massiv befestigten Réduit, das als »das Jahrhundertwerk der Schweizer« bekannt ist und als »Kern, Nährboden und Ausdruck [ihrer] Existenz« (IW 98) gilt. Dort trifft er auf Brazhinsky, aber es gelingt ihm nicht, diesen zu verhaften, weil er von seiner »starke[n], projizierende[n] Aura« (IW 106) gefesselt wird. Vielmehr erfährt er von Brazhinsky: »Das Revolutionskomitee des Réduits gibt es nicht« (IW 109). Nach Brazhinsky ist das Réduit ein leeres Zentrum: »Das Bombastische des Réduits ist ein magisches Ritual, ein leeres Ritual. Es war immer leer, es wird immer leer sein« (IW 127). Also gibt es kein Réduit, kein sinnvolles Zentrum. Im Weiteren lernt er auch, dass die idealisierte SSR, wo angeblich die gelebte Menschlichkeit erreicht wurde, auch eine Lüge ist: Der Parteioberst Brazhinsky entlarvt sich als ein »atmende[r] Mörder« (IW 90), der einen Mord, den er beging, so zu rechtfertigen versucht: »Der Tod eines einzelnen ist nichts im Kosmos, weniger als nichts. Wir dürfen die Gelegenheit, einen wirklichen Frieden zu erreichen, nicht […] verspielen« (IW 126). Am Ende wird die Identifikation des Ich-Erzählers als Schweizer Offizier selbst als eine Fälschung entlarvt. Brazhinsky sagt: »Ihre Erinnerungen sind nicht echt, nicht das, was wir als echt bezeichnen. Man hat Sie seit Ihrer Jugend einer Gehirnwäsche unterzogen« (IW 127). Er führt weiter aus: »Sie sind ein Sklave, Kommissär, begreifen Sie das? Sie sind ein Sklave der Schweiz, geboren, gedrillt und gemacht. Sie und Ihr Volk sind Kanonenfutter, Roboter, mehr nicht. Ihre Kindheit ist eine Fälschung« (IW 128). Dadurch bricht alle metaphysische Sinngebung, die der Ich-Erzähler für sicher gehalten hat, in sich zusammen: Es gibt kein Réduit, kein utopisch-humanistischen Land, kein festes Ich. Es wiederholt sich nur diese eine Herrschaftsstruktur der Geschichte, egal in welchem alternativen Weltsystem: »Die weißen Affen ohne Fell beherrschen die schwarzen Affen ohne Fell« (IW 128). Am Ende des Romans verschwindet fast alles: Das Réduit wird von deutschen Luftschiffen bombardiert, ganz Europa steht in »infernalische[n], monströse[n]« (IW 132) Flammen, Brazhinsky hat Selbstmord begangen, der Ich-Erzähler verlässt das Réduit und Europa, geht nach Süden, nach Afrika. Alle urbanen Räume und Zivilisationen, die man seit der Moderne entworfen hat, zerfallen »im gelben Staub« (IW 149). Nur die wilde Natur wächst unaufhaltsam. Wie dieser Handlungsablauf zeigt, ist in diesem Roman der Prozess des Verschwindens als Zeichen der Endzeit dominant. Wie in der Forschungsliteratur zu Kracht häufig erwähnt wird, sind Zeichen des Verschwindens ein

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oft wiederholtes rhetorisches Mittel dieses Autors (vgl. z. B. Schumacher 2009: 188). Während in den beiden vorher veröffentlichten Romanen Zeichen des Verschwindens auf die Auflösungsprozesse »fast alle[r] gängigen Vorstellungen von Identität, Individualität und Subjektivität« (Schumacher 2009: 189) verwiesen, geht es in diesem Roman um die Auflösung des historischen Projekts der Moderne, des Zentrums Europa, das auf der Idee des Humanismus basiert. Denn es brechen sowohl das Réduit, als der Kern der Existenz, als auch die SSR, als ein alternatives Sozialsystem, zusammen. In diesem Prozess des Verschwindens verliert vor allem die Menschlichkeit ihren Sinn, und der Mensch selbst verliert den Sinn für seine metaphysische Selbstdefinition. Zwar ist das Phänomen des Verschwindens als Auflösungsprozess im Roman omnipräsent, doch kann man nicht voreilig diesen Prozess zu den »Fantasien der Auslöschung« (Lehmann 2005: 255) zählen. Vielmehr lässt sich das Phänomen als eine transitorische Pause für den Anbruch eines neuen Zeitalters ansehen, so wie der Autor oft »für eine kreative Pause unter seinem Schreibtisch verschwand« (Kracht, zit. nach Schumacher 2009: 188). Wenn man in dieser Hinsicht nochmals den Roman liest, findet man darin schon ebenso viele Hinweise auf den neuen Anbruch wie auf den Untergang: Der alte Heiler im afrikanischen Dorf, wo der Ich-Erzähler geboren ist, wünscht in einem Gesang, dass »ein neues Menschengeschlecht« (IW 78) bald kommen soll, und der Erzähler spürt auch »die Offenbarung einer neuen Zeit« nach dem Verschwinden der Welt, »die zwar noch langsam und kriechend, dafür aber unaufhaltsam in die Welt drängte« (IW 138). Und genauer gesehen ist es nur Europa, das zu Ende gekommen ist; dagegen stellt der Autor ohne erkennbaren Grund Afrika, Australien und Korea als mächtiger werdende Regionen und Länder vor. Unter diesen Umständen kann man die Katastrophe Europas nicht als die der ganzen Welt einschätzen und interpretieren. Während im eurozentrischen Denken Afrika bloß als Peripherie und Gegenstand der Ausbeutung betrachtet und behandelt wird, wird es in diesem Roman der »erste Kontinent« (IW 35) genannt, von dem der neue Mensch kommt (vgl. IW 107). Davon ausgehend lässt sich erkennen, dass der Autor durch das Verschwinden der eurozentrischen Moderne bzw. Zivilisation ständig auf das Auftreten des geschichtlichen neuen Zeitalters und Menschen hinweist – oder sich dies zumindest wünscht. Also kann das Phänomen des Verschwindens einerseits als das Ende des europäischen modernen Konzepts von Welt und Menschen, andererseits als ein Übergangsprozess zu einem neuen Zeitalter verstanden werden. Was für eine Welt kommt dann nach dem Verschwinden dieser Welt? Kann man eine Welt, in der die Menschen verschwunden sind, als eine nächste Welt ansehen, obwohl sie eine Leere darstellen würde? Vielleicht kann man anhand einer Eigenschaft der realen SSR, die zum Ende gekommen ist, die Frage beantworten,

Hybridität und Transformation 105

was nach dem Verschwinden bleibt, und ob es ein Grundelement für einen Neubeginn bilden kann. Unter der Annahme des Autors wird die SSR zwar am Anfang als utopisch beschrieben, doch am Ende enthüllt sie sich als ein barbarisch-gewalttätiges Land, das auch von einer schrecklichen imperialistischen Herrschafts­ ideologie gefangen ist. So macht die SSR z. B. Propaganda dafür, dass sie üble historische Phänomene, wie Rassismus, Faschismus und Geschlechterdiskriminierung, ausgerottet hätte; doch entspricht dies nicht der Realität in der SSR: Dort ist es vielmehr so, dass ein weißer Soldat den farbigen Offizier, den Protagonisten, verspottet; und der Jude Brazhinsky ist ein faschistischer Mörder, der für die Realisierung der Menschlichkeit unter dem Namen des »wirklichen Frieden[s] « (IW 126) den Mord eines Einzelnen rechtfertigt. In dem Sinne ist die SSR »keineswegs ein politisches und soziales Gegenmodell zur Moderne« (Conter 2009: 40), sondern steht in der Kontinuität der modernen anthropozentrischen Geschichte und wiederholt damit die Fehler der europäischen Vergangenheit. In diesem Kontext kann die Katastrophe der SSR als die endgültige Annulierung der optimistischen Erwartungen betrachtet werden, dass sich die menschliche Geschichte, die auf der Metaphysik der menschlichen Existenz bzw. dem Dualismus von Zentrum und Peripherie basiert, besser entwickeln könnte; dies kann wiederum als ein Zeichen für das Ende des Konzepts der Moderne angesehen werden. Diesen Gedanken veranschaulicht tatsächlich der Spaziergang des Protagonisten durch die Höhlen und Gänge des Réduits. Er denkt, »dass hier oben etwas zu Ende ging, dass eine fürchterliche und allumfassende Dekadenz des Geistes betrieben wurde, die sich durch die Bergfestung selbst manifestierte« (IW 120). Diese Ahnung verdeutlicht sich immer mehr in der Betrachtung der Bilder in den Höhlen, auf denen der Verlauf der SSR-Geschichte selbst dargestellt ist: »Je weiter ich Raum für Raum den Verlauf der Arbeiten abschritt, desto weniger realistisch wurde die Kunst, bis das viele tausend Meter lange Reliefband schliesslich in den Zimmern und Korridoren, die im Réduit zuoberst lagen, jeder Prätention einer naturgemässen Darstellung entbehrte, es waren nur noch Formen, Flächen, unzusammenhängende, amorphe Figuren. Hier oben […] waren wir tatsächlich wieder bei den vertiginös-nausealen Kreisen in den Chongoni-Höhlen meiner Kindheit angelangt, in der Fanga, bei Schneckengehäusen, Wirbeln, konzentrischen Kreisen« (IW 122 f.).

In dem Felsenrelief und den Basreliefarbeiten, die der Protagonist in den unteren Bereichen des Réduits betrachtet, wird die Schweizer Geschichte vom Anfang bis zur Revolution nach der Darstellungsweise des sozialistischen Realismus gezeigt. Doch je mehr er nach oben, also in die Oberschicht steigt, desto ›dekadenter‹ werden die Bilder, und die Bilder, die zuoberst hängen, verlieren zuletzt die »naturgemäss[e] Darstellung« und sind zutiefst abstrakt.

106 Yeon Jeong Gu

Im Zentrum der SSR sieht er keine realistischen Aspekte der Menschlichkeit, sondern die narzisstisch abstrahierten amorphen Figuren, die spielerisch wiederholt werden und scheinbar gar nichts mit der realen Geschichte zu tun haben. In den abstrahierten Bildern, die von der naturgemäßen Darstellung und Realität ganz entfernt sind, findet der Ich-Erzähler keinen Sinn mehr; vielmehr gerät er in einen abgründigen Schwindel und erahnt die Katastrophe. Der Grund liegt darin, dass die abstrakte Darstellung den Erzähler an die primitiven Figuren erinnert, die er als Kind in den Höhlen des afrikanischen Dorfs gesehen hat und die für ihn die nicht-zivilisierte Welt, sozusagen die Unmenschlichkeit, repräsentieren. Damit kehrt sich der höchste Zivilisationsvorgang bzw. die Idee der idealisierten Menschlichkeit der SSR zuletzt genau in ihr Gegenteil um. Hier kann man die geschichtliche Perspektive des Autors erkennen, dass die Kunst »ihren Scheitelpunkt überschritten hatte, ja sich definitiv in einem Stadium der Auflösung befand« (IW 122). In dieser Hinsicht zeichnet der Autor durch die Katastrophe der SSR hindurch die Auflösung der Moderne. Aber das, was der Katastrophe verfällt, ist nicht das ganze Menschengeschlecht und die ganze Geschichte. Kracht betrachtet sowohl den Kapitalismus als auch den Sozialismus als Manifestationen des westlichen Moderne-Konzepts, dem die anthropozentrische Idee zugrunde liegt. Ausgehend von dieser Annahme kann die Katastrophe der SSR bzw. Europas im Roman als das Ende einer geschichtlichen Phase verstanden werden, in der die Menschen sich befinden. Es war vor allem Michel Foucault, der das Ende der Menschen diagnostiziert hat. In Die Ordnung der Dinge schreibt er: »Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. [...] Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgend ein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 1974: 461).

Hier erklärt Foucault das Ende des Menschen, der in der langen humanistischen Tradition als ein Wesen gilt, das einen universalen und einzigartigen Wert innehat. Dies bedeutet nicht das Ende des Menschengeschlechts im biologischen Sinne oder nach dem Naturgesetz. Ohne Weiteres heißt es auch nicht die endgültige und totale Auslöschung des Menschen und der ganzen Geschichte. Vielmehr bezieht sich Foucault hier auf die Zeit des 18. Jahrhunderts, wodurch er den Begriff des Menschen, der in der modernen Zeit in dem Namen der humanistischen­

Hybridität und Transformation 107

Aufklärung gebildet worden ist, auf ein historisches Phänomen begrenzt, und sieht dessen Nachhaltigkeit als negativ an (vgl. Lim 2013: 61). Das bedeutet das Ende der anthropozentrischen Geschichte. Nach Foucault kann man wohl vermuten, dass nach dem Verschwinden dieser Geschichte eine neue Disposition erscheinen wird, mit der eine neue Generation von Menschen, »ein neues Menschengeschlecht« (IW 78) nach Kracht, kommen wird. Wenn man in dieser Hinsicht den Roman liest, lässt sich erkennen, dass der Vorgang des Verschwindens bei Kracht als ein Übergangsprozess in einen anderen Zustand, vielleicht ein anderes Zeitalter, betrachtet wird. Ohne Zweifel würde er sich in einer ganz anderen Disposition befinden als der, in der der Anthropozentrismus entstanden ist. Nun entsteht die Frage, wie dieses neue Zeitalter im Roman konzipiert wird. Wenn man auf das aufmerksam ist, was verschwindet, und auf das, was dann verbleibt, kann man die von dem Autor vorgestellte Welt nach dem Menschen zumindest erahnen: Was verschwindet, sind die Sinngebung für die Menschlichkeit, der Glaube an das humanistische Ideal und die Menschen selbst. Was verbleibt und sich erneuert, ist die urwüchsige Natur, ›Sonnenschein‹ und ›Schatten‹ (wie es im Titel heißt), ja, eine menschenleere Welt und die im Gras friedlich sitzenden Hasen, wie der Autor in seinem Motto nach D. H. Lawrences Women in Love (1920) zitiert (vgl. Birgfeld/Conter 2009: 259). Bemerkenswert ist, dass er diese menschenleere Welt »beautiful clean« (IW 9) findet. Und diese Welt ist nicht viel anders als die, die der Autor im Roman nach dem Verschwinden einer Welt übrig lässt. Vielleicht kann diese menschenleere Welt eine neue Disposition für den Eintritt der »neuen Menschheit« sein.

4. Wer

ist der

M ensch

nach dem

M enschen?

Letztlich wird gefragt: Kommt ein Mensch nach dem Menschen? Was ist das posthumanistische Ich? Auf diese Fragen kann man durch eine Figurenanalyse antworten. An den Hauptfiguren des Romans sind mehr oder weniger Zeichen des Posthumanen erkennbar. Da ist z. B. Favre, die die Leitfigur ist und den Ich-Erzähler zu Brazhinsky führt. Sie ist ein technisch ergänzter Mensch wie ein Cyborg. Sie gibt dem Protagonisten wichtige Informationen und verschwindet spurlos: »Ihr Nacken roch nach Metall. […] Neben ihrer Achselhöhle war eine Steckdose in die Haut eingelassen, wie die Schnauze eines Schweins« (IW 45 f.). Und auch Brazhinsky hat eine Steckdose neben seiner Achselhöhle (vgl. IW 129). Diese beiden Wesen können als technisch ergänzte und verstärkte Transhumane angesehen werden. Vor allem Branzinsky sieht einerseits sehr mechanisch aus, »wie eine Maschine, wie eine sonderbare Apparatur, ein Schweizer Uhrwerk« (IW 116), andererseits sehr mächtig, wie von einer »starke[n], projizierende[n]

108 Yeon Jeong Gu

Aura« umgeben (IW 106). Zwar beherrscht er die neue Technik der Rauchsprache, die als »zutiefst dinglich« vorgestellt wird, aber er benutzt diese Technik, um sein Idealbild von der Menschlichkeit zu verwirklichen. Er benutzt sie z. B. für Gewalt und den Mord im Namen des Friedens. Insofern gilt diese Sprachtechnik als ein letztes Zeichen der westlichen humanistischen Kultur, weil sie für sein eigenes Ziel und Sinngebung ausgenutzt wird. In dem Sinne, nach Stefan Bronner, gilt die Rauchsprache »als das radikale Ende des schweizerischen Prinzips, das sich mit Hilfe der Subjektivität und des Signifikanten konstituiert« (Bronner 2012: 294). Zwar wird Brazhinsky als posthuman angesehen, aber er ist kein wahrhafter posthumaner Mensch, weil er noch stark in sich eine humanistische Struktur, ein festes starkes Ich, hegt; auch benutzt er die Technik für seine rationalistisch berechnenden Zwecke. Ganz anders als Brazhinsky zeigt der Protagonist interessante Zeichen des Posthumanen. Er ist der Ich-Erzähler, der die Geschichte bis zu Ende erzählt, und ist die einzig überlebende Hauptfigur, die jedoch keinen Namen trägt, also ein rätselhafter Mensch bleibt. Schwarze Haut und blaue Augen kennzeichnen ihn. Diese seltsame leibliche Konstruktion scheint zuerst anzudeuten, dass er die ethnische Eigenschaft der Weißen und Schwarzen in sich vereint. Doch besitzt er diese Augenfarbe nicht von seiner Geburt an, sondern sie ist später entstanden. Er hatte bei der Geburt eine dunkelbraune Iris, aber sie ist mit der Zeit immer blauer geworden. Diese Augenfarbe kommt also nicht von seiner Abstammung her, sondern zeugt von der Heterogenität seiner Identität: Ursprünglich wurde er in einem kleinen Dorf in Südafrika geboren, einer Kolonie der SSR, und als Letztgeborener wurde er zur militärischen Ausbildung zuerst in die Hauptstadt dieser Kolonie und dann in die Schweiz geschickt. Er war begeistert von der idealisierten Menschlichkeitsidee der Schweiz, wollte ein schweizerischer Offizier sein und identifizierte sich ganz mit den Schweizern: »[M]ein grösster Wunsch war es, genauso zu werden wie sie« (IW 57). Aber diese Verwandlung der Identität vom schwarzen Afrikaner zum Schweizer geschah nicht ganz erfolgreich. Zwar wurde er als politischer Kommissar »Herr« genannt, doch fühlte er sich ab und zu fremd und unheimlich: »Manchmal fühlte ich mich, als sei ich in einer Art Ei aufgewachsen. […] In meinen giftigen Träumen sah ich allerdings oft das Glas mit der Heuschrecke zerspringen und fühlte die Kälte der Stethoskopscheibe auf der Haut an meiner linken Brust, dort wo kein Herz verborgen lag. Es schüttelte mich am ganzen Leib, ein Gefühl der Übelkeit überkam mich stets, es war, als würde etwas aus mir geboren, als ob sich etwas abspaltete oder abschälte, es war wie eine Häutung von innen« (IW 61).

Hybridität und Transformation 109

Diese Szene, in der das unaufhörlich sich abspaltende und sich verwandelnde Ich beschrieben ist, erinnert an Ridley Scotts Film Alien (1979) und zeigt, wie problematisch der Identitätsübergang vom afrikanischen Kind Mwana zum schwarzen schweizerischen Offizier ist: In der Nachahmung wird sein Ich ihm selbst immer wieder fremd und abschreckend. Wie Homi Bhabha ausführt, erzeugt die Mimikry an die koloniale Macht das Unerwartete, intensiviert ironischerweise die Differenz zum Herrscher und intensiviert »das Zeichen des Un(an)geeigneten und auch der Widerspenstigkeit« (Bhabha 2000 [1994]: 127). Dadurch kann, so Bhabha weiter, »das koloniale Subjekt« vielmehr eine Hybriditätsidentität aufweisen, d. h. es ist weder ein geborenes koloniales Ich noch stellt es eine koloniale Macht, einen Eroberer, dar. Also kann das Subjekt wiedergeboren sein als das »Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist« (ebd.: 126). Also kann sich das koloniale Subjekt durch die Nachahmungsarbeit zu einem postkolonialen Subjekt entwickeln. Diese Theorie ist in gewisser Weise mit der Konzeption von Krachts Protagonisten vereinbar. Die blauen Augen des Protagonisten erwecken den Eindruck, als ob sie die Sehnsucht und Nachahmung anzeigen würden, ein weißer Schweizer zu werden, doch die seltsame Konstruktion von blauen Augen und schwarzer Haut unterstreicht die Differenz zu einem gebürtigen Schweizer und verstärkt dadurch gerade die Fremdheit. Vielmehr erzeugt diese Hybridität einen gemischten Seinszustand, in dem der Protagonist weder ein Schwarzer noch ein Weißer ist, und bringt eine »uncanny synthesis«5 hervor, wobei das Ich, die Grenze zwischen festen Identifikationen überschreitend, rekonstruiert wird. Diese hybridisierte Identität ermöglicht die Offenheit des Ichs, in dem die oppositionelle Gegenüberstellung von Schwarz und Weiß, dem Eigenen und dem Fremden oder Subjekt und Objekt annulliert wird. Die unheimliche Metamorphose des Protagonisten erreicht ihren Höhepunkt darin, dass sein Herz nicht auf der linken, sondern auf der rechten Seite liegt. Das unterscheidet ihn wieder von den normalen Menschen. Vielleicht geht es hier nicht nur um Anormalität: Wenn man Bezug darauf nimmt, dass dieses leibliche Merkmal als ein Zeichen des Menschen gilt, sodass die Abweichung als Merkmal außerirdischer Wesen beschrieben ist (»ein Gefühl der Übelkeit überkam mich stets, es war, als würde etwas aus mir geboren«), geht es hier auch um die Grenzüberschreitung zwischen dem Humanen und dem Nicht-Humanen. Also wird die Hybridität des Protagonisten als ein Konglomerat von Mensch und Nicht5 | Die Repräsentation der Körper-Transformation im posthumanischen Kontext fokussiert auf die Rekonstruktion bzw. Aufnahme der technischen oder biologischen Faktoren. Diese Art der Zusammenschließung, in der grenzüberschreitende Spuren zu finden sind, wird ›uncanny synthesis‹ genannt (vgl. Clarke 2008: 2).

110 Yeon Jeong Gu

Mensch angesehen. In dieser Hinsicht weist das Ich des namenlosen Erzählers über den (post-)kolonialen Diskurs hinaus und muss im Rahmen des posthumanen Diskurses verstanden werden. Diese Ansicht wird durch das schrecklich gewalttätige Verhalten Brazhinskys unterstützt: Er sticht sich wie Ödipus seine Augen aus – und zwar mit einer Ahle, nachdem er die Wahrheit erfahren hat, dass das Herz des Protagonisten auf der rechten Seite verborgen ist (vgl. IW 131). Der mächtige Humane, Brazhinsky, der wie eine Maschine nur rational denkt, kann nicht mehr die Tatsache akzeptieren, dass das Herz eines Menschen auf der rechten Seite liegen kann, und auch, dass er das verkannt hat. Seine Vorstellung über den Menschen ist in einer extrem standardisierten Vernunft verstockt. Daher kann in seiner Sicht dies körperliche Merkmal des Protagonisten nur als etwas Nicht-Menschliches gelten. Tatsächlich trägt der Ich-Erzähler sowohl die humanistische als auch die posthumanistische Kultur in sich. Er wird im Roman als der letzte Mensch beschrieben, der die Schreibkultur noch erhält und überlebt, doch kann er, wie Brazhinsky, auch über die Rauchsprache, die hohe Sprachtechnik, verfügen: Nur anders als Brazhinsky benutzt er diese dingliche Sprache nicht für seine eigenen Zwecke, sondern als ein Medium, um der Ding- und der Umwelt wieder ihren Wert und ihre Eigenwürde zurückzugeben. Somit kann er durch diese Sprache den Kontakt zur Erde und zu anderen Lebewesen wieder beleben und eine magische Verbindung zur Natur herstellen. Also vermittelt diese Sprachtechnik das Einswerden des Ichs mit den Anderen, mit der Natur, was in einer anthropozentrischen Welt nicht möglich ist, weil die Natur in ihr nur als Objekt aufgefasst wird.6 Diese Weltanschauung wird deutlich in der Natur-Erfahrung des Protagonisten, nachdem er das Réduit verlassen hat. Je weiter er vom Réduit, dem leeren Zentrum, entfernt ist, desto stärker fühlt er diese Verbindung mit der Natur. Er sieht und spürt die Natur auf eine ganz neue Weise: »Morgens badete ich in Bächen, abends ruhte ich in Hainen oder unter Bäumen. […] Der überblaue Himmel, die nun überall aufblühenden, prächtigen Frühlingsblumen und das behagliche Summen der ersten Insekten […] erfüllten mein Blut mit einer starken Energie, die ich lange nicht gespürt hatte; es war der nahende Sommer, das Weichen der Kälte, das Schmelzen der Gletscher, die Offenbarung einer neuen Zeit, die zwar noch langsam und kriechend, dafür aber unaufhaltsam in die Welt drängte« (IW 137 f.).

6 | Diese Natur ist ähnlich der Vorstellung der Natur, die Donna Haraway für das post­ humane Zeitalter entworfen hat (vgl. Haraway 1995: 11-16).

Hybridität und Transformation 111

Er spürt die Natur in ihrer Körperlichkeit, und seine Wahrnehmung operiert hier ausdrücklich irdisch-physisch und sinnlich, nicht mehr metaphysisch. Die Natur steht nicht mehr unter dem überwältigenden menschlichen Blick, sondern unter seiner sinnlichen Wahrnehmung. So wird die Natur zum Akteur und erhält ihren eigenen Wert und ihr Ziel zurück. Dieser Mensch, der nun mit dieser Natur gleichwertig zusammen sein kann, erfüllt und erneuert sich in der Natur. Er kann unvermittelt mit der Natur verbunden sein. Dieser Mensch erinnert an den Menschen der Zukunft, wie Friedrich Nietzsche ihn, ausgestattet mit einer neuen menschlichen Hoffnung, in Zur Genealogie der Moral (1887) postuliert hat. Dieser Mensch ist, worauf Nietzsche hingewiesen hat, nicht nur von der metaphysischen Kondition der Existenz, sondern auch von dem menschlichen Machtwillen befreit (vgl. Nietzsche 1991 [1887]: 89). Er wandelt sich ständig und verbindet sich mit den Anderen. In dieser Hinsicht hat der Mensch bei Kracht kein festes Ich und ist kein Subjekt, das im Rahmen des Humanismus zu denken wäre. Doch kann man das als ein posthumanistisches Ich verstehen, in dessen Ich-Bild die Grenze zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, Ich und Anderen annulliert wird. Jetzt kann man auch verstehen, warum Kracht seinem Ich-Erzähler keinen Namen gibt. Kracht stellt in diesem Roman einen wandelnden Hybriden dar, der gerade in die posthumanische­ Welt eintritt.

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112 Yeon Jeong Gu

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II. SZ ENEN

Die Rezeption der Militärmusik in Korea vor dem Hintergrund des Kulturtransfers im Dreieck Deutschland – Japan – Korea Kyungboon Lee

1. Visuelle

und akustische

Symbole

des

Staats

Ein Staat kommt nicht ohne Symbole aus. Für das 1897 gegründete erste koreanische Kaiserreich war das Schaffen neuer Symbole eine dringende Aufgabe, um in der Welt anerkannt zu werden.1 Dies war für staatliche Kontakte mit dem Westen unabdingbar und mit Modernität verbunden. So entstand eine ganze Reihe von Symbolen, die es in der langen Geschichte der Yi-Dynastie nicht gab (vgl. Mok 2011: 153-174 u. Lee, Kyung-mee 2010: 87 ff.). Korea lernte von Japan als dem ersten modernisierten Land in Ostasien (vgl. Song 2013: 332 f.) und führte innerhalb kurzer Zeit nicht nur visuelle Neuerungen wie Nationalflagge, moderne Militäruniformen, Verdienstorden, Briefmarken etc. ein: Ein wichtiges akustisches Symbol war die Nationalhymne. Dies stellte sich indes als ein schwieriges Unternehmen dar, weil Musik einer zweifachen Ausführung bedarf: der Komposition des Lieds und dazu seiner Aufführung. In Korea um die Jahrhundertwende war kaum ein Verständnis für westliche Musik vorhanden und es gab noch keine professionellen einheimischen Musiker,2 die diese Aufgabe zu erfüllen vermocht hätten. Damit war das Kaiserreich auf einen ausländischen Musiker angewiesen. Eine Staatsmusik, die aus dem Westen kam, aufzuführen, erwies sich als teurere Unternehmung als visuelle Symbole zu entwerfen, nicht zuletzt, weil die Ausbildung von Musikern, die westliche Musik spielen konnten, eine gewisse Zeit voraussetzte. Das koreanische Kaiserreich versuchte dieses Problem zu lösen, indem es Franz Eckert (1852-1916), der sich von 1879 bis 1899 in Japan aufgehalten und zur Entstehung des Kimigayo (der Nationalhymne Japans) beigetragen hatte, 1 | Das Kaiserreich wurde mit der Absicht errichtet, Korea von dem langjährigen Status als chinesischer Vasallenstaat zu befreien. 2 | Der talentierte koreanische Student Yi Undol, der von der Regierung nach Japan geschickt wurde, bildete sich zwar bei dem französischen Militärmusiker Gustave Charles Dagron in der japanischen Militärschule Gyodōdan zum Trompeter aus. Doch starb er 1885 kurz nach seiner Rückkehr von seinem zweiten Aufenthalt in Japan (vgl. Noh 1996: 391).

118 Kyungboon Lee

nach Korea einlud. Obwohl es damals für Eckerts Tätigkeit in Korea kaum eine Grundlage gab, konnte die von ihm ausgebildete Militärkapelle überraschenderweise bereits nach wenigen Monaten ein italienisches Lied und einen deutschen Marsch aufführen (vgl. Ilgija 1922b: 12). In meinem Aufsatz geht es um die frühe koreanische Rezeption westlicher Musik durch Franz Eckert als Militärkapellmeister. Dabei versuche ich, die Frage vor dem Hintergrund des Kulturtransfers im Dreieck Deutschland-Japan-Korea zu beantworten: Welche kulturideologischen Vorstellungen begründeten die positive Rezeption der fremden westlichen Musik durch die Koreaner?

2. D ie M ilitärkapelle des K aiserreichs

und die

M odernisierung

Das alte Militärsystem war bereits auf dem Weg der Modernisierung, bevor das Kaiserreich ausgerufen wurde. Dabei konkurrierten über mehrere Jahre hinweg Japan, China und Russland, ohne dass sich eine der Mächte entscheidend durchsetzen konnte. Während 1881 das japanische Vorbild bestimmend war,3 dominierte zwischen 1882 und 1894 der chinesische Einfluss (vgl. Bae 2001: 181 f.), ging aber nach Chinas Niederlage gegen Japan 1894 fast vollständig zurück. Der russische Einfluss verstärkte sich während der Zeit, die der Kaiser Kojong als Flüchtling in der russischen Legation verbrachte (1896-1897),4 und dementsprechend auch der des russischen Militärs. So wurden russische Militärinstrukteure für die Ausbildung der koreanischen Leibgarde und ihrer Kapelle nach Korea geschickt (vgl. Choi 2010b: 86 f.). Jedoch mussten sie ihre Tätigkeit frühzeitig abbrechen, da die scharfe Kritik und die anti-russische Kampagne der koreanischen Dokriphyophoe [Unabhängigkeitsgesellschaft] im März 1898 die pro-russische koreanische Regierung unter Druck gesetzt hatte.5 Was die Kapelle betrifft, so spielte einer Tagebucheintragung des französischen Priesters Muthel vom 1. September 1898 zufolge die Kaiserliche Kapelle­ 3 | 1881 übernahm der japanische Militärinstrukteur Horimoto Reizō die Ausbildung der koreanischen Armee. Er wurde bei Unruhen während des Militärputschs im Juni 1882 von Koreanern ermordet (vgl. Yi 2009: 100). 4 | Nach der von Japan veranlassten Ermordung der Königin Myungseong vertraute der König Kojong nicht mehr den Japanern, sondern den Russen und blieb ein Jahr lang in der russischen Gesandtschaft. Das ›Kaiserreich‹ wurde nach seiner Rückkehr aus der russischen Gesandtschaft 1897 ausgerufen. 5 | Auch wenn Mitglieder der Dokriphyophoe die Unabhängigkeit des koreanischen Kaiser­ reichs anstrebten, wirkte sich ihre Tätigkeit schließlich zugunsten Japans aus.

Die Rezeption der Militärmusik in Korea 119

– bestehend­aus Violine, Flageolet (Blockflöte), Flöte, Harfe und Trommel etc. – passende Musik zur Feier des 506jährigen Bestehens der Yi-Dynastie (vgl. Muthel 1993: 315).6 Es ist zwar nicht klar, ob hier europäische Instrumente gemeint waren oder ob Muthel koreanische Instrumente mit französischen Entsprechungen bezeichnete. Jedoch deuten Dokumente darauf hin, dass eine moderne Hofkapelle auf russischen Instrumenten spielte, die man 1897 von Russland gekauft hatte7 und deren Gebrauch zwei russische Trompeter unterrichtet hatten.8 Am 29. April 1899 spielte die Militärkapelle lebhafte Musik und Nationalhymnen zu einem Sportfestival von Studenten der sechs Fremdsprachenschulen in Seoul (Dokrypshinmun v. 29. 4. 1899). Zusammenfassend kann gesagt werden: Es gab spätestens 1899 schon eine Kapelle mit europäischen Instrumenten aus Russland,9 die den Empfang westlicher Gäste, Militärparaden sowie zeremonielle Anlässe musikalisch untermalen konnte. Beim jetzigen Kenntnisstand ist nicht eindeutig zu erklären, was dann den kaiserlichen Hof am 19. Dezember 1900 veranlasste (Kwanbo No. 1794), offiziell die Einrichtung einer kaiserlichen Militärkapelle anzukündigen und schließlich den Kapellmeister Franz Eckert einzuladen.10 Drei Faktoren können zu diesem erhöhten Anspruch geführt haben: Erstens ging es zwar dem koreanischen Hof in erster Linie um den Aufbau eines starken Militärs. Die Koreaner waren sich jedoch durchaus bewusst, dass 6 | Im Originaldokument sind auf Französisch Flageolets, Flutes, Harpes, Violons, Tambours angegeben. 7 | Die koreanische Regierung hatte 1897 für die russischen Instrumente 3.096 Won bezahlt, wobei das Monatsgehalt des untersten Militärmusikers 5 Won betrug (vgl. Ilgija 1922a: 9 u. Lee, Jung-hee 2008: 167). 8 | Am 29. Juli 1897 trafen russische Militäroffiziere mit zwei Trompetern in Seoul ein (vgl. Choi 2010a: 87 u. Allen 1904: 198). 9 | Zungbomunhunbigo, Akgo 7, Akgi 2. Die vorhandenen russischen Instrumenten der Kapelle um 1900 waren: Flöten, Piccolo, Oboen, Klarinetten, Hörner, Posaunen, Saxophone, Tuben, Triangel, Glockenspiel, kleine Trommel, große Trommel, Tamburin und Becken (vgl. Jang 1974: 213 f.). 10 | Vgl. Choi 2010b: 56 f. Bisher war über den Vorgang bekannt, dass ausländische Berater im Auftrag von Kojong – der Amerikaner Sands und der Schotte Brown – mit dem deutschen Konsul Heinrich Weipert in Seoul Kontakt aufnahmen, um Franz Eckert, der nach 20jährigem Dienst in Japan 1899 nach Deutschland zurückgekehrt war, nach Asien zurückzuholen. Emma Kroebel, die Ehefrau eines ehemaligen preußischen Hauptmanns und Kaufmanns in Tsingtau war und ein Jahr lang (vom August 1905 bis Herbst 1906) A. Sonntag als Hofdame am koreanischen Kaiserhof vertrat (vgl. Pak 2012: 53 f.), erinnerte sich, dass dies »auf Wunsch des Kaisers von Korea geschah« (Kroebel 1909: 145).

120 Kyungboon Lee

eine Kapelle unabdingbar für das Militär, zur Ermunterung der Soldaten für den Kampf, war. So kann der Besuch des preußischen Prinzen Heinrich und das Spiel der ihn begleitenden deutschen Militärkapelle am koreanischen Hof am 8. Juni 1899,11 also relativ kurz vor dem Beschluss, die Gründung einer solchen Kapelle veranlasst haben. Dieser Auftritt mag den Anwesenden, nicht zuletzt dem Kaiser,12 veranschaulicht haben, wie der Klang einer starken Militärkapelle eine mächtige Nation repräsentieren kann (vgl. R18931). Zweitens kommt der Bericht des Ministers Min Yonghwan über seine Teilnahme an der Krönungsfeier von Nikolaus II. in Moskau von 1896 als Anlass für die Gründung in Frage. Min war von der Wirkung eines starken Militärs und einer Militärkapelle überzeugt. Obwohl Mins Bericht an Kojong einige Jahre zurücklag, erinnerten sich koreanische Angehörige der Kapelle in ihren Memoiren, dass Mins Empfehlung entscheidend gewirkt habe.13 Drittens gab es mit der Gründung des Kaiserreichs immer mehr Kontakte mit dem Westen, und damit stieg auch »der Bedarf westlicher Musik am Hof« (Ilgija 1922a: 9). Wenn Europäer, wie z. B. der junge italienische Konsul Carlo Rossetti, die koreanische Musik als »eine Folter«14 vernichtend beurteilten, wurde es dringend, die ausländischen Gäste mit professioneller westlicher Musik zu unterhalten. Die drei Thesen widersprechen sich nicht, sondern geben Aufschluss darüber, dass der Kaiser und sein neues Kaiserreich von der starken Wirkung einer professionellen Kapelle für die Zurschaustellung einer starken Nation erfasst wurden. Wie in Japan wurden auch in Korea »die ersten Bemühungen um die Musik 11 | Vgl. Choi 2010b: 56. Vgl. auch Muthels Tagebuch vom 8. Juni 1899. Kneider bezieht sich aber auf ein früheres Datum in dem Buch von Rosalie von Möllendorff (Kneider 2009: 151). Kojong war am deutschen Militär interessiert, sodass er sich mit dem Prinzen mehr über das Militärsystem als über politische Fragen unterhielt (vgl. Jung 2011: 70). 12 | Am 22. Juni 1899 verkündete Kojong eine Reform des koreanischen Militärs. Indem er sich selbst zum Marschall ernannte, zielte er darauf ab, seine Kontrolle über das Militär zu verstärken (vg. Seo 2000: 124-127). 13 | Nach Berichten koreanischer Zeitungen wie Dongailbo vom 4. 3. 1924, Choseonilbo vom 13. 3. 1921 und der Wochenschrift Dongmyung vom 26. 10. 1922 war Min die Gründung der Kapelle zu verdanken. Aber Namgung Yoyol, der erste koreanische Verfasser eines Buchs über Franz Eckert, hat Mitglieder der Eckertschen Kapelle interviewt und behauptet, dass der Aufbau einer Militärkapelle nach europäischem Muster schon vor Mins Reise nach Russland gewünscht wurde (vgl. Namgung 1987: 43 f.). 14 | Rossetti, der im November 1902 nach Korea kam, verurteilte sie als »den schärfsten, krampfartigsten Lärm, den die Menschen produzieren« könnten (Rossetti 1996 [1905]: 100).

Die Rezeption der Militärmusik in Korea 121

des Westens zu keinem anderen Zweck als zu dem der Stärkung des militärischen Prestiges« gemacht (Harich-Schneider 2006: 95). Für das damals drei Jahre alte Kaiserreich, das kaum eine seinem Titel entsprechende reale Macht vorzuweisen hatte, war es umso wichtiger, symbolische Macht zu demonstrieren, um von ausländischen Gästen und der Welt Anerkennung als souveräner Staat zu gewinnen.

3. D ie Wahl

des deutschen

K apellmeisters Franz E ckert

Allerdings stellt sich hier die Frage, ob man unbedingt Franz Eckert anstellen musste, der für den koreanischen Hof eine enorme finanzielle Bürde15 bedeutete. Im benachbarten Japan gab es schon professionelle japanische Militärmusiker, die in den 1880er Jahren in Paris studiert hatten, wie Kudō Teiji oder Furuya Hiromasa.16 Kudō arbeitete nach seiner Rückkehr aus Europa sogar mit Eckert zusammen und leitete später die seit 1906 für die japanischen Truppen in Korea gebildete japanische Kapelle (vgl. Fujii 2008: 26). Wenn man aber unbedingt einen westlichen Musiker suchte, der über asiatische Erfahrung verfügte, gab es auch englische, deutsche oder französische Fachleute, die in den benachbarten Ländern arbeiteten oder gearbeitet hatten. Der französische Militärmusiker Charles Edouard Gabriel Leroux kam mit der dritten französischen Militärgesandtschaft 1884 nach Japan und trug bis 1889 dazu bei, den Standard der japanischen Militärmusik zu erhöhen.17 Seine Militärlieder Fusōka und Battōtai wurden beim japanischen Militär beliebt. Auch er erhielt wie Eckert von der japanischen Regierung den Verdienstorden 5. Klasse (vgl. Nakamura 1993: 143 ff.). Leroux hätte genauso wie Eckert die Aufgabe erfolgreich erfüllen können. Offensichtlich wurde ein deutscher Musiker gesucht. Ein Grund dafür ist, dass in Ostasien das preußische Militär hohes Ansehen genoss und damit auch preußische Militärmusik. Dies war der Hauptgrund für die Gründung der deutschen Schule in Seoul, die einen Zugang zum deutschen Militärsystem ermöglichen­ 15 | Eckerts monatliches Gehalt betrug 450 Won. Als er seine Familie nach Korea holte, wurden einmalig 600 Won für die Reise und dann als Familienzuschuss zusätzlich monatlich zunächst 150 Won, später 450 Won bezahlt (vgl. Lee, Jung-hee 2008: 171). 16 | Kudō (1860-1927) war der dritte und Furuya (1854-1923) der vierte Kapellmeister des japanischen Heeres (vgl. Sano 2005: 3). 17 | Leroux war ein professioneller Musiker, der am Pariser Conservatoire studiert hatte­. Er hatte dazu beigetragen, dass die Militärmusik noch eine Zeitlang französisch blieb, nachdem das japanische Heer nach preußischem Vorbild reformiert (1885) worden war. Dagegen war die Musik der japanischen Marine seit der Beschäftigung Eckerts deutsch dominiert (vgl. Sano 2005: 3).

122 Kyungboon Lee

sollte (vgl. Namgung 1987: 58 f.). Sowohl in China als auch in Japan lehrten preußische Instrukteure und deutsche Militärmusiker. Heinrich Weipert, Generalkonsul in Seoul, berichtete am 5. November 1901 über wiederholte Anzeichen, »dasz die hiesige Regierung im Geheimen den Wunsch hat einen deutschen Militärinstructeur anzustellen« (R18932: Nr. 195). Dieser Wunsch wurde aber nicht verwirklicht. Die Erklärung des amerikanischen Gesandten Allen weicht von dieser Sicht ab. Ihm zufolge (»Allen papers«) hat die Wahl Eckerts der Beschwichtigung der Deutschen gedient:18 »As a sop to the Germans, who had gotten little for their nationals, they were allowed to select & engage a band-master to instruct the Koreans«.19 Wenn es aber nur darum ging, einen Deutschen zu engagieren, so hätte es in Shanghai den deutschen Kapellmeister W. Reiger, der um 1900 die Public Band des British Municipal Council leitete (vgl. Baur 2005: 107), gegeben. Auch in Tianjin oder in Beijing unterrichteten schon um 1890 deutsche Musiker chinesische Kapellen (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund dürfte der entscheidende Grund für die Auswahl Eckerts sein, dass er an der Entstehung der japanischen Nationalhymne beteiligt war.20 Aus heutiger Sicht mag es zwar seltsam erscheinen, bei einem Angehörigen einer anderen Nation die koreanische Hymne zu bestellen. Für das damalige Verständnis war es jedoch wohl selbstverständlich, da eine nationale Musik, wie eine Hymne, als etwas vom Westen Importiertes angesehen wurde. Auch war das 18 | Als der englische Geschwaderadmiral Sir Cyprian Bridge Anfang September 1901 Seoul besuchte, lud er alle diplomatischen Vertreter zu sich ein, ausgenommen nur den deutschen Konsul, da die Vorschriften Bridge eine solche Aufwertung eines einfachen Konsuls nicht gestatteten (vgl. R18931-1: 5 f.). 19 | Vgl. Signatur XH 911.059 (Dank an Prof. Gottschewski für die Transkription). Allen hat insofern recht, als die deutsche Kolonie in Korea klein und unbedeutend gewesen war. Über die verbesserte Lage von Deutschen durch Eckerts Leistung in Korea schrieb Angus Hamilton in seinem Reisebericht Korea, das Land des Morgenrots (1904) und hoffte sogar, dass der deutschen Kolonie dank der überraschenden Wirkung der Hofkapelle unter Eckerts Leitung die Anstellung eines deutschen Arztes im kaiserlichen Haushalt gelingen würde. Wenn man bedenkt, dass damals die Machtkämpfe der einzelnen Nationen untereinander um Konzessionen jeglicher Art erbarmungslos waren (vgl. Wunsch 1976: 104), erscheint die Wahl Eckerts für die deutsche Kolonie als eine wichtige Gelegenheit, durch ein erhöhtes Ansehen am Hof mehr zu erreichen. 20 | Dokumenten des Politischen Archivs beim Auswärtigen Amt in Berlin (R18931) kann man entnehmen, dass die anderen in Ostasien verweilenden deutschen Kapellmeister gar nicht gefragt wurden.

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Verfahren nicht neu. Die Japaner hatten damit zwanzig Jahre Vorsprung.21 Dem japanischen Vorbild folgend, wurde wieder Eckert beauftragt, die koreanische Nationalhymne zu komponieren,22 um eine Gleichstellung mit dem japanischen Tennōreich zu suggerieren: Die ähnlichen Titelseiten der beiden Hymnen mit derselben Angabe »Franz Eckert Königlich Preußischer Musikdirektor«23 deuten darauf hin. Über das genaue Entstehungsdatum der koreanischen Nationalhymne besteht allerdings bislang in der Forschung keine Einigkeit.24 Der ausführlichste Bericht über die Kapelle und Franz Eckert in der Zeitschrift Dongmyung nennt den Winter 1901 als Entstehungszeit der Komposition (vgl. Ilgija 1922b: 12). Dies stimmt mit Richard Wunschs Bericht im Brief vom 27. Dezember 1901 an seine Eltern überein: »Soeben habe ich die Einladung zur Neujahrsaudienz am 1. Januar ins Palais bekommen. Es wird bei dieser Gelegenheit die von dem früheren preußischen Musikdirektor Eckert komponierte neue koreanische Hymne dem Kaiser vorgespielt« (Wunsch 1976: 89). So kann man davon ausgehen, dass die Hymne spätestens Ende 1901 fertig war.25 Für Koreaner waren die Publikation der neuen Nationalhymne und ihre Versendung nach dem Ausland im Juli 1902 ebenso wichtig wie ihre Komposition. Schon wenige Monate nach der Publikation belegt ein Dokument ihre Kenntnisnahme in Russland.26 Im Vergleich zur japanischen Nationalhymne Kimigayo, die von der Entstehung (1880) bis zur Publikation (1888) acht Jahre brauchte, 21 | Eigentlich beträgt der Vorsprung sogar 30 Jahre, weil das Kimigayo zuerst um 1870 von John William Fenton komponiert wurde. Allerdings wurde es zunächst nicht als Nationalhymne begriffen. 22 | Nach neuen Forschungen hat Eckert die koreanische Nationalhymne nicht komponiert, sondern nur ein koreanisches Lied bearbeitet (vgl. Lee/Gottschewski 2012). 23 | Im Geheimen Staatsarchiv PK in Berlin ist ein Dokument bezüglich der Ernennung Eckerts zum Königlichen Preußischen Musikdirektor vorhanden: Sig. GStA PK, I. HA Rep. 89 Geheimes Zivilkabinett, Nr. 1605. 24 | Choi Changun datiert die Uraufführung auf den September 1901 zum 50. Geburtstag des Kaisers (vgl. Choi 2010a: 81), während Kim Wonmo den Geburtstag des Kronprinzen im März 1902 (vgl. Kim 1987: 492) und Kneider den 1. Juli 1902 (vgl. Kneider 2009: 154) nennen. 25 | Der Offizier Bendemann nannte in seinem Bericht vom 7. Oktober 1901 nur die japanische Nationalhymne als Eckerts Leistung, nicht aber die koreanische. Man kann darum vermuten, dass es letztere zu diesem Zeitpunkt noch nicht gab (vgl. R18931). 26 | Der russische Außenminister Lamsdorf berichtete dem Zaren Nikolaus II. am 27. September 1902 von der Publikation. Die koreanische Nationalhymne wurde Russland durch die russische Gesandtschaft am 13. August 1902 überstellt (vgl. Choi 2010d: 60).

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dauerte­ dies bei der koreanischen Nationalhymne nicht einmal ein Jahr.27 Aus heutiger Perspektive erscheint die Eile als gerechtfertigt, weil sonst die ganze Bemühung des neuen Kaiserreichs aufgrund der Annexion durch Japan 1910 umsonst gewesen wäre.28 Obwohl seine koreanische Kaiserhymne nach der Annexion verboten wurde, konnte Franz Eckert seine Tätigkeit als Musiklehrer der nunmehr geschrumpften höfischen Kapelle bis 1915, also bis ein Jahr vor seinem Tod, fortsetzen. Die japanische Regierung erwies ihm bei seiner Todesfeier als Komponisten des Kimigayo hohe Ehren, trotz des Ersten Weltkrieges, der Eckert zu einem aus japanischer Sicht feindlichen Deutschen machte.29 Auch in der japanischen Zeitung in Seoul, Keijō nippō, wurde er zu seinem Tod am 8. August 1916 als »verkannter Komponist von weltweiter Bedeutung« hochgepriesen. Die japanische Forschung rezipierte Eckert nicht nur als Komponisten der japanischen Nationalhymne, sondern auch als Lehrer und Menschen durchaus positiv (vgl. Fujii 2008: 29-32). Dagegen gibt es einen koreanischen Bericht, der ihn als Menschen und Musiker kritisch betrachtet.30 Eckert habe sich erstens gegenüber Koreanern rassistisch verhalten und Personen mit einem flachen Hinterkopf als dumm von der Ausbildung für seine Kapelle ausgeschlossen (vgl. Ilgija 1922b: 12). Zweitens habe Eckert dem koreanischen Kaiser vorgelogen, dass er den Verdienstorden 4. Klasse von der japanischen Regierung bekommen habe.31 Damit hatte er angeblich die Voraussetzung erfüllt, den um eine Klasse höheren Orden, d. h. der 3. Klasse, von der koreanischen Regierung zu bekommen (vgl. ebd.). Drittens erkannte man zwar Eckerts große Begabung an, Blasinstrumente zu spielen, wie auch seinen Beitrag für die Einführung westlicher Musik in Korea. Doch habe er in Wirklichkeit weder an einer professionellen Musikinstitution studiert, noch sei er ein großer Komponist gewesen (vgl. ebd.: 9). Das unter27 | Es wurden 1000 Exemplare gedruckt, die an die Ausländer in Korea verteilt und ausländischen Schiffen mitgegeben wurden, was die koreanische Nationalhymne weltweit bekannt machen sollte (vgl. Ilgija 1922b: 12). 28 | Während der japanischen Herrschaft wurde die Eckertsche Hymne verboten, jedoch, wie Liedsammlungen beweisen, in der Mandschurei und Hawaii weiter gesungen (vgl. Choi 2010e: 48 ff.). 29 | Eckerts Familie geriet in eine verzwickte Situation: Sein Sohn als ein deutscher und sein Schwiegersohn als ein französischer Staatsbürger wurden Gegner im Ersten Weltkrieg. 30 | Die koreanische Information stammt vom Baek Uyong, der zuerst als Dolmetscher für Eckert engagiert war, aber dann als sein bester Musiker zum Kapellmeister ausgebildet wurde. Eckert war von Anfang an auf dessen Hilfe für den Aufbau der Kapelle angewiesen. 31 | Eckert bekam den Verdienstorden 5. Klasse am 16. März 1899 (vgl. Nakamura 1993: 311).

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scheidet sein Bild in Korea deutlich von dem in Japan und Deutschland,32 wo Eckert als Absolvent der Konservatorien von Breslau33 und Dresden erscheint (vgl. Eckardt 1926: 3). Die Gründe für diese Unterschiede und die Einzelheiten von Eckerts Biographie müssen weiter erforscht werden.34

4. E ine

positive

R ezeption

der westlichen

M usik

Obwohl der fremde westliche Klang sich von dem der traditionellen koreanischen Musik stark unterschied, rezipierten der Kaiser und seine Regierung ihn ohne jeglichen Widerstand. Besonders der jüngste Prinz Youngchin hörte gerne der Kapelle beim Üben zu, sogar durch die Telefonleitung, wenn er nicht anwesend sein konnte.35 Was Kojong betrifft, lässt sich zwar nicht genau sagen, ob seine Liebe zur westlichen Musik sich lediglich auf Blasmusik bezog, die nur einen verschwindend kleinen Teil der europäischen Musik ausmacht. Doch gab es am Hof Klaviere (Maeilshinbo v. 26. 1. 1918: 3), was darauf hinweist, dass die kaiserliche Familie der westlichen Musik gegenüber aufgeschlossen war.36 32 | Auch über seine Familie gibt es unterschiedliche Informationen. Nach japanischen Angaben ist er als Sohn eines Gerichtsbeamten geboren (vgl. Nakamura 1993: 349 u. 360), nach koreanischen als Sohn eines Schuhmachers, und zwar nicht 1852, sondern 1849 (vgl. Ilgija 1922a: 9). 33 | Das Breslauer Staatsarchiv (Archiwum Panstwowe we Wrocławiu) und das Hauptstaatsarchiv Dresden gaben bezüglich seines Studiums im Konservatorium in Breslau bzw. Dresden am 13. bzw. 18. Februar 2014 an, dass keine Unterlagen zu Franz Eckert zu ermitteln sind. 34 | Ein Indiz für die Richtigkeit der koreanischen Version ist Andreas Eckardts Bericht, dass Franz Eckert erst 1915 in Seoul die dorische Kirchentonart gehört habe (vgl. Eckardt 1926: 3). Jeder Absolvent eines Musikkonservatoriums hätte diese Tonart kennen müssen. 35 | Vgl. Ilgija 1922b: 12. Nach einem Zeitungsbericht gab es damals am Hof zwei Klaviere, auf denen Youngchin als Kind spielte (Maeilshinbo v. 26. 1. 1918: 3). Als er nach seinem japanischen Studium am Gakushuin und an der Kaiserlichen Militärakademie, wo er unter dem Deckmantel einer modernen Erziehung von Japanern überwacht wurde, 1918 für eine Weile nach Korea zurückkehrte, wurden ihm wieder die alten Klaviere zur Verfügung gestellt, damit er sich nicht langweilte. Auch die Militärkapelle, die seine Liebe genoss, bereitete für ihn einen musikalischen Beitrag vor, wobei der Kapellmeister Baek ein neues Empfangslied, Bongyounggok, komponiert hatte (vgl. ebd.). 36 | Es ist nachzufragen, ob die Aufgeschlossenheit der kaiserlichen Familie ein Zufall war. In Ostasien spielten nicht nur Mitglieder der japanischen und koreanischen Herrscher­ familien Klavier, sondern auch Puyi, der letzte Kaiser Chinas.

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In diesem Kontext verwundert es nicht, dass am Hof der Glaube verbreitet wurde, die neue westliche Vokalmusik würde die Menschen berühren und patriotische Gefühle verstärken (vgl. Min 1902: 2). Minister Min erläutert dies in seinem Vorwort zu der 1902 veröffentlichten Nationalhymne: Wenn ihre Melodie stark und kräftig werde, erzeuge dies auch bei den Soldaten Tapferkeit und Aggressivität. In der Tat weist die koreanische Hymne die Eigentümlichkeit auf, dass ihr Tempo zwischen Andante und Allegretto wechselt. Die sanften und erhabenen Teile sollten das Gefühl von Eintracht vermitteln und die patriotische Gesinnung fördern (vgl. ebd.).37 Das ganze Vorwort belegt, wie überzeugt der Kaiser und sein Minister Min von der Wirkung der westlichen Militärmusik und der Nationalhymne waren. Dies ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie fremdartig diese neue Musik für die meisten Koreaner klingen musste. Für die Verwirklichung dieses blinden Glaubens wurde nun Franz Eckert engagiert. Aufgrund seiner zwanzigjährigen Erfahrung mit der japanischen Staatsmusik gelang es ihm nach seiner Ankunft im Februar 1901, die Koreaner in kürzester Zeit von Anfängern zu Mitgliedern einer professionellen Militärkapelle auszubilden.38 Seine Musiker erinnerten sich daran, wie streng er mit ihnen umging, wenn etwas nicht klappte, wie er es haben wollte. Ihr Eindruck war, dass die Militärkapelle »nicht zur Erhebung der nationalen Gefühle, sondern zur Folterung der Rekruten« diente (Ilgija 1922b: 12). Doch damalige ausländische Publikationen dokumentieren, wie wundervoll seine Kapelle europäisches Repertoire spielte. Zu ihrem ersten Auftritt zum fünfzigsten Geburtstag des Kaisers am 7. September 1901 berichtete The Korea Review:39 »The band consisted of twenty-seven pieces, well-balanced and handled in a manner which caused astonishment that such music could be rendered Koreans on foreign instruments after only four months’ practice. […] Handsome uniforms, polished instruments, perfect time, smoothness of rhythm and harmony, all combined to give an effect that was wholly unexpected and delightful to the audience. The repeated applause gave evidence of

37 | Innerhalb von Nationalhymnen sind Änderungen des musikalischen Gestus selten. In diesem Punkt ist die Nationalhymne Eckerts mit der Hanns Eislers für die DDR zu vergleichen (vgl. Lee, Kyungboon 2013). 38 | Die russischen Instrumente, die 1897 gekauft worden waren, hielt Eckert für überwiegend unbrauchbar. Er verlangte den Kauf deutscher Instrumente, die beim Geschäft Zimmermann in Wien insgesamt 8.000 Won kosteten (vg. Ilgija 1922c: 12). 39 | Die Zeitschrift The Korea Review wurde vom Januar 1901 bis Dezember 1906 von Homer Hulbert in Seoul publiziert, um den Ausländern Korea bekannt zu machen. Auch dieser Bericht stammt von ihm.

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the pleasure which the music afforded. At this rate Seoul will soon have a band that can compete successfully with anything in the Far East« (Hulbert 1901: 412).

Diese Prognose wurde später hinreichend bestätigt. So erkannte der italienische Konsul Carlo Rossetti Eckerts Leistung an und schätzte die musikalische Fähigkeit der Kapelle sogar so hoch »wie eine in seiner Heimat« (Rossetti 1996 [1905]: 96) ein. Mit diesem Vergleich mit dem europäischen Standard stand Rossetti nicht allein. Aus der Sicht von Emma Kroebel genügte die Kapelle »selbst nach europäischen Begriffen höheren Ansprüchen« (Kroebel 1909: 145). Allerdings sind die Beurteilungen im ostasiatischen Kontext zu verstehen. So schrieb Georg Baur in seinem chinesischen Tagebuch am 26. Oktober 1890: »Wenn man frisch von Europa kommt, erscheint einem hier alles in anderem Licht als einem, der lange hier gewesen: ich bin überzeugt, dass, wenn ich vorher 1/2 Jahre in der chinesischen Wildnis und Schweinerei im Innern gelebt hätte, dass mich die Feier sehr entzückt hätte« (Baur 2005: 107). Entsprechend beurteilte der deutsche Marineoffizier Bendemann im Oktober 1901 das Spiel der neugebackenen koreanischen Kapelle als »noch nicht hervorragend« (R18931). Im Vergleich mit der professionellen deutschen Marinekapelle, die das Marinekommando mitgebracht hatte, war dies verständlich. Kojong, von den Leistungen der deutschen Kapelle entzückt, habe den lebhaften Wunsch geäußert, dass Eckert ihm »recht bald eine ähnlich gut spielende Kapelle heranbilden« (R18931) möge. Seiner Erwartung entsprechend entwickelte sich die koreanische Kapelle weiter, sodass sie sogar eine Wagner-Ouvertüre spielen konnte und zu einer Attraktion für die durch Ostasien reisenden Westler wurde (vgl. Ilgija 1922b: 12).40 Es gab verschiedene Meinungen, ob dies auf Eckerts Leistung oder auf das musikalische Talent der Koreaner zurückzuführen sei: Emma Kroebel schrieb »die unerwartete Leistung der halbkultivierten« Koreaner, der »fast beispiellosen Mühe und Anstrengung« Eckerts zu, »aus solchem unmusikalischen Menschenmaterial Musiker heranzubilden« (Kroebel 1909: 145). Auch der japanische Reporter Fujino lobte die koreanische Kapelle mit der Einschränkung, dass sie ohne die Leitung Eckerts eine solche Leistung nicht hätte erbringen können (vgl. Fujino 1908: 17). Dagegen zollte der Autor Hulbert in The Korea Review beiden Seiten Tribut: »for the result attained must have called for unremitted work on the part of the director and close and faithful application on the part of Koreans« (Hulbert 1901: 412). Auch der stellvertretende Kapellmeister Eckerts, Baek Uyong, betonte sechs Jahre nach dem Tod des Meisters, dass das angeborene Musiktalent der Koreaner 40 | Ein Artikel der Londoner Times, der darüber berichtet habe, sei dann ins Japanische übersetzt und in Japan publiziert worden (vgl. Ilgija 1922b: 12).

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durch diese Militärkapelle, d. h. durch Eckerts hartes Training, zum Vorschein gekommen sei (vgl. Ilgija 1922b: 12). Auch dem Bericht des japanischen Musikpädagogen Tamura Torazō zufolge lobte Eckert in Anwesenheit der Japaner seine koreanischen Musiker:41 Sogar in Japan sei solch spieltechnisch hervorragende Musik wie die der koreanischen Hofkapelle selten zu hören (vgl. Fujii 2008: 27 f.). »Allgemeine musikalische Talente der Koreaner« erkannte auch der berühmte japanische Komponist Miyagi Michio an, der zwischen 1907 und 1917 in Korea lebte und sich vom Spiel der koreanischen Militärkapelle inspirieren ließ.42 Der Musikpädagoge Tamura Torazō schlug sogar nach der Annexion Koreas vor, die musikalische Begabung der Koreaner für die japanische Propaganda auszunutzen (vgl. Tamura 1911/1: 13);43 auch dies bestätigt, dass die Koreaner als musikalisch talentiert galten.

5. Westliche M ilitärmusik des K ulturtransfers

vor dem

H intergrund

Militärparaden zu begleiten oder den Empfang ausländischer Staatsgäste musikalisch zu untermalen44 – das waren die Aufgaben von Eckerts Kapelle. Auch zu staatlichen Zeremonien wie einer nationalen Trauerfeier oder auch zu der Feier des japanischen Erfolgs gegen Russland am 4. Mai 1904 musizierte die koreanische Militärkapelle in Anwesenheit des Kaisers und seiner Minister.45 Ein 41 | Eckert soll gesagt haben, dass das neunmonatige Lehren bei Japanern drei Monaten bei Koreanern entspreche (vgl. Namgung 1987: 64). 42 | Fujii 2008: 35. Miyagi war seit seinem achten Lebensjahr blind, sodass er auf Hilfe beim Ausgehen angewiesen war. Er erinnerte sich, dass sein koreanischer Helfer, ein gewöhnlicher Mann, während seines zwei- oder dreijährigen Aufenthalts die Musik, die Miyagi gespielt hatte, genau nachsingen konnte. 43 | Da das koreanische Militär 1907 durch die Japaner aufgelöst wurde, nachdem sie Kojong gezwungen hatten abzudanken, wurde die Militärkapelle auf eine kaiserliche Hofkapelle reduziert. Bei der offiziellen Annexion Koreas durch Japan 1910 wurde sie zur königlichen Hofkapelle degradiert. Als Eckert 1915 entlassen wurde und ein Jahr später starb, wurde die Lage des Ensembles noch prekärer. Aber erst der Tod Kojongs 1919 führte zur definitiven Auflösung der Formation. Die Musiker um den Dirigenten Baek Uyong versuchten sich als Kyungsung akdae [Kyungsung-Kapelle] über Wasser zu halten (Dongailbo v. 4. 3. 1924: 2). 44 | Vgl. Rossetti 1996 [1905]: 97. Rossetti bestätigte, dass Franz Eckert mit seiner Kapelle zum Neujahrsfest von 1903 am Hof für eingeladene Gäste musizierte. 45 | Nachdem Kojongs Versuch, im russisch-japanischen Krieg neutral zu bleiben, gescheitert war, musste er am 23. Februar 1904 unter Druck der Japaner einen Staatsvertrag unter-

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besonderes Ansehen erlangte die koreanische Militärkapelle durch regelmäßige Promenadenkonzerte.46 Zur Unterhaltung ausländischer Bewohner und koreanischer Hofangehöriger spielte sie in den Sommermonaten an jedem Donnerstagnachmittag im Seouler Pagoda-Park. Über die Bedeutung der koreanischen Kapelle für die in Seoul lebenden westlichen Ausländer berichtet Emma Kroebel: »Wessen Ohren je längere Zeit in Ost-Asien jene disharmonischen Geräusche vernehmen mußten, die man in China, Japan und Korea Musik nennt, der wird die Bedeutung zu würdigen wissen, welche die Einführung deutscher Musik in das halbkultivierte Korea besitzt« (Kroebel 1909: 139).

Ab 1904 wurden die Konzerte auch allgemein zugänglich (vgl. Ilgija 1922c: 12). Dies bestätigte Fujino in seinem bereits erwähnten japanischen Bericht vom 20. September 1908 in Ongakkai: Der Reporter hatte an einem Donnerstagnachmittag um 5 Uhr die Musik der koreanischen Kapelle unter der Leitung Eckerts gehört (vgl. Fujino 1908: 16). Er verglich Eckerts Ensemble mit der Kapelle der japanischen Truppe, die seit 1906 in Seoul stationiert war: Auch letztere gab, dem koreanischen Vorbild folgend und mit ihm konkurrierend, während des Sommers jeden Sonntagabend im Namsan-Park regelmäßige Konzerte für die Bevölkerung (vgl. ebd.: 15). Ihr Kapellmeister, der bereits erwähnte Kudō, leitete das von Fujino besuchte Konzert nicht selbst, was laut Bericht der Grund für den uninteressanten Auftritt war (vgl. ebd.). Nach diesem Bericht bestand beim Spiel der koreanischen Kapelle das Publikum zu 70 Prozent aus Koreanern, 20 Prozent aus westlichen Zuhörern und 10 Prozent aus Japanern.47 Dagegen betrug bei Auftritten der japanischen Kapelle der koreanische Publikumsanteil 60 Prozent und der japanische 40 Prozent (vgl. ebd.: 16). Hier waren also kaum westliche Zuhörer zu sehen. Dass die japanische Kapelle musikalisch kaum Interesse bei den Westlern erweckte, führte der Reporter darauf zurück, dass sie vor allem Nagauta [Japanische Lieder aus der Edo-Zeit] oder Gunka [Militärlieder] spielte. Dagegen brachte das koreanische Ensemble mehr europäische Stücke wie z. B. eine Wagner-Ouvertüre zu Gehör. schreiben, dem zufolge Korea das japanische Militär unterstützen musste. So blieb ihm keine Wahl, als mit seinen Ministern den japanischen Sieg zu feiern (vgl. Wada 2011: 61 f.). 46 | Sie spielte im Yongsan- oder im Namsan-Park, aber auch im Pagoda-Park. Einem Bericht von Maeilshinbo im Oktober 1910 zufolge leitete jetzt Wada als Kapellmeister die Aufführungen (S. 5). 47 | Damals lebten dreißigmal mehr Japaner als Westler in Seoul. Der Reporter berichtete über das unterschiedliche Verhalten der letzteren, die, anders als Koreaner und Japaner, nach dem Ende der Musikstücke klatschten (vgl. Fujino 1908: 17).

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Dieser Bericht deutet an, dass die koreanische Kapelle nicht nur bei den wenigen Westlern in Seoul beliebt war, sondern auch die Koreaner sich für die westliche Musik durchaus interessierten. Ein Bericht von der Frau Moellendorffs, der zwischen 1882 und 1885 als koreanischer Vizeminister für Auswärtige Angelegenheiten arbeitete,48 gibt Auskunft, wie die Koreaner auf die neue westliche Kapelle reagierten: »Am anderen Tag spielte die Kapelle [die deutsche Marinekapelle] in unserem großen Hof in Paktong, da saßen die Koreaner in ihren bunten Gewändern rings um unser Haus auf den Dächern ihrer niedrigen Häuser, in Staunen und Verwunderung über dies neue Wunder der Fremden fast erstarrt« (Moellendorff 1930: 66).

Da die Koreaner auch während der folgenden zehn Jahre mit westlichen Soldaten wenig in Berührung kamen, kann man sich leicht vorstellen, dass beim »neuen Wunder der Fremden« auch optische Eindrücke wie »handsome uniforms, polished instruments« (Hulbert 1901: 412)49 mitspielten, wie in The Korea Review geschildert wurde. Doch kann dies keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass der fremde Klang aus dem Westen auf Widerstand bei den Koreanern stieß. Darüber äußerte sich der Korea-Kenner Hulbert: »Koreans like our music as little as we like theirs, and for the same reason – they do not know what we are driving at [...]. So I beg you to suspend your judgment of Korean music until you can listen to it, so to speak, with Korean ears« (Hulbert 1896: 45). Beim amerikanischen Missionar und Gesandten Allen hieß es: »Koreans are not admirers of our music, it seems to them to be too fast and noisy« (Allen 1904: 35).50 Um nochmals zu betonen: Hier geht es um den Klang der westlichen Musik selbst. Bei der Militärmusik jedoch ging es Japanern und Koreanern vielmehr um die Rangfolge der Kapellen als um die Musik selbst. Dem oben erwähnten japanischen Reporter zufolge war zumindest bis zur Annexion Koreas 1910 unter 48 | Zu Moellendorffs Karriere im koreanischen Staatsdienst vgl. Lee, Eun-Jeung 2008. 49 | Die Uniformen wurden in Paris angefertigt (vgl. Namgung 1987: 111), die neuen Musikinstrumente hatte Eckert aus Deutschland mitgebracht und später durch Importe aus Österreich ergänzt (vgl. Lee, Jung-hee 2008: 182 u. Ilgija 1922c: 12). 50 | Vermutlich gab es Parallelen zu der Rezeption westlicher Musik in Japan. Arien, von einer britischen Wanderoperette 1879 in Tokyo gesungen, wurden vom japanischen Publikum als »das verzweifelte Krähen einer Henne im Würgegriff« empfunden. Besonders die westliche Vokalmusik wurde in Japan zunächst sehr negativ aufgenommen. Ein Samurai brach in Gelächter aus, als er 1860 in Hawaii zum ersten Mal einen Soprangesang hörte, weil für ihn »die Stimme wie ein heulender Hund« klang (Takenaka 2005: 15).

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den Japanern die Meinung verbreitet, das einzige, worin Korea Japan überlegen sei, sei die Militärkapelle (vgl. Fujino 1908: 16). Die westliche Musik scheint in Ostasien nach dem Kriterium der Hierarchie verstanden worden zu sein. In diesem Zusammenhang weist das Wunder, dass die Koreaner innerhalb kurzer Zeit in Eckerts Kapelle europäisches Niveau erreichten, auf einen Kulturtransfer hin, der durch staatliche Förderung widerstandslos vor sich ging. Der koreanische Kaiserhof, der wie die Japaner und Chinesen westliche Musik aus eigener Initiative importierte, sah in ihr zunächst ein sinnliches Mittel zur Propaganda für eine starke Nation und den Patriotismus. War der Versuch des japanischen Tennōreichs, westliche Musik durch deutsche Musiker einzuführen, Bestandteil des Gesamtplans, »sich dem Westen«, nicht zuletzt dem militärisch starken Preußen, »gleichzustellen« (Takenaka 2005: 31), so bestand die Wunschvorstellung des koreanischen Kaiserreichs darin, sich Preußen und Japan gleichzustellen, indem es denselben Musiker Eckert engagierte. Mit Bezug auf Kulturtransfer kann die bisherige Darstellung folgendermaßen zusammengefasst werden: Erstens wird die Annahme, dass ein Kulturtransfer in Gestalt der Aneignung fremder Kulturgüter im Nehmerland mit kulturideologischen Faktoren verbunden vor sich gehe (vgl. Takenaka 2005: 31), auch hinsichtlich der koreanischen Staatsmusik bestätigt. Die westliche Musik wurde rückhaltlos rezipiert, da sie als Mittel für die Zurschaustellung eines starken Staats als wirksamer und moderner denn die alte traditionelle Musik galt, d.h. als ein modernes »Regierungsmittel« (Harich-Schneider 2006: 96). Zweitens stand die erste systematische staatliche Rezeption der westlichen Musik in Korea – vermittelt durch die Person Eckert – unter dem Einfluss von Japan und Deutschland. Dieser zweifache Transfer kam den Koreanern zugute. Die rasche Aneignung der fremden Musik durch die Koreaner war – neben dem musikalischen Talent der Koreaner – Eckerts langjährigem Kontakt mit japanischen Musikern und der dadurch erworbenen Lehrfähigkeit zu verdanken. Bei Eckerts erster Ankunft in Japan um 1879 war »von einem Verständnis für europäische Musik noch keine Spur vorhanden«, sodass seine erste Tätigkeit in Japan sich »zu einem ungeheuer schwierigen Unternehmen« (Eckardt 1926: 3) gestaltete. Mit einer ähnlichen Situation zwanzig Jahre später in Seoul konfrontiert, konnte Eckert unverzüglich seine japanischen Erfahrungen für den Aufbau der koreanischen Kapelle einsetzen.

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Schriftblindheit in der Fremde. Die Grenzen des Lesbaren in der ›exotischen‹ Literatur des 20. Jahrhunderts Arne Klawitter

Kulturkontakte vollziehen sich im erheblichen Maße über Sprache und Schrift, doch ist es immer noch ein Ausnahmefall, dass ein solcher Kontakt von Übersetzern und deren Übersetzungen wirklich authentisch und hautnah hergestellt werden kann. Ganz auf sich allein gestellt, gibt es dann jene Situation, in der man sich plötzlich mit einem unlesbaren und offensichtlich vielschichtigen Schriftsystem konfrontiert sieht, das man aber aufgrund seiner Fremdheit und Komplexität weder verstehen noch durchdringen kann. Wie wird in einem solchen Fall die fremde und komplexe Schrift gelesen, jene ›fremde Schrift‹, die für den Betrachter tatsächlich nicht entzifferbar ist und daher für ihn auch keinen Sinn ergibt? Wird sie, wie Uta Schaffers es in ihrem Buch Konstruktionen der Fremde nahelegt, als Repräsentation einer fremden Sprache verstanden, was einschließt, dass ihre Illiteralität als Hindernis empfunden wird, oder wird sie im Sinne einer Ver-Fremdung »als etwas ›ganz anderes‹ wahrgenommen« (Schaffers 2006: 323), was bedeuten würde, dass damit ihre Unlesbarkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt? Gerade die sogenannte ›exotische‹ Literatur bedient sich gern und häufig diverser Strategien einer solchen Verfremdung, um dem Leser die Vorstellung zu vermitteln, dass er sich in einer »ganz anderen Welt, und nicht mehr in einer anderen Kultur auf dieser Welt« befinde (Schaffers 2006: 327). Betrachtet man die Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend von verschiedenen deutschen Verlagen in Auftrag gegebenen Reisebeschreibungen über Ostasien,1 dann gewinnt man zunächst den Eindruck, als sei die Welt, welche die Schriftsteller während ihres Aufenthalts in der Fremde aufnahmen und literarisch abzubilden versuchten, in einem solchen Maße transparent gewesen, dass sie sich geradezu widerstandslos dem konsumierenden Blick des westlichen Betrachters erschlossen hätte. Zwar ist in den Texten mitunter durchaus auch von verwirrenden, rätselhaften Schriftzeichen die Rede, die gemeinhin als »Hieroglyphen« bezeichnet werden, doch verfolgen die meisten dieser Darstellungen vor allem ein Ziel, nämlich die Exotik des vom Verfasser bereisten Landes hervorzuheben – und nicht selten 1 | Bernhard Kellermann wird 1907 vom Cassirer-Verlag nach Japan geschickt, und Max Dauthendey, der nach seiner ersten Weltreise 1906 im Jahre 1914 zu einer weiteren aufbricht, erhält zumindest die Hälfte seiner Reisekosten vom Verlag Albert Langen.

136 Arne Klawitter

dienen sie dazu, das Abenteuerliche der Reise besonders zu unterstreichen. Gewöhnlich behauptet sich der weltgewandte Schriftsteller, auch wenn er die Sprache seiner Umgebung nicht versteht und ihre Zeichen nicht entziffern kann, im Reiche solcher »Hieroglyphen« dadurch, dass er sie entweder durch einen Reisebegleiter oder Dolmetscher für sich lesbar machen lässt, um dann anschließend von ›meinem China‹ oder ›meinem Japan‹ sprechen zu können, oder er wählt den Weg, so gut wie alles zu beschreiben, was er sieht, ausgenommen jedoch jene unlesbaren Zeichen, d. h. er ignoriert sie einfach, wie es vor Jahrhunderten bereits bei Marco Polo der Fall war. Nur selten wird die Illiteralität zum Thema gemacht, und noch seltener werden diejenigen Konsequenzen reflektiert, die eine Konfrontation mit dem Nicht-Lesen- und Nicht-Verstehen-Können für den Reisenden mit sich bringt, wie etwa bei Max Dauthendey und Bernhard Kellermann, die das »ferne Japan« unabhängig voneinander in den Jahren 1906 und 1907 besuchten. Der Gedanke zu einer Weltumrundung entstand bei Dauthendey in einer Phase abnehmender künstlerischer Produktivität. Er erhoffte sich davon neue dichterische Inspirationen – ein Wunsch, der sich tatsächlich auch erfüllen sollte. Die Reise führte ihn über Ägypten nach Indien, dann weiter über Burma, Malaysia und China nach Japan, von dort über den Pazifik nach Nordamerika und zurück nach Europa. Sein 1909 publiziertes Buch Lingam, eine Sammlung von Erzählungen, gilt als eines der ersten Werke des deutschsprachigen Exotismus, doch nirgendwo sonst als in dem in Versform abgefassten Reiseepos Die geflügelte Erde (1910) spiegeln sich die Erfahrungen dieser Weltumrundung wider, was die Begegnung mit unlesbaren Schriftzeichen einschließt. Dem Leser treten in diesem Werk die fremdartigen sino-japanischen Schriftzeichen als schwarze, unheimliche Bilder entgegen, was ihre Fremdheit nur noch unterstreicht: »Die Riesenlettern, schwarz aus Tusche, wie das Gehusche vielgewundner Schlangen und dem Geflatter dunkler Fledermäuse gleich, Die bilden neben dem farbigen Gatter von hunderttausenden Schildern, neben dem Goldschnitzwerk und purpurnen Altären ein rätselhaftes Reich aus schwarzen Bildern« (Dauthendey 1925: 306).

Bemerkenswert ist bei dieser Darstellung vor allem die dem Vorgang des Schreibens zugewiesene Dynamik, die sich direkt auf die aufgeschriebenen Zeichen überträgt, wenn diese im Laternenlicht plötzlich zum Leben zu erwachen scheinen, wodurch das Skripturale mit einem Mal eine geradezu pulsierende bildhafte Form erhält und sich in den Augen des Dichters zum strukturierten und erkennbaren Körper eines sich auf eine ganz eigene Weise bewegenden Tieres verwandelt. Auch in Kellermanns Reisebeschreibung Ein Spaziergang in Japan (1910) gibt es eine damit vergleichbare Impression:

Schriftblindheit in der Fremde 137

»[D]ie Straßen wimmeln von matt leuchtenden Papierlaternen und Miriaden verwirrender, rätselhafter Schriftzeichen, die erst lebendig werden, sobald die Lampen brennen. [...] Die Straßen in Japan haben keine Namen, und wenn sie Namen haben, kann man sie nicht lesen« (Kellermann 1910: 28 f.).

Die Eindrücke und Erfahrungen, die Kellermann drei Jahre nach seiner Japan-Reise­ veröffentlichte, geben fast schon drastisch wieder, was ein europäischer Besucher empfindet, wenn er in die Situation versetzt wird, von unlesbaren Zeichen nicht nur umringt, sondern geradezu bedrängt zu sein. Ein ganz ähnliches Szenarium findet sich dann auch bei Max Brod in seinem knapp dreißig Jahre später publizierten Roman Abenteuer in Japan, dessen Protagonist Marcel Sichler wie im Fieberwahn durch die Straßen Tokyos irrt, mehr und mehr von der fixen Idee besessen, dass ihn die unlesbaren Schriftzeichen, die für ihn das unheimliche, wenn nicht sogar feindliche »Fremde« zu personifizieren scheinen, permanent anstarren würden: »Die vielen Fahnen knattern vor den Geschäftsläden. Es sind eigentlich nur Firmenschilder oder Plakate, aber sie gleichen Fahnen, die schief in die Gasse ragen, der ganzen Länge nach an Stangen festgehalten. Die vielen schrägen Flächen geben dem Bild Unruhe und Verwirrung. Manche dieser Schriftbänder sehen wie Flossen von Riesenfischen aus, manche wie Wäsche, die zum trocknen hängt. Und alle mit den großen bunten Hieroglyphen vollgemalt, die man nicht lesen kann. Ist es schon peinlich, unter Menschen zu leben, deren Sprache man nicht versteht, so steigert sich der Eindruck von Unheimlichkeit, ja Feindschaft, sobald auch die Schriftzeichen einen allenthalben unverständlich anblicken, ja, mit lauter Stimme, so glaubt man, geradezu anschreien« (Brod 1938: 189 f.).

Wo ein Verstehen nicht mehr möglich ist, kann sich das Unverständnis im Schweigen, im Übergehen oder Negieren des Sachverhalts ausdrücken oder aber in einer Personifizierung der fremden Zeichen im Kontext des eigenen Unvermögens, der eigenen Ohnmacht. Diese Situation, etwas weder lesen noch schreiben noch verstehen zu können, gänzlich abgeschnitten zu sein vom Sinn, verlangt von den­ jenigen, die ihr ausgeliefert sind, eine Reihe von Vorkehrungen und parallel dazu ebenso viel Umgewöhnungen wie Umstellungen. Andererseits verbirgt sich in ihr aber auch ein für den Betroffenen, wenn er es denn will, bis dahin ungeahntes Potential neuer Wahrnehmungsweisen und Denkmöglichkeiten.

E ine S chicksalsbotschaft

als

R ebus

Ein Autor, in dessen dichterischem Werk unlesbare Schriftzeichen eine zentrale Rolle spielen, ist der zu Beginn des 20. Jahrhunderts viel gelesene und auch

138 Arne Klawitter

danach­noch über viele Jahre hinaus in Deutschland höchst populäre Schriftsteller Max Dauthendey. Sein erstmals 1911 veröffentlichter Erzählband Die acht Gesichter am Biwasee ist eine nachträglich vorgenommene Fiktionalisierung Japans, angeregt durch seine im Jahre 1906 unternommene Weltreise, die er bereits in Die geflügelte Erde. Ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere poetisch beschrieben hatte. Diese Reise hatte Dauthendey unter anderem auch nach Japan geführt, wo er am 23. April 1906 in Nagasaki ankam und das er am 22. Mai in Yokohama wieder verließ, um sich von dort nach Nordamerika einzuschiffen. Es muss nicht besonders erwähnt werden, dass Dauthendeys Japan-Novellen unmittelbar auf Utagawa Hiroshiges berühmten Zyklus von Farbholzschnitten (ukiyo-e, wörtlich: »Bilder der fließenden Welt«) mit dem Titel Acht Ansichten von Ōmi (Ōmi hakkei)2 zurückgehen. Für den Dichter waren sie Anlass für jeweils eine von acht Geschichten, für die er den vom japanischen Künstler vorgegebenen Titel übernahm oder ihn geringfügig modifizierte. Diesem Konzept folgend, wurde so der Holzschnitt Yabase kihan, dt. Heimkehrende Segel bei Yabase, zum Ausgangspunkt der Erzählung Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen. Auf dem Mittelgrund des Bildes sind einige Boote zu sehen, die gerade ans Ufer zurückkehren, während ihre weißen großflächigen Segel nach und nach hochgezogen werden. Welche der voneinander doch sehr abweichenden Versionen von Hiroshiges Holzschnitten Dauthendey gekannt hat, entzieht sich unserer Kenntnis, aber man darf vermuten, dass er durch dessen Bilder, in denen Schriftzeichen in eine bildliche Darstellung integriert werden, dazu angeregt wurde, auch im Kontext seiner Erzählungen Schriftzeichen in die dargestellte Landschaft zu projizieren. In der Erzählung Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen sind es die zunächst wie leere Blätter aus japanischem Papier über die weite Wasser­ fläche ziehenden Segel, auf denen ganz plötzlich, hervorgerufen durch ihren Falten­wurf im abflauenden Wind, Schriftzeichen zu erkennen sind: 2 | Ōmi bezeichnet jene Gegend, die an den Biwa-See grenzt und heute zur Präfektur Shiga gehört. Wie viele andere japanische Kunstwerke greifen auch die Acht Ansichten von Ōmi auf ein chinesisches Vorbild zurück, nämlich auf die Acht Ansichten von Xiao­xiang (Xiao­ xiang Bajing), die von Shen Kuo (1031-1095) aus der Song-Zeit stammen und in der ursprünglichen Form auf den Maler Dong Yuan (934-962) zurückgehen. Im 15. Jahrhundert haben dann japanische Künstler, dem chinesischen Vorbild folgend, acht exemplarisch schöne Ansichten der Landschaft um den Biwasee (Ōmi hakkei) ausgewählt: Abendschnee auf dem Berg Hira; Zug der Wildgänse über Katata; Nachtregen in Karasaki; Abendglocke im Miidera-Tempel; Brise in Awazu an einem klaren Sonnentag; Abendrot am Fluss Seta; Herbstmond über Ishiyama; Heimkehrende Segel in Yabase.

Schriftblindheit in der Fremde 139

»In der Richtung nach Yabase erschienen drei Segelboote. Die drei Segel glitten wie senkrechte Papierwände über das abendglatte Wasser. Man sah keine Menschen; denn jedes Segel reichte so tief, daß es das Boot verdeckte. Die aufgepflanzten Segel wurden größer und kamen näher: Hanake fühlte eine Bangigkeit, als kämen mit den drei Segeln drei weiße, unbeschriebene Blätter aus ihrem Schicksalsbuch geschwommen, und plötzlich las sie, als eine Sekunde von Windstille die Segel schlaff werden ließ, ein japanisches Schriftzeichen, zufällig entstanden aus den Falten jeder Segelleinwand. Das erste Boot sagte: ›Ich grüße dich.‹ Das zweite Boot sagte: ›Ich liebe dich.‹ Das dritte Boot sagte: ›Ich töte dich‹« (Dauthendey 1911: 14).

Diese Botschaft versucht nun die Protagonistin der Erzählung, die junge Hanake (der korrekte japanische Name wäre Hanako), die zusammen mit einigen wenigen Dienerinnen und Dienern das elterliche Haus am Biwasee bewohnt, zu deuten. Als sie die Schriftzeichen auf den Segeln sieht, bezieht sie deren Bedeutung direkt auf sich, als ob das Schicksal unvermittelt zu ihr sprechen würde. Aus den drei geheimnisvollen Zeichen entwickelt sich dann eine tragische Liebes­geschichte, die schließlich mit dem Tod der Protagonistin endet. Die Schriftzeichen selbst, die nur aus der Ferne zu erkennen sind, da die Segel bei der Einfahrt in den Hafen bereits gerefft werden, sind dabei nur infolge einer kurz eintretenden Windstille sichtbar, was die folgende Passage verdeutlicht, die auch aus einem anderen Grund bemerkenswert ist, weil hier zugleich auf den Entstehungsprozess einer Tuschmalerei angespielt wird: »Nach der kurzen Windstille, die knappe Sekunden dauerte, wechselte der See seine Farbe; wie vergossene schwarze Tusche über weißes Papier lief eine Finsternis über die Seefläche, und ganz unvermittelt setzte ein trompetender Seesturm ein, der alle drei Segel fast flach auf das Wasser legte, als müßte die Leinwand den Seeschaum reiben [...]« (Dauthendey 1911: 14 f.).

Der Rückbezug auf Papier und Tusche selbst legt in diesem Kontext den Gedanken an eine geschrieben-gemalte Kalligraphie nahe, die sich in Hiroshiges Bild ebenso wie in der japanischen Kunst überhaupt den Raum der Bildfläche mit der Darstellung teilt. Diese Wechselbeziehung von Bild und Schrift kommt in Dauthendeys Text auf ganz besondere Weise zum Ausdruck: Hiroshiges Bild, das, wie bereits erwähnt, Dauthendey als Vorlage für seine Erzählung diente, geht dem Text gewissermaßen voraus, doch enthält es selbst bereits Schriftzeichen, die entweder, wie in dem 1835 entstandenen Bilderzyklus, in eine Kartusche integriert sind oder, wie in einer späteren Version dieses Ukiyo-e von 1857, in den Wolken schweben. Einen deutschen Leser zu Beginn des 20. Jahrhunderts muss die innige Verbindung und der enge Zusammenhang solcher zu enträtselnder Zeichen-Bilder-

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Kombinationen unwillkürlich an einen Rebus erinnert haben, denn entgegen Dauthendeys suggestiver Schilderung ist es im Japanischen gar nicht möglich, aus jenen drei einzelnen Schriftzeichen, wie sie sich angeblich in den Falten der Segel offenbarten, drei derart bedeutungsvolle Sätze herauszulesen. Viel angemessener scheint es daher, die gesamte Szene als einen dem Abendländer wohl bekannten Rebus aufzufassen. Der Reiz der Erzählung beruht dabei gerade auf diesem Deutungsprozess, bei dem der Wortlaut eines ganzen Satzes erst aus einer addierend-subtrahierenden Zeichen-Bild-Konstellation erschlossen werden muss. Dauthendey hat also gewissermaßen seine Geschichte im Rebus der mit Schriftzeichen auf ihren Segeln heimkehrenden Segelboote verdichtet und diesen Zeichennukleus mit einer Narration umgeben, die dazu dient, einen Sinn zu entfalten, ohne jedoch dem Rätsel am Ende eine eindeutige oder befriedigende Lösung zu geben. Die Vorstellung, dass die ›Fremde Japan‹ mit ihren Landschaften und Schriftzeichen verschlüsselte Botschaften in Rebusform beinhaltet, findet sich auch in der neueren Literatur, wie z. B. in Gerhard Roths Roman Der Plan, in dem der österreichische Bibliothekar Dr. Konrad Feldt eine Vortragsreise nach Japan zum Anlass nimmt, um illegal einem japanischen Kunsthändler ein von ihm gestohlenes Mozart-Autograph zu verkaufen: »Aber da war etwas anderes, das ihn mehr beschäftigte: es war der Rebuscharakter seiner Wahrnehmungen. Diese Landschaften vor dem Fenster, waren sie nicht auch Bilderrätsel? Draußen zog jetzt gerade ein Riesenrad hinter einem ausgelassenen Schwimmbad mit einer Wasserrutsche vorbei ... ein Baseballstadion, vor dem Hunderte Fans warteten ... Betonwohnblock folgte auf Betonwohnblock, eine wabenförmige Stadt, grau, geometrisch, viereckig [...] Später schob sich eine weiße Mauer mit schwarzen Schriftzeichen als Rätsel zwischen seine Wahrnehmungen« (Roth 1998: 191).

Die fremde Umgebung ist für den Protagonisten voller geheimer Botschaften, die aber potenziell durchaus entzifferbar sind. Die Schwierigkeit, sich in der Fremde zurechtzufinden, wird dann jedoch durch die phantasievolle, narzißtische Ausdeutung der Chiffren kompensiert: »Diesmal würde er das Rebus lösen. Das Tapetenmuster deutete er als Reise, die Geisha­ puppe als Begegung mit einer Frau, das Ungeziefer als Unglück, das Hotel als Gefahr [...], den Fudji-san an der Wand als das fremde Land. Und weiter: die eng ineinander verschachtelten Räume, was bedeuteten sie?« (Roth 1998: 247).

Schriftblindheit in der Fremde 141

D er E rzähler

als

Z eichenreflek tor

Ein anderes Ukiyo-e von Hiroshige, das bei Dauthendey eine ebenso wichtige Rolle spielt wie Yabase kihan, zeigt, wie Fischer an einem späten Winternachmittag auf dem Biwa-See ihre Netze einholen, um sie am Ufer zum Trocknen aufzuhängen. Am Himmel erkennt man deutlich die einfliegenden Wildgänse, die jedes Jahr an diesem See überwintern oder dort auch nur rasten, um später weiterzufliegen. Sie gaben dem Ukiyo-e auch seinen Namen, nämlich Katata no rakugan, dt. Herabfliegende Wildgänse in Katata. In seiner Erzählung Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen greift Dauthendey als Motiv die Linien ihrer Flugformation auf und interpretiert sie als ein Schriftzeichen, dessen richtig verstandene Deutung und künstlerische Wiedergabe Ausgangspunkt des Geschehens ist, dass wenn die Anordnung der fliegenden Gänse die Linie der Bergkette am Horizont überschneidet und man dabei durch die Astgabel eines Baumes schaut, am Himmel ein Schriftzeichen mit einer kryptischen Botschaft entsteht: »Dieses Zeichen würde von einem bestimmten Baum und einer bestimmten Hügellinie und der Fluglinie der Gänse gebildet. Nur in Katata am Biwasee könnten die Maler den Gänseflug, den Baum und den Hügel zusammen treffen« (Dauthendey 1911: 145 f.). Was nun die Geschichte selbst betrifft, so erhält der Künstler Oizo von der Prinzessin den Auftrag, den Flug der Wildgänse in genau dieser Anordnung auf die Schiebetüren eines Bergtempels zu malen, sodass sich eben jenes ominöse Schriftzeichen ergibt. Doch fehlt ihm zunächst so gut wie jeglicher Anhaltspunkt für die Ausführung des Motivs, bis ihm die Tochter eines Töpfers zu Hilfe kommt, die das Motiv der fliegenden Wildgänse kennt und das Zeichen folgendermaßen deutet: »[I]ch liebe dich, wenn ich dir nachsehe. Aber du liebst mich nicht, weil du fortsiehst« (Dauthendey 1911: 149), was nichts anderes bedeuten würde, als dass die Prinzessin in einen Mann verliebt sei, der sie jedoch nicht beachte. Sehr schnell bemerkt Oizo, dass dieses Motiv zum Repertoire vieler Künstler der Region gehört, und er findet es überall auf Papierschirmen und Lampen in den Straßen von Kyoto, auf Theaterbildern, Lackkästchen und Porzellanschalen, und es drängt sich ihm der Verdacht auf, dass die Prinzessin ein Spiel mit ihm treibt. Schließlich fährt die Töpferstochter mit ihm auf den Biwasee hinaus, um ihm den Flug der wilden Gänse vom Wasser aus zu zeigen, doch statt der erwarteten Liebeserklärung beinhaltet die Spiegelung ihrer Fluglinie auf dem Wasser eine Liebesabsage: »›Ich liebe nicht, daß du dich nach mir umwendest. Ich wende mich auch nicht nach dir um‹« (Dauthendey 1911: 167). Was syntaktisch unmöglich ist, bewerkstelligt das ästhetische Spiel mit den gespiegelten Schriftzeichen mit Leichtigkeit. Der Flug der Wildgänse lässt sich damit auf zweifache Weise interpretieren, je nachdem, ob »die Wasserspiegelungslinie sich einfügte oder nicht« (Dauthendey 1911: 167). Aus der umgekehrten­

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Auslegung des Zeichens zieht Oizo dann seinerseits den Schluss, dass die Töpfers­ tochter ihn liebte und ihn zur Annäherung reizen wollte. Die junge Frau erweist sich in dieser Geschichte als eine geschickte Zeichendeuterin, die sich der affektiven Wirkung des Zeichens bedient, um den Maler Oizo für sich zu gewinnen. Für sie ist die Bedeutung des Zeichens offen und lässt sich z. B. durch Spiegelung beliebig verändern und mit Erzählungen oder Liebesgeschichten auffüllen. Was für sie zählt, ist die affektive Wirkung der Zeichen, die von ihr gezielt ausgenutzt wird, um ihnen jetzt auch ganz willkürlich einen völlig neuen Inhalt zu geben: eben den einer schicksalhaften Liebesbotschaft. So gesehen ließe sich also die Erzählung im Sinne einer raffiniert versteckten Liebeswerbung interpretieren. Die wohl kalkulierte Strategie der Töpferstochter, die offensichtlich genau weiß, was sie will, besteht darin, jenes Zeichen, das die Prinzessin auf der Schiebetür zu sehen wünscht, in seiner Bedeutung umzukehren, indem sie es dem Maler vorab in der Spiegelung des Wassers als Bild der Negation zeigt. Auf diese Weise gelingt es ihr, eine zweite Botschaft ins Spiel zu bringen, bei der geschickt Distanz und Nähe vertauscht werden, sodass Oizo daraus ihre Absage ebenso gut als den Wunsch nach einer Annäherung ablesen kann. In diesen beiden Erzählungen Dauthendeys, in denen fremde Schriftzeichen die maßgebliche Rolle spielen, steht der Erzähler in einem sonderbaren Verhältnis zu ihnen, da er von den Zeichen auf besondere Weise getrennt zu sein scheint. Ihre Deutung wird allein den Figuren seiner Erzählungen überlassen, und er selbst ist eigentlich nichts anderes als ein unbeteiligter Zeichenreflektor. Seine Schriftblindheit weist ihm mit Blick darauf die Rolle eines personalen Erzählers zu, der von der Bedeutung der Zeichen nur so viel weiß, wie ihm seine Figuren verraten, auch auf die Gefahr hin, dass diese sie falsch deuten. Diese Situation spiegelt in gewisser Weise jene eigentlich fatale Lage eines Fremden wider, der ein Land bereist, dessen Sprache er nicht versteht, und ist damit der eines Analphabeten vergleichbar – abgesehen jedoch von der entscheidenden Einschränkung, dass der Fremde über eine zweite Sprache verfügt, nämlich seine eigene, mit der er dieses Unvermögen artikulieren kann. Der Erzähler als Zeichenreflektor aber ist gleichsam blind für die fremden Zeichen – diese werden im Laufe der Geschichte weder in ihrer konkreten schriftbildlichen Gestalt noch in ihrer Lautung offenbart: Im Text findet der Leser nur die Versuche ihrer Ausdeutung.

D ie S chriftblindheit

und ihre

Ä sthetik

Der Begriff »Schriftblindheit« wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Medizinern wie Adolf Kussmaul und Richard Krafft-Ebing (31892) zur Bezeichnung einer Sprach- bzw. Lesestörung verwendet, die im Zusammenhang mit Beein-

Schriftblindheit in der Fremde 143

trächtigungen der optischen Sphäre auftritt und oft nur bei bestimmten Schriftgattungen oder -typen zu beobachten ist (vgl. Leischner 1957: 125, 200). Dabei wird das Lesen vor allem dadurch erschwert, »dass es an der Uebersicht über die nächstfolgenden Buchstaben und Wörter fehlt, aber jeder einzelne Buchstabe wird erkannt und ebenso jede Buchstabenfolge [...]« (Leyden/Klemperer 1906: 520). Man kann die Schriftzeichen zwar kopieren, aber nicht verstehen: »Der Schriftblinde erkennt mitunter einzelne Buchstaben oder auch Silben, aber er vermag sie nicht nacheinander so aufzufassen und sie als zusammenhängende Worte festzuhalten, dass er zum Verständnis des Gelesenen gelangte und handele es sich da nur um einzelne Worte« (Monakow 1907: 417). Kussmaul zufolge ist Schriftblindheit eine Art von »Unfähigkeit, Gedachtes zu schreiben, mit erhaltenem Vermögen, Geschriebenes ohne Verständniss zu copieren«. Allerdings gibt es verschiedene Ausprägungen von Schriftblindheit, darunter jene »mit erhaltenem Vermögen, spontan und Dictirtes zu schreiben« (Kussmaul 1877: 186). Im Gegensatz zu den Medizinern, welche nichts anderes als die pathologischen Formen der Schriftblindheit beschreiben, geht es bei Literaten wie Dauthendey oder Kellermann um eine reflektierte und inszenierte Schriftblindheit. Ein besonderer Fall von »Schriftblindheit« wird im Chandos-Brief Hofmannsthals dargestellt. Eine zentrale Szene gipfelt im Moment des Erschreckens, von dem der Briefleser erfasst wird, als ihn plötzlich die Wörter anstarren und er sie nicht mehr zusammenhängend verstehen kann: »Und konnte ich, wenn ich anders derselbe bin, alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt meines angespanntesten Denkens so völlig aus meinem unbegreiflichen Innern verlieren, daß mich in Ihrem Brief, der vor mir liegt, der Titel jenes kleinen Traktates fremd und kalt anstarrt, ja daß ich ihn nicht als ein geläufiges Bild zusammengefaßter Worte sogleich auffassen, sondern nur Wort für Wort verstehen konnte, als träten mir diese lateinischen Wörter, so verbunden, zum ersten Male vors Auge?« (Hofmannsthal 1991: 45 f.).

Chandos vermeidet es, Bedeutungsinhalte und die transzendentalen Begriffe wie ›Geist‹ oder ›Seele‹ anzusprechen, und nähert sich mittels dieser Ausblendung einer Sprache, in welcher ›die stummen Dinge‹ zu ihm reden (Hofmannsthal 1991: 54). Eine alexische Umgangsweise mit der Schrift beschreibt auch Ludwig Klages bei seinem Versuch, Techniken für die psychologische Deutung der Handschrift zu entwickeln, indem er davon ausgeht, dass man eine Schrift, anstatt sie lesen zu wollen, auch nur sehen kann. Damit Schriftzeichen zum Gegenstand der Graphologie werden können, müssen sie aus einer gewissen Distanz heraus als eine unlesbare Schreibspur betrachtet werden. Deshalb macht Klages dann auch den Vorschlag,

144 Arne Klawitter

die zu untersuchende Handschrift um 180 Grad zu drehen, um ohne Rücksicht auf den Inhalt die mehr oder weniger geordnete Verteilung des Geschriebenen deutlicher erkennen zu können: »Um es sich anschaulich zu machen, daß die Verteilung der Schriftmassen ›harmonisch‹, rhythmisch oder, wenn man will, ›ästhetisch‹ wirkt, tut der Anfänger gut, das Skriptum auf den Kopf zu stellen und sich zumal den ›optischen Lücken‹ zwischen den Lettern zuzuwenden« (Klages 1917: 2 f.): »Man stelle [...] diese Schrift auf den Kopf, sie gleichsam als Ornament betrachtend, und man wird angesichts ihres ›unorganischen‹ Baues ein fast körperliches Mißbehagen kaum unterdrücken können. Jeder natürliche ›Wellenschlag‹ der Bewegung scheint unterbrochen und aufgehoben durch die gebauschten Schleifen der Unterlängen, und vollends streitet mit ihm die gleichgewichtslose Plazierung der rückenreißenden Zwischenräume, indem die Zeilen bald enger, bald weiter sind, bald sich einander nähern, bald kraftlos auseinanderfallen« (Klages 1917: 3 f.).

Für Klages spielen der Rhythmus und die »Massenverteilung« der Schrift eine maßgebliche Rolle. Während er als Graphologe aus der Schrift jenseits ihrer Bedeutung versucht, den Charakter des Schreibenden herauszulesen, erhält das Skripturale bei Dauthendey seinerseits eine narrative Funktion oder eine schicksalshafte Bedeutung. Bei Kellermann hingegen erscheint es in seiner bildhaft-symbolischen Form, was eine Episode aus seinem Reisebericht recht gut veranschaulicht. Als er während seiner Reise in die japanische Provinz kommt, begegnet er zwei Japanern, die ihn in seinem Zimmer aufsuchen, um den Namen des Reisenden und auch noch andere persönliche Daten aufzunehmen: »Der alte hatte eine Rolle Papier bei sich und einen Tuschkasten, und ich begriff, daß er eine Art Schreiber war. Der junge aber begann, nachdem unsere Begrüßungszeremonie zu Ende war, Englisch zu sprechen. Der alte rieb die Tusche an, spitzte den Pinsel und malte, halb kniend, halb liegend, alles auf die Papierrolle, was sein Begleiter übersetzte; woher ich kam, meine Absichten, Name, Vaterland, Alter. Ich sah ihm zu. Ich kam mir wichtig, ja gelehrt vor [...]« (Kellermann 1910: 115).

Der ganzen Prozedur folgt dann jedoch ein geradezu kindliches Erstaunen auf Seiten des Besuchers: »[S]o also sah mein Name im Japanischen aus! Ein Streifen der sonderbarsten Zeichen und Schnörkel. Deutschland aber war ein Gitter, ein Käfig mit allerlei Getier darin« (Kellermann 1910: 116). Daraus resultiert ein ebenso einfach nachvollziehbares wie häufig in der Literatur oder Reiseberichten nachzulesendes Fazit: Sobald man den Sinn der Zeichen nicht mehr versteht, tritt umso mehr ihre Visualität ins Blickfeld. Den »schwarzen Hieroglyphen« (Kellermann 1910: 126), wie die Kanji, d. h. die sino-

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japanischen Schriftzeichen, an anderer Stelle genannt werden, wird in der kindlich-naiven Sichtweise des Analphabeten ein vollkommen neuer, spielerischer Sinn zugewiesen, indem der ›Fremde‹ die dem Zeichen innewohnende eigentliche Bedeutung suspendiert und stattdessen ihren einzelnen Strichen und Zügen folgt, die er auf ›sekundäre‹ Sinnkomponenten bezieht, woraus dann Gitterstangen, ein Käfig und schließlich ein symbolisches Gefängnis werden. Für einen Reiseschriftsteller erschließen sich in einer solchen Unterbrechung des Sinns ganz neue sprachliche Dimensionen. Die unlesbaren Schriftzeichen können für ihn Inspirationsquelle für bis dahin ungedachte Zusammenhänge sein, so, wenn z. B. mit dem damaligen Deutschland ein »Käfig mit allerlei Getier darin« assoziiert wird. Aber auch in Bezug auf die literarische Gattung selbst ändern sich die Voraussetzungen sowohl in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht, und dies besonders dann, wenn und indem der Reisebericht aus seiner bisherigen referentiellen Verankerung herausgelöst wird und nicht mehr nur Darstellung des Erlebten und Gesehenen ist, sondern das Reich einer Sprache durchquert, die dem Reisenden immer fremd bleiben wird, verbunden mit einer Schrift, die er nie wird entziffern können. Damit wird die Reise zu einer ›Reise ins Unmögliche‹ und exakt dahin verschoben, wo sie genau genommen immer schon gewesen ist, nämlich in die Sprache, die nun zum eigentlichen Raum der Imagination wird. Von ihrer Bedeutung abgelöst, wird es möglich, Worte rein nach ihrem Klang zu assoziieren oder Fiktionen allein aus der Schriftbildlichkeit, d. h. der Zusammensetzung ihrer figuralen Elemente, zu entwerfen.

S chrift

jenseits der

B edeutung

Zu guter Letzt wäre dann schließlich noch zu fragen, wie sich die Wahrnehmung einer fremden, unlesbaren Schrift in semiologischer Hinsicht beschreiben ließe. Wie die Erfahrung zeigt, wird das Unvermögen, eine Schrift lesen zu können, zumeist bewusst oder unbewusst unterdrückt und rückt nur in wenigen Fällen ins Zentrum kulturphilosophischer bzw. zeichentheoretischer Betrachtungen, wie bei Roland Barthes, der das absolute Nicht-Verstehen und den Sinnverlust in seinem Buch über Japan thematisiert hat: »Ein Traum: eine fremde (befremdliche) Sprache kennen und sie dennoch nicht verstehen: in ihr die Differenz wahrnehmen, ohne dass diese Differenz freilich jemals durch die oberflächliche Sozialität der Sprache, durch Kommunikation oder Gewöhnlichkeit eingeholt und eingeebnet würde; in einer neuen Sprache positiv gebrochen, die Unmöglichkeiten der unsrigen erkennen; die Systematik des Unbegreifbaren erlernen; unsere ›Wirklichkeit‹ unter dem Einfluß anderer Einteilungen, einer anderen Syntax auflösen;

146 Arne Klawitter unerhörte Stellungen des Subjekts in der Äußerung entdecken, deren Topologie verschieben; mit einem Wort, ins Unübersetzbare hinabsteigen und dessen Erschütterung empfinden, ohne es je abzuschwächen, bis der ganze Okzident in uns ins Wanken gerät und mit ihm die Rechte der Vatersprache, der Sprache, die wir von unseren Vätern erben und die uns wiederum zu Vätern und Besitzern einer Kultur macht, welche die Geschichte gerade in ›Natur‹ verwandelt« (Barthes 1981 [1970]: 17).

Was Barthes in diesen Zeilen zum Ausdruck bringt, ist die Erfahrung von Schrift jenseits ihrer Bedeutung, wobei es darum geht, durch eine fremde Sprache hindurch, die man nicht beherrscht, die Differenz oder besser den Abstand zum Eigenen wahrzunehmen, um die eigene Denkposition zu verschieben, und dies mit dem Ziel, das in den Blick zu bekommen, was gewöhnlich unbeachtet bleibt: den epistemischen Ort, von dem aus man seiner Gewohnheit folgend denkt. Aufgrund des Nichtverstehens lebt man in der Fremde wie in einem kulturellen Zwischenraum, der, semiologisch betrachtet, leer ist (»Ich lebe in einem Zwischenraum, der frei von jeder vollen Bedeutung ist,« heißt es bei Barthes (1981 [1970]: 22)). Dieser Zustand korrespondiert dem eines Schwebens zwischen Sprachen, ohne die eine nutzen und über die andere verfügen zu können. Sobald man sich in diesem Raum doppelter Äußerlichkeit wiederfindet (man hat die eigene Schriftkultur verlassen, ohne aber in der fremden jemals anzukommen), begegnet man den Zeichen in einer von jeder Bedeutung befreiten Bildlichkeit. Was die Überlegungen eines Semiologen wie Barthes für die Komparatistik vor allem so interessant macht, ist der Umstand, dass hier Zeichentheorie und Epistemologie miteinander verbunden und auf ein gemeinsames Thema orientiert werden: auf eine Differenz, die für Barthes uneinholbar ist und die bei ihm schließlich eine epistemologische Funktion erhält. Durch das Insistieren auf dieser Differenz wird aus Sicht der komparatistischen Semiologie das kulturell Andere, das für sich gleichwohl einen kohärenten Zusammenhang, eine autonome Ordnung, ein in sich geschlossenes System von Zeichen bildet, in der Wahrnehmung des Beobachters zu einem offenen Raum von Erscheinungsorten des Unmöglichen. Wenn der Fremde vom Sinn der ihn umgebenden Zeichenfülle getrennt und in eine »künstliche Leere« (Barthes 1981 [1970]: 22) hineinversetzt wird, dann wird er dadurch zwar von der Kommunikation abgeschnitten, seine Aufmerksamkeit wird dabei aber auf Prozesse gelenkt, die in diesem kulturellen Zwischenraum ablaufen und die man unter anderen Voraussetzungen kaum oder überhaupt nicht wahrnehmen würde. Auf diese Weise eröffnet sich im Zustand des Nichtverstehens ein sonst verschlossener Zugang zur Schrift – ganz im Sinne des Semiologen Barthes, der der festen Überzeugung war, dass, »[d]amit sich die Schrift in ihrer Wahrheit offenbar[e]«, d. h. also nicht in ihrer Instrumentalität, »[...] sie unlesbar sein« müsse (Barthes 1990: 162).

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L iteratur Barthes, Roland (1981 [1970]): Das Reich der Zeichen, aus dem Französischen, Frankfurt a. M. Barthes, Roland (1990): »Semiographie André Massons«, in: Ders.: Der entgegen­ kommende und der stumpfe Sinn, aus dem Französischen, Frankfurt a. M., S. 160-162. Brod, Max (mit Otto Brod) (1938): Abenteuer in Japan, Amsterdam. Dauthendey, Max (1911): Die acht Gesichter am Biwasee, München. Dauthendey, Max (1925 [1910]): Die geflügelte Erde. Gesammelte Werke, Bd. 5, München. Hofmannsthal, Hugo von (1991): »Ein Brief« [1902], in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom freien deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Clemens Köttelwesch, Heinz Rölleke, Ernst Zinn, Frankfurt a. M., Band XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe, hg. von Ellen Ritter, S. 45-55. Kellermann, Bernhard (1910): Ein Spaziergang in Japan, Berlin. Klages, Ludwig (1917): Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriss der graphologi­schen Technik, Leipzig. Krafft-Ebing, Richard (31892): Lehrbuch der gerichtlichen psychopathologie mit berücksichti­gung der gesetzgebung von Österreich, Deutschland und Frankreich, 3. Aufl., Stuttgart. Kussmaul, Adolf (1877): Störungen der Sprache. Versuch einer Pathologie der Sprache, Leipzig. Leischner, Anton (1957): Die Störungen der Schriftsprache. Agraphie und Alexie, Stuttgart. Leyden, Ernst und Felix Klemperer (Hg.) (1906): Deutsche Klinik am Eingange des zwanzigsten Jahrhunderts, Bd. 6, Berlin/Wien. Monakow, Constantin von (1907): »Über den gegenwärtigen Stand der Frage nach der Lokalisation im Grosshirn«, in: Ergebnisse der Physiologie, biologischen Chemie und experimentellen Pharmakologie 6, S. 334-605. Roth, Gerhard (1998): Der Plan. Roman, Frankfurt a. M. Schaffers, Uta (2006): Konstruktionen der Fremde. Erfahren, verschriftlicht und erlesen am Beispiel Japan, Berlin/New York.

Die fließende Grenze der Idee Österreich. Analyse des Briefwechsels zwischen Hugo von Hofmannsthal und tschechischen Intellektuellen Yuichi Kimura

1. E inleitung Während des Ersten Weltkriegs traten in Österreich-Ungarn die seit dem 19. Jahrhundert bestehenden nationalen Bewegungen gegen die Herrschaft der Habsburgermonarchie immer stärker in Erscheinung. Tschechische Politiker und Intellektuelle organisierten eine Kampagne gegen die Herrschaft der HabsburgerDynastie und plädierten für die Errichtung eines selbstständigen tschechoslowakischen Staates. Hugo von Hofmannsthal entwarf dem entgegengesetzt die »Idee Österreich«, in der sich schon deutlich die Konturen der späteren »Idee Europa« abzeichnen. Er definierte Österreich als eine ungelöste Aufgabe, die immer wandlungsfähig und ewig flüssig bleiben sollte, um eine Integration der Vielfältigkeit zu ermöglichen. Dazu beabsichtigte er die Publikation eines Fotobandes, Ehrenstätten Österreichs, der als eine patriotische, das österreichische Gefühl belebende Schrift gedacht war. Angesichts der historischen Tatsache im Jahr 1918, des Endes der Doppel- und Habsburgermonarchie, ließ sich dieses Projekt schließlich nicht verwirklichen. Aber von Anfang an war es schon in seiner Konzeption zum Scheitern verurteilt, da sein Anspruch des geplanten einheitsstiftenden Bildbandes nicht in vollem Ausmaß der Realität des Vielvölkerstaates entsprach. Tschechische Intellektuelle wie der Oberregisseur des Prager Nationaltheaters, Jaroslav Kvapil (1868-1950), kritisierten jedoch Hofmannsthals Glauben an ›Österreich‹, etwa in einem kontroversen Briefwechsel, vehement (vgl. Stern 1968). Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Darstellung des Gegensatzes von Harmonie und Differenz in diesem missglückten, quasi gleichermaßen innerstaatlichen (K.u.K.-Monarchie) wie interkulturellen (deutsch-tschechischen) Kulturkontakt. Einerseits unternahm Hofmannsthal den Versuch, eine integrierende Räumlichkeit in den Bildern und Texten, wie Aufsätzen, Entwürfen bzw. Briefen, zu eröffnen, indem er, als ein authentischer Dichter und Zeichendeuter in Österreich, eine ideale Harmonie inszenierte. Aber andererseits brauchte er für eine solche Harmonie eine Grenze, die notwendigerweise etwas Fremdes, Undeutbares bzw. Unerklärbares beinhaltet.

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2. Ö sterreich als lebendiger Z wischenraum an der G renze der K ommunizierbarkeit Im Vortrag Österreich im Spiegel seiner Dichtung ist die österreichische Dichtung durch »das stetig Heimatgebundene« gekennzeichnet (Hofmannsthal 2011: 185). Die Figuren in seiner Dichtung hätten nicht mit dem »Sozialen«, sondern eng mit dem »Einzelnen« und dem »Einsiedlerischen« zu tun (ebd.). In der Vielfältigkeit der sozialen Typen dieser dichterisch-theatralischen Figuren zeige sich die Vielheit der lokalen Besonderheiten und des Partikularismus in Österreich. Hofmannsthal betrachtet dieses »poetische Wesen« der österreichischen Dichtung als »Spiegel«, der die österreichische Idee sichtbar machen sollte. Was Hofmannsthal hier in die Dichtung als Spiegel projiziert, ist also die Möglichkeit, die lokale und soziale Vielfältigkeit durch die Auswirkungen auf den »innereste[n] Gehalt einer Gemeinschaft« (ebd.: 188) zu integrieren, wobei aber gleichzeitig der Unterschied in dieser Vielfalt als Differenz beibehalten werden soll. In diesem Vortrag betrachtet Hofmannsthal die österreichische Idee als eine Art »geistigen Universalismus« (ebd.: 192). Ohne diesen geistigen Universalismus könne »ein zukünftiges Österreich weder gewollt noch geglaubt werden« (ebd.). Kultur ist für den Autor als geistiges Besitztum »kein Totes und Abgeschlossenes, sondern ein Lebendiges« (ebd.: 191). Im Namen des Geistes bzw. der Kultur werden Vielfalt und Differenz immer wieder zusammengebracht und in ein Ganzes integriert. Diese Bewegung der Integration betont den kulturellen Unterschied und stellt ihn gleichzeitig selbst her. Dieser Unterschied wird stets auf der Grenze zwischen Universalität und Vielfalt markiert, die immer wieder zu verschieben und auszudehnen ist. Im Aufsatz Wir Österreicher und Deutschland geht es auch um die Lebendigkeit der Idee Österreich. Dort bezeichnet Hofmannsthal Österreich als »eine ungelöste Aufgabe« (Hofmannsthal 2011: 143). Österreich ist ihm ein weder »schlechthin Bestehendes« (ebd.) noch »Erstarrtes und Gewordenes« (ebd.: 141), sondern »ein Werdendes und sich Verwandelndes« (ebd.). Nation sei dabei »ein ewiges Flüssigbleiben« (ebd.), das immer ungelöst und deshalb unabschließbar sei. Dieser prozessuale Charakter des Nationenbegriffs verdeutlicht Hofmannsthals Absicht, Österreich angesichts seiner existenziellen Bedrohtheit neu zu denken. Diese Strategie beinhaltet in erster Linie die ›Vergeistigung‹ des Konzepts der Nation. Dadurch unterscheidet sich die österreichische Idee von der politischen Realität der zugrunde gehenden K.u.K.-Monarchie. Österreich als besondere Aufgabe sei »ein rein geistige[r] Imperialismus«, der »nicht der Einmischung der deutschen politischen Gewalt«, sondern »der beständigen Beeinflussung durch den deutschen Geist« bedarf (ebd.: 143). Im Verhältnis von Österreich und Deutschland sieht Hofmannsthal dennoch eine Art geistiger Verbindung.

Die fließende Grenze der Idee Österreich 151

Österreich soll dabei »das Reinste« der geistigen Kraft des deutschen Geistes verkörpern. Dieses Reinste sei aber »von Staat zu Staat, wie von Individuum zu Individuum« zu übermitteln (ebd.). Hier geht es um die kommunikative Übertragbarkeit des »Reinsten«. Das ewig Flüssigbleibende ist dabei im Reinsten verfestigt und erst dadurch zu besitzen. Indem er alles Lebendige für ein Werdendes hält, stellt er die Staaten mit dem Individuum in dieser Hinsicht gleich. Beide hätten eine Geschichte, die einerseits »zu Formungen und Bindungen« führe, aber andererseits durch »ein Ineinander der nacheinander folgenden Geschehnisse« schwer deutbar und geheimnisvoll sei (ebd.: 141). Diese Gleichstellung der Staaten mit dem »innerliche[n] menschliche[n] Geschehen« der Individuen (ebd.) ist aber auch als eine Strategie der Mystifikation anzusehen, den Staat als schwer deutbares Geheimnis in den Bezirk des Irrealen zu verlagern (vgl. Ritter 1967: 23, Nicolaus 2004: 43). Diese Uneindeutigkeit erscheint hier als notwendig, um Österreich als Aufgabe darzustellen, die noch ungelöst ist. Dadurch lässt sich behaupten, dass »das Besondere der Aufgabe [...] wieder und wieder erkannt werden« müsse (Hofmannsthal 2011: 143). Die Unlösbarkeit der Aufgabe ist deshalb nur ein Teil dieser Strategie, weil sie gleichzeitig auch die Übertragung zwischen zwei Polen ermöglicht. Hofmannsthal macht dergestalt Österreich zu einem komplexen, nahezu unerreichbaren, aber gerade dadurch zu einem immer wieder zu erstrebenden Gebilde. Der Mystifizierung des Nationalen entsprechend wird auch die Sprache inszeniert, nämlich als »eine nationale Sprache«, die Hofmannsthal als »adäquaten Ausdruck inneren Verhaltens« versteht (Hofmannsthal 2011: 188). Diese verinnerlichte Sprache sei nicht bloß eine national-einheitliche Sprache, in der man »jede übrige Einheit mit dem großen deutschen Volke [...] verbürgt wissen« wolle, sondern eine Sprache, die »eine wirkliche Harmonie erzielt« (ebd.: 189). Aber welche Sprache meint hier Hofmannsthal, die sich von der Sprache des realen Deutsch unterscheidet? Im Aufsatz Boykott fremder Sprachen? im Jahr 1914 ist seine Auffassung von Deutsch zu erkennen. Hofmannsthal war gegen die Ächtung des Englischen und Französischen als Sprachen der alliierten Kriegsgegner. Darüber hinaus definiert er Deutsch als eine Sprache, die »die Wesenheit anderer Völker [...] erkennen, die Kenntnis ihrer Kunstdenkmäler und ihrer Geschichte ebenso in sich [...] tragen« kann (Hofmannsthal 2011: 104). Und auch im Aufsatz Unsere Fremdwörter, den Hofmannsthal im selben Jahr geschrieben hat, geht es um die deutsche Sprache am Beispiel der Lehnwörter in der Dichtung von Goethe. Hofmannsthal erklärt Lehnwörter als »in der schöpferischen Laune des Augenblicks aus dem Gefüge einer fremden Sprache herausgerissen« und »nur für diesen einmaligen Gebrauch« (Hofmannsthal 2011: 114). Deutsch sei dabei »Individualsprache und hat den Zug aufs Einmalige, jenseits aller Kommunikation«­

152 Yuichi Kimura

(ebd.). Er betont die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der deutschen Sprache, die von den höheren deutschen Individuen aufgenommen werde. Diese einmalige Individualsprache jenseits aller Kommunikation repräsentiert den ›adäquaten Ausdruck inneren Verhaltens‹. Sie unterscheidet sich von der alltäglichen gemeinsamen Sprache dadurch, dass sie aus dem Gebrauchskontext gelöst wird. Sie ist trotzdem gemeinsam zu besitzen und zu übermitteln. Die Übertragungs- und Appropriationskraft der von Hofmannsthal erwähnten deutschen Sprache stellt auch eine Grenze zwischen Einzigartigkeit und Gemeinsamkeit oder zwischen dem abgetrennten Individuum und der harmonischen Gemeinschaft dar. Die unabschließbare, stets sich verwandelnde Grenze der österreichischen Idee führt in diesem Sinne zur beständigen Ausdehnung, aus der sich später die »Idee Europa« entwickeln sollte. Die Nation bezieht sich nicht mehr bloß auf eine geographisch bzw. ethnisch abgegrenzte Entität. Hofmannsthal sieht dieses idealisierte Österreich im Zentrum eines friedlich geeinten Europa: »Dies Europa, das sich neu formen will, bedarf eines Österreich« (Hofmannsthal 2011: 207). Der Begriff Europa lasse sich »nirgends verankern« (ebd.: 330), sondern ist »ideologisch u. spirituell: transzendent, er schichtet sich den Realitäten über, worin seine Ungreifbarkeit und Unangreifbarkeit liegt« (ebd.). Hofmannsthal stellt hier die besondere Räumlichkeit dar, die ständig mit dem Werden und der Verwandlung verbunden ist und deren Grenze sich über die realen Nationen, Kulturen bzw. Ethnizitäten hinaus erweitern lässt. Vor allem handelt es sich dabei um ein spezielles Verhältnis zum Osten. Hofmannsthal interpretiert die reale geographische Situation Österreichs auf diese Weise radikal um (vgl. Ritter 1967: 23). Mit seiner organischen, lebendigen Elastizität soll Österreich zum Vermittlungsraum werden, »um den polymorphen Osten zu fassen« (Hofmannsthal 2011: 207). In dieser Bewegung wird Österreich an sich zu einem Grenzraum, der als Bühne der Integration und Versöhnung funktioniert. Wie Nicolaus (2004: 44) beschrieben hat, ist Österreich ein Raum für »einen regen Kulturaustausch«. Im Aufsatz Die Österreichsche Idee betrachtet Hofmannsthal diese Versöhnung als »Schicksalhafte[s]«, auf das »wir [die Österreicher] tiefer vorbereitet als jemand in Europa« seien (Hofmannsthal 2011: 206). Das kollektive ›Wir‹ meint in diesem Kontext diejenigen, die in »Österreichs Sprache« »ohne Zwang mitsprechen« können (ebd.). Hofmannsthal behauptet immer wieder, »in deutschem Wesen Europäisches zusammenzufassen und dieses nicht mehr scharf-nationale Deutsche mit slawischem Wesen zum Ausgleich zu bringen« (ebd.), wenn sich auch dieses ›Deutsch‹ dabei streng von dem vorgegebenen ›nationalen‹ Deutschen unterscheiden sollte. Hier geht es wieder um die Ausdifferenzierung, die immer schon um der Versöhnung willen vorausgesetzt werden muss. Am Beispiel des Briefwechsels zwischen

Die fließende Grenze der Idee Österreich 153

Hofmannsthal­und tschechischen Intellektuellen lässt sich diese Ausdifferenzierungsstrategie analysieren.

3. Das P rojek t E hrenstät te Ö sterreichs und H ofmannsthals B riefwechsel mit Jaroslav Kvapil In einem Brief an Eberhard von Bodenhausen vom 7. Oktober 1914 äußerte Hofmannsthal die Vermutung, dass das größte Problem der K.u.K.-Monarchie nach dem Krieg das Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn sei. »Der Frieden, auch nach dem Sieg, ist für uns das Problem aller Probleme [...]. [W]ollen wir nachher überhaupt weiterleben, [muss] alles umgeschmiedet werden und zwar jetzt, während alles in glühendem Fluss ist. Zunächst das Verhältnis zu Ungarn, das aus einer papiernen Construction etwas lebendiges werden muß« (Hofmannsthal/Bodenhausen 1953: 171).

Auch hier ist die Unabgeschlossenheit durch Verflüssigung und Verlebendigung des Nationalen zu erkennen. Er betrachtet damit die Überwindung der geistigen und gesellschaftlichen Krise als Sinn des Krieges (vgl. Rudolph 1971: 85). Am 2. November 1914 verfasste Hofmannsthal einen Aufruf an ausgesuchte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, um sein Publikationsprojekt Ehrenstätten Österreichs zu propagieren. Das Projekt dieses Fotobandes zielte auf die visuelle Präsentation der kulturellen und geistigen Einheit Österreichs ab. Hofmannsthal beabsichtigte, die Abbildungen von Lokalitäten in Österreich in diesem Band zu sammeln (Stern 1968: 5). Hofmannsthal wollte darin Erinnerungsorte vorstellen, die »alles berühren und beleben, was die mannigfaltigen, in der Geschichte dieses ehrwürdigen Reiches vereinigten Völker und Stämme an historischem und kulturhistorischem Besitz ihr Eigen nennen« (ebd.). Dieses letztlich gescheiterte Projekt war der Versuch der Veranschaulichung der »Idee Österreich«, die die Vereinigung Österreichs als Vielvölkerstaat auf der kulturellen und geistigen Ebene hätte ermöglichen sollen. Auch im vorangehenden Brief an Hermann Bahr vom 20. Oktober 1914 formulierte er die Bitte um Unterstützung der Publikation, vor allem in Form einer Empfehlung von geeigneten Mitarbeitern. Bahr nannte Jaroslav Kvapil als einen potenziellen Kandidaten, den damaligen Oberregisseur des Pragers Nationaltheaters. Das war der Beginn des Briefwechsels zwischen den beiden. Aber in der ersten Antwort an Hofmannsthal vom 16. November 1914 kritisierte Kvapil sogleich Hofmannsthals Absicht, bestimmte Bilder aus Böhmen für diesen Band auszuwählen und zu veröffentlichen.

154 Yuichi Kimura »[D]as Schönste und Ruhmvollste, was wir in unserer Vergangenheit haben, wa[r] sehr selten von Österreich als solches angesehen – und umgekehrt betrachtet schaut die Sache noch schlechter aus. Das Meiste, was mein Volk verloren hat, in seine[r] politischen, nationalen und religiösen Selbständigkeit, verlor es durch Österreich und an Österreich, und der entsetzliche Kreuzweg, den wir vom Weissen Berge durch zwei Jahrhunderte schritten, wurde durch Österreichs Sieg angefangen« (Stern 1968: 13).

Auch im folgenden Brief vom 2. Dezember schrieb Kvapil über den Unterschied seines Verständnisses von ›Österreich‹ im Vergleich zu jenem Hofmannsthals. »Es handelt sich ja keineswegs um das Verhältnis zweier Völker, welche unser Land seit Jahrhunderten bewohnen und sicher für immer bewohnen werden, mit allen souveränen Rechten und Ansprüchen freier, gebildeter, lebensfähiger Völker, sondern um das gegenseitige Verhältnis meiner Nation und dessen, was wir kurz Österreich nennen wollen. Und dieses Verhältnis war in den verflossenen drei Jahrhunderten so oft unnatürlich und für uns schmerzvoll, ja lebensgefährlich, dass sich die nächste Zukunft (und das gebe Gott!) viel und viel ändern muss, um endlich die Vergangenheit eben nur als Vergangenheit ansehen zu können« (ebd.: 14).

Diese Einwände zeigen, dass die Bestrebung der geistigen kulturellen Vereinheitlichung die Gefahr beinhaltet, die Geschichte der Verlierer in die der Sieger zu integrieren. Kvapil sieht in Hofmannsthals »Idee Österreich« keineswegs etwas, das Vielfalt adäquat berücksichtigen würde und kritisiert den naiven Glauben des Dichters an Österreich. Dagegen wiederholt Hofmannsthal noch einmal das Bild des ewig Flüssigbleibenden: »[E]s obliege uns, von Volk zu Volk, von Individuum zu Individuum, das Geschehen nicht so sehr als Abgetan zu erklären – denn Worte sind ohnmächtig, wo alte Wunden schwären und schmerzen, sondern durch die Kraft unseres Verhaltens zu einander, durch die Kraft des neuen Lebens in und zwischen uns jenes Abgetane wirklich in den Zustand der Abgetanheit zu versetzen« (ebd.: 17).

Ausgerechnet alte Wunden markieren hier die Grenze der Kommunizierbarkeit zwischen den Völkern, die schließlich integriert werden sollen. Darin ist Hofmannsthals Strategie der Mystifikation durch die »Kraft des neuen Lebens« zu erkennen, die etwas Anderes, Fremdes bzw. Vielfältiges jenseits der Kommunikation als ›Geheimnis‹ deuten möchte, um das ständige Wechselspiel von Sagbarkeit und Unsagbarkeit zu ermöglichen. Was hier nicht zu übersehen ist, ist die Voraussetzung der Anwesenheit eines Zeichendeuters, der mit irgendeiner

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Autorität das ›Wesen‹ der Nation mal als Geheimnis, mal als mystifizierte Wahrheit zeigen und stets die Materialität mit der geistigen Kraft beeinflussen kann. In dem oben genannten Vortrag Österreich im Spiegel seiner Dichtung nennt Hofmannsthal dieses deutende Subjekt den »geistig Mündigen«. »Die Geistigkeit des Volkes ist eine wunderbar reine Tafel, auf der wenige Erkenntnisse mit reinen Zügen, die die Jahrhunderte durchdauern, eingetragen sind. Das Volk hat sich in dem ungeheuren Erlebnis dieses Krieges einige wenige neue Zeichen auf seine Tafel eingegraben. Alles, scheint mir, wird darauf ankommen, wie man diese Zeichen deutet. Groß wird die Verantwortlichkeit der geistig Mündigen sein, die die Aufgabe haben, dem Volke diese Zeichen zu deuten« (Hofmannsthal 2011: 191).

Für die geistig Mündigen ist die Geistigkeit des Volkes wiederum ein Gegenstand der Zeichendeutung; eine Tafel, die es deuten soll. Ob Hofmannsthal sich zu denjenigen zählt, die verantwortlich für eine solche Deutung der Tafel sind, lässt sich aus dem Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und Otokar Fischer­ (1883-1938) erschließen, einem Übersetzer und Professor der deutschen Literatur­wissenschaft an der Karls-Universität in Prag. Hofmannsthal wünschte sich einen Aufenthalt in Prag und besuchte die Stadt tatsächlich im Juli 1917. Während dieses Aufenthalts hatte er viele ›lebendige‹ Kontakte mit Intellektuellen in Prag. Er hat dabei auch Fischer kennengelernt. Aus dem Briefwechsel zwischen ihnen ist herauszulesen, wie Hofmannsthal seine Rolle als Dichter verstand. Fischer schrieb an Hofmannsthal einen Dankbrief für den Erhalt des dritten Bandes der Prosaischen Schriften von Hofmannsthal. Darin bewertet Fischer Hofmannsthal »als Dichter des Unwägbaren, Namenlosen« und »als Deuter der verschwimmendsten und geheimst gehaltenen Dämmerzustände, Traum- und Halbgefühle« (Stern 1970: 270 f.). Dabei versteht er den Chandos-Brief als einen Schlüssel zur dichterischen Welt Hofmannsthals, die durch das »Betonen der Imponderabilia und der infantilen Eindrücke« gekennzeichnet sei (ebd.: 271). Jedoch kritisiert er darin auch Hofmannsthals Begriff von Österreich: »Nun aber Ihr Österreich, verehrter Herr Doktor: das sanfte, Gegensätze ausgleichende, seit den Türkenkriegen zu einer Mittlerrolle prädestinierte Dogma – für mich, für uns ist es eine Fiktion! [...] Aber – ich setze da unsere mündlich gepflegte Diskussion fort – ist dies [die österreichische Psyche] nicht eine Konstruktion? eine Legende? ein Mythus? Von der Realität mancher unwägbarer Tatsachen hat mich Ihr schönes Buch überzeugt, das so eindringlich versteht Körperloses greifbar und zum Greifen nahe zu bringen: zum Bekenner einer in Traktaten und Büchern lebenden Chimäre kann ich mich jedoch nicht bekehren lassen« (ebd.).

156 Yuichi Kimura

In dieser Kritik geht es um Hofmannsthals Österreich als bloße Fiktion, die durch verschiedene Inszenierungen konstruiert wird. Diese Fiktion ist nur von Hofmannsthal, als begabtem Dichter des »Unwägbaren und Namenlosen«, ermöglicht. Hofmannsthal war, zumindest für Fischer, ein Repräsentant des »geistig Mündigen«, der die Zeichen auf der Tafel der Nation deuten kann. Darauf antwortet Hofmannsthal wie folgt: »Diese ›Legende‹, diese ›Konstruction‹, dieser ›Mythos‹ – diese ›österreichische Psyche‹ – dieses ›Gemeinsame zwischen einem Tiroler u. einem Böhmen‹ – nein, nichts davon ist in mir, keine vagen Vermischungen u. Verwischungen, keine sentimentalen Phantasien, keine halb bewussten Taschenspielereien. [...] Sollte ich das Alles verkennen, blind wie ein Maulwurf? Wie könnte ich dann ein Dichter sein? Ein Dichter muss doch schärfer als andere und mit heiligerer Scheu, sehen was da ist« (ebd.: 273).

Hofmannsthal unterscheidet hier seine eigene Idee Österreich von der fiktiven Konstruktion. Er betont selbstbewusst, dass seine ideale Nation nicht von ihm dargestellt, geschweige denn hergestellt wird. Dies alles sei nicht in ihm, nicht in seiner Innerlichkeit, sondern er als Dichter sehe nur das, was da sei. Wie Kern erwähnt, ist hier die gemeinsame Strategie in der Idee Österreich und Europa zu erkennen, »die Präsenz des Höchsten und Unbezweifelbarsten« zu figurieren, die »nicht mit rational faßbaren Maßstäben gemessen werden« kann (Kern 1969: 20). Durch eine solche Mystifikation kann sich »die höhere Wirklichkeit« der Idee Österreich den Anschein geben, als ob sie »keineswegs etwa ein letztlich unverbindliches Produkt des denkenden Subjektes« wäre (ebd.: 21). Dabei handelt es sich aber um die Instanz, die sich an der Grenze zwischen Innen und Außen versteckt. Einerseits ist die Idee Österreich übertragbar von Nation zu Nation, wie »das Reinste« von Individuum zu Individuum. Andererseits ist sie als Präsenz dargestellt, die aus anderer Perspektive nicht zu erkennen ist, wobei sie distanziert objektiviert wird. Stattdessen wird Hofmannsthals Innerlichkeit als das schwer deutbare ›innerliche menschliche Geschehen‹ mystifiziert. Die Zugänglichkeit der Idee Österreich hängt von der Grenze der Kommunizierbarkeit ab, die jeweils im Deutungsakt gezogen wird. Das ist die Rolle des »Dichters«, der als der »geistig Mündige« auf die Tafel der Nation blicken und sie deuten soll. Hieraus ist nämlich seine bewusste Verantwortung für die Zeichendeutung des nationalen Geistes entstanden, die aber stets zwischen der mit schärferem Blick herausgefundenen neuen Wirklichkeit und dem mystifizierten Geheimnis schwankt.

Die fließende Grenze der Idee Österreich 157

5. R esümee Hofmannsthals Versuch, die eigene Nation auf eine geistig-kulturelle Ebene zu heben und damit Österreich durch eine vereinheitlichende Kraft der Vielfalt neu zu denken, ist eine Antwort auf die Krise, in der sich die K.u.K.-Monarchie in ihren letzten Jahren befand. Dabei musste er auswählen, was als Österreich gedeutet und gesehen werden sollte. Um das Volk als »reine Tafel« zu deuten, ist der Blick des Deutenden notwendig, der gleichzeitig stets selektiert und begrenzt, was zu deuten ist. Und seine dichterische Aufgabe, »das zu sehen, was da ist«, sollte mit Hilfe eines Fotobandes veranschaulicht werden, in dem die Erinnerungsorte der österreichischen Kultur ausgewählt und gezeigt werden sollten. Hofmannsthal schrieb nach der Prager Reise am 17. August 1917 an Hermann Bahr, dass diese Reise »innerlich notwendig« war (Stern 1969: 112). Damals geht es ihm um den Zwiespalt zwischen Politik und Nicht-Politik. In diesem Brief schrieb er von einer »Präsenz des Vielfältigen, die [er] kaum erklären kann« (ebd.). Dabei sind die künstlerischen Hervorbringungen wie Roman, Gedicht, Komödie usw. und politische Ahnung »ungeheuer schwer [...] zusammen und alles auseinander zu halten« (ebd.). Auch in einem anderen Brief, an Rudolf Pannwitz vom 31. Juli 1917, schrieb er, dass »ein einheitlicher Sinn« im österreichischen Projekt und seiner dichterischen Tätigkeit liege; z. B. eine »Komödie der in der Realität nicht mehr vorhandenen Aristokratie« zu schreiben, nach Prag zu fahren und »eine völlig ausserhalb des Moments liegende Politik (oder Nicht-politik)« zu machen; dies alles sei »nur der Versuch, eins zu werden mit mir selber« (ebd.: 102). In den Aufsätzen, Vorträgen, Briefen und Fotos hat er eine besondere Räumlichkeit für die Kontaktzone dar- und hergestellt. Österreich funktioniert bei Hofmannsthal als kultureller Kontaktraum, in dem Vielfalt und Fremdheit nicht nur politisch, sondern auch theatralisch vor Publikum aufgeführt werden sollen. Dabei inszeniert Hofmannsthal die Rolle des Dichters, der die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden ziehen soll, und spielt selber diese Rolle. Die Flucht in die Fiktion und die Mystifizierung der »Idee Österreich« erscheint als verzweifelter Versuch, einen letzten Ausweg aus einer Situation zu weisen, für die es wohl längst keine realistische Lösung mehr gegeben hatte.

L iteratur Hofmannsthal, Hugo von (2011): Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke XXXIV. Reden und Aufsätze 3, hg. von Klaus E. Bohnenkamp u. a., Frankfurt a. M.

158 Yuichi Kimura

Hofmannsthal, Hugo von/Eberhard von Bodenhausen (1953): Briefe der Freundschaft, hg. von Dora von Bodenhausen, Düsseldorf. Kern, Peter Christoph (1969): Zur Gedankenwelt des späten Hofmannsthal. Die Idee einer schöpferischen Restauration, Heidelberg. Nicolaus, Ute (2004): Souverän und Märtyrer. Hugo von Hofmannsthals späte Trauerspieldichtung vor dem Hintergrund seiner politischen und ästhetischen Reflexionen, Würzburg. Ritter, Frederick (1967): Hugo von Hofmannsthal und Österreich, Heidelberg. Rudolph, Hermann (1971): Kulturkritik und konservative Revolution: zum kulturell-politischen Denken Hofmannsthals und seinem problemgeschichtlichen Kontext, Tübingen. Stern, Martin (1968): »Hofmannsthal und Böhmen (1): Der Briefwechsel mit Jaroslav­ Kvapil und das Projekt der ›Ehrenstätten Österreichs‹«, in: Hofmannsthal-Blätter 1, S. 3-30. Stern, Martin (1969): »Hofmannsthal und Böhmen (2): Die Rolle der Tschechen und Slowaken in Hofmannsthals Österreich-Bild der Kriegszeit und seine Prager Erfahrung im Juni 1917. Mit unveröffentlichten Briefen und Notizen«, in: Hofmannsthal-Blätter 2, S. 102-128. Stern, Martin (1970): »Hofmannsthal und Böhmen (4): Die Aufnahme der Prosaischen Schriften III in Prag und Hofmannsthals Haltung zur Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918. Mit einem unveröffentlichten Brief und Aufsatz von Arne Novák sowie Briefen von und an Otokar Fischer und Blažena Fischerová«, in: Hofmannsthal-Blätter 4, S. 264-282.

Heimat als Ort der Heterogenität in Werken von Joseph Roth Satomi Nobata

1. E inleitung Wie lebt man mit den Fremden? Oder wann werden Fremde als solche bezeichnet? Wie werden sie in eine Gesellschaft eingeschlossen und wie davon ausgeschlossen? Seit dem 19. Jahrhundert, in dem die Nation sich mit der Identitätsbildung des Menschen verknüpft, ist diese Frage immer wichtiger geworden. Je mehr auf die Nationbildung gezielt wird, desto stärker bemerkt man die Unvermeidbarkeit des Kontaktes mit den Fremden. Ohne Kontakt entsteht kein Zusammenleben und auch keine Ausgrenzung. Joseph Roth (1894-1939), der den Verfall seines Vaterlandes erlebt und dadurch seine ideale Vorstellung von der Habsburgischen Monarchie gebildet hat, behandelte die Frage ›Kontakt mit dem Fremden‹ als zentrales Thema. Besonders beschrieb er seine Heimat Galizien als den Ort, wo verschiedene Ethnien in Harmonie zusammenlebten. Darüber hinaus betrachtete er Galizien in der Konstellation mit dem Zentrum der Monarchie, mit Wien. In diesem Aufsatz behandle ich zuerst die Darstellung von Galizien in Roths Werken und dann versuche ich zu zeigen, wie Roth seine Idee der Heterogenität auf seine Heimat angewandt hat.

2. Z entrum

und

P eripherie

In seiner Idee der Heterogenität innerhalb der Monarchie spielen die peripheren Gebiete, die sogenannten Kronländer, eine zentrale Rolle. Die Betrachtung der Machtstruktur innerhalb der Habsburgischen Monarchie aus dieser Perspektive ist derzeit ein dominantes Thema der Literatur- und Kulturwissenschaften. Dabei geht es darum, die Konstellation der Gebiete untereinander innerhalb der Monarchie zu analysieren und zu zeigen, dass es innerhalb der Habsburgischen Monarchie ein politisches, kulturelles und ethnisches Zentrum (Wien) sowie eine Peripherie gab. Zum Zentrum gehörte die deutsche Ethnie, deren Sprache und Wertvorstellungen, und am Rand befanden sich die anderen Ethnien mit ihren Sprachen und Kulturen. Die verschiedenen Ethnien wurden gemäß dem Abstand zum Zentrum hierarchisch angeordnet.

160 Satomi Nobata

In einem Projekt über ›Postcolonial Studies‹ weist Wolfgang Müller-Funk auf die Ähnlichkeit zwischen dem europäischen Kolonialismus und dem ›inneren‹ Kolonialismus der Habsburgischen Monarchie hin: »Dass peripherische Gebiete wie Galizien, die Bukowina oder gar Bosnien, das die Monarchie im Windschatten des europäischen Kolonialismus annektierte (die koloniale Eroberung Ägyptens durch England erfolgt im selben Jahr wie die mit Waffengewalt erzwungene Durchsetzung des Status Bosniens als österreichisch-ungarisches Protektorat), halb- und quasikoloniale Gebiete gewesen sind, lässt sich nur schwer von der Hand weisen« (MüllerFunk 2005: 21).

Es gibt also bei der Wahrnehmung außereuropäischer und innereuropäischer Fremder in der multiethnischen Monarchie Ähnlichkeiten. Im kolonialen Diskurs spielt die Identitätskonstruktion eine wesentliche Rolle. Wie Homi Bhabha in Verortung der Kultur erklärt, produziere und stelle der koloniale Diskurs die ›Andersheit‹ ambivalent dar: einerseits als ›Objekt des Begehrens‹ und ›der Belustigung‹, andererseits als »eine Artikulation von Differenz, die in der Phantasie von Ursprung und Identität selbst erhalten ist« (Bhabha 2000 [1994]: 99). Das Bild des ›Anderen‹ werde im kolonialen Diskurs produziert: »Ungeachtet des für die Macht des kolonialen Systems so entscheidenden ›Spiels‹ produziert [...] der koloniale Diskurs den Kolonialisierten als soziale Realität, kraft derer er zwar einerseits ein ›anderer‹, nichtsdestoweniger aber vollkommen erkennbar und sichtbar ist« (Bhabha 2000 [1994]: 104).

Anhand der kolonialistischen Theorie kann man die Identitätskonstruktion innerhalb der Habsburgischen Monarchie wie folgt betrachten: Die Differenzen zwischen den verschiedenen Ethnien wurden artikuliert und dadurch wurden die Slowenen, Galizier oder die Balkanvölker als eine soziale Realität dargestellt. Für Roth ist aber die Differenzierung keinesfalls ein Ausschließungsprozess, sondern die Nennung der Ethnien dient bei ihm dazu, die Monarchie als einen übernationalen Staat zu beschreiben. Wie Graf Chojnicki in der Kapuzinergruft mit dem Gefühl des Stolzes aufzählt, aus wie vielen Ethnien die verfallene Monarchie bestanden hat (vgl. Roth 1991: 234 f.), so stellte Roth sich seine ideale Monarchie als eine Versammlung zahlreicher Kulturkreise vor. Meistens wird die Konstellation von Zentrum und Peripherie so verstanden: Wien als das wesentlich Österreichische, wo sich die verschiedenen Völker sammeln, wie Heimito von Doderer (1896-1966), einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller, in seinem Tagebuch am 14. August 1945 äußerte:

Heimat als Ort der Heterogenität 161

»Österreich hat auf den ersten Blick nur diese zwei Möglichkeiten: es kann sich gegen Deutschland entscheiden oder gegen Europa. Beides ist nicht österreichisch. Wir werden es daher vorziehen, wieder ein Umsteige-Bahnhof für alle zu werden oder eine ›Drehscheibe‹ [...]. Österreich ist seinem Wesen nach ein antiker Staat, eine πόλις [polis],1 in Wien als Ganzes enthalten, ein Schnittpunkt, aber keine Ausdehnung. So war es immer, auch als diese πόλις sich Kronen und Länder angefügt hatte. Das Wesen der österreichischen Nationalität ist zum allerwenigsten grob-materiell« (Doderer 1964: 364).

Die hier zitierte Aussage, Wien sei repräsentativ für das ganze Österreich, deutet an, dass sich der ideale Völker-Komplex in seiner Vorstellung der Stadt Wien verwirkliche, der das ganze Österreich symbolisiere. Zwar sieht man bei beiden Schriftstellern, Doderer und Roth, die gemeinsame Vorstellung von Österreich als einer multiethnischen Monarchie, doch hat die Idealisierung des Vielvölkerstaates bei Roth etwas Eigentümliches. Roth blickte, vermutlich wegen seiner Herkunft als ein galizischer Jude, nicht vom Zentrum aus, sondern aus der entgegengesetzten Perspektive auf die verloren gegangene Monarchie. Die Konstellation von Zentrum und Peripherie spielte auch in seiner Vorstellung von Österreich eine wesentliche Rolle; allerdings legte er den Schwerpunkt eben nicht auf das Zentrum, sondern auf die Peripherie, vor allem auf das Kronland Galizien.

3. R oth

und seine

H eimat

Wie war Roths Beziehung zu seiner Heimat? Er wurde 1894 im galizischen ›Schtetl‹2 Brody, einer Grenzstadt zum russischen Wolynien, geboren. Er stammte aus einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie. In Brody waren Juden tatsächlich die Mehrheit. Nachdem Roth das klassische Gymnasium absolviert und noch ein paar Jahre an der Universität Lemberg studiert hatte, verließ er seine Heimat für immer und begann seine Wanderungen durch Europa, die er bis zu seinem Tod fortsetzte (vgl. Bronson 1975: 4). Allerdings spielen seine Kindheitserinnerungen eine große Rolle in seinen Werken. Beispielsweise haben elf von den sechzehn Romanen, die Roth in seinem Leben verfasst hat, mit dem Kronland Galizien zu tun. Darunter befinden sich Werke wie die Novelle Spinnennetz (1923), Hotel Savoy (1924), Die Flucht ohne Ende (1927), Der stumme Prophet 1 | In seinem Roman Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal (1951) stellt Doderer Wien als eine Stadt dar, in deren Kaffeehäusern die »antike Öffentlichkeit« der alten Römer noch zu sehen sei (zit. nach Piontek 1999: 141). 2 | Dieses jiddische Wort bezeichnete eine Siedlung mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil in Osteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg.

162 Satomi Nobata

(1928), Hiob. Roman eines einfachen Mannes (1930), Radetzkymarsch (1932), Die Büste des Kaisers (1934), Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters (1937), Die Kapuzinergruft (1938). In seiner Analyse dieser »galizischen« Werke Roths stellt Dmytro Zatons’kzj fest, dass Galizien besonderes in seinen späteren Werken die wesentliche Rolle spielt. Als eine typische Figur dieser Reihe nennt Zatons’kzj Oberleutnant Franz Tunda aus dem Roman Die Flucht ohne Ende (vgl. Zatons’kzj 1995: 115 f.).3 Nicht nur in den literarischen, sondern auch in den journalistischen Werken machte Roth das Kronland Galizien zum Thema. Seit 1923 war Roth als Feuilletonkorrespondent für die Frankfurter Zeitung tätig und schrieb viele Reiseberichte. 1924 reiste er nach Galizien und veröffentlichte im selben Jahr in dieser Zeitung den Bericht Reise durch Galizien, wo er es so charakterisiert: »Das Land hat in Westeuropa einen üblen Ruf. Der wohlfeile und faule Witz des zivilisierten Hochmuts bringt es in eine abgeschmackte Verbindung mit Ungeziefer, Unrat, Unredlichkeit. Aber so treffend einmal die Beobachtung war, daß es im Osten Europas weniger Sauberkeit gebe als im Westen, so banal ist sie heute; und wer sie jetzt noch gebraucht, kennzeichnet weniger die Gegend, die er beschreiben will, als die Originalität, die er nicht besitzt« (Roth 1990: 281).

So beginnt Roth seinen Reisebericht und vollendet den ersten Teil des Berichtes mit der folgenden Aussage: »Auf den Märkten verkauft man primitive, hölzerne Hampelmänner, wie in Europa vor 200 Jahren. Hat hier Europa aufgehört? Nein, es hat nicht aufgehört. Die Beziehung zwischen Europa und diesem gleichsam verbannten Land ist beständig und lebhaft. [...] Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht isoliert; es ist verbannt, aber nicht abgeschnitten; es hat mehr Kultur, als seine mangelhafte Kanalisation vermuten läßt; viel Unordnung und noch mehr Seltsamkeit« (Roth 1990: 285).4

In dem Reisebericht betont Roth die Besonderheit der abgelegenen Gegend Galizien. Laut Roth sieht die Gegend auf den ersten Blick isoliert und primitiv aus, aber man merkt doch, dass sie sich trotz der »mangelhaften Kanalisation« in Verbindung zu Europa befindet und kulturell reich ist. Es ist wichtig darauf zu achten, wie Roth dieses Gebiet beschreibt, da man daran erkennen kann, mit 3 | Laut Zatons’kzj stammen »manche Helden seiner [Roths] Romane und Erzählungen aus den 10er und 20er Jahren« zwar aus der Ukraine, »fühlten sich aber mit ihr in keiner Weise innerlich verbunden« (Zatons’kzj 1995: 115). 4 | Der Artikel erschien in der Frankfurter Zeitung am 20. November 1924.

Heimat als Ort der Heterogenität 163

welcher Absicht Roth die verloren gegangene Monarchie in den meisten seiner Werke darzustellen versuchte. Galizien lag geographisch an der territorialen Grenze zu Russland. Historisch war das Gebiet 1867 bis 1918 Kronland der westlichen Reichshälfte ÖsterreichUngarns. Das Gebiet, das heute im Westen der Ukraine und im Süden Polens liegt, wurde von verschiedensten Volksgruppen bewohnt. Darunter hatten Polen, Ruthenen und Juden die größten Anteile. Die kulturelle und ethnische Hybridität von Galizien prägte sich tief in Roth ein und kam mehrere Male in seinen Werken zur Darstellung. Roth stellte die Monarchie als einen Raum dar, in dem die zentrale Macht (die Regierung in Wien) die Randgebiete (Kronländer) bis zu einem gewissen Grad unter Kontrolle hatte. Trotzdem wurden die Kronländer ihrer Besonderheit niemals beraubt. Stattdessen befand sich das Zentrum in einer lockeren Verbindung mit der Peripherie. Unter den sechzehn Kronländern, die von 1867 bis 1918 existierten, machte Roth das Kronland Galizien oft zum Thema und projizierte darauf sein ideales Randgebiet der Monarchie, in dem nichtdeutsche Wertvorstellungen vorherrschten.

4. G alizien

und die verfallene

M onarchie

Im Roman Kapuzinergruft, der 1938 veröffentlicht wurde, drückte Roth seine tiefe Zuneigung zum Kronland Galizien aus. Im Roman geht es um den Adligen Franz Ferdinand Trotta. Da sein Großonkel in der Schlacht bei Solferino das Leben des Kaisers Franz Joseph I. gerettet hatte, wurde die Familie geadelt. 1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach, verließ Trotta Wien und kämpfte in Galizien, zu dem er eine besondere Verbindung wegen seines Freundes, des von dort stammenden Grafen Chojnicki, hatte. Trotta hatte sogar auch dieses Gebiet kurz vor dem Ausbruch des Krieges einmal besucht. 1918 kehrte Trotta nach dem Krieg nach Hause zurück und erlebte die Auflösung der Monarchie. Er beobachtete in Wien, wie der Nationalismus und ›die neue deutsche Regierung‹ auftauchte. Die Romanerzählung endet 1938, als die Nazis das Land übernahmen. Am Anfang des Romans lässt Roth Chojnicki sprechen, um die Wichtigkeit der Kronländer für die ganze Monarchie zu betonen: »Ich will damit sagen, daß das sogenannte Merkwürdige für Österreich-Ungarn das Selbstverständliche ist. Ich will zugleich damit auch sagen, daß nur diesem verrückten Europa der Nationalstaaten und der Nationalismen das Selbstverständliche sonderbar erscheint. Freilich sind es die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Galizianer, die Kaftanjuden aus Boryslaw, die Pferdehändler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajevo, die Maronibrater aus Mostar, die ›Gott erhalte‹ singen. Aber die deutschen Studenten aus

164 Satomi Nobata Brunn und Eger, die Zahnärzte, Apotheker, Friseurgehilfen, Kunstphotographen aus Linz, Graz, Knittelfeld, die Kröpfe aus den Alpentälern, sie alle singen ›Die Wacht am Rhein‹. Österreich wird an dieser Nibelungentreue zugrunde gehn, meine Herren! Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie. Österreich ist nicht in den Alpen zu finden, Gemsen gibt es dort und Edelweiß und Enzian, aber kaum eine Ahnung von einem Doppeladler. Die österreichische Substanz wird genährt und immer wieder aufgefüllt von den Kronländern« (Roth 1991: 234 f.).

Damit wird die Habsburgische Monarchie von Roth als ein übernationaler Staat vorgestellt, wo sich das Zentrum von den Randgebieten ernährt. Das Konzept von ›Zentrum und Peripherie‹ kommt immer vor, wenn man die geographische Machtstruktur der Monarchie zum Thema macht. Roth präsentiert es aber andersherum: Die peripheren Gebiete erhalten das wesentlich Österreichische. Roth stellte die Peripherie, in diesem Fall die Kronländer wie Galizien, als die dynamische Grenzzone dar, wo die verschiedenen Volksstämme in einer lockeren Verbindung koexistieren. Deswegen steht die nationalistische Bewegung mit dem Ziel, das Territorium ethnisch, sprachlich und kulturell zu vereinheitlichen, im Widerspruch zu seiner idealen Vorstellung der Habsburgischen Monarchie.

5. Das

wesentlich

Ö sterreichische

Was Roth für ›das wesentlich Österreichische‹ hält, sieht man in seinem anderen galizischen Roman Das falsche Gewicht genauer, den Roth 1937 veröffentlichte. In diesem Roman wird die Konstellation der Ethnien in einer Grenzstadt in Galizien, Zlotogrod, dargestellt. Im Roman geht es um den Abstieg und Verfall eines Eichmeisters in Galizien, der Eibenschütz heißt. Nach seinem Militärdienst von zwölf Jahren heiratet er und zieht mit seiner Frau nach Zlotogrod, in den fernen Osten der Monarchie, um dort seine Dienstpflicht als Eichmeister zu erfüllen, die darin besteht, Gewichte in der Stadt danach zu überprüfen, ob sie den von der Obrigkeit bestimmten Regeln entsprechen. Zuerst wird er feindlich von den Einheimischen empfangen, da er als ein Symbol der zentralen Behörde erscheint, welche der Peripherie die Regeln und Gesetze des Zentrums mit Gewalt aufzwingt.5 Seine Wahrnehmung von Gerechtigkeit verändert sich aber, als er die Misere der Juden, Russen und einfachen Einheimischen dort sieht. Außerdem führt sein Besuch der Grenzschenke dazu, dass sich seine Wertvorstellungen 5 | »Denn die Leute in dieser Gegend betrachteten alle jene, welche die Forderungen an Recht, Gesetz, Gerechtigkeit und Staat unerbittlich vertraten, als geborene Feinde« (Roth 2010 [1937]: 9).

Heimat als Ort der Heterogenität 165

verzerren. Die Grenzschenke, die Landstreicher, Diebe, Räuber und Deserteure beherbergt, wird von einem Mann namens Jadlowker betrieben. Von dessen Gefährtin Euphemia, einer ›Zigeunerin‹, verführt, begeht Eibenschütz Verbrechen und wird dadurch letztendlich ruiniert: »Taugenichtse und Verbrecher verkehrten in der Grenzschenke Jadlowkers; Landstreicher, Bettler, Diebe und Räuber beherbergte er. Und dermaßen schlau war er, dass ihm das Gesetz nicht beikommen konnte. [...] Er verfertigte falsche Gewichte und verkaufte sie den Händlern in der Umgebung; und manche wollten wissen, dass er auch falsches Geld herstelle, Silber, Gold und Papier« (Roth 2010 [1937]: 21 f.).

So beschreibt Roth, wie in der Grenzschenke versucht wird, einen anderen Wertstandard herzustellen, z. B. falsches Gewicht oder falsches Geld. Eine ähnliche Grenzschenkszene findet sich auch im Roman Der stumme Prophet. Dieser periphere Raum ist nicht ausgegrenzt, sondern verbindet die Obrigkeiten, Bauern, Juden, Russen, ›Zigeuner‹ und Verbrecher durch ständigen Kontakt miteinander. Die ›Fremden‹ oder ›Minoritäten‹ sind einerseits als schwache Ethnie gebrandmarkt, aber andererseits haben sie auch einen bestimmenden Einfluss auf die Majorität, in diesem Fall, den Eichmeister Eibenschütz. Das scheint auf den ersten Blick eine widersprüchliche Vorstellung zu sein, weil die Obrigkeit sich die Pflicht auferlegt, die zentralen Wertvorstellungen bis zum Rande der Monarchie zu verbreiten. Roth schätzt aber die Heterogenität in Galizien, die der Tendenz zur Vereinheitlichung widerstand. In seinem berühmten Essay Juden auf Wanderschaft (1927) stellte Roth die östlichen Gebiete der Monarchie als den Ort dar, der einerseits vom westlichen Wertstandard abwich, andererseits aber große Einflüsse auf den Westen ausübte. Im ersten Kapitel dieses Essays, Ostjuden im Westen, beklagte sich Roth über den unbegründeten Minderwertigkeitskomplex des Ostens gegenüber dem Westen: »Dagegen sieht der Ostjude nicht die Vorzüge seiner Heimat; nicht die grenzenlose Weite des Horizonts, nichts von der Qualität dieses Menschenmaterials, das Heilige und Mörder aus Torheit hergeben kann, Melodien von trauriger Größe und besessener Liebe. Er sieht nicht die Güte des slawischen Menschen, dessen Rohheit noch anständiger ist, als die gezähmte Bestialität des Westeuropäers, der sich in Perversionen Luft macht und das Gesetz umschleicht, mit dem höflichen Hut in der furchtsamen Hand« (Roth 1990: 828 f.).

Trotz der Selbstdemütigung des Ostens hebt Roth die Dynamik hervor, die durch die Emigration der Juden in den Westen gebracht werde. Jeder Ostjude, »der mit frischer Kraft« nach dem Westen komme, diene dazu, »die tödliche, hygienische Langeweile dieser Zivilisation zu unterbrechen« (Roth 1990: 832). Daraus lässt

166 Satomi Nobata

sich ableiten, dass Roth die östlichen Gebiete der Monarchie als Elemente, die der erstarrenden Tendenz des Westens entgegenstehen, ja sie verhindern, sehr positiv einschätzte. Darüber hinaus wird die Beziehung des Osten zum Westen als dasjenige vorgestellt, was den Mythos der Monarchie stütze und aufbewahre. Über Roths Idealisierung der Monarchie schrieb sein Freund Stefan Zweig (1881-1942) in seinem Essay Europäisches Erbe: »Geheimnisvollerweise waren in unserem sonderbaren Österreich die eigentlichen Bekenner und Verteidiger Österreichs niemals in Wien zu finden, in der deutschsprechenden Hauptstadt, sondern immer nur an der äußersten Peripherie des Reiches [...]. In dem kleinen Städtchen, dem Joseph Roth entstammte, blickten die Juden dankbar hinüber nach Wien; dort wohnte, unerreichbar wie ein Gott in den Wolken, der alte, der uralte Kaiser Franz Joseph [...]. Die Ehrfurcht vor dem Kaiser und seiner Armee hat sich Roth also schon als den Mythos seiner Kindheit aus seiner östlichen Heimat nach Wien mitgenommen« (Zweig 1960: 252 f.).

Roths Hass gegen den Totalitarismus liegt nicht nur darin, dass er eine jüdische Abstammung hatte, sondern auch darin, dass er die Eigentümlichkeit des Ostens als Stütze der ganzen Monarchie respektierte.

6. G alizien

als eine

»G renzzone «

Galizien als heterogener Ort symbolisiert Roths ideale Vorstellung von der übernationalen Monarchie. In der Novelle Die Büste des Kaisers, die 1934 in der deutschsprachigen antifaschistischen Tageszeitung Pariser Tageblatt veröffentlicht wurde, wird das Leben eines Grafen in Ostgalizien, der sich als ›Österreicher‹, also als ›ein übernationaler Mensch‹ erklärt, erzählt. Am Ende des Romans äußert der Protagonist, Graf Morstin, seine große Enttäuschung über den Nationalismus, der nach dem Verfall der Monarchie eine dominante Tendenz geworden ist: »Sie suchen vergeblich nach sogenannten nationalen Tugenden, die noch fraglicher sind als die individuellen. Deshalb hasse ich Nationen und Nationalstaaten. Meine alte Heimat, die Monarchie, allein war ein großes Haus mit vielen Türen und vielen Zimmern, für viele Arten von Menschen. Man hat das Haus verteilt, gespalten, zertrümmert. Ich habe dort nichts mehr zu suchen. Ich bin gewohnt, in einem Haus zu leben, nicht in Kabinen« (Roth 1991: 675).

Heimat als Ort der Heterogenität 167

Dann beerdigen Graf Morstin und einige Dorfbewohner die Büste des Kaisers Franz Joseph I. mit allen Ehrenbezeugungen. Hier vergleicht Roth die schon untergegangene Monarchie mit einem Haus, das den verschiedenen Völkern ›viele Türen und Zimmer‹ öffnet. Die Metapher der ›Tür‹ weist darauf hin, dass die Monarchie einen Übergangscharakter hatte. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Uwe Wirth versucht in seinem Aufsatz Zwischenräumliche Bewegungspraktiken anhand der Metapher der ›Tür‹ den Begriff der ›Grenze‹ neu zu denken (vgl. Wirth 2012: 7-34). Er stellt auch das Konzept der ›Grenze‹ des russischen Literaturwissenschaftlers und Semiotikers Jurij Lotmans vor, die »einerseits trennt« und »andererseits verbindet«, und die »gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen« (Lotman, zit. nach Wirth 2012: 18) gehört. Auch das Konzept der Brücke bei dem Philosophen und Soziologen Georg Simmel eröffnet diese Perspektive, den Begriff ›Grenze‹ in ein neues Licht zu stellen. Laut Wirth sollten wir in Hinsicht auf die Grenze die »Logik des Entweder/Oder« überwinden und »sie nicht mehr als Grenzlinie, sondern als Grenzzone« sehen, weil die ›Tür‹ »als Grenzund Durchgangspunkt zwischen Draußen und Drinnen« gleichzeitig »Angrenzendes« und »Abgetrenntes« zum Erscheinen bringt. Er weist weiter darauf hin, dass die ›Tür‹ und ähnliche Metaphern es ermöglichen, Grenze und Zwischenraum zusammen zu denken, weil ›Tür‹ oder auch ›Brücke‹ durch Praktiken wie ›Hindurchgehen‹ und ›Hinübergehen‹ zwei Orte miteinander verbinden (vgl. Wirth 2012: 18). Ähnliches ist bei Bhabha zu finden, in seinen Überlegungen zum ›dritten Raum‹: »Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen wird zum Prozeß symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß konstituiert. Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit, die es gestattet, verhindern, daß sich Identitäten an seinem oberen und unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene Hierarchie gibt« (Bhabha 2000 [1994]: 5).

Leben in der Zwischenzone, die die Hin- und Herbewegung der beiden Seiten ermöglicht, wehrt sich gegen Fixierung und Vereinheitlichung. Genau diese Perspektive ist in Graf Morstins Klage zu sehen. Dass seine alte Heimat, die jetzt verfallene Monarchie, wie ein großes Haus viele Türen und viele Zimmer für viele Kulturen und Menschen öffnete, lobt Morstin als eine fröhliche Form der Herrschaft, die Hybridität unter einer Regierung ermöglicht hatte. Graf Morstins Enttäuschung wird eben dadurch verursacht, dass das große Haus nach dem Ersten Weltkrieg »verteilt, gespalten, zertrümmert« wurde. Jetzt ist er gezwungen »in

168 Satomi Nobata

Kabinen zu wohnen«, die natürlich ein metaphorischer Ausdruck für den engstirnigen Nationalismus sind. Die Metapher der alten Monarchie als ein Haus mit vielen Türen und Fenstern, wie man sie in der Klage des Grafen Morstin sieht, stellt die Kronländer nicht als Grenzlinie, die die Monarchie von äußeren Ländern abgrenzt, sondern als Grenzzone, durch die verschiedenste Kulturen herein- und hinauskommen, dar. Was Roth als das wesentliche Österreichische versteht, besteht eben in diesem dynamischen Verkehr von Kulturen. Daher hasste Roth die faschistische und nationalistische Bewegung, welche Heterogenität und Hybridität als Gegenwerte zur Vereinheitlichung ausschloss.

7. S chlussfolgerung Roth erlebte den Untergang Österreich-Ungarns, als er 22 Jahre alt war, als das für ihn prägendste Ereignis. Er richtete seine Sehnsucht immer darauf, die verloren gegangene Heimat in seinen Werken wieder auferstehen zu lassen und seine Identität mit dem verfallenen Übernationalstaat zu verbinden. Roth erkannte klar die Gefahr, die vom Nationalsozialismus ausging und verließ deshalb Deutschland schon an dem Tag, an dem Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Seitdem lebte er als Exilschriftsteller bis zu seinem Tod 1939 in Paris. Seine Zuneigung für die Kronländer der alten Monarchie ist nicht nur Heimweh, sondern symbolisiert sein Verlangen nach der Grenzzone, in der sich die verschiedensten Kulturen dynamisch austauschen. Seine Idealisierung der multiethnischen Gesellschaft hat ihren Grund in der Konzipierung seiner Heimat als »Grenzzone«, die durch ihre Funktion als kultureller Kanal die ganze Monarchie organisch aufrechterhielt.

L iteratur Bhabha, Homi K. (2000 [1994]): Die Verortung der Kultur, aus dem Amerikanischen, Tübingen. Bronson, David (1974): Joseph Roth. Eine Biographie, Köln. Bronson, David (1975) (Hg.): Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung, Darmstadt. Doderer, Heimito von (1964) : Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers 19401950, München. Marchand, Wolf R. (1974) : Joseph Roth und völkisch-nationalistische Wertbegriffe, Bonn.

Heimat als Ort der Heterogenität 169

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»Where I am, there is Germany!« Zur narrativen Konstruktion von Kultur und Identität am Beispiel Thomas Manns Christian Baier

Wenn ein Mensch für längere Zeit seine Heimat verlässt, um in einem anderen Land zu leben, oder gar auf Dauer dorthin übersiedelt, begibt er sich mitunter in eine eigentümliche Situation: Er ist umgeben von einer ihm fremden Kultur, vielleicht von Zeichen, die er nicht lesen, einer Sprache, die er nicht verstehen kann.1 Viele Verhaltensweisen werden ihm fremdartig und unverständlich erscheinen, weil er die kulturellen Normen noch nicht kennt, die sie bestimmen, und an den Reaktionen seiner Mitmenschen wird er erkennen, dass vieles, was er bisher ganz unreflektiert als wahr und gegeben angenommen hatte, in der neuen Umgebung anscheinend nicht mehr gilt. Damit sieht sich unser hypothetischer Migrant, Exilant oder Expat vor eine existentielle Entscheidung gestellt: Anpassung oder Beharrung? Oder vielmehr: Wo zwischen diesen beiden Polen soll er sich situieren? Um in seinem Gastland leben und seine Aufgabe (worin auch immer sie bestehen möge) erfüllen zu können, wird er nicht umhin kommen, sich in einem gewissen Maß an dessen Verhaltensnormen anzupassen – während ihm andererseits auch daran gelegen sein muss, die eigene kulturelle Identität zu wahren, das heißt: an den vertrauten Sitten, Normen und Wertvorstellungen der heimatlichen Kultur festzuhalten. Mit den Begriffen Kultur und Identität sind die beiden zentralen Kategorien dieser Untersuchung genannt, und auch ihr Verhältnis, wie es im vorliegenden Kontext gedacht werden soll, ist bereits angedeutet: Die persönliche Identität einer Person kann verstanden werden als die »Integration von disparaten Selbst- und Welterfahrungen, Selbst- und Fremdentwürfen, Erwartungen und kulturellen Rollenvorgaben in eine relativ statisch-harmonische Instanz« (Glomb 42008: 306), wobei die Kategorie der Identität, »anders als Begriffe wie ›Selbst‹, ›Persönlichkeit‹ oder ›Charakter‹ als relationaler Begriff […] bereits impliziert, dass sich das Bezeichnete innerhalb eines Beziehungsgeflechts situiert« (ebd.: 306 f.) – und dieses Beziehungsgeflecht ist die das Individuum umgebende Kultur. Die Identität einer Person ist damit gebunden an »die Ausbildung gruppenspezifischer Kulturformen« (ebd.: 306) und folglich bestimmt durch Riten oder Gründungsmythen, 1 | Eines der für die Kulturwissenschaften wirkungsmächtigsten Zeugnisse dieser Fremdheitserfahrung ist der Essay von Roland Barthes (1981 [1970]).

172 Christian Baier

die Zusammengehörigkeit anzeigen und die kollektive Identität der Gruppe oder Gemeinschaft bestimmen, der das Individuum angehört. Nun ist Kultur vermutlich eines der umfassendsten, vieldeutigsten und damit auch vagsten Konzepte der Geistesgeschichte, und der Versuch, einen Überblick über bestehende Konzepte von Kultur zu geben oder gar eine eigene Definition vorzuschlagen, würde ohne Zweifel den Rahmen dieser Ausführungen sprengen. Daher beziehe ich mich im Kontext dieser Argumentation auf die Vorstellung einer Textualität der Kultur, die von Stephen Greenblatt, Louis Montrose und anderen Vertretern des New Historicism unter Bezugnahme auf den Kulturbegriff des Ethnologen Clifford Geertz entwickelt wurde. In seinem programmatischen Essay Thick Description erläutert Geertz: »The concept of culture I espouse […] is essentially a semiotic one. Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be therefore not an experimental science in search of law but an interpretive one in search of meaning« (Geertz 1973: 5).2

Kultur erscheint folglich nicht mehr als ein prä-existentes Außen, vorgegeben und praktisch unveränderlich, sondern als ein ›Netzwerk bedeutungstragender Verknüpfungen‹, also ein semiotisches Konstrukt, das immer wieder neu interpretiert werden kann – und muss. Das aber bedeutet zugleich, dass konkrete kulturelle Manifestationen einem ununterbrochenen Wandel unterworfen sind; und da jede individuelle Identität in dieses kulturelle Gewebe eingebunden ist und von ihm bestimmt wird, muss auch die angebliche ›Statik‹ dieser Kategorie relativiert werden: Identität wird nicht mehr als ein stabiler Wesenskern verstanden, der, einmal vollständig ausgebildet, mehr oder weniger unverändert bestehen bleibt,3 sondern ebenfalls als wandelbares Konstrukt aufgefasst. Damit aber lässt sich das Verhältnis zwischen beiden Kategorien als dynamische Wechselwirkung denken: Nicht nur wirkt die umgebende Kultur auf die Identität einer Person ein, indem sie diese formt und beeinflusst, sondern die Kultur selbst, die latenten

2 | Maßgeblich für die Verbreitung der Vorstellung einer Kultur als Text im deutschen Sprachraum ist noch immer der erstmals 1996 erschienene Sammelband von BachmannMedick (22004). Neueste Forschungsergebnisse zu diesem Thema versammelt der Tagungsband von Baier/Benkert/Schott (2014). 3 | Da die Literatur zu diesen beiden Komplexen längst unüberschaubar geworden ist, beschränke ich mich an dieser Stelle auf einen summarischen Hinweis auf die einschlägigen Artikel und zugehörigen Literaturangaben in dem Standardwerk von Ansgar Nünning (42008).

»Where I am, there is Germany!« 173

Sinnpotentiale des semiotischen Geflechts, manifestiert sich erst in den Interpretationen des Individuums, das auf diese Weise kulturelle Bedeutung generiert. Naturgemäß ist diese Wechselwirkung immer dann besonders interessant, wenn zwischen beiden Polen signifikante Differenzen bestehen; so etwa, wenn die Kultur, in der ein Individuum sich befindet, nicht diejenige ist, die bisher seine Identität geformt und beeinflusst hat, nicht diejenige, deren semiotische Codes ihm bekannt und vertraut sind. In diesem Fall kann es zu ›kulturellen Interferenzen‹ kommen, und diese wiederum sind es, die einen Einblick in die Funktionsweise des komplexen Prozesses kultureller Anpassung erlauben. Im vorliegenden Aufsatz werde ich die bisher theoretisch erörterten Zusammenhänge an zwei Beispielen illustrieren und genauer untersuchen: Zum einen anhand der literarischen Figur Josephs, des Protagonisten von Thomas Manns biblischer Tetralogie Joseph und seine Brüder, der (in der Bibel wie im Roman) bekanntlich aus Eifersucht und Neid von seinen Brüdern erst in einen Brunnen geworfen und dann aus seiner Heimat Kanaan, einem Gebiet im heutigen Israel, nach Ägypten in die Sklaverei verkauft wurde, in eine alte, spätzeitlich-zivilisierte und ihm sehr fremde Hochkultur. Seine Art, sich in ihr zurechtzufinden und den Gegensatz zwischen ihren Anforderungen und seiner eigenen, von der strengen ›Vaterwelt‹ geprägten Identität zu überbrücken, kann als praktische Realisierung der dynamischen Interaktion zwischen Identität und Kultur herangezogen werden – wenn auch im Rahmen der fiktionalen Welt eines Romans. Das zweite Beispiel allerdings ist keineswegs fiktional, denn es handelt sich um Thomas Mann selbst, und der Gegenstand der Untersuchung ist seine Lebensgeschichte, wie er sie in ausgewählten autobiographischen Texten geschildert hat. Wie seine literarische Figur war er gezwungen, seine Heimat zu verlassen, wenn das Land seines Exils auch Amerika war und nicht Ägypten. Noch komplizierter – und interessanter – wird seine Situation dadurch, dass der Autor, dem die Nationalsozialisten die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt hatten, sich nicht nur an eine neue Kultur anzupassen hatte, sondern darüber hinaus das Bedürfnis verspürte, sich erstens der eigenen kulturellen Identität als Deutscher zu versichern und sich zweitens selbst als Vertreter eines ›anderen Deutschtums‹ zu präsentieren, um auf diese Weise Hitler und den Nationalsozialisten die Rolle der Repräsentanten Deutschlands streitig zu machen. Das ist der Hintergrund des »denkwürdige[n] und vieldeutige[n] Satz[es], den er bei seiner Ankunft in New York am 21. Februar 1938 in die Stenogrammblöcke der Reporter diktierte« (Vaget 2011: 15), und der den Titel dieses Aufsatzes bildet: »Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me«.4 4 | Vgl. ›Mann finds U.S. Sole Peace Hope‹, in: The New York Times vom 22. 2. 1938, S.  13, zitiert nach Vaget 2011: 15. – Heinrich Mann überliefert die Äußerung seines Bruders­

174 Christian Baier

Joseph in Ägypten, Thomas Mann in Amerika – zwei gewaltsam Entwurzelte, gezwungen, sich in einem fremden Land, einer fremden Kultur einen neuen Ort zu schaffen, und damit geeignet, im Rahmen dieser Ausführungen als Beispiele zu dienen. An ihnen werde ich darstellen, wie sich (1) Identität und Kultur konstituieren, wie (2) die ›dynamische Interaktion‹ zwischen beiden Kategorien gedacht werden kann, und wie die Tatsache, dass es sich tatsächlich um Konstrukte handelt, (3) dazu genutzt werden kann, den Übergang von einer heimatlichen in eine fremde Kultur zu ermöglichen oder doch zu erleichtern.5

Paul R icœur

und die › narrative I dentität‹

Bevor ich jedoch mit der Analyse der genannten Beispiele beginne, ist eine weitere theoretisch-methodische Präzisierung erforderlich: Ich habe postuliert, dass sowohl Kultur als auch Identität als semiotische Konstrukte aufzufassen seien, und dass deshalb zwischen beiden eine Art dynamische Interaktion anzunehmen sei, doch bilden diese beiden Feststellungen wenig mehr als eine reichlich abstrakte Zustandsbeschreibung – und die Frage bleibt: Wie werden Identität und Kultur konstituiert? Wie manifestieren sich, aus dem Gewebe zahlloser potentieller semiotischer Verknüpfungen, die konkreten Vorstellungen, die dann als tatsächlich existierende Kultur oder Identität angesehen werden? Zur Beantwortung ungenau­ als »Wo ich bin, ist die deutsche Kultur« (Mann 1973: 215), und die große Bedeutung dieser Aussage für Thomas erweist sich darin, dass sie in abgewandelter Form in sein literarisches Werk eingeht: So wird sie etwa reflektiert in Goethes Äußerung über die Deutschen in Lotte in Weimar: »Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins« (GKFA 9.1: 327), sowie in der berühmten Aussage, die der Teufel im Doktor Faustus Adrian Leverkühn in den Mund legt: »Wo ich bin, da ist Kaisersaschern« (GKFA 10.1: 330). – Die Werke Thomas Manns werden, sofern in jener Reihe bereits erschienen, mittels der Sigle GKFA unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert nach Mann 2002 ff. Diejenigen Werke, die noch nicht in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe erschienen sind, werden mittels der Sigle GW zitiert nach Mann 1974. 5 | Der vorliegende Aufsatz kann damit in zweierlei Weise gelesen werden: Eher textorientiert, insofern der Roman Joseph und seine Brüder mit Hilfe kulturwissenschaftlicher Theorien gelesen und interpretiert wird – oder eher theorieorientiert, insofern Leben und Werk Thomas Manns nur als Beispiele dienen, an denen Funktionsweise und Anwendbarkeit kulturtheoretischer Modelle erläutert und überprüft werden. Für beide Lesarten gilt jedoch, dass der Fokus der Darstellung ausdrücklich nicht auf der Untersuchung der Exilerfahrung selbst liegt, weder derjenigen Josephs noch der Thomas Manns. Diese dienen­im vorliegenden Zusammenhang nur als Material zur Illustration.

»Where I am, there is Germany!« 175

dieser Frage beziehe ich mich auf das von dem französischen Philosophen und Kulturtheoretiker Paul Ricœur (1913-2005) entwickelte Konzept der narrativen Identität, das es mir erlaubt, die beiden Schlüsselbegriffe meiner Untersuchung, Kultur und Identität, mit Hilfe eines einzigen Modells zu erklären. Am Anfang von Ricœurs Überlegung steht die Überzeugung, dass man ›Identität‹ »als eine Kategorie der Praxis« (Ricœur 1991: 395) behandeln müsse: »Die Identität eines Individuums […] anzugeben heißt auf die Frage antworten: wer hat diese Handlung ausgeführt, wer ist der Handelnde, der Urheber?« (ebd.). Die naheliegende Antwort auf die Frage Wer? ist ein Eigenname, was wiederum die Frage aufwirft, inwiefern ein Name überhaupt zur Identifikation geeignet ist: »Was berechtigt dazu, daß man das so durch seinen Namen bezeichnete Subjekt ein ganzes Leben lang […] für ein und dasselbe hält?« (ebd.). Die Antwort kann laut Ricœur »nur narrativ ausfallen. Auf die Frage ›wer?‹ antworten, heißt […], die Geschichte eines Lebens erzählen. Die erzählte Geschichte gibt das wer der Handlung an. Die Identität des wer ist also selber bloß eine narrative Identität« (ebd.). Das Leben eines jeden Menschen ist laut Ricœur nichts anderes als ein »Gewebe erzählter Geschichten« (ebd.: 396), sodass jedes Individuum zugleich »Leser und Schreiber seines eigenen Lebens« (ebd.) ist und damit ein autopoetisches Narrativ generiert, das seine persönliche Identität sowohl konstituiert als auch unablässig refiguriert und überformt. So weit eine schematische Zusammenfassung von Paul Ricœurs Konzept der narrativen Identität. Für die vorliegende Untersuchung ist diese Theorie deshalb besonders geeignet, weil Ricœur sie ohne weiteres vom Individuum auf die Gemeinschaft überträgt: »Individuum und Gemeinschaft konstituieren ihre Identität dadurch, daß sie bestimmte Erzählungen rezipieren, die dann für beide zu ihrer eigentlichen Geschichte werden« (ebd.: 397). Oder, sentenziös formuliert: »Geschichte geht immer aus Geschichten hervor« (ebd.). Um diese These zu unter­mauern, zieht Ricœur die Geschichte des Volkes Israel zur Illustration heran. Er führt aus: »Einerseits drückt die Zusammenstellung der Erzählungen, die später als kanonische rezipiert wurden, den Charakter des Volkes aus und spiegelt ihn wider […]. Aber mit gleichem Recht kann man sagen, daß das biblische Israel erst dadurch, daß es sich Geschichten erzählte, die als das Zeugnis seiner eigenen Gründungsgeschichte galten, zu jener historischen Gemeinschaft wurde, die diesen Namen trägt« (ebd.: 398).

Damit liegt ein zirkuläres Verhältnis vor, entsprechend dem autopoetischen Narrativ, das persönliche Identität konstituiert: »[D]ie historische Gemeinschaft, die sich das jüdische Volk nennt, hat ihre Identität aus der Rezeption jener Texte geschöpft, die sie selbst produziert hat« (ebd.). Wenn aber sowohl die persönliche­

176 Christian Baier

Identität des Einzelnen als auch die kollektive Identität von Gemeinschaften und Gruppen als Manifestationen narrativer Prozesse anzusehen sind, dann konstituiert sich auch die Kultur insgesamt auf der Grundlage von Narrativen. Ich gehe also, um zu den theoretisch-methodischen Ausführungen am Beginn dieses Kapitels zurückzukehren, von der Existenz eines unendlichen Geflechts semiotischer Verknüpfungen aus, von denen einige narrativ realisiert werden und auf diese Weise die tatsächlich als existent wahrgenommene Kultur konstituieren.

K ollek tive

und persönliche I dentität in

K anaan

Hier bietet sich der Übergang zu meinem eigentlichen Thema an, denn dem Volk Israel gehört auch die biblische Figur des Joseph an, und sein Vater Jaakob ist einer seiner Patriarchen. Im Folgenden möchte ich also zeigen, dass die Art und Weise, wie die kollektive Identität des Volkes Israel sowie die persönliche Identität der Figur Joseph in Thomas Manns biblischer Tetralogie erzählerisch inszeniert werden, sich mit Hilfe von Ricœurs Modell analysieren und erläutern lässt.6 Ein Beispiel für die narrative Konstituierung kollektiver Identität ist das Gespräch zwischen Jaakob und Joseph über einen der wichtigsten Bräuche des Volkes Israel, das Passah- oder Pessach-Fest. Dieses Fest wird laut biblischer Überlieferung gefeiert zur Erinnerung an den Auszug des Volkes Israel aus der ägyptischen Knechtschaft – ein Ereignis, das so lange nach der Joseph-Geschichte stattgefunden haben soll, dass der Pharao, der die Israeliten ziehen lassen musste, »nichts von Josef« (Ex 1, 8)7 gewusst habe. In Thomas Manns Roman jedoch feiern bereits die Stammväter des Volkes Israel das Pessach-Fest, das zu dieser Zeit allerdings noch einen heidnisch-astrologischen Hintergrund hat. Das bereitet dem Patriarchen Sorgen, weil er fürchtet, es könnte gegen Gottes Willen sein: »[E]s sind die Gestirne, die uns das Fest bestimmen […]. Sollen wir aber den Gestirnen Kußhände werfen und ihre Geschichten feiern? Müssen wir uns nicht grämen um den Herrn und die Zeit, ob wir uns denn noch auf sie verstehen und uns nicht versündigen an beiden, da wir sie festhalten durch träge Gewohnheit beim Unflat, über den sie mit uns hinauswollen? Ich frage mich ernstlich, ob es nicht meine Sache wäre, unter den 6 | Weit gründlicher und umfassender, als das in diesem Aufsatz möglich ist, wird das Thema Exil und Identität in der Joseph-Tetralogie behandelt von Schöll 2004. Zur Bedeutung der überlieferten Geschichten für die Konstitution der kollektiven Identität des Volkes Israel vgl. besonders ebd.: 230-238. 7 | Zitiert nach: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen, durchgesehene Ausgabe. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1999.

»Where I am, there is Germany!« 177

Unterweisungsbaum zu treten und die Leute zusammenzurufen, daß sie meine Sorgen vernähmen und anhörten meine Bedenken in Sachen des Festes Pesach« (GW IV: 476).

Jaakob erwägt, das Pessach-Fest zu verbieten, und zwar um der Geschichten willen, denen es seine Existenz und Bedeutung verdankt, und deren Ursprung im heidnischen Sternenglauben zu finden ist. Joseph aber spricht für das PessachFest und für die Bewahrung des Brauches: Er rät, »das Fest zu schonen und es nicht eifernd anzutasten um seiner Geschichten willen, für die vielleicht mit der Zeit eine andere eintreten könnte, die du alsdann erzählst beim Bratenmahl: beispielsweise die Bewahrung Isaaks, die sehr passend wäre, oder aber wir warten ab in der Zeit, ob nicht Gott sich einmal durch eine große Errettung oder Verschonung verherrliche an uns – die legen wir dann dem Fest zum Grunde als seine Geschichte und singen Jubellieder« (GW IV: 476 f.).

Kulturgeschichtlich betrachtet ist die ›große Errettung‹, die für die kollektive Identität des jüdischen Volkes von konstitutiver Bedeutung ist, bekanntlich die Geschichte vom Auszug der Israeliten aus Ägypten. Thomas Mann führt hier also in fiktionaler Form vor, wie kulturelle Traditionen entstehen, und ganz nach dem Modell Ricœurs geschieht dies durch Narration, im Zuge derer bestimmte kulturelle Bedeutungspotentiale realisiert, andere hingegen verworfen werden. Doch natürlich bewahrt und tradiert nicht nur das Volk Israel seine Geschichten in Form von Festen, sondern auch die Bewohner des Landes Kanaan, in dem die Israeliten siedeln, und besonders gut lassen sich Bedeutung und Funktionsweise dieser Form der Bewahrung und Übermittlung von Wissen am sogenannten »Fest der weinenden Frauen« (GW IV: 32) beobachten, in dem die Geschichte von Tod, Höllenfahrt und Wiederauferstehung des Fruchtbarkeitsgottes Tammuz-Adonis rituell vergegenwärtigt wird.8 Durch seine heimliche Teilnahme am kanaanitischen Tammuz-Ritus gewinnt Joseph ein Verständnis für das Wesen und die Funktionsweise des Festes, dessen Bedeutung für die Menschen seines Kulturkreises in der »Aufhebung des Unterschiedes von ›war‹ und ›ist‹« (GW V: 1252) besteht, also darin, dass jedes Fest mittels der immer wieder realisierten »Vergegenwärtigung einer so und so laufenden Göttergeschichte« (GW V: 1133) die »Vertrautheit mit dem Mythos [gewährleistet], und damit mit den geprägten Urformen und Urnormen, die dem Leben Sinn und Orientierung geben« (Assmann 1993: 142). Das aber bedeutet nichts anderes als die Tradierung eines mythischen Urgeschehens in Form von »Festgeschichte[n]« 8 | Die folgenden Ausführungen zu Joseph und seine Brüder basieren auf den Erkenntnissen meiner Dissertation; vgl. Baier 2011: 263-363.

178 Christian Baier

(GW V: 1658), also die Konstituierung kultureller Identität auf der Grundlage von Narration. Doch ist das Fest als kulturelles Phänomen der Vergegenwärtigung narrativer Strukturen auch für Josephs ganz persönliche Identitätskonstitution von zentraler Bedeutung, bilden doch »im besonderen die syrischen Tammuz-Adonis-Mysterien« für ihn ein »Medium der ›inneren Aneignung‹ […], ›so daß das Mysterium zum Schema seines Lebens wird‹« (Assmann 1993: 142).9 Mit anderen Worten: Joseph entscheidet sich ganz bewusst dafür, sein Leben an dem mythischen Muster des Tammuz auszurichten. Auf der Grundlage dieser Göttergeschichte konstituiert er seine Identität als imitatio Dei, und das Mittel dazu ist die Angleichung seiner eigenen Lebensgeschichte an die narrative Grundstruktur des Mythos,10 womit zugleich die enge Verknüpfung von Identität und Kultur deutlich wird. Allerdings erweist sich diese Art von kulturell determinierter Identitätskonstitution als Nachteil, wenn Joseph gezwungen ist, seine Heimat zu verlassen und sich in der Fremde zurechtzufinden: In Ägypten, wo der Gott Tammuz weder bekannt ist noch verehrt wird, kann sie unmöglich funktionieren. Joseph ist jedoch klug genug, diesen Zusammenhang zu durchschauen, und ersetzt das TammuzAdonis-Muster deshalb im richtigen Augenblick durch eine Göttergeschichte, die in der ägyptischen Kultur verwurzelt ist: durch den Mythos des Osiris, der als »König und Richter der Toten« (GW IV: 690) über die ägyptische Unterwelt herrscht.

N eu -K onstituierung

von I dentität in

Ä gypten

Zu den weitreichendsten Auswirkungen, die dieser Wechsel des kulturellen Identifikationsmusters nach sich zieht, gehört der Umstand, dass Joseph in einer bewussten Entscheidung11 mit seinem bisherigen Leben auch seinen Namen aufgibt­: 9 | Bei dem eingebetteten Zitat handelt es sich um eine Notiz Thomas Manns, zitiert nach Lehnert 1963: 501. 10 | Die Wirksamkeit von Josephs bewusster Selbstidentifikation mit der Figur des Tammuz-Adonis lässt sich exemplarisch anhand des Gesprächs zeigen, in dem Joseph seinem Bruder Ruben »den Durchblick seines Ich [...] zu dessen größter Verblüffung ein wenig« (GW IV: 582) öffnet. Dass er Ruben dadurch beinahe als »eine verschleierte Doppelgottheit von beiderlei Geschlecht« (GW IV: 501) erscheint, beweist seine Reaktion: Er tritt »drei Schritte rückwärts mit gesenktem Haupt und [wendet] sich erst danach von Joseph hinweg« (ebd.). 11 | „What makes his act so remarkable is the fact that he adopts this name consciously and apparently fully aware of its implications and allusions“ (Nolte 1996: 44).

»Where I am, there is Germany!« 179

»Ich darf meinen Namen nicht kennen, wie ich mein Leben nicht kennen darf« (GW IV: 675). Der Verlust »dieses mit der Identität so eng verknüpften Attributs« (Schöll 2005: 21) weist darauf hin, dass er zugleich seine frühere Identität aufgibt: Er ist »nicht Joseph mehr« (GW IV: 811) und auch nicht mehr Tammuz, sondern Osarsiph oder auch Usarsiph. Dieser Name kann gelesen werden als »Osiris Joseph« (Grimm 1993: 236) und ist damit ein ›Totenname‹: »Im Exil der Unterwelt definiert Joseph seine eigene Identität als die eines Toten« (Schöll 2004: 263), und das passende mythische Vorbild liefert der alte Minäer, als er ihm davon berichtet, dass in Ägypten »Usir, das Opfer, der Erste des Westens [ist], König und Richter der Toten« (GW IV: 690).12 Doch ist die Göttergestalt des Osiris nicht das einzige mythische Vorbild, dem Joseph sich anverwandelt,13 und besonders gut lässt sich die narrative Struktur seiner Identitätskonstitution an der Selbstinszenierung als namenlose Erlöserfigur illustrieren. Grundlage dieses Musters ist eine Mär oder Legende, die im Rahmen der fiktionalen Welt erstmals von dem midianitischen Kaufmann erzählt wird, der Joseph aus seiner Heimat nach Ägypten führt: »Ich weiß von jenem, der aus Adel und schönem Range, darin er sich kleidete mit Königsleinen und sich salbte mit Freudenöl, getrieben wurde in Wüste und Elend« (GW IV: 682) – eine Niederfahrt, die gefolgt ist »vom Emporsteigen des Erniedrigten zum Retter der Menschen und Bringer der neuen Zeit« (GW IV: 683). Auf der Grundlage dieser narrativen Struktur schafft sich Joseph eine weitere Identität und präsentiert sich in der »Gestalt des Erwarteten und des Heilbringers, der kommt, um das Alte und Langweilige zu enden und unter dem Jauchzen der Menschheit eine neue Epoche zu setzen« (GW V: 1329). Erneut macht Thomas Mann seine Leser zu Augenzeugen dieses Vorgangs: Nachdem Joseph an den ägyptischen Höfling Potiphar verkauft worden ist, kommt es zu einem Gespräch zwischen Sklaven und Herrn, in dessen Verlauf Jaakobs Sohn berichtet, er habe »in schönem Range« gelebt und sich salben dürfen »mit Freudenöl die Tage der Kindheit hin«, ehe er »in Wüste und Elend« (alle GW IV: 890) getrieben worden 12 | Da Tammuz und Osiris »in ihrem Mythos die gleiche Kombination von Fruchtbarkeitsfunktionen und Tod- und Auferstehungsglauben« aufweisen (Schulz 2000: 105), erscheint Josephs Identitäts- und Rollenwechsel nicht als ein vollständiger Bruch mit seiner Vergangenheit, sondern vielmehr als gelungene Anpassung an die veränderten kulturellen Umstände in Ägypten. Zu den Übereinstimmungen zwischen beiden Göttergestalten vgl. ebd.: 97-106. 13 | Andere mythische Figuren, die sich Joseph zum identitätsstiftenden Vorbild wählt, sind neben Tammuz-Adonis und Osiris auch der babylonische Held Gilgamesch, der ägyptische Gott Thot und vor allem die Gestalt des »Gott-Schalks« (GW V: 1428) Hermes; vgl. Baier 2011: 365-386.

180 Christian Baier

sei. Diese Antworten entsprechen bis in die absichtsvoll gewählten Formulierungen hinein dem Muster des Erwählten, »der aus Adel und schönem Range, darin er sich [...] salbte mit Freudenöl, getrieben wurde in Wüste und Elend« (GW IV: 676), sodass die narrative Konstitution von Josephs mythischer Identität erkennbar wird: »In dem, was der Jüngling am Baum über sein Vorleben ausgesagt, war mehreres Vertraute, schelmisch Erinnernde und Anmahnende gewesen, das in gewissem Grade als literarische Reminiszenz anzusehen sein mochte, wovon aber schwer zu sagen war, wieweit es auf willkürlicher Anordnung und Angleichung beruhen und wieweit im Sachlichen begründet sein mochte: Züge, die das Leben ins Göttliche übergehender, heilbringender, tröstender und errettender Wohltätergestalten kennzeichneten« (GW IV: 896 f.).

Potiphar, der die Mär vom Heilsbringer kennt, deutet diese Anspielungen nicht nur, sondern erkennt sie auch als ›literarische Reminiszenzen‹. Zugleich begreift er, dass der Sklave sich die Züge der Wohltätergestalten »geistig zu eigen [macht] und seine persönlichen Lebensangaben damit in Einklang zu setzen« (GW IV: 897) versteht, sodass es sich um eine bewusste Nachahmung bestehender mythisch-narrativer Strukturen handelt. Doch ist diese Re-Konstituierung der eigenen Identität auf der Grundlage narrativer Muster, die in der ägyptischen Kultur verwurzelt sind, für Joseph kein Selbstzweck, sondern ermöglicht die außerordentlich weitgehende Akkulturation des Exilanten Joseph an die Gegebenheiten Ägyptens, die wiederum seinen späteren Aufstieg zum »Ernährer der Länder« (GW V: 1600) ermöglicht (vgl. Schöll 2004: 268-289). So lernt er die ägyptische Sprache in solcher Vollkommenheit, dass Potiphars Hofvolk ihn geradezu ›den Mund‹ nennt, »denn der Jüngling sprach wie ein Gott, was höchst wünschenswert, ja ein Lachen und Hochgenuß ist bei den Kindern Ägyptens« (GW V: 975 f.). Auch äußerlich wird er »zusehends zum Ägypter nach Physiognomie und Gebärde« (GW V: 960)14 und nimmt zudem an den Festen und Bräuchen seiner neuen Heimat teil, was schon allein deshalb erforderlich ist, weil »die Götzenfeste vielfach mit dem Wirtschaftsleben verquickt waren« (GW V: 963). Und wenn Joseph schließlich, als enger Vertrauter­ 14 | Für die Leichtigkeit und Vollständigkeit dieses Assimilationsprozesses gibt der Erzähler zwei Gründe an: Erstens habe »sein Habitus immer schon eine gewisse verwandte Annäherung an den ägyptischen gezeigt« (GW V: 960), zweitens aber sei »die Lebenslage als mitlebend sich einfügender Fremdling unter ›Landeskindern‹ ihm nicht neu, sondern altvertraut und nach seiner Überlieferung« (ebd.) gewesen, da auch Jaakob und die Seinen in Kanaan »immer als ›gaerim‹ und Gäste unter den Kindern des Landes gewohnt« (ebd.) hätten.

»Where I am, there is Germany!« 181

des Pharao, auch das Amt eines Sonnenpriesters übernimmt und in dieser Funktion »in die Lage [kommt], amtlich vor einem Bilde, dem Falken Horachte mit der Sonnenscheibe auf dem Kopf, zu räuchern« (GW V: 1515), so bildet dieses Verhalten einen eklatanten Bruch der religiöse Gebote des Volks Israel und damit der Gepflogenheiten seiner heimatlichen Sphäre. Mit vollem Recht stellt der Erzähler also fest, dass Joseph »ein Ägypter mit Haut und Haar« (GW V: 1301) geworden sei – doch schränkt er sogleich ein, dies gelte nur »vorbehaltlich des Vorbehaltes […], den er in seinem Inneren gegen die Narrheiten des Landes seiner Entrückung wahrte« (ebd.). Dieser Vorbehalt zeigt sich unter anderem darin, dass Joseph seinen beiden Söhnen, die er mit einer ägyptischen Edelfrau hat, hebräische Namen gibt, nämlich Manasseh und Ephraim. Zwar bedeutet ›Manasseh‹ Der, der vergessen macht, doch der Erzähler weist darauf hin, »daß es mit diesem Namen und dem, was er behauptete, nur wenig ernst gemeint war. Wenn Gott den Joseph hatte vergessen lassen all seine rückwärtigen Bindungen und sein Vaterhaus, wie kam dann derselbe Joseph dazu, seinen Söhnen, geboren in Ägypten, ebräische Namen zu geben? Weil er darauf rechnen konnte, daß man im törichten Lande der Enkel solche Namen als elegant empfinden werde? Nein! sondern weil Jaakobs Sohn, mochte er auch längst mit einem völlig ägyptischen Leibrock überkleidet sein, nicht das Geringste vergessen hatte, vielmehr gerade das unausgesetzt im Sinne trug, was er vergessen zu haben behauptete« (GW V: 1530).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Joseph sich zwar einerseits mit großem Erfolg den Bräuchen und Sitten seiner neuen Heimat anpasst, ja geradezu als Musterbeispiel gelingender Akkulturation betrachtet werden kann, zugleich aber im Kern dem Kulturkreis seiner Herkunft verhaftet bleibt und in Wahrheit niemals vergisst, »wes Geistes Kind er [ist] und welchen Vaters Sohn« (GW V: 1136). Dabei macht er sich den Umstand zunutze, dass Mythen und Göttergeschichten eine zentrale Rolle in der Konstituierung sowohl der kanaanitischen wie der ägyptischen Kultur spielen, sodass er die Strategie der narrativen Selbstkonstituierung der eigenen Identität, die sich in seiner heimatlichen Sphäre bereits bewährt hat, auch in der neuen kulturellen Umgebung mit Erfolg anwenden kann. Abstrakter gefasst: Joseph realisiert bisher ungenutzte Bedeutungspotentiale des Zeichengeflechts ›Kultur‹, indem er bestehende narrative Strukturen mit der eigenen Lebensgeschichte verknüpft und sich auf diese Weise neue, mit der ägyptischen Kultur verwobene Identitäten schafft – ganz im Sinne Paul Ricœurs, der postuliert, dass »die Geschichte eines Lebens unaufhörlich refiguriert [wird] durch all die wahren oder fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt.

182 Christian Baier

Diese Refiguration macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten« (Ricœur 1991: 396), und die Identität des Subjekts zu einer Emanation dieses narrativen Geflechts.

Thomas M ann

in

A merika

Zwar musste auch Thomas Mann ins Exil gehen und sich in einer fremden Kultur zurechtfinden, doch konnte er, als nicht-fiktionale Figur, natürlich nicht dieselben Strategien anwenden wie Joseph. Allerdings bedient sich auch der reale Autor narrativer Mittel, um das Verhältnis zwischen individueller Identität und umgebender Kultur in seinem Sinne zu beeinflussen und sich zugleich seiner kulturellen Identität als Deutscher zu versichern – nur dass es in seinem Fall die Kultur ist, auf die er Einfluss zu nehmen sucht. Präziser gefasst: Mann ist bemüht, dem Begriff ›deutsch‹ einen alternativen Sinn beizulegen, indem er ein historisches Narrativ generiert, das ganz bestimmte Zusammenhänge als maßgeblich hervorhebt und damit ihr bedeutungstragendes Potential realisiert. Ehe ich jedoch diesen Vorgang im Einzelnen erläutere, ist es erforderlich, zumindest in groben Zügen auf die historischen Umstände von Thomas Manns Exil einzugehen. Den Kern seines Bedürfnisses nach Selbstvergewisserung bildet die »nationale Exkommunikation« (GW XIII: 91) des berühmten Schriftstellers, also die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft durch das nationalsozialistische Regime im Jahre 1936. Schon zuvor, im Jahr 1933, hatte sich Mann unter dem Eindruck öffentlicher Angriffe15 entschlossen, von einer Vortragsreise im Ausland nicht nach Deutschland zurückzukehren. Zuerst ließ er sich mit seiner Frau Katia in Küsnacht in der Schweiz nieder, um dann im Jahr 1938, im Alter von 63 Jahren, in die USA auszuwandern. Formal war der Autor der Buddenbrooks und des Zauberberg zu diesem Zeitpunkt bereits kein Deutscher mehr, sondern Tscheche, doch sollte er später die amerikanische Staatsbürgerschaft annehmen und bis zu seinem Tode im Jahr 1955 ein American Citizen bleiben. Damit stand 15 | Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Protest der RichardWagner-Stadt München: Nachdem Thomas Mann im Auditorium Maximum der Universität München seinen Vortrag Leiden und Größe Richard Wagners (vgl. GW IX: 363-426) wiederholt hatte, sahen die Unterzeichner des Artikels, unter ihnen der Direktor der Bayrischen Staatsoper, Hans Knappertsbusch, sowie die Komponisten Richard Strauss und Hans Pfitzner, es als ihre Aufgabe an, »das Andenken an den großen deutschen Meister Richard Wagner vor Verunglimpfung zu schützen« (Protest der Richard-Wagner-Stadt München. Münchner Neueste Nachrichten vom 16./17. 4. 1933, zit. nach Schröter 22000: 199) – oder doch vor dem, was sie dafür hielten.

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Mann einerseits vor der Herausforderung jedes Auswanderers und Exilanten, sich in gewissem Maße an die Gegebenheiten der neuen Umgebung anpassen zu müssen. Zugleich aber verspürte er aus seiner besonderen Situation heraus auch das entschiedene Bedürfnis, sich seiner kulturellen Identität als Deutscher zu versichern.16 Dabei ist jedoch zu betonen, dass dieses private Bedürfnis nur als ein Aspekt einer sehr viel komplexeren Intention angesehen werden kann. Angesichts der politischen Verhältnisse in Deutschland ging es ihm zugleich darum, »Hitler den Nimbus des wahren Repräsentanten der deutschen Kultur streitig zu machen« (Vaget 2011: 15) und sich selbst in dieser Funktion zu etablieren: »Der vertriebene Schriftsteller musste den Anspruch der nationalsozialistischen Machthaber parieren, Gralshüter allen Deutschtums zu sein. […] Die Auseinandersetzung darüber, was deutsche Kultur sei und wer sie legitim repräsentiert, wurde mit dem staatsterroristisch durchsetzten Totalitätsanspruch des NS-Regimes existentiell. Wenn es eine vom Nationalsozialismus unabhängige deutsche Kultur geben sollte, musste sie im Ausland überleben. Die Formel ›Wo ich bin, ist die deutsche Kultur‹, ist prägnanter Ausdruck dieser Erkenntnis« (Gut 2008: 234).17

16 | In der Nachfolge der formalen Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft, die unter anderem zum Verlust der Ehrendoktorwürde der Universität Bonn führt, wird in der deutschen Öffentlichkeit zugleich das Deutschtum des Autors in Frage gestellt. So heißt es 1937 in einem Zeitungsartikel: »Die Ausbürgerung brachte zwangsläufig die Streichung Thomas Manns als Ehrendoktor der Universität Bonn mit sich – als Teil des großen Aufräumens an den deutschen Hochschulen. […] Darum ist ja für uns die Zeit der ›Ent­ rümpelung‹ gekommen. Darum ist Thomas Mann aus Deutschland entrümpelt, weil er nie ein Deutscher war« (Ernst Krieck: Agonie. Schlußwort zu Thomas Mann. In: Volk im Werden 1937, zitiert nach Schröter 22000: 290). 17 | In seinem zwischen 1936 und 1939 entstandenen Roman Lotte in Weimar legt Thomas Mann seinem Protagonisten Johann Wolfgang von Goethe eine Äußerung in den Mund, die oberflächlich betrachtet dessen gespanntes Verhältnis zu seinen Landsleuten zur Zeit der Napoleonischen Kriege charakterisiert. Es ist aber unverkennbar, dass Mann in der historisch-fiktionalen Maske zugleich seine eigene Entfremdung beschreibt und damit eine verdeckte Kritik am nationalsozialistischen Regime, seinen Anhängern und Mitläufern formuliert: »So traun sie deinem Deutschtum nicht, spürens wie einen Mißbrauch, und der Ruhm ist unter ihnen wie Haß und Pein. […] Sie mögen mich nicht – recht so, ich mag sie auch nicht, so sind wir quitt. Ich hab mein Deutschtum für mich – mag sie mitsamt der boshaften Philisterei, die sie so nennen, der Teufel holen. Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins, und gings zugrunde mit Stumpf und Stiel, es dauerte

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Wie aber stellt Thomas Mann es an, diesen Repräsentationsanspruch geltend zu machen? In einem ersten Schritt geht es ihm darum, das NS-Regime sowie Adolf Hitler persönlich zu entlarven, und zwar sowohl auf einer politischen als auch auf einer kulturellen Ebene. So stellt er in seinem Essay Bruder Hitler die Ideologie des Nationalsozialismus als eine Perversion oder, um Thomas Manns Wort zu benutzen, eine ›Verhunzung‹ des wahren Deutschtums dar: »[W]irklich, unserer Zeit gelang es, so vieles zu verhunzen: Das Nationale, den Sozialismus – den Mythos, die Lebensphilosophie, das Irrationale, den Glauben, die Jugend, die Revolution und was nicht noch alles. Nun denn, sie brachte uns auch die Verhunzung des großen Mannes« (GW XII: 852). In einem zweiten Schritt ist Mann bemüht, dem nationalsozialistischen und rassistisch begründeten Konzept des ›Volksdeutschen‹ eine eigene, kulturhistorische Auffassung dessen entgegen zu setzen, was ›deutsch‹ ist. Hier zeigt sich die erste und wichtigste Ähnlichkeit zu Joseph: Genau wie Jaakobs Sohn sich der Elemente der ihn umgebenden Kulturen, der Mythen und Geschichten Kanaans und Ägyptens bedient, um sich mit ihrer Hilfe die jeweils passende Identität zu konstituieren, generiert Thomas Mann eine ›Kulturgeschichte des Deutschtums‹, aus der er dann die Neuinterpretation der deutschen Kultur, eine alternative kollektive Identität Deutschlands ableitet – und schließlich sogar seine persönliche Identität, da er sich selbst als Repräsentant dieses Deutschland etabliert! Wie er das tut, möchte ich nun anhand seines späten Essays Deutschland und die Deutschen exemplarisch skizzieren. Der Text bietet sich für diesen Zweck an, weil in ihm viele wichtige Motive und Argumentationsstränge zusammenlaufen, die in früheren Äußerungen Manns bereits vorkommen, und weil er in diesem Text, anders als in den unmittelbar gegen Hitler gerichteten Äußerungen wie etwa Deutsche Hörer!, eher kulturhistorisch denn dezidiert politisch argumentiert.

D ie R e -K reation

einer kulturellen I dentität

Ursprünglich eine Rede, die Thomas Mann am 29. Mai 1945 in englischer Sprache in der Library of Congress gehalten hat, wurde Deutschland und die Deutschen später ins Deutsche übersetzt und überarbeitet. Inhaltlich handelt es sich um einen kulturgeschichtlichen und gewissermaßen ›volkspsychologischen‹18 Überin mir« (GKFA 9.1: 327). – Zu den zeitgeschichtlichen Implikationen des Romans Lotte in Weimar vgl. etwa Schöll 2003: 141-158 und Dane 1999: 353-376. 18 | Wenn im Zuge dieser Ausführungen Begriffe wie ›volkspsychologisch‹, ›National­ charakter‹ oder ›deutsches Wesen‹ verwendet werden, so sind diese dem Vokabular Thomas Manns entnommen und in diesem Sinne zu verstehen; eine Distanz, die, wo erforderlich,

»Where I am, there is Germany!« 185

blick über die deutsche Geschichte, oder, wie Thomas Mann es formuliert, um eine Einführung in »die komplexe Welt deutscher Psychologie« (GW XII: 1128 f.). Er verfolgt damit mehrfache Absichten: Zunächst und ganz allgemein gesprochen geht es ihm darum, seinen amerikanischen Zuhörern das sogenannte ›deutsche Wesen‹ zu erläutern, was angesichts der zeitgeschichtlichen Lage natürlich vor allem die Antwort auf eine Frage bedeutet: Wie konnte es in Deutschland zum Aufstieg Hitlers und der Nationalsozialisten und zu den von ihnen verübten Gräueltaten kommen? Im vorliegenden Argumentationszusammenhang wichtiger ist jedoch die Umdeutung und Neu-Konstitution des Vorstellungskomplexes ›deutsch‹ bzw. ›Deutschtum‹, auf deren Grundlage diese Antwort erfolgt und die Mann dazu nutzt, eine Alternative zum NS-Regime anzubieten. Thomas Manns Erklärungsansatz ist, wie gesagt, kulturhistorisch, das heißt: Er zieht Beispiele historischer Personen dazu heran, an ihnen bestimmte Züge des deutschen ›Nationalcharakters‹ anschaulich zu machen – so, wie er ihn versteht. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Reformator Martin Luther (1483-1546), den er als »eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens« (GW IX: 1132) betrachtet, »groß und deutsch auch in seiner Doppeldeutigkeit als befreiende und zugleich rückschlägige Kraft, ein konservativer Revolutionär« (GW IX: 1133). Dezidiert betont Mann die Zweideutigkeit und Widersprüchlichkeit von Luthers Persönlichkeit, spricht von dem »fürchterlich Robuste[n], verbunden mit zarter Gemütstiefe« (ebd.) sowie von einer »musikalisch-deutsche[n] Innerlichkeit und Unweltlichkeit« (GW IX: 1136) im Wesen des Reformators, die sich in einem unüberwindlichen Widerwillen gegen und einer ebensolchen Unfähigkeit zur Politik manifestiert habe. Er illustriert seine Behauptung mit dem Verweis auf das Verhalten Luthers während des Bauernaufstandes der Jahre 1524 bis 1526, dieses »ersten Versuchs einer deutschen Revolution« (GW IX: 1134), den der Kirchenmann, so Thomas Mann, »bespie und verfluchte, wie nur er es konnte. Wie tolle Hunde hieß er die Bauern totschlagen und rief den Fürsten zu, jetzt könne man mit Schlachten und Würgen von Bauernvieh sich das Himmelreich erwerben« (ebd.). Diese historische Anekdote ist natürlich nicht um ihrer selbst willen relevant, sondern weil Mann die in ihr zutage tretenden Charaktereigenschaften Martin Luthers als paradigmatisch, als »das spezifisch und monumental durch einfache Anführungszeichen ausgedrückt wird. – Ein Beispiel für die, wenn auch durch den Kontext leicht ironisierte, Verwendung dieses Jargons bietet eine Äußerung Zeitbloms im Doktor Faustus: »Viel war während der Mahlzeit […] von den politischen und moralischen Dingen die Rede, von dem mythischen Hervortreten der National-Charaktere, das sich in solchen geschichtlichen Augenblicken ereigne, und von dem ich mit einer gewissen Ergriffenheit sprach« (GKFA 10.1: 443). Noch ganz frei von jeglicher Ironie hatte Thomas Mann entsprechende Positionen in den Betrachtungen eines Unpolitischen vertreten.

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Deutsche«­ (GW IX: 1135) ansieht und dem Reformator einen ebenso weitreichenden wie potentiell verhängnisvollen Einfluss auf den deutschen ›Volkscharakter‹ zuschreibt: »Seine antipolitische Devotheit […] hat nicht nur für die Jahrhunderte die unterwürfige Haltung der Deutschen vor den Fürsten und aller staatlichen Obrigkeit geprägt; sie hat nicht nur den deutschen Dualismus von kühnster Spekulation und politischer Unmündigkeit teils begünstigt und teils geschaffen. Sie ist vor allem repräsentativ auf eine monumentale und trotzige Weise für das kerndeutsche Auseinanderfallen von nationalem Impuls und dem Ideal politischer Freiheit« (GW IX: 1136).

Aus dieser Argumentation heraus ist es nur konsequent, dass Thomas Mann den Deutschen in der Nachfolge des ›urdeutschen Volksmannes‹ Martin Luther eine prinzipielle und unaufhebbare »Unberufenheit zur Politik« (GW IX: 1140) attestiert, die es mit sich bringe, dass jeder Versuch eines Deutschen, sich in dieser »Kunst des Möglichen« (GW IX: 1139) zu versuchen, unweigerlich in einem Desaster ende: »Von Natur durchaus nicht böse, sondern fürs Geistige und Ideelle angelegt, hält er die Politik für nichts als Lüge, Mord, Betrug und Gewalt, für etwas vollkommen und einseitig Dreckhaftes und betreibt sie, wenn er aus weltlichem Ehrgeiz sich ihr verschreibt, nach dieser Philosophie. Der Deutsche, als Politiker, glaubt sich so benehmen zu müssen, dass der Menschheit Hören und Sehen vergeht – dies eben hält er für Politik« (GW IX: 1140).

Mit Hilfe der Gestalt Martin Luthers illustriert und begründet Thomas Mann, warum es gerade in Deutschland zum Aufstieg der Nationalsozialisten gekommen ist: Er führt diesen Aufstieg auf ganz bestimmte Züge des ›deutschen Wesens‹ zurück, die er in Luther exemplifiziert und im Nationalsozialismus pervertiert oder ›verhunzt‹ sieht. Die Schlussfolgerung aus dieser historisch›volkspsychologischen‹ Analyse formuliert er in seinem Roman Doktor Faustus, der sich in fiktionaler Form mit denselben Fragen beschäftigt wie Deutschland und die Deutschen. In der ihm eigenen geschraubten Diktion sinniert der Erzähler Zeitblom über den Zusammenhang zwischen der Herrschaft der Nationalsozialisten und dem ›deutschen Wesen‹: »War diese Herrschaft nicht nach Worten und Taten nur die verzerrte, verpöbelte, verscheußlichte Wahrwerdung einer Gesinnung und Weltbeurteilung, der man charakterliche Echtheit zuerkennen muß, und die der christlich-humane Mensch nicht ohne Scheu in den Zügen unserer Großen, der an Figur gewaltigsten Verkörperungen des Deutschtums vorgeprägt findet?« (GKFA 10.1: 698).

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Doch hatte Thomas Mann bei seiner Rede in der Library of Congress natürlich keineswegs die Absicht, das Bild der Deutschen als »Beispiel[e] des Bösen« (GKFA 10.1: 697), das so kurz nach Ende des Krieges ohnehin von vielen US-Bürgern geteilt wurde, weiter zu verfestigen. Ganz im Gegenteil war ihm daran gelegen, seinen Zuhörern eine Alternative aufzuzeigen – nicht, indem er die Verbrechen des NS-Regimes relativiert oder gar beschönigt hätte, sondern indem er deutlich machte, dass der ›Natur‹ der Deutschen nicht nur die Anlagen zum Bösen innewohnten, die sich in den vergangenen Jahren so verhängnisvoll manifestiert hatten. Das gelingt ihm mit einem argumentativen Umweg über die deutsche Romantik.19 Gemäß Manns eigenwilliger Bestimmung in Deutschland und die Deutschen ist ›Romantik‹ nichts anderes als »ein Ausdruck jener schönsten deutschen Eigenschaft, der deutschen Innerlichkeit« (GW IX: 1142), die er bereits zuvor definiert hat als »Zartheit, [...] Tiefsinn des Herzens, unweltliche Versponnenheit, Naturfrömmigkeit, reinster Ernst des Gedankens und des Gewissens« (ebd.). Schon diese Aufzählung besteht nicht durchweg aus positiven Attributen, und so verbindet Mann mit der deutschen Romantik denn auch nicht nur »Sehnsüchtig-Verträumtes, Phantastisch-Geisterhaftes und Tief-Skurriles« (ebd.), nicht nur »ein hohes artistisches Raffinement, eine alles überschwebende Ironie« (ebd.), sondern auch und in der Hauptsache »eine gewisse dunkle Mächtigkeit und Frömmigkeit, man könnte auch sagen: Altertümlichkeit der Seele, welche sich den chthonischen, irrationalen und dämonischen Kräften des Lebens, das will sagen: den eigentlichen Quellen des Lebens nahe fühlt« (GW IX: 1142 f.).20 19 | Auch die summarische Diagnose Hermann Kurzkes, Thomas Mann gehöre »[i]m weiteren Sinne [...] auf jeden Fall in die romantische Tradition« (Kurzke 31997: 180), weist deutlich auf den großen Einfluss dieser geistigen Strömung auf sein Schaffen hin, und die Spuren, die sie in seinem Werk hinterlassen hat, sind unübersehbar: Man denke nur an das Zauberberg-Kapitel Fülle des Wohllauts, in dem Hans Castorp während seiner nächtlichen Grammophon-Konzerte unter anderem Schuberts Lied Der Lindenbaum hört (vgl. GKFA 5.1: 985-990), an die ›Schlafstroh-Gespräche‹ im Doktor Faustus, deren anheimelnde »Studenten- und Burschenromantik« (GKFA 10.1: 170) die Fragwürdigkeit der geäußerten Ansichten nicht zu verschleiern vermag, und nicht zuletzt an die für Manns gesamtes Werk konstitutive Dichotomie von ›Bürger‹ und ›Künstler‹, die als genuin romantische Konstellation aufzufassen ist. – Zu diesem zentralen Gegensatz vgl. Baier 2014b (in Vorbereitung); neueste Forschungsergebnisse zum Einfluss der Romantik auf das Werk Thomas Manns versammelt der Tagungsband von Ewen/Lörke/Zeller 2014 (in Vorbereitung). 20 | In diesen Zusammenhang gehört auch die berühmte Bestimmung des Romantischen aus dem Zauberberg-Kapitel Fülle des Wohllauts, Romantik sei »Sympathie mit dem Tode« (GKFA 5.1: 988) – eine Formulierung, die Thomas Mann sogar als »Formel und Grundbestimmung aller Romantik« (GW XII: 424) gilt.

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Indem er die Reformation als »[d]ie große Geschichtstat der deutschen Innerlichkeit« (GW IX: 1142) bezeichnet, stellt Mann eine Verbindung zwischen seinen Ausführungen zur Romantik und der Person Martin Luthers her. Damit erklärt er nicht nur die Reformation zu einer genuin ›romantischen‹ Tat und verleiht andererseits der Romantik eine dezidiert politische Dimension,21 sondern führt auch alle genannten Charaktereigenschaften in seiner Vorstellung des Deutschtums zusammen: Gemütstiefe, Innerlichkeit, Naturfrömmigkeit und Neigung zur Spekulation, gepaart mit Musikalität, einer Unfähigkeit zur Politik, die zur Hörigkeit gegenüber der Obrigkeit werden kann, und nicht zuletzt Todesverfallenheit und Hang zur Dämonie. Thomas Manns Konzept des Deutschtums ist eine hoch komplexe, aus einer Vielzahl divergierender Elemente zusammengesetzte Vorstellung, deren widersprüchliche Aspekte sich kaum zu einer stimmigen Synthese vereinigen lassen. Daher unternimmt Mann einen solchen Versuch auch gar nicht erst, sondern erklärt kurzerhand eine inhärente Dichotomie zur konstitutiven Eigenschaft des deutschen ›Nationalcharakters‹.22 Dieser sei, neben den genannten Merkmalen, gekennzeichnet durch »die Vereinigung von Weltbedürftigkeit und Weltscheu, von Kosmopolitismus und Provinzialismus« (GW XI: 1129) – oder, wie er wenig später formuliert, durch eine »Art von spießbürgerlichem Universalismus, eine[n] Kosmopolitismus in der Nachtmütze« (ebd.). Genau in dieser widersprüchlichen Kombination von Charakterzügen aber liegt laut Thomas Mann der Grund für eine dem ›deutschen Wesen‹ innewohnende Gefahr, führt sie doch zu der niemals auszuschließenden Möglichkeit, dass 21 | Vermittelt über die Musik Richard Wagners deutet der Erzähler in diesem Zauberberg-Kapitel sogar die verhängnisvollen politischen Konsequenzen der romantischen Charakterzüge im ›deutschen Wesen‹ an: »Man brauchte nicht mehr Genie, sondern nur viel mehr Talent als der Autor des Lindenbaumliedes, um als Seelenzauberkünstler dem Lied Riesenmaße zu geben und die Welt damit zu unterwerfen. Man mochte wahrscheinlich sogar Reiche darauf gründen, irdisch-allzu-irdische Reiche« (GKFA 5.1: 990). 22 | Angesichts dieser konstitutiven Zweideutigkeit kann es nicht überraschen, dass Thomas Mann gerade die literarische Figur des Faust als vollkommenen »Repräsentant[en] der deutschen Seele« (GW IX: 1131 f.) betrachtet: »[D]er Teufel, Luthers Teufel, Faustens Teufel, will mir als eine sehr deutsche Figur erscheinen, das Bündnis mit ihm, die Teufelsverschreibung, um unter Drangabe des Seelenheils für eine Frist alle Schätze und Macht der Welt zu gewinnen, als etwas dem deutschen Wesen eigentümlich Naheliegendes. Ein einsamer Denker und Forscher, ein Theolog und Philosoph in seiner Klause, der aus Verlangen nach Weltgenuß und Weltherrschaft seine Seele dem Teufel verschreibt, – ist es nicht ganz der rechte Augenblick, Deutschland in diesem Bilde zu sehen, heute, wo Deutschland buchstäblich der Teufel holt?« (GW XI: 1131).

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den Deutschen »all ihr Gutes zum Bösen ausschlägt, ihnen unter den Händen zu Bösem wird« (GW XI: 1141). Er illustriert dieses verhängnisvolle Potential am Beispiel des »ursprünglichen Universalismus und Kosmopolitismus« (ebd.) der Deutschen, der an sich »[e]ine höchst positiv zu wertende Anlage [sei], die aber durch eine Art von dialektischem Umschlag sich ins Böse verkehrte. Die Deutschen ließen sich verführen, auf ihren eingeborenen Kosmopolitismus den Anspruch auf europäische Hegemonie, ja auf Weltherrschaft zu gründen, wodurch er zu seinem strikten Gegenteil, zum anmaßlichsten (sic!) und bedrohlichsten Nationalismus und Imperialismus wurde« (ebd.).

Damit ist der Bogen geschlagen von den allgemein ›volkspsychologischen‹ Ausführungen zurück zur konkreten politischen Situation des Jahres 1945 und zu der Frage, wie es in Deutschland zu dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus kommen konnte. Ausgehend von der konstitutiven Dichotomie des ›deutschen Wesens‹, kommt Thomas Mann am Ende seiner großen Analyse der »komplexe[n] Welt deutscher Psychologie« (GW IX: 1128 f.) zu dem Schluss, dass es »nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen« (GW XI: 1146) ausgeschlagen sei:23 »Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse, schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: ›Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung‹« (GW XI: 1146).

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass sich Thomas Mann, ganz ähnlich wie die Figur des Joseph in seinem Roman, narrativer Mittel bedient, um das Verhältnis von persönlicher Identität und umgebender Kultur zu seinen Gunsten zu verändern. Der signifikante Unterschied besteht jedoch darin, dass er nicht die eigene Identität überformt und sich selbst gewissermaßen ›neu erfindet‹, 23 | Hans Rudolf Vaget hebt hervor, dass Thomas Manns Deutschlandbild in dieser Rede »endgültig die Gestalt der Ein-Deutschland-Theorie angenommen« habe (Vaget 2011: 475). Indem er also von einem Deutschland ausgeht, lehnt er die bequeme Unterscheidung der sogenannten ›inneren Emigration‹ zwischen den ›guten Deutschen‹ auf der einen und den Verbrechern in Gestalt Hitlers und seiner Führungsriege auf der anderen Seite als unzulässige Vereinfachung ab. Auf Manns Auseinandersetzung mit den Vertretern der ›inneren Emigration‹ kann im vorliegenden Zusammenhang jedoch nur kursorisch eingegangen werden.

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sondern­, so überraschend es anmuten mag, die deutsche Kultur – was natürlich nur heißen kann: die Wahrnehmung und das Verständnis dessen, was im Bewusstsein seiner amerikanischen Zuhörer in der Library of Congress als ›deutsch‹ angesehen wird.

Thomas M anns K ulturtransfer Im Abschnitt zu Joseph und seine Brüder konnte gezeigt werden, dass Josephs Selbstinszenierung als Osiris und »Bringer der neuen Zeit« (GW IV: 683) es ist, die ihn in die Lage versetzt, sich an die ägyptische Kultur anzupassen und damit sein Exil erfolgreich zu gestalten. Da es sich hier um einen Vergleich zwischen der literarischen Figur und ihrem Autor handelt, drängt sich die Frage auf, ob die Rekonstituierung der Vorstellung ›deutsch‹ sich auch für den Exilanten Thomas Mann24 als ähnlich vorteilhaft herausgestellt hat. Wie dargestellt, zeichnet Thomas Mann vor seinem Publikum in der Library of Congress das Bild eines ›anderen Deutschtums‹ und etabliert sich dabei wie beiläufig als legitimen Repräsentanten dieses ursprünglichen, soll heißen: nicht von den Nazis ›verhunzten‹ Deutschland. Zugleich jedoch achtet er sorgfältig darauf, eine gleichsam naturgegebene Affinität zu seiner neuen Heimat Amerika zu behaupten: Zwar mute es ihn, so lässt er seine Zuhörer wissen, durchaus träumerisch an, in seinen fortgeschrittenen Jahren »aus dem entferntesten Winkel Deutschlands, wo [er] geboren wurde und wohin [er] doch schließlich gehöre« (GW IX: 1127), nach Amerika verschlagen worden zu sein und jetzt auf dem Podium der Library of Congress zu stehen, »als Amerikaner […], zu Amerikanern redend« (GW XI: 1127). Er legt jedoch großen Wert auf die Feststellung, dass ihm diese Entwicklung keineswegs als »unrichtig« (ebd.) erscheine; im Gegenteil hat die Tatsache, dass er nach dem Verlust seiner deutschen Staatsangehörigkeit gerade Amerikaner geworden ist, »[s]eine volle Zustimmung« (ebd.), denn »alles andere hätte eine zu enge und bestimmte Verfremdung [s]einer Existenz bedeutet« (ebd.). Thomas Manns Begründung für seine gleichsam ›natürliche‹ Affinität zur amerikanischen Kultur ist überaus vielsagend: 24 | Erneut sei hier darauf verwiesen, dass der Gegenstand dieser Untersuchung nicht Thomas Manns Exilerfahrung an sich ist, sondern eine spezifische semiotische Lesart der Kategorien Identität und Kultur, die nur an den Beispielen der Exilanten Joseph und Thomas Mann dargestellt wird. Entsprechend wird darauf verzichtet, auf konkrete Alltagsbegebenheiten des Aufenthalts in den USA einzugehen, stattdessen sei erneut auf das bereits mehrfach zitierte Werk Vaget 2011 verwiesen, das diese Details in aller Ausführlichkeit verzeichnet.

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»Wie heute alles liegt, ist meine Art von Deutschtum in der gastfreien Kosmopolis, dem rassischen und nationalen Universum, das Amerika heißt, am passendsten aufgehoben. […] Als Amerikaner bin ich Weltbürger, – was von Natur der Deutsche ist, ungeachtet der Weltscheu, die zugleich damit sein Teil ist, seiner Schüchternheit vor der Welt« (ebd.).

Seine Art von Deutschtum – genau das ist es, was er in seiner Rede Deutschland und die Deutschen entwickelt und ausführlich dargestellt hat. Dass dieses Deutschtum nach Manns eigener Einschätzung ›amerikanische‹ Merkmale und Eigenschaften aufweist, bedeutet nichts anderes, als dass der Gegensatz zwischen Thomas Manns ›deutscher‹ Identität und der ihn umgebenden amerikanischen Kultur, wenn auch nicht aufgehoben, so doch signifikant verringert wird. Anders als Joseph, der sich anpasst und »zusehends zum Ägypter« (GW V: 960) wird, kann und will sein Autor (anders lautender Äußerungen ungeachtet) nicht im selben Maße ›zum Amerikaner‹ werden; »[e]ine solche vollkommene Anverwandlung an den ›Landesstil‹ musste für Thomas Mann, der als Dreiundsechzigjähriger ins Land kam, ein Wunschbild bleiben«.25 Hans Rudolf Vaget, der sein einschlägiges Werk zu Manns amerikanischem Exil immerhin Thomas Mann, der Amerikaner genannt hat, stellt summarisch fest: »Thomas Mann, der Amerikaner, wie er in den Köpfen der inneren Emigration existierte und bei deutschen Literaturfreunden teilweise noch heute existiert, stellt sich bei genauerem Hinsehen als ein von Mutmaßungen, Klatsch und Ressentiments überwuchertes Phantom heraus«.26

Stattdessen wählt Mann gewissermaßen den umgekehrten Weg: Anstatt die eigene Identität zu modifizieren, indem er sie an die kulturellen Gegebenheiten seines Gastlandes Amerika anpasst, verändert er – zumindest für seine Zuhörer – die Vorstellung dessen, was als deutsch gelten soll, um auf diese Weise ›sein‹ Deutschtum und damit sich selbst mit der amerikanischen Kultur kompatibel zu machen. Doch während Manns Herangehensweise als gegensätzlich angesehen werden kann, weist seine Methode weitgehende Entsprechungen zu derjenigen Josephs 25 | Vaget 2011: 156. 26 | Ebd.: 18. – Das Bestreben einiger Vertreter der ›inneren Emigration‹, Mann zum Amerikaner zu erklären, muss als der Versuch angesehen werden, den Kritiker Thomas Mann zu diskreditieren, der sich im Zuge seines Exils eine »Außenperspektive auf Deutschland und die Deutschen« (ebd.: 445) angeeignet und ein Geschichtsverständnis entwickelt hatte, »zu dem die Überlebenden des Dritten Reiches erst Dekaden später« (ebd.) finden sollten – denn »[j]e amerikanischer man ihn aussehen ließ, desto weniger Gewicht hatten seine Kommentare zur deutschen Katastrophe« (ebd.: 492).

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auf – mit dem Unterschied, dass das verwendete Material in seinem Fall nicht den mythischen, sondern den historischen Narrativen einer Kultur entstammt: Thomas Mann rekonfiguriert die deutsche Geschichte, indem er bestimmte Personen, Ereignisse und Epochen herausgreift (etwa Martin Luther, die Reformation oder die deutsche Romantik), sie in einen Sinnzusammenhang miteinander stellt und auf diese Weise ein historisches Narrativ konstituiert,27 das ihm als Legitimation für seine Interpretation des Deutschtums dienen kann.28 Und da dieses ›neue‹ Deutschtum, auf dessen Grundlage Mann auch seine eigene Identität als Deutscher rekonstituiert, wichtige Merkmale der amerikanischen Kultur teilt, ist damit zugleich die Voraussetzung für eine gelingende Akkulturation geschaffen. So ist es nur folgerichtig, dass sich in Thomas Manns Schriften beides findet, sowohl emphatische Bekenntnisse zum Land seines Exils: »Heute bin ich amerikanischer Bürger, und lange vor Deutschlands schrecklicher Niederlage habe ich öffentlich und privat erklärt, daß ich nicht die Absicht hätte, Amerika je wieder den Rücken zu kehren. Meine Kinder, von denen zwei Söhne noch heute im amerikanischen Heere dienen, sind eingewurzelt in diesem Lande, englisch sprechende Enkel wachsen um mich auf« (GW XII: 956).29

Wie auch Äußerungen, in denen er die Bedeutung der amerikanischen Staatsbürgerschaft und der deutschen Kultur für die eigene Person direkter und weniger diplomatisch charakterisiert: 27 | Die grundlegende geschichts- und erkenntnistheoretische Frage, inwiefern historiographische Darstellungen tatsächlich die geschichtliche Wirklichkeit abbilden können, untersucht am Beispiel des Troia-Streits der Aufsatz Baier 2014a. 28 | Dieses Vorgehen Thomas Manns, sich zur Selbstvergewisserung der individuellen wie der kollektiven kulturellen Identität auf Personen und Ereignisse der deutschen Vergangenheit zu beziehen, kann mutatis mutandis mit dem von Hans-Joachim Gehrke geprägten Begriff der intentionalen Geschichte bezeichnet werden. Er beschreibt die Summe dessen, was eine Gemeinschaft über die eigene Vergangenheit zu wissen glaubt – genauer gesagt »diejenigen Vorstellungen von Vergangenheit [...], die gerade für die Identität einer Gruppe wesentlich, ja konstitutiv sind« (Gehrke 2003: 22). – Zum Thema ›intentionale Geschichte‹ vgl. außerdem die Beiträge des Sammelbandes von Foxhall/Gehrke/Luraghi 2010 sowie den Aufsatz Baier 2014a. 29 | Bei dieser Äußerung handelt es sich um eine Erwiderung Thomas Manns auf das von Walter von Molo im Namen der ›inneren Emigration‹ erhobene Ansinnen, »wie ein guter Arzt« (Walter von Molo: Offener Brief an Thomas Mann. Münchner Zeitung vom 13. August 1945, zitiert nach Schröter 22000: 335) nach Deutschland zurückzukehren, und vor diesem Hintergrund ist sie zu bewerten.

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»[O]bgleich im Begriff, amerikanischer Bürger zu werden, und umgeben von englisch sprechenden Kindern und Enkeln, bin und bleibe ich ein Deutscher, welche problematische Ehre und welch sublimes Mißgeschick das nun immer bedeuten möge. Ich bin entschlossen, der deutschen Sprache niemals untreu zu werden […]«.30

R esümee : Vom N utzen

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(K ultur -)Theorie

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Am Anfang dieses Aufsatzes steht die Annahme, dass Kultur gemäß der Vorstellung einer Textualität der Kultur als ein ›Netzwerk bedeutungstragender Verknüpfungen‹ angesehen werden kann, die erst ›gelesen‹ und interpretiert werden müssen, um tatsächliche kulturelle Bedeutung zu gewinnen. In ähnlicher Weise wird auch Identität nicht mehr als ein stabiler Wesenskern verstanden, sondern ebenfalls als semiotisches Konstrukt, das dynamischer, nicht statischer Natur ist. An dieser Stelle kommt Ricœurs Theorie der narrativen Identität ins Spiel, da sie es erlaubt, die Art, in der die potentiellen Bedeutungsgehalte der genannten semiotischen Geflechte sich manifestieren, präziser zu fassen: Sowohl persönliche Identität als auch Kultur in toto können als das Ergebnis narrativer Prozesse angesehen werden, was auch eine Möglichkeit eröffnet, die Interaktion zwischen diesen beiden Kategorien zu beschreiben. Die folgende Argumentation verfolgt ein doppeltes Ziel: Einerseits ist sie bestrebt zu zeigen, dass sowohl die Lektüre des Romans Joseph und seine Brüder als auch das Verständnis des Essays Deutschland und die Deutschen von dem zuvor entwickelten kulturtheoretischen Hintergrund profitieren können – und andererseits, gewissermaßen im Umkehrschluss, stellt sie einen Versuch dar, die Brauchbarkeit und praktische Relevanz eben dieser theoretischen Kategorien nicht nur für die fiktionalen Welten der Literatur, sondern (anhand autobiographischer Texte Thomas Manns) auch für Situationen des praktischen Lebens aufzuzeigen. Zunächst konnte ich zeigen, wie die literarische Figur Joseph den Gegensatz zwischen sich selbst und der ihm fremden Kultur Ägyptens überwand, indem er durch das Spiel mit den narrativen Mustern des »Landes seiner Entrückung« (GW V: 1301) seine Identität als Osarsiph neu konstituierte. Mit anderen Worten: Joseph reduziert das Ausmaß der Fremdheit der ägyptischen Kultur, indem er sich ihr anverwandelt und sich ›zum Ägypter‹ macht, wenn auch »vorbehaltlich des Vorbehaltes« (ebd.). Nichts anderes aber tut auch Thomas Mann, wenn er, wie im Vortrag Deutschland und die Deutschen, die deutsche Kultur in einer Weise umdeutet, die sie der amerikanischen in zentralen Punkten ähnlich werden lässt: Er reduziert den Gegensatz zwischen sich selbst als einem Deutschen und 30 | Brief Thomas Manns an Ernst Reuter vom 29. 4. 1944, zitiert nach Mann 1963: 365.

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der vormals fremden Kultur der Vereinigten Staaten – nicht, indem er wie Joseph die eigene Identität überformt und sich ›zum Amerikaner‹ macht, sondern indem er die Bedeutung des Wortes ›deutsch‹ in seinem Sinne verändert. Das Ergebnis aber ist dasselbe wie im Falle Josephs: Indem Mann sein Deutschtum in Amerika neu bestimmt und auf diese Weise gewissermaßen seine kulturelle Identität an die gewandelten Umstände anpasst, gelingt es ihm, die »sonderbare Schicksalsirrtümlichkeit« (GW XII: 787) seines Exils zu akzeptieren und sich in der neuen Lebenslage einzurichten. Damit aber hat sich der Mehrwert einer kulturtheoretisch orientierten Sichtweise nicht nur auf der fiktionalen, sondern auch auf der biographischen Ebene erwiesen, denn augenscheinlich kann es von ganz praktischem Nutzen sein, Kultur als semiotisches Verweisungsgeflecht und die eigene Identität als dynamisch und wandelbar aufzufassen: Es erleichtert den Übergang von einem kulturellen Kontext in einen anderen und damit die Eingewöhnung in ein ursprünglich ganz fremdes Umfeld. Eine Passage aus der Radiobotschaft Deutsche Hörer! vom 30. Dezember 1945 beweist, dass die Fähigkeit, die deutsche Kultur seinen Vorstellungen und den Erfordernissen der Zeit gemäß umzudeuten, sich für Thomas Mann als ausgesprochen hilfreich erwiesen hat: »Mir hat die Fremde wohlgetan. Mein deutsches Erbe habe ich mitgenommen. Aber ich habe auch von dem deutschen Elend dieser Jahre wahrhaftig nichts versäumt, wenn ich gleich nicht zugegen war, als in München mein Haus in Brüche ging. Man gönne mir mein Weltdeutschtum, das mir in der Seele schon natürlich, als ich noch zu Hause war, und den vorgeschobenen Posten deutscher Kultur, den ich noch einige Lebensjahre mit Anstand zu halten suchen werde« (GW XIII: 747).

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Der Schrecken des Lagers. Eine filmisch-literarische Spurensuche zwischen Antizipation und Retrospektive Leopold Schlöndorff

Die Geschichte der Verfolgung und Internierung von US-Japanern an der Westküste der Vereinigten Staaten nach Eintritt der USA in den Pazifikkrieg (19411945) ist historisch gut erschlossen und wurde politisch verspätet, jedoch letztlich relativ konsequent aufgearbeitet. Einige Eckdaten seien dazu in Erinnerung gerufen (vgl. dazu u. a.: Matyas 1990; Okihiro 1993: 1-24; Spickard 2009): Am 19. Februar 1942, zwei Monate nach dem Angriff Japans auf Pearl Harbor, unterzeichnete US-Präsident Franklin D. Roosevelt eine Generalermächtigung, die dem Militär das Recht einräumte, ohne Gerichtsbeschluss oder vorherige Anhörung Personen im eigenen Staatsgebiet festzusetzen, wenn dies der nationalen Sicherheit diene. Dies bildete die Grundlage für die Internierung von rund 110.000 Personen japanischer Herkunft. Viele davon waren bereits in den USA geboren oder hatten die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben. Im Wesentlichen beschränkte sich die massenhafte Internierung auf die Westküste, während in anderen Regionen, insbesondere auf Hawaii, auf diese Maßnahme weitgehend verzichtet wurde. Am 18. Dezember 1944 erklärte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten in den Fällen Korematsu bzw. Endo gegen die Vereinigten Staaten die Zwangsunterbringung jener japanisch-stämmigen Personen für unrechtmäßig, die sich loyal gegenüber dem Staat verhalten hatten. In Folge wurden die Lager schrittweise geöffnet (eines der größten, jenes von Manzanar, wurde jedoch erst im November 1945, also zwei Monate nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch Japan, aufgelassen). Entzogene US-Staatsbürgerschaften konnten nach Kriegsende rückerlangt werden, wovon jedoch nicht alle betroffenen US-Japaner Gebrauch machten. Es dauerte bis zum Ende der 1960er Jahre, ehe die Thematik ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit drang. Nach jahrzehntelangem Zögern erfolgte in den 1980er Jahren letztlich auch die politische Aufarbeitung, die zu Entschuldigungsgesten höchster Repräsentanten der Vereinigten Staaten führte: Im Jahr 1988 unterzeichnete US-Präsident Ronald Reagan die gesetzliche Grundlage für Reparationszahlungen an die überlebenden Inhaftierten jener Zeit. Sein Nachfolger, George H. W. Bush, schloss sich im Dezember 1991 mit einer formalen Entschuldigung an (bereits 1976 hatte Präsident Gerald Ford die Internierung als falsch bezeichnet, ließ jedoch noch keine ausdrückliche­

198 Leopold Schlöndorff

Entschuldigung folgen). Im Januar 1998 würdigte Präsident Bill Clinton den USJapaner Fred Korematsu (Kläger im oben erwähnten Prozess Korematsu gegen die Vereinigten Staaten) für dessen Kampf gegen die Internierungspolitik mit der Medal of Freedom, der höchsten nationalen Ehrung für Zivilisten. George W. Bush verfasste 2006 eine schriftliche Entschuldigung und genehmigte die Finanzierung des Nachbaus von zehn ehemaligen Internierungslagern. Nicht zuletzt aufgrund des Engagements der Bürgerrechtsbewegung wurde seit den 1960er Jahren eine umfassende wissenschaftliche und massenmediale Aufarbeitung betrieben. Dies und die symbolischen Akte der Regierung haben dazu beigetragen, dass die Thematik, im Unterschied etwa zu den emotional geführten Debatten um die japanische Kolonialgeschichte in der nord-westlichen Pazifikregion, nur noch vergleichsweise geringes Konfliktpotenzial in sich birgt. Aus diesem Grund sollte zunächst geklärt werden, wie man mit einem solchermaßen weitgehend abgeschlossenen Diskurs verfahren soll. Eine kritische Wiedereröffnung der Diskussion könnte einerseits den Verdacht der Geschichtsrevision oder gar des Revanchismus erwecken, andererseits birgt ein allzu rigoroser Verzicht auf weitere, insbesondere kontroverse Thematisierungen die Gefahr der Dogmatisierung nicht mehr hinterfragter Positionen. Und schließlich stünde ein allzu apodiktisches Diskursende einer fortwährenden Nutzbarmachung und Weiterentwicklung der historischen Erkenntnisse entgegen. Deshalb sollen im Folgenden zwei Quellen herangezogen werden, die eine Relektüre einiger Aspekte des Lagers aus zwei unkonventionellen Zeit-Perspektiven anstoßen könnten: Der erste Untersuchungsgegenstand ist ein US-amerikanischer Film, nämlich Linda Hattendorfs 2006 veröffentlichte Dokumention The Cats of Mirikitani (Hattendorf 2006). Hattendorf untersucht in einer sehr persönlichen Sichtweise die Auswirkungen der traumatischen Lagererfahrungen im Leben eines US-japanischen Zwangsinternierten. Es ist dies die Perspektive der Gegenwart auf weit entfernt zurückliegende Ereignisse, eine Spurensuche, die kaum noch erkennbare Zusammenhänge aufdeckt. Im starken Kontrast dazu steht die zweite Quelle, nämlich Ferdinand Grautoffs (1871-1935) Roman Bansai!1 (Grautoff 1908). Dieser fiktionale Text entstammt einer Zeit lange vor der historischen Begebenheit. Zudem wurde der Roman in einem zeitpolitisch-geografischen Rahmen verfasst und publiziert, der relevante Bezüge zu US-Minderheitenfragen der 1940er Jahre zunächst nicht nahelegen würde, nämlich im wilhelminischen Deutschland vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In einer Militärfiktion beschreibt der in Vergessenheit geratene deutsche Autor Ferdinand Grautoff die Vision eines japanisch-amerikanischen Konflikts, 1 | Grautoff transkribiert den japanischen Terminus Banzai, eine Glücksformel, die wörtlich ›zehntausend Jahre‹ bedeutet, etwas unorthodox mit Bansai.

Der Schrecken des Lagers 199

die sich dreieinhalb Jahrzehnte später in einigen Teilbereichen auf verblüffende Weise erfüllen sollte (etwa hinsichtlich des Überraschungscharakters des japanischen Angriffs). Erkenntnisrelevanter als diese realisierten Vorausahnungen sind jedoch gerade jene von der Geschichte nicht eingelösten Prophezeiungen, die vermeinen, die ethnisch-japanische Minderheit würde im Kriegsfalle gegen die US-Staatsmacht losschlagen. Genau diese rassistisch-xenophobe Vorstellung bildet nämlich die legitimatorische Grundlage der späteren Verfolgung und Internierung der japanischen Minderheit. Der vorliegende Aufsatz unternimmt also den Versuch, einen Blick auf die sehr späte Nachgeschichte und eine ebenso frühe Vorgeschichte der Ereignisse zu werfen, um in der historischen Distanz zwei etwas ungewöhnliche Sichtweisen auf die Ereignisse zu exemplifizieren.

The C ats of M irikitani – Das F ortwirken des L agers

im

L eben

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O pfer

Im Jahre 2006 hat dieser bemerkenswerte amerikanische Dokumentarfilm die Internierungsproblematik aktualisiert: The Cats of Mirikitani erzählt die Geschichte des gleichnamigen US-Amerikaners mit japanischen Wurzeln, der mitsamt seiner Familie die Schrecken des Lageralltags er- und überlebt hat. Ohne Ansicht der Person, der Staatsbürgerschaft und der individuellen politischen Überzeugungen und Loyalitäten wurde der damals junge Kunststudent Mirikitani aufgrund ethnischer Merkmale plötzlich aus jener Gesellschaft gerissen, als deren Bestandteil er sich gefühlt hatte und von jenem Staat verfolgt, der ihm längst Heimat geworden war.2 Der Film erzählt jedoch gleichzeitig noch eine weitere 2 | Daniels attestiert den US-Japanern jener Zeit gar einen »[…] reflexive patriotism [towards the USA], not untypical for insecure second generation Americans of almost any origin […]« (Daniels 1975: 11). In der Ausgrenzung der US-Japaner aus der amerikanischen Nation wird möglicherweise das ganze Elend des Nationenbegriffs bzw. dessen mangelnde Definitionsschärfe (oder bloß implizite Definition) ersichtlich, was auch durch Bhabhas bekannte Polemik gestützt werden könnte: »If the ambivalent figure of the nation is a problem of its transitional history, its conceptual indeterminacy, its wavering between vocabularies, then what effect does this have on narratives and discourses that signify a sense of ›nationness‹: the heimlich pleasures of the hearth, the unheimlich terror of the space or race of the Other; the comfort of social belonging, the hidden injuries of class; the customs of taste, the powers of political affiliation; the sense of social order, the sensibility of sexuality; the blindness of bureaucracy, the strait insight of institutions [...], the langue of the law and the parole of the people« (Bhabha 1990: 2).

200 Leopold Schlöndorff

Geschichte, nämlich jene des nunmehr betagten Straßenkünstlers und Obdachlosen Mirikitani, der sich trotz seiner prekären Lage zunächst gegen die Hilfe des Staates und dessen sozialen Einrichtungen wehrt. Die Filmemacherin wendet dabei eine diffizile narrative Strategie an: Sie lockt den Zuschauer zunächst auf eine falsche Fährte, indem als Interpretation für das Abwehrverhalten des alten Mannes, dessen Lagererfahrung zu diesem Zeitpunkt dem Zuseher noch nicht bekannt ist, vorerst der Gedanke nahegelegt wird, dass es sich um eine renitente Person handle. Das Verständnis des sozial-kulturellen Verhaltens wird hier von den gängigen, reduktionistischen Interpretationsmustern asozialen Verhaltens beeinträchtigt, die sich auf ökonomische oder individualisierte psychologische Erklärungen stützen. Beide Ansätze erfassen die Totalität der Lebenswelt, in der sich Mirikitani befindet, nicht. Folglich wird dieser implizite Deutungsvorschlag sukzessive dekonstruiert und verworfen. Der Film bietet nun eine weitere Lesart an, nämlich eine politisch-historische. Die Ursachen für die anfangs unverständliche Abwehrhaltung Mirikitanis deckt der Film schrittweise durch wiederholte Rückblenden in der Lebensgeschichte des Protagonisten auf. Der Plot geht allmählich auf der Zeitachse zurück, um das Schicksal des Straßenkünstlers Mirikitani von 2001 aus der Sicht des internierten Kunststudenten Mirikitani von 1942 fassbar zu machen. Das Verhalten des Protagonisten wird auf eine historische Ebene gehoben. Gleichzeitig behält der Film jedoch stets auch die zeitgenössischen politischen Entwicklungen im Auge: Die Handlung setzt in New York kurz vor den Terroranschlägen des Jahres 2001, die – zumindest scheinbar – zufällig Eingang in die Dokumentation finden, ein. So werden einzelne Revancheakte an der US-arabischen Bevölkerung gezeigt und diese lassen in Mirikitani die Erinnerung an das Erlebte wiedererwachen. Im Angesicht der zeithistorischen Ereignisse beginnt er über seine eigene geschichtliche Erfahrung zu reflektieren. Langsam wird deutlich, dass der alte Mann das Almosen nicht annehmen kann, da es von jenem Staat kommt, der ihn einst verfolgt hat. Wofür man den Künstler allerdings gewinnen kann, ist ein Kurs im Community Center, im Rahmen dessen er japanische Malerei vorstellt. Über die Form gelangt Mirikitani zum Inhalt seiner künstlerischen Arbeit, sprich zur Geschichte der Lagererfahrung, die auf diese Weise zur Sprache kommt. Der Mensch Mirikitani wird nun in seiner gesamten Existenz angenommen und nicht bloß auf den Sozialfall reduziert. In seinem Selbstverständnis ist Mirikitani nämlich zuallererst Künstler und im Zentrum seiner Kunst steht die jahrelange Internierung und der Schrecken des Lageralltags. Die Filmemacherin wendet eine Methodik der ständigen Rückführung zu den traumatischen Erlebnissen an, und zwar sowohl filmisch als auch sozial intervenierend. So gipfelt der Film konsequenterweise in der Rückkehr Mirikitanis ins Internierungslager im Rahmen einer Gedenkfahrt. Die Leistung des Films

Der Schrecken des Lagers 201

liegt in seinem weitsichtigen Zugang, der das Ende des Leids der Internierten nicht mit der Öffnung der Lagertore gleichsetzt. Die Rückkehr aus dem permanenten Ausnahmezustand des Lagers in die Normalität des Alltags erscheint als unmenschliche Belastung, unter der die Opfer ein Leben lang leiden. Die Internierung zerstört offensichtlich jegliche Ordnung, indem sie einen Raum jenseits der rechtstaatlichen Ordnung schafft, was im Kern auch Agambens Verständnis des Lagers entspricht: »Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt. Im Lager erhält der Ausnahmezustand, der vom Wesen her eine zeitliche Aufhebung der Rechtsordnung auf der Basis einer faktischen Gefahrensituation war, eine dauerhafte räumliche Einrichtung, die als solche jedoch ständig außerhalb der normalen Ordnung bleibt« (Agamben 2002: 177 f.). Das Vertrauen in die Rechtsordnung, aus der die Internierten ausgeschlossen wurden, lässt sich kaum wiederherstellen. Eine tiefe Spaltung zwischen den Opfern und dem Staat, von dem sie einst verfolgt wurden und in dem sie nach Ende der Internierung weiterleben sollen, wirkt fort, schreibt sich in die Biografien der Betroffenen ein, mit teils fatalen Konsequenzen. Sehr deutlich wird dies im Falle Mirikitanis, der in einer Notsituation vermeint, Leistungen des wohlfahrtlichen Rechtsstaats nicht annehmen zu können, da einerseits das Vertrauen in die Rechtstaatlichkeit zerstört ist und andererseits die Hinwendung zu jenem Staat die eigene Würde zu untergraben bedeutete. Die Überwindung der Einkerkerung im erlittenen Leid kann – wie der Film nahelegt – nur aufgebrochen werden, indem die schmerzvolle Rückkehr an die traumatischen Schauplätze der Verfolgung vollzogen wird. Öffentliches Gedenken und politische Symbole reichen für diese komplexe Aufarbeitung nicht aus, sie muss einhergehen mit einem sehr privaten Erinnern der individuellen Opfer (und nebenbei bemerkt wohl auch der Täter sowie der nachfolgenden Generationen). Die Relektüre des Lagers liegt bei Hattendorf nun also in der Darstellung der direkten und indirekten Konsequenzen der traumatisierenden Internierung im Leben einer konkreten Person. Dabei wird das geschichtliche Ereignis weder auf private Aspekte reduziert noch sentimentalisiert, sondern vielmehr ein komplexes Geflecht aus Historie und individueller Lebensgeschichte offengelegt. Obwohl eine glückliche Wendung für den Lebensweg Mirikitanis durchscheint – der Künstler schafft die Re-Integration in die Gesellschaft, überwindet die Obdachlosigkeit und erhält Anerkennung auf Ausstellungen in Japan und den Vereinigten Staaten –, verzichtet das Filmnarrativ auf eine dialektische Auflösung der Problematik: Die Lebensbewältigung des Protagonisten ist kein Durchbruch eines eindimensionalen Entwicklungsprozesses, sondern eine glückliche Fügung in einem kontingenten, ja mithin unwahrscheinlichen Gestrüpp an individuellen Begegnungen und Interaktionen. Der Lebensabend des alten Obdachlosen hätte auch

202 Leopold Schlöndorff

anders kommen können, ja kommen müssen, wäre da nicht die zufällige Intervention einer Einzelperson, hier der Filmemacherin, dazwischengekommen. Zwar scheint Mirikitani sein Trauma letztlich zu verarbeiten, doch bleibt deutlich der Subtext erkennbar, der besagt, dass wesentlich mehr Opfern dieses Glück versagt bleibt und das erfahrene Leid einem gelingenden Leben als schier unüberwindliche Hürde gegenübersteht. Der Film führt vor Augen, wie Geschichtsbewältigung über die wissenschaftliche und politische Aufarbeitung hinausgeht und Teil einer sehr persönlichen Lebensbewältigung wird. Das Lager lässt sich auf diese Weise in jeder einzelnen Lebensgeschichte der (überlebenden) Opfer wieder neu lesen. Der Film untersucht solchermaßen das Fortwirken eines historischen Ereignisses viele Jahrzehnte nach den eigentlichen Vorkommnissen. Zur praktischen Aufarbeitung bedarf es dazu freilich der wiederholten Rückkehr zu den Szenen und Schauplätzen der tragischen Geschichte. Für eine umfassendere theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik muss die Rückführung jedoch noch weiter gehen, nämlich tief hinein in das Entstehungsfeld der mit den Ereignissen verwobenen Diskurse und Praktiken. Dabei geht es selbstredend nicht um das Ausfindigmachen einfacher Ursache-Wirkungs-Relationen, sondern um das Zusammentragen jener Vielzahl an Bedingungen und Zufällen, die daran beteiligt sind, konkrete Geschichte zu ermöglichen. Gerade augenscheinliche Nebensächlichkeiten erscheinen hier als besonders interessant.

Bansai ! – E ine ›Vorgeschichte ‹

aus

D eutschland

Ein Dokument an der äußersten Peripherie des Diskurses ist der einleitend erwähnte Roman von Ferdinand Grautoff, Bansai! (Grautoff 1908), und der Text scheint gerade aufgrund seiner haarsträubenden Anlage zu einer neuen Lesart der Ereignisse beitragen zu können. Der Roman stammt aus dem Jahre 1908 und wurde von einem deutschen Autor verfasst. In der Romanhandlung greifen die US-Japaner den amerikanischen Staatsapparat von innen an, während die kaiserlichen japanischen Truppen von außen zuschlagen. Damit ist das über drei Jahrzehnte später von den USA ventilierte Bedrohungsszenario, das die Internierung der japanisch-stämmigen Minderheit legitimieren sollte, bereits in groben Zügen skizziert. Der Roman verbindet zwei rassistische Denkfiguren, die schematisch mit Hilfe der Rassismusmodelle von Benedict Anderson und Homi K. Bhabha beschrieben werden können: Bhabha versteht Rassismus als Mittel der Unterdrückung im Kolonialdiskurs: »The objective of colonial discourse is to construe the colonized as a population of degenerate types on the basis of racial origin, in order to justify conquest and to establish systems of administration and instruction« (Bhabha 1994: 70).

Der Schrecken des Lagers 203

Anderson räumt dem »colonial racism« (Anderson 1991: 152) ebenfalls breiten Raum ein, stellt diesen jedoch in einen weiteren Kontext innerer Unterdrückung. Bhabha kritisiert an Andersons Konzept eine vermeintliche Ahistorizität, gemeint ist eine zu große Distanz zum Kolonialdiskurs, was im Übrigen von dieser Seite auch Foucault unterstellt wird.3 Auf die verästelten Details dieser Kontroverse kann an diese Stelle nicht eingegangen werden, jedoch erscheinen die beiden Modelle – Rassismus als Legitimation für koloniale Kriege (Bhabha) einerseits und für innere Unterdrückung (Anderson) andererseits – durchaus vereinbar, insofern die Erfahrung des ethnisch Fremden insbesondere im Zeitalter globaler Migrationsströme im Inneren wie auch im Äußeren gemacht werden.4 Die nahtlose Ergänzung dieser beiden Grundformationen des Rassismus manifestiert sich auch nicht zuletzt in dem hier untersuchten Text. Im Roman befinden sich die Vereinigten Staaten in einem konventionellen Krieg mit dem Kaiserreich Japan und betreiben gleichzeitig die Auslöschung der US-Japaner im eigenen Territorium, da diese die Staatsmacht in einer Art Guerillakrieg destabilisieren. Es handelt sich um die schrecklichste Möglichkeit eines misslingenden Kulturkontaktes, nämlich den Krieg. Dieser spaltet sich in zwei Ausprägungen auf, die den beiden Grundformationen rassistischer Machtausübung entsprechen­, 3 | Die Kritik Bhabhas sei an dieser Stelle in Erinnerung gerufen: »If Foucault normalizes the time-lagged, ›retroverse‹ sign of race, Benedict Anderson places the ›modern‹ dreams of racism ›outside history‹ altogether. For Foucault race and blood interfere with modern sexuality. For Anderson racism has its origins in antique ideologies of class that belong to the aristocratic ›pre-history‹ of the modern nation. Race represents an archaic ahistorical moment outside the ›modernity‹ of the imagined community: ›nationalism thinks in historical destinies, while racism dreams of eternal contaminations … outside history‹. Foucault’s spatial notion of the conceptual contemporaneity of power-as-sexuality limits him from seeing the double and overdetermined structure of race and sexuality that has a long history in the peuplement (politics of settlement) of colonial societies; for Anderson the ›modern‹ anomaly of racism finds its historical modularity, and its fantasmatic scenario, in the colonial space which is a belated and hybrid attempt to ›weld together dynastic legitimacy and national community … to shore up domestic aristocratic bastions‹« (Bhabha 1994: 284). 4 | Blum unterstellt gar ein bewusstes Missverständnis Bhabhas: »Die Lektüre von Anderson erweckt allerdings den Eindruck, daß Bhabha Anderson mutwillig mißversteht, weil Anderson den Klassencharakter des Rassismus von [Arthur de] Gobineau betont (Rechtfertigung der Herrschaft des Adels über das Plebs) und somit im Rassismus eher eine Rechtfertigung für Unterdrückung im eigenen Land als für äußere Kriege sieht. Bhabha hingegen hat offenbar kein Verständnis für die innere Unterdrückung, sondern hat nur die koloniale Unterdrückung vor Augen« (Blum 2001: 22 [Fn 23]).

204 Leopold Schlöndorff

in den äußeren Kriegsschauplatz und den inneren Tatort der Eliminationspolitik. Diese ohnedies schon reichlich verwobene Ausgangssituation wird noch dazu um den erstaunenswerten Umstand erweitert, dass die Position des Autors auf den ersten Blick eine neutrale Außenperspektive ist, insofern es sich um einen Staatsbürger des wilhelminischen Deutschlands handelt. Dass Grautoff den imaginierten Konfliktparteien jedoch keineswegs äquidistant gegenübersteht, wird rasch sinnfällig. Der Journalist und gelegentliche Romancier betreibt mit seinem Machwerk nämlich selbst sehr explizite rassistische Propaganda. Deshalb erscheint es zunächst als notwendig, einen Blick auf den heute völlig unbekannten Autor zu werfen bzw. dessen Position näher zu bestimmen.

Ferdinand G rautoff und das wilhelminische D eutschland am Vorabend des E rsten W eltkriegs 5 Ferdindand Grautoff wurde 1871 in Lübeck geboren und war Jahrgangsgenosse von Heinrich Mann und damit auch Schulkamerad von dessen Bruder, Thomas Mann. Grautoff hat drei Romane verfasst, ein weiteres, unveröffentlichtes Manuskript ist in seinem Nachlass enthalten.6 Zwei der veröffentlichten Texte sind unter dem Pseudonym Seestern erschienen, lediglich der vorliegende Roman, Bansai!, vielsagend unter Parabellum.7 Obwohl seine Romane teils hohe Auflagen erzielten, war Grautoff vorrangig als Journalist in Leipzig tätig. Sehr aufschlussreich für die Stellung des Autors im wilhelminischen Deutschland scheint die Vorgeschichte seines Romans 1906, Zusammenbruch der Alten Welt (Grautoff 1905) zu sein. Es gibt Hinweise, wonach Grautoff mit der militärischen Führungsriege des Kaiserreichs in regem Austausch stand: Dem Militärhistoriker Lars U. Scholl ist es zu verdanken, dass eine Auftragsskizze für den Roman der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde (Scholl 2003: 223-242). Im Nachlass von Kapitänleutnant Carl Hollweg findet sich nämlich eine detail­reiche Anweisung von Großadmiral Alfred von Tirpitz. Tirpitz ist Mitbegründer der 5 | Biographische Angaben folgen Franke 1985. 6 | Umfassende Arbeiten am Nachlass von Ferdinand Grautoff werden derzeit von Stefan­ Noack, FU Berlin, betrieben. Der vorliegende Aufsatz verdankt ihm zahlreiche interessante Hinweise. 7 | Unter dem Pseudonym Seestern sind erschienen: 1906. Zusammenbruch der Alten Welt (1905) und Fu, der Gebieter der Welt (1925). Das Pseudonym Parabellum ist offensichtlich ein Zitat des römischen Spruchs »Si vis pacem para bellum«, sinngemäß »Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor«.

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deutschen kaiserlichen Hochseeflotte und wurde noch vor Kriegsende (1917) vorsitzendes Gründungsmitglied der deutschnationalen Vaterlandspartei, eine der maßgeblichen Unterstützerinnen der tragischen Figur Paul von Hindenburg. Im Zuge der Vorbereitungen zum Gedenkjahr 1906, in dem der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt gegen die napoleonischen Truppen im Jahre 1806 gedacht werden sollte, weist der Admiral an, eine Schrift zu verfassen, in der »[...] der Niedergang d[er] protestantisch[-]germanischen Welt in Europa« (Tirpitz, zit. nach Scholl 2003: 237) dargestellt wird. Und zwar trete nach Auffassung Tirpitz’ diese apokalyptische Vision dann ein, wenn sich Deutschland in einen Krieg mit England verstricken ließe, ohne zuvor die Marine entscheidend aufzurüsten. Es sei das Szenario einer aufreibenden Pattsituation zwischen Deutschland und Großbritannien, die den gesamten Kontinent in den Abgrund stürze, in Romanform zu bringen, fordert Tirpitz. Neben dem historischen Gedenken ist ein gewisser propagandistischer Eigennutz des Befehlshabers über die Seestreitkräfte unschwer zu erkennen. Diese Vermutung korreliert mit dem historischen Tirpitz-Plan, der eine gleichermaßen geheime wie massive Aufrüstung zur See beinhaltete, um zu einem späteren Zeitpunkt den präsumtiven Feind jenseits des Ärmelkanals mit rasch gewonnener Stärke zu überraschen und einzuschüchtern. Dem Geheimnischarakter der wilhelminischen Rüstungspläne mag es auch geschuldet sein, dass die Regierung die Umsetzung des Romanprojekts zunächst untersagte. Staatssekretär Richthofen und Reichskanzler Bülow mochten die »Ansicht nicht teilen«, dass die »unerwünschten [Neben-]Wirkungen einer derartigen Veröffentlichung«, die selbst Tirpitz eingeräumt hatte, »um der Abschreckung der öffentlichen Meinung in beiden Ländern vor einem kriegerischen Zusammenstoß« (Tirpitz, zit. nach Scholl 2003: 238) Genüge zu tun, in Kauf genommen werden sollten. Offiziell wurde das Vorhaben daraufhin ad acta gelegt, tatsächlich erschien eine minutiöse Umsetzung des Auftrages jedoch bereits kurze Zeit später, noch dazu entwickelte sie sich zu einem Bestseller: Zwischen 1905 und 1914 verkaufte sich der Roman nicht weniger als 144.000 Mal und war eines der meistgelesenen Werke seiner Zeit.8 Der Text wurde rasch in verschiedene Sprachen übersetzt, darunter ins Englische als »Armageddon 19-«9 (Seestern 1907). Das Vorwort zur englischen Ausgabe verfasste pikanterweise Tirpitz’ britisches Pendant, der vormalige Oberbefehlshaber der königlichen Marine von Großbritannien (bis 1901), 8 | Vgl. Franke 1985: 11. 9 | Der englische Titel »Armageddon 19-« für »1906. Zusammenbruch der Alten Welt« ist einerseits dem späteren Erscheinungsdatum (1907) geschuldet, andererseits aber auch den fehlenden Assoziationen des englischen Publikums zur Schlacht von Jena und Auerstedt 1806.

206 Leopold Schlöndorff

Edmund Freemantle. Der britische General geht dabei auch auf Spekulationen ein, wonach man womöglich Kaiser Wilhelm höchstpersönlich als Autor hinter dem Pseudonym Seestern vermuten dürfe. Tirpitz bezeichnete die letztendliche Publikation des untersagten Romanprojekts öffentlich als »höchst inopportun« (Tirpitz, zit. nach Scholl 2003: 238). Ob sich der Admiral kurzerhand der Weisung widersetzt hatte oder ob der Auftrag gegen seinen Willen durchgeführt wurde, lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr beantworten. Es ist also offen, ob Grautoff durch direkte Kontakte zur Militärspitze an die Romanskizze gelangt ist, oder ob er von undichten Stellen im Militärapparat profitierte. Jedenfalls bewegte sich der Autor im Zentrum des militärischen Diskursfeldes des deutschen Kaiserreichs. Drei Jahre nach diesem Erfolg legt Grautoff im Jahre 1908 eben den hier diskutierten Roman Bansai! vor, der einen japanisch-amerikanischen Konflikt beschreibt. Diesbezüglich sind keine militärischen Ordres bekannt, doch abermals begibt sich der Autor in eine politisch höchst brisante Diskussion, nämlich hinsichtlich der Kolonialpolitik Japans in der pazifischen Region. In und vor der Entstehungszeit des Romans reagiert Kaiser Wilhelm auf den raschen Aufstieg des japanischen Kolonialreichs mit einer dezidiert antijapanischen Politik, die er mit deftigen rassistischen Äußerungen unterlegt, wie unter anderem auch Ute Mehnert herausstreicht: »Regelmäßig beschimpfte der [deutsche] Kaiser die Japaner als ›gelbe Schurken‹, ›gelbe Affen‹, ›gelbe Teufel‹ und ›Aufgeblasene Puter! Gelb seid ihr! und gelb bleibt ihr!‹« (Kaiser Wilhelm II. zit. nach Mehnert 1995: 12). Die rassistische Agitation dient hier, ganz im Sinne der Analyse Bhabhas (vgl. oben), einschlägigen Kolonialinteressen. Am Vorabend des Russisch-Japanischen Krieges (1904-1905) schmiedete das wilhelminische Reich noch Bündnispläne mit dem zaristischen Russland, die von Moskau freilich zugunsten der russischfranzösischen Achse abgelehnt wurden. Dabei galt das nordostasiatische Interesse Wilhelms, neben der deutschen Kolonie Kiautschou, nicht zuletzt auch der Prävention einer befürchteten amerikanisch-japanischen Allianz, die eine Hegemonie zur See bedeutet hätte und der man – unter anderem mit Hilfe des oben erwähnten Tirpitz-Plans – versuchte entgegenzuwirken. Eine Möglichkeit bestand dazu in einer direkten Kooperation mit den Vereinigten Staaten. Nach dem Scheitern der deutsch-russischen Annäherung und der Niederlage Russlands gegen Japan (1905) »[...] erschien der deutschen Diplomatie eine zeitweilige deutsch-amerikanische Partnerschaft noch erstrebenswerter« (Mehnert 1995: 119). Vor diesem Hintergrund entwirft nun Grautoff sein Szenario eines japanischen Angriffs auf die USA, also eine radikale Antithese auf etwaige amerikanisch-japanische Allianzpläne, und liegt damit propagandistisch wohl abermals auf einer Linie mit der wilhelminischen Militär- und Außenpolitik. Folglich mag es nun auch verständlich erscheinen, weshalb die US-Amerikaner in Grautoffs Romanwelten einmal (deutsches) Feindbild sein können, wie im Roman 1906, um

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dann sogleich zum Identifikationsangebot für den deutschen Leser zu werden, wie eben im vorliegenden Roman Bansai!. Letztlich geht es immer um (vermeintliche) Partikularinteressen des wilhelminischen Deutschlands und nicht zuletzt um die von Tirpitz beschworene Wahnidee vom »[...] Niedergang d[er] protestantisch[-] germanischen Welt [...]« (Tirpitz, zit. nach Scholl 2003: 237). Nationale FreundFeind-Schemata sind in diesem Kontext letztlich recht beliebig austauschbar.

D er Feind

im I nneren

Ein signifikanter Unterschied tut sich hinsichtlich der beiden Texte allerdings in der Form der Bedrohung der ›weißen Rasse‹ auf: Während in 1906 noch klassische Völkerschlachten toben, wandelt sich das Bild des Krieges in Bansai!: Der Feind lauert im Inneren. Wie schon kurz angerissen, werden die Vereinigten Staaten nicht bloß von außen durch die Truppen des Tennō angegriffen, sondern auch und vor allem von den US-Japanern im Inneren. Hier verschmelzen sehr deutlich zwei Bedrohungsbilder, die den beiden eingangs vorgestellten Rassismuskonzepten von Bhabha und Anderson entsprechen, also Rassenpropaganda im Dienste äußerer (kolonialer) Kriegshandlungen und innerer Unterdrückungspolitik. Im Roman wird die ethnische Minderheit als »geschlossener japanischer Truppenkörper« (Grautoff 1908: 49) innerhalb des amerikanischen Territoriums dargestellt, der vom Tennō unter dem Deckmantel friedlicher Absichten eingeschleust worden war, um über Nacht überraschend das Gastland anzugreifen. Es handelt sich im weitesten Sinne also um eine Art Trojanisches Pferd. Diese paranoide Vision wird um den absurden Aspekt erweitert, dass es sich bei den Migranten um Soldaten handeln solle: »Es ist uns häufig gesagt worden, daß jeder an der Pacificküste landende über die kanadische und mexikanische Grenze kommende Japaner ein vollkommen ausgebildeter Soldat sei« (Grautoff 1908: 49). Die Beobachtung Foucaults, wonach im Dienste der Bio-Macht ein Volk als »Gesellschaftskörper« (Foucault 1999: 283) gedacht wird, innerhalb dessen mit Hilfe rassentheoretischer Spekulationen Fremdkörper ausgemacht werden können, wird hier überdeutlich erfüllt, eben als feindseliger »Truppenkörper« (Grautoff 1908: 49). Auf den ersten Blick erscheint es als widersprüchlich, dass im Kampf der Weißen gegen die vermeintliche ›Gelbe Gefahr‹ auch gegen den sogenannten »slavischen und italienischen Pöbel« (Grautoff 1908: 79) vorgegangen wird. Bei genauerer Betrachtung fungiert hier jedoch das Rassenkonzept als bloßes Legitimationsnarrativ, als Vorwand für eine Form der Machtausübung, die einen gänzlich andern Zweck verfolgt, als es vorgibt: Es handelt sich nämlich in letzter Konsequenz stets um die Ausübung von Bio-Macht,

208 Leopold Schlöndorff »[...] eine nicht militärische und kriegerische Begegnung, viel mehr eine Beziehung biologischen Typs: ›je mehr niedere Gattungen im Verschwinden begriffen sind, je mehr anormale Individuen vernichtet werden, desto weniger Degenerierte gibt es in der Gattung, desto besser werde ich – nicht als Individuum, sondern als Gattung – leben, stark sein, kraftvoll sein und gedeihen‹« (Foucault 1999: 296).

Ein solcher Konflikt sprengt folglich den Rahmen der Vorstellung konventioneller Kriegsführung: »Das konnte doch kein Krieg sein. Ein Krieg fing am Ende des Landes an, nicht mitten drinnen« (Grautoff 1908: 49). Indem sich der ethnisch definierte Kampf von einem äußeren Kriegsgeschehen auf einen Kampf im Inneren verlagert, erweitert er den bloßen Zweck der Vermeidung des bereits mehrfach zitierten »Niedergang[s] d[er] protestantisch[-]germanischen Welt« (Tirpitz, zit. nach Scholl 2003: 237) und verweist bereits auf sozialdarwinistisch verbrämte Phantasien der ›Höherzüchtung‹ einer vermeintlichen Rasse, ein Konzept, das insbesondere für die weitere Geschichte Deutschlands nicht unwesentlich werden sollte. Wichtig ist dabei, abermals nach Foucault, die Korrelation zwischen der Vernichtung des Anderen und der Entwicklung des Eigenen: »Der Tod des Anderen bedeutet nicht einfach mein Überleben in der Weise, daß er meine persönliche Sicherheit erhöht; der Tod des Anderen, der Tod der bösen Rasse, der niederen (oder degenerierten oder anormalen) Rasse wird das Leben im allgemeinen gesünder machen; gesünder und reicher« (Foucault 1999: 296).

Dazu bedarf es jedoch erst der Identifikation des Fremden inmitten des Eigenen, was im Roman angesichts der »mongolische[n] Allerweltsunschuldsmiene« (Grautoff 1908: 3) des Feindes mit allerlei Schwierigkeiten verbunden ist. Oder in den Worten von Foucault: »Die erste Funktion des Rassismus liegt darin, zu fragmentieren, Zäsuren innerhalb des biologischen Kontinuums, an das sich die Bio-Macht wendet, vorzunehmen« (Foucault 1999: 295). Doch im Roman wird dem »instinktiven Empfinden« (Grautoff 1908: 3) des umsichtigen Soldatenhelden Harryman zunächst kein Glaube geschenkt. Die ›Gelbe Gefahr‹ wird auf die leichte Schulter genommen, auch wenn man sich an das eingangs zitierte zoologisch-rassistische Schmäh-Vokabular Kaiser Wilhelms anlehnt (vgl. oben): »Himmel Herrgott, noch einmal! Lassen Sie mich doch mit Ihren verdammten gelben Affen in Ruh!« (Grautoff 1908: 3). Der Leser genießt mit seiner Identifikationsfigur einen Informationsvorsprung, der ihn auf die erlösende Klimax ausrichtet, den als unvermeidlich erachteten Pogrom: »Über den rauschenden Strom von Menschen fegte unablässig in kurzen Stößen wie ein Sturmwind der heisere Schrei der Volksleidenschaft: Nieder mit den Gelben! Nieder mit den Japanern! Hoch das Sternenbanner!« (Grautoff

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1908: 268). Foucaults Diktum vom »Gesellschaftskörper« (Foucault 1999: 283) findet sich in der Pogrombeschreibung sehr konkret und organisch dargestellt wieder: »So schlug der glutheiße Atem dieser von jähem Rachedurst erfassten Massen wie aus einer keuchenden Riesenlunge immer von neuem empor« (Grautoff 1908: 68). Die fortschreitenden Maßnahmen zur Vernichtung der japanischen Minderheit gehen im weiteren Verlauf des Romans deshalb auch mit einer Homogenisierung der amerikanischen Mehrheitsbevölkerung einher. Exemplifiziert wird diese Nobilitierung der Weißen durch einen klischeegeladenen Arbeitskampf, bei dem erst eine Betriebsabsiedlung zum Verlust amerikanischer Arbeitsplätze führen sollte, ehe die Konfliktparteien unvermutet versöhnt werden. Obwohl der Erzähler selbst nicht restlos von der eigenen Sozialromantik überzeugt scheint – »Das ist wie der fünfte Akt in einem schlechten Stück auf einem Vorstadttheater« (Grautoff 1908: 80) – vermag der heldenhafte Tod des auf Ausgleich bedachten Unternehmersohnes die Klassenunterschiede aufzuheben und die amerikanischen Arbeitsplätze als patriotischen Beitrag im Kampf gegen die Japaner zu retten. Es folgen zahlreiche weitere Allianzen, selbstredend stets unter dem Gesichtspunkt des Phantasmas ›Rassenkrieg‹, etwa in der Pazifik-Region mit Australien und Kanada, aber unvermeidlicherweise auch mit einzelnen deutschen Soldaten, die im weiteren Fortgang der Romanhandlung als Freiwillige wesentlich am Kriegsglück der Amerikaner Anteil haben. Die Deutschen werden hier – wohl wenig überraschend – als gleichermaßen verlässliche wie kampffreudige Partner dargestellt. Ein deutscher Offizier etwa gibt, gefragt nach seinen Beweggründen, sich am fernen amerikanischen Kriegsschauplatz zu betätigen, an: »Weil ich hier kämpfen wollte, weil ich nach acht Jahren Kasernendienst einmal in meinem Leben die Kugeln pfeifen hören wollte, einmal den Krieg sehen, ihn anders als aus Büchern kennen lernen wollte. Und weil ich gegen Japan fechten wollte« (Grautoff 1908: 217). Unschwer zu erahnen steuert das Geschehen auf ein umfassendes happy ending zu. Die amerikanischen Siegesfeiern werden, der neu formierten deutsch-amerikanischen Freundschaft entsprechend, mit deutscher Kriegslyrik zelebriert.10 10 | Es handelt sich um ein Gedicht von Emmanuel Geibel, das anlässlich des deutschfranzösischen Krieges verfasst wurde. Dies ist nur eine von vielen Anspielungen auf historische und zeitgeschichtliche Diskurse der Heimat des Dichters, auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann. Geibels Lyrik fügt sich, von Grautoff ungekennzeichnet wiedergegeben, in seiner sprachlichen Plattheit jedenfalls nahtlos in die holprige Prosa des Haupttextes ein: »Nun lasst die Glocken von Turm zu Turm / Durchs Land frohlocken im Jubelsturm! / Des Flammenstoßes Geleucht facht an! / Der Herr hat Großes an uns getan. / Ehre sei Gott in der Höhe« (Geibel nach Grautoff 1908: 276).

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Die platte Direktheit, mit der der Roman sein politisches Programm entfaltet, macht ihn aus kulturwissenschaftlicher Perspektive nun zu einem besonders anschaulichen Untersuchungsobjekt. Im Folgenden konzentriert sich der Aufsatz auf drei Aspekte, die aus der Perspektive der nachfolgenden historischen Ereignisse besonders fruchtbar erscheinen: (1) Zum Ersten ist dies die Figur des Feindes im Inneren, auf die schon mehrfach Bezug genommen wurde und die als zentral heraussticht. Grautoff antizipiert damit nicht bloß neue Formen der Kriegsführung, sondern auch die im 20. Jahrhundert so tragisch verlaufende Geschichte der Verfolgung von Minderheiten im eigenen Land, wenn seine eigene Haltung dazu auch erschreckend affirmativ ist. Fremdheit und Feindschaft von Minderheiten, diese beiden Charakteristika verdichten sich in der Formel des Enemy Aliens,11 die als quasi rechtfertigender Terminus für die Verfolgung der US-Japaner herhalten musste. Die Vorstellung des Feindes im Inneren sollte zu einer wiederkehrenden Figur in der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts werden.12 Exakt ein Jahrzehnt vor Grautoff hat das Modell des Angriffs einer feindlichen Macht aus dem Inneren H.G. Wells, freilich unter umgekehrten Vorzeichen, in seinem Science-Fiction-Roman The War of the Worlds (Wells 1898) eindrucksvoll vorgestellt: Auch hier lauert der Feind dort, wo man ihn am wenigsten vermuten würde, im eigenen Territorium. Die gängige Interpretation, wonach es sich bei Wells’ Roman um eine Kolonialparodie handle, in der »die dialektische Symbolik der Marswesen« (Faulstich 1982: 221) eine gleichermaßen ausschweifende wie eingängige »guilt fantasy« (Jameson 2005: 265) des viktorianischen Kolonialismus beschreibt, erscheint die Gesamtanlage des Narrativs nur halb zu erfassen, nämlich aus der oben bereits mehrfach erwähnten Perspektive Bhabhas hinsichtlich Rassismus als Kolonialphänomen und eben nicht aus der komplementären Sichtweise Andersons im Sinne von Rassismus als Unterdrückungssystem im 11 | Enemy Alien war die offizielle Bezeichnung für die US-japanische Minderheit in den Vereinigten Staaten während des japanisch-amerikanischen Krieges (1941-1945), die auch und vor allem auf amerikanische Staatsbürger mit japanischen Wurzeln angewandt wurde. Vgl. dazu etwa Kashima 1991: 52-56. 12 | Abseits ethnischer Konflikte wurde die Formel abgewandelt eingesetzt, etwa in einem der letzten gewaltsamen Klassenkämpfe Europas, dem Bergarbeiterstreik in Großbritannien (1984-1985). Premierministerin Margaret Thatcher nannte die mächtigen Gewerkschaften ›enemy within‹: »We had to fight the enemy without in the Falklands. We always have to be aware of the enemy within, which is much more difficult to fight and more dangerous to liberty,« Margaret Thatcher speech to the backbench 1922 committee, July 1984. Zit. nach: http://www.theguardian.com/uk-news/2013/aug/01/margaret-thatchertrade-union-reform-national-archives (Zugriff am 11. 1. 2014).

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Inneren einer Gesellschaft. Was bei Wells offensichtlich allzu leicht übersehen werden kann, wird bei Grautoff, wohl nicht zuletzt einem gewissen literarischen Unvermögen geschuldet, umso deutlicher: Die eigentliche Gefahr ist nicht der Angriff von außen, sondern die Destabilisierung von innen. Der klassische Krieg (guerra) wird vom modernen Klein- und Partisanenkrieg (guerilla) abgelöst, wobei – und das macht den Roman bemerkenswert – sich bei Grautoff die beiden Formen bewaffneter Auseinandersetzungen kreuzen und ergänzen. Die Handlungsmaxime angesichts der inneren Bedrohung ist, und hier schlägt wohl die unfreiwillige Komik in Grautoffs Roman in historische Tragik um, nichts anderes als der Gewaltausbruch gegen die als feindlich definierte Minderheit.13 (2) Der zweite und wohl am deutlichsten ersichtliche kontextuelle Zusammenhang liegt in der Situierung des Romans innerhalb des Diskursfeldes der ›Gelben Gefahr‹, also einer Ausprägung des Rassismus, der asiatische Bedrohungsbilder für die westliche Zivilisation imaginiert. Zu erwähnen sind an dieser Stelle die Hetzschriften des Historikers Carl Christian Spielmann (1861-1917): »Die Unzweckmäßigkeit europäischer Japan-Sympathie« wird durch die »Gelbe Gefahr, die uns von Asien droht« (Spielmann 1914: 311) veranschaulicht: »Die Gelbe Gefahr ist Japan, ist der ›Nipponismus‹, der Weltmachtsdünkel, der nicht nur die Devise ›Asien den Asiaten!‹ sondern ›Den Gelben die Welt‹ auf seine blutlohende Sonnenfahne geschrieben hat« (Spielmann 1914: 327). Sebastian Conrad erachtet den »Topos ›der Gelben Gefahr‹« als Produkt der frühen Globalisierung, als »das Phänomen der Mobilität um 1900 durch das Konzept der ›Rasse‹ überlagert wurde« (Conrad 2006: 29). Ob das Konzept der Globalisierung bereits für die Erklärung der rassistischen Phänomene des frühen 20. Jahrhunderts tauglich ist, erscheint hinterfragbar, jedenfalls handelt es sich bei dem Begriff der ›Gelben Gefahr‹ selbst um einen nahezu global gebrauchten, wie auch Gollwitzer in seiner Begriffsgeschichte argumentiert. Seiner Forschung folgend sind die Hinweise sehr dicht, dass die ›Gelbe Gefahr‹ als »[…] Schlagwort 1895 westlich des Rheins [in Frankreich] entstanden ist und sich von dort ausgebreitet hat« (Gollwitzer 1962: 46). Danach kommt es zu einer regen Verwendung der Kampfvokabel in Deutschland. »In englischen und amerikanischen Blättern läßt sich ›Yellow peril‹ erst seit 1900 nachweisen […]. In den folgenden Jahren findet man die Phrase unzählige Male in den englischsprachigen Organen diesseits und jenseits des Atlantischen Ozeans […]« (Gollwitzer 1962: 46). In 13 | Es ist dies eine Form der Machtausübung, die das Verhältnis von Krieg und Politik umkehrt: Krieg erscheint nicht mehr als politisches Mittel, sondern Politik als kriegerisches, oder in den Worten von Foucault: »Ab dem Moment würde man die Aussage von Clausewitz umkehren und sagen, daß die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist« (Foucault 1999: 26).

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Bezug auf Russland ist Gollwitzer vorsichtiger und spricht hier bloß von »russischen Stimmen zur ›gelben Gefahr‹«, insofern die betreffende ostasiatische Region, trotz der Feindseligkeiten im Zusammenhang mit dem Russisch-Japanischen Krieg (1904 – 1905), »nur vorübergehend in den Vordergrund des Interesses« getreten war (Gollwitzer 1962: 95). Conrad weist darüber hinaus darauf hin, dass selbst in Asien Inhalte der Rhetorik von der ›Gelben Gefahr‹ übernommen wurden, häufig in Zusammenhang mit antisemitischen Klischees (und im vorliegenden Fall in Bezug auf China, nicht Japan):14 »Der siamesische König Vajiravudh etwa verlieh in seinem sinophoben Pamphlet über ›Die Juden des Ostens‹ im Jahre 1914 der verbreiteten Ansicht Ausdruck, derzufolge‚ die Chinesen weder Moral noch Gnade kennen, wenn es ums Geld geht«.15 Die historische Internierung der ethnisch-japanischen Minderheit in den Vereinigten Staaten erscheint solchermaßen jedenfalls nicht als spontane Reaktion auf einen überraschenden Angriff, vielmehr wurde der Boden für diese Politik der Verfolgung in einem rassistischen Diskurs aufbereitet, der sich über mehrere Kontinente und Jahrzehnte erstreckt hatte. 14 | Der Terminus ›Gelbe Gefahr‹ beinhaltet in seiner charakteristischen Phraseologie die Tendenz der Gleichsetzung der (nord-)ostasiatischen Völker (Chinesen, Koreaner, Japaner) durch das Attribut ›gelb‹, das auf eine (vermeintliche) gemeinsame Hautfärbung der drei Nationen verweist. Roger Daniels versteht die Japanfeindlichkeit in den USA des frühen 20. Jahrhunderts als »[…] ein an die anti-chinesische Lokomotive angehängter Wagen« (Daniels, zit. nach Chacon/Davis 2007: 36). In Grautoffs Roman werden Übergriffe auf Chinesen, also an einer völlig anderen Minderheit, die in der Romanhandlung zunächst nichts mit der japanischen Aggression zu tun hatte, damit legitimiert, dass man »einen Japaner doch nicht auf den ersten Blick von einem Chinesen unterscheiden« (Grautoff 1908: 33) könne. Auch Gollwitzer hat auf die Vorstellung eines asiatischen »Panmongolismus« (Gollwitzer 1962: 116 f.) hingewiesen. Und bereits Karl Kraus hat diese Ignoranz Jahrzehnte davor in den Letzten Tagen der Menschheit in jener berühmten Szene ironisiert, in der sich die Pogromstimmung des Ersten Weltkriegs am Feind Japan beinahe an unbeteiligten Chinesen entladen hätte: »Alle Kineser san Japaner!« (Kraus (1964 [1926]): Kap III, 1. Akt). 15 | Selbst in Japan waren diese antisemitisch-rassistischen Zerrbilder geläufig, etwa wenn es um antichinesische Propaganda ging. Conrad zitiert den Philosophen Watsuji, der im einschlägigen Jargon »[…] die Chinesen und Juden in ihrem merkantilen Geist und der Privilegierung des Geldscheffelns vereint sah. Watsuji bezeichnete die Chinesen als ›noch jüdischer als die Juden selbst‹« (Conrad 2006: 197). Im Erscheinungsjahr von Bansai!, im Jahre 1908, zeichnet Alexander von Peez in seiner Abhandlung Gelbe Gefahr in der Geschichte Europas ein Bedrohungsbild, das historisch von Hunnen und »Turaniern« (ein Begriff aus der Terminologie Rudolf Steiners) bis in die Gegenwart reiche (Peez 1908).

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(3) Der dritte bemerkenswerte Punkt liegt in der genuin deutschen Perspektive des Romans. Dass die oben skizzierte Denkbewegung in Deutschland vollzogen wird, darf nicht außer Acht gelassen werden. Wir befinden uns zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bloß zweieinhalb Jahrzehnte vor Beginn des größten Verbrechens an einer ethnisch definierten Gruppe in der Geschichte, noch dazu in nicht allzu großer Entfernung zu den militärischen und politischen Eliten des Landes. Für eine Relektüre der historischen Ereignisse an der US-Westküste würde dies nun bedeuten, dass das amerikanische Internierungslager (für US-Japaner) aus seinem eng umgrenzten geografisch-historischen Rahmen gelöst und als eine von vielen Ausformungen, nicht bloß eines (nahezu) weltumspannenden Diskurses (vgl. oben), sondern auch einer globalen Praxis der Ausgrenzung und Verfolgung ethnischer Minderheiten im 20. Jahrhundert verstanden wird. Das historische Faktum des amerikanisch-japanischen Krieges wird auf diese Weise in Zusammenhang mit der Internierungspolitik zwar nicht negiert, jedoch deutlicher als bloßer Begleitumstand einer weitreichenderen Verfolgungspraxis identifiziert und expliziter als mögliche Rechtfertigung für das begangene Unrecht an der ethnisch-japanischen Minderheit ausgeschieden.16

Z usammenfassung

und

Ausblick

Der Nutzen einer weiteren Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte der US-Japaner scheint vor diesem Hintergrund klar festzustehen. Insbesondere die Erforschung der Auswirkungen des Traumas auf die Lebensgeschichten der Betroffenen sollte in künftigen Arbeiten stärkere Berücksichtigung finden. Methodisch entscheidend erscheint, dass die Untersuchungen der Geschichte der US-japanischen Minderheit – auch wenn sie aus der Außenperspektive erfolgen – stets vorrangig die Gelegenheit für eine Selbstartikulation der Betroffenen bieten, wie dies Hattendorf idealtypisch durchführt. Ansonsten besteht die Gefahr, dass aus einer überlegenen Position des nicht betroffenen Dritten Paternalisierungstendenzen oder orientalistische Fehldeutungen durchschlagen. Eine der Leistungen Hattendorfs ist, dass sie die oben beschriebene, anfängliche Undurchschaubar16 | Nicht bedeuten darf die Erweiterung der Diskussion um die komparative internationale Perspektive, insbesondere in Bezug auf das oben angeführte Beispiel des (deutschen) Antisemitismus, dass relativierende Vergleiche zwischen der Internierung der US-Japaner und der massenhaften Ermordung von Juden in den Vernichtungslagern angestellt werden. Ebenso unstatthaft erscheinen Aufrechnungen mit anderen Kolonialthematiken im Pazifikraum jener Zeit.

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keit des Verhaltens des zunächst beratungsresistenten japanisch-stämmigen Obdachlosen in New York eben gerade nicht mit einer vermeintlichen Hermetik der Herkunftskultur in Verbindung bringt. Mirikitani ist im Filmnarrativ nicht der geheimnisvolle Andere, dessen kulturelle Codes unlesbar seien. Es wäre wünschenswert, wenn die Forschung diesen Ansatz stets ebenso konsequent berücksichtigen würde.17 Ethnische Verfolgung, und darum handelt es sich bei der Internierung der US-Japaner zweifelsohne, kann nur aus einer fundierten Rassismusforschung heraus verstanden werden. Im massenmedialen Kontext beschränkt sich die Rassismusdebatte nur allzu häufig auf Auseinandersetzungen im Feld der politischen Korrektheit und konzentriert sich auf formale Aspekte wie Sprachregelungen und ideologische Codes bzw. auf den normativen Anspruch derselben. Im historischen Diskurs geht es hingegen um die Beschreibung geschichtlicher Phänomene, die auf theoretischer Ebene in Erklärungsmodelle münden sollten und ein vertieftes Verständnis der Ereignisse ermöglichen. In Bezug auf die Geschichte der Verfolgung der US-Japaner erscheint hier eine umfassendere Erforschung der Figur des Feindes im Inneren erforderlich. Des Weiteren wurde vorgeschlagen, die Internierungsgeschichte stärker aus der Perspektive des (nahezu) globalen Diskurses von der ›Gelben Gefahr‹ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu untersuchen. Frühe Textzeugen, wie der hier zitierte deutsche Roman Bansai!, sollten mit zeitlich näher an den historischen Ereignissen liegenden Quellen, selbstredend auch und vor allem amerikanischer Herkunft, verglichen werden, um die Geschichte des Diskurses nachvollziehbar zu machen und das Umschlagen der rassistischen Rhetorik in die Praxis der ethnischen Verfolgung deutlicher herauszuarbeiten.18 Dass der Roman ein 17 | Weniger konsequent, oder der Selbstartikulation gar entgegen gerichtet, sind zahlreiche europäische Versuche über ›fremde‹ Kulturen, darunter auch durchaus rezente, poststrukturalistische Ansätze, wie Bhabha überzeugend kritisiert: »Montesquieu’s Turkish Despot, Barthes’ Japan, Kristeva’s China, Derrida’s Nambikwara Indians, Lyotard’s Cashinahua pagans are part of the strategy of containment where the Other text is forever the exegetical horizon of difference, never the active agent of articulation. The Other is cited, quoted, framed, illuminated, encased in the shot/reverse-shot strategy of a serial enlightenment. Narrative and the cultural politics of difference become the closed circle of interpretation. The Other loses its power to signify, to negate, to initiate its historic desire, to establish its own institutional and oppositional discourse« (Bhabha 1994: 31). 18 | Vereinzelte, grob verharmlosende Darstellungen der Internierungspraxis sind auch zu nennen und scharf zurückzuweisen: Bruce Elleman, Professor am U.S. Naval War College, vertritt eine Einschätzung, die als Negativbeispiel zu nennen ist: »In sharp contrast to earlier portrayals of the war relocation centers as an expression of U.S.-racism or anti-

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deutschsprachiger Text und im erweiterten Umfeld der wilhelminischen Militärelite entstanden ist, kann dazu anregen, den deutschen Beitrag zum Diskurs der ›Gelben Gefahr‹ intensiver zum Gegenstand zu machen. Große Verdienste hat in diesem Zusammenhang Gollwitzer (1962) erworben. Da seine Forschung auch bereits wieder einige Jahrzehnte zurückliegt, wäre eine Aktualisierung wünschenswert.19 Gleichzeitig wird durch die internationale Perspektive die Einbettung der Verfolgungsgeschichte an der amerikanischen Westküste als bloßer Teil einer globalen Praxis verständlicher. Da im vorliegenden Aufsatz nur einzelne Stichproben in einem weiten Diskursfeld gezogen werden konnten, erscheint eine vertiefte diskursanalytische Untersuchung eines breiteren Quellenmaterials erforderlich. Vor diesem Hintergrund wäre eine modifizierende Erschließung der Internierungsgeschichte nicht bloß legitim, sondern überaus empfehlenswert. Die politischen Gesten des offiziellen Amerika sind gewiss wohltuend und der Versöhnungsprozess ist Japanese­ anger, this study has attempted to show their purpose and relatively humane administration. This generally good treatment was provided under the trying conditions imposed by a world war fought by an enemy which abused its American internees and prisoners as a matter of policy, not to mention the civilian populations in the countries it invaded and occupied« (Elleman 2006: 145). Dürftig kaschierter Revanchismus vermengt sich hier mit dem Versuch, die Nationen (Nord-)Ostasiens gegeneinander auszuspielen. Ellemans abschließendes, hanebüchenes Resümee verdeutlicht jedoch geradezu idealtypisch, wie notwendig eine weitere Erforschung und Verbreitung der Nachgeschichte der Lagerverbrechen ist: »Thus, according to the statistical evidence collected both by the U.S government and by private sources, the overwhelming majority of Japanese-Americans interned in the war relocation centers elected to remain in the U.S. after the war, or later decided to return to the U.S. from Japan. In spite of whatever criticism they [the JapaneseAmericans] might have voiced against the war relocation centers and their internment experience during World War II, this statistic alone shows where the Japanese-American community as a whole felt the brightest future for themselves and their descendents would lie« (Elleman 2006: 147). Ein Diskursteilnehmer, der die Kritik, die er zu widerlegen versucht, nicht einmal benennen kann (»whatever criticism«) stellt sich wohl selbst außerhalb jeglichen Selbstanspruchs der scientific community. Die Zählebigkeit falscher Überzeugungen lehrt jedoch, dass diesen Behauptungen, so absurd sie auch sein mögen, dennoch entgegengetreten werden muss. 19 | Anzuführen wären in diesem Zusammenhang auch Gerd Kaminski (2007) und der bereits oben erwähnte Band von Ute Mehnert (1995), sowie eine kommentierte Bildersammlung von Sepp Linhart (2005). Die bisher zu diesem Thema bekannten Arbeiten sind phraseologisch, ideologiekritisch bzw. ideengeschichtlich sowie sozialhistorisch orientiert, während eine umfassende diskursanalytische Abhandlung noch aussteht.

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ebenso unzweifelhaft weit fortgeschritten. Eine partielle Neubetrachtung der historischen Ereignisse mag insofern das Risiko eines Aufbrechens alter Wunden in Teilbereichen durchaus in sich bergen. Eine umfassende Bewältigung von Geschichte bedarf jedoch nicht bloß der emotionalen Aussöhnung, sondern auch eines eingehenden Verständnisses der entsprechenden Ereignisse. Und dafür wird die ständige Relektüre des Lagers dann wohl doch zu einem lohnenden Unterfangen.

L iteratur Primärquellen Hattendorf, Linda (2006): The Cats of Mirikitani. Film, USA. Parabellum [d.i. Ferdinand Grautoff] (1908): Bansai!, Leipzig. Seestern [d.i. Ferdinand Grautoff] (1905): 1906. Der Zusammenbruch der Alten Welt, Leipzig. Seestern [d.i. Ferdinand Grautoff] (1907): Armageddon 19-, London. Seestern [d.i. Ferdinand Grautoff] (1925): Fu, der Gebieter der Welt, Leipzig. Sekundärliteratur Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. Anderson, Benedict (21991): Imagined Communites. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London. Bhabha, Homi K. (1990): »Introduction: Narrating the Nation«, in: Ders. (Hg.): Nation and Narration, London, S. 1-7. Bhabha, Homi K. (1994): The Location of Culture, London/New York. Blum, Volkmar (2001): Hybridisierung von unten. Nation und Gesellschaft im mittleren Andenraum, Münster. Chacon, Justin Akers/Davis, Mike (2007): Crossing the Border. Migration und Klassenkampf in der US-amerikanischen Geschichte, aus dem Englischen von Matthias Becker und Hanna Schröder, Berlin. Conrad, Sebastian (2006): Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München. Daniels, Roger (1975): The Decision to Relocate the Japanese Americans, Philadelphia/New York/Toronto. Elleman, Bruce (2006): Japanese-American Civilian Prisoner Exchanges and Detention­Camps, 1941-45, New York. Faulstich, Werner (1982): Medienästhetik und Mediengeschichte. Mit einer Fallstudie zu »The War of the Worlds« von H. G. Wells, Heidelberg.

Der Schrecken des Lagers 217

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Bushidō als Intertext? Lafcadio Hearn und Nitobe Inazō Thomas Pekar

1. D er

westliche

Japan -D iskurs

Nach der brutalen militärischen Macht in Gestalt der mit hochmodernen Kanonen bestückten Kriegsschiffe des Commodore Perry, die 1853 vor Japan auftauchten und die Öffnung des seit den 1630er Jahren so gut wie abgeschlossenen Landes erzwangen,1 sahen sich die Japaner kurz danach einer anderen, sprich diskursiven Macht ausgeliefert:2 Texten westlicher Autoren (und einiger weniger Autorinnen) nämlich, die Japan nicht so sehr ›beschrieben‹ als vielmehr, wie dies in heutiger Terminologie heißt, ›erfanden‹ bzw. ›konstruierten‹.3 Dieser westliche (im Wesentlichen amerikanisch-europäische) Diskurs, den man vielleicht den westlichen Japan-Diskurs nennen könnte4 (in Abgrenzung von den zumeist von Japanern selbst geführten Japaner-Diskursen/nihonjin-ron),5 setzt sich u. a. aus Reiseberichten, Tagebüchern, Briefen, politischen, philosophischen, 1 | Als ›schwarze Schiffe‹ (kurofune) haben sie bis heute eine traumatische Spur im kollektiven japanischen Gedächtnis hinterlassen. 2 | Dies bedeutet nicht, dass es zuvor keine westlichen Texte über Japan gab (vgl. dazu die Textsammlung: Kapitza 1990). Mit der Öffnung des Landes entstand jedoch eine neue Qualität, insoweit Japan als mögliches ›koloniales Objekt‹ – ganz unabhängig von der Tatsache, dass Japan niemals kolonisiert wurde – in manifeste (z. B. politische, ökonomische oder wissenschaftliche) Interessenssphären der westlichen Staaten einrückte. 3 | Seit Benedict Anderson (1983) ist die narrative Konstruktion solcher Begriffe wie ›Nation‹ und ›Volk‹ zu einem kulturwissenschaftlichen Topos geworden; in Hinsicht auf Japan vgl. Shimada 2007. 4 | Dieser Diskurs ist Gegenstand einiger umfangreicheren Untersuchungen geworden; vgl. z. B.: Jarman 1998; Gebhard 2000; Pekar 2003; Schaffers 2006. 5 | Darunter ist ein Textgenre zu verstehen, welches in der japanischen Nachkriegszeit massiv auftauchte und sich mit dem ›Wesen‹ und der kulturellen Identität der Japaner beschäftigt. Selbstverständlich bestehen erhebliche Bezüge zwischen den von mir weiter unten thematisierten japanischen Selbstvorstellungsdiskursen und diesen Texten, wenn es auch einen fundamentalen Unterschied gibt: Die Selbstvorstellungsdiskurse sind primär ans Ausland (also Nicht-Japaner) gerichtet; nihonjin-ron dagegen primär ans eigene japanische Publikum.

220 Thomas Pekar

literarischen­, künstlerischen Aufzeichnungen von Nicht-Japanern zusammen.6 Er lieferte die machtstrukturierte Konstruktion ›Japan‹ als eine ›Andersheit‹ (dem Westen gegenüber). Dadurch rückte Japan in den von Edward W. Said (19352003) beschriebenen und mittlerweile hinlänglich bekannten ›Orientalismus‹ ein (vgl. Said 1978). Dieses dichotomisch strukturierte Foucault-Said’sche Paradigma, vereinfacht gesagt also: der Westen = die Macht/der Orient = die Ohnmacht, hat zwar eine ganze Reihe von wichtigen postkolonialen Studien hervorgebracht,7 doch wird es letztendlich der Komplexität der Kulturen und Kulturbeziehungen nicht gerecht, weil es in seiner ausgeprägten dichotomischen Struktur den ›Orient‹ als ein bloß passiv-stummes Machtobjekt ansieht. Im Falle Japans ist jedoch zu beobachten, dass es praktisch von Anfang an (also seit 1853) Bestrebungen von Japanern gab, auf diesen westlichen Macht- und Bemächtigungsdiskurs zu reagieren8 – und zwar mit einem eigenen Diskurs, den man als ein frühes writing back ansehen könnte.9 6 | Dieser Japan-Diskurs kann hier nicht Gegenstand der Darstellung sein; es seien für die Zeit nach der Öffnung Japans bis ca. zur Jahrhundertwende nur einige seiner Hauptwerke genannt (in chronologischer Reihenfolge): Alcock 1863; Schliemann 1867; Ansichten aus Japan, China und Siam 1864; Humbert 1870; Mitford 1871; Scherzer 1872; Bousquet 1877; Langegg 1880; Bird 1881; Griffis 1883; Loti 1887; Bing 1888-1890; Netto 1888; Brinkmann 1889; Chamberlain 2007 [1890]; Scidmore 1891; Florenz 1894; Hearn 1991 [1894]; Lowell 1894; Fenollosa 1896; Hearn 1896; Baelz 1900; Eulenburg 1900; Königsmarck 1900; Brandt 1901. 7 | Vgl. z. B. Pratt 2008; deutschsprachige Forschungsliteratur zum ›Postkolonialismus‹ ist z. B. genannt in: Lubrich 2004: 12 f. 8 | Hier allein von einem japanischen ›Gegendiskurs‹ zu sprechen, würde erneut vereinfachend dichotomisieren. Am ehesten lässt sich dieser Diskurs vielleicht als den Westen nachahmend und sich gleichzeitg von ihm unterscheidend (also mimetisch-differentiell) beschreiben. 9 | Dieses ursprünglich von dem karibisch-französischen Vordenker der Entkolonialisierung Frantz Fanon (1925-1961) entwickelte Konzept benennt die Herausforderung der kulturellen Hegemonie der Kolonialmacht durch ein ›Zurückschreiben‹ der Kolonialisierten, die so, in dem komplizierten Geflecht von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, ihre eigene Identität konstituieren. Als literarisch-postkoloniales Verfahren wurde writing back insbesondere von dem indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie benutzt, um dann Merkmal postkolonialer Theorie zu werden; vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1989. Dass das writing back die Form einer konkreten intertextuellen Beziehung annehmen kann, zeigt Stephan Leopold (2008) in Hinsicht auf Albert Camus’ (1913-1960) Roman L’Étranger (1942), den er allerdings als einen kolonialspezifischen Text liest, und den Roman Nedjma (1956) des Algeriers Kateb Yacine (1929-1989).

Bushidō als Intertext? 221

In diesem Beitrag sollen die inter- bzw. hypertextuellen Beziehungen zwischen einem Text Lafcadio Hearns10 (1850-1904), der als einer der Hauptprotagonisten des westlichen Japan-Diskurses angesehen werden kann, und einem für das Selbst- und Fremdverständnis des modernen Japans zentralen Text, nämlich dem Konzept von Bushidō, so wie es in Nitobe Inazōs11 (1862-1933) Buch Bu­ shido. The Soul of Japan (1899)12 formuliert wurde, analysiert werden.13 Bushidō – jedenfalls das ›moderne‹, nach Öffnung Japans diskursivierte Bushidō – wird von mir, wie hier ausgeführt, entgegen der landläufigen Meinung, dass es etwas ursprünglich und typisch Japanisches sei, als Result einer komplizierten Verflechtung zwischen Japan und dem Westen bzw. als Resultat eines Kulturkontaktes gelesen.14 Seine Funktion wird in der einer ›Selbstvorstellung‹15 Japans gegenüber 10 | In Japan als Koizumi Yakumo bekannt; Hearn lebte von 1890 bis zu seinem Tod 1904 in Japan; bei seiner Heirat 1891 mit der Japanerin Koizumi Setsu (1868-1932) nahm er ihren japanischen Familiennamen an und wurde später auch noch japanischer Staatsbürger. 11 | Bei der Nennung japanischer Namen im Text wird, wie in Japan üblich, der Familienname vorangestellt. 12 | Der lange Vokal ›o‹ in dem japanischen Wort bushidō wird, nach dem HepburnTranskriptionssystem, mit einem Längsstrich (Makron) versehen, was bei Nitobes Titelwort allerdings nicht zu finden ist. 13 | Nitobes Bushido wurde u. a. von amerikanischen Präsidenten wie Theodore Roosevelt und John. F. Kennedy gelesen, wodurch es deren Verständnis von ›Japan‹ zumindest beeinflusst haben dürfte, wenn nicht gar hauptsächlich bildete; vgl. ›http://www.kendo.com/ thesoulofjapan‹ (Zugriff am 14. 2. 2014). 14 | Bushidō also – etwas vereinfachend-plakativ gesagt – als ein writing back, allerdings ein besonderes, da dieses japanische writing back in gewisser Weise antizipatorisch war, insoweit es eben gerade mithalf, das Entstehen einer kolonialen Abhängigkeit zu verhindern. Oleg Benesch hält in seiner Dissertation über bushidō im modernen Japan ebenfalls diese gleichsam ›transkulturellen‹ Züge für entscheidend: »This study argues that modern bushido discourse began in the 1880s, and was dependent on political and cultural currents relating to Japan’s modernization and the nation’s attempts to redefine itself in the face of foreign ›others‹, primarily China and the West« (Benesch 2011: ii); vgl. auch: »[T]his study will show that the presence of a foreign ›other‹ or ›others‹ was an essential element in the initiation of modern bushidō discourse and that the first formulators of bushidō were equally or more influenced by current events beyond Japan’s borders than they were by the historical samurai class« (ebd.: 34). 15 | Dem entspricht, dass der individuellen Selbstvorstellung (jiko shōkai) in Japan eine sehr hohe Bedeutung zukommt und sie deshalb streng ritualisiert bzw. reglementiert ist. Diese Selbstvorstellungsdiskurse sind von den japanischen Selbstbehauptungsdiskursen zu

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dem Westen gesehen,16 die Nitobes Bushidō mit anderen Texten, die Japaner um die Jahrhundertwende in westlichen Sprachen schrieben, teilt. Auf diese Texte wird am Ende dieses Beitrags noch hingewiesen. Die japanische Bushidō-Forscherin Nakamura Yōko unterscheidet zwei Bushidō-Diskurse (vgl. Nakamura 2008 und 2012), nämlich den traditionellen, von ihr auch »Moralkodex der Krieger« (Nakamura 2012: 132) genannten, der sich seit der Kamakura-Zeit (1185-1333) verbreitet habe, und den modernen, den sie als den »Zweiten Bushidō-Diskurs« (Nakamura 2012: 130) bezeichnet, der vor dem historischen Hintergrund des Russisch-Japanischen Krieges von 19041905 entstanden sein soll. Problematisch dabei erscheint, bereits das traditionelle Bushidō einen ›Diskurs‹ zu nennen, da es sich hierbei eher um eine Praxis als um einen Diskurs handelte.17 Trotz dieses Einwands sind Nakamuras Untersuchungen eine wertvolle Ergänzung zu der von mir hier thematisierten Außenperspektive des Bushidō, konzentrieren sie sich doch auf die innerjapanischen Diskussionen um das moderne Bushidō, die u. a. in japanischen Zeitungen geführt wurden. Dieser innerjapanische Bushidō-Diskurs, besonders der Zeit zwischen 1898 und 1914,18 steht ebenfalls im Mittelpunkt der umfangreichen Studie von Oleg Benesch, der deutlich macht, dass innerjapanischer und internationaler­

unterscheiden, die zum einen später (vor allem in den 1930er Jahren) stattfanden und sich zum anderen primär nach innen, also ans japanische Publikum wandten; ein typisches Beispiel dafür ist die Kyōto-Schule (vgl. insgesamt dazu Mishima 2003). 16 | Benesch hebt bei den frühen innerjapanischen Diskussionen um Bushidō den Aspekt der Abgrenzung von China hervor (vgl. Benesch 2011: 256), der aber später in Hinsicht auf die internationale Positionierung von Bushidō in den Hintergrund trat. 17 | Der britische Japanologe Basil Hall Chamberlain (1850-1935) beispielsweise bestritt die Signifikanz dieses Begriffs »Bushidō« vor 1900 vollkommen (vgl. Chamberlain 1912); selbst die berühmte Schrift Hagakure (zwischen 1710 und 1716), die immer als Grundbuch der Samurai-Ethik angesehen wird, ist weitaus komplexer; in ihr stehen »nicht etwa die militärischen Künste der Samurai im Mittelpunkt, sondern die Frage, wie ein Samurai auf rechte Art und Weise seine Pflicht im Lehnsdienst (hōkō) erfüllen kann« (Seinsch 2009: 9). Im übrigen war die Verbreitung dieser Schrift bis zu ihrer ersten vollständigen Druckfassung im Jahre 1916 (eine unvollständige erschien 1906) sehr beschränkt. 18 | Benesch geht auf Bushidō-Theoretiker wie Ozaki Yukio (1858-1954), Fukuzawa Yukichi (1834-1901), Suzuki Chikara (1867-1926), Uemura Masahisa (1858-1925), Inoue Tetsujirō (1856-1944) – ihn bezeichnet Benesch als »the doyon of 20th-century bushidō« (Benesch 2011: 170) – Uchimura Kanzō (1861-1930) u. a. ein, deren Texte so gut wie nicht in westliche Sprachen übersetzt sind.

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Bushidō-Diskurs (der von Nitobe angestoßen wurde) ganz unterschiedliche Diskurse sind, die gesondert voneinander zu betrachten sind.19

2. L afcadio H earn Hearn ist unter der Perspektive postkolonialer Theorie sicherlich ein Musterbeispiel für eine hybride, zwischen den Kulturen stehende Existenz: Er wurde auf Lefkada geboren, einer heute griechischen Insel, die damals zu den unter britischem Protektorat stehenden Vereinigten Staaten der Ionischen Inseln gehörte, als Sohn eines im britischen Dienst stehenden irischen Militärarztes und einer griechischen Mutter; die Schule besuchte er in England und wanderte dann nach Amerika aus, um von dort aus schließlich nach Japan, dem letzten Ziel seiner Lebensreise, zu gelangen.20 Bei all dieser Inbetweenness21 sollte man aber nicht vergessen, dass sich Hearn bei seinem Schreiben über Japan, welches er recht exzessiv betrieb,22 eindeutig an den westlichen Leser richtete: Hearns Japan-Bild, welches so nachhaltig das amerikanische und europäische Japan-Verständnis der Jahrhundertwende prägte,23 entsprach genau den westlichen Rezeptionserwartungen. Er wurde begeistert aufgenommen und durchweg als authentischer Übermittler vor allem des alt-japanischen Lebens, der japanischen Kunst, Kultur 19 | »In fact, Nitobe’s bushidō theories were not taken seriously by most Japanese scholars, and he had very little influence on the development of mainstream bushidō in Japan, aside from giving the concept international legitimacy« (Benesch 2011: 153 f.). 20 | Hearn war (bevor er japanischer Staatsbürger wurde) nicht, wie dies oft behauptet wird, Amerikaner (oder gar Grieche bzw. Ire), sondern Brite, wie dies Chamberlain richtig sagt, der allerdings fälschlicherweise ›Korfu‹ als Hearns Geburtsinsel angibt (vgl. Chamberlain 2007 [1890]: 69). 21 | Auf den ersten Seiten seines Buches entwickelt Bhabha diese Idee von ›in-between‹, die gegen die gängigen statischen Kategorien wie ›class‹ oder ›gender‹ etc. gerichtet ist: »What is theoretically innovative, and politically crucial, is the need to think beyond narratives of originary and initial subjectivities and to focus on those moments or processes that are produced in the articulation of cultural differences. These ›in-between‹ spaces provide the terrain for elaborating strategies of selfhood [...]« (Bhabha 32007: 2). 22 | Zwischen 1894 und 1905 veröffentlicht er jedes Jahr mindestens ein Buch über Japan; vgl. die Bibliographie seiner Werke und andere Informationen über ihn: ›http://www.trussel.com/f_htm‹ (Zugriff am 14. 2. 2014). 23 | In Deutschland erschien zwischen 1905 und 1910 eine aufwändig gestaltete sechsbändige Jugendstil-Ausgabe Hearns, versehen mit opulentem Buchschmuck des Malers und Graphikers Emil Orlik (1870-1932), der selbst in Japan Farbholzschnitt studiert hatte.

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und Mythen anerkannt24 – so etwa auch von Hugo von Hofmannsthal (18741929), der im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Hearns bekanntestem Buch Kokoro unter dem Eindruck von Hearns Tod schreibt: »Und Japan hat sein Adoptivkind verloren. [...] Der einzige Europäer vielleicht, der dieses Land ganz gekannt und ganz geliebt hat. [...] Vor seinen Augen stand alles, und alles war schön [...]: das alte Japan [...]« (Hofmannsthal 1905: 5). Das war sicherlich eine Fehleinschätzung, denn Hearn, der selbst nur sehr unzureichend Japanisch sprach, kannte etwa japanische Literatur nur aus zweiter Hand, aus Übersetzungen oder aus dem Munde seiner japanischen Freunde, von Mitarbeitern25 oder seiner japanischen Ehefrau. Hearns exotisches, traum- und märchenhaftes Japan – diese »world of strangeness« (Hearn 1991 [1894]: XI) par excellence – war keine Beschreibung (bzw. kein Beschreibungsversuch) Japans, sondern Produkt einer bewusst gewählten journalistischen und auf Wirkung bezogenen Schreibstrategie. Neben diesem Märchen-Japan (an das Hearn allerdings zuweilen selbst zu glauben schien) gab es aber das banale Alltags-Japan, welches in seinen nach seinem Tod veröffentlichten Briefen sichtbar wird, wo er beispielsweise schreibt: »It is a bitter life [in Japan]. I am ashamed to say, I feel worn out«26 – oder gar von seinem ›Hass‹ auf Japan (besonders auf Tokyo) spricht.27 Doch davon erfährt man in seinen von ihm veröffentlichten Schriften nichts – und dies hätte wohl auch die damaligen westlichen Leser kaum interessiert bzw. ihre schon in die exotistische Schönheits-Richtung festgelegten Rezeptionserwartungen in Hinsicht auf Japan nur unnötig irritiert.28 Um diesen Erwartungen zu entsprechen, suchte sich He24 | »[M]ost of his contemporary readers were convinced that Hearn’s portrait of Japan was accurate [...]« (Ota 1998: 122). 25 | Unter ihnen ist besonders Ōtani Masanobu (1875-1933) hervorzuheben, der Hearns Assistent an der Universität Tokyo war und für ihn regelrechte Recherche-Aufträge ausführte, die ihm Hearn allmonatlich gab (vgl. Noguchi 1911: 105-124). 26 | Hearn, zit. nach Bisland 1911: 97. 27 | Hearn hatte wohl eine fast hysterische Hass-Liebe zu Japan entwickelt, bei der das Pendel schnell umschlug. So notiert er in einem Brief: »I felt as if I hated Japan unspeakably [...]«; dann jedoch hört er zufällig auf der Straße zwei japanische Sängerinnen – und schreibt weiter: »[T]he old first love of Japan and of things Japanese came back [...]« (Hearn, zit. nach Hirakawa 2000: 208). Hearn bevorzugte das ›alte Japan‹ (oder was er dafür hielt) und hasste insbesondere das ›moderne‹ Tokyo; so berichtet seine , Frau: »Tokyo for him, as he always said, was the saddest hole of the world [...]« (Noguchi 1911: 71). 28 | Allerdings wurde diese Verbindung ›Schönheit‹ und ›Japan‹ (die sich in der Vorstellung von Japan als ›Reich des Schönen‹ zu einem Topos verdichtete) auch von japanischen Schriftstellern der Jahrhundertwende selbst, wie von Okakura Tenshin, Nitobe Inazō oder, dann etwa später in den 1930er Jahren, von Tanizaki Jun’ichirō (1886-1965), mit seinem

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arn, wie er sagt, das ›fantastischste Schöne in der exotischsten Literatur‹29 aus, um daraus sein japonistisches Japan zu bauen.30 Erstaunlich ist nun, dass dieses hearnsche Japan von Japanern selbst zustimmend aufgenommen wurde: So bezeichnet etwa der japanische Schriftsteller Okakura Yoshisaburō (1868-1936) Hearns Japanbücher als ›bewunderungswürdige Interpretationen‹, in denen sich »die Sprache des Poeten mit der Einsicht des Forschers« (Okakura 1906: 17) vereinige. Sein Bruder, Okakura Kakuzō (auch Okakura Tenshin genannt) (1862-1913), sagt, dass »durch die ritterliche Feder eines Lafcadio Hearn [...] die östliche Finsternis mit der Fackel unserer eigenen Gefühle erleuchtet wird« (Okakura 1979 [1906]: 14). Oder der japanische Philosoph Nitobe Inazō (1862-1933) nennt Hearn den »wahrheitsgetreuen Ausleger des japanischen Geistes [...]« (Nitobe 1901 [1899]: 129).31 Hier zeigt sich, dass die von Hearn arbiträr und performativ produzierte Textualität ›Japan‹ bzw. ›japanische Kultur‹ erfolgreich nicht nur in Hinsicht auf westliche, sondern gerade auch auf japanische Rezipienten war; anders gesagt: Hearns kulturelle Textualität, versehen mit dem Namen ›Japan‹, erzeugte in Hinsicht auf diese so festgeschriebene Entität ›Japan‹ bestimmte Dynamiken bzw. Rückkoppelungseffekte, die die Japanologin Hijiya-Kirschnereit »Selbstexotisierung« (Hijiya-Kirschnereit 1988: 13) genannt hat, was jedoch nur die eine Seite der Medaille ist, nämlich die Betonung der Andersartigkeit, Exotik, Fremdheit etc. Japans; die andere Seite der Medaille ist die ›paradoxe‹ Gleich-Setzung zu anderen, aber eben durch Übernahme dieses ›fremden‹ bzw. westlichen Bildes. Mit anderen Worten: Japan machte sich die Fremd-Einschätzung zu eigen, übernahm sie – natürlich modifiziert – als das eigene Selbstverständnis, um sich dadurch Lob des Schattens, hergestellt (vgl. dazu auch Hijiya-Kirschnereit 2013a: 240) und blieb bis in Gegenwart erhalten, ja wird gegenwärtig, z. B. auch in japanischen Schulen, eifrigst propagiert (vgl. ebd.: 245 f.). 29 | Er spricht von dem »most fantastically beautiful in the most exotic literature which I was able to obtain« (Hearn 1903: XVII). 30 | Vergleicht man japanische Geschichten, wie sie Hearn nacherzählte (vgl. z. B. Hearn 1904), mit den Original-Geschichten, so lassen sich seine Veränderungen in Form von ›Intensivierungen‹ und ›Exotisierungen‹ deutlich nachweisen (vgl. Ota 1998: 123 f.). 31 | Der langjährige Japan-Resident Kurt Singer (1886-1962) berichtet davon, dass ihm ein ›hervorragender japanischer Gelehrter‹ erzählt habe, dass er durch Hearn »in fundamentale Wesenszüge seiner eigenen Kultur eingeweiht worden sei« (Singer 1991: 53). Auch für die Gegenwart kann man feststellen, dass japanische Leser beispielsweise beim Lesen westlicher Romane mit einem durch und durch imaginierten Japanbild »durchaus bereit [sind], in den entworfenen Japanbildern authentische Repräsentationen des Eigenen zu sehen [...]« (Hijiya-Kirschnereit 2013: 147).

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als ebenso ›anders‹ wie ›gleich‹ zu generieren. Diese Vorgänge sollen nun am Beispiel eines kulturellen Konzepts verdeutlicht werden, nämlich am Beispiel des oben angesprochenen Bushidō, welches im Allgemeinen, auch in seiner modernen Erscheinungsweise, als etwas Urjapanisches (Autochthones) angesehen wird. Meine These ist demgegenüber, dass man als direkten textuellen Vorläufer (als Hypotext im Sinne des französischen Literaturtheoretikers Gérard Genettes) von Bushidō – jedenfalls des modernen, diskursivierten Bushidō – Hearns Essay Ein Konservativer in seinem erwähnten Buch Kokoro (von 1896) ansehen kann.

3. H earns E ssay E in Konservativer Es geht in diesem Text, der eine Mischung aus Tatsachenbericht, politischem Essay und romanhafter Erzählung ist,32 um den Sohn eines Samurai, worunter die Mitglieder des japanischen Kriegerstandes zu verstehen sind, die in Japan selbst bushi genannt werden.33 Ich gebe zunächst eine kurze Inhaltsangabe dieses Essays: Hearn schildert die Erziehung dieses jungen Japaners, für den er ein wirkliches Vorbild hatte, nämlich den Lebensweg seines japanischen Freundes Amenomori Nobushige (1858-1906).34 Diese Erziehung besteht aus ›strenger‹ bzw. ›spartanischer Zucht‹; ›Pflicht‹ und ›Selbstbeherrschung‹ stehen im Mittelpunkt; als besonderes Erziehungsziel wird genannt, »Schmerz und Tod [...] als belanglose Dinge anzusehen« (Hearn 1905 [1896]: 11). Diesen Todesaspekt schmückt Hearn lang und breit aus: Er erzählt, dass dieses Kind zu Hinrichtungen geschickt wird und sogar nachts zu einem Richtplatz, um »als Zeichen seines Mutes einen abgeschlagenen Kopf zurückzubringen« (Hearn 1905 [1896]: 11). Der Knabe wird dazu erzogen, dass er sein »eigenes Leben ohne Zaudern vernichten könne, wenn es der Ehren-Kodex seiner Klasse so forderte« (Hearn­1905 [1896]: 13). Und in einer Anmerkung gibt Hearn sogar noch die Geschichte­eines­ 32 | Vgl. Hofmannsthal, der so über diese Geschichte schreibt: »Das ist keineswegs eine Novelle: das ist eine Einsicht, eine politische Einsicht, zusammengedrängt wie ein Kunstwerk, vorgetragen wie eine Anekdote: ich denke, es ist kurzweg ein Produkt des Journalismus, des höchstkultivierten, des fruchtbarsten und ernsthaftesten, den es geben kann« (Hofmannsthal 1905: 7). 33 | Deshalb dann eben auch die Wortbildung: Bushidō, der Weg des Kriegers; Hearn benutzt allerdings nur das Wort ›Samurai‹, weder ›Bushi‹ noch ›Bushidō‹. 34 | Vgl. dazu Hirakawa 2000: 203 ff; dort heißt es auch: »Hearn depended so much on Amenomori’s records, he was a bit afraid that Amenomori might be displeased at the extent of his borrowings« (Hirakawa 2000: 205). Als kleine ›Gegengabe‹ widmete Hearn Amenomori sein Buch Kokoro.

Bushidō als Intertext? 227

›Harakiri‹ wieder, des rituellen Selbstmords also, in Japan seppuku genannt,35 den ein anderer Samurai-Knabe begeht, um seinen Vater zu retten (vgl. Hearn 1905 [1896]: 284).36 Als der so erzogene Junge erwachsen wird, geschieht die Öffnung Japans – ›fremde Eindringlinge‹ strömen ins Land; Japan gestaltet sich um, denn, so Hearn, »einzig durch die Selbstumwandlung durfte die Nation hoffen, ihre Unabhängigkeit zu retten« (Hearn 1905 [1896]: 20 f.). Und auch der junge Samurai unterwirft sich diesem Modernisierungszwang, indem er Englisch lernt, aber nicht aus Freude oder Wissensdurst, sondern um »die Natur des Feindes seiner Nation zu studieren« (Hearn 1905 [1896]: 22). Wichtiger aber noch als die Sprache, erscheint ihm bald darauf die westliche ›Ethik‹ (womit das Christentum gemeint ist) als die von ihm angenommene Quelle der abendländischen Überlegenheit.37 Konsequent seiner Samurai-Pflicht »als Patriot und Wahrheitssucher« (Hearn 1905 [1896]: 25) folgend, bekennt er sich zum Christentum, wendet sich dann aber wenig später enttäuscht davon ab; Hearn weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Übernahme der christlichen Ethik in Japan unmöglich sei,38 dass vielmehr eine Ethik notwendig sei, die sich aber »selbst aus den alten Formen herausentwickeln« (Hearn 1905 [1896]: 28) müsse­: »Von innen heraus, nicht von außen« müsse »die Renaissance« (Hearn 1905 [1896]: 28) in Japan kommen. 35 | Im Zentrum von Bushidō steht die Lebensverachtung, die Todesliebe, die sich im seppuku am klarsten manifestiert; dies wird von den verschiedensten Autoren immer wieder betont; vgl. z. B. Nitobe, der in Hinsicht auf Bushidō von »Verachtung des Lebens« und »Vorliebe für den Tod« (Nitobe 1901 [1899]: 8) spricht und ausführlich über seppuku schreibt (vgl. Nitobe 1901 [1899]: 79-96). 36 | Eine ganz ähnliche Geschichte erzählt Nitobe (1901 [1899]: 58 ff.). An anderer Stelle spricht Hearn von dem Todesmut des japanischen Soldaten, davon, dass er, »um seinen Kameraden den Weg durch das Schlachtfeld zu bahnen, ohne Zaudern sein Leben mit dem Rufe: ›Teikoku-Banzai! [Es lebe das Kaiserreich]‹ hinopfert« (Hearn 1905 [1896]: 246). 37 | Das war nicht unbedingt Hearns eigene Meinung, der ein Anhänger des Sozialdarwinismus war, insbesondere der Lehren Herbert Spencers (1820-1903), die damals in Japan überhaupt sehr populär waren (vgl. Benesch 2011: 66 und 133). Hearn sah mit Spencer den Grund für die Überlegenheit des Westens in seiner ›sozialen Evolution‹, die ›materiellen Fortschritt‹ »durch eine erbarmungslose Konkurrenz« (Hearn 1905 [1896]: 24) bewirke. 38 | Zum einen, weil die Kirchen im Westen nicht mehr durch ›Gläubigkeit‹ ihrer Mitglieder, sondern nur noch durch »Respekt vor der Konvention« getragen sei; zum anderen werde man in Japan aus politischen Gründen »nie [...] ausländischen Missionären gestatten, [...] die Rolle der Sittenwächter zu spielen« (Hearn 1905 [1896]: 27). Letztlich hielt er aber die japanische Ahnenverehrung als unvereinbar mit dem Christentum.

228 Thomas Pekar

Schließlich unternimmt der mittlerweile zum Manne gereifte Japaner eine Europa- und Amerikareise, die ihn ernüchtert: Paris erfüllt ihn bald »mit Überdruß«, London sieht er »als einen mächtigen Mammonstempel« an und die Engländer als »eine Rasse von Plünderern« (Hearn 1905 [1896]: 32). Allein einen positiven Eindruck hat er, nämlich von der »englischen Gentry« (Hearn 1905 [1896]: 35), die ihn an die heimischen Samurai erinnern.39 Hiervon abgesehen sieht er aber im Abendland nur »bodenlose Tiefen des Verfalls« und »keine Ideale, die den Idealen seiner Jugend gleichwertig gewesen wären« (Hearn 1905 [1896]: 36). Er erkennt, dass die »Überlegenheit des Abendlandes« keine ethische, sondern bloß eine »des Intellekts« (Hearn 1905 [1896]: 37) sei, also eine der Wissenschaft und Technik, der Zweckrationalität. Mit dem Bekenntnis zur ›alten japanischen Zivilisation des Wohlwollens und der Tugend‹, d. h. mit den ethischen Werten des ›alten Japan‹, endet diese Geschichte.40 Ihre Essenz formuliert Hearn so: »Japan muß seine eigene Seele entwickeln: es kann sich keine fremde zu eigen machen« (Hearn 1905 [1896]: 167).

4. B ushidō

als japanische

E thik : N itobe

und andere

Diese Forderung Hearns wurde prompt erfüllt: Am direktesten mit dem 1899 – also drei Jahre nach der Publikation von Hearns Kokoro – auf Englisch erschienenen Buch Bushido des schon genannten Japaners Nitobe Inazō, welches den Untertitel The Soul of Japan trägt (eine deutsche Übersetzung dieses Buches erschien 1901 unter dem Titel Bushido. Die Seele Japans. Eine Darstellung des japanischen Geistes;41 eine japanische erst 1908). Es kann hier nicht der Ort sein, genauer aus39 | Er denkt so über die Gentry: »Hinter ihrer förmlichen Kälte konnte er große Anlagen zu Freundschaft und Güte erkennen, eine Tiefe der Empfindung, und einen hohen Mut, der eine halbe Welt unter englische Herrschaft gebracht hatte« (Hearn 1905 [1896]: 35). Unter ›Gentry‹ ist in England das wohlhabende Bürgertum (wie wohlhabende Landbesitzer) und der Landadel zu verstehen. 40 | Hearn formuliert damit genau, was im Japan der späten Meiji-Zeit (etwa 1880 bis 1910) unter dem Schlagwort wakon yōsai [japanischer Geist und westliche Technik] verstanden wurde, nämlich die Abkehr von westlichen Werten zugunsten einer Rückbesinnung auf japanische, ohne dabei die technische Unterlegenheit Japans aus den Augen zu verlieren. Dieses Schlagwort wird auf den Begründer der Keiō-Universität, Fukuzawa Yukich­i (1835-1901), zurückgeführt. 41 | Die Übersetzerin dieses Buches (aus dem Englischen ins Deutsche), Ella Kaufmann, meinte es wohl den ›gebildeten‹ deutschen Lesern schuldig zu sein, noch ›Geist‹ im zweiten Untertitel hinzufügen zu müssen.

Bushidō als Intertext? 229

zuführen, warum ausgerechnet der einem Samurai-Klan entstammende Nitobe, ein ausgebildeter Agrarwissenschaftler mit Studienaufenthalten in Sapporo, Tokyo, Amerika und Deutschland, wo er in Halle (Saale) promoviert wurde,42 der zum Quäkertum konvertiert und seit 1890 mit der amerikanischen Quäkerin Mary Patterson Elkinton (1857-1938) verheiratet war – warum also gerade Nitobe Autor dieses entscheidend wichtigen Buches wurde (welches er zudem noch während eines Aufenthaltes in Kalifornien schrieb).43 Die Behauptung: »Nitobe was the least qualified Japanese of his age to have been informing anyone of Japan’s history and culture« (Hurst 1990: 511), da er eben zu ›verwestlicht‹ gewesen sei, ist nur dann stimmig, wenn man Bushidō (jedenfalls in seiner modernen Version) als etwas ›Ur-Japanisches‹ missversteht und es eben nicht als ein Phänomen ansieht, welches sich gerade aus Kulturkontakten ergeben hat bzw. in einer kulturellen Kontaktsituation enstanden ist. Demgegenüber wäre genau das Gegenteil zu behaupten: Gerade Nitobes kulturelle Inbetweenness44 prädestinierte ihn wie keinen anderen in seiner Zeit dazu, ein solch hybrides Gebilde, wie es das moderne Bushidō ist, hervorzubringen. Dass man Bushidō dann, in West wie Ost, ›japanisch-essentiell‹ missverstanden hat, ist eine andere Geschichte bzw. die Rezeptionsgeschichte. Aber es war nicht nur dieses Buch, sondern in dieser Zeit um 1900 zündete um das Bushidō herum eine »diskursive Explosion« (Foucault 1983: 23), d. h. eine ganze Reihe von Artikeln und Büchern erschienen, geschrieben von Japanern, zumeist auf Englisch, die dann sehr schnell in andere westliche Sprachen, vor allem ins Französische und Deutsche, übersetzt wurden, und die alle das Ziel hatten, dem Westen diese japanische Seele bzw. Ethik, genannt Bushidō, vorzustellen und zu erklären.45 42 | Der Titel seiner Dissertation von 1890 lautet: Über den Japanischen Grundbesitz, dessen Verteilung und landwirtschaftliche Verwertung; einsehbar als: ›http://digital.ub.uniduesseldorf.de/ihd/content/pageview/2247042‹ (Zugriff am 17. 2. 2014). 43 | Vgl. Benesch 2011: 70. Nach seinen Studien im Ausland arbeitete Nitobe ab 1901 zunächst als Ingenieur für das japanische Generalgouvernement Taiwan, dann als Professor an verschiedenen Universitäten in Kyoto und Tokyo. Er vertrat darüber hinaus Japan bei wichtigen Missionen im Ausland, so u. a. bei der Pariser Friedenskonferenz in Versailles 1919. Seine Privatbibliothek befindet sich als Sondersammlung in der Universitätsbibliothek der Universität Hokkaidō; vgl.: ›http://www.lib.hokudai.ac.jp/collection/kojin/index. html‹ (Zugriff am 17. 2. 2014). 44 | Eine Kategorie, die auch auf Hearn anwendbar ist; man vergleiche etwa auch ihre jeweils exogamen Heiraten. 45 | Kurz davor, in den späten 1890er Jahren, fanden in Japan selbst intensive Diskussionen um Fragen der japanischen Moral und Religion statt. Man wollte eine ›nationale Moral‹

230 Thomas Pekar

Dazu sei die folgende Übersicht angegeben, die allerdings nicht vollständig ist (und sich auch auf diejenigen Texte beschränkt, in denen der Begriff ›Bushidō‹ explizit auftaucht):46 [– 1896: A Conservative, in: Kokoro von Lafcadio Hearn (dt. 1901) (Boston)] – 1899: Bushido. The Soul of Japan von Nitobe Inazō (dt. 1901) (Tokyo) – 1903: The Ideals of the East von Okakura Kakuzō (dt. 1923) (London) – 1904: The Japanese Spirit von Amenomori Nobushige (Boston)47 – 1904: The Awakening of Japan von Okakura Kakuzō (New York) – 1904: Japan by the Japanese. A Survey by its Highest Authorities, ed. by Alfred Stead (dt. 1904) (London)48 – 1905: The Japanese Spirit von Okakura Yoshisaburō (dt. 1906) (London) – 1906: The Book of Tea von Okakura Kakuzō [auch Okakura Tenshin] (dt. 1922) (London/New York)49 (kokumin dōtoku) finden (vgl. dazu Nirei 2007: 151-175 mit umfangreichen Angaben japanischer Literatur). Dies kann hier allerdings nicht Gegenstand der Untersuchung sein. 46 | Eine bibliographische Erfassung dieser zumeist englischsprachigen Japan-Literatur steht noch aus; sie wäre auch auf japanische ›Selbstvorstellungsdiskurse‹ überhaupt zu erweitern. In der Bibliographie von Hijiya-Kirschnereit 1999, die ja eigentlich diese Titel hätte erfassen müssen, ist erstaunlicherweise kein einziges (!) der hier genannten Bücher oder Artikel aufgeführt. 47 | Hierbei handelt es sich um einen Aufsatz, der in der Bostoner Zeitschrift The Atlantic Monthly zu finden ist (October 1904, Vol. XCIV, S. 505-513). 48 | Wie der Titel sagt, kommen in diesem von einem Engländer herausgegebenen Buch Japaner selbst zu Wort. 49 | Es mag vielleicht auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen, dass ich auch Okakura Kakuzōs berühmtes Buch vom Tee in diese Reihe der vom Bushidō-Geist geprägten Texte aufnehme, heißt es doch da am Anfang ausdrücklich: »In der letzten Zeit ist viel über das Gesetz der Samurai geschrieben worden, – die Kunst zu sterben, die unsere Soldaten in Selbstaufopferung frohlocken läßt; aber dem Teekult [im englischen Originaltext, denn Okakura schrieb das Buch auf Englisch, heißt das teaism. Heute spricht man von der ›japanischen Teezeremonie‹; Anm. T.P.], der so eindeutig unsere Kunst des Lebens darstellt, ist kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden« (Okakura 1979 [1906]: 12). Aussagen wie diese lassen Benesch zu dem Urteil kommen, dass Okakura ein Bushidō-Kritiker gewesen sei (vgl. Benesch 2011: 264 f.). Aber so eindeutig ist die Opposition Bushidō (als ›Gesetz der Samurai‹) und ›Teeismus‹ bzw. Teezeremonie nicht, denn nicht nur gefällt sich Okakura darin, in seinem Buch von Samurai-Heldentaten zu berichten, wie z. B. die be­ kannte Geschichte, dass ein Samurai ein ›Dharma-Bild‹ vor einem Feuer in seinem Körper schützt­, den er aufschlitzt und das Bild in der Wunde birgt (vgl. Okakura 1979 [1906]:

Bushidō als Intertext? 231

– 1906: Bushido in the Past and Present von Imai John Toshimichi (Tokyo)50 – 1909: Fifty Years of New Japan (Bd. I u. II) von Ōkuma Shigenobu (London) – 1913: Religion of the Samurai von Nukariya Kaiten (London)

5. B ushidō

als

Wertmodalität

Man kann Folgendes festhalten: Vor Hearns Essay gab es so gut wie keine ›Erklärungsbücher‹, danach eine ganze Reihe, die sich auf den von Hearn vorgezeichneten diskursiven Bahnen bewegten.51 Zentrales Anliegen dabei war es, 79  f.), sondern vor allem gipfelt das Buch am Ende darin, dass Okakura die Geschichte des Todes des Teemeisters Rikyū erzählt, der sich nach einer vollendeten Teezeremonie ebenso vollendet selbst hinrichtet, also seppuku begeht: So gesehen verklammern sich Bushidō und Teeismus – oder mit den Worten Okakuras: »Nur wer mit dem Schönen gelebt hat, kann auch schön sterben« (Okakura 1979 [1906]: 105). Nitobe spricht selbst auch von der Tee-Zeremonie im Zusammenhang mit Bushidō – und zwar nennt er sie »modus operandi der Disciplin der Seele« (Nitobe 1901 [1899]: 37). 50 | Imai (1863-1919) war der erste Japaner, der ordinierter Priester in der Anglikanischen Kirche in Japan (Nippon Seikōkai) wurde. Er schrieb aus christlicher Sicht über Bushidō (vgl. Benesch 2011: 253 ff.). 51 | Vgl. auch den 1914 erschienen Roman Kokoro von Natsume Sōseki (1867-1916), welcher übrigens erst 1976 erstmalig ins Deutsche übersetzt wurde – und der in einer ganz engen inter- bzw. hypertextuellen Beziehung zu Hearns Kokoro stehen dürfte, was aber hier nicht weiter thematisiert werden kann – nur so viel: Wie eng und kompliziert die persönlichen Beziehungen zwischen Sōseki und Hearn waren, zeigt sich schon darin, dass Sōseki 1903, nach einem dreijährigen, für ihn nachgerade miserabel verlaufenen Aufenthalt in London (seine Armut und Einsamkeit dort hatten eine schwere Depression erzeugt) zum Nachfolger Hearns als Professor für Literaturtheorie und Englische Literatur an der (damals) Kaiserlichen Universität Tokyo berufen wurde; er war damit der erste japanische Anglistik-Professor überhaupt. Die Studenten, die Hearn anscheinend sehr geschätzt hatten (vgl.: »The literature students had especially loved to hear Hearn [...]« (Miyoshi 1974: 55)), lehnten den psychisch angeschlagenen Sōseki ab: »Seine Vorlesungen über die englische Literatur [...] sollen [...] bei Studenten in Verruf gekommen sein, da diese Betrachtungsweise in ihren Augen nur steif, förmlich und pedantisch erschien« (Maeda 2011: 101). Kein Wunder, dass Sōseki auf das literarische Gebiet ›auswich‹ und ab 1903 intensiv mit literarischem Schreiben begann; ab 1905 erschien sein erfolgreicher Roman Wagahai wa neko de aru (Ich, der Kater) in einer japanischen Literaturzeitschrift. Er verließ dann 1907 die Universität, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Man

232 Thomas Pekar

eine Ethik bzw. Moral zu entwickeln – Nitobe nennt Bushidō gleich am Anfang ausdrücklich ein »ethisches System« (Nitobe 1901 [1899]: 1) –, da der Westen Japan vorwarf, diese nicht zu haben – und zwar vor allem, weil Japan a) nicht christlich war und sich auch nicht missionieren ließ und b) als äußerst freizügig in sexueller Hinsicht angesehen wurde. Um 1900 war Japan durchaus ein sextouristisches Reiseziel, galt als das Reich der Geishas, als das »Land freierer Liebe« (Österreich-Este 1895-1896: II/297), wie es der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand (1863-1914) einmal bezeichnete, der Japan auf seiner Weltreise 18921893 besuchte. Wenn die meisten japanischen Intellektuellen auch die Einführung des Christentums ablehnten, so war man aber andererseits durchaus bereit, sich christlichwestlichen, ja viktorianischen Moralvorstellungen zu beugen. Man fand diese Richtschnur, »die moralischen Grundsätze Japans« (Nitobe 1904: 237), wie dies Nitobe nannte, schließlich im Bushidō: Aus einer traditionellen Verhaltenspraxis,52 dem »Weg des Samurai« (Okakura 1906: 110), wurde nach dem Vorbild des englischen ›gentleman‹ ein Moralgesetz der ›Ritterlichkeit‹ gemacht. Diese Strategie hatte Erfolg – im Westen wurde Bushidō als ›Wertmodalität‹, um es mit dem Philosophen und Soziologen Max Scheler (1874-1928) zu sagen, anerkannt. Scheler schrieb 1916: »[Es] bestehen die nationalen und zeitlichen Musterbilder des ›gentleman‹, ›gentil homme‹, des ›homme honnête‹, des ›Biedermann‹, des ›cortegiano‹, des japanischen ›bushido‹ [...]« (Scheler 1954: 558, Anm. 1). Bushidō erscheint in dieser Auflistung der jeweiligen idealen ›Wertpersonentypen‹ als der einzige nicht-europäische Vertreter. Damit könnte denken, dass er sich dann noch einige Jahre Zeit ließ, um sich schließlich wieder mit Hearn zu messen, diesmal literarisch, indem er sein ›eigenes‹ Kokoro schrieb (dieser, zugegeben, etwas spekulativen Idee liegt die radikale Bloom’sche Ansicht zugrunde, dass die »Dichter gegeneinander Krieg führen im Kampf um die Ewigkeit« (Bloom 1997: 11  f.). Erstaunlich wenig wurde bislang diese komplizierte biographische, inter- und hypertextuelle Beziehung von Hearn-Sōseki thematisiert (vgl. allerdings Naito 2010: 23-31, wo es allerdings lediglich um die Unterschiedlichkeit der kokoro-Konzepte von Hearn und Sōseki geht, nicht aber um ihre textuelle Beziehung). Bekanntlich spielte General Nogi bzw. seppuku überhaupt in Sōsekis Kokoro eine zentrale Rolle; vgl. dazu Bargen (2006: 159-187). 52 | So bezeichnet auch Hurst Bushidō als »a behavioral pattern« (Hurst 1990: 514). Als traditionelle Lebenspraxis der Samurai war bushidō keineswegs in Lehrbüchern kodifiziert. Es gab lediglich Sammlungen von Anekdoten und Reflexionen, wie z. B. das berühmte Samurai-Handbuch Hagakure aus dem Jahre 1716. Nitobe spricht noch davon, dass Bushidō »kein geschriebener Codex« (Nitobe 1901 [1899]: 4) gewesen sei – was er unternimmt, ist aber nichts anderes, als eben diesen ›Codex‹ zu schreiben.

Bushidō als Intertext? 233

war die Absicht der japanischen Autoren, Bushidō als ein moralisches System zu etablieren, welches Japan auf eine Kulturstufe mit dem Westen heben sollte, in den Jahren um 1900 erfolgreich.53 Allerdings verkam Bushidō dann im Zuge der imperialen Kriege Japans, die mit dem ersten Krieg gegen China (1894-1895) begannen, zu dem immer mehr rassistisch54 verstandenen Yamatodamashii, dem japanischen (Volks-)Geist,55 in dessen Namen der kriegerische Nationalismus und Imperialismus Japans stattfand, der erst mit dem Kriegsende 1945 eine empfindliche Niederlage erlitt. Ob damit das unrühmliche Kapitel des Yamato-damashii allerdings geschlossen werden kann, ist angesichts des staatlich sanktionierten, gegenwärtigen japanischen Revisionismus mehr als zweifelhaft! Es wäre ganz sicher ein Missverständnis zu glauben, dass Bushidō den Zugang zu einem ›japanischen Sein‹ eröffnete: Hearn allerdings begreift anscheinend als Quintessenz eines von ihm angenommenen ›japanischen Seins‹ (bzw. des Samuraiwesens, also des Bushidō) das berühmt-berüchtigte Harakiri (seppuku).56 Was sich aber darin manifestiert, dürfte allenfalls als eine ideologisch verzerrte Wahnvorstellung von diesem ›japanischen Sein‹ angesehen werden.57 Bushidō eröff53 | Hatte Nitobe doch geschrieben: »Es muss überhaupt auffallen, wie sehr der Ehrencodex eines Lands mit dem anderer Länder übereinstimmt, mit anderen Worten, wie die vielgeschmähten orientalischen Moralgedanken ihr Gegenstück in den edelsten Lehren der europäischen Litteratur [sic!] finden« (Nitobe 1901 [1899]: 25). Bereits die zeitgenössischen amerikanischen Rezensionen von Nitobes Buch, die im Buch mit abgedruckt sind, akzeptierten Bushidō als Äquivalent etwa zu ›chivalry‹/Ritterlichkeit. 54 | Allerdings war der Bushidō-Diskurs von Anfang an rassistisch besetzt; vgl. z. B. Nitobe, der davon spricht, dass die japanischen »Rassengefühle« Bushidō vollständig durchdrangen (Nitobe 1901 [1899]: 11). 55 | Die Vorstellung bei Nitobe ist die, dass Bushidō zwar eine Ethik der Eliten sei, aber doch ins Volk ›sickere‹: Es wirke »wie Sauerteig auf die Massen, indem es einen moralischen Standpunkt für das ganze Volk gab«; und diesen ›Volksgeist‹ nennt er »Yamato Damashii (die Seele Japans)« (Nitobe 1901 [1899]: 120 f.). 56 | Dafür ein Beispiel: Hearn lässt in der von ihm ›nacherzählten‹ japanischen Geschichte Jiu-roku-zakura einen alten Samurai auftreten, der sich selbst tötet – »performed hara-kiri after the fashion of a samurai« (Hearn 1904: 141) –, um dadurch einen alten Kirschbaum zum Blühen zu bringen; in der japanischen Vorlage ist von diesem Harakiri keineswegs die Rede; in Japan habe man niemals – vor Hearn – »heard of a man committing harakiri to revive a dead cherry tree« (Ota 1998: 124). Solche Geschichten trafen aber genau den westlich-japonistischen Nerv. 57 | Man denke nur an den rituellen Selbstmord des Schriftstellers Mishima Yukio (19251970).

234 Thomas Pekar

net auch nicht den Zugang zur vollständigen Differenz einer vom Westen nicht nachvollziehbaren Fremdheit, wie sie etwa Roland Barthes suggeriert, wenn er ein Bild des japanischen Generals Nogi Maresuke (1849-1912) und seiner Frau Shizuko (1859-1912) in sein Japan-Buch aufnimmt, welches beide zeigt, kurz bevor sie am Tage nach dem Tod des Kaisers Meiji 1912 seppuku bzw. junshi [dem Gefolgsherren in den Tod folgen]58 begehen.59 Bushidō wäre vielmehr als eine textuell-kulturelle Hybridität zu verstehen, als (im engeren textuellen Sinn) konkrete Hypertextualität, die im Falle der Beziehung zwischen den Texten Hearns und Nitobes als Verhältnis von Hypotext und Hypertext (im Sinne Genettes) anzusehen ist,60 wobei der Hypertext (Nitobes 58 | Es gibt allerdings einige ungeklärte Umstände, ja sogar Spekulationen, dass Shizuko von Nogi ermordet worden sei (vgl. dazu Bargen 2006: 70-74 und Benesch 2011: 203). Dies wurde aber kaum öffentlich diskutiert. Zu den weitreichenden Folgen, welche dieser Doppelselbstmord (wenn es denn einer war) für die Diskussionen um bushidō hatten, vgl. Benesch 2011: 272 ff. Immerhin wurde Nogi angesehen als »the incarnation of Japan’s traditional virtues and sense of honor, and was referred to as the ›flower of bushidō‹ (bushidō no hana) and ›epitome of bushidō‹ (bushidō no tenkei). For this reason, his death by seppuku had a tremendous impact on bushidō discourse [...]« (ebd.: 272). 59 | Vgl. Barthes 1981 [1970]: 128 f.; Barthes entnahm diese Aufnahme (wie andere in seinem Buch auch) einem recht alten (von 1915 stammenden) und mit vielen Japan-Bildern ausgestatteten Buch, welches allerdings ein sehr japonistisches Japanbild entwirft: Challaye 1915: 29 (dort sind die Aufnahmen mit der Unterschrift: »Dernière photographie du Général Nogi et sa femme. Faite la veille de leur suicide« versehen). Barthes gibt in seinem Buch den Bildern die (in seiner Handschrift abgedruckte) Unterschrift: »Ils vont mourir, ils le savent et cela ne se voit pas«. / »Sie werden bald sterben, sie wissen es, und das ist nicht zu sehen«. Beleg ist Barthes u. a. dieses Foto dafür, dass Gesichter oder Körper in Japan ›leere Zeichen‹ seien; d. h. vom Sinn gereinigt bzw., wie Barthes sagt, davon »reingewaschen« (Barthes 1981 [1970]: 126) seien, was natürlich die Differenz zum Westen markieren soll. Man könnte dies aber auch so sehen, dass Barthes der japonistischen Differenz-Setzung (Japan als das ganz ›Andere‹) durch ›Harakiri‹ nur eine weitere, nämlich ›Befreiung von Sinn‹, hinzufügt. 60 | Genettes Hypertextualität hat mit dem ›Hypertext‹ der Webseiten nichts zu tun – allerdings geht es in beiden Fällen um den Verweis von Texten aufeinander. Er versteht darunter eine Überlagerung von Texten und spricht davon, dass die späteren Texte ohne die früheren nicht denkbar wären – so wie beispielsweise James Joyces Roman Ulysses (als Hypertext) nicht ohne Homers Odyssee (als Hypotext) hätte entstehen können; vgl.: »Als Hypertext bezeichne ich [...] jeden Text, der von einem früheren Text durch eine einfache Transformation [...] oder durch eine indirekte Transformation (durch Nachahmung) abgeleitet wurde« (Genette 1993: 18).

Bushidō als Intertext? 235

Bushido) als Transformation des zeitlich vorhergehenden Hypotextes (Hearns Ein Konservativer) anzusehen ist.61 Darüber hinaus lässt sich diese textuelle Beziehung zur kulturellen erweitern, wobei dann Bushidō als ein hyperkulturelles Phänomen im Sinne des Koreaners Byung-Chul Han aufzufassen wäre,62 als etwas, was sich aus der kulturellen Kommunikation oder der kulturellen Vermischung zwischen dem Westen und Japan ergeben hat – im Wechselspiel von Anspruch und Entsprechung, nicht zuletzt auch, um den Westen zufriedenzustellen, indem sich Japan selbst Gesicht und Gestalt gab.63 Gleichwohl ist Bushidō keine (Selbst-)Täuschung, sondern positives Ergebnis eines Kulturtransfers bzw. einer kulturellen Überlagerung oder Interferenz.64 Als solches, d. h. als ein so produziertes Verhältnis Japans zum Westen, ist Bushidō dann auch nicht etwa rätselhaft oder ›ganz anders‹, sondern als (inter-)kulturelle Textualität ›lesbar‹.65 61 | So gibt es auch direkte textuelle Übernahmen: Wenn Hearn davon spricht, dass es Erziehungspraxis sei, Samurai-Knaben auf den Richtplatz zu schicken und sie als Zeichen ihres Mutes einen abgeschlagenen Kopf mitbringen mussten, so schreibt diesbezüglich Nitobe: »Das Besuchen unheimlicher Orte, Hinrichtungsplätze, Kirchhöfe, von Geistern bewohnte Häuser war ein Lieblingszeitvertreib der Jünglinge. [...] [K]leine Knaben [...] mussten [...] im Dunkel der Nacht allein den Platz [von Enthauptungen] besuchen und an dem rumpflosen Kopf ein Zeichen zurücklassen, dass sie wirklich dort gewesen [waren]« (Nitobe 1901 [1899]: 23). 62 | Han geht von einer gegenwärtigen Ent-grenzung, Ent-ortung bzw. Ent-fernung der Kulturen aus (die Entfernungen zwischen den Kulturen werden ›entfernt‹): »Die Kulturen implodieren, d. h. sie werden ent-fernt zur Hyperkultur« (Han 2005: 17). Kulturelle Formen lösen sich von Orten und zirkulieren im globalen Raum. Das ›Besondere‹ der Hyperkultur ist für Han »der Zuwachs an Räumen, die nicht machtökonomisch, sondern ästhetisch zugänglich wären«; Hyperkultur ist von der »rhizomatische[n] ›Logik des UND‹« ( Han 2005: 30 u. 35) bestimmt. Gewisse hyperkulturelle Züge mag es allerdings auch schon früher gegeben haben. Han kritisiert alle anderen Ansätze, wie Interkulturalität, Multikulturalität, Transkulturalität, da sie »eine Essentialisierung der Kultur« voraussetzen würden (Han 2005: 56). 63 | Greenblatt spricht in dieser Hinsicht von einer »Assimilation des Anderen«, die er darin erkennt, dass sich Balinesen Tempelzeremonien als Videoaufnahmen ansehen: »[S]o schienen [...] die Balinesier [sic!] die neuesten westlichen und japanischen Repräsentationstechnologien auf eine so kulturspezifische und eigensinnige Weise zu benutzen, daß man sich mit Recht fragen durfte, wer hier eigentlich wen assimilierte« (Greenblatt 1994: 13). 64 | Dies knüpft an Überlegungen Karl-Heinz Kohls zu Fetischphänomenen an (vgl. Kohl 2003). 65 | Ein Missverständnis wäre es, Bushidō ›substanzontologisch‹ (vgl. Han 2005: 56) von diesem Verhältnis abzulösen.

236 Thomas Pekar

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Der Widerstand Asiens. ›Moderne‹ und ›Nation‹ im Verständnis Takeuchi Yoshimis Ryu Itose

1. Takeuchi Yoshimi

und die

Ȇ berwindung

der

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Der japanische Sinologe und Kulturtheoretiker Takeuchi Yoshimi (1910-1977) setzte sich intensiv mit der Moderne in Japan bzw. Asien auseinander. Vor allem galt sein Interesse der »Überwindung der Moderne« und der Frage, wie dies möglich sei. Durch alle seine Werke zieht sich ein roter Faden. Diesen roten Faden werde ich vorübergehend »die Moderne in Asien (Japan)« nennen. Ich schreibe »Asien (Japan)«, weil es nicht bestimmt werden kann, ob die »Moderne«, so wie sie von Takeuchi gedacht wurde, in Japan oder in Asien stattfindet. Des Weiteren bleibt für mich die Frage offen, ob Japan in Asien inkludiert ist, da Japan sich aufgrund der Abschließung des Landes (1639) und nach der Öffnung (1853) aufgrund der Modernisierung nicht zu Asien gehörig fühlte. Ob Takeuchi Japan in Asien inkludierte, als er über die Moderne (bzw. Modernisierung) nachdachte, hängt auch damit zusammen, dass Takeuchi sich der chinesischen Literatur widmete. Er nahm im Jahr 1931 das Studium der Sinologie an der Kaiserlichen Universität Tokyo (heutige Universität Tokyo) auf. Matsumoto Ken’ichi beschreibt die Motivation Takeuchis wie folgend: »Er entschied sich dafür, weil es einerseits »prüfungsfrei« war und er sich andererseits aus Sympathie dem Schwachen gegenüber angezogen fühlte, da damals die chinesische Literatur im Schatten der proletarischen Literatur stand. Er selbst kommentiert, dass er von Nakano Shigeharu, der mit Korea sympathisierte, beeinflusst wurde. Das heißt, Takeuchis Entscheidung für die chinesische Literatur ist ein Konglomerat seiner humanistischen und nihilistischen Ideale« (Matsumoto 2005 [1975]): 30).1

In diesem Artikel stelle ich vor allem Takeuchis Sympathie gegenüber »dem Schwachen« in den Mittelpunkt, die Einfluss auf seine Abhandlungen hat, die ich hier behandle. Sein Denken, welches aus dieser Sympathie heraus entstand, durchzieht das, was ich als »die Moderne in Asien (Japan)« bezeichne. Ich fokussiere mich hier 1 | Alle Übersetzungen aus dem Japanischen sind vom Verfasser selbst.

242 Ryu Itose

auf sein Manifest »Der Großasiatische Krieg und unser Entschluss«2 (Daitōa sensō to warera no ketsui [Sengen], 1942), welches Takeuchi kurz nach dem Ausbruch des Pazifikkrieges3 verfasste; weiter thematisiere ich seine Kritik an der japanischen Moderne, die er in seiner Schrift »Die Moderne Chinas und die Moderne Japans«4 (Chūgoku no kindai to nihon no kindai, 1948) äußerte, welche Takeuchi kurz nach der Niederlage Japans verfasste; und weiter nehme ich die Abhandlung »Die Überwindung der Moderne« (Kindai no chōkoku) auf, an der Takeuchi nach dem Krieg 15 Jahre lang schrieb; und schließlich noch die zwei Jahre danach erschienene Abhandlung »Asien als Methode« (Hōhō toshite no ajia). Das heißt, der Rahmen dieses Aufsatzes bewegt sich von dem vorkriegszeitlichen »Manifest« bis hin zu »Asien als Methode«, wobei die Frage nach der »Moderne in Asien (Japan)« im Zentrum steht. Takeuchi befasste sich bis zu seinem Tode mit diesem Thema.5 Ich habe hier einige Abhandlungen Takeuchis erwähnt; und wie man daran erkennen kann, ist Takeuchi jemand, dessen Werke als Reaktion auf die politischen Umstände entstehen. Takeuchi ist in Japan nicht nur für seine Arbeit über den chinesischen Schriftsteller Lu Xun (1881-1936) bekannt, sondern auch für seine Abhandlung »Die 2 | In diesem Artikel wird die Abhandlung Takeuchis »Der Großasiatische Krieg und unser Entschluss (ein Manifest)« mit »Manifest« abgekürzt bezeichnet. Die Zitate von Takeuchi stammen alle aus seiner Gesamtausgabe (Takeuchi Yoshimi zenshū, in 17 Bänden, 1980-1982, Tōkyō). Bei Zitaten aus seiner Gesamtausgabe werden der jeweilige Band und die jeweilige Seitenanzahl angegeben (z. B.: GA V: 215). Einige Arbeiten Takeuchis, u.a. »Die Überwindung der Moderne«, liegen auch in deutscher Übersetzung vor (vgl. Takeuchi 2005). 3 | Damit wird der Zeitraum 1937-45 bezeichnet. 4 | Der Titel der Abhandlung »Die Moderne Chinas und die Moderne Japans« wurde bei der Aufnahme in die Gesamtausgabe Takeuchis in »Was ist die Moderne? Im Fall Chinas und Japans« umbenannt. 5 | Im Oktober 1964 brachte die Zeitschrift Chūō Kōron eine Sonderausgabe mit dem Titel »Repräsentative Abhandlungen, die das Nachkriegsjapan erschufen« (Sengo nihon o tsukutta daihyō ronbun) heraus. 18 Abhandlungen wie »Über den Verfall« (Daraku-ron, 1946) des Schriftstellers Sakaguchi Ango (1906-1955), »Logik und Psyche des Ultranationalismus« (Chōkokkashugi no ronri to shinri, 1946) des Politikwissenschaftlers Maruyama Masao (1914-1966) bis hin zu Sakamoto Yoshikazus »Die chinesisch-japanische Beziehung im Atomzeitalter« (Kaku jidai no nitchū kankei, 1963). Auch zwei Abhandlungen von Takeuchi Yoshimi, die Kritik an der KPJ »Beiträge zur kommunistischen Partei Japans« (Nihon kyōsantō ni atau, 1950) sowie »Die Moderne Chinas und die Moderne Japans«, standen zur Auswahl. Letztendlich wurde die letztgenannte Abhandlung ausgewählt, da Takeuchi sich hierbei mit seinem Fachgebiet China auseinandersetzt.

Der Widerstand Asiens 243

Überwindung der Moderne«. Dieser Ausdruck stammt von dem gleichnamigen Symposium von 1942. Hiermit möchte ich eine neue Lesart dieses Aufsatzes versuchen. Als dieses Symposium erstmalig in Buchform erschien, wurden die Diskussionen darüber sowie die Artikel, die vor und nach dem Symposium von den Teilnehmern in der Zeitschrift Bungaku-kai abgedruckt wurden, gemeinsam veröffentlicht. In der 1979 gedruckten Ausgabe des Verlages Fuzambō (vgl. Kawakami u. a. 1979) wurde zusätzlich die Abhandlung Takeuchi Yoshimis, die ebenfalls den Titel »Die Überwindung der Moderne« trägt, beigefügt. Auch heute haben Takeuchis Abhandlungen auf Diskussionen, die sich auf das damalige Symposium beziehen, einen beträchtlichen Einfluss. Des Weiteren zählt diese Abhandlung Takeuchis bis heute zu seinen meistgelesenen Werken und wird häufig auch von einem kritischen Standpunkt aus gelesen. Wie bewertete Takeuchi nun das Symposium »Die Überwindung der Moderne« von 1942? Als es abgehalten wurde, war ein halbes Jahr nach dem Beginn des Pazifikkrieges vergangen und die japanischen Truppen hatten einige Kriegserfolge erzielt. Verteilt auf die September- und Oktoberausgabe wurde der Inhalt des Symposiums in der Zeitschrift Bungaku-kai veröffentlicht. Die 13 Teilnehmer stammten aus dem Umfeld dieser Zeitschrift sowie aus der damals bereits eingestellten Zeitschrift Nihon rōman-ha6 um den Literaten Kamei Katsuichirō (1907-1966). Auch nahmen der Philosoph der Kyoto Schule Nishitani Keiji (1900-1990), der Historiker Suzuki Shigetaka (1908-1988) und der Musiker Moroi Saburō (19031977) als Gastredner daran teil. Die damalige Bungaku-kai veranstaltete viele Symposien in dieser Form. Man kann erkennen, dass den Veranstaltern dieses Symposium wichtig war, da sie viele Gastredner versammelten und von der Idee bis zur Veröffentlichung über ein halbes Jahr an Vorbereitungszeit aufgewendet wurde. Als Grund für das Symposium bezeichnete der Diskussionsleiter Kawakami Tetsutarō (1902-1980) das »intellektuelle Schaudern«7 (Kawakami u. a. 1979: 166) zu Beginn des Pazifikkrieges. Um genauer Takeuchis Beitrag zu verstehen, muss man sich zunächst ansehen, wie das Symposium aufgenommen wurde. Odagiri Hideo (1916-2000), dessen Abhandlung von Takeuchi mit »der vollen Punktzahl als Prüfungsarbeit in Geschichte« bewertet wurde, sagt Folgendes:

6 | In diesem Artikel wird die Zeitschrift »Japanische Romantische Schule« mit Nihon rōman-ha (mit langem Vokal bei rōman) und die Gruppe »Japanische romantische Schule« mit Nihon roman-ha bezeichnet. 7 | Seit der Meiji-Restauration hatte Japan vom Westen viel gelernt, um dann dieses Wissen im Pazifikkrieg anzuwenden. Diesen Wandel empfand Kawakami vielleicht als »intellektuelles Schaudern«.

244 Ryu Itose »Die Diskussion über die »Überwindung der Moderne« während des Pazifikkrieges war eine Gedankenkampagne, um moderne demokratische Systeme und Lebenserfordernisse auszutilgen, während diese Diskussion die Rolle einer »ideologischen Kriegsführung« hatte, die ein organischer Teil des totalen Krieges unter dem militärischen Herrschaftssystem ist. Im Vergleich mit den Aktionen von extremen Militaristen, die damals ›ideologische Kriegsführung‹ ausgeschrien haben, hat diese Diskussion, in deren Zentrum die Bungakukai war, sich anscheinend intellektueller und eleganter gezeigt. Und doch beschritt sie den gleichen Weg, deswegen übte sie schwerwiegende Einflüsse aus. Der Kritik an der kapitalistischen Zivilisation, welche die Nihon roman-ha [»Japanische romantische Schule«] bisher in der Form einer Kritik an der Bunmei kaika [Kulturerneuerung] und dem Bürokratismus durchführte, ist durch diese Diskussion eine weitere Perspektive hinzugefügt worden. Ferner wurde die moderne Gesellschaft Japans und ihre verdrehte Entwicklung der modernisierten Seiten des Lebens, der Zivilisation, der Kunst usw. und die schwache Seite der verdrehten Entwicklung von verschiedenen Seiten kritisch beurteilt und angegriffen. Infolgedessen sind Beschützung und Theoretisierung für den militaristischen Tennō-Staat bzw. Duldung und Gehorsam gegenüber der Kriegsorganisation dieses Tennō-Staates als eine Gedankenkampagne betrieben worden« (Odagiri 1971 [1958]: 150).

Jedoch lehnt Takeuchi die Aussage Odagiris als »ideologisches Urteil« (GA XV: 10) ab. Takeuchi schrieb seine Abhandlung, da er mit dieser Arbeit damit beginnen wollte, »aus der Ideologie heraus das Denken entstehen zu lassen«. Diese Notwendigkeit fühlte er deshalb besonders stark, da er sich auf den Eindruck eines jungen Mannes über das Symposium bezog. Dieser junge Mann war der Kritiker und Romanist Nina Makoto. »Vor zehn Jahren verschlangen die jungen Leute es (Die Aufzeichnungen über das Symposium »Die Überwindung der Moderne« in der Bungaku-kai; Anm. von R. I.). [...] Die Studenten glaubten zweifellos, dass es keinen Zusammenhang zwischen ihnen, die die zur Front aufbrechenden Studenten verabschiedeten, und dem ruhigen Symposium »Die Überwindung der Moderne« gäbe. Vielleicht war nur Kobayashi Hideos Aussage: ›Es gibt immer das Gleiche, immer kämpfen die Menschen gegen das gleiche – diese Menschen, die das Gleiche durchzieht, sind ewig‹, das Einzige, das das Gewissen dieser jungen Studenten, denen Militärkleidung angezogen wurde, unterstützte« (Nina 1952: 37).

Takeuchi teilte die Reaktion der Leser auf das Symposium, weiter gefasst: die psychische Befindlichkeit von Menschen, die junge Leute in den Krieg treiben, in »Groll, Hass, Ärger und Verachtung« (GA VIII: 38) ein, aber Ninas Reaktion bezeichnete er als »Groll«, und sie spreche für viele. Takeuchi bewertet jedoch diesen »Groll« als etwas, das sich nicht auf die Substanz der Gewalt bezieht, sondern als Form eines »umgekehrten Grolls« das eigene Gefühl stützte. Dessen Ursache

Der Widerstand Asiens 245

sieht Takeuchi in der Symbolwirkung des Symposiums, die von der ideellen Anschauung des Symposiums getrennt werden müsse. Für Takeuchi war es das dringende Thema, »Symbol und Ideologie und die Nutzer der Ideologie voneinander zu unterscheiden« (GA VIII: 38). Um Gefühle des »Grolls«, so wie sie Nina hegte, nicht entstehen zu lassen, war es für Takeuchi entscheidend, »entweder die Ideologie aus dem Denken zu lösen oder aus der Ideologie heraus das Denken zu extrahieren« (GA VIII: 12). Diese Beurteilung Takeuchis hat großen Einfluss auf seine geringe Bewertung des Symposiums selbst ausgeübt. Er schreibt wie folgend: »Nur anhand der Aufzeichnungen über dieses Symposium kann man nicht den ideellen Inhalt der »Überwindung der Moderne« extrahieren. Die »Überwindung der Moderne«, als etwas, das Krieg und faschistische Ideologie so sehr repräsentierte, dass bei der bloßen Erwähnung das Adjektiv »berüchtigt« beinahe schon traditionsgemäß übergestülpt wird, wurde nach dem Krieg wie ein Schurke behandelt. Wenn man es jedoch jetzt noch einmal liest, dann fragt man sich verwundert, wieso es so toben konnte, so ideologisch inhaltsleer es doch war« (GA VIII: 4).

Takeuchi beschreibt das Symposium als »ideologisch inhaltsleer«. Anders gesagt: Dieses Symposium ist ideologisch weder gut noch schlecht. Takeuchi Yoshimis Methode, die mit diesem Symposium begann und sich an die »Überwindung der Moderne« als Idee annäherte, hat die Bewertung des Symposiums als etwas, das der Nachwelt ideologisch nichts hinterlässt, zum Ausgangspunkt. Seine Abhandlung wurde sofort nach ihrer Veröffentlichung kritisiert. Fast zeitgleich mit diesem Symposium wurde ein weiteres umstrittenes Symposium abgehalten. Vier junge Philosophen der Kyoto-Schule, direkte Schüler von Nishida Kitarō (1870-1945) und Tanabe Hajime (1885-1962), und einige Historiker hielten im November 1941 sowie einige Monate nach dem Angriff auf Pearl Harbor eine Symposiumsreihe namens »Weltgeschichtlicher Standpunkt und Japan« (Sekaishi-teki tachiba to nihon) ab. Zwei der vier Teilnehmer, Nishitani Keiji und Suzuki Shigetaka, nahmen auch am Symposium »Die Überwindung der Moderne« teil. Takeuchi bewertete das Symposium »Weltgeschichtlicher Standpunkt und Japan« in Bezug auf seine realistische Wirkungskraft als genauso wirkungslos wie das andere Symposium, aber als für die Kriegsdogmatik erfolgreich. »Für die Kyoto-Schule war die Dogmatik wichtig, aber die Wirklichkeit egal« (GA VIII: 48). Takeuchis persönlicher Ansicht nach ist »Die Überwindung der Moderne«, anders als »Weltgeschichtlicher Standpunkt und Japan«, weder kriegsgefärbt noch Ideologie. Er sieht jedoch nicht in dem Symposium selbst den Grund, weswegen es einen schlechten Ruf erlangte, weil er es an und für sich als »ideologisch inhaltsleer« betrachtet.

246 Ryu Itose

Das folgende Zitat repräsentiert Takeuchis Lesart dieses Symposiums. Diese Sätze sind entscheidend für ihn und auch für den weiteren Verlauf meiner Argumentation. »Die Aporie der modernen japanischen Geschichte verdichtet sich in dem Symposium »Die Überwindung der Moderne«. Die Dualismen Restauration und Erneuerung, Verehrung des Kaisers und Vertreibung der Barbaren, Abschließung des Landes und Öffnung des Landes, Nationalismus und Kulturerneuerung, Osten und Westen, die die fundamentale Achse hervorbrachte, traten in der Phase des totalen Kriegs auf einen Schlag als ein Problem in der Diskussion über die »Überwindung der Moderne« hervor, in der Phase des totalen Kriegs vor die Situation gestellt, wie man die Idee des ewigen Krieges zu interpretieren habe. Das Einbringen des Problems war zu diesem Zeitpunkt richtig, daher zog das Symposium das Interesse der Intellektuellen auf sich. Es gab einen anderen Grund als das Einbringen des Problems dafür, dass das Symposium zu keinem guten Ergebnis kam. Die Zweideutigkeit des Pazifikkrieges wurde nicht seziert, das heißt die Aporie wurde nicht als Aporie erkannt. Deshalb konnte man das starke ideelle Subjekt nicht hervorbringen, das Yasuda Yojūrōs Zerstörungskraft verwendet, um diese Aporie aufzulösen. Deshalb wurde die wertvolle Aporie zerstreut und verschwand in alle Winde, und das Symposium beschränkte sich darauf, nur eine Erklärung des öffentlichen Kriegsgedankens zu sein. Und die Auflösung der Aporie bereitete das geistige Vakuum der Nachkriegszeit vor und das geistige Fundament für die Kolonisierung Japans« (GA VIII: 64 f.).

Hier zeigten sich die verschiedenen Probleme, die Japan nach der Öffnung des Landes in der Meiji-Zeit betrafen. Takeuchi bezeichnete diese Probleme als »Aporie«, das heißt als Zweideutigkeit des Pazifikkrieges als Invasionskrieg gegen China und anti-imperialistischen Krieg gegen den Westen. In dem Symposium wurde die Aporie für Takeuchi nur eingebracht, doch entschwand sie, weil in dem Symposium »die Zweideutigkeit des ›Großasiatischen Krieges‹« nicht behandelt wurde. Yasuda Yojūrō (1910-1981) war ein Vertreter der Nihon roman-ha und wurde aus dem öffentlichen Amt ausgeschlossen wegen der Schuld, mit seiner »unheimlich kunstvollen Prosa« (GA VIII: 58) die Jugend zum Krieg gehetzt zu haben. Yasuda richtete seine radikale Kritik auf die »Kulturerneuerung« und auf den Modernismus der japanischen Literatur. Um Takeuchis Problembewusstsein gegenüber dem Symposium und seinem Thema zu verstehen, muss man sein Verständnis dieses Krieges untersuchen.

Der Widerstand Asiens 247

2. Takeuchi Yoshimi

und der

›G rossasiatische K rieg ‹

Wie oben beschrieben, urteilte Takeuchi, dass das Symposium »Die Überwindung der Moderne« kein Erfolg war. Ein Grund dafür ist, dass das Symposium als ein »unverantwortliches Gerede« (Ōsawa 1998: 104) beendet wurde und nicht auch eine Ideologie werden konnte. Es gibt noch ein Problem mit dem Symposium für Takeuchi. Und zwar, wie der Krieg im Pazifischen Ozean zu begreifen war. Dieses Verständnis hat damit zu tun, wie man sich mit dem Angriff auf Pearl Harbor am 8. Dezember 19418 auseinandersetzte und mit welchem Charakter man diesen Krieg definiert hat. Von diesem Verständnis her kommt das Motiv Takeuchis, der das Thema »Die Überwindung der Moderne« wieder untersuchen wollte, sowie die Motive der Kritiker, die Takeuchi kritisierten, und die Motive der Teilnehmer des Symposiums. Welche Eindrücke hatten die Intellektuellen Japans am 8. Dezember, an dem Tag, als Japan den Vereinigten Staaten und Großbritannien den Krieg erklärte? Wie nahm Takeuchi den Kriegsausbruch auf? Dies zu sehen ist unbedingt notwendig, wenn wir die Spur seines Denkens verfolgen wollen. Seine Begeisterung beim Kriegsausbruch war diese: »Dieser Tag ist ein historischer Augenblick. Die Welt hat ihr Aussehen verändert. Wir haben dieses Ereignis mit eigenen Augen gesehen. Wir haben zitternd vor Rührung den Lauf eines Lichtstrahls betrachtet, der wie ein Regenbogen floss. Ein unbeschreibliches, starkes Gefühl erfüllte unsere Herzen. [...] Der 8. Dezember, der Tag, an dem der kaiserliche Erlass erschien, ist der Tag, an dem der Entschluss des japanischen Volkes aufloderte. Unsere Stimmung hellte sich auf. [...] Bis jetzt hatten wir befürchtet, dass sich unser Japan an den Schwachen vergreift, unter dem beschönigenden Vorwand der Schaffung Ostasiens« (GA XIV: 294 f.).

Ich beende das Zitat aus diesem »Manifest« hier, um es mit Eindrücken anderer zu vergleichen. Die Kritik Ara Masahitos (1913-1979)9 gegen Takeuchi zielt auf dieses Verständnis Takeuchis in der Zeit nach dem 8. Dezember. Über den Ausbruch des ›Großasiatischen Krieges‹ hinterließen viele Intellektuelle ihre Eindrücke. Kawakami Tetsutarō, der Vorsitzende des Symposiums, schrieb: 8 | Während im Westen der Kriegsbeginn mit dem 7. Dezember 1941 (Angriff auf Pearl Harbor) angegeben wird, wird dieser in Japan mit dem 8. Dezember verzeichnet, an dem der kaiserliche Erlass zum Kriegsbeginn (Kaisen no shōchoku) mit den USA und Großbritannien erschien. 9 | Der Literaturkritiker Ara Masahito prägte vor allem die Literatur der Nachkriegszeit mit seiner zeitkritischen Schrift Daini no seishun (Der zweite Frühling, 1947).

248 Ryu Itose »Das Wort ›die dunklen Wolken in Pazifik‹ war lange Zeit in Verfall geraten. Wohl trifft es nicht genau zu sagen, dass sich diese Wolken für mich aufklaren. Aber in meinem Herzen sind sie schon fast wie aufgeklart. Der wüste Friede ist so unklar und unangenehm im Vergleich mit der Reinheit des Krieges!« (Kawakami 1942).

Im Vergleich zu Takeuchi gibt es noch eine Art innere Hemmung bei Kawakami. Dann noch eine andere Stimme, die des Schriftstellers Takami Jun (1907-1965). Er schrieb, dass er »das Gefühl [habe], dass das gekommen ist, was kommen soll« (Takami 1987 [1963]: 576 f.). Und er zitierte den Eindruck, den 1956 der Romanist Kuwabara Takeo (1904-1988) äußerte: »Wenn ich ganz ehrlich sein soll, hatte ich nicht das Bewusstsein, dass Japan etwas sehr Übles provoziert hat. Denkt man jetzt darüber nach, dann ist es lächerlich, aber ich fühlte mich immerhin sehr wohl, als das britische Schlachtschiff Prince of Wales versenkt wurde« (zit. nach ebd.: 577).

Takami stimmte diesem Gefühl von Kuwahara zu, obwohl es seinem Eindruck nach »keine Begeisterung und keine Frohlockung« (ebd.) gab. Ich denke, dass dieser Eindruck Takamis ungefähr den durchschnittlichen Eindrücken der Intellektuellen vor dem Ausbruch des Pazifikkrieges entspricht. Trotzdem muss ich noch hinzufügen, dass Takami nach diesem Eindruck »eine unbeschreibliche Wehmut für Japan« fühlte, als er die Kriegserklärung des Kaisers von Japan an die Vereinigten Staaten und Großbritannien las. An diesem Punkt ist sein Eindruck ganz anders als das »Manifest« von Takeuchi. Die Reaktionen Takamis sind »nicht Gedanken gegen den Krieg oder Kriegshass, aber auch nicht aus dem Gefühl heraus, auf den Krieg ein Loblied zu singen, und auch nicht aufgrund der Willkommenheißung des Kriegsausbruches« entstanden (ebd.). Dazu gibt es keinen »Entschluss des japanischen Volkes« (GA XIV: 294), so wie ihn Takeuchi hatte. Nun, wie war dies bei Ara, der an der Spitze der Kritik gegen den Artikel Takeuchis gestanden war? Ara schrieb: »Auch ich war schockiert, dass das gekommen ist, was nicht kommen soll. [...] Ich war ganz sicher, dass jener Krieg nicht gekommen wäre, wenn man Vernunft gehabt hätte. Es war ein Krieg, der nicht kommen sollte« (Ara 1960a: 6).

Wie wir an den Reaktionen dieser Intellektuellen sehen, gibt es ganz unterschiedliche Auffassungen über den Pazifikkrieg. Grob aufgeteilt lassen sich zwei Richtungen unterscheiden: Einmal wird der Krieg verstanden als »etwas, das kommen sollte«; zum anderen als »etwas, das nicht kommen sollte«. Die erstere Meinung vertreten Takeuchi, Kuwahara und Takami; die letztere vertritt Ara. Man kann

Der Widerstand Asiens 249

Kuwaharas und Takamis Ansicht auch mit »etwas, das irgendwann gekommen wäre, ist letztendlich gekommen« und Takeuchis Ansicht mit »etwas, das kommen musste, ist gekommen« umschreiben. Zum Schluss kommt die Auffassung Aras, dass »etwas, das auf keinen Fall kommen sollte, gekommen ist«. Die Auffassungen von Kuwahara und Takami enthalten eine Art der Ergebung, die als eine Folge über die Lage zu urteilen entstand. Deswegen ist es nicht schwierig, den Unterschied zwischen den beiden Positionen (Takamis und Kuwaharas) und der Takeuchis zu erkennen. Aber der Unterschied zwischen Ara und Takeuchi ist fundamental und resultiert aus ihren unterschiedlichen Auffassungen über den Charakter des Pazifikkrieges. Die Thematik der »Überwindung der Moderne«, die für Takeuchi eine verdichtete »Aporie der Geschichte der japanischen Moderne« (GA VIII: 64) ist, verschwand bei dem Symposium. Um erneut als Idee zur »Überwindung der Moderne« wiedererrichtet zu werden, muss der Blickpunkt auf China, der bei dem Symposium fehlte, zurückgeholt werden. Jedoch wurde bei dem Symposium diese Aporie der Zweideutigkeit des Pazifikkrieges nicht zum Thema. Für Takeuchi war es gut, dass das Symposium das Problem aufwarf, aber es endete, ohne das aufgeworfene Problem zu lösen. Der Leiter des Symposiums, Kawakami, fasste diese Problematik so, dass sich »besonders nach dem 8. Dezember so etwas wie eine festgelegte Form zeigt. Die Festlegung dieser Form kann ich nicht in Worte fassen. Ich nenne es ›Überwindung der Moderne‹« (Kawakami u. a. 1979: 172). Man kann wohl sagen, dass Kawakami die Gefühle der meisten Teilnehmer aussprach. Aber nach Takeuchi kam das Symposium zu keinem guten Ergebnis und die Aporie wurde nicht als solche erkannt. Den Grund dafür sieht Takeuchi darin, dass die »Zweideutigkeit des Krieges« nicht seziert wurde. Worin besteht diese Zweideutigkeit? Dafür kann die Aussage von Kamei aus der Nachkriegszeit ein Hinweis sein: »Was ist die Substanz des ›modernen Europas‹, dessen Spuren wir seit der Meiji-Zeit verfolgen? Welche Wirkung hatte es denn in Japan? Was ist das, das als japanisches Prinzip gilt, das die Japaner selbst als Wegweiser seit dem Krieg nehmen müssen? Hier kommt auch selbstverständlich die Frage der Konfrontation zwischen ›dem Osten und dem Westen‹ auf. Ich kann hier dieser komplizierten Frage nicht nachgehen, aber wenn ich jetzt nur auf eines zurückblicke, wundere ich mich selbst, und zwar, dass ›China‹ in keiner Weise als Frage aufgestellt wurde«(Kamei 2005 [1957]: 81 f.).

Was das betrifft, so stimmt Takeuchi mit der Meinung Kameis über die »Zweideutigkeit« überein und äußert sich in seinem Aufsatz »Die Überwindung der Moderne« über die von ihm in der Nachkriegszeit angestoßene Debatte so, dass es keinen Grund zur Rationalisierung des Symposiums bei Kameis Argumentation gebe. Er schreibt:

250 Ryu Itose »Kamei legt die Denkweise eines allgemeinen Krieges ab und nimmt nur die Komponente des Invasionskrieges gegen China (und gegen Asien) heraus, und will nur für diesen Teil die Verantwortung tragen. Nur in diesem Punkt stimme ich der Denkweise Kameis zu. Der Großasiatische Krieg war ein Invasionskrieg gegen die Kolonien und gleichzeitig ein Krieg gegen den Imperialismus. Diese beiden Seiten waren in Wirklichkeit vereint, müssten aber der Logik nach voneinander getrennt werden. [...] Durch Imperialismus kann man den Imperialismus nicht stürzen, aber dem zum Trotz kann man auch nicht Imperialismus durch den Imperialismus richten. Um darüber zu richten, muss man universelle Werte als Kriterium nehmen (zum Beispiel wie bei den Tokyoter Prozessen: Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit), aber solche universellen Werte werden von Kameis Logik nicht anerkannt; weil universelle Werte, die Ost und West umfassen, mit der Tradition brechen, und mit der Tradition Gebrochenes die ›Kulturerneuerung‹ ist und kein ›Original‹ sein kann« (GA VIII: 33 f.).

Ist nicht die Nichterwähnung der Beziehung Japans zu China, die von Kamei bemängelt wurde, der Grund, warum Kawakami keine Worte für den 8. Dezember fand? In den Köpfen jener, die bei dem Symposium anwesend waren, fehlten jegliche Hinweise auf China, aber Takeuchi, der das Manifest »Der Großasiatische Krieg und unser Entschluss« schrieb, hatte dies stets im Kopf. Für Takeuchi war die Kette der Ereignisse, die zur Invasion Chinas führte,10 vor dem 8. Dezember kein wie von Kawakami bezeichneter »wüster Friede« (Kawakami u. a. 1979: 166). Weil er bereits immer China im Gedächtnis hatte, konnte Takeuchi den »Lauf eines Lichtstrahls« verfolgen. Der »Lauf eines Lichtstrahls« war für Takeuchi die Hoffnung, dass der Invasionskrieg gegen das schwache China durch den 8. Dezember 1941 zu einem »gerechten Krieg« gegen die USA werden würde. Ein Krieg gegen das schwache China weckte Schuldbewusstsein in Takeuchi, jedoch ein Krieg gegen die USA war ein Krieg auf gleicher Augenhöhe. Takeuchi fasste den Krieg als »etwas, das kommen musste« auf. Seine Sorge, dass China annektiert werden könnte, klärte sich durch den 8. Dezember auf. Diese Auffassung entsteht durch das Verständnis der Zweideutigkeit des ›Großasiatischen Krieges‹, die darin bestand, dass der Krieg gegen China als Invasionskrieg, gegen Großbritannien und die Vereinigten Staaten aber als anti-imperialistischer Krieg angesehen wird. Takeuchi sagte dies zwar so erst in der Nachkriegszeit, aber in dem zuvor zitierten »Manifest« kommt die ›Urform‹ seines Denkens bereits deutlich zum Vorschein. Takeuchi lobt in diesem Manifest die Bedeutung des »heiligen Krieges« mit lauter Stimme:

10 | Ausschlaggebend war der Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke am 7. Juli 1937, der den zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg auslöste.

Der Widerstand Asiens 251

»Wir schämen uns. Wir haben nicht den Sinn des sogenannten heiligen Krieges beachtet. Wir haben bis jetzt gerade gezweifelt, ob unser Japan nicht unter dem Deckmantel der Errichtung Asiens das Schwache quälen würde. [...] Unser Zweifel ist vergangen. Mit Entschlossenheit haben wir den wahren Sinn der Tat, dass Japan in Ostasien eine neue Ordnung errichtet und die Völker in Asien befreit, bis ins Mark verstanden. [...] Der Großasiatische Krieg hat den China-Zwischenfall vortrefflich vollendet und in die Weltgeschichte zurückgerufen« (GA XIV: 296).

Dieses Manifest wurde in der Zeitschrift Chūgoku Bungaku der Akademie für chinesische Literatur, die Takeuchi gemeinsam mit dem Schriftsteller Takeda Taijun u. a. gegründet hatte, veröffentlicht. Takeuchi begann sich mit der modernen chinesischen Literatur auseinanderzusetzen, da er von Nakano Shigeharus (1902-1979) Idee der »Sympathie dem Schwachen gegenüber« stark beeinflusst worden war. Für Takeuchi war das Verhalten der japanischen Armee seit dem Mukden-Zwischenfall in der Mandschurei (1931) vor dem 8. Dezember nichts weiter als »ein Quälen der Schwachen« gewesen. Der 8. Dezember löste diese Sichtweise auf. Seine Zweifel vergingen nun, denn in Asien breitete sich, so seine Meinung, eine »neue Ordnung« aus; die Befreiung der Völker wurde angestrebt. Der ›Großasiatische Krieg‹ vollende den Krieg zwischen China und Japan. Die Motivation zu diesem »Manifest« erklärte Takeuchi in der Nachkriegszeit so, dass er »durch die Bejahung des Großasiatischen Krieges den China-Zwischenfall kritisiert [habe]« (Tsurumi 1996 [1963]: 137). Takeuchis Verständnis des ›ChinaZwischenfalls‹ nun als Invasionskrieg und des ›Großasiatischen Krieges‹ nun als anti-imperialistischen Krieg lenkte ihn auf die Leerstellen des Symposiums. Allerdings ist das Verständnis Takeuchis, gleichzeitig einen imperialistischen Krieg (Invasionskrieg gegen China) und einen anti-imperialistischen Krieg (gegen die USA und Großbritannien) zu führen, widersprüchlich.

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Natürlich geht Takeuchi dabei davon aus, dass das Symposium ein Misserfolg war. Jedoch suchte er darin ein sogenanntes »Zentrum der Möglichkeit«, wodurch er die Kritik von Ara auf sich zog.11 Dieser verstand nicht, wieso man das Thema dieses Symposiums noch einmal aufgreifen solle. Die Bewertung Takeuchis­, dass 11 | Zum Ausdruck: »Zentrum der Möglichkeiten«: Als der Marxismus mit der Parole »Karl Marx ist tot« als überwunden proklamiert wurde, schrieb Karatani Kōjin in »Marx, das Zentrum seiner Möglichkeit«, dass der »Marxismus« zwar tot sei, jedoch die Texte von Marx noch immer gelesen werden müssten (Karatani 1978). Im gleichen Sinne möchte ich

252 Ryu Itose

das Symposium letztendlich »nicht ideologisch, aber inhaltsleer« sei, sehe ich allerdings nicht in einem sehr großen Konflikt zu Ara und Odagiri stehend, sondern ich erkenne vielmehr bei ihnen ein gemeinsames Verständnis. Das größte Problem an Takeuchis Aufsatz war für seine Kritiker, dass er in diesem Symposium den Keim einer ideologischen Form zu erkennen versuchte. Das ist der große Scheidepunkt zwischen Ara und Takeuchi. Das damalige Symposium habe nicht nur darin »versagt [...] eine ideologische Form zu erstreben«, sondern man muss die Möglichkeit für diesen Versuch anderswo herholen. »Das Symposium »Die Überwindung der Moderne« ist schon vergangen als ein Ereignis, und doch als ein Denken ist es nicht vergangen. Das heißt zunächst, das Gedächtnis, welches dieses Symposium umschlingt, existiert heute noch; deswegen ruft dieses Symposium bei jeder Gelegenheit ein Gefühl des Grolls oder einer Rückerinnerung ins Gedächtnis. Zweitens, einige der Probleme, die das Symposium darlegte, wurden heute wieder dargelegt, aber in einem unbestimmten Zusammenhang. Das bedeutet, dass das Fundament des Geisteszustandes, der sich der Darlegung dieser Probleme selbst nicht ernsthaft annimmt, noch vorhanden ist. Es gibt noch eine Schwierigkeit, und zwar diese: Die wichtigen Punkte des gegenwärtigen Zustandes zu erkennen, die unbedingt für uns Japaner nötig sind, wie die Modernisierung Japans oder die weltgeschichtliche Stellung des modernen Japans. Jedoch ist die »Überwindung der Moderne« nicht vernünftig geklärt, deshalb ist es schwierig, dass sie zum Gegenstand einer intellektuellen Untersuchung wird« (GA VIII: 5 f.).

Die Probleme, die in dem Symposium behandelt wurden, sind wieder in der Nachkriegszeit hervorgekommen. Junge Intellektuelle wie Nina würden dies aber ignorieren, weil sie grundsätzlich dieses Symposium ablehnen würden. Deshalb würden die gegenwärtigen Probleme nicht vernünftig diskutiert werden. Damit behauptet Takeuchi nichts anderes, als dass die Idee der »Überwindung der Moderne« von dem gleichnamigen Symposium zu trennen sei, dadurch müsse man diese Idee als einen Gegenstand für intellektuelle Debatten aufstellen. Dies ist sein Hauptmotiv für seinen Artikel »Überwindung der Moderne«. Der Groll von Nina ist für Takeuchi verständlich, denn dieser repräsentiere die Stimme der jüngeren Generation. Wodurch sich Takeuchis Methode von anderen Kritikern abheben lässt, ist, dass er auch beim Symposium Abwesende in Betracht zog. Doch zuerst gruppiert Takeuchi die Anwesenden folgendermaßen:

das Zentrum der Möglichkeit der »Überwindung der Moderne« suchen, da »das Vorhaben der Ideenbildung« des damaligen Symposiums ein »Misserfolg« war.

Der Widerstand Asiens 253

»Nicht mit dem wirklichen Namen, sondern in einer Konstruktion gesehen, kann man in diesem Symposium eine Kombination der Genealogie oder der Elemente von drei Gedanken erkennen. Wenn man diese Genealogien nach ihren Trägern benennt, heißen sie die Gruppe Bungaku-kai, Nihon roman-ha und Kyoto-Schule. Selbstverständlich soll die Kyoto-Schule mit den vier Wissenschaftlern, nicht nur mit Nishitani und Suzuki, sondern auch mit Kōyama Iwao und Kōsaka Masaaki, die bei diesem Symposium abwesend waren, repräsentiert werden. Bei Nihon roman-ha wird Kamei zu dem Repräsentanten, wenn man unter den Anwesenden sucht, doch seine Repräsentationskraft ist relativ schwach. Mit Yasuda Yojūrō, der abwesend war, soll die Nihon roman-ha repräsentiert werden. Kobayashi Hideo wäre damals um Haaresbreite zur Nihon roman-ha gezählt worden, obwohl er immer – außer am Anfang dieser Zeitschrift – im Zentrum der Gruppe Bungaku-kai war. Zwar ist diese Haaresbreite wirklich wichtig, aber seine Repräsentationskraft gehört eher zur Nihon roman-ha als zur Bungaku-kai. Wenn das so ist, wer repräsentiert dann die Gruppe Bungaku-kai? Kawakami und Kobayashi sind ungenügend. Meiner Meinung nach hat nur Nakamura Repräsentationskraft, der »Eine Frage nach der ›Moderne‹« schrieb und nicht so viel bei dem Symposium sprach« (GA VIII: 17).

Das Besondere an Takeuchis Einteilung ist, dass Kobayashi Hideo »um eine Haaresbreite zur Nihon roman-ha« gehört und Nakamura Mitsuo zum geistigen Vertreter der damaligen Bungaku-kai wird. Diese Einteilung ist ein wenig seltsam, wenn man dabei den Verlauf bis zu dem Symposium und den Fortlauf des Symposiums in Betracht zieht. Denn die Veranstalter gehören zur Bungaku-kai. Abgesehen von den beiden Vertretern der Kyoto-Schule, Nishitani und Suzuki, sind alle anderen Teilnehmer Gäste. Das heißt, wenn man sich an die Gruppeneinteilung nach Takeuchi hält, so war der Standpunkt der Bungaku-kai während des Symposiums 1942 nicht deutlich vertreten. Versuchen wir hier jedoch Takeuchi zu folgen. Wie versuchte Takeuchi, durch die Einbeziehung der Abwesenden die Möglichkeit einer Ideenbildung zu finden? Nach Takeuchi spielt vor allem Yasuda Yojūrō, der aufgrund »plötzlicher Terminprobleme« am Symposium nicht teilnehmen konnte, eine wichtige Rolle. Warum? Takeuchi nimmt an, dass, wenn man von Yasudas damaligem Denken ausgeht, dieser die Bedeutung des Symposiums nicht anerkannt habe. Ara kritisierte Takeuchis Einteilung, in der er den nicht anwesenden Yasuda als Vertreter der Nihon roman-ha angab, jedoch den ebenfalls nicht anwesenden Nishida Kitarō nicht erwähnte und auch nicht der Kyoto-Schule zuordnete, deshalb als reine »Vermutung«. Der Kritiker Oketani Hideaki stellte dazu die folgende Frage: »Warum entschloss sich Takeuchi, die Kyoto-Schule nur mit diesen vier, Nishitani Keiji, Kōsaka Masaaki, Suzuki Shigetaka, Kōyama Iwao, und nicht von Nishida Kitarō repräsentieren zu lassen? Es sollte so in gleicher Logik sein, wenn er Yasuda Yojūrō, der bei

254 Ryu Itose diesem Symposium abwesend war, als Repräsentanten der Nihon roman-ha betrachtete. Die Philosophie Nishidas in der Kriegszeit wirkte auf ihn ideenbildend, so wie die Nihon roman-ha auf Yasuda Einfluss ausgeübt hat. Das Denken Nishidas müsste eine Rolle für Takeuchi spielen, wenn man gemäß seiner Methode ›Denken als Wirklichkeit‹ in seinem Artikel »Überwindung der Moderne« denkt« (Oketani 1969: 223).

Dies ist heute eine berechtigte Frage an Takeuchi, nicht nur wegen seiner Einordnung von Nishida, sondern auch von Kobayashi Hideo. Das Thema »Überwindung der Moderne« war bereits zehn Jahre früher, um 1935, von Kobayashi Hideo, Nishida Kitarō und Yasuda Yojūrō aufgeworfen worden. Vielleicht ist es besser, nicht Takeuchi selbst, sondern Yasuda, als einen der Beteiligten an diesen Diskussionen, zu befragen, weil Takeuchi selbst diese Frage nicht beantwortete.12 In seinen Werken, in denen Yasuda die »Kulturerneuerung« seit der Meiji-Zeit kritisierte, ist der Unterschied zwischen Nishida und Yasuda selbst klar: »Seit der Meiji-Zeit litten die Vorfahren der Bauern in Japan am stärksten unter der Armut. Die moderne Zivilisation und die moderne Aufrüstung geschah auf Kosten der armen Bevölkerung in den Bauerndörfern, die 60 Prozent der Bevölkerung ausmachte. Die Philosophie von Nishida und Tanabe, die Literatur der Shirakaba-Schule und auch deren Persönlichkeiten und ihr Leben sind alles moderne Einrichtungen, die auf Kosten der Armut der Bauern gediehen« (Yasuda 1987 [1949]: 114 f.).

Über die Behandlung der Nihon roman-ha nach Kriegsende schrieb Takeuchi einige Male. Ich zitiere eine Passage, die oft als Takeuchis Bewertung dieser Gruppierung verstanden wird. Dieser Artikel war der Anlass zur Debatte um die ›nationale Literatur‹ Japans: »Die Modernisten, inklusive der Marxisten, wichen dem blutbeschmierten Nationalismus aus. Sie bestimmten sich selbst als Geschädigte und sahen die Ultraisierung des Nationalismus als ein Ereignis außerhalb der eigenen Verantwortung an. Man glaubte, dass es richtig war, die Nihon roman-ha totzuschweigen. Doch es waren nicht die Modernisten, sondern es war eine Kraft von außen, die die Nihon roman-ha stürzte. Vertrauten die Modernisten blindlings auf die eigene Kraft, als ob sie [die Modernisten] die Nihon roman-ha 12 | Der große Unterschied von Yasuda und Kobayashi in Bezug auf das Thema »Überwindung der Moderne« lässt sich an den Aussagen Kobayashis, die er bei dem Symposium äußerte, erkennen: Das Problem für ihn war »die europäische Moderne zu überwinden«; und es sei »gar nicht schwer, die japanische Modernität zu überwinden«(Kawakami u. a. 1979: 247). Andererseits war es aber doch für Yasuda ein Problem, die Modernisierung Japans seit der Meiji-Zeit zu überwinden.

Der Widerstand Asiens 255

besiegten, obwohl die Schule von einer äußeren Macht besiegt wurde? Vielleicht konnten sie [die Modernisten] den beängstigenden Traum durch dieses Missverständnis vergessen. Aber wohl reinigten sie sich nicht von dem Blut« (GA VII: 31).

1951, sechs Jahre nach der Kriegsniederlage Japans, schrieb er diese Sätze, die sein ganzes Denken beinhalten, das sich auf den Verlauf der modernen japanischen Literatur seit der Meiji-Zeit bezieht. Der Schlüssel für seine Ideen ist der Gedanke der ›Nation‹. Es liegen 70 Jahre zwischen dem Roman Ukigumo von Futabatei Shimei (1864-1909), der als Beginn der modernen japanischen Literatur angesehen wird, und Takeuchis Reihe von Abhandlungen, die bis in die 1960er hinein reichen und die das Thema »Die Moderne in Asien« behandeln. Um zu verstehen, wie der Entwicklungsgang der modernen japanischen Literatur in dieser Zeit war, ist es notwendig, aus der Perspektive Takeuchis zu sehen. Damit kann man erklären, warum er das Hauptgewicht seiner Abhandlungen auf die Nihon roman-ha legte.13

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Über den Beginn des Pazifikkrieges am 8. Dezember habe ich bereits Aras Ansicht, die sich diametral von der Takeuchis unterschied, vorgestellt. Aber wie ver13 | Hier soll ein Aspekt über die Nihon roman-ha hinzufügt werden. In seinem Artikel »Überwindung der Moderne« schrieb Takeuchi über diese Gruppe, aber er zielte nicht auf Kamei Katsuichirō, der einst ein Mitglied der Zeitschrift Nihon roman-ha gewesen und beim Symposium auch anwesend war. Für Takeuchi heißt Nihon roman-ha Yasuda. Die gleiche Meinung vertritt der Politikwissenschaftler Hashikawa Bunsō, der von den Werken Yasudas in der Kriegszeit »verzaubert wurde« (Hashikawa 62011 [1960]: 51) »Nihon roman-ha war nichts anderes als Yasuda Yojūrō. Für die Jungen wie uns waren Kamei Katsuichirō, Haga Dan u. a. nur unzuverlässige literarische Journalisten. [...] Yasuda wurde von uns sozusagen in einer Bezugslosigkeit mit der Zeitschrift Nihon rōmanha gelesen« (ebd.: 29). Andererseits hören wir die Stimme eines Kritikers der Literatur über den Zusammenhang zwischen dem Denken Yasudas und dem Symposium »Die Überwindung der Moderne« und der gleichlautenden Idee: Hasuda Zenmei (1904-1945), der literarische Lehrer Mishima Yukios (1925-1970), schrieb, nachdem er über dieses Symposium gelesen hatte, wie folgt: »Letztes Jahr hat die Bungaku-kai über die Überwindung der Moderne theatralisch diskutiert; sie sind noch sehr stolz darauf. Doch das war einfach, aus heutiger Perspektive betrachtet, ein Nonsens. Einer, der die Literatur gut versteht und weiß, durch welchen Weg unsere japanischen Literatur gegangen ist, kann das nicht ohne Hohngelächter und auch nicht ohne Zorn lesen« (Hasuda 1943: 293).

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stand Ara den Pazifikkrieg als Gesamtes? Die unterschiedlichen Auffassungen des Krieges von Takeuchi und Ara sind die ursprüngliche Ursache ihres Konfliktes. Aras Auffassung des Krieges ist leicht nachvollziehbar. Er schreibt an einer Stelle, an der er Takeuchi widerspricht, der in dem ›Großasiatischen Krieg‹ eine Zweideutigkeit sah: »Der Pazifikkrieg ist ein Teil des Zweiten Weltkriegs. Die Grundachse ist die Auseinandersetzung zwischen dem Faschismus und der Demokratie. Jener Faschismus ist aus Deutschland, Italien, Japan, und diese Demokratie ist aus den USA, Großbritannien, Russland (sic!), China und auch aus anderen kommunistischen Ländern. [...] Die USA und Großbritannien in den 1940er Jahren leisteten gemeinsam mit dem kommunistischen Russland Widerstand gegen die Invasion des Faschismus aus Deutschland, Italien und Japan, andererseits halfen sie China. Meiner Meinung nach soll die geschichtliche Rolle des damaligen Imperialismus eine höhere Bewertung bekommen. Die damalige USA war der Mittelpunkt des Kriegs gegen den Faschismus. Der Faschismus ist das Übelste des Üblen (Ara 1960a: 1 f.).

Durch diese Sätze versteht man, warum Ara gegen Takeuchi war. Für Ara ist das Übel nicht der Krieg selbst, sondern der Pazifikkrieg als »anti-antifaschistischer Krieg« (Ara 1960b: 4). Die Systeme des Faschismus, die in Deutschland, Italien und Japan gebildet wurden, waren die Feinde der demokratischen Welt. Die antifaschistischen Mächte, also die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Sowjetunion, traten diesem Faschismus entgegen. Der Krieg gegen diese Mächte war für Ara nur ein Übel. Deshalb, so Ara, begehe Takeuchi einen Irrtum, wenn er in diesem Krieg aus japanischer Perspektive einen Sinn zu finden versuche. Auch bewerteten beide die Kriegsniederlage Japans unterschiedlich: Ara verstand sie als den Beginn eines »zweiten Frühlings«; Takeuchi hingegen sah darin einen »Vorfall der Schande«. Allerdings bezog Takeuchi »Schande« nicht auf die Niederlage selbst, sondern auf die Tatsache, dass es in Japan keine Bewegung gegen das Ancien Régime und das Kaisersystem gegeben hatte. Ara sah in Takeuchis Verständnis für den Krieg auch Verständnis für den Faschismus. Was aber dachte Takeuchi darüber? Mitten im Kampf um den Sicherheitsvertrag zwischen Japan und den Vereinigten Staaten im Jahre 1960 trat Takeuchi aus der Universität im Sinne des Widerstands gegen die ›Gewaltabstimmung‹14 im japaischen Parlament aus. Das folgende Zitat ist sein Appell an die Nation, in dem er um die Solidarität der Nation bat: 14 | Am 19. Mai 1960 wurde über die Verlängerung des Sicherheitsvertrages zwischen Japan und den USA im Unterhaus des Parlaments abgestimmt. Die Abgeordneten der Oppositionspartei SPJ (Sozialistische Partei Japans) versuchten, durch einen Sitzstreik vor dem Sitzungssaal die Abstimmung zu verhindern. Die Polizei entfernte die Streikenden

Der Widerstand Asiens 257

»Jetzt ist die Zeit, um uns zu erheben und die nationale Front gegen Faschismus zu bilden. In dieser Front soll das Volk die zentrale Rolle spielen, das in der Nacht des 19. [Mai 1960] zu dem Parlament marschiert ist und die Nacht durch im Regen das Parlament angestarrt hat. [...] Die Parlamentarier und Universitätsprofessoren bekommen erst durch ihr jeweiliges Fachgebiet die Erlaubnis, an dieser Front teilzunehmen und diesem Volk zu helfen. Sie können einen Teil des großen Unternehmens zur ehrenvollen Rekonstruktion der Demokratie und des Wiederaufbaus des Volkes beitragen«(GA IX: 103).

Der »Wiederaufbau des Volkes« steht neben der »Rekonstruktion der Demokratie«. Die »Rekonstruktion der Demokratie« ist nicht so schwer zu verstehen, weil Takeuchi aus Protest gegen die ›Gewaltabstimmung‹ des Parlaments die Universität verließ. Aber es ist nicht so einfach zu verstehen, dass er die Phrase »Wiederaufbau des Volkes« neben »Rekonstruktion der Demokratie« stellte. Hier spricht Takeuchi von der Demokratie im Namen des Volkes und dem Widerstand gegen den Faschismus. Vielleicht ist dies für die Kritiker Takeuchis (vor allem für Ara) etwas Überraschendes. Aber Takeuchis Denkweise nach ist der Zusammenhang dieser beiden Begriffe gar kein überraschender, da die Moderne (in Japan) im Namen des Volkes zu bestimmen sei; und hier zeigt sich seine konsequente Haltung als Denker. Hier appelliert er an eine nationale Front. Hat er jedoch damit eine Position gegenüber dem Anti-Faschismus erreicht oder ist er gar zum Faschismus »übergetreten«? Ich sehe hier jedoch eine andere Logik Takeuchis. Ara erkennt in der von den Allierten getragenen Rolle während des Pazifikkrieges »Vernunft, Fortschritt und Demokratie«. Das heißt, für Japan sieht er etwas »Extrinsisches«. Diese Begriffe sind diejenigen, die Japan von außen überbracht wurden. Andererseits sind die Begriffe ›Anti-Faschismus‹ und ›Demokratie‹, mit denen Takeuchi 1960 während der Demonstrationen gegen den Sicherheitsvertrag zwischen den USA und Japan an das Volk appellierte, etwas ›Spontanes‹, etwas ›von innen‹ Entstandenes. Gerade in der ›von innen‹ entstandenen Demokratie sehe ich den Kernpunkt des Denkers Takeuchi Yoshimi. Damit sind wir jetzt seinem Thema, ›Moderne in Asien‹, ganz nah gekommen. Yoshimoto Takaaki (1924-2012) hat in dem Band »Nationalismus« der Serie »Überblick moderner Ideen Japans« (Gendai nihon shisō taikei – Nashonarizumu, 1965) Takeuchi Yoshimis Aufsatz »Die Überwindung der Moderne« aufgenommen. Der Band beinhaltet neun Aufsätze, in denen sich der Nationalismus Japans deutlich zeigt. Unter diesen neun Artikeln ist der von Takeuchi der jüngste. Genauer gesagt waren alle anderen Artikel zwischen der Meiji-Zeit und dem Ausbruch des Krieges im Pazifischen Ozean 1941 verfasst worden. Obwohl dieses gewaltsam, woraufhin die Abstimmung ohne die Abgeordneten der Opposition zugunsten der Verlängerung des Sicherheitsvertrages durchgeführt wurde.

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Buch 1965 publiziert wurde, stellt Takeuchis »Die Überwindung der Moderne« den Schluss der Genealogie des ›Nationalismus‹ des ›modernen Japans‹ dar. Aber Yoshimoto ist nicht der einzige, der Takeuchi in diese Linie einordnet. Der Nationalismus Japans wird ›Asianismus‹ genannt, wenn er eine expansionistische Form annimmt. Der Philosoph und Kritiker Tsurumi Shunsuke (1922-) sieht ebenfalls Takeuchi als einen Denker, der sich in die Reihe des Nationalismus Japans stellt, welche die Gefahr des japanischen Expansionismus in sich birgt. Tsurumi beschreibt, wie der Begriff ›Großasien‹ als Element der öffentlichen Politik der japanischen Regierung konkret erschienen ist und wie dieser Begriff im Denken der Wissenschaftler anders als bei der staatlichen Bewegung verstanden wurde: »Geistesgeschichtlich betrachtet befinden sich unter den Werken japanischer Denker welche, die sich im Rahmen des Begriffes Großasien bewegen. Diese unterscheiden sich von dem Interesse der militärischen Herrschaft der japanischen Regierung. Okakura Tenshin gehört zur ersten Generation, die solche Werke veröffentlicht hat, des Weiteren Miyazaki Tōten, danach Kita Ikki und Ōkawa Shūmei. Die Idee von Großasien bei Kita Ikki und Ōkawa Shūmei muss man aber etwas skeptisch sehen, da diese beiden Denker mit einem späteren Putsch im Zusammenhang standen. Takeuchi Yoshimi ist der letzte Denker, der in diese Reihe gehört«(Tsurumi 2001 [1982]: 90).

Okakura Tenshin, den Tsurumi als ersten in der Reihe derjenigen nennt, die den Begriff ›Großasien‹ dachten, ist unter seinem eigentlichen Namen Okakura Kakuzō (1863-1913) bekannt als Autor des Werkes Das Buch vom Tee (The Book of Tea). Eine berühmte Phrase von ihm lautet: »Asien ist Eins« (Okakura 1986 [1903]: 17), was das Motto der ›Großostasiatischen Wohlstandssphäre‹ während des Pazifikkrieges in Japan präzis ausdrückt. Nach Okakura Tenshin folgen der als einer der Rädelsführer nach dem Putschversuch vom 26. Februar 1936 zum Tode verurteilte Kita Ikki und Ōkawa Shūmei, der beim Tokyoter Kriegsverbrechertribunal angeklagt wurde, aber aus psychischen Gründen begnadigt wurde und sich in der Nachkriegszeit der Islamwissenschaft zuwandte. Tsurumi fügt in diese Reihe der Denker ›Großasiens‹ Takeuchi ein, was ihn in einem beunruhigenden Licht erscheinen lässt. Jedoch ist klar, dass Takeuchi sich für den ›Asianismus‹ sehr stark interessierte. Tenshin beeinflusste Takeuchi vor allem durch seinen radikalen Anti-Akademismus und seine Einstellung gegen die Kulturerneuerung. Tenshin, der ein Schüler des in Japan wirkenden Orientalisten und Kunstsammlers Ernest Fenollosa (1853-1908) war, gründete die Akademie der Bildenden Künste Tokyo (Tōkyō Bijutsu Gakkō) und setzte sich sehr stark dafür ein, dass nicht westliche, sondern japanische Malerei unterrichtet wurde. Nach einer Auseinandersetzung mit der Meiji-Regierung wurde er aus der Akademie ausgeschlossen. Tenshin ist somit ein aus der Kulturerneuerung Ausgestoßener.

Der Widerstand Asiens 259

Im Bereich der modernen japanischen Musik änderte sich jedoch die Lage. Isawa Shūji (1851-1917), der Leiter der Musikakademie Tokyo war und als Begründer der modernen japanischen Musik bezeichnet werden kann, fand sich auf dem Weg der Kulturerneuerung sehr gut zurecht. Takeuchi schreibt über Tenshin und Isawa, während er noch den bengalischen Dichter und Literaturnobelpreisträger von 1913, Tagore (Rabindranath Thakur, 1861-1941), erwähnt: »Tagore und Tenshin sind beide Apostel des Schönen, und in ihrer Geschichtsauffassung, dass die Minderheit Geschichte schreibe, stimmen sie überein. Allerdings konnte Tenshin im Gegensatz zu Tagore, den man mit der Bewegung zur Volksbefreiung in Verbindung setzen kann, das Volk nicht erkennen. Und bedauerlicherweise lastete sich Tenshin die Schande der Ideologie der Invasion auf. Tatsächlich verfolgt jedoch den Weg zur Invasion nicht Tenshin, sondern dieser Weg wurde durch seinen Gegner Isawa vorbereitet. Hier kann man ein Paradox der Geschichte erkennen, das unlösbar ist« (GA VIII: 175).

»Tenshin lastete sich die Schande der Ideologie der Invasion auf« – dies bedeutet zum Beispiel Folgendes: Während des Pazifikkrieges hat sich die Nihon bungaku hōkokukai (Verein der vaterländischen Literatur Japans, 1942) organisiert. Bis dahin getrennt agierende Literaturvereine wurden zusammengeschlossen und kulturelle Aktivitäten zur Steigerung des Kampfwillens wurden geplant. Dieser Verein veröffentlichte auch viele Publikationen, zum Beispiel Aikoku hyakunin isshu [100 Patriotische Gedichte]. Unter den Publikationswerken gibt es auch den »Denkspruch der Nation« (Kokumin zayū no mei), ein »patriotisches« Motto pro Tag in einem Tagesabreißkalender. Für das Datum des 8. Dezember wurde die Parole »Asien ist Eins« von Tenshin ausgewählt. Tenshin starb bereits 1913, aber seine Phrase ist für die Idee der ›Großostasiatische Wohlstandssphäre‹ benutzt worden. Es stellt sich jedoch die Frage, wie Takeuchi die Weltgeschichte, insbesondere die Weltgeschichte der Moderne auffasste. Die ›Weltgeschichte‹ ist die Geschichte Europas. Takeuchi vergleicht die Modernisierung in Europa mit der Modernisierung in Asien und bezeichnet sie als Prozess der Selbstvergrößerung Europas. Asien unterliegt diesem sich ausbreitenden Europa. Geht Europa einen Schritt vorwärts, so bedeutet das einen Schritt rückwärts für Asien. Indien und China unterlagen, aber Japan unterlag nicht, weil die Niederlage Indiens und Chinas die Folge nach dem »Widerstand« war. In Asien wurde durch den Widerstand ein Schritt rückwärts geboren. Dieser Widerstand erzeugte die Niederlage. Für Takeuchi ist der Begriff ›Asien‹ ›Nicht-Europa‹ – und des Weiteren der des ›Widerstands‹ selbst. Japan ist der einzige Staat in Asien, in dem beim Einfall Europas kein Widerstand stattgefunden hat. Was tat Japan ohne Widerstand? Seit der Kulturerneuerung (bunmeikaika) in der Meiji-Zeit versuchte Japan wie Europa

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zu werden, während es die anderen Länder Asiens als »böse Freunde« (Fukuzawa Yukichi) betrachtete. Diese Lage im wissenschaftlichen Bereich sah der Philosoph Karl Löwith (1897-1973), der von 1936 bis 1941 in Japan an der Kaiserlichen Universität Tōhoku lehrte, schon vor 70 Jahren sehr skeptisch: »Die Studenten studieren zwar mit Hingabe unsere europäischen Bücher und sie verstehen sie auch dank ihrer Intelligenz, aber sie ziehen aus ihrem Studium keine Konsequenzen für ihr eigenes, japanisches Selbst. Sie unterscheiden nicht und vergleichen nicht die europäischen Begriffe, z. B. ›Wille‹, ›Freiheit‹ und ›Geist‹ mit dem, was ihnen in ihrem eigenen Leben, Denken und Sprechen entspricht, bzw. von diesem abweicht. Sie lernen das an sich Fremde nicht für sich selbst« (Löwith 1983 [1940]: 537).

Den gleichen Zweifel, der Löwith die obigen Sätze schreiben ließ, hatte auch Takeuchi: Japan habe »keinen Widerstand« und »keinen Trieb der Selbsterhaltung« (GA IV: 145). »Dass es keinen Widerstand gibt, zeigt, dass Japan nicht asiatisch ist, und gleichzeitig, da es kein Bedürfnis hat, sein Selbst zu erhalten (bzw. kein Selbst besitzt), auch nicht europäisch ist. [...] Das bedeutet, Japan ist nichts« (GA IV: 145).

Das hat den absoluten Verlust des Selbst zur Folge und zeigt, dass das Subjekt verschwunden ist. Widerstand setzt ein Subjekt voraus, aber in Japan gibt es so ein Subjekt nicht. Die Modernisierung Japans ist nicht intrinsisch. Dies kritisierte 1911 Natsume Sōseki in seinem Werk »Das Erblühen des gegenwärtigen Japans« (Gendai nihon no kaika). Sōsekis Kritik steht auch in Verbindung mit Yasuda Yojūrō. »Asien als Methode« enthält keinen Ort, an den man zurückkehren könnte. Das heißt, es gibt keinen Zielpunkt als solchen. Anders gesagt: Man kehrt nicht zu dem, was man bereits verworfen hat, zurück. Man legt auch keinen Punkt fest (zum Beispiel ›die japanischen Klassiker‹), dem man sich (auch illusorisch) zuwenden könnte. Über diese Lage schreibt Hagiwara Sakutarō (1886-1942) wie folgt: »Seit der Kulturerneuerung in der Meiji-Zeit hat Japan die westeuropäische Zivilisation mit fast übermenschlichen Bemühungen und dem Mut der Verzweiflung studiert. Jedoch entstanden diese Studien und diese Bemühungen nicht aus eigenem Antrieb. Es wurde von Perrys schwarzen Schiffen erzwungen, durch westliche Waffen und Wissenschaften. Die Japaner, [...] um die einsame Insel in Asien zu beschützen, taten dies notgedrungen, um sich selbst zu verteidigen. Klugerweise lernten die Japaner die Kunst, durch die Waffen des Feindes mit dem Feind zu kämpfen. (Die Chinesen und Inder lernten aufgrund ihres asiatischen Stolzes von den Barbaren nicht und wurden daher erobert.) [...] Falls sich die Japaner in

Der Widerstand Asiens 261

Zukunft die westliche Zivilisation angeeignet haben sollten, durch militärische Aufrüstung oder durch Industrie, könnten sie sich gegen die starken Länder der Weißen behaupten. Sie werden plötzlich aus ihrer Illusion der westlichen Anbetung erwachen, um zu ihrem eigenen nationalen Selbstbewusstsein zurückzukehren; dies sagte Lafcadio Hearn/Koizumi Yakumo bereits vor 30 Jahren voraus. Die Vorhersage dieses Dichters ist schließlich im Japan der Shōwa-Zeit Wirklichkeit geworden« (Hagiwara, 1976 [1937]: 477).

Japan »verehrt den Westen« und »studiert die westeuropäische Zivilisation mit fast übermenschlichen Bemühungen mit dem Mut der Verzweiflung«. Jedoch ist es selbst nicht klar, ob es in Japan eigentlich einen Ort gibt, zu dem man zurückkehren kann, da die Modernisierung ein Prozess des Selbstverlustes war. Wenn jedoch Japan, welches durch das Studium »mit fast übermenschlichen Bemühungen« die Modernisierung erreicht hat, in den Kreis der westlichen Großmächte aufgenommen wird, wird es sich so verhalten, als wäre es Europa, besonders den anderen asiatischen Ländern gegenüber. Das zeigen beispielhaft die 21 Forderungen, welche die japanische Regierung in der Zeit des Ersten Weltkrieges 1915 an China richtete. Diese Gestalt Japans ›als Europa‹ zeigte ihre Vollendung in der Invasion Chinas. Dadurch, dass Japan in den Kreis der Weltgeschichte aufgenommen wurde, so urteilt Takeuchi, habe es seine eigene Geschichte verloren. Nach Takeuchi gibt es in Asien zwei Formen der Modernisierung: einerseits eine japanische Variante, andererseits eine chinesische. Aufgrund dieser 21 Forderungen entstand die Vierte-Mai-Bewegung. Laut Takeuchi entstand diese Bewegung in China im Widerstand gegen die imperialistische Ausbreitung Japans. Hierbei bezieht sich Takeuchi auf den amerikanischen Philosophen John Dewey (1859-1952). Er schreibt über Deweys Auffassung von China, der während des Ersten Weltkrieges Japan besuchte und danach zwei Jahre bis 1921 in China verbrachte: »Dewey vergleicht die Modernisierung Japans und den Keim der Modernisierung in China treffend. Japan sieht auf den ersten Blick sehr modernisiert aus. Jedoch sind die Wurzeln dieser Modernisierung flach. Dewey sagt voraus, dass Japan wahrscheinlich untergehen wird, wenn es so weiter läuft. [...] Das damalige China geriet so in Chaos, so dass man es nicht retten konnte. International wurde gedacht, dass China auf diesem Wege demontiert werden würde. Zu dieser Zeit opferten die Studenten ihren eigenen Körper und trugen das Schicksal ihres eigenen Landes. Dewey, der die Energie dieser Jugend sah, ergründete das Wesen, welches am Grunde des Chaos der scheinbaren Modernisierung Chinas lag. Dewey sah voraus, dass China in naher Zukunft in der Welt eine gewichtige Stimme haben würde. [...] Die Modernisierung Chinas war etwas sehr von innen heraus Kommendes. Das heißt, sie erfolgte aus den eigenen Bedürfnissen heraus, deswegen war sie etwas sehr Starkes« (GA V: 98 f.).

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Takeuchi ist der Meinung, dass die ungewöhnlich langsame Modernisierung in China eine Stärke sei. Diese lange Dauer hat ihren Grund darin, dass der Widerstand der Vierten-Mai-Bewegung gegen Japan der Ausgangspunkt der Modernisierung ist. Andererseits ist dies gleichbedeutend mit der Modernisierung Japans, wobei Japan sich europäisierte und dadurch sein Selbst verlor. Takeuchis Kritik an diesem Prozess des Selbstverlustes steht in Verbindung mit seiner Kritik an der Errichtung der modernen japanischen Literatur und ihrer gleichzeitigen Trennung vom ›Volk‹. Demgegenüber legt er einerseits seinen Standpunkt darauf, »das Volk in den Gedankenweg miteinzubeziehen«, und andererseits auf die Zweideutigkeit des Pazifikkrieges. Seiner Ansicht nach ist der 8. Dezember nicht als ein Tag zu sehen, der eine Grenze markiert, sondern als etwas, das seit der zuvor erfolgten Invasion Chinas andauerte und unabdingbar war. Wenn man erkennen würde, dass Japan sich Europa gegenüber wie Asien verhält (als Vertreter Asiens im Krieg gegen den Westen) und sich Asien gegenüber wie Europa verhält und einmarschiert (Invasionskrieg gegen China; Eroberung anderer asiatischer Länder), wäre die Moderne in Japan zum ersten Mal möglich. In einem Japan, das weder Europa noch Asien ist, ist die Moderne nicht möglich. Takeuchi spricht hierbei von »Asien als Methode«. »Japan verpackt den Westen durch Asien noch einmal neu. Es verändert den Westen dadurch. Um so die hervorragenden europäischen Kulturwerte in einer größeren Dimension zu verwirklichen. Durch diesen kulturellen Gegenschlag bzw. durch den Gegenschlag der Werte entsteht Universalität. Um die universellen Werte weiter zu erhöhen, revolutioniert die Kraft Asiens den Westen. Dies ist der gegenwärtige Mittelpunkt des Problems »Osten gegen Westen«. Dies ist eine politische Frage und zugleich eine kulturelle Frage. Auch die Japaner müssen dieses Konzept übernehmen. Bei diesem Gegenschlag muss Japan in sich seine eigene Originalität haben. Was ist das? Diese Originalität ist wahrscheinlich keine Substanz. Jedoch als Methode, das heißt, als Prozess, der das Subjekt bildet, existiert sie wohl« (GA V: 114 f.).

»Asien als Methode« ist keine Substanz. Diese Methode, so dachte Takeuchi, besteht in dem »Prozess, das Subjekt zu bilden«. Durch das Subjekt könne Widerstand entstehen, aber im Falle Japans wurde kein Subjekt gebildet, weil die Modernisierung Japans ein Prozess des Selbstverlustes war. Hierbei muss man bedenken, dass Takeuchis Idee von »Asien als Methode« aus dem Kampf gegen den Sicherheitsvertrag zwischen Japan und den Vereinigten Staaten 1960 hervorging. Meiner Meinung nach sah er die Möglichkeit, dass ein Subjekt aus dem Widerstand entstehen könnte. Hierbei greift er Deweys Ansicht über die VierteMai-Bewegung auf und schreibt, dass dieser in jenen Studenten keinen Mob sah. Die Studenten und das Volk, die in diesen Kampf gegen den Sicherheitsvertrag

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traten­, sind für Takeuchi kein Mob; genauso sah Dewey die Studenten in China an. Der Kampf gegen den Sicherheitsvertrag 1960 ist die größte Volksbewegung nach dem Pazifikkrieg, in der sich auch Angestellte und Hausfrauen versammelten, um ›Unabhängigkeit‹ und ›Selbstständigkeit‹ zu fordern. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen dieser Bewegung von 1960 und der 68er Bewegung, in der sich die Studenten in verschiedene politische Gruppen aufteilten, sich die Radikalisierung verschärfte und anschließend eine Zerstreuung der Bewegung folgte. In der Gestalt des Volkes, das aus Trotz gegen den Sicherheitsvertrag demonstrierte, sah Takeuchi eine Überschneidung mit der Gestalt der chinesischen Studenten der Vierten-Mai-Bewegung. Takeuchi appellierte an das Volk, um Widerstand zu leisten. Das sich widersetzende Volk ist, wie oben geschrieben, jenes Volk, das aus der Modernisierung Japans hinausgefallen ist. Das Volk, das auch von der modernen japanischen Literatur abgetrennt und von der Geschichte in der Dunkelheit zurückgelassen wurde. Es ist jenes Volk, das die Nihon romanha als Anti-These gegen den Modernismus in Japan aufstellte. Wenn man dieses Denken, welches in dieser Weise das Volk einschließt, ›Nationalismus‹ nennen will, so wird Takeuchi sich mit Freude als ›Nationalist‹ bezeichnen. Takeuchi erwähnt den Nationalismus der Meiji-Zeit und teilt ihn in »einen guten und einen schlechten Nationalismus« ein. Nach Takeuchi muss die Frage gestellt werden, wem dieser »gute Nationalismus« gehört. Zur Zeit der Kämpfe gegen den Sicherheitsvertrag 1960 zählte Takeuchi Yoshimi gemeinsam mit Maruyama Masao (1914-1996) zu jenen Intellektuellen, die sich am häufigsten dazu äußerten. Für Takeuchi war das nur eine logische Handlung. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob es überhaupt Menschen gab, die jenen Intellektuellen, die an das Volk appellierten, auch zuhörten. Der Ausspruch »Der Wille zum Kampf« (Tatakai no ishi), den der Herausgeber Takasugi Ichirō nach Erhalt der Nachricht über die Geschehnisse vom 8. Dezember 1945 in der Zeitschrift Bungei entwarf, wurde dem »Will to Fight!« der in Moskau erschienen russischen Zeitschrift Internationale Literatur entlehnt. Yoshimoto Takaaki sieht den Nationalismus der Intellektuellen der Nachkriegszeit bei Maruyama, Tsurumi und Takeuchi, aber er schreibt, dass deren Nationalismus von der Volksmasse entfremdet ist. Diese Falle bzw. dieses Leid des Nationalismus dieser Intellektuellen erkannte schon früher Kobayashi Hideo: »Die Intellektuellen konnten sich nicht von der Unsicherheit des Denkens befreien, die sie bei dem Narod [Volk] genannten Abgrund vor ihren Füßen spürten, auch wenn sich der Gegensatz zwischen Europäisten und Nationalisten endlich legte und beide mit dem Wort Narodniki übereinkamen. [...] Das Bewusstsein, dass ihr Wissen und ihre Bildung etwas Fremdes und nicht aus dem Boden des Narod gewachsen sind, peinigte sie stets« (Kobayashi 1978: 164).

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Das Leiden der russische Intellektuellen ist zugleich das Leiden Takubokus.15 Matsumoto Ken’ichi nennt Takeuchis »Manifest« eine Wette. Takeuchi wettete während der Proteste gegen den Sicherheitspakt 1960 darauf, dass dieser Protest seit dem Ende des Pazifikkrieges der erste Massenprotest, an dem auch die breite Öffentlichkeit teilnimmt, war. Bei der Demonstration vor dem Parlament versammelten sich, abgesehen von Studenten, auch Hausfrauen oder Angestellte. Angesichts dieser Gestalt des Volkes erkannte Takeuchi in ihr jene Gestalt, die Dewey in den chinesischen Studenten der Vierten-Mai-Bewegung sah. Diese Gestalt bringt den Widerstand hervor, der seit der Kulturerneuerung der Meiji-Zeit verloren gegangen war. Aus diesem Widerstand muss die »vom Inneren« herausgehende Moderne entstehen. Das ist nur der Prozess, das Subjekt zu formen, aber die Gestalt des in Richtung Parlament marschierenden Volkes, die in Takeuchis Augen aufleuchtete, war zweifellos eine Substanz. Diese Menschen unterscheiden sich nicht von dem Volk, welches seit der Modernisierung Japans abgetrennt wurde. Durch dieses Volk entsteht das Subjekt des Widerstands, das Japan in dem Prozess der Modernisierung verlor, und es wird vielleicht zum ersten Mal eine Modernisierung möglich sein.

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15 | Hier handelt es sich um den Tanka-Dichter Ishikawa Takuboku (1886-1912).

Der Widerstand Asiens 265

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Yanase Masamus Proletarische Mangas im Licht seiner Grosz-Rezeption Akane Nishioka

Die politisch-agitatorische Kunst sozialistischer bzw. kommunistischer Prägung, die sich im frühen 20. Jahrhundert unter dem zunehmenden Einfluss der Komintern schnell in unterschiedlichen Ländern verbreitete, gilt bislang, bei allen Unterschieden in Details, in der Darstellung als eine einheitliche internationale Strömung. Allerdings sind die geschichtlichen Abläufe bei der Entfaltung dieser internationalen Kunstrichtung regional verschieden. So kommt es häufig vor, dass im Entwicklungsprozess der sozialistischen Kunst eines Landes ein bestimmter ausländischer Künstler in einem speziellen Kontext beleuchtet und als Vorbild intensiv rezipiert wurde. Als Beispiel dafür möchte ich im Folgenden das politische Manga von Yanase Masamu (1900-1945) in Betracht ziehen und darstellen, wie er im Laufe der Proletarischen Kunstbewegung (Puroretaria geijutsuundō) im Japan der 20er und 30er Jahren1 die zeitkritischen, anti-bürgerlichen 1 | An dieser Stelle sei der allgemeine Entwicklungsprozess der Proletarischen Kunstbewegung in Japan kurz skizziert. Die Proletarische Kunstbewegung (Puroretaria geijutsu undō) in Japan, die mit der zeitgenössischen politisch-literarischen Bewegung Puroretaria bungaku undō [Proletarische Literaturbewegung] Hand in Hand ging, entstand während der Jahre 1921 bis 1934. Diese Kunst- und Literaturbewegung, die anfangs nicht nur kommunistische, sondern auch anarchistische oder sozialdemokratische Künstler und Autoren umfasste, orientierte sich ab Mitte der 20er Jahren, in Beziehung mit der neu gegründeten Kommunistischen Partei Japans, immer stärker am Kommunismus. In den 20er Jahren bestanden innerhalb jener Bewegung unterschiedliche, »Zentren theatralischen und literarisch-praktischen Schaffens bildenden« (Schneider 1981: 1060) Künstlerverbände, die sich schließlich 1928 nach der ersten Massenverhaftung der Kommunisten, der San-ichigō jiken [15. März-Zwischenfall] genannt wird, in der Zen Nihon Musansha Geijutsu Renmei [Alljapanischen Proletarischen Kunstliga], NAPF, vereinigten, um die Politisierung der Kunst und Literatur zu beschleunigen. Die NAPF wurde im Novenber 1931 aufgelöst und zur Nihon Puroretaria Bunka Renmei [Japanischen Proletarischen Kulturliga], KOPF, umorganisiert. Dabei wurden zwei wichtige, 1929 gegründete Künstlerverbände, die Japanische Proletarische Autorenliga (Nihon Puroretaria Sakka Dōmei) und die Japanische Proletarische Künstlerliga (Nihon Puroretaria Bijutsuka Dōmei), in die KOPF eingegliedert. Allerdings gab es auch in dieser späten NAPF/KOPF-Phase kein einheitliches Kunstkonzept, das auf die Autorität der real existierenden Partei zurückzuführen wäre. Denn

268 Akane Nishioka

Zeichnungen­ von George Grosz rezipierte. Dabei möchte ich vor allem zeigen, inwieweit sich in seiner Grosz-Rezeption eine regional spezifische Lesart des international konzipierten Kunstkonzepts niederschlägt.

1. D ie G rosz-R ezeption

im

Japan

der

20 er Jahre

Die erste Grosz-Rezeption in Japan geht in die frühen 20er Jahre zurück. So wurde im Oktober 1922 in der Kunstzeitschrift Chūō Bijutsu ein Auszug aus dem 1921 veröffentlichten Grosz-Buch von Will Wolfradt ins Japanische übersetzt, und zwar unter dem Titel »George Grosz, ein neuer deutscher Manga-Zeichner« (Wolfradt 1922: 121). Dieser Titel mag aus der heutigen Sicht etwas merkwürdig, vielleicht auch komisch klingen. Denn unter »Manga« versteht man heute normalerweise Comic strips, die durch sequenzielle Bildfolgen eine Geschichte erzählen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war jedoch die Bezeichnung »Manga« auch für Karikaturen oder satirisch-cartoonhafte Zeichnungen mit Text, wie sie in der englischen Zeitschrift Punch musterhaft zu sehen sind, verwendet. Die Grenze zwischen diesen Gattungen war also fließend. So ist es nicht verwunderlich, dass die zeitgenössischen Japaner die sarkastischen Zeichnungen von George Grosz als Manga bezeichneten. Auch in den folgenden Jahren, nachdem mehrere Künstler und Kunsthistoriker aus Deutschland Mappen und Sammelbände von Grosz nach Japan mitgebracht hatten, wurde Grosz tatsächlich intensiver im Kreis der Manga-Zeichner rezipiert als in dem der Kunstmaler. Das Bild von Grosz, das die japanischen Rezipienten in den 20er Jahren aus dem wenigen zugänglichen Material herausarbeiteten, macht einen ziemlich verworrenen Eindruck. Okamoto Ippei, einer der damals beliebtesten MangaZeichner, schreibt etwa im Grosz-Heft der Kunstzeitschrift AS (November 1925), die illegale KPJ stellte im damaligen Japan eine kleine Geheimorganisation dar, die in der Realität – vor allem nach der oben erwähnten Massenverhaftung – keine nennenswerte Aktivität entfaltete. Dennoch übte die Partei eine umso stärkere Wirkung auf die linken Künstler aus, weil sie in ihrer illegalen Untergrundexistenz immer unsichtbarer wurde: Die unsichtbare Partei wurde in der Phantasie der Künstler idealisiert und die so konstituierte imaginäre Partei diente ihnen als eine geistige Stütze bzw. als ein Knotenpunkt von Kunst, Leben und Politik. (Umgekehrt projizierten die Obrigkeiten in die KPJ ihre von der Russischen Revolution erregten Ängste hinein, weshalb diese von der Sicherheitspolizei (Tokkō) Repressalien und Verfolgung ausgesetzt war.) Die zeitgenössischen Diskurse über die Proletarische Kunst, in die auch Yanases Arbeit verwoben war, lassen sich also nur in Bezug auf die Anziehungskraft jener vorgestellten Partei verstehen.

Yanase Masamus Proletarische Mangas 269

dass er Grosz zuerst für einen »ultralinken Cartoonisten« gehalten habe; aber beim genaueren Ansehen seiner inzwischen in japanischen Kunstzeitschriften immer häufiger abgedruckten Zeichnungen sei ihm klar geworden, dass hinter der anscheinend anti-bürgerlichen Kunst von Grosz eine »perverse und erotische Liebe des Künstlers« an grotesken und kranken Sujets stecke (Okamoto 1925: 8). Erotische Frauenbilder aus dem Sammelband Ecce Homo (1923), auf die Okamoto hier anspielt, gingen damals zunächst in kleinen Künstlerkreisen im Geheimen herum und inspirierten viele Zeichner zu quasi pornographischen Cartoons. Bis 1930 verbreiteten sich die pikanten Sittenbildern à la Grosz dermaßen, dass die populären Comic-Magazine damit überschwemmt wurden. Als eine Probe sei hier ein Bild von Ono Saseo (Abb. 1) gezeigt. Dieses Collage-Bild, veröffentlicht 1930 in Tokyo Puck, einer der damals erfolgreichsten Manga-Zeitschriften, zeigt mehrere erotische Frauenfiguren in dem Grosz ähnlichen see-through-Stil (Abb. 2). Während allerdings die Frauen bei Grosz lediglich als Lustobjekte der bürgerlichen Männer dargestellt werden, um somit die Gemeinheit und Doppelmoral der Bourgeoisie zu entlarven, konzentriert sich Ono auf den Lebensstil der sogenannten »neuen Frauen«, wie sie in großstädtischen Vergnügungsorten wie Bar, Café, Dance Hall oder Machiai [Stundenhotel] ihren sexuellen Reiz offen zur Schau stellen. Die sozialkritischen Momente der Groszschen Sittenbilder sind also hier gänzlich weggelassen; vielmehr dient die von Grosz übernommene, erotisierende Gestaltungsweise der Idolisierung von modern girls in ihrer dekadenten Schönheit. Im Gegensatz zu den Cartoonisten aus dieser Schule war Grosz für andere Interpreten ein durchaus politischer bzw. kommunistischer Maler. So schreibt der Kunstkritiker Nakada Sadanosuke im oben erwähnten Grosz-Heft von AS, dass »in den Zeichnungen von Grosz, die mit dem Gedanken der Proletarier durchzogen sind, eine antikapitalistische und antimilitaristische Tendenz zum Ausdruck kommt« (Nakada 1925: 9). Eine ähnliche Position äußert der anarchistische Kunstkritiker Asō Gi im Vorwort zur japanischen Ausgabe von Grosz’ künstlerischer Programmschrift Kunst ist in Gefahr, wenn er folgenderweise schreibt: »Wir können erkennen, dass in der Kunst von George Grosz eine kämpfende Kunst, eine Kunst des Klassenkampfes restlos realisiert wird« (Grosz 1926: 3). Mit vielen anderen Cartoonisten des linken Flügels teilte auch Yanase Masamu diese Ansicht und nahm sich Grosz’ sarkastische Karikaturen der herrschenden Klasse zum Vorbild für neue Mangas, die er für die arbeitende Klasse produzieren wollte. Die beschriebene Grosz-Rezeption in Japan, die zwischen zwei Polen schwankte, fiel mit dem Manga-Boom in den ersten Jahren der Shōwa-Zeit zusammen, die sich auf die Entwicklung der neuen großstädtischen Massenkultur bezog, aber auch auf die erstarkende Arbeiterbewegung, die im Medium Manga

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[Abb. 1] Ono Saseo: Der Reiz des Frühlings 1930 (1930)

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[Abb. 2] George Grosz: Walzertraum (1921) Estate of George Grosz, Princeton, N. J. /VG Bild-Kunst, Bonn 2014

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ein politisches Instrument für Massenagitation fand.2 Auch Yanase, der ab Mitte der 20er Jahren nicht nur am Organ der Kommunistischen Partei Japans (KPJ), Musansha Shinbun [Zeitung der Besitzlosen], sondern auch an mehreren populären Comic-Magazinen mitarbeitete, setzte sich mit Grosz in jenem komplexen Kontext auseinander. Im Folgenden werde ich versuchen, diesen komplexen Prozess der Grosz-Rezeption von Yanase auf die Entwicklung beziehungsweise den Stilwandel seines politischen Mangas zu beziehen.

2. G rosz

als

»M entor «

Yanase Masamu fing seine künstlerische Laufbahn als ein journalistischer Karikaturist in der Yomiuri-Zeitung an.3 Im Kreis der liberalen Intellektuellen richtete er allmählich den Blick auf die sozialen Probleme der Zeit und arbeitete ab Oktober 1921 mit an der unter dem Einfluss der französischen Clarté-Bewegung gegründeten sozialistischen Zeitschrift Tanemakuhito [Der Sämann]. In dieser Zeitschrift schrieb Yanase mehrere Besprechungen von Kunstausstellungen, in denen der romantische Anarchismus und die avantgardistischen Ansätze der frühen Proletkult-Vorstellungen miteinander vermischt bleiben. Während dieser Zeit malte Yanase futuristische Leinwandgemälde und verwirklichte in einer Dada-ähnlichen Künstlergruppe MAVO einen avantgardistischen Aktivismus, und zwar unter dem Pseudonym Anāki Kyōsan [AnarchistKommunist]. Dieses Pseudonym zeigt, dass Yanase damals noch keine feste politische Einstellung hatte: Irgendwie links und revolutionär war seine Position, was im Kreis der jungen avantgardistischen Künstler eine weit verbreitete Haltung war. Indem jedoch die Erfahrung der großen Erdbebenkatastrophe im September 1923 ihm den Anstoß zur politischen Kunst gab, fing Yanase 1924 in der im Zuge der aufsteigenden Proletarischen Literatur- und Kunstbewegung neu konzipierten Zeitschrift Bungei Sensen [Literaturfront] an, sozialkritische Karikaturen im Stil von Grosz zu zeichnen.4 2 | Dazu vgl. Suyama 1969: 117-154. 3 | Zur folgenden biographischen Skizze über Yanase zog ich die Biographien von Matsuyama (1956) und Ide (1996) zu Rate. 4 | Wann genau Yanase erstmalig Zeichnungen von Grosz kennenlernte, ist nicht feststellbar. Bisher allgemein in der Forschung anerkannt ist die Bemerkung von Murayama Tomoyoshi, dass er 1923 aus Deutschland mehrere Sammelbände von Grosz mitgebracht und sie Yanase und anderen Freunden zum erstenmal vorgestellt habe (Murayama 1969: 11). Allerdings sagt Yanase selbst, dass er Grosz bereits vor der Erdbebenkatastrophe durch die amerikanische Zeitschrift Liberator kennengelernt habe (Yanase 1929: 23). Ob

Yanase Masamus Proletarische Mangas 273

[Abb. 3] Yanase Masamu: 1923 (1924)

Die 1924 im Oktober-Heft von Bungei Sensen veröffentlichte Karikatur (Abb.  3) thematisiert den Terror, der im Jahr 1923 in den Tagen nach dem Erdbeben auf die Sozialisten und die koreanische Minderheit ausgeübt wurde. Unter den Figuren von Flüchtlingen, Dieben und Obdachlosen werden drei Szenen dargeboten: In der oberen Partie des Bildes vergreifen sich zwei Zivilisten, offenbar Anhänger von Bürgerwehren (Jikeidan), an einem widerstandslosen Menschen. Und in der mittleren Partie wird ein langhaariger Mann von zwei Militärpolizisten (Kenpei) verhört, wobei der Mann möglicherweise den Maler selbst darstellt, der damals tatsächlich als »Roter« von der Militärpolizei verhaftet wurde. Schließlich ist in der unteren Partie eine Soldatentruppe zu sehen, die eine aus der Nase blutende er jedoch vor 1923 Bilder von Grosz je gesehen hat, lässt sich durch diese Aussage nicht belegen.

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[Abb. 4] George Grosz: Aus vaterländischen Motiven (1921) Estate of George Grosz, Princeton, N. J. /VG Bild-Kunst, Bonn 2014

Person schleppt; diese Szene spielt zweifellos auf jenen skandalösen Vorfall an, dass eine Gruppe von Militärpolizisten unter Führung von Hauptmann Amakasu den anarchistischen Aktivisten Ōsugi Sakae mit seiner Frau und seinem noch kleinen Neffen ermordete und ihre Leichen in einem Brunnen versteckte. All diese disparaten Szenen werden mit einer spezifischen, von Grosz erlernten Montage-Technik zusammengesetzt: Wie Grosz beispielsweise in einem Bild aus seinem Sammelband Das Gesicht der herrschenden Klasse (Abb. 4) mittels der Nebeneinanderstellung zusammenhangloser Szenen die Allgegenwärtigkeit der nackten Gewalt im Berlin der ersten Revolutionsjahre sichtbar zu machen versucht, so wird bei Yanase dieses zeichnerische Verfahren, das einerseits dem katastrophalen Durcheinander in der in Trümmern liegenden Reichshauptstadt Tokyo entspricht, andererseits zur Aufdeckung des Horrors verwendet, der in diesem Chaos auf heimliche Weise herrscht. Yanases Interesse an Grosz bleibt

Yanase Masamus Proletarische Mangas 275

also – anders als bei dem oben erwähnten Ono – nicht auf der rein ästhetischen Ebene stehen. Was er im neuartigen Zeichnungsstil dieses bissigen Karikaturisten fand, war vielmehr ein kritisches Mittel zur künstlerischen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen japanischen Gesellschaft. In dieser Periode, wo Yanase die politischen Zeichnungen von Grosz eifrig aufnahm und sich immer mehr von der Leinwandmalerei entfernte, war allerdings seine Einstellung zu seinem deutschen Vorbild noch schwankend. In einem essayistischen Artikel im Dezember 1925 schreibt er: »Die Kunst von Grosz nur durch die Einsicht in diese beiden Sammelbände [Das Gesicht der herrschenden Klasse und Abrechnung folgt; Anm. von A. N.] für rein proletarisch zu halten, wäre vielleicht leichtfertig, aber man kann ihn, als Maler von Ecce Homo, nicht vorschnell als einen Pornographen betrachten« (Yanase 1925: 34).

Yanase war nicht von den beiden seinerzeit gängigen Grosz-Bildern überzeugt. Selbstverständlich war Grosz für ihn kein Genremaler, aber warum er ihn dennoch nicht als einen überzeugten »proletarischen« bzw. kommunistischen Künstler betrachten wollte, lässt sich aus der folgenden Textstelle ablesen: »Jedenfalls betrachte ich Grosz als einen Menschen, einen Menschen mit brennendem sozialen Bewusstsein. Ich wage nicht, ihn als einen Pornographen zu etikettieren. Richte ich jedoch meine Gedanken auf die Wirkung der Kunst, die irgendeinem politischen Ismus als Instrument dient, so muss ich mich über eine Kunst solcher Art sehr beunruhigt fühlen« (Yanase 1925: 35).

In dieser Aussage schlägt sich jener Widerstreit zwischen Parteilichkeit und Individualität nieder, den Lenin in seinem berühmten 1905 veröffentlichten Aufsatz über Parteiorganisationen und Parteiliteratur thematisierte.5 Während der Führer der Bolschewiki von den Künstlern verlangte, die Kunst zu »ein[em] Teil der allgemeinen proletarischen Sache« zu machen, um sich der »organisierten, planmäßigen […] Parteiarbeit« zu widmen (Lenin 1924: 98), scheute sich Yanase davor, auf seine künstlerische Freiheit völlig zu verzichten. Dieses Zaudern ist 5 | In den 20er Jahren gab es zwar noch keine japanische Übersetzung dieses Aufsatzes, aber im Kreis der linken Intellektuellen, die sich im Übergang von der frühen, allgemein sozialistischen Literatur- und Kunstbewegung zu einer marxistisch orientierten mit Lenins Thematik intensiv beschäftigten, war er durch die deutsche Übersetzung weitgehend bekannt (dazu vgl. Ishidō 2002: 85 f.). Im Folgenden werde ich aus der 1924 erstmals gedruckten deutschen Übersetzung von Frida Rubiner (Lenin 1924) zitieren, die Yanase möglicherweise durch Murayama kannte (dazu vgl. Nishioka 2010: 239; Anm. 5).

276 Akane Nishioka

genau der Grund, warum er von Grosz fasziniert war: Der bissige Karikaturist der Weimarer Republik, der mit seinem »brennenden sozialen Bewußtsein« einen höchst individuellen künstlerischen Stil entwickelt hatte, schien ihm nämlich eine Lösung seines inneren Konflikts zwischen zunehmendem politischen Bewusstsein und künstlerischem Freiheitsgefühl vorzuzeigen. Deshalb nennt er Grosz im erwähnten Essay seinen »erfahrenen Kollegen und Mentor« (Yanase 1925: 34).

3. Vom »M entor « zum »G enossen « – Veränderungen des G rosz-B ildes Parallel zu den fortgesetzten Grosz-Studien vertiefte sich Yanase in die sich inzwischen nun mehr marxistisch orientierende Proletarische Kunstbewegung. Anfang 1926, als er Illustrator der Musansha Shinbun wurde, tat er schließlich den entscheidenden Schritt zum neuen Proletarischen Manga (Puroretaria manga). Die im September 1925 gegründete Zeitung ist das legale Organ der im Dezember des folgenden Jahres unter der Leitung der Komintern illegal begründeten Kommunistischen Partei Japans. Die karikaturistische Arbeit von Yanase diente hier in erster Linie zur bildnerischen Erläuterung des Leitartikels, der seinerseits den jeweiligen politischen Standpunkt der Partei vertrat. Wie sich Yanase mit einer derartigen Einschränkung seiner künstlerischen Freiheit abfand, die er kurz vorher noch verabscheut hatte, ist nicht zu ermitteln. Immerhin erklärte er im Februar 1927 in einem autobiographischen Essay seine Bereitschaft, »als eine Zelle in die proletarische Kunst [zu] versinken, um ihre historische Mission durchzuführen« (Yanase 1927b: 33). Aus Anāki Kyōsan wurde also ein kämpferischer Künstler der Partei. In diesem Prozess entfernte sich Yanases Zeichnungsstil immer mehr von demjenigen seines deutschen Vorbildes; stattdessen werden nun die Spuren von sowjetischen Propagandabildern sichtbar: Diese Zeichnung von Yanase (Abb. 5), die an Boris Kustodievs berühmtes Titelbild der Kommunistischen Internationale (Abb. 6) erinnert, illustriert den Artikel der Musansha-Zeitung vom 5. Februar 1927, der die Internationale Arbeiterkonferenz der Internationalen Arbeiterorganisation (IAO) als betrügerisch kritisiert und an den Leserkreis appelliert, sich mit den chinesischen Arbeitern zu solidarisieren, um die internationale Vereinigung des Proletariats zu fördern (Ōhara Institute for Social Research 1975: 24). Die allegorische Gestalt eines muskulösen, halbnackten Arbeiters, der den Tagungsort der IAO zertritt und einem chinesischen Arbeiter übers Meer die Hand reicht, verkörpert also die im Artikel geäußerte aktuelle Linie der KPJ, die ihrerseits der Außenpolitik der Komintern gegenüber China folgt.

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[Abb. 5] Yanase Masamu: Arbeiter in Japan und China, vereint euch! (1927)

[Abb. 6] Boris Kustodiev: Titelbild der Kommunistischen Internationale (1919)

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[Abb. 7] Yanase Masamu: Macht einen Gegenangriff gegen die Unterdrückung! (1929)

Inwieweit die Komintern damals unter den japanischen Kommunisten große­ Autorität besaß, zeigen Yanases Cartoons für die Musansha-Zeitung, in denen oft typische Motive der sowjetischen Propagandabilder auf die jeweiligen japanischen Kontexte übertragen und ihnen entsprechend bearbeitet werden. Als eine Probe sei eine Illustration vom 1. Februar 1929 (Abb. 7) gezeigt, wie sie den Protest gegen das Publikationsverbot gegenüber der Musansha-Zeitung ausdrückt. Das Motiv der geballten Faust mit Hammer und Sichel findet sich überall in sowjetischen Propagandabildern (Abb. 8). Bei Yanase wird durch die vergrößerte Darstellung der Faust, die wiederum an die Komposition eines sowjetischen Posters gemahnt (Abb. 9), die Wut der Unterdrückten gegenüber den repressiven Polizeibehörden betont.

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[Abb. 8] Ivan Vasilyevich Simakov: Lang lebe der 5. Jahrestag der proletarischen Revolution

[Abb. 9] Alexander Zelensky: Um mehr zu haben, mußt du mehr produzieren … (1920)

Man kann über Yanases Manga in der Musansha-Zeitung zusammenfassend sagen, dass er sich zugunsten einer verstärkten agitatorischen Wirkung um einen für eine breite Leserschaft leicht verständlichen Ausdruck bemühte. Diesem Bestreben entsprach seine Konzentration auf neue, populäre Vorlagen; infolgedessen ging nun Yanase die anti-bürgerlichen Zeichnungen von Grosz anders, nämlich parodistisch an.

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[Abb. 10] Yanase Masamu: Oho, sie tanzen ja nicht schlecht! (1930)

Diese Karikatur (Abb. 10), die im Dezember 1926 im Organ einer kommunistischen Gewerkschaft, Rōdō Shinbun (Arbeitszeitung), erschien, spielt auf die – aus der Sicht der KPJ – »reaktionäre« Politik der Sozialdemokraten an. Das Motiv des Puppenspiels übernahm Yanase offenbar von Grosz. Das Bild mit dem Titel »Gottgewollte Abhängigkeit« (Abb. 11), das 1921 im Sammelband Das Gesicht der herrschenden Klasse erschien, wurde auch in Yanases 1929 veröffentlichtem Buch, George Grosz, der Maler des Proletariats, aufgenommen: Beide Bilder haben eine sehr ähnliche Komposition; während jedoch bei Grosz ein gigantischer, glotzäugiger Großkapitalist, der im Hintergrund die Fäden zieht und die Vertreter der Gesellschaft steuert, wie ein Moloch wirkt, fehlen bei Yanase solche dämonisierende Effekte, indem er sowohl die auf dem Dachboden die Fäden ziehende Bourgeoisie als auch die tanzenden Politiker unterschiedlicher sozialdemokratischer Parteien im Rahmen eines billigen Puppentheaters lächerlich macht. Der symbolisch-universale Ausdruck der Herrschaft des Kapitals in der Moderne verändert sich somit zum Mittel für eine negative Kampagne gegen die Sozialdemokratie.

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[Abb. 11] George Grosz: Gottgewollte Abhängigkeit (1921) Estate of George Grosz, Princeton, N. J. /VG Bild-Kunst, Bonn 2014

Hinter dieser parodistischen Angehensweise, die in ästhetischer Hinsicht eher einen Rückschritt bedeutet, finden sich die Spuren der doktrinären marxistischen Kunsttheorie von Ivan Lydvigovich Matsa (1892-1974), dessen kritischer Kommentar zu Grosz auch in Yanases oben erwähnter Monographie zitiert wird: »Die Revolution verneint nicht nur die alte Welt, sondern errichtet die neue oder zumindest weist den dazu führenden Weg. [In der Revolution; Anm. A. N.] gibt es also nicht nur die negativen Momente, sondern auch die positiven. Bei George Grosz fehlt es aber an diesen positiven Momenten. // Das Proletariat bedeutet für ihn lediglich Sklave, Märtyrer oder Leiche. Die Spannung der Revolution ist [für ihn; Anm. A. N.] die der Verzweiflung oder des Wahnsinns. Das einzige positive Element in seiner Malerei ist die Bourgeoisie und das einzige negative Motiv ist der Haß gegen jene. Damit wird aber nur eine Seite des revolutionären Proletariats beleuchtet. Denn das revolutionäre Proletariat sieht und empfindet die positive Richtung der Revolution. Wer nicht diese Richtung nimmt, ist nur ein mitleidvoller Humanist. // So ist die Kunst von George Grosz, trotz ihrer inneren Kraft

282 Akane Nishioka und propagandistischer Wirkung, letztlich in derjenigen Gesellschaft verwurzelt, gegen die er tüchtig ankämpft« (Yanase 1929: 21 f.).6

Diese Ansicht von Matsa, die mit der seinerzeit im Umkreis der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) geübten Kritik an Grosz7 übereinstimmt, basiert auf den Lehrsatz des sozialistischen Realismus. Auch Yanase stimmt ihr zu und fordert die Überwindung des alten Grosz-Stils, was er in seinen bereits gezeigten Proletarischen Mangas dadurch versucht, dass er die Gestalten der Bourgeoisie verulkt und im Gegensatz dazu die Arbeiter heroisiert. Umso erstaunlicher ist es, dass Yanase auch in dieser Schaffensphase in seiner Bewunderung für Grosz keinesfalls nachließ, sondern dessen Kunst nun noch überzeugter gegenüberstand: Er achtet nämlich Grosz nicht mehr als eine Künstlerpersönlichkeit »mit brennendem sozialen Bewußtsein«. Vielmehr erscheint er ihm – so schreibt Yanase in einem Essay aus dem Februar 1927 – als »reiner Kommunist«, dessen Arbeit »in jeder Hinsicht planmäßig, organisiert wie wirkungsvoll« sei (Yanase 1927a: 27). Aufgrund dieses veränderten GroszBildes versucht Yanase in einem ebenso 1927 erschienenen Essay, die Arbeit jenes deutschen Malers in den historischen Entwicklungsprozeß einer »wahrhaft menschlichen Kunst von morgen« einzuordnen, die in einer »neuen, lebhaften Klasse« – das heißt, im Proletariat – nun langsam entstehe (Yanase 1927c: 7). Im Kontext dieser fortschreitenden internationalen Kunstbewegung findet er in Grosz einen »Genossen«, der im fernen Deutschland für ein gemeinsames Ziel arbeitet: »Eine Zelle, die in einer künstlerischen Truppe dieser proletarischen Bewegung arbeitet; ein Keim in Nordeuropa; ein revolutionärer Propagandist; ein werter Genosse George Grosz. Deshalb betrachten wir ihn mit großem Interesse« (Yanase 1927c: 7).

Man könnte sich allerdings fragen, warum Yanase eigentlich den deutschen Maler dermaßen gegenüber den sowjetischen Karikaturisten und Cartoonisten aus der Schule des sozialistischen Realismus bevorzugte, zumal sich Grosz um diese Zeit 6 | Yanase zitiert diese Textstelle aus der japanischen Übersetzung von I. L. Matsas Iskusstvo sovremennoi Evropy (Moscow-Leningrad, 1926) aus dem Jahr 1929. (Das Zitat von Matsa ist die Übersetzung der Verfasserin aus dem japanischen Text). Ivan L. Matsa ist ein ungarischer Kunstkritiker; er lebte seit 1923 in den UdSSR und arbeitete in mehreren Instituten in Moskau. Seine Schriften, die in den 20er und 30er Jahren mehrfach ins Japanische übersetzt wurden, gehörten damals zur Standardlektüre der linken Intellektuellen in Japan. 7 | Hierzu vgl. Schneede 51989: 138-139 und 173-176.

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[Abb. 12] Yanase Masamu: Proletarische Pioniere (1931)

sowohl von der Partei als auch von den kommunistischen Künstlerorganisationen in Deutschland mehr und mehr distanzierte. Auch sein sarkastischer Zeichnungsstil, der in den frühen 20er Jahren zur direkten sozialen Anklage verwendet wurde, verwandelte sich in einen politisch weniger scharfen, veristischen Stil, der auf Yanases proletarische Mangas keinen spürbaren Einfluss ausübte.8 Um diese Frage zu beantworten, soll zuerst erklärt werden, was für eine Vorstellung von Deutschland bzw. der Sowjetunion die zeitgenössischen linken Künstler in Japan hatten. Zwei Illustrationen von Yanase geben uns darauf Hinweise. Diese Illustrationen waren für ein Würfelspiel bestimmt, das zum populären Kindermagazin Yomiuri sandē manga [Yomiuri Sonntags-Comicmagazin] als Beilage hinzugefügt wurde. Jedes Einzelbild auf dem Spielbrett stellt die Jugendlichen eines Landes dar, damit die Kinder beim Spielen eine Weltreise machen und das Leben in anderen Ländern erfahren können. Für die Sowjetunion wird ein fröhlicher Marsch der jungen Pioniere nach dem Muster des sozialistischen Realismus gezeichnet (Abb. 12). Im Kontrast zu dieser glanzvollen Szene, zeichnet Yanase einen deutschen Jungen im Stil des Groszschen Verismus, wie er in einer düsteren Industrielandschaft unter Bewachung der Fabrikbesitzer arbeiten muss (Abb. 13). 8 | Yanase kannte offenbar diesen Stilwandel bei Grosz, denn in seiner nachgelassenen Bibliothek, die beim Museum of Contemporary Art Tokyo aufbewahrt wird, befindet sich der Sammelband Der Spiesser-Spiegel (1925), in dem Grosz’ neue Stiltendenz deutlich spürbar ist.

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[Abb. 13] Yanase Masamu: Der deutsche Junge (1931)

In dieser kontrastierenden Darstellung kommt eine ambivalente Haltung gegenüber der Sowjetunion zum Ausdruck: Das idealisierte Bild der Sowjetunion als Vaterland der proletarischen Revolution stellt eine märchenhafte Utopie dar, in welche sich der japanische Kommunist, der nach der Massenverhaftung am 15. März 1928, San-ichi-go jiken [15. März-Zwischenfall], unter immer heftiger werdenden polizeilich-militärischen Unterdrückungen an lebensgefährlichen illegalen Aktivitäten teilnahm, kaum einfühlen konnte,9 während in der Realität des »deutschen Jungen« die eigene japanische Wirklichkeit reflektiert wird. 9 | Yamamoto Masami (1906-1994) beispielsweise, der während der Jahre 1927 bis 1932 an der Kommunistischen Universität für die Arbeiter des Ostens in Moskau studierte, schreibt ausführlich in seinen Memoiren, wie er in Shanghai, bei der Abfahrt nach Wladiwostok, von der roten Fahne am Heck eines sowjetischen Schiffs ergriffen wurde: »Ich sah vom Kai eine strahlende Nationalflagge der Sowjetunion, die am Heck eines mittelgroßen schwarzen Schiffs flatterte. Diese Flagge machte mir den stärksten Eindruck, den ich seit meiner Abreise je gehabt habe. Die rote Fahne galt in Japan als Symbol des Protestes: Mit dieser Fahne protestierten Arbeiter und Bauer am Ersten Mai oder beim Streik gegen die Ausbeuterklasse. Wir kämpften unter dieser Fahne und wurden schonungslos von dieser Fahne weggerissen ins Gefängnis. Doch, wie anders kam die rote Fahne vor, die man am Landungsplatz in Shanghai sah. Die stolz flatternde Fahne schien mir Stärke und Solidarität des russischen Proletariats zu verkörpern, das durch die Revolution zum erstenmal in der Welt die Herrschaft der Arbeiter verwirklicht hatte­« (Yamamoto 1985: 13).

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Daraus erklärt sich die besondere Sympathie zu den proletarisch-revolutionären Künstlern in Deutschland, die Yanase mit seinen japanischen Freunden teilte. Die japanischen Künstler des linken Flügels hielten nämlich die Deutschen, die sich auf Initiative der KPD, der seinerzeit größten Kommunistischen Partei Europas, zur fortschreitenden proletarischen Kunstbewegung organisiert hatten, für vorbildhafte Kollegen, die mit derselben Wirklichkeit zu kämpfen hatten. Murayama Tomoyoshi beispielsweise bemerkt in einem Essay über die rapide Entwicklung der proletarischen Literatur in Deutschland: »Die ›Voreiligkeit‹ der proletarischen Schriftsteller in Deutschland können wir uns gut vorstellen. [...] So fühlen wir uns den deutschen Kollegen besonders verwandt. Wir wollen den Verkehr mit ihnen schnell intensivieren« (Murayama 1929: 52).

Das Bild vom »Genossen Grosz«, das Yanase in den späten 20er Jahren allmählich entwickelte, lässt sich auf diese aus dem spezifisch japanischen Kontext hergeleitete kameradschaftliche Zuneigung zu den deutschen Künstlern zurückführen. In das bereits mehrfach erwähnte Buch über George Grosz, das Yanase im November 1929 – also etwa ein halbes Jahr nach der zweiten Massenverhaftung von Kommunisten, Yon-ichi-roku jiken [16. April-Zwischenfall] – als eine Zusammenfassung seiner bisher ausgeführten Grosz-Studien veröffentlichte, werden insgesamt 58 Abbildungen aufgenommen. Diese Bilder sind grob in drei Abteilungen gegliedert: Die erste Abteilung besteht aus erotischen Sittenbildern, welche auf die Dekadenz der Bürger hindeuten. In der zweiten Abteilung sind die Zeichnungen gesammelt, die – wie die oben erwähnte Zeichnung »Gottgewollte Abhängigkeit« – die Herrschaft des Großkapitals zum Ausdruck bringen, während die Bilder der dritten Abteilung Armut, Misere und Wut der unterdrückten Arbeiter schildert. Diese Gliederung lässt erkennen, dass Yanase die ausgewählten Bilder von Grosz nach der marxistischen Theorie des Klassenkampfes anordnet. Im Anschluss an diesen bildnerischen Überblick über die Geschichte des Klassenkampfes sind noch einige Zeichnungen der festgenommenen Arbeiter aus Abrechnung folgt und Das Gesicht der herrschenden Klasse herangezogen. Die Szene der polizeilichen Razzia (Abb. 14) und die des Gerichtshofs (Abb. 15), welche ursprünglich die Unruhe nach der gescheiterten Deutschen Revolution ausdrücken, werden bei Yanase auf den im Dezember 1928 angefangenen Gotteslästerungsprozess gegen Grosz und Wieland Herzfelde bezogen (Yanase 1929: 33-37). Der Prozess, über den auch in Japan eine linke Literaturzeitschrift Kokusai bunka [Internationale Kultur] berichtete, lässt Yanase über die aktuelle Lage der proletarischen Kunstbewegung reflektieren:

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[Abb. 14] George Grosz: » - - schickt man die ›Grünen‹ als Freunde dem Volk« (1921). Estate of George Grosz, Princeton, N. J. / VG Bild-Kunst, Bonn 2014 »Das Proletariat vertritt eine Weltanschauung, die sich mit den Interessen der Bourgeoisie nie vereinbaren lässt. Wir rechnen deshalb damit, dass uns die blutige Unterdrückung der Bourgeoisie immer da überfällt, wo die Fahne des Proletariats vorangetrieben wird. Deshalb müssen wir diese Vorfälle [gemeint die Beschlagnahme der Mappen von Grosz und die Anklage gegen ihn; Anm. A. N.] als ein Barometer für die wachsende Kräfte unserer Klasse betrachten« (Yanase 1929: 33).

Aufgrund dieser hoffnungsvollen Einsicht über die momentane Krise versucht Yanase den deutschen Maler mit seinen künstlerischen Bundesbrüdern zu verbinden, die ebenfalls gegen die »blutige Unterdrückung« kämpfen und somit ihre »wachsende Kräfte« beweisen. So schließt er das Vorwort des Buches mit folgender Ansprache: »Nun reiche ich beide Hände und drücke noch fester meinen werten Freunden der Japanischen Proletarischen Künstlerliga und Genossen George Grosz die Hand« (Yanase 1929: 6).

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[Abb. 15] George Grosz: »Wie der Staatsgerichtshof aussehen sollte« (1921). Estate of George Grosz, Princeton, N. J. / VG Bild-Kunst, Bonn 2014

Das Bild vom »Genossen Grosz«, das Yanase in seiner Monographie gestaltet hat, ist insofern eine imaginäre Konstruktion der internationalen Solidarität mit den deutschen Mitstreitern, als sich in ihm die Verzweiflung der in einer aussichtslosen Situation vereinsamten kommunistischen Künstler in Japan niederschlägt. Die Grosz-Rezeption von Yanase, die aus heutiger Sicht auf mangelnde Informationen und daraus folgenden Missverständnissen reduziert werden könnte, repräsentiert vielmehr einen lokalspezifischen Entwicklungsprozess jener in den 20er Jahren in unterschiedlichen Ländern entstandenen, sozialistischen Kunstbewegung, die sich im Glauben an die Weltrevolution programmatisch um ein internationales Netzwerk von Künstlern bemühte.

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A bbildungen Ono Saseo: Der Reiz des Frühlings 1930 (1930) Tokyo Puck 19 (1930), H. 5, Hinterer Buchdeckel. George Grosz: Walzertraum (1921) Spaightwood Galleries ›http://www.spaightwoodgalleries.com/Pages/Grosz_EcceHomo_color2.html‹ (Zugriff am 24. 5. 2014). Yanase Masamu: 1923 (1924) Bungei sensen 1 (1924), H. 5, S. 24. George Grosz: Aus vaterländischen Motiven (1921) International Dada Archive, Special Collections, University of Iowa Libraries ›http://sdrc.lib.uiowa.edu/dada/Das_Gesicht/index.htm‹ (Zugriff am 24. 5. 2014). Yanase Masamu: Arbeiter in Japan und China, vereint euch! (1927) Yanase 1948, S. 59. Boris Kustodiev: Titelbild der »Kommunistischen Internationale« (1919) ›http://en.wikipedia.org/wiki/File:English_language_Communist_International_issue_6.jpg‹ (Zugriff am 24. 5. 2014). Yanase Masamu: Macht einen Gegenangriff gegen die Unterdrückung! (1929) Yanase 1948, S. 211. Ivan V. Simakov: Lang lebe der 5. Jahrestag der proletarischen Revolution (1922) ›http://commons.wikimedia.org/wiki/File:CominternIV.jpg‹ (Zugriff am 24. 5. 2014). Alexander Zelensky: Um mehr zu haben, mußt du mehr produzieren … (1920)10 Poster Collection, RU/SU 2262, Hoover Institution Archives ›http://www.hoover.org/library-and-archives/collections/posters‹ (Zugriff am 24. 5. 2014).

10 | Der Inhaber der Rechte konnte trotz Recherche nicht ermittelt werden. Falls Ansprüche bestehen, möge man sich bitte mit dem Verlag in Verbindung setzen.

Yanase Masamus Proletarische Mangas 289

Yanase Masamu: Oho, sie tanzen ja nicht schlecht! (1930) Yanase 1948, S. 37. George Grosz: Gottgewollte Abhängigkeit (1921) Yanase 1929, Abb. 24. Yanase Masamu: [Weltreisewürfelspiel] Proletarische Pioniere (1931) Musashino Art University Library 2008, S. 84. Yanase Masamu: [Weltreisewürfelspiel] Der deutsche Junge (1931) Musashino Art University Library 2008, S. 84. George Grosz: -- schickt man die ›Grünen‹ als Freunde dem Volk (1921) Yanase 1929, Abb. 53. George Grosz: Wie der Staatsgerichthof aussehen sollte (1921) Yanase 1929, Abb. 58.

L iteratur Fischer, Lothar (1976): George Grosz, Hamburg. »Georuge Gurossu muzai [Freispruch für Geroge Grosz]« (1929), in: Kokusai Bunka 2, H. 7, S. 123. Grosz, George (1926): Geiyutsu no kiki [Die Kunst ist in Gefahr], Tōkyō. Ide, Magoroku (1996): Nejikugi no gotoku. Gaka Yanase Masamu no kiseki [Wie ein Nagel. Der Lebensweg des Malers Yanase Masamu], Tōkyō. Ishidō, Kiyotomo (2002): Waga tomo Nakano Shigeharu [Mein Freund, Nakano Shigeharu], Tōkyō. »Kokusai bunka nyūsu [Internationale Kulturnachrichten]« (1928), in: Kokusai Bunka 1, H. 2, S. 262. Lenin, Vladimir Ilyich (1924): »Parteiorganisationen und Parteiliteratur«, in: Arbeiter-Literatur 1, Bd. 1, S. 97-103. Matsa, I[van Lydvigovich] (1929): Gendai ōshū no geijutsu [Europäische Kunst der Gegenwart], Tōkyō. Matsuyama, Fumio (1956): Yanase Masamu, Tōkyō. Murayama, Tomoyoshi (1929): »Saikin doitsu puroretaria-bungaku no keikō [Neue Tendenz der proletarischen Literatur in Deutschland], in: Kaizō 11, H.  11, S.  49-52. Murayama, Tomoyoshi (1969): »Kaidai [Erläuterung]«, in: George Grosz: Shakai fūshi manga [Sozialkritische Mangas], Tōkyō, S. 1-11.

290 Akane Nishioka

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Japan-Thematik bei Elfriede Jelinek. Von Gedanken zur Fotokunst Nobuyoshi Arakis zu Kein Licht Asako Fukuoka

E inleitung : K ulturkontak t S prache schreiben

bei

Autoren ,

die in ihrer ersten

Wenn man die Bezeichnungen ›Kulturkontakt‹ und ›Literatur‹ nebeneinander stellt, könnte man zuerst an ›transkulturelle Literatur‹ denken. Literatur und Ästhetik der Autoren, die nicht in ihrer ersten Sprache schreiben, haben seit einigen Jahren immer mehr Interesse auf sich gezogen. Diese Literatur, die nicht in der ersten Sprache eines Autors verfasst ist, wurde in der Vergangenheit üblicherweise stets vor dem Hintergrund des Konzepts der ›Nationalliteratur‹ erörtert, der gegenüber ihr als sekundär galt, was Begriffe wie ›Migrationsliteratur‹ bzw. ›Gastarbeiterliteratur‹ als abgrenzende Kategorisierungen bereits zum Ausdruck bringen. Jedoch, wie in der Einleitung eines Buches zur »Anders-Sprachigkeit« in der Literatur, »Exophonie« betitelt, konstatiert wird, ist in der heutigen Zeit, die man als die dritte Beschleunigungsphase der Globalisierung ansehen kann, »Anderssprachigkeit schwerlich noch als Ausnahme von der Regel zu beschreiben« (Arndt/ Naguschewski/Stockhammer 2007: 8). Natürlich darf man nicht übersehen, dass nicht alle anderssprachigen Autoren ihren Wohnort sowie ihre Sprache freiwillig auswählen können. Die Sprachwahl hängt vielmehr oft mit der »Gewalt der Vertreibungen, die das 20. Jahrhundert nachhaltig prägte« (ebd.: 11), zusammen, und ohne auf diesen Hintergrund den Blick zu richten, ist eine Auseinandersetzung mit der anderssprachigen Literatur nicht möglich. Dennoch bietet sie Ästhetiken und Perspektiven an, die durch eine bestimmte Distanz zur Schriftsprache gewonnen wurden. So wurden Aspekte der transkulturellen Literatur als das betrachtet, was die eindeutige Verbindung zwischen Nation und Sprache in Frage stellt. Der Begriff, mit dem Arndt/Naguschewski/Stockhammer die sonst oft als ›transkulturell‹ bezeichnete Literatur aufzufassen versuchen, heißt Exophonie. Darüber reflektiert Tawada Yōko, die selber zu den Autoren der ›Exophonie‹ gehört: »Wenn sich in Ausdrücken wie ›Ausländerliteratur‹ oder ›Migrantenliteratur‹ die Perspektive ›Man kommt von außen und schreibt in unserer Sprache‹ äußert, hängt die Bezeichnung ›Exophonie‹ zusammen mit einer abenteuerlichen Denkweise, die sich voller

292 Asako Fukuoka Neugier dem kreativen Ort selbst nähert: Wie kann man die Fesseln seiner Muttersprache abstreifen? Und was passiert dann dabei?« (Tawada 2003: 6 f. Übers. von A. F.).

Tawada schreibt weiter: »Das Ereignis der Exophonie stellt auch der ›normalen‹ Literatur, die innerhalb ihrer Muttersprache bleibt, die Frage, warum sie diese Sprache ausgewählt hat« (ebd.: 7). So wirkt, wie Tawada sagt, die Literatur der »Exophonie« als Anlass, aus einer neuen Sicht diejenige Literatur zu betrachten, die herkömmlich vorbehaltlos »japanisch« bzw. »deutschsprachig« genannt worden wäre. Haben nicht auch solche Autoren transkulturelle Erfahrungen gemacht, die in ihrer Heimat und in ihrer ersten Sprache bleiben? Und wenn ja, fließen ihre Erfahrungen nicht in die Gestaltung ihrer Ästhetik und Poetik mit ein? Für diese Perspektive ist Elfriede Jelinek (1946-) ein charakteristisches Beispiel. Jelinek kann man in verschiedener Hinsicht als eine »österreichische« Autorin bezeichnen. Allerdings, was sie dazu macht, ist nicht nur ihre Herkunft, eher noch ihre literarische Beschäftigung mit der österreichischen Gesellschaft und Sprache: Sie setzt sich seit Anfang ihrer Karriere stets mit aktuellen Themen und Anliegen in Österreich auseinander, wie z. B. mit Fremdenfeindlichkeit oder mit Geschichtsbildern nach dem Zweiten Weltkrieg. Zugleich steht ihre literarische Methode, die etwa durch Wortspiele und optische sowie akustische Strategien zu charakterisieren ist, in der spezifisch österreichischen Tradition des Sprachexperiments und der Sprachkritik, wie dies etwa bei der Wiener Gruppe oder bei Karl Kraus zu finden ist. Aber gleichzeitig darf man den sozusagen ›transösterreichischen‹ Aspekt in ihrem Werk nicht übersehen. Ihre Übersetzungsarbeit ist ein typisches Beispiel dafür. Sie übersetzt Literatur aus dem Englischen sowie Französischen, wie von Thomas Pynchon, Oscar Wilde und Georges Feydeau. Wenn man den Blick auf diesen transkulturellen Aspekt richtet, ist ihr Interesse an Japan nicht zu vergessen. Es ist bekannt, dass sie gerne japanische Mode von Yamamoto Yōji oder Kawakubo Rei trägt und ihren Garten zu Hause japanisch gestaltet hat.1 Was allerdings aus der Perspektive ›Kulturkontakt‹ interessant ist, ist nicht ihr privater Geschmack, sondern die Tatsache, dass in ihren Texten eine bestimmte Denkfigur auftaucht, die ›Japan‹ heißt. In der vorliegenden Arbeit untersuche ich anhand zweier Texte Jelineks, wie sie sich mit dieser Figur ›Japan‹ sowie mit bestimmten japanischen Themen auseinandersetzt. Weiter möchte ich darauf hinweisen, welche Bedeutung ›Kulturkontakten‹ in der Poetik Jelineks zukommt.

1 | Vgl. das Programmblatt zur japanischen Erstaufführung von Kein Licht.

Japan-Thematik bei Elfriede Jelinek 293

1.Tokyo Comedy : D ie F otosammlung A raki N obuyoshis Der erste japanbezogene Text Jelineks, den ich hier thematisieren möchte, heißt Gedanken zur Fotokunst Nobuyoshi Arakis. Die Ausstellung des japanischen Fotografen Araki Nobuyoshi (1940-) fand 1997 in der Wiener Secession unter dem Titel Tokyo Comedy statt. Sie bestand aus Schwarz-Weiß-Fotos, die verschiedenartige Szenen von Tokyo zeigen. Gedanken zur Fotokunst Nobuyoshi Arakis ist Jelineks Beitrag zum Katalog dieser Ausstellung. Ausstellung und Katalog, auf dessen Umschlagfoto Araki selbst mit einem Komododrachen (Komodowaran) posiert, betiteln sich zwar Comedy, bringen aber einen Betrachter nicht unbedingt zum Lachen. Das erste Foto heißt »Kinbaku« [Fesseln], was ein für Araki typisches Thema ist. Auf diesem Foto spreizt eine gefesselte, von der Decke herabhängende Frau die Beine; in ihrer Vagina steckt eine große Blume. Das zweite Foto zeigt den Bahnhof Shinjuku von oben fotografiert, in den viele Schienen gleichsam gebündelt hineinfließen. Auf der linken Seite des Fotos steht ein Komodowaran so, als ob er (zusammen mit dem Betrachter) auf den Bahnhof hinuntersehen würde. Auf dem dritten Foto ist eine Baulücke zu erkennen, in der ein umgekipptes Fahrrad liegt; daneben steht eine Tafel, die einen Bauplan anzeigt. So stehen in Tokyo Comedy Fotos von Szenen aus Stadtvierteln und von sexuellen Vorstellungen, Fotos wie Schnappschüsse und Fotos mit deutlichem Inszenierungscharakter nebeneinander. Am Schluss des Katalogs ist ein Foto von einem Himmel voller Schäfchenwolken zu sehen, durch die die Sonne zart hindurchscheint. Zwischen diesen beiden Themen, nämlich zwischen den Stadtszenen und den gefesselten Modellen, ist im ersten Augenblick kein Zusammenhang zu erkennen. Eine solche Buntheit gehört zum einen zum Charakteristikum der Welt Arakis, aber eine gemeinsame Vorstellung zwischen ihnen ist auch nicht zu übersehen: die Vorstellung vom Ende bzw. vom Tod. Ein Mann mit Bauchschuss; ein Frauenkörper in einer Kiste, die an einen Sarg erinnert; wieder eine andere Frau steckt mit ihrem Oberkörper im Grab. Bei Fotos wie diesen ist der Tod drastisch inszeniert. Aber auch manche Stadtfotos machen bewusst, dass zugleich die Stadt selbst Aspekte des Transitorischen aufweist, beispielsweise in Bildern vom Zusammensturz eines Hauses oder von einem Müllplatz, vor dem ein Paar Schuhe steht. Der Himmel auf manchen Fotos ist voller Wolken, ohne die übliche Verbindung des Himmels mit der Freiheit zu wecken. Eher wird Vergänglichkeit assoziiert, wenn Wolken und Himmel sich in jedem Augenblick verändern können. Auf den Fotos aus Tokyo Comedy wird der unvermeidliche Tod reflektiert, seien es Menschen, sei es eine Stadt. Diese Fotosammlung heißt Comedy, aber nicht deswegen, weil sie Lachen hervorruft. Was hier dargestellt wird, ist eher Stadt als

294 Asako Fukuoka

Tragikomödie, wobei es die Distanz zum Gegenstand ist, was die Fotosammlung mit der Komödie als Genre gemein hat. Das Foto mit der Rückenansicht von Passanten beim Warten auf die Ampel erfasst auch eine Hochbrücke im Hintergrund, und auf einem anderen Foto ist das riesige Gebäude eines Fernsehsenders zusammen mit einer Person gezeigt, die am Haus vorbeigeht. Diese Bilder zeigen Menschen als kleine Wesen. In der Tokyo Comedy liegt eine Distanz zum Leben. Allerdings bedeutet diese Distanz weder eine nihilistische Einstellung zum Leben noch eine Resignation, die die Überlegenheit des Todes (an)erkennt. Wenn man zum Beispiel das Fotomotiv der Baulücke mit einem umgekippten Fahrrad genauer betrachtet, kann man zum einen sagen, dass dieses Foto eine Vorstellung des Endes vermittelt. Zum anderen aber kann man dort auch die Anzeige eines Bauplans sehen, was eine Art der Regeneration konnotiert. Manche Fotos stellen den Tod vor, indem sie aber gleichzeitig neues Leben sowie seine Erneuerung darstellen. Araki charakterisiert seine eigene Welt mit der Bezeichnung »Erotos«, was ein Neologismus, gebildet aus den beiden Wörtern »Eros« und »Tanatos«, ist. Zwar will der Fotokritiker Iizawa Kōtarō bei Araki den »Gegensatz« von Leben2 und Tod erkennen,3 doch wäre in dieser Hinsicht eher von einer Simultaneität zu sprechen: Wie in einer Kippfigur gehen nämlich bei Araki Leben und Tod, Licht und Dunkelheit ineinander über. Dies ist überhaupt ein grundlegender und entscheidender Zug bei der Fotosammlung Tokyo Comedy. Das lässt sich prototypisch beim Foto einer Frau erkennen, die eine ihrer Brüste verloren hat, jedoch ein großes Lächeln zeigt. Zu dem, was diese ambivalente Einstellung zu Leben und Tod bei Araki geprägt hat, gehört eines seiner Kindheitserlebnisse. Er wohnte als Kind in der Nähe von Yoshiwara, einem bekannten Prostituiertenviertel Tokyos. In dieser Gegend gab es auch einen Tempel, Jōkan-ji genannt: Wenn eine Prostituierte ohne Verwandte starb, trug man sie in diesen Tempel, und zwar auf pietätlose Art und Weise. Araki sagt, es sei seine »Urszene« gewesen, dass er dort einen Hitodama (was in der japanischen Mythologie eine sichtbare Menschenseele bezeichnet) gesehen habe.4 Wenn der Anblick von unzähligen Frauen, die von der Prostitution lebten und ohne Namen oder richtige Trauer in den Tempel getragen, genauer gesagt: »geworfen« wurden, sein Todesbild geprägt hat, so ist es nicht verwunderlich, dass in Tokyo Comedy Fotos von gewalttätigen sexuellen Vorstellungen und Fotos von Stadtszenen nebeneinander stehen. Die Simultaneität von Leben und Tod, die diese Fotosammlung zeigt, ist als das konzipiert, was nicht 2 | Leben heißt auf Japanisch sei (生), das Wort ist ein Homonym von Sexualität sei (性). 3 | Vgl. Iizawa 2010: 74. 4 | Vgl. Tachibana 2010: 56 f.

Japan-Thematik bei Elfriede Jelinek 295

nur an Menschen zu erkennen ist; auch das Leben der Stadt Tokyo an sich beruht auf Schmerz und Tod.

2. J elineks E ssay

zu

A raki : P erspek tiven

des

»Japanischen «

Am Anfang des Katalogs zu dieser Ausstellung stehen einige Essays über Arakis Fotografie und der Text Jelineks. Ihr Essay ist nicht bloß ein Kommentar zu den Fotos der Ausstellung, sondern thematisiert auch Arakis Fotos seiner verstorbenen Frau, Yōko, die nicht zur Sammlung Tokyo Comedy gehören. Sie heiratete 1971 Araki und war bis zu ihrem Tod (sie starb 1990 im Alter von nur 42 Jahren an einer Krankheit) mit ihm zusammen. Es geht nicht zu weit, wenn man sagt: Es ist Yōko, die die Welt Arakis gestaltet hat. Eine Fotoserie Arakis über sie ist A sentimental journey / winter journey. Hier fotografiert er sie auf ihrer gemeinsamen Hochzeitsreise – wobei sie übrigens nie ein freudiges Gesicht zeigt – und fotografiert weiter ihren Krankheitsverlauf, der mit ihrem frühen Tod endet. Diese Zusammenstellung zeigt, dass sowohl ihr Leben als auch ihr Tod zugleich die Welt von Araki gestalten. Tod und Sterben sind auch bei Jelinek eine entscheidende Thematik. Von den frühen Werken, wie Die Liebhaberinnen (1975), bis zu neueren Texten, wie Der Tod und das Mädchen (1999), dient der Tod stets als Metapher für die Situation der Frauen unter sozialem Druck.5 In der Beschäftigung mit dem österreichischen Geschichtsbild nach 1945, wie beispielsweise dem »Opfermythos«,6 zeigt sie ihre Sichtweise, nämlich dass die Gegenwart auf dem Tod der anderen beruht.7 In diesem Sinne kann man in Hinsicht auf die Todesbilder eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen Jelinek und Araki erkennen. Jelinek betrachtet diese Fotos von Yōko nicht etwa aus einer feministisch-sozialkritischen Perspektive, sondern richtet den Fokus auf den Umgang des Fotografen mit Tod und »Stille«. Der Text fokussiert den Moment, in dem der Anspruch 5 | Dafür beispielhaft dieses Zitat: »überall auf den türschwellen sitzen angestorbene frauen wie zerquetschte eintagsfliegen, sitzen da wie mit flüssigem asphalt angeklebt und überblicken pausenlos ihre eigenen kleinen hausfrauenreiche, in denen sie königinnen sind« (Die Liebhaberinnen 1975: 68. Hervorh. von A. F.). 6 | Das ist die gängige Bezeichnung dafür, dass sich Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg oft als erstes »Opfer« des nationalsozialistischen Deutschland ansah und so von seiner eigenen Kriegsschuld absehen konnte. 7 | So sagt sie in einem Interview zu ihrem Theaterstück »Totenauberg«: »›Totenauberg‹ ist im Grunde ein Requiem. Wie der Name schon sagt: Wir leben auf einem Berg von Leichen und von Schmerz. Es ist ein Requiem auch für den jüdischen Teil meiner Familie, von dem viele vernichtet worden sind« (Becker 1992: 8).

296 Asako Fukuoka

des Fotografen, dass »das von ihm so besessen geliebte Objekt wieder aus dem Nichts daherkommen möge, wieder da sein solle« (Jelinek 1997: 10), immer wieder scheitern muss und »zurückgewiesen« (ebd.) wird, was auch mit dem Medium selbst, der Fotografie, zu tun hat. Jelinek begreift das optische Medium der Fotografie auch akustisch. Der Anspruch des Fotografen ist in ihrem Text als »Ruf« oder »Schrei« gestaltet: »Anspruch des Zeigers [...], dieser lauteste, nicht immer lautere, Ruf des Künstlers [nach] seinen Gegenstand [...], [den er] jedes Mal wieder ins Leere hinein wirft. [...] [D]er Schrei wird wieder zurückgeschmettert […], auf den Betrachter, der den Ruf vergebens festzuhalten sucht« (Jelinek 1997: 10).

Dementsprechend wird das Scheitern des »Rufes« bzw. »Schreies« als »Unhörbarkeit« und »Stille« verstanden: »Wie ein Ton im Ultraschallbereich, den gewisse Tiere hören können, doch Menschen können es nicht. Der Ton ist da, doch man hört ihn eben nicht. […] Der Fotograf/Ehemann kann seine Frau, und je manischer, heftiger er auf sie buchstäblich eindringt, umso weniger für sich selber retten; die Stille dieser Bilder wird vielleicht umso lauter, aber sie bleibt doch: Stille« (ebd.).

Ein Foto legt zwar den Gegenstand fest, allerdings erweist es sich gleichzeitig auch als unzugänglich. Die Sicht auf diese Ambivalenz der Fotografie an sich ist beispielsweise auch bei Roland Barthes ausgeführt, der anlässlich eines Fotos seiner verstorbenen Mutter seine Gedanken über Fotografie verfasst hat. Die Unzugänglichkeit der Fotografie bezeichnet Barthes als »Interpretationssperre« (Barthes 2012 [1980]: 117). Er sagt: »Mit der PHOTOGRAPHIE betreten wir die Ebene des gewöhnlichen TODES« (Barthes 2012 [1980]: 103) und führt weiter aus: »Dies ist sein Schrecken: daß es nichts zu sagen gibt über den Tod des Menschen, den ich am meisten liebe, nichts über sein Photo, das ich betrachte, ohne es je ausloten, umwandeln zu können« (ebd.). Barthes sieht das Wesen des Mediums Fotografie darin, dass sie den Versuch des Betrachters zum Scheitern führt, über ihm nahestehende Menschen zu erzählen. Auch Jelinek erkennt in der Fotografie Arakis eine ähnliche Unerreichbarkeit des Rufs des Fotografen und Betrachters. Allerdings betrachtet sie den Moment, in dem der Ruf/Schrei unvermeidlich sich in Stille verkehren muss, in gewisser Weise positiv, indem sie die Begriffe ›Leere‹ und ›Nichts‹ aus der japanischen Tradition heranzieht. Das Japanische, das sich Jelinek hier vorstellt, übernimmt sie aus einem Text Martin Heideggers:

Japan-Thematik bei Elfriede Jelinek 297

»In Heideggers fiktivem Dialog ›aus einem Gespräch von der Sprache‹, zwischen einem Japaner und einem Fragenden, wundert sich der japanische Gesprächspartner, wie Europäer das Nichts nihilistisch deuten können. Für Japaner, sagt er, sei die Leere der höchste Name für das, was die Europäer mit dem Wort ›Sein‹ bezeichnen. Für die Japaner enthält offenbar das Nichts alles andere zu allem An- und Abwesenden hinzu. [...] Er [der Weg] führt ins Freie, das das Nichts ist, und gerade diesen Weg kann der Künstler nicht mitgehen. Die einzige, die gewonnen hat, ist die Verstorbene. Sie rafft diesen Weg an sich wie ein Kleid und geht fort« (Jelinek 1997: 10 f. Hervorh. von A. F.).

»Stille« ist hier nicht als »Schrecken« für den Betrachter, das heißt den Lebenden, konzipiert, sondern als das, was die Verstorbene zum »Gewinn« führt. Was diese Umwendung ermöglicht, ist die Sicht, »Stille« als etwas Japanisches zu betrachten. Das heißt: »Stille« von der negativen Leere als Gegensatz zum Begriff »Sein« in einem »Sein« an sich aufzubewahren: »Doch vielleicht ist gerade die Immobilisierung des Objekts in der Fotografie nein, nicht ein Ins Leben wieder Zurückholen, sondern ein Aufgehobensein, […] das mag das eigentlich Japanische an den Fotografien Arakis sein, eins, das die Stille dieses Gebanntseins durchdringt« (Jelinek 1997: 10. Hervorh. von A. F.).

Wie Jelinek wiederholt, spielen die Begriffe »Stille«, »Leere« sowie »Nichts« eine entscheidende Rolle in der Tradition der japanischen Philosophie. Die Auffassung »Leere als Sein«, auf der dieser Essay beruht, lässt sich auf die Worte Shiki soku ze kū, kū soku ze shiki [Wesen als Leere, Leere als Wesen] aus dem buddhistischen Sutra Han’nya shingyō zurückführen. Wenn man kritisch darauf eingehen will, kann man hier eine gewisse Oberflächlichkeit ihrer Japan-Rezeption erkennen. Zum Beispiel werden hier »Stille« und »Nichts« ohne Unterschied aufgefasst, was aber in der japanischen Philosophiegeschichte kritisch erörtert wurde. Wie das erste Zitat des Essays zeigt, speist sich Jelineks Vorstellung von Japan – die Stille als erfülltes Sein – hier wesentlich durch Texte Heideggers, vor allem durch Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden. Dieser Text stammt aus einem Gespräch, das 1954 zwischen Heidegger und dem japanischen Germanisten Tezuka Tomio stattfand, wobei Heidegger dieses Gespräch nicht etwa dokumentiert, sondern stattdessen einen mehr oder weniger fiktiven Dialog im Anschluss an dieses Gespräch entwickelt hat: Mit der Erinnerung an den japanischen Philosophen Kuki Shūzō einsetzend, diskutieren der »Japaner« und der »Fragende« über das Wesen der Sprache. Dabei sagt der »Japaner«, dass die »hintergründige japanische Welt« im Nō-Spiel zu erfahren sei, und beide sprechen über den Aussageduktus dieses Spiels:

298 Asako Fukuoka »J In einem selbst unsichtbaren Schauen, das sich so gesammelt der Leere entgegenträgt, daß in ihr und durch sie das Gebirge erscheint. F Die Leere ist dann dasselbe wie das Nichts, jenes Wesende nämlich, das wir als das Andere zu allem An-und Abwesenden zu denken versuchen. J Gewiß. Deshalb haben wir in Japan den Vortrag »Was ist Metaphysik?« sogleich verstanden, als er im Jahre 1930 durch die Übersetzung zu uns gelangte, die ein japanischer Student, der damals bei Ihnen hörte, gewagt hat. – Wir wundern uns heute noch, wie die Europäer darauf verfallen konnten, das im genannten Vortrag erörterte Nichts nihilistisch zu deuten. Für uns ist die Leere der höchste Name für das, was Sie mit dem Wort ›Sein‹ sagen möchten ...« (Heidegger 142007 [1959]: 108 f. Hervorh. von A. F.).

Wie die hervorgehobenen Stellen zeigen, hat Jelinek für ihr Essay von Heideggers Text nicht nur Anregungen aufgenommen, sondern direkte Zitate übernommen. Zitieren ist bei Jelinek eine typische Methode. Vor allem ist sie nicht nur eine genaue, sondern auch eine kritische Leserin Heideggers. Sie setzt sich mit ihm auf verschiedenartige Weise auseinander, wie etwa in ihrem Theaterstück Wolken. Heim., das den Prozess aufzeigt, wie eine Grenze zwischen dem deutschen ›wir‹ und dem fremden ›ihr‹ sprachlich gezogen wird. In ihrem Theaterstück Totenauberg geht es um den Dialog zwischen zwei Personen, die an Heidegger und Hannah Arendt denken lassen, an den »völkische[n] Philosoph[en] und die jüdische Philosophiestudentin« (Becker 1992: 7). In diesen Texten wird die Figur Heideggers in Verbindung mit dem Bild des Völkischen bzw. eben Nationalsozialistischen sowie des Schweigens äußerst kritisch gestaltet. Im Gegensatz dazu rezipiert Jelinek in ihrem Essay über Araki erstaunlicherweise ohne große Distanz das Japanbild Heideggers, wenn sie auch die Zeile von Heidegger modifizierend zitiert. Allerdings heißt das nicht, dass sie ihn hier naiv rezipieren würde. In diesem Essay wird die Tote beispielsweise durch flinke Bewegungen charakterisiert (sie »rafft« etwa den Weg ins Nichts an sich »wie ein Kleid«) und dadurch verlebendigt. So schlägt Jelinek hier einen anderen Ton an als in ihren anderen Texten, in denen sie sich mit Toten bzw. dem Toten-Diskurs beschäftigt. Beim Umgang mit den Toten geht es ihr sonst meistens darum, die Toten als Opfer aus dem Schweigen zu retten und sie erzählen zu lassen. Dafür gibt es verschiedene Methoden, aber typisch bei ihr ist, dass die Toten wieder lebendig werden, so wie Zombies. Das kommt nicht nur von ihrem Sinn für ›Gothic Horror‹, sondern bezieht sich auf ihren »Wunsch, das Unsagbare und Unheimliche sprachlich aus dem Vergessen herauszulösen« (Mertens 2013: 292). Wie zum Beispiel in Totenauberg spricht die »Frau«, die an Arendt erinnert, in einem resignativen Sprachgestus:

Japan-Thematik bei Elfriede Jelinek 299

»Es ist nichts gewesen. Wir alle wünschten, daß unsre Spuren nur mehr ferner Schall sein mögen, ein Geräusch, das lange geherrscht hat, aber jetzt hört es keiner mehr. Wirkung, deren Abdrücke im Schnee verwischt worden sind« (Jelinek 1991: 85).

Hier wird Stille als Tonlosigkeit im Zusammenhang mit dem Verschwinden oder auch Vergessenwerden der Opfer und der Vergangenheit dargestellt. Der Essay zu Araki thematisiert auch eine Art von Umgang zwischen dem Lebenden und dem/der Verstorbenen. Aber hier ist die Richtung der Trauer anders: Die Verstorbene wird nicht aus der Stille befreit, sondern soll in die Stille befreit werden, die eben eine erfüllte Leere ist. Man kann nun sagen, dass Jelinek in diesem Essay weder über das Japanische noch über die Fotografie schreibt, sondern sie entwickelt vielmehr mittels des Japanischen eine Auseinandersetzung mit ihrer Todesthematik. Japan oder das Japanische, das dabei vorausgesetzt wird, ist als eine reine Imagination oder Vorstellung zu bezeichnen. Aber eben diese Vorstellung führt zur Reflexion über den Umgang mit den Toten. Der hier stattfindende Kulturkontakt ist einer, der eine neue Konstellation der Thematik entbindet, mit der sich die Autorin stets beschäftigt.

3.K ein L icht Bei Jelinek gibt es ein weiteres Werk, das in einer ganz anderen Weise Japan aufnimmt, obwohl auch hier das Motiv der Stille auftaucht: Es geht um ihr Theaterstück Kein Licht. Dieses wurde als Reaktion auf die dreifache Katastrophe im März 2011 in Japan, nämlich Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall im Atomkraftwerk Fukushima, geschrieben. Es wurde im September des gleichen Jahres in Köln uraufgeführt; im Dezember fand eine Lesung dieses Stückes in japanischer Übersetzung in Tokyo statt. Im Oktober 2012 wurde es beim einem Theaterfestival in Tokyo in einer japanischen Fassung aufgeführt (übersetzt von Hayashi Tatsuki, inszeniert von Miura Motoi). Dieses Stück besteht aus dem Dialog zwischen zwei Geigenspielern, genannt »Geiger A« und »Geiger B«. Aber dieser Dialog zeigt keine konkrete Entwicklung und hinterlässt den Eindruck, dass es sich eigentlich um keinen Dialog, sondern um eine Alternierung längerer, polyphoner Monologe handelt. Das Stück entwickelt sich nicht durch einen Plot, sondern eher durch Sprachspiele, Assoziationen und Töne. Die zwei Geigenspieler, die aus einem Wortspiel mit dem Begriff »Geiger(zähler)« entstanden sind, und deren Nennung »A« und »B« die Alphaund Beta-Strahlung assoziiert, haben weder Namen noch eine jeweils konkrete, individuelle Ausgestaltung. Mit der Figur »Geigenspieler A« beginnt das Stück:

300 Asako Fukuoka »He, ich hör deine Stimme kaum, kannst du da nicht was machen? Kannst du sie nicht lauter tönen lassen? Ich möchte mich selbst nicht hören, du mußt mich irgendwie übertönen. Dabei glaube ich schon längere Zeit, daß ich auch mich nicht hören kann, obwohl ich das Ohr direkt am Schaltpult habe, wo ich versuche, sie zu greifen, die Töne« (A1).8

Was hier angedeutet wird, wird im weiteren Dialog deutlicher, nämlich das Motiv der Unhörbarkeit der Stimme. So wie die Stimmen, so sind in diesem Stück auch »Ton« und »Klang« nicht zu hören: »Wer erforscht unseren unsichtbar-kunstreichen Klang? Wer kommt, wenn wir schreien? Wer kommt überhaupt, egal, was wir tun?« (A5). Dieses Motiv der Unhörbarkeit kann man mit den Thematiken der Unerreichbarkeit der Stimme von Unfallopfern sowie Verstörungen beim Hören der Stimme des Gewissens verbinden, wenn man an das Desinteresse denkt, welches die Debatte um Atomkraftwerke in Japan findet. Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass das Theaterstück weder eine eindeutige Kritik an der Atomkraft noch eine klare, eindeutige Aussage zeigt, sondern eher die Rezipienten anregt, sich selbst mit dem Thema auseinanderzusetzen. Betrachtet mit diesem Theaterstück eine Österreicherin eine Katastrophe in dem fernen Land Japan von außen? So kann man dies sicher nicht sagen, sondern die Frage wäre vielmehr, ob diese Katastrophe überhaupt jemandem fremd sein kann. Während der Anlass zu diesem Text aus Japan stammt und wieder die Vorstellung der Stille eine Rolle spielt, geht es hier nicht um Japan als einen Ort oder einen für Jelinek fremden Kulturbereich.9 Es ist die Frage nach dem Pronomen »wir«, die hier zu stellen wäre – und die auch von japanischen Rezensionen des Stückes gestellt wurde. Itaru Terao charakterisiert in seiner Rezension von Jelineks Theaterstücken allgemein diese dadurch, dass »verflochtene Perspektiven, die oft nicht klar machen, ›wer‹ spricht« (Terao 2014: 82. Übers. von A. F.) zu finden seien, während Tanaka Hitoshi auch in Hinblick auf das »Subjekt des Sprechens« die Fragen stellt: »Wer spricht, an wen wendet sich die Sprache und was teilt sie mit?« (Tanaka 2013: 120. Übers. von A. F.). Tanaka stellt heraus, wie sich der japanische Regisseur Miura Motoi mit diesen Fragen auseinandersetzt: Miura fügt dem Originaltext Jelineks einen 8 | Da dieses Theaterstück zur Zeit allein auf der Homepage Jelineks publiziert und nicht paginiert ist, gebe ich beim Zitat an, in welchem »Monolog« das Zitat steht (»A1« heißt, dass das Zitat im ersten Monolog vom Geiger »A« zu finden ist). Das Stück besteht insgesamt aus 66 Monologen (33 von A , 33 von B) und einem gemeinsamen Textblock. 9 | Der Ortsname Fukushima bleibt innerhalb des Stücks selbst ungenannt; es sind allerdings einige Pressefotos der Reaktorruine und von Menschen bei einer Radioaktivitätsuntersuchung eingeschoben. Am Ende des Stücks wird auf Jelineks Text Fukushima-Epilog verwiesen.

Japan-Thematik bei Elfriede Jelinek 301

eigenen Teil hinzu, in dem die Schauspieler sich und das Publikum »ich/wir« bzw. »du/ihr« nennen, wodurch das Publikum zwangsläufig sowohl als sprechendes Subjekt als auch als angesprochenes Objekt erscheint. In der Inszenierung Miuras sind verschiedenartige Methoden zu finden, um aus dem Publikum ein teilhabendes ›Wir‹ zu machen. Zu seinen Methoden schreibt Tanaka, dass es eine »Aufgabe des Publikums« sei, »auf die Frage zu antworten, mit welchem Recht wir, die wir zufällig im Theater anwesend sind, das wir gestalten können« (Tanaka 2013: 122. Übers. von A. F.). Wenn der Text Kein Licht einen Kulturkontakt verwirklicht, dann nicht deswegen, weil eine nicht-japanische Autorin etwas ›Japanisches‹ aufnimmt und somit eine für sie fremde Zone betritt. Vielmehr geht es um eine Katastrophe, die ein gemeinsames ›Wir‹ betrifft. In diesem Stück gibt es noch einen anderen Kontakt: den Kontakt zwischen dem Text Jelineks und Texten anderer Autoren. Am Ende des Textes steht folgender Hinweis: »u. a. Sophokles: Die Satyrn als Spürhunde. René Girard: Die verkannte Stimme des Realen«. Die ersten Worte vom Geiger »A« können als eine Anspielung auf Sophokles gelesen werden: »He, ich hör deine Stimme kaum, kannst du da nicht was machen? Kannst du sie nicht lauter tönen lassen?« (Jelinek 2011: A1). Bei Sophokles heißt es: »Silenos: Apollon! Deine Stimme hab’ ich kaum gehört, / die du so tönen lässt mit hellem Heroldsruf, / da komm’ ich eilends, wie’s ein Alter nur vermag [...]« (Sophocles 21985: 693). Das Motiv der unsichtbaren Klangquelle spielt auch in Sophokles’ fragmentarisch erhalten gebliebenen Satyrspiel eine Rolle: Dem Gott Apoll wurden einige Rinder gestohlen. Silenos und seine Söhne machen sich auf die Suche nach dem Dieb und hören während dieser Suche schließlich einen ungewöhnlichen »Klang« aus einer Höhle. Der Klang stammt von einem Instrument des Hermes, dem neugeborenen unehelichen Sohn von Zeus und Maia. Es stellt sich heraus, dass das Instrument mit den Häuten von Rindern bespannt ist, und Silenos hält den Göttersohn Hermes für den Dieb. Aber man darf Zeus’ Sohn keinen Dieb nennen: »Zeus’ Sprößling ziemt’s nicht, daß man übel von ihm spricht« (Sophocles 21985: 717). Dank der Engführung des Textes von Jelinek mit dem Satyrspiel erfährt das Motiv des unhörbaren Klangs so eine Überlagerung durch den unsichtbaren Klang bei Sophokles; dadurch werden verschiedene Interpretationen des Klangs möglich. Beispielsweise weist der Klang »aus einem toten Tier« darauf hin, dass der Klang in Kein Licht einen unsichtbaren Klang im Strahlentod andeuten könnte. Bei diesem Zitat-Verfahren geht es allerdings nicht vorrangig darum, abstrakte Motive im jeweiligen Text eins zu eins zu verknüpfen und symbolisch zu interpretieren. Beim Kontakt der zwei Texte ist aufschlussreicher, dass die Struktur des

302 Asako Fukuoka

Vorgangs beleuchtet wird, wie man Stimmen, Töne und Klänge überhören kann. Auf dem methodischen Weg des Umgangs mit dem Klang wird der Täter zwar identifiziert, aber er darf nicht genannt werden. Die Analogie zwischen Jelinek und Sophokles liegt in dieser Situation, wobei Kein Licht danach fragt, was es unmöglich macht, den Täter zu nennen, und ob es überhaupt einen bestimmten Täter zu nennen gibt. Das hängt mit der bereits aufgeworfenen Frage nach Verantwortlichkeit und Komplizenschaft zusammen.

S chluss Aus Zitaten einen Text zu konstruieren, ist typisch für Jelineks Methode, wobei man einen Text aus Zitaten auch als einen Raum verstehen kann, der einen Kulturkontakt bildet: Ein Text trifft einen (Kon-)Text, indem er sich in einen neuen (Kon-)Text stellt. Ein solcher Text kann eine Kontakt-Zone sein, in der verschiedene Ebenen, mit manchmal einander widersprechenden Aussagen, Logiken und Stimmen zusammenkommen und klingen.

L iteratur Araki, Nobuyoshi (1997): Tokyo Comedy [Ausstellung], Wien. Araki, Nobuyoshi (1991): Senchimentaru na tabi fuyu no tabi, Tōkyō. Arndt, Susan/Dirk Naguschewski/Robert Stockhammer (Hg.) (2007): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur, Berlin. Barthes, Roland (2012 [1980]): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, aus dem Französischen, Frankfurt a. M. Becker, Peter von (1992): »›Wir leben auf einem Berg von Leichen und Schmerz‹. THEATER HEUTE-Gespräch mit Elfriede Jelinek«, in: Theater Heute 9, S. 1-9. Heidegger, Martin (142007 [1959]): »Aus einem Gespräch von der Sprache«, in: Ders.: Unterwegs zur Sprache, Stuttgart, S. 83-156. Iizawa, Kōtarō (2010): »Kami wa pēji ni yadoritamau. Araki bon no sekai«, in: Bungei, S.72-78. Janke, Pia (Hg.) (2002): Die Nestbeschmutzerin. Jelinek und Österreich, Salzburg/ Wien. Janke, Pia (Hg.) (2013): Jelinek Handbuch, Stuttgart/Weimar. Jelinek, Elfriede (1975): Die Liebhaberinnen, Reinbek b. Hamburg. Jelinek, Elfriede (1991): Totenauberg. Ein Stück, Reinbek b. Hamburg. Jelinek, Elfriede (1997): »Gedanken zur Fotokunst Nobuyoshi Arakis«, in: Nobuyoshi Araki: Tokyo Comedy [Ausstellung], Wien, S.10-11. Jelinek, Elfriede (2011): Kein Licht, Berlin.

Japan-Thematik bei Elfriede Jelinek 303

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Eigenständig, hybrid, innovativ. Literaturpreise in Japan Mechthild Duppel-Takayama Untersuchungen zu Literaturpreisen im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich überwiegend mit Einzelpreisen,1 historischen und kulturpolitischen Aspekten2 oder auch – im Rahmen der Ritualforschung – mit den Preisinszenierungen.3 Literaturpreise als Manifestationen des Stellenwerts von Literatur und Autoren in einer Gesellschaft sind jedoch darüber hinaus auch für komparatistische Studien allgemein geeignet, und im Besonderen für die Untersuchung von Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen. Die japanische Literatur liegt erst seit den 1990er Jahren umfassend in deutscher Übersetzung vor. Dagegen wurde die deutsche Literatur in Japan bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts intensiv rezipiert und beeinflusste in der Folgezeit alle literarischen Gattungen: die Lyrik bei der Einführung der neuen Gedichte (shintai-shi), die Prosa in Form des Ich-Romans (shi-shōsetsu) und die Dramatik beim neuen Schauspiel (shingeki), besonders dem proletarischen Theater (puroretaria engeki). Die Annahme liegt deshalb nahe, dass sich der deutsche Einfluss nicht nur auf das Schreiben und die Inszenierung von Literatur bezog, sondern sich auch im Literaturbetrieb, speziell bei der Einrichtung und Vergabe von Preisen auswirkte. Die Anzahl der heute in Japan verliehenen Auszeichnungen für literarische Werke fluktuiert – angesichts von Neuvergaben und auch Einstellungen – ebenso wie in Deutschland. Im Jahr 2009 nennt das Literaturpreis-Lexikon Saishin Bungaku-shō jiten 466 Preise.4 Dies entspricht der Situation in Deutschland, wo zwar zahlreiche zusätzliche Unterstützungsangebote für Autoren in Form von Förderpreisen oder Stipendien existieren, Kürschners Deutscher LiteraturKalender im Jahr 2012 aber rund 500 Hauptpreise aufführt. 1 | So z. B. Sembner 1968, Espmark 1988, Emmerich 1999, Moser 2004 und Ulmer 2006. 2 | Wie etwa Leitgeb 1994, Strallhofer-Mitterbauer 1994, Kortländer 1998, Lorenz 1998. 3 | Neben Ulmer 2006 vor allem die Arbeiten von Burckhard Dücker im Sonderforschungsbereich Ritualdynamik (2002-2013) der Universität Heidelberg. Verwiesen sei auf die umfangreiche Bibliographie zum Thema Literaturpreise in Dücker/Neumann 2005: 31-34. 4 | Aufgeteilt in die Sparten Literatur allgemein (83 Preise), Prosa (113), Dokumentation/Kritik/Essay (36), Lyrik (52), Tanka (50), Haiku/Senryū (54), Drama/Drehbuch (29) sowie Kinderliteratur/Bilderbuch (49).

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Nach Otto Lorenz ist ein Literaturpreis eine »Auszeichnung von Schriftstellern unter feierlicher Würdigung ihres Werks, zumeist verbunden mit einer Geldsumme« (Lorenz 2000: 468 f.). Davon ausgehend haben Literaturpreise zunächst eine autorenzentrierte Intention, nämlich die finanzielle Förderung der schriftstellerischen Tätigkeit durch die Preissumme direkt sowie nachfolgend indirekt durch den verkaufsfördernden Effekt einer Preisverleihung, die die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Gesamtwerk des jeweiligen Autors lenkt und diesem zu weiteren Einnahmen nach der Preisvergabe verhilft. Diese ökonomische und symbolische Unterstützung lässt sich als soziale Funktion von Literaturpreisen bezeichnen,5 bei der darüber hinaus die mäzenatische Tätigkeit der preisverleihenden Institution sichtbar wird. Die zweite, die repräsentative Funktion bezieht sich deutlich sowohl auf den Autor als auch die Institution: Eine Preisvergabe stellt vordergründig den Ausgezeichneten in den Mittelpunkt und gibt ihm bei der Verleihungszeremonie Gelegenheit zur Selbstpräsentation. Ebenso jedoch fungiert ein Preis für den Auszeichnenden als Instrument der Selbstpräsentation – und dies in mindestens drei Stadien der Preisvergabe: Bereits durch die Ausschreibung wird – je nach Benennung des Preises – auf die Institution, einen Ort oder den Namenspatron aufmerksam gemacht. Die Preisfindungsphase, spätestens aber die Preisbekanntgabe kann werbewirksam in den Medien inszeniert werden, und die Verleihung schließlich stellt ein Ereignis dar, bei dem eben nicht nur der Preisträger die Möglichkeit zur Profilierung erhält, sondern in gleichem Maße die verleihende Institution. So wird während der Verleihungszeremonie häufig die Geschichte der Institution vergegenwärtigt, die Preisgründung wird memoriert, die Bedeutung des Ortes bzw. des Namenspatrons und nicht zuletzt die Reihe der früheren Preisträger. Zu der repräsentativen Funktion kommt hier also eine Erinnerungsfunktion, die im Falle der Preisträgerreihe gleichzeitig zukunftsgerichtet ist, denn der Laureat wird als neues, kontinuitätswahrendes Glied in die Chronologie eingefügt. Burckhard Dücker weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die »ritualisierte öffentliche Aufführung der Ehrung« als Selbstpräsentation auch den Anspruch der preisverleihenden Institution impliziere, »auf die weitere Karriere des Laureaten – nachweisbar – Einfluß zu haben«.6 Diese Anwartschaft wird bereits bei der Entscheidung für einen Preisträger begründet, weshalb die verleihende Institution neben der sozialen bzw. mäzenatischen Funktion und der Rolle, die sie bei der repräsentativen Funktion von Preisen spielt, mit einem weiteren Aspekt verbunden ist: der kulturpolitischen Funktion. Darunter wird einerseits die Sprachförderung allgemein oder das Bereitstellen eines kulturellen Angebots subsumiert, darüber 5 | In Anlehnung an Dücker/Neumann 2005: 14. 6 | Ebd.

Eigenständig, hybrid, innovativ 307

hinaus aber auch die Pflege bestimmter Genres und die Förderung literarischer Tendenzen. Mit der Auszeichnung eines bestimmten Werkes oder Autors können die preisverleihenden Institutionen in diesem Sinne durchaus kulturpolitisch agieren – und auf lange Sicht sogar die Literaturgeschichte bewegen: Preise haben nicht zuletzt eine literaturgeschichtliche Funktion durch den Einfluss auf die Kanon-Bildung.

Funk tionen

japanischer

L iteraturpreise

Sämtliche dieser Funktionen erfüllen auch die heute in Japan existierenden modernen Literaturpreise. Allerdings zeigt sich bei genauerer Betrachtung eine andere Gewichtung als in Deutschland, die zunächst als Konsequenz eines deutlichen Unterschiedes bei den preisverleihenden Institutionen zu verstehen ist: Während es sich in Deutschland dabei mehrheitlich um öffentliche Einrichtungen handelt, liegt die überwiegende Zahl der japanischen Literaturpreise – obwohl auch Kommunen und Präfekturen Preise verleihen – in den Händen der großen Verlagsgruppen. Selbst die preisverleihenden Stiftungen gehören in den allermeisten Fällen zu Verlagen und werden in der Öffentlichkeit entsprechend wahrgenommen. Diese Tatsache weist auf Differenzen in der historischen Entwicklung der Preiseinrichtung hin und lässt darauf schließen, dass zumindest die deutsche Tradition des Mäzenatentums keinen Eingang in den japanischen Literaturbetrieb fand. So haben die japanischen Preise vornehmlich eine stark repräsentative Funktion. In den Preisverzeichnissen wird die verleihende Institution an erster Stelle genannt, direkt gefolgt von den Namen der Jurymitglieder. Die prominente Position des Verleihers und die Bekanntgabe der ihn aufwertenden Beteiligung bekannter Persönlichkeiten, verbunden mit der erwähnten Möglichkeit zur Selbstrepräsentation bei einer Preisverleihung und der anschließend zu erwartenden Verkaufssteigerung, von der der Verlag nicht weniger profitiert als der Autor, legen zunächst die Vermutung nahe, dass das Engagement der Verlage im ›Preisgeschäft‹ ausschließlich kommerzielle Gründe hat. Auch der Aufmerksamkeitseffekt einer hohen Dotation mag im Zusammenhang damit gesehen werden. Ein großer Teil der japanischen Literaturpreise ist zwar mit umgerechnet ca. 10.000 Euro den deutschen Preisen vergleichbar dotiert, aber überdurchschnittlich hoch dotierte Preise finden sich häufiger als in Deutschland. So existieren neben dem aktuellen Spitzenreiter »Dieser Krimi ist toll!«-Preis (Kono misuterī ga sugoi! taishō), der von dem Verlag Takarajimasha mit einem Preisgeld von ca. 120.000 Euro ausgestattet ist, und dem Edogawa Ranpo-Preis (Edogawa Ranpo-shō) mit ca. 100.000 Euro zurzeit allein sechs mit ca. 50.000 Euro dotierte Auszeichnungen, eine mit

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ca. 40.000 Euro und drei weitere mit ca. 30.000 Euro.7 Der Edogawa Ranpo-Preis wird von der Vereinigung japanischer Kriminalautoren (Mystery Writers of Japan, Inc.; Nihon suiri sakka kyōkai) vergeben, hat als Sponsoren aber den Verlag Kōdansha und Fuji Television hinter sich. Die übrigen Preise verleihen zwei Zeitungen und sechs Verlage bzw. Verlagsstiftungen. Es lässt sich demzufolge konstatieren, dass die zwölf höchstdotierten japanischen Literaturpreise – vornehmlich für populäre Unterhaltungsliteratur – alle von Medienunternehmen bereitgestellt werden. Dass die Verlage dabei auch eine soziale Aufgabe erfüllen im Sinne der Unterstützung von Autoren, besonders Newcomern, zeigt der Modus der Kandidatenauswahl. Anders als in Deutschland ist bei japanischen Literaturpreisen überwiegend eine Eigenbewerbung möglich, zu der von Verleiherseite aufgerufen wird mit Hinweisen auf Publikationsmöglichkeiten und den Erfolg früherer Preisträger. So schreibt Kōdansha den 61. Edogawa Ranpo-Preis (2015) mit Veröffentlichung und Verfilmung des ausgewählten Textes aus als »Tor zur KrimiWelt«, der »zahlreiche Autorengrößen hervorgebracht« habe.8 Noch deutlicher wird der Verlag im Falle des Shōsetsu Gendai Debütroman-Preises, bei dessen Ausschreibung er betont: »Wir warten auf frische, kraftvolle Talente mit großem Zukunftspotential« und die hohe Dotation hervorhebt: »Preisgeld 3.000.000 Yen. Die höchste Summe bei Debütpreisen von Literaturzeitschriften«.9 Es handelt sich bei diesen Preisen also um Wettbewerbe, um Preisausschreiben, deren Profiteure augenfällig nicht nur die Preisträger sind, sondern auch die Verlage, die ihre Nachwuchssuche mittels der Preise betreiben und damit rechnen können, die vergebene Preissumme durch die anschließende mediale Vermarktung zu kompensieren. Trotzdem haben diese Literaturpreise eine nicht zu unterschätzende soziale Funktion – und dies besonders im Rahmen des gesamten japanischen Literaturbetriebs angesichts der Tatsache, dass keine staatliche Autorenförderung

7 | Je 50.000 Euro: Japanischer Fantasyroman-Preis (Nihon fantajī noberu taishō), Japanischer Horrorroman-Preis (Nihon horā shōsetsu taishō), Japanischer KriminalliteraturDebütpreis (Nihon misuterī bungaku taishō shinjin-shō), Matsumoto Seichō-Preis (Matsumoto Seichō-shō), Nikkei Roman-Preis (Nikkei shōsetsu taishō), Shōgakkan Sachbuch-Preis (Shōgakkan nonfikushon taishō). Mit 40.000 Euro dotiert ist der Yokomizo Seishi-Krimi­ preis (Yokomizo Seishi misuteri taishō), mit 30.000 Euro der Kaikō Takeshi Sachbuch-Preis (Kaikō Takeshi nonfikushon-shō), der Shinchō Krimipreis (Shinchō misuterī taishō) und der Shōsetsu Gendai Debütroman-Preis (Shōsetsu Gendai chōhen shinjin-shō). 8 | ›http://bookclub.kodansha.co.jp/books/bungei/gendai/#box7‹ (Zugriff am 27. 2. 2014). Diese und alle folgenden Übersetzungen von der Verfasserin. 9 | ›http://bookclub.kodansha.co.jp/books/bungei/gendai/#box6‹ (Zugriff am 31. 8. 2013).

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existiert. Ebenso wenig gibt es staatliche Literaturpreise.10 Anscheinend wird zumindest erzählende Literatur vom Staat nicht als förderungsbedürftig betrachtet bzw. es wird keine Notwendigkeit gesehen, Autoren von staatlich-öffentlicher Seite aus zu unterstützen und Einzelwerke auszuzeichnen. Stattdessen übernehmen – wie noch zu sehen sein wird als Ergebnis einer historischen Entwicklung – die Medien diese Aufgabe und agieren damit auch kulturpolitisch im erwähnten Sinn der Förderung literarischer Tendenzen, verbunden mit dem Einfluss auf die Kanon-Bildung. Dies gilt besonders für die beiden angesehensten und ältesten bis heute bestehenden Auszeichnungen für erzählende Literatur, den Akutagawa-Preis (Akutagawa Ryūnosuke-shō) und den Naoki-Preis (Naoki Sanjūgo-shō). Sie wurden im Jahr 1935 vom Verlag Bungei Shunjū eingerichtet und werden zweimal jährlich verliehen: der erstere für Werke der gehobenen Literatur, letzterer für Unterhaltungsliteratur.11 Zum hohen Renommee der Preise trägt nicht nur ihre lange Geschichte bei, sondern auch der Umstand, dass keine Eigenbewerbung möglich ist. Akutagawa- und Naoki-Preis gehören gegenwärtig zu den fünf Preisen der Society for the Promotion of Japanese Literature (Nihon bungaku shinkō-kai),12 die 1938 von Bungei Shunjū mit dem Ziel gegründet wurde, »hervorragende Literatur zu bewerten«.13 Es handelt sich dementsprechend nicht um einen Wettbewerb, sondern um eine Auswahl, eine Wertung, bei der sich die Verlagsstiftung die Kandidatenaufstellung vorbehält und wie in den Statuten vorgesehen Literatur evaluiert.

10 | Auch die Japanische Akademie der Künste (Nihon Geijutsu-in) und die Japani­sche Akademie der Wissenschaften (Nihon Gakushi-in) verleihen lediglich Preise für das Lebens­ werk von Autoren bzw. Geisteswissenschaftlern. Die Japanische Gesellschaft für Germanis­ tik (Nihon Dokubun Gakkai) verleiht seit 2003 jährlich Preise für im Vorjahr erschienene japanisch- und deutschsprachige germanistische Monographien und Aufsätze. 11 | Inzwischen gibt es 156 Akutagawa-Preisträger und 180 Naoki-Preisträger. Die offizielle Bezeichnung bei den Preisverleihungen im Sommer 2014 war jeweils »151. Preis«. Die unterschiedliche Anzahl der Preisträger ergibt sich durch Nicht-Verleihungen und Verleihungen an zwei Autoren. Beide Preise sind mit ca. 10.000 Euro dotiert, zusätzlich erhalten die Preisträger eine Taschenuhr. 12 | Die anderen drei Preise sind der Kikuchi Kan-Preis (Kikuchi Kan-shō), der Ōya Sōichi-Nonfiction-Preis (Ōya Sōichi nonfikushon-shō) und der Matsumoto Seichō-Preis (Matsumoto Seichō-shō). 13 | ›http://www.bunshun.co.jp/shinkoukai‹ (Zugriff am 27. 2. 2014).

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E igenständig : ›K lassische ‹ P reise In Japan existieren jedoch auch Preisformen, die Wettbewerb und Wertung integrieren und in Bezug auf Preisentscheidung, Dotation und Verleihung außerhalb der üblichen europäischen Kategorien angesiedelt sind. Diese klassische Linie japanischer Literaturpreise lässt sich bei einer der Formen bis in das Jahr 885 zurückverfolgen: der traditionellen Dichtungspräsentation Uta-awase [Lied-Vergleich, i.e. Tanka-Vergleich].14 Bei dieser Veranstaltung werden Tanka, die 31-silbigen Gedichte, nach vorheriger Bekanntgabe eines Themas von einer ›rechten‹ und einer ›linken‹ Autorengruppe abwechselnd vorgetragen und sukzessive durch Juroren sowie ebenfalls teilnehmende ›Gruppen-Unterstützer‹ bewertet.15 Die Uta-awase waren spielerische Wettbewerbe, gesellschaftliche Ereignisse der Adelsschicht, bei denen der Unterhaltungsaspekt im Vordergrund stand und keine Preise vergeben wurden, obschon das erfolgreiche Abschneiden bei einem Uta-awase Voraussetzung für einen Karriereschritt am Hof sein konnte.16 Zu Anfang der Meiji-Zeit (1868-1912) verschwanden die Uta-awase – einerseits, weil ihr Spielcharakter im Zusammenhang mit dem damals forcierten Gedanken einer Nationalliteratur nicht angemessen schien, und andererseits aufgrund der wachsenden Konkurrenz für die Tanka-Dichtung allgemein durch die neu entstandene Lyrik in westlicher Form. Die Tradition lebte in den 1980er Jahren jedoch wieder auf,17 und ihre Regeln werden etwa auch bei Gesangsveranstaltungen eingesetzt.18 Die Uta-awase sind bis heute Begegnungen, bei denen der Wettbewerbsverlauf selbst das eigentliche Ereignis darstellt und kein einzelner Gewinner gesucht wird. Vielmehr schlägt sich die individuelle Leistung der Teilnehmenden – wenn auch jeweils gewertet und gewürdigt – ausschließlich­ 14 | Uta bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch Lied im Sinn eines Musikstücks, ist jedoch auch eine Bezeichnung für Tanka. Heutige Tanka-Dichter sprechen deshalb beim Gedichtvortrag auch nicht von ›lesen‹, sondern von ›singen‹ (utau). 15 | Aus diesen Diskussionen entwickelte sich die literarische Tanka-Kritik karon. Vgl. Sasaki 1984. 16 | Hiermit lässt sich der mittelalterliche Sängerkrieg auf der Wartburg nur im weiteren Sinn vergleichen: Dort ging es bekanntermaßen vornehmlich um die Bestrafung des Verlierers. 17 | Vgl. Kobayashi 1997. 18 | Uta-awase hierbei also tatsächlich im Sinn von Lied-Vergleich. Das bekannteste Beispiel ist das seit 1951 gesendete Silvester-Musikprogramm Kōhaku uta-gassen [Rotweißer Liedwettstreit] der staatlichen Fernsehanstalt NHK, bei dem Sängerinnen (›rote Gruppe‹) und Sänger (›weiße Gruppe‹) abwechselnd auftreten und die Siegergruppe von Jury und Publikum gemeinsam abschließend gekürt wird.

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im Endergebnis der Gruppe nieder.19 Darüber hinaus wird üblicherweise kein Geld- oder Sachpreis vergeben, sondern lediglich die Siegergruppe gekürt. Bemerkenswert ist ferner das Faktum, dass die Tradition der Uta-awase zwar kurzzeitig unterbrochen, dann aber nahezu unverändert wieder aufgenommen wurde und dass parallel dazu das Format modifiziert im außerliterarischen Bereich praktiziert wird. Ein weiteres literarisches Ereignis mit Wettbewerbseigenschaft stellt das Utakai-hajime [Erstes Lied-Treffen, i.e. Erstes Tanka-Treffen]20 zu Jahresbeginn am Kaiserhof dar. Es ist als Teil einer zeremoniellen Literatur- und Musikvorführung bei Hof zuerst im Jahr 1267 belegt und wird seit Anfang des 16. Jahrhunderts im Rahmen der regelmäßigen Hof-Zeremonien als Einzelveranstaltung gepflegt, an der zunächst nur Mitglieder des Hochadels teilnehmen konnten.21 Mit Beginn der Meiji-Zeit wurde es Bürgerlichen erlaubt, dem Tennō anlässlich des Utakaihajime Tanka zu widmen, und ab 1879 wurden aus den Widmungsgedichten »besonders hervorragende« Tanka ausgewählt und bei der Veranstaltung vorgetragen. Der erste Schritt in die Medien-Öffentlichkeit erfolgte 1882 mit dem Abdruck der ausgewählten Gedichte – gemeinsam mit dem vom Kaiser verfassten Tanka – in Zeitungen. Die Gedichtauswahl behielt sich der Kaiserhof vor, sie wurde von der damals im Hofamt bestehenden Tanka-Abteilung (O-Uta-dokoro) getroffen. Dies zeigt einen deutlichen Unterschied zu der offenen ad hoc-Bewertung vor den Teilnehmern im darüber hinaus Gruppenergebnis-orientierten Uta-awase. Gleichzeitig werden beim Utakai-hajime der Meiji-Zeit erstmals die Namen der erfolgreichen Autoren veröffentlicht, eine Ehre, die auch als undotierte Auszeichnung verstanden werden kann. Diese Vorform eines Preises konkretisierte sich 1947 weiter: Direkt im Anschluss eines jeden Utakai-hajime erfolgt inzwischen eine Ausschreibung für das nächste Jahr mit der Angabe eines Schriftzeichens, also des beim Verfassen der Gedichte zu verwendenden Themas. Das Hofamt beauftragt mittlerweile eine Kommission aus freiberuflichen Dichtern mit der Auswahl der Tanka, setzte demzufolge eine moderne Jury ein. Und vor allem kam zu der bis dahin nur in Gestalt der Veröffentlichung erfolgten Auszeichnung eine zusätzliche Ehre, nämlich die Möglichkeit der persönlichen Teilnahme von zehn 19 | Dies ist ein grundsätzlicher Unterschied etwa zum Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis, dem open mike der Literaturwerkstatt Berlin oder den 1986 in Chicago entstandenen und auch in Deutschland überaus beliebten Poetry Slam-Wettbewerben. 20 | Der Begriff bezeichnet bis heute auch allgemein die erste Zusammenkunft von Tanka-Dichtergruppen zu Jahresbeginn. 21 | Diese und die folgenden Informationen zur historischen Entwicklung des kaiserlichen Utakai-hajime wurden der Darstellung des Hofamtes entnommen. ›http://www.ku­naicho. go.jp/culture/utakai/utakai.html‹ (Zugriff am 27. 2. 2014).

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ausgewählten Dichtern am Utakai-hajime im Kaiserpalast. Diese Veranstaltung wird heutzutage im Fernsehen übertragen und verkörpert eine Preisverleihungszeremonie, wenn auch mit anderem Charakter als die Literaturpreisverleihungen westlicher (und moderner japanischer) Provenienz: Nach den Tanka der anwesenden Kaiserfamilie werden sämtliche Siegergedichte ebenso in formell gedehnter, traditioneller Weise vorgelesen bzw. gesungen, und die jeweiligen Preisträger erheben sich zu Beginn der Lesung ihres eigenen Tanka und stehen für die kurze Dauer des Gedichtvortrags im Mittelpunkt. Zusammenfassend sei an dieser Stelle festgehalten, dass das Utakai-hajime ebenso wie das Uta-awase eine eigenständige Form literarischer Preiswettbewerbe darstellt, bei denen zwei ursprünglich der Adelsschicht vorbehaltene Veranstaltungen bis heute praktiziert werden. Im Unterschied zum Uta-awase, das sich ohne grundsätzliche Veränderung lediglich zu einer auch allgemein durchgeführten Aktivität entwickelte, passte sich das kaiserliche Utakai-hajime dem politischen und gesellschaftlichen Wandel an und wurde sukzessive zwar nicht erheblich umgeformt, aber doch in den Austragungsbedingungen revidiert. Daneben findet sich hier eine literarische Preisart, bei der sowohl der verliehene Preis symbolischen Charakter hat (in Form von Namensbekanntgabe und einmaliger Veröffentlichung des Werkes) als auch die Preisverleihung (in Form der Anwesenheit bei der Präsentation des eigenen Werkes). Fragt man nach ausländischen Einflüssen auf die Entstehung der Uta-Wettbewerbe, so liegt zunächst die Vermutung einer Übernahme aus China nahe, war der mächtige Nachbar doch seit dem 6. Jahrhundert Vorbild und Anreger in nahezu allen Lebensbereichen. In der Tat weist der Sinologe Helwig SchmidtGlintzer auf ähnliche Zusammenkünfte im China des 8. Jahrhunderts hin, kurz bevor die japanischen Uta-awase auftauchten: »Prominente Literaten wie Bai Juyi (772-846) und Yuan Zhen (779-831) versammelten Freunde um sich, mit denen sie literarische Themen erörterten, Dichtungswettbewerbe veranstalteten und ihre Dichtungen gegenseitig kritisierten« (Schmidt-Glintzer 1999: 351).22 Der 22 | Schmidt-Glintzer erwähnt darüber hinaus auch spätere Wettbewerbe von Dichtergesellschaften, etwa der »Dichtergesellschaft der Mondquelle« in der frühen Yuan-Dynastie (13. Jhd.): »[Ü]ber diese Dichtergesellschaft wird jener Dichtungswettbewerb zum Thema ›Stimmungen auf dem Lande an einem Frühlingstag‹ dokumentiert, der vom Herbst 1286 bis zum Frühjahr 1287 stattfand und an dem Mitglieder verschiedener anderer Dichtungsgesellschaften [...] teilnahmen. Aus den 2735 eingereichten Gedichten kamen 280 in die engere Wahl, von denen schließlich 60 ausgewählt wurden. Die ersten 30 Gewinner erhielten ein Stück besten Seidenstoffes, die ersten 50 erhielten Pinsel und Tusche, und allen 60 Plazierten wurde ein Band der neuesten Gedichte der Mondquellen-Dichtungsgesellschaft überreicht« (Schmidt-Glintzer 1999: 352).

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Japanologe Haruo Shirane jedoch betont die eigenständige Entstehung der Utaawase, indem er sie den in der Heian-Zeit (794-1185) praktizierten spielerischen Mono-awase [Ding-Vergleiche] – bei denen die Vor- und Nachteile gleichartiger Dinge oder Substanzen (im Fall des Duft-Vergleichs Kō-awase) verglichen wurden – sowie den Waza-kurabe [Geschicklichkeits-Konkurrenzen] in Sportarten zuordnet: »Although poetry competitions had been held in China for centuries, it is generally thought that the Heian poetry matches originated independently, incorporating the tradition of object-matching games (mono-awase), which compared objects, pictures, shells, perfumes, or flowers, and the tradition of competitions of physical prowess (waza-kurabe), in which participants competed in activities like horseback riding and archery« (Shirane 2007: 593).

Dass in beide Wettbewerbsereignisse, Uta-awase wie Utakai-hajime, keine Anregungen aus dem Westen einflossen, mag in Anbetracht der mehr als 300-jährigen Abschließung des Landes während der Edo-Zeit (1603-1868) historisch begründet gewesen sein; wesentlicher ist aber, dass Tanka als japanische Gedichtform gepflegt wurden (und bis heute werden) und sich innerhalb dieses geschlossenen Rahmens auch eigene Ausprägungen der mündlichen Werk-Präsentation, -Bewertung und -Auszeichnung entwickelten, die bestenfalls beim kaiserlichen Utakai-hajime in der Nachkriegszeit durch das westliche Konzept der Demokratie Modifikationen erfuhren.

B eginn der › modernen ‹ P reistradition : D ie Z eitungspreis -E rzählungen Anders als Werke der Lyrik war erzählende Literatur in Japan deutlich seltener ein Gegenstand öffentlicher Wettbewerbe oder Wertungen. In der Heian-Zeit sind Monogatari-awase [Geschichten-Vergleiche] nachgewiesen, bei denen – ähnlich dem Uta-awase – zwei Teilnehmergruppen abwechselnd Erzählungen vortrugen und beurteilten, und das im Jahr 1267 durchgeführte Utakai-hajime war wie oben erwähnt Teil einer größeren Veranstaltung, die auch einen Sakubun-hajime [Aufsatz-Beginn] beinhaltete. Doch im Gegensatz zu den Tanka-Wettbewerben verschwand die entsprechende Tradition für den Bereich der Prosa, möglicherweise weil Erzähltexte überwiegend von Frauen verfasst und deshalb geringer geschätzt wurden als die Lyrik. Dass die Gedicht-Wettbewerbe auch nach der Heian-Zeit mit ihrer sinnenfrohen und spielfreudigen Aristokratenschicht die Jahrhunderte bis in die Gegenwart überdauerte, ist – speziell beim Utakai-hajime – wohl dem

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Traditionsbewusstsein am Kaiserhof zu verdanken und – für Uta-awase allgemein – dem Umstand, dass Tanka den Eingang auch in andere Gesellschaftsschichten fanden. Erst zu Beginn der Meiji-Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts, entstanden dann Wettbewerbe für Prosatexte, die weder Spielcharakter hatten noch einer Elite vorbehalten waren und vor allem konkrete Preise für die Gewinner versprachen. Diese Wettbewerbe markieren den Auftakt für die moderne Linie der japanischen Literaturpreise und den Anfang der heutigen beherrschenden Position der Verlagspresse. Im Jahr 1890 endete mit dem Inkrafttreten der Meiji-Verfassung die bis dahin bestehende Unterteilung des Zeitungsmarktes in Regierungsorgane und Boulevardblätter, eine Vereinheitlichung, die einen entscheidenden Wendepunkt in der japanischen Medienwelt markiert.23 Sie führte in der Folge zu einem schnellen Anwachsen der Leserzahl, vielen Neugründungen und einer entsprechend harten Konkurrenz zwischen den Zeitungen. Vorausblickend hatten bereits ab 1887 mehrere Zeitungen, darunter als Vorreiter die Yomiuri Shinbun, in der Hoffnung auf Absatzsteigerung mit dem Abdruck von Fortsetzungserzählungen und anderen literarischen Beiträgen bekannter Schriftsteller begonnen, was eine professionalisierte Weiterentwicklung der in den 1870er Jahren aufgekommenen Idee von Zeitschriften darstellte, ihre Leser zum Einreichen von Textmanuskripten unterschiedlicher Literaturgenres aufzurufen. Der Gedanke, die Leserbeteiligung mit Professionalität zu verbinden und gleichzeitig eine verkaufsfördernde PublicityWirkung zu erzielen, veranlasste die Yomiuri Shinbun schließlich im Jahr 1893, einen Preis für eine historische Erzählung oder ein historisches Schauspiel (Rekishi shōsetsu/rekishi kyakuhon kenshō) auszuschreiben. Die Dotation für den ersten Preis betrug ansehnliche 100 Yen,24 für den zweiten Preis eine Golduhr. Eine öffentliche Verleihungszeremonie war nicht vorgesehen, aber als Juroren wurden vier führende Literaten25 genannt. Die Preisvergabe verlief zunächst zwar nicht so erfolgreich wie erhofft – 1894 konnte nur ein zweiter Preis verliehen werden, die folgende Ausschreibung für 1895 wurde vom Ausbruch des Japanisch-Chinesischen Kriegs in den Hintergrund gedrängt –, doch nach dem Kriegsende 1896 erhielt die Initiative vermehrten Zuspruch und fand rasch Nachahmer: Auch die 23 | Vgl. Kōno 2003: 31 f. 24 | Das Anfangsgehalt eines Grundschullehrers betrug in dieser Zeit 9 Yen, der damalige Ministerpräsident Itō Hirobumi (1841-1909) bezog ein Monatsgehalt von 800 Yen. 10 Kilo des Grundnahrungsmittels Reis kosteten ca. 1 Yen. Vgl. hierzu auch ›locatv.com/hanakoanne-money‹ (Zugriff am 21. 7. 2014). 25 | Ozaki Kōyō (1868-1903), Takada Hanpō (1860-1938), Tsubouchi Shōyō (1859-1935) und Yoda Gakkai (1834-1909).

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Konkurrenzunternehmen schrieben Preise aus, sodass ein regelrechter Boom von Preisausschreiben für Erzählungen in Zeitungen einsetzte, der 1897 in einem Woche für Woche verliehenen Preis des Massenblattes Yorozu Chōhō gipfelte.26 Kōno Kensuke bezeichnet die Vergabe von Preisgeld für Erzählungen als »Spekulation mit Literatur« (Kōno 2003: 26), ein Eventgeschäft unter Einsatz des Verlagskapitals, bei dem die Öffentlichkeit angesprochen und die Auswahl als solche medial inszeniert in den Mittelpunkt gestellt wird. Für die im damaligen Japan besonders zahlreichen Nachwuchs- und Hobbyautoren, die sich mit ihren Texten häufig auch mehrmals bewarben, war das teilweise bescheidene Preisgeld jedoch weniger ausschlaggebend. Sie nutzten bei der Ausschreibung vielmehr die Gelegenheit, ihre Fähigkeit zu erproben und erhielten gegebenenfalls mit dem Preis das symbolische Zeichen ihrer bestätigten bzw. neu erlangten Position in der Gesellschaft. Dies wiederum – die Befriedigung literarischer Ambitionen mittels einer öffentlichen Anerkennung – korrespondiert durchaus mit dem auf das Ereignis der Auswahl fokussierten Vorgehen der Zeitungsverlage. Trotzdem fungierten die Zeitungspreise auch als Förderinstrument für die japanische Literatur – und das im Zusammenhang mit dem Einfluss des westlichen Auslands. Bei der Frage nach Einflüssen ist zwar durchaus vorstellbar, dass die ersten Aufrufe zur Einreichung von Leserbeiträgen und die späteren Ausschreibungen von Preisen keine direkte Übernahme westlicher Vorbilder waren, sondern Entwicklungen, die sich – wie Kōno behauptet27 – bei wachsender Konkurrenz fast zwangsläufig als Werbemittel ergaben. Den Ausgangspunkt dabei stellte jedoch die Einführung des westlichen Begriffes von Literatur überhaupt dar. Dieses Literaturkonzept wurde in Japan erstmals in der Meiji-Zeit rezipiert und führte zu einer Neu-Figuration des Terminus bungaku, der heute mit ›Literatur‹ (und der Dreiteilung in Prosa, Lyrik, Drama) gleichgesetzt wird, bis dahin jedoch alle ›gelehrten Texte‹ bezeichnete und eine Vielzahl von Genres umfasste, darunter auch historische Schriften, Topographien (fudoki), Ritualgebete (norito), kaiserliche Erlasse (senmyō) etc.28 Als theoretischer Vorreiter im Bereich der 26 | Maishū kenshō shōsetsu [Wöchentliche Preiserzählung]. Manuskript-Einsendeschluss war jeden Samstag, am folgenden Samstag die Verleihung des Preisgeldes von 10 Yen, und am nächsten Tag erfolgte die Veröffentlichung des Gewinnertextes. Der Preis bestand bis 1924. Vgl. Kōno 2003: 43 f. 27 | Vgl. Kōno 2003: 26. 28 | Wolfgang Schamoni thematisiert entsprechende »conceptual problems« (Schamoni 2000: 38) in der japanologischen Literaturgeschichtsschreibung und weist darauf hin, dass der Begriff bungaku bereits in der Nara-Zeit (710-794) verwendet wurde, »but it exclusively­ meant ›learning‹; namely, the study of the Chinese classics – besides, it was the title of the scholar who lectured on them to imperial princes. Nearly all the texts we now cover with

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Erzähltexte betonte Tsubouchi Shōyō (1859-1935) in seiner Abhandlung Shōsetsu shinzui [Das Wesen der Erzählung] 1885 nun, dass die Erzählung, shōsetsu, eine Form der Kunst sei, ebenso wie Malerei, Musik und Poesie (shiika),29 und ging dezidiert mit Blick auf die westliche ›Novel‹ darauf ein, wie diese erzählende Literatur auszusehen habe. Mit ihren Preisausschreiben für Erzählungen – an denen Tsubouchi selbst bei der Yomiuri Shinbun beteiligt war – trugen die Zeitungsverlage entscheidend dazu bei, dass sich das Format shōsetsu verbreitete und vor allem, dass das neue Konzept von bungaku durch die Veröffentlichung der Gewinnertexte eine »sichtbare Gestalt« (Kōno 2003: 26) annahm.

H ybrid: D ie Suisan no ji Um die Jahrhundertwende begannen auch neue Literaturzeitschriften, in den bis dahin von Zeitungen beherrschten Markt einzugreifen. Neben Prosa veröffentlichten sie theoretische Texte und Literaturbesprechungen und boten ihren Lesern jeweils zu Jahresbeginn mit kritischen Rückschauen und Wertungen einen Überblick über das immer vielfältiger werdende literarische Geschehen. Dabei lassen sich die Suisan no ji [Lob- und Empfehlungsworte] der Zeitschrift Waseda Bungaku als ein Versuch zur Emanzipation von der kommerzialisierten Literaturpreis-Praxis bezeichnen, nämlich durch die unabhängige Auszeichnung von anspruchsvoller Literatur ohne eigene Bewerbungsmöglichkeit der Kandidaten. Eine Anerkennung bereits erfolgter Leistung also, im Unterschied zu den Preisausschreiben der Zeitungen, die wegen ihrer Beliebtheit bei jugendlichen Literaturaspiranten und der immer selteneren Realisierung einer Schriftstellerlaufbahn nach dem Preisgewinn von Literaten zunehmend abgelehnt bzw. übergangen wurden. Erwähnenswert sind die Suisan no ji auch wegen der expliziten Anlehnung an westliche Preise bzw. Bewertungstraditionen. Die Waseda Bungaku, von Tsubouchi Shōyō 1891 gegründet und 1898 vorübergehend eingestellt, nahm ihre Tätigkeit im Jahr 1906 unter der Leitung des Theaterregisseurs und Literaturkritikers Shimamura Hōgetsu (1871-1918) wieder auf. Shimamura hatte sich dithe term bungaku did not fall under it in the Nara era« (ebd.: 37). Für den Beginn der Meiji­ -Zeit stellt Schamoni fest: »[T]he most conspicuous new phenomenon is undoubtedly the rise of the ›enveloping genre‹ literature, the idea of a purified ›literature‹ guiding the discussion of individual genres. No longer were aesthetic devices scattered over nearly all text genres (in various densities), but rather, two strictly defined groups of text genres were established, one characterized by a high density of aesthetic devices (namely ›literature‹), and one with texts avoiding all aesthetic devices [...]« (ebd.: 42). 29 | Vgl. Tsubouchi 1974 [1885-86]: 42.

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rekt davor drei Jahre lang zu intensiven Theaterstudien in Europa aufgehalten30 und setzte die dort erhaltenen Anregungen offensichtlich auch in der Waseda Bungaku um. So wurde der literarische Jahresrückblick ab 1908 unter dem neuen Titel Suisan no ji abgewandelt in die Präsentation von Siegern in den Sparten Erzählung, Schauspiel und Malerei – eine Anlehnung an die Preisvergabe bei den Olympischen Spielen, deren Wiedereinführung nur wenige Jahre zurücklag. Den erstmaligen Suisan no ji im Februar 1908 war ein Auszug aus John Lemprières Classical Dictionary31 zum Stichwort Olympia vorangestellt, das Waseda Bungaku offensichtlich als programmatisch für ihre Vorgehensweise verstand: »The preparations for these Olympian festivals were great. No person was permitted to enter the lists if he had not regularly exercised himself ten months before the celebration at the public gymnasium of Elis. […] So small and trifling a reward stimulated courage and virtue, and was more the source of great honors than the most unbounded treasures«.32

Das Zitat wurde mit der Bemerkung kommentiert: »[K]ein Lorbeerkranz, kein wertvoller Orden. Nur die Namen und Werke dreier Personen werden dokumentiert und lobende Anerkennung ausgedrückt«. Der Preis bestand also in der Namensnennung, verbunden mit der Ehre, zu den Besten zu gehören und unter dieser Gruppe als Einziger ausgewählt worden zu sein.33 Von der Prämisse wich man in den folgenden Jahren bis zur Beendigung der Suisan no ji 1912 mehr und mehr ab durch die Ausweitung auf zusätzliche Bereiche,34 doch die Initiative ist 30 | Von Mai 1902 bis Juli 1904 in London, anschließend bis Juli 1905 in Berlin. Vgl. Iwasa 1998: 309 f. 31 | Bibliotheca Classica; or, A Classical Dictionary, containing A full Account of all the Proper Names Mentioned in Antient (sic!) Authors. To which are subjoined, Tables of Coins, Weights, and Measures in Use among the Greeks and Romans des englischen Altphilologen und Lexikographen John Lemprière (1765-1824); zuerst 1788 in London erschienen, bis 1888 mehrmals neu aufgelegt. Das Classical Dictionary galt als Standard-Nachschlagewerk für griechisch-römische Mythologie und klassische Literatur. Es ist anzunehmen, dass Shimamura dieses Lexikon während seines Aufenthalts in London erwarb. 32 | ›http://db2.littera.waseda.ac.jp/bungaku/bun.html‹ (Zugriff am 27. 2. 2014). Bei Lemprière (1788 sowie in späteren Auflagen, u. a. 1801, 1812, 1823: 517, 1832: 260, 1852: 504  f.) ist dieses Zitat zu finden, allerdings ohne das offensichtlich zur Erklärung eingefügte­Adjektiv Olympian. 33 | Die erste Belobigung für eine Erzählung erhielt Tayama Katai (1872-1930) für das im Vorjahr, also 1907, erschienene Werk Futon [Bettzeug]. 34 | So wurden Belobigungen ausgesprochen für Leistungen in der Literaturkritik, Übersetzung, Schauspielkunst, Bildhauerei und Architektur.

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im Rahmen der modernen Linie von japanischen Literaturpreisen bemerkenswert als Beispiel für die Aufnahme eines Konzeptes nicht nur aus einer anderen Kultur (dem Westen), sondern dort auch aus einer anderen Disziplin (dem Sport), in ein bestehendes System und die anschließende Transformation bzw. Weiterentwicklung dieses Systems in eine Hybridform.

F ortführung

der

Z eitungspreis -Tradition : D er K aizō -P reis

Der Gedanke, eine bereits öffentlich bekannte, hervorragende Leistung ohne Ausschreibung mit einem undotierten Ehrenpreis auszuzeichnen, fand in der japanischen Literaturpreis-Landschaft jedoch zunächst keine Nachahmer. Stattdessen setzte sich die Preisvergabepraxis der Zeitungen fort, wenn auch zunehmend beliebig und unübersichtlich, da viele der Preiswettbewerbe nur von kurzer Dauer waren. In dieser Situation machte die Zeitschrift Kaizō 1927 auf sich aufmerksam mit der besonders groß angelegten Ausschreibung eines Literaturpreises, der höher dotiert war als alle bisherigen. Kaizō war keine Literaturzeitschrift, sondern ein linksgerichtetes kulturpolitisches Monatsjournal, gegründet 1919 vom gleichnamigen Verlag. Allerdings wurden in dem Journal von Beginn an mit großem Publikumserfolg auch Fortsetzungserzählungen veröffentlicht. Der Kaizō-Verleger Yamamoto Sanehiko (1885-1952) war bekannt für seine werbewirksamen Auslandskontakte35 und die Erfindung der überaus beliebten Ein-Yen-Bücher (enpon)36 im Jahr 1926. Als die Zeitschrift 1927 erstmals ihren Literaturpreis ausschrieb, galt sie neben Chūō Kōron als das wichtigste japanische Monatsmagazin. Unter der Überschrift »10-jähriges Jubiläum der Zeitschrift Kaizō« wurde nun eine Erzählung oder ein Drama gesucht37 mit der bemerkenswert hohen Preis35 | U. a. lud er Bertrand Russell (1921), die Mitgründerin der American Birth Control League Margaret Sanger (1922), Albert Einstein (1922/23) und George Bernard Shaw (1933) ein. 36 | Buchreihen, bei denen jeder Band einen Yen kostete. Die erste Reihe bei Kaizō war Gendai Nihon bungaku zenshū [Gesamtausgabe japanischer Gegenwartsliteratur], gefolgt u. a. von Nihon chiri taikei [Geographie Japans] und Ainshutain zenshū [Einstein-Gesamt­ ausgabe], Keizai-gaku zenshū [Wirtschaftswissenschaft-Gesamtausgabe], Marukusu Engerusu zenshū [Marx-Engels-Gesamtausgabe], Shihon-ron [Das Kapital], also einer immer eindeutigeren politischen Ausrichtung. Vgl. Yamamoto, Sanehiko (1934): »Kaizō no jūgo nen«, in: Kaizō 4. ›http://www.japanpen.or.jp/e-bungeikan/publication/yamamotosanehiko.html‹ (Zugriff am 27. 2. 2014). 37 | Bezeichnet als kenshō sōsaku [Preiswerk].

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summe von 1500 Yen und der Ankündigung, den ausgewählten Text in der Jubiläumsausgabe im April 1928 zu veröffentlichen.38 Die Auswahl fand verlagsintern statt und wurde lediglich bei dieser ersten Preisvergabe von drei namhaften Autoren39 begleitet. Im Gegensatz zu Suisan no ji stand der Kaizō-Preis damit in allen Teilen – Ausschreibung und Dotation, Auswahl durch die Redaktion, Preisbekanntgabe ohne Verleihungszeremonie, Veröffentlichung – direkt in der Tradition der Zeitungspreise seit der Meiji-Zeit. Er ist dementsprechend keinesfalls der erste japanische Literaturpreis, als der er häufig bezeichnet wird,40 sondern hebt sich nur durch die Höhe des Preisgeldes und die große Öffentlichkeitswirkung hervor. Izumi Tsukasa zufolge kann der Anlass für die Ausschreibung angesichts des damaligen Konkurrenzdrucks durch Chūō Kōron nur in dem Versuch gesehen werden, eine neue Kundengruppe zu erreichen: die Käufer der Ein-YenBücher. Dieser Massenmarkt sollte auf die Zeitschrift ausgeweitet werden und ähnlich dem Enpon-Erfolgsmodell, bei dem breite Gesellschaftsschichten zum Lesen von Literatur geführt worden waren, nun dieselbe Gruppe zum Schreiben von Literatur (respektive zur Kaufbereitschaft) animieren.41 Die Preisbekanntgabe 192842 rief zwar noch kein großes Echo hervor, doch die Fortführung des Preises, der zunächst wohl nur als einmalige Aktion geplant war, brachte den gewünschten Erfolg. Die literarischen Kreise schätzten diesen Preis ebenso gering ein wie die Zeitungspreise und ignorierten ihn weitgehend, aber das Renommee der Zeitschrift allgemein und der wachsende Bekanntheitsgrad machten den Kaizō-Preis zu einer für sich selbst stehenden Institution, einem Literaturpreis außerhalb des literarischen Establishments, und den neu entstandenen Status eines Preis-Autors (kenshō sakka), anders als die austauschbaren Gewinner der ZeitungspreisErzählungen, zu einem erstrebenswerten Ziel. Tatsächlich weckte der Kaizō-Preis bei vielen neuen Käufern den Wunsch zu schreiben, trotz der geringen Akzeptanz in der Literaturwelt.43 Für die Karriere eines Schriftstellers war der Preis allerdings mit der Zeit ebenso wenig gewinnbringend wie die damaligen Zeitungs38 | Zusätzlich war ein zweiter Preis mit 750 Yen ausgestattet. Die Veröffentlichung dieses Werkes sollte in der Mai-Ausgabe 1928 erfolgen, d. h. einen Monat nach dem Abdruck des Gewinnertextes. Vgl. Izumi 2012: 56. 39 | Fujimori Seikichi (1892-1977), Hirotsu Kazuo (1891-1968) und Satō Haruo (18921964). 40 | Vgl. Izumi 2008: 38. 41 | Vgl. Izumi 2008: 37 f. 42 | Den ersten Preis erhielt Hōrō jidai [Vagabundenzeit] von Ryūtanji Yū (1901-1992), der zweite Preis ging an Deinei [Morast] von Yasutaka Tokuzō (1889-1971). 43 | Vgl. Izumi 2012: 61 f.

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preise: Auch die Redakteure von Kaizō sahen sich nicht zu einer entsprechenden Nachbetreuung der Preisträger veranlasst, und das Prädikat Preis-Autor erwies sich darüber hinaus im Literaturbetrieb als eher zweifelhaft, da die Redaktion bei der Auswahl mehr und mehr inhaltlich-politische Aspekte favorisierte und unter den preisgekrönten Erzählungen immer weniger literarisch bemerkenswerte Texte waren. Ab Mitte der 1930er Jahre sanken mit der schwindenden Attraktivität der Preiswerke auch die Bewerberzahlen, und gleichzeitig musste Kaizō die Konkurrenz der beiden 1935 von Bungei Shunjū neu eingerichteten Literaturpreise, des Akutagawa- und des Naoki-Preises, spüren. Über diese Preise einer Literaturzeitschrift wurde in den Medien ausführlich berichtet, und nicht nur Preisbekanntgabe und Verleihungszeremonie waren allseits beachtete Ereignisse, sondern bereits die Kandidatenaufstellung wurde öffentlich diskutiert. Für den grundsätzlich literarisch nicht ambitionierten Kaizō-Verlag, dessen Preis als Werbemaßnahme und Medienevent gedacht gewesen war, mag dies mit zu dem Entschluss geführt haben, den Preis nach der zehnten Vergabe 1939 einzustellen.

I nnovativ : D er A kutagawa-P reis

und der

N aoki -P reis

Der Verleger von Bungei Shunjū, Kikuchi Kan (1888-1948), war – anders als Yamamoto Sanehiko von Kaizō – ein Literat, der sich ursprünglich selbst als Autor betätigt hatte und engen Kontakt zu vielen Schriftstellern pflegte. Er führte mit dem Akutagawa- und Naoki-Preis eine neue Variante von japanischen Literaturpreisen ein, die in mehrfacher Hinsicht innovativ war und sowohl existente als auch bis dahin ungebräuchliche Elemente enthielt. Innovativ war an erster Stelle der Gedanke, bereits erschienene Literatur nicht nur zu bewerten, wie das in Literaturzeitschriften üblich war und bei Suisan no ji zur Nennung eines Siegers geführt hatte, sondern mit der Vergabe eines Geldpreises die Ehrung zusätzlich materiell sichtbar zu machen. Izumi bezeichnet diese Idee als »Kreuzung« der »Literaturdebüt-Route«, also der Tradition des Eintritts in die Literaturwelt durch eine erste Veröffentlichung, mit der »Preis-Autoren-Route« (Izumi 2012: 97), der Tradition der Zeitungspreise. Die zweite Neuerung betrifft den Umstand, dass Kikuchi Namenspatrone für die beiden Preise gewählt hatte und ihnen damit ein individuelles Gesicht verlieh, das sie aus der Masse der bestehenden Zeitungspreise hervorhob. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war der Tod mehrerer Autoren, nach dem er im April 1934 in seiner Essayserie Hanashi no kuzukago [Gesprächspapierkorb] in Bungei Shunjū schrieb:

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»Iketani, Sasaki, Naoki und andere – lauter enge Freunde sind gestorben. Ich fühle mich rundum verlassen. Zur Erinnerung an Naoki möchte ich im Verlag ein ›Naoki-Preisgeld‹ für Nachwuchsautoren der Unterhaltungsliteratur einrichten. Gleichzeitig möchte ich ein ›Akutagawa-Preisgeld‹ für Nachwuchsautoren der gehobenen Literatur einrichten. Das soll weniger bedeuten, mit diesem Preisgeld verstorbener Freunde zu gedenken, sondern wir sollten die Namen von verstorbenen Freunden benutzen, um die Zeitschrift nach dem Verlust von Akutagawa und Naoki wieder aufzumuntern«.44

Neben ihrer Erinnerungsfunktion sollten die Preise dementsprechend auch eine repräsentative und für den Verlag gewinnbringende Aufgabe erfüllen. Gegen den Verdacht der Instrumentalisierung von Literatur bzw. Autoren zu Werbezwecken verteidigte sich Kikuchi, der mit dem anfänglichen Umfang der Berichterstattung in den Medien nicht zufrieden war, im Oktober 1935 in seiner Essayserie und wies dabei gleichzeitig auf eine weitere Funktion der beiden Preise hin, nämlich die soziale: »Natürlich mache ich den Akutagawa-Preis oder den Naoki-Preis zur Hälfte als Werbung für die Zeitschrift. Das habe ich von Anfang an gesagt. Aber zur Hälfte mache ich sie aus dem aufrichtigen Gefühl, neben der Würdigung des literarischen Ruhms der bemerkenswerten Autoren Akutagawa und Naoki den Aufstieg von Nachwuchsautoren unterstützen zu wollen«.45

Eine weitere Innovation schließlich betraf den Preisentscheidungsmodus. Kikuchi modifizierte einerseits die bei den bisherigen Preisen übliche redaktionsinterne Auswahl, indem er die Akutagawa- und Naoki-Preisträger von einem vorher namentlich bekannt gegebenen Fachgremium bestimmen ließ, was bis dahin nur bei der Yomiuri Shinbun 1893 und bei der ersten Vergabe des Kaizō-Preises 1928 der Fall gewesen war. Darüber hinaus stellte Bungei Shunjū eine öffentliche Kandidatenliste auf, die wie erwähnt schon vor der Juryentscheidung für Diskussionen in den Medien sorgte. Hierbei scheint eine Anlehnung an die Vergabepraxis des Nobelpreises für Literatur offensichtlich, und selbstverständlich war Kikuchi auch genau über diesen internationalen Literaturpreis informiert. Im Zusammenhang mit dem Akuta­ gawa- und dem Naoki-Preis verglich der Verleger seine Initiative jedoch mit der Tradition von nationalen Literaturpreisen im Westen, als er im Januar 1935, kurz vor der ersten Preisverleihung, in Hanashi no kuzukago schrieb:

44 | ›http://work.honya.co.jp/contents/archive/kkikuchi/hanashi‹ (Zugriff am 28. 2. 2014). 45 | Ebd.

322 Mechthild Duppel-Takayama »Einem Franzosen zufolge gibt es in Frankreich und anderen Ländern mehr als zweihundert Literaturpreise. Angefangen mit Preisen zur Erinnerung an große Autoren, gibt es Preise von Verlagshäusern etc. und sogar von Weinherstellern. Diese sollen an Werke verliehen werden, in denen etwa Weinberge oder die Praxis der Weinherstellung gut beschrieben sind. Ich wäre glücklich, wenn auch der Akutagawa-Preis und der Naoki-Preis, trotz der geringen Dotation,46 zu Pionieren der Literaturpreise in Japan würden«.47

Dieser Äußerung, bei der explizit von »Literaturpreisen« (bungaku shōkin; wörtlich Literaturpreisgelder) statt von den herkömmlichen Preisen (kenshō) für Erzählungen gesprochen wird, ist auch ein deutlich kulturpolitisches Bewusstsein zu entnehmen, das die Initiative von allen früheren Auszeichnungen unterscheidet. Angesichts der heutigen Preislandschaft in Japan können der Akutagawaund der Naoki-Preis in der Tat als Pioniere bezeichnet werden. Darüber hinaus werden sie unverändert dem Anspruch der Nachwuchsförderung gerecht und sind als renommierteste Preise dazu prädestiniert, neue literarische Trends vorzugeben und mit ihrer Vergabe den Literatur-Kanon zu beeinflussen.

N euer Trend: D er G rosse B uchhändler -P reis Inzwischen existieren wie erwähnt nahezu 500 japanische Literaturpreise, doch die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Neben dem sich – mit den Ausschreibungen der Verlagspreise – weiter fortsetzenden Stamm der modernen Linie, der kurzlebigen Hybridform Suisan no ji und der folgenden »Kreuzung« zwischen dieser Linie und dem Literaturwelt-Debüt, also dem Akutagawa- und dem Naoki-Preis, die zusätzlich Anregungen aus dem Westen aufgenommen hatte, wurde im Jahr 2004 eine Aufsehen erregende neue Variante geschaffen: der Große Buchhändler-Preis (Honya taishō). Dieser Preis war von Buchhändlern ini­ tiiert worden aus Unzufriedenheit mit dem Naoki-Preis, der sich ihrer Meinung nach kontinuierlich vom Publikumsgeschmack entfernt und in den Jahren davor nicht mehr zu dem gewünschten Anstieg der Verkaufszahlen geführt hatte. Der Buchhändler-Preis wird deshalb ohne Beteiligung einer Autoren-Jury unter dem Slogan »Dieses Buch möchte ich am liebsten verkaufen!« durch eine mehrstufige Internetwahl entschieden, an der alle japanischen Buchhändler teilnehmen 46 | Die Preissumme betrug 500 Yen und damit lediglich ein Drittel des Kaizō-Preises. Auch heutzutage sind der Akutagawa- und der Naoki-Preis mit ca. 10.000 Euro (und einer Taschenuhr) im Vergleich zu den zwölf genannten Spitzenreitern relativ niedrig dotiert. 47 | ›http://work.honya.co.jp/contents/archive/kkikuchi/hanashi‹ (Zugriff am 28. 2. 2014).

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können­, und produziert regelmäßig literarische Bestseller.48 Während also wie beim Naoki-Preis der Gegenstand der Ehrung ein bereits veröffentlichtes Werk ist, wurde das Auswahlverfahren dagegen stark verändert von der internen Entscheidung eines elitären Gremiums zur demokratischen Wahl unter Verwendung elektronischer Medien. Auch die preisvergebende Institution stellt eine Besonderheit dar in Gestalt der 2005 gegründeten Non-Profit-Organisation Honya taishō, die sich bei der Preisvergabe nicht selbst repräsentiert, sondern auf die Reputationssteigerung der Buchhändler bzw. ihrer Tätigkeit abzielt. Der Honya-Preis ist erklärtermaßen ein Versuch zur Stabilisierung der Buchhandlungen in Zeiten des wachsenden Buchvertriebs per Internet. Inzwischen wird außerdem die Frage nach der tatsächlichen Neutralität der BuchhändlerWahl gestellt, da die Verlage ihre Auslieferung von Neuerscheinungen den Terminen der Wahldurchgänge angepasst haben und den erfolgreichen Preis bereits nach der Nominierung der zehn Endrunden-Teilnehmer in ihre Werbung einbinden.49 Gleichwohl erfüllt der Buchhändler-Preis – trotz der bescheidenen (aber der Vergabeabsicht entsprechenden) Dotation in Form eines Büchergutschein über ca. 1000 Euro – eine soziale Funktion auch für die ausgezeichneten Autoren durch die nahezu garantierte Auflagensteigerung nach der Preisverleihung. Der ehemalige Geschäftsführer des Bungei Shunjū-Verlags, Suzuki Fumihiko, begrüßt die Konkurrenz für den Naoki-Preis und bezeichnet Literaturpreise als »eine Art von Festivals«, weshalb eine möglichst große Vielfalt wünschenswert sei.50 In der Tat basiert das Zunkunftspotential eines Literaturpreises – wie bereits beim Kaizō-Preis deutlich wurde – vornehmlich auf der Resonanz, die die ausgezeichneten Werke nach der Preisverleihung hervorrufen, sowie auf der Fortentwicklung der jeweiligen Autoren und ist weniger eine Frage des Preisentscheidungsmodus. Indessen gehört gerade dieser zu den Elementen, in denen sich die diversen Arten der japanischen Literaturpreise unterscheiden: angefangen mit der vor Ort bewerteten, mündlich ausgetragenen Konkurrenz um einen Gruppensieg (beim Uta-awase), über Preisausschreiben, die von einer Zeitungsredaktion passend zum eigenen Profil und eher in Hinblick auf eine einmalige Öffentlichkeitswirkung entschieden werden (im Fall der Zeitungspreise und des 48 | Das 2004 gewählte Werk Hakase no aishita sūshiki [Der Professor und seine geliebte Formel] von Ogawa Yōko (1962-) erreichte eine Auflage von mehr als 2,4 Millionen; der Gewinner des Jahres 2009, Kokuhaku [Das Geständnis] von Minato Kanae (1973-), sogar über 3,2 Millionen. 49 | Vgl. Ōmori Nozomi im Artikel Honya taishō urete 10 sai [10 Jahre – Der BuchhändlerPreis verkauft] in der Zeitung Asahi Shinbun am 10. April 2013. 50 | Im Gespräch mit dem Literaturkritiker Kitagami Jirō im Artikel Naoki-shō vs. Honya taishō [Naoki-Preis gegen Buchhändler-Preis] in der Asahi Shinbun am 26. Februar 2014.

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Kaizō-Preises), die schriftliche Anerkennung einer bereits erfolgten literarischen Leistung durch eine Gruppe von Literaturkritikern (in Form der Lob- und Empfehlungsworte Suisan no ji) und die Auszeichnung von Werken durch eine Autorenjury mit vorheriger Kandidatenaufstellung (bei Preisen wie dem Akutagawa- und dem Naoki-Preis), bis zur Wahl mit Hilfe global verfügbarer moderner Technik. Ein weiteres Unterscheidungselement ist die Form des Preises bzw. der Verleihung, wobei sich neben dem erklärten Verzicht auf jeglichen Lorbeer bei den Suisan no ji vor allem das Utakai-hajime hervorhebt angesichts der rein symbolischen Ehrung während der Zusammenkunft im Kaiserpalast. Das Utakai-hajime ebenso wie das Uta-awase weisen als Preisveranstaltungen eine nahezu vollständige Unabhängigkeit von westlichen Literaturpreis-Konventionen auf, obwohl die anfangs erwähnte Definition von Otto Lorenz, ein Literaturpreis sei eine »Auszeichnung von Schriftstellern unter feierlicher Würdigung ihres Werks, zumeist verbunden mit einer Geldsumme« durchaus auch auf diese klassische Linie zutrifft. Die parallel dazu bestehende moderne Preislinie hat offensichtlich nicht wie zunächst vermutet Vorbilder aus dem deutschen Literaturbetrieb übernommen. Lediglich die westliche olympische Idee wurde als Anregung und Programm für die innovative Auszeichnungsform Suisan no ji verwendet, und bei der Einrichtung des Akutagawa- und des Naoki-Preises verwies Kikuchi Kan zwar auf die Existenz von Literaturpreisen im damaligen Europa; der Auslöser lag jedoch im persönlichen Bereich, und der eigentliche Grund sollte wohl im Bestehen der Zeitungspreise und des Kaizō-Preises gesehen werden, die sich – im Zuge neuer Marktbedingungen entstanden – aus der Sicht des Literaten Kikuchi auf fachfremdem Gebiet betätigten und denen er, wirtschaftliche Überlegungen eingeschlossen, eine professionelle Variante entgegensetzen wollte. Der BuchhändlerPreis schließlich, noch mehr als bei Kikuchi Kan im Zeichen des Protests gegen Vorhandenes erdacht, bedient sich der weltweit gemeinsamen Internet-Kultur. Er ist darüber hinaus möglicherweise Teil eines ebenso weltweiten Trends zu kommerzialisierten Literaturpreisen,51 die nicht nur wie bisher in Japan üblich allein von Verlagen vergeben werden bzw. diese und die Preisträger begünstigen, sondern statt Literatur die Verkäuflichkeit von Literatur in den Mittelpunkt stellen. 51 | Wie z. B. dem britischen Booker Prize. Der Trend zeigt sich Kritikern zufolge auch beim Deutschen Buchpreis, den Monika Maron als »Marketingpreis« bezeichnet und ergänzt: »Diese krawallige Castingshow dient weder den Verlagen noch weniger den Autoren, sondern vor allem den bestsellersüchtigen Buchhandelsketten« (zit. n. Wolfram Schütte: »Kritik(er) und der ›Deutsche Buchpreis‹. Zur Verkaufsförderung von deutschsprachiger Literatur«, in: Titel. Kulturmagazin, 29. September 2008). ›http://titelmagazin.com/ artikel/215/5148/kritiker-und-der-deutsche-buchpreis.html‹ (Zugriff am 30. 7. 2014).

Eigenständig, hybrid, innovativ 325

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326 Mechthild Duppel-Takayama

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Kulturkontakt in Stimmen. Am Beispiel »Autodafé« von Matsuda Masataka Mariko Harigai

Verführung ist die wahre Gewalt. (Gottfried Ephraim Lessing) Drum verkünd’ ich sie euch, dass jeder sie wisse; wir mögen Sterben, oder entfliehn dem schrecklichen Todesverhängnis. Erst befiehlt uns die Göttin, der zauberischen Sirenen Süße Stimme zu meiden, und ihre blumige Wiese. (Homer)

M edialität

der

Stimmen

Zu welcher Kultur man gehört, ist vor allem abhängig davon, welche Stimme man hört. Denn die Sprache spielt eine große Rolle zur Bestimmung eines Kulturraumes. Dabei sind Verkörperungsprozesse der Kultur, hier vor allem der Sprache, nicht zu vergessen. Menschliche Stimmen finden sich gerade zwischen Sprachen und Körpern, indem sie nicht bloß Sprachen verkörpern, sondern sich auch subversiv betätigen und den Sinn der Sprache sinnlich unterlaufen: »Die Stimme ist ein Schwellenphänomen. Denn sie ist immer zweierlei: Sie ist sinnlich und sinnhaft; Soma und Semantik, aisthesis und logos vereinigen sich in ihr. Die Stimme ist aber auch diskursiv und ikonisch; sie sagt und zeigt zugleich, in ihr mischen sich Sprachliches und Bildliches. Sie ist überdies physisch und psychisch; Körper und Seele, Materie und Geist bringen beide in ihr sich zur Geltung und prägen ihre phänomenalen Eigenschaften. Schließlich wirkt die Stimme indexikalisch und symbolisch; sie ist einerseits unverwechselbares Indiz der Person wie andererseits Träger konventionalisierten Zeichengehaltes. Die Stimme ist also individuell und sozial [...]. Die Stimme ist also nicht einfach Körper oder Geist, Sinnliches oder Sinn, Affekt oder Intellekt, Sprache oder Bild, sondern sie verkörpert stets beides. Sie ist situiert zwischen zwei Seiten, die in ihr ein Verhältnis zueinander eingehen (Kolesch/Krämer 2006: 12)«.

In diesem Beitrag wird durch die Analyse der Stimmen in einer Theaterinszenierung gefragt, wie menschliche Körper mit einer Kultur bzw. Sprache in Kontakt treten. Dazu nehme ich als Beispiel eine gegenwärtige japanische Theaterinszenierung, die durch Parodie der Odyssee die Heimkehr in den Kulturraum einer

328 Mariko Harigai

Muttersprache ironisch zeigt. Bevor ich das Beispiel vorstelle, möchte ich zuerst eine merkwürdige Figur in der Odyssee bedenken, die durch die Stimme gekennzeichnet ist und deren Stimmgeste sich auch in unserem Theaterbeispiel findet. Der Begriff »Geste«, der historisch höchst unterschiedlich verstanden wurde, wird in einem Lexikon der Theaterwissenschaft so definiert: »[E]ine wiederholbare Bewegung bzw. Haltung des menschlichen Körpers oder seiner Glieder, die als signifikant angesehen wird« (Kuba 2005: 129). Den Begriff beschränke ich in meinem Kontext allerdings nicht auf die optisch wahrnehmbare Körperbewegung bzw. Körperhaltung, sondern begreife ihn im Sinn eines körperlichen Mediums, das auch akustisch zu vernehmen ist. Und durch ein solches Begreifen betone ich die Medialität der Geste. Unter dem Medium verstehe ich hier weniger einen vermittelnden Boten, der eine gegebene Information präsentiert, als vielmehr eine Spur, welche die zu übertragenden Informationen durch sich selbst spüren lässt (vgl. Krämer 2008). Die »Stimmgeste« wird also die Struktur des (Macht-)Verhältnisses zwischen den Hörenden und den Sprechenden nicht einfach repetieren, sondern sie je nach Situation variieren. Durch die »Stimmgeste« versuche ich in dem Beitrag, Machtverhältnisse in Stimmen, die eine Kultur überliefern, zu analysieren.

D ie S irenen in H omers in der P sychoanalyse

O dyssee

und

M utterstimmen

Mit unwiderstehlicher Kraft verführen die süßen Gesangstimmen der Sirenen Odysseus, den Heimkehrenden, in eine trügerische Heimat. Die Verführung quält ihn so sehr, dass er, trotz der Fesselung an den Mast, zu den Stimmen hinstürzen würde, obwohl sie vanitas vanitatum – das Vergängliche – sind. Schließlich übersteht er dank des Rates der weisen Zauberin Kirke die Verführung und fährt zu seiner »wahren« Heimat. Die »wahre« Heimat ist für Odysseus nämlich der Ort, an dem seine Familie – seine Frau Penelope und sein Sohn Telemach – auf ihn wartet. Im Gegensatz zu diesem rationalen Heimkehrenden werden die Sirenen gemeinhin als sinnliche Verführerinnen dargestellt. Adorno und Horkheimer finden etwa im Sirenengesang die natürliche Schönheit der Kunst, vor allem der Musik1 (vgl. Horkheimer/Adorno 31972 [1969]: 39 f. und 67). Aber die unwiderstehliche 1 | In dieser Interpretation ist zwar die Lockkraft der Sirenenfigur in der Odyssee nicht einfach nur auf die Sinnlichkeit zurückgeführt, sondern im Zusammenhang mit der Anstrengung der Selbsterhaltung ausgelegt. Aber es ist doch noch klar zu sehen, dass sie hauptsächlich die weibliche Sinnlichkeit im Sirenengesang finden. In meinem Beitrag wird aber die Funktion der Sirenenfigur anders verstanden.

Kulturkontakt in Stimmen 329

Anziehungskraft der Sirenenstimmen beruht nach Peter Sloterdijk nicht auf der Sinnlichkeit, sondern auf der Tatsache, dass sie vom Hörenden her singen: »Die Unwiderstehlichkeit der Sirenen hat ihren geheimnisvollen Grund in dem Umstand, daß sie seltsam skrupellos nie ihr eigenes Repertoire vortragen, sondern immer nur die Musik des Passanten; auch die Idee einer eigenen Melodie ist ihnen fremd; sogar die Süße ihrer Stimmen ist keine musikalische Eigenschaft, die ihrem Vortrag unentäußerlich anhaftete, und die Tradition nennt ihre Stimmen öfter schrill als schön. Wenn die Sirenen in allen Hörern bis zu Odysseus – und in diesem besonders – begeistert hingezogene Opfer finden, so deswegen, weil sie vom Ort des Hörenden her singen« (Sloterdijk 1998: 496 f.).

Indem die Sirenen den Namen des Hörenden in der Hymne preisen, schaffen sie eine akustische Sphäre, in der die Singenden in dem Hörenden eine zuversichtliche Subjektivität bilden. »Was bei ihnen [Sirenen] Unwiderstehlichkeit heißt, ist die Versetzung des Subjekts ins Zentrum der hymnischen Regung, die aus ihm selber aufzuquellen scheint und die ihn unter die Sterne versetzt« (Sloterdijk 1998: 497).

Odysseus versinkt desto tiefer in sich, je tiefer er die Stimmen der anderen hört. Die Stimmen loben die heldenhaften Taten während seiner Reise hin zu fremden Ländern. Indem sie so die Geschichte von den fernen Ländern singen, singen sie in der Tat nur von dem hörenden Helden. Sie verkündigen, dass sie die Geschichte von Odysseus schon kennen, und loben sie. »Komm, gepriesner Odysseus, du großer Ruhm der Achäer! Lege dein Schiff hier an, um unsere Stimme zu hören; Denn hier fuhr noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber, Eh er die honigtönende Stimme aus unseren Mündern Hörte; er kehrt dann heim, erfreut und reicher an Wissen; Denn wir wissen alles, wieviel in Troja, dem weiten, Die Argeier und Troer mit Willen der Götter gelitten, Wissen, was immer geschieht auf der vielernährenden Erde« (Homer 2010: 377).

Sloterdijk interpretiert diese Situation folgendermaßen: »Laß die Ägäis schrumpfen zu deinem privatesten Gewässer! […] Verzichte auf das Rauschen der Welt und gehe ein in deine eigene Musik, deine erste und letzte!« (Sloterdijk 1998: 500). Das Anderen-Zuhören verwandelt sich hier in das In-Sich-Hineinhören im geschlossenen Sirenenkreis. Die Sirenen singen nicht von außen, sondern

330 Mariko Harigai

von innen­den Wunsch des Odysseus selbst. Ihr Lied verleiht ihm die imaginäre Ganzheit seiner Existenz. Gegen Lacans Theorie des Spiegelstadiums, worin die Subjektivität zuerst optisch gebildet werde, behauptet Sloterdijk das Sirenen-Stadium als auditives Moment zur Bildung der Subjektivität: »Die Wahrheitsmomente, die Lacan seinem irrlichternden Theorem vom Spiegelstadium mitgegeben hat, treffen der Sache nach nicht auf das optische, sondern auf das auditive und audiovokale Selbstverhältnis des Subjekts zu. Im Voraus-Hören des Ich-Motivs knüpft das Individuum den Pakt mit seiner eigenen Zukunft, aus dem die Freude erwächst, auf die Erfüllung hin zu leben. Jedes unresignierte Subjekt lebt in der orthopädischen Erwartung der intimsten Hymne, die sein Triumphmarsch und sein Nachruf in einem sein wird« (Sloterdijk 1998: 503).

Anhand der praktischen Forschungen des Arztes Alfred Tomatis (vgl. Tomatis 1994) weist Sloterdijk auch auf die Analogie zwischen der Sirenenstimme und der Mutterstimme hin. Das Motiv der Heimkehr ist bekanntermaßen schon seit Sigmund Freud psychoanalytisch erklärt. Freud findet in dem für Menschen »Unheimliche­n« das für sie »Heimliche-Heimische«: »[D]ies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist« (Freud 2008: 160 f.). Das »Heimliche-Heimische« bedeutet hier »de[n] Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes«, nämlich zum Mutterleib. »Es kommt oft vor, daß neurotische Männer erklären, das weibliche Genitale sei ihnen etwas Unheimliches. Dieses Unheimliche ist aber der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat. »Liebe ist Heimweh«, behauptet ein Scherzwort […]. Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe »un« an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung« (Freud 2008: 164).

Während Freud die menschliche Lust als Heimweh, in der man seine Subjektivität erhalten will, auf die Sehnsucht nach dem Mutterleib zurückführt, wird in der psychoanalytischen Überlegung von Sloterdijk ein dezidierter Unterschied zwischen Sirenen- und Mutterstimmen genannt: Während die Sirenen dem Hörenden seinen Nachruf schaffen und sein Leben vollenden, heißen die »guten Mutterstimmen« ihr Kind willkommen ins neue Leben.2 2 | Der Nachruf, der hier gemeint ist, darf nicht mit dem »Nachleben« verwechselt werden, von dem Walter Benjamin spricht. Denn Nachleben, das Benjamin meint, bringt gar keine Vollendung, sondern die Möglichkeit, das Leben des Gestorbenen anders auszulegen.

Kulturkontakt in Stimmen 331

»Das Lied vom Helden bedeutet […] schon eine Willkommenheißung im Jenseits, denn die fabelhaften Sirenen sind, wie die Alten wußten, der anderen Seite zugehörig. Ihr Gesang schließt die Akte eines Heldenlebens mit dem Vermerk: besungen und vollendet. Doch während die homerischen Sängerinnen den Männern unwiderstehliche Einladungen zur Vollendung ins Ohr träufeln, übermitteln die guten Mutterstimmen den Zeugen in ihrem Leib die Einladung, mit einem eigenen Dasein lebhaft zu beginnen« (Sloterdijk 1998: 516).

Im Uterus hört der Fötus die Stimme seiner Mutter von draußen, von außerhalb des Uterus her. Mutterstimmen hören heißt also nicht sich auf den Mutterleib zu richten, sondern auf die Außenwelt.3 Die stimmliche Heimkehr ist deshalb zugleich die Reise nach der Außenwelt, die man weder sehen noch berühren kann. Das menschliche Subjekt wird durch Stimmen gebildet, indem es nach draußen hört und sich auf die Reise begibt. Sowohl Mutterstimmen als auch der Sirenengesang heißen so im Jenseits willkommen, aber anders als die Mutterstimmen vollendet, reproduziert und konserviert der Sirenengesang das Leben des Hörenden. Stimmen, die durch die Aufführung des Gesangs von Sirenen dem hörenden Helden einen Nachruf verleihen sollen, sind allerdings flüchtig und ephemer.4 Um »die flüchtige Stimme festzuhalten und ihre Sterblichkeit zu bannen« (Kolesch­/Schrödel 2004: 9), sind künstliche Operationen nötig. Dafür wurde nicht nur die Schrift oder das Grammophon erfunden, sondern auch die Mutterstimme, die die Nationalsprache überliefert. Friedrich Kittler beschreibt die Funktion der »Aufschreibesysteme« gegen 1800, in denen die deutschen Mütter ihren Kindern die Nationalsprache bzw. die »schöne Muttersprache« beibrachten (vgl. Kittler 2003: 37-86). Die Sinnlichkeit der Muttersprache wird »von Staats wegen« benutzt, um die vernünftige Nationalsprache zu erhalten, die die nationale Geschichte überliefert. Die Kinder schreiben später als erwachsene Männer in dieser Sprache und lassen die Schrift von Frauen lesen und loben. Die Lehrbücher, nach denen die Mütter lehrten, wurden auch von Männern geschrieben. So werden die Mutterstimmen in die »Aufschreibesysteme« eingeordnet. 3 | Zu der Argumentation für diese These vgl. Sloterdijk 2007. 4 | Erika Fischer-Lichte findet ein bezeichnendes Merkmal der Flüchtigkeit der Aufführung in ihrer Lautlichkeit: »Geradezu paradigmatisch für die Flüchtigkeit von Aufführungen ist ihre Lautlichkeit. Was könnte flüchtiger sein als ein (v)erklingender Laut? Aus der Stille des Raumes auftauchend, breitet er sich in ihm aus, füllt ihn, um im nächsten Augenblick zu verhallen, zu verwehen, zu verschwinden. So flüchtig er sein mag, wirkt er doch unmittelbar – und häufig nachhaltig – auf den ein, der ihn vernimmt. Er vermittelt ihm nicht nur ein Raumgefühl […]; er dringt in seinen Leib ein und vermag häufig, physiologische und affektive Reaktionen auszulösen« (Fischer-Lichte 2004: 209).

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In der Theaterinszenierung, die in diesem Beitrag als Beispiel vorgestellt wird, wird die Gefahr gezeigt, dass die Sprache lehrenden Mutterstimmen in »Aufschreibesystemen« wie Sirenengesang funktionieren. Der Regisseur und Dramatiker Matsuda stellt die sirenenhaften Mutterstimmen in der Heimat, die der Ursprung und zugleich das Ziel eines Heimkehrenden sind, in Frage. Die sirenenhaften Stimmen locken den Hörenden in eine Heimat, die eine genetisch verwandte, geschlossene Gemeinschaft konstruiert und ihn an den Ort fesselt.

Ausgeschlossener O dysseus . M atsudas I nszenierung von »A utodafé « Nun stelle ich die Anfangsszene der oben genannten Theaterinszenierung vor, die Homers Odyssee parodiert und dessen Motiv der Heimkehr in Frage stellt: »Autodafé« (2006 in der AI-HALL, Osaka uraufgeführt5) des Regisseurs und Dramatikers Matsuda Masataka (1962-). Matsuda war anfangs ein erfolgreicher Dramatiker, der mit dem – für Großstadtbewohner exotischen – Dialekt seiner Heimatstadt Nagasaki das Publikum seines dramatischen, psychologischen Theaters faszinierte. Aber nach und nach hat er eine kritische Tendenz, die Schönheit und Gemeinschaftsgefühl seiner Muttersprache stark in Zweifel zieht, entwickelt und seinen Theatertext radikal geändert. Um die theatralen Experimente weiterzuführen, gründete Matsuda 2003 in Kyoto die Theatergruppe Marebito no kai. »Autodafé« ist deren fünfte Produktion.6 Ein Mann kommt in seine »Heimat« zurück, um die Heimatgeschichte zu verfassen. Sein Name ist Odysseus A. Durch diesen Namen mit dem anonymisierenden Buchstaben »A« wird Odysseus vom mythischen Helden in eine exemplarische Figur, den unbestimmten Heimkehrenden, verwandelt. Die Heimat ist einst völlig zerstört worden und es ist nun verboten, dorthin zurückzukehren. Sie heißt »Wese« und ist ein fiktiver Ort, der allerdings auf real existierenden Orten basiert: Matsudas Heimatstadt Nagasaki und die ukrainische Stadt Prypjat, die radioaktiv kontaminiert wurden. Trotz des Verbots ist Odysseus A zurückgekommen, um die Geschichte seiner Heimat zu verfassen. Der Anlass seiner Heimkehr entspricht der Quelle der Verführungskraft im Sirenen-Stadium, wonach man eben die eigene Geschichte hören muss, um das Subjekt in sich zu bilden. Nach Odysseus A, der mit einem Koffer in der Hand auftritt, kommen auch andere Reisende. Alle Angekommenen erleben gemeinsam eine Überflutung 5 | Die Analyse von Autodafé beruht auf Videomaterial. 6 | Zu den früheren Produktionen von Matsuda und Marebito no kai vgl. Hirata 2009: 105 f.

Kulturkontakt in Stimmen 333

durch Licht und Musik und dabei verwandeln sie sich in dem heimatlichen Loch in Grubenarbeiter. Ihre Arbeit dort ist, aus Ausgrabungsfunden die Heimatgeschichte zu rekonstruieren. Odysseus A, der auch dieselbe Aufgabe hat, kann sich jedoch nicht gut in die Gemeinschaft einfügen. Zu der Gruppe schreit eine Frau in einer fremden Sprache, die zwar japanisch klingt, aber deren Bedeutung die japanischsprachigen Zuhörer nicht verstehen können. »Gururiyōza dōmino...«. Es ist kein Japanisch, sondern es sind Worte aus einem Orasho, dem lateinischen Oratorium »O gloriosa Domina«, das von spanischen Missionaren vor 400 Jahren nach Nagasaki gebracht und nach 250jährigem Verbot des Christentums ohne europäische Missionare völlig japanisiert wurde. Die Bedeutung des ursprünglichen Textes ist in den Orasho schon völlig verloren. Während der gewaltsamen Unterdrückung des Christentums mussten die Anhänger ihren christlichen Glauben und ihre heiligen Gesänge, die Orasho, verbergen.7 Die Gesänge wurden folglich nur mündlich unter den Dorfbewohnern streng im Geheimen überliefert, um nie von Fremden gehört zu werden. Der eigenartige Glaube und die gewachsenen Rituale, die sich im Verborgenen und in Distanz zur Mutterkirche in Rom entwickelt hatten, überdauerten die Verfolgung noch lange. Bei der Ankunft öffnet sich in der heimatlichen Erde ein riesiges, rechteckiges Loch, das sowohl wie eine Müllgrube als auch wie ein Grab aussieht. Darüber hängt ein riesiger Stein, der genau auf die Öffnung des Lochs passt. Ich vermute, dass die Steinattrappe trotz der Künstlichkeit einen Druck auch auf die Zuschauer ausüben könnte, die nicht im abgetrennten Zuschauerraum, sondern am Rande der Bühne sitzen. In diesem Loch liegen alte Bücher, lose Manuskripte und sonstiger Trödel verstreut umher. Die Dinge wurden von einem unheimlichen Mann mit einem Handwagen von einem Müllhaufen hinter der Grube hergebracht und weggeworfen. Die verstreuten Dinge sind als das (noch) nicht archivierte Gedächtnis der zerstörten Stadt zu sehen. 7 | Das Christentum wurde erst 1549 von dem spanischen Jesuiten-Missionar Francisco de Xavier (auch Francisco de Gassu y Javier) nach Japan gebracht. Vor allem die Präfektur Nagasaki wurde zu einem wichtigen Stützpunkt der Mission. 1587 befahl der damalige Machthaber Toyotomi Hideyoshi die Deportation der Missionare. Das Christentum wurde­in Japan offiziell verboten. Danach wirkten jedoch die Missionare heimlich weiter, weil christliche Fürsten ihnen Zuflucht boten und anfänglich die japanische Regierung den Handel mit den katholischen Ländern noch nicht untersagte. Nach und nach wurde aber die Unterdrückung strenger und grausamer, und dazu wurde der Handel mit Ausnahme von Holland, China, Korea und Okinawa verboten; lediglich die Holländer durften in einem kleinen Gebiet, auf der künstlichen Insel Dejima vor Nagasaki, bleiben (vgl. Miyazaki 1996).

334 Mariko Harigai

Die Angekommenen versammeln sich im Kreis um Odysseus A und blicken ihn scharf und aggressiv an. Auf die Menschengruppe richtet der Müllträger – ein das Gedächtnis Stapelnder oder ein ironischer Archivist – ein Gerät, das die Form eines Kassettenrecorders hat, aber der Mann hält das Gerät auf die Menschen genau wie eine Kamera. Erst vor der »Kamera« löst sich der Kreis und die Menschen stehen der Kassettenrecorder-Kamera gegenüber nebeneinander. Endlich kann in diesem Moment sich Odysseus A ihnen annähern und versucht, zusammen auf einem Foto aufgenommen zu werden. Er ist aber noch ausgeschlossen: Er kann sein Gesicht nur von hinter der Menschenreihe knapp der »Kamera« zeigen. Bei der ersten Aufnahme spricht der Mann seine Aufnahmeobjekte mit den Worten »Bücher der Asche, Asche der Bücher. Ja, ich bin da«“8 an, statt »cheese!« oder »cheers!« zu rufen, und imitiert mündlich das Geräusch des Auslöser. Hier ist ein Wortspiel von »hai«, das auf Japanisch zugleich »Asche« und »Ja« bedeuten kann, zu bemerken. Das Wortspiel lässt assoziieren, dass die Anwesenheit an dem Ort den Anwesenden zugleich den Tod brachte und ihr Gedächtnis vernichtet wurde. Vor der »Kamera« rücken die aufgenommenen Menschen Schritt für Schritt enger zusammen, schauen ernsthaft die »Kamera« an und posieren dann freundlich lächelnd in einer Gruppe, während Odysseus A immer noch außerhalb der Gruppe bleibt, indem er hinter den Menschen steht und ganz ungeschickt die anderen nachahmt. Ihre Gesichter werden inzwischen allmählich von einem Licht verzerrt, das sich im Laufe der Zeit verstärkt. Die Münder der anderen sind so weit geöffnet, als ob sie stumm schrien, während der Mund von Odysseus A verzerrend noch halb geschlossen bleibt, fast wie zusammengebissen. In dem Augenblick, in dem das Licht am stärksten strahlt, fließt eine christliche Musik9 herunter, deren Orchestertöne am Anfang von einem Höhepunkt stürzen und dann stufenweise ansteigen. Geblendet und schaudernd beugen alle sich steif zurück, wie in einem Bild, auf das der unheimliche Mann seine KassettenrecorderKamera richtet. Der Mann kniet vor dem Bild, als ob er etwas Heiliges aufnähme. Durch die Einleitung des Orchesters gespannt ertönen dann pathetische Chorstimmen, »Kyrie Eleison«. Dabei steht der »Kameramann« auf und läuft langsam zum Publikum, indem er die Kassettenrecorder-Kamera würdig über sein Gesicht hochhebt, wie eine Reliquie in einem Ritual. Es scheint, als ob die sakrale Musik in die geöffneten Münder eingegossen würde und der »Kameramann« die aufgenommenen Chorstimmen aus dem Bild der Menschen wiedergäbe. 8 | Im japanischen Originaltext lautet das: Hai no shomotsu, shomotsu no hai. Hai, watashi wa koko ni imasu. 9 | Wolfgang Amadeus Mozarts »Kyrie, Andante moderato« in Große Messe in c-Moll, KV 427.

Kulturkontakt in Stimmen 335

Von den Stimmen des »Kyrie Eleison« getroffen, bekommen die Menschen Krämpfe. In dem Moment fallen ihnen ihre Koffer aus den Händen und dann ziehen sie heftig wie in Besessenheit ihre verschiedenartigen Kleider aus. Nun gehört Odysseus A auch zu der Menschengruppe: Er benimmt sich genauso wie die anderen Besessenen. Nur in weißer Unterwäsche bilden sie nun eine Massenfigur, die gemeinsam zu dem stark strahlenden Licht aufstarrt, treten zaghaft zurück und stürzen in das Loch hinein. Dort verwandeln sie sich in die »Heimischen« in gleichen grauen, sparsamen Uniformen. Das Licht, das die Menschen in das Loch gestürzt hat, ist ein Blitz: ein Blitz der Kamera und zugleich der Radioaktivität. Ein Lichtstrahl hat den Anwesenden ein gemeinsames Schicksal beschert und sie in ein Foto eingebrannt. »Warum muss ich leiden, nur weil ich da war?« Um die Frage zu beantworten, haben einige der Überlebenden in Nagasaki versucht, das plötzliche, unbegreifliche Ereignis der Atombombe als Imitatio Christi – die Nachfolge der Passion Christi – zu deuten.10 Hier sei der Lichtstrahl ein »Blitz des Gottes« gewesen, der die Menschen, die dort anwesend waren, Gott zum Opfer gebracht hat. Die Überlebenden leiden dadurch unter einem Pathos, von dem man heimgesucht wird, im Schaudern und zugleich auch im Rausch.11 Den Rausch kann aber Odysseus A mit den anderen nicht teilen, wie sein zusammengebissener Mund zeigt, der den Chor des Kyrie nicht mitsingen kann. »Seine Heimat« kennt Odysseus A nicht, weder ihre Einwohner noch ihre Geschichte. Sie überfallen Odysseus A nur. Die Chorstimmen voller Pathos formen sich später in der »Heimat« um in eine verführerische Tanzmusik und in Oratorien der »verborgenen Christen«, die nur mündlich und körperlich überliefert wurden. Dann trifft Odysseus A sein Alter Ego, Odysseus A', in der heimatlichen Gemeinschaft: »A': Wer bist du?! A: Ich bin A. A': A. A: von ABC. 10 | Diese Idee stammt vor allem von dem christlichen Arzt Dr. Nagai Takashi, der als Radiologe an der Universität Nagasaki kurz nach dem Atombombenabwurf die Opfer behandelte und dem dadurch der erste Ehrenbürger-Titel verliehen wurde. Neben medizinischen Protokollen hat er auch einige Bücher und Essays über das Leben in der zerstörten Stadt geschrieben. Einige dieser Bücher sind damals so populär geworden, dass sie verfilmt wurden. Nagasaki no kane [Glocken in Nagasaki, 1949] wurde zu einem Bestseller. 11 | In Matsudas späterer Inszenierung »Park City« (2009) wurde der verwechselte Rausch deutlicher thematisiert.

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A': Bist du also Odysseus A? A: Ja, auf den langen Wanderungen. A': Ich bin Odysseus A'': Eine Überraschung, dass ich eben hier mit dir arbeite!«12 Obwohl sie einander zuerst nicht erkannt haben, kannte das Alter Ego den Namen von Odysseus A, als ob sie schon seit langem vertraut wären. Anders als Odysseus A lebt sich sein Alter Ego gut in seiner Heimat ein. Das Alter Ego ist das Spiegelbild des Odysseus A und durch ihn ist Odysseus A doppelt gespalten. A bemüht sich darum, das Spiegelbild A' nachzuahmen, und versucht somit, die Spaltung zu überwinden. Jedoch gelingt es nicht: Er kann sich weder so gut als ein Mitglied der Gemeinschaft benehmen, noch so gut seine Muttersprache erlernen wie sein Alter Ego. Der ausgeschlossene Odysseus A wird dann von sirenenhaften Stimmen der einheimischen Frauen zu der heimatlichen Gemeinschaft gelockt.

Stimmgeste

der

S irenen

in

A utodafé

In Autodafé ist eine merkwürdige Inszenierung weiblicher Stimmen zu hören, die ein analoges Verhältnis zu den Sirenen und Odysseus bildet. Ihre Stimmen sind insofern denen der Sirenen analog, als die Verführungskraft nicht einfach auf die Sinnlichkeit, sondern vielmehr auf den Wunsch nach der eigenen Geschichte der Hörenden zurückzuführen ist. Die Geschichte wird durch eine geheimnisvolle Sprache einer geschlossenen Gemeinschaft erzählt, die die Geschichte ihrer Heimat spüren lässt. Obwohl sinnliche Musik und Körpergesten die Stimmen begleiten und somit Odysseus A verführen, sind die Stimmen an sich hier ohne sinnliche Faszination als schrilles Gekreisch inszeniert, wodurch die Gefahr der Stimmen evident wird. Im Loch wird die persönliche und offizielle Geschichte der Heimat ineinander gemischt erzählt. Darin sagen die schreienden Frauen eine lange Chronik des fiktiven Ortes »Wese« nacheinander auf. Ihre Stimmen klingen allzu diszipliniert, schrill und feurig wie eine fanatische PropagandaRede. Die Chronik ist scheinbar mit Zahlendaten plausibel formuliert und läuft ab und zu parallel zur realen Historie, indem sie parodierte Namen nennt; z. B. »Hamnibal« oder »Kathargo«: »66 von 143A, der zweite Pakt zwischen Dunja und Mertogo. In dem Monat 142-144C, Hamnibal Krieg, Dunja unterwirft Reichsstadt Ulda. Die Allianz von Kathargo löst sich 12 | Die Zitate aus »Autodafé« in diesem Beitrag wurden von der Verfasserin selbst unter Mitarbeit von Astrid Hackel übersetzt.

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auf. 4J von 331, der erste Konsul aus dem einfachen Volk in Dunja. Explosion der Freude von der anständigen Graswurzelbewegung. Vereinigung der Gewerkschaft auf dem Platz. Fähnchen schwenken […]«.

Die Chronik erzählt nicht nur »le grand récit«, sondern auch kleine Episoden, wie die Freude der namenlosen Menschen oder ihr Schwenken der Fähnchen. Die Geschichte, in die auch kleine Episoden eingeflochten sind, hat gar keine Kohärenz. Die inkohärente Heimatgeschichte zieht aber gerade Odysseus A an. Den schreienden Frauen nähert er sich und fragt sie nach seinem verlorenen Koffer, der sein einziger Besitz war: »Kennen Sie meinen Koffer?« Mit dem Koffer erreichte er die Heimat, aber bei der Lichtbestrahlung hat er diesen für ihn einzigen Besitz im Müllhaufen verloren. Odysseus A hört bald mit seinen Fragen auf und beginnt, seinen Körper dicht neben die Fremden zu legen, wobei er von einem zum anderen geht. Er scheint dabei zu versuchen, den Einzelnen persönlich zu hören und kennenzulernen. Eine Streichmusik, wie sie etwa in sentimentalen Szenen von Fernsehdramen benutzt wird, ertönt dann leise aus dem Lautsprecher. Wie eine Filmmusik aus dem Offscreen, die von einer mentalen Dimension der Szene herkommt (vgl. Chion 1994: 119 f.), ist die Musik als Ausdruck des Gefühls von Odysseus A zu hören. Indem die Musik sowohl in der Dynamik als auch emotional allmählich höher wogt, steigt er in das Loch hinab und versenkt sich in die Ausgrabungsarbeit. Ein französischer Theoretiker der Audio-Visualität im Film, Michel Chion, schlägt drei Fälle von emotionalen Effekten von Filmmusik vor: »musique empathique« (empathische Musik), »musique anempathique« (nicht empathische Musik) und »contrepoint didactique« (didaktischer Kontrapunkt) (Chion 1994: 122 f.). Der dritte bedeutet verfremdende Musik, die im Zuhörer/Zuschauer politisches Bewusstsein erregt, während der zweite nicht darauf abzielt, sondern durch die nicht empathische Musik die Empathie der Szene eher hervorhebt. Die Musik, die nun bei Odysseus A ertönt, klingt empathisch, aber durch die komische Chronik und die schrillen Stimmen der Frauen verfremdet. Während der sirenenhaften Rede nimmt Odysseus A aus dem Loch verschiedene Funde heraus und stellt sie an den Rand des Lochs. Es sind alltägliche, aber veraltete Geräte wie ein Ventilator, ein Plattenspieler, eine Tischlampe usw., die nicht direkt von der Stadtgeschichte sprechen, aber etwas von der früheren Zeit spüren lassen. Die Ausstellung der alten Sachen erweckt Assoziationen zur Dauerausstellung der Friedensmuseen in Nagasaki und Hiroshima, in denen beim Atombombenabwurf verstrahlte Gegenstände ausgestellt sind, die vor dem

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Ereignis­ im Alltag benutzt wurden.13 Die stummen Ausstellungsobjekte lassen einen das Ereignis wortlos erfühlen, während die Stimmen die Geschichte der Stadt laut herausschreien. An das Ende der Chronik schließt sich eine Frauenstimme an, die diszipliniert, grell aber monoton eine persönliche Episode vorträgt: »Flüchten Sie bitte, flüchten Sie bitte, sagte der Lautsprecher und ich ging raus. Die Luft draußen war wie immer, aber genau betrachtet, funkelte sie. Vielleicht entzündete sich der Dokumentarfilm, den ich danach gesehen habe, weil er auf Radioaktivität reagierte. Dann wurde ich damals also selbst in einen künftigen Dokumentarfilm geritzt? Das ist ein Beweis der Wissensfähigkeit Weses! Es lebe Ursenko!14 Aber ich war real und muss es jetzt auch sein. Der Lautsprecher donnert, alle sollen in Busse einsteigen, um wegzukommen. Damals war ich 4 Jahre alt. Seitdem war ich noch nie hierher zurückgekehrt. Hunderte von Bussen in einer langen Reihe nach Mordeaux15 mit hoher Geschwindigkeit. Einen Tag vor der großen Flucht gab es eine Hochzeit im Nachbarhaus. Der Schleier der Braut folgte unseren Bussen, die durch den Himmel die Stadt verließen, lang wie die Ewigkeit. Sayonara,16 unsere Stadt und meine Braut! rief mein Papa und daran erinnere ich mich ganz genau. Der weiße, klare Schleier, im Wind, er war wie der Schrei meines Papas. Sayonara, unsere Stadt und meine Braut! Komischerweise sah ich, zum ersten Mal, mit eigenen Augen die Existenz einer Stimme schlechthin«.17

Das »Ich«, das Subjekt dieser Sätze, ist auf Japanisch boku (僕), das ein männliches, und meistens junges »Ich« bedeutet. Die Geschichte kann also nicht von der erzählenden Frau stammen, sondern von jemandem, der anscheinend als Kleinkind seine Heimatstadt verlassen hat. Bei den Worten »daran erinnere ich mich ganz 13 | Die spätere Installationsperformanz von Marebito no kai »Hiroshima/Hapcheon« (2010) wurde nach dem Konzept des Friedensmuseums inszeniert. 14 | Eine fiktive Person im Text, deren Name russisch klingt. 15 | Ein fiktives Land im Text, dessen Name französisch klingt. 16 | Sayonara ist ein Grußwort zum Abschied auf Japanisch. Oft übersetzt mit »Auf Wiedersehen«, obwohl es oft auch die Bedeutung eines endgültigen »Lebe wohl« (im Sinne von »Auf Nimmerwiedersehen«) mit einschließt. 17 | Matsuda 2006. Die Stelle deutet den Unfall des Kernkraftwerks in Tschernobyl an, die Matsuda für den Fernseh-Dokumentarfilm »CAMOCER« (Television Nishi-nippon Corporation, 2005) besucht hat. Bei dem Dokumentarfilm geht es um die ehemaligen Bewohner, die wegen des Unfalls ihre Heimat verlassen mussten oder trotz des staatlichen Eintrittsverbots in ihre kontaminierte Heimat zurückgekommen sind. Die Zurückgekommenen heißen auf Russisch »CAMOCER (Samosjoly oder Samosely)«: Die außerhalb der staatlichen Kontrolle sich selbst Ansiedelnden.

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genau« beginnt die Stimme der Frau zu beben. Sie presst die Stimme fast quälerisch heraus, während sie immer noch eher automatisch als menschlich klingt, denn sie bringt ihre Stimme weder psychologisch noch »wie es der Sinn jedes Satzes selbst verlangt« (Goethe 1977: 77; vgl. auch Fischer-Lichte 2002: 220) hervor. Durch die Stimminszenierung widersetzt Matsuda sich der poetischen Schönheit seiner Texte und dem leidenschaftlichen Heimweh, in das nun Odysseus A auch gerät. Die Stimme verwandelt sich am Ende nahezu in ein schmerzhaftes Stöhnen. Hier entblößt die Stimme ihren Zustand, in dem ein automatisches Handeln und ein Affekt verschmelzen. Die Qual, die in der Körperlichkeit der Stimme zu vernehmen ist, verwischt hier nicht den Inhalt des Gesagten, sondern drückt ihn eher verstärkt aus, indem sich die Stimme allerdings entsetzlich verfremdet: Das Schauspiel zeigt mit Verfremdung eine pathetische Frauenfigur. Die sirenenhaft gespielten Frauen sind also keine boshaften Monster, die jenseits unseres Verständnisses leben, sondern funktionieren in den gespielten »Aufschreibesystemen«, die sie sirenenhaft handeln lassen. Odysseus setzt unter der Stimme seine Ausgrabungsarbeit in dem Loch fort, als ob er glauben würde, dort etwas Eigenes finden zu können. Die sirenenhaften Frauen schreien nicht nur die Geschichte, sondern auch eine Sprache, die aber Odysseus A nicht verstehen kann. Eine Frau lehrt Odysseus A die geheimnisvolle Sprache und verführt ihn damit in ihre Gemeinschaft: Zu einer spanischen Tanzmusik aus den Zwanzigerjahren nähert sich ihm tanzend eine der Frauen und verführt ihn dazu, mit ihr zusammen zu tanzen. In dem Moment, in dem die Tanzmusik zu klingen beginnt, steigt ein männlicher »Heimischer« auf eine schwarze Säule. Die Säule wird nach einem italienischen Missionar, Camillo Costanzo, benannt, der als Märtyrer in der Zeit der Verfolgung (1622) in Nagasaki verbrannt wurde.18 Die Anhänger stützen die Säule, damit sie aufrecht stehen kann. Deren Aussehen und das Handeln der Heimischen assoziieren einen Phallus, der in einer patriarchalischen Gemeinschaft die Heimatkultur erhält. Die Musik aus einem Lautsprecher geht dann in die Märtyrergeschichte des Missionars über, wobei eine Frau den Märtyrer spielt, indem sie seine von der Hitze des Feuertodes gequälte Stimme mit europäischem Akzent 18 | Der Missionar im Text »Autodafé«, Camillo Costanzo, starb als Märtyrer auch in der Zeit der Verfolgung (1622). Bis 1865, also fast 250 Jahre lang, bewahrten die japanischen Christen heimlich ihren Glauben ohne unmittelbare Verbindung mit der römisch-katholischen Kirche. Nicht zuletzt wurde dadurch der Glaube so stark japanisiert, dass manche Anhänger sich nicht mehr mit dem europäischen Christentum identifizierten und sich auch nach der Legalisierung des Glaubens nicht zum katholischen Christentum bekannten. Für die großen Veränderungen lassen sich viele Beispiele von mit dem Buddhismus oder dem Shintoismus gemischten Riten nennen, dazu japanisierte Altargemälde und Oratorien (Orasho); vgl. Miyazaki 1996.

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nachahmt. In ihrer Stimme kann eine mystische Kommunion einer fremden und einer heimischen (hier japanischen) Sprache vernommen werden, was allerdings mit Komik dargestellt ist und keine Einfühlung der Zuhörer erlaubt. Dazu tönt eine ruhige Orgelmusik. In diesen rituellen Musiktönen grüßt eine Frau Odysseus A stumm mit einer Hand. Darauf antwortet er auch gestisch. Die Frau zieht ihren langen Rock in einem Atemzug bis zu den Knien hoch. Odysseus A zieht auch seine Hose hoch. Die Geste ist zwar nicht direkt erotisch, zeigt aber andeutungsweise eine obszöne Komik. Sie wiederholen die Geste zweimal. Dann läuft die Frau ein paar Schritte weiter. Nachdem sie die Hände neben ihr Gesicht hebend verlockend posiert, beginnt erneut eine andere spanische Tanzmusik. Von der Musik begleitet, nähert sich die Frau tanzend Odysseus A. Auch andere Frauen beginnen, Männern Schritt für Schritt zu folgen. Anfangs stoßen die Männer die Frauen ab, aber später empfangen und umarmen sie die Frauen. Odysseus A beginnt auch nach der Frau, die ihn lockt, zu tanzen. Die Musik bricht ab. Dabei schreit die Frau Odysseus A mit jenen Worten an, die sie auch in der Anfangsszene verwendet hat. Er versucht, die Worte zu wiederholen, aber es fällt ihm schwer, weil sie ihm so unbekannt wie ein Zauberwort klingen: »Gururiyōza, domino...«. Das Orasho dürfen eigentlich nur Männer lernen. Jedoch lässt es der Regisseur Matsuda eine Frau Odysseus A lehren. Odysseus A versucht, die heiligen Worte »Gururiyōza…« zu wiederholen und auswendig zu lernen, aber sie sind ihm so fremd, dass er sie nur stottern kann. Nun benimmt er sich wie ein verführter Mann bei einer Frau und gleichzeitig wie ein lernendes Kleinkind bei seiner Mutter. In diesem Sinn wird das Orasho hier als eine Muttersprache gesungen, die innerhalb einer Gemeinschaft bzw. Gemeinde gesprochen wird. Die Verführung jener Frauen vermittelt die »heiligen« Worte zum patriarchalischen Ritual, die einen geschlossenen Kulturraum bilden, obwohl und eben weil die Worte aus der Ferne – Spanien hinter dem Ozean und dem Himmel im Jenseits – hergeholt sind. Die ganze Gemeinde, sowohl Frauen als auch Männer, umringen nun Odysseus A und singen vor ihm ihre heiligen Worte, die mit einer japanisierten europäischen Melodie gesungen werden. Sowohl ihr Klang als auch ihre Bedeutung sind Odysseus A fremd, denn das Original des japanisierten Oratoriums stammt aus Spanien. Die Kultur der Hafenstadt Nagasaki – von der Geschichte, von Stadtbildern bis zur Esskultur – ist allerdings eben von ausländischen Einflüssen in der Zeit, in der der Ort eine wichtige Rolle als Hafenstadt spielte, geprägt.19 Nagasaki­ 19 | Es ist auch merkwürdig, dass die Dauerausstellung des Nagasaki Rekishi Bunka Hakubutsukan [Nagasaki Museum of History and Culture] erst mit der Begegnung mit europäischen Schiffen beginnt. Die Perspektive der Ausstellung in diesem Museum ist nicht die der einheimischen Bewohner, sondern die der japanischen Regierung.

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wird gemeinhin mit Kulturen von damaligen ausländischen Handelspartnern wie Spanien, Portugal, Holland und China identifiziert und unterscheidet sich dadurch von den sonstigen japanischen Kulturgebieten. Das Fremden-Zuhören verwandelt sich durch den Sirenen-Effekt in das Sich-Selbst-Zuhören. Und die mütterliche Willkommenheißung verwandelt hier eine fremde Welt nicht nur in eine intime Welt des hörenden Subjekts selbst, sondern auch in mythischer Kommunion in eine intime Welt der Gemeinschaft.

U nsichtbare F otografie ,

nicht zu hörende

Stimme

Die Sirenenstimmen schlingen sich hartnäckig um Odysseus A, indem sie sich in verschiedenen Motiven der gemeinschaftlichen Zentripetalkraft wiederholt zeigen: in geschrienen Geschichten, in spanischer Tanzmusik, in einem Oratorium der verborgenen Christen usw. Dabei sucht Odysseus A seinen Koffer, seinen einzigen Besitz, der ihm zugleich auch eine Reise ermöglicht. Am Ende der Aufführung, nachdem er seinen verlorenen Koffer gefunden hat, stößt er die Stimmen ab, die ihn verlocken und scheinbar seine eigene Heimatgeschichte erzählen, aber ihm letztlich keine Hinweise für seine Suche gegeben haben. Er findet dazu auch das Buch der Geschichte der Heimat, das er von seinem Alter Ego erhalten hat. Aber die Schrift des Buchs wurde durch Übertragungsfehler korrumpiert, sodass nur noch unsinnige Codezeichen zu sehen sind. Es ist genauso wie das Orasho, das während der Übertragung und Überlieferung nicht mehr verständlich wurde, aber dessen rituelle Kraft aufbewahrt wurde. Odysseus A, der sich nun irregeführt findet, wirft das Buch weg und reißt sich von den verführenden Frauen los. Er zieht einen eigenen Anzug an und geht auf die Reise. Odysseus A fragt dann nach dem Foto seiner Eltern, »Kennen Sie das Foto meiner Eltern?«, weil er es nicht in seinem Koffer gefunden hat. In dieser Inszenierung steht das verlorene, bis zum Ende nicht gefundene Foto im unübersehbaren Gegensatz zu der redseligen Geschichtenerzählung. Die Geschichte, die durch die geheime Sprache geschrieben wird, weist nichts von den Eltern von Odysseus A auf, obwohl von dieser Geschichte viel gesprochen und sogar laut geschrien wird. Die unendlichen Geschichtenerzählungen bringen aber Odysseus A nichts, der auf der Suche nach seiner Heimat ist. Roland Barthes hält in seinem Buch über die Fotographie Die helle Kammer ein Foto seiner gestorbenen Mutter für seinen Ariadnefaden, beschreibt es und erzählt viel von dem Foto, aber zeigt es niemals in dem Buch, denn er wusste, dass es keinen Sinn hat, das Foto, das nur für ihn wichtig und besonders ist, anderen zu zeigen.

342 Mariko Harigai »(Ich kann das PHOTO aus dem Wintergarten nicht zeigen. Es existiert ausschließlich für mich. Für Sie wäre es nichts als ein belangloses Photo, eine der tausend Manifestationen des absolut beliebigen »Gegenstands überhaupt«; es kann auf keine Weise das sichtbare Objekt einer Wissenschaft darstellen; es kann keine Objektivität im positiven Sinn des Begriffs begründen; bestenfalls würde es für Ihr studium von Interesse sein: Epoche, Kleidung, Photogenität; doch verletzten würde es Sie nicht im mindesten)« (Barthes 1989: 83).

Odysseus A sucht am Ende statt seines Koffers jene Fotografie, die in dem Koffer fehlt. Der gesuchte Koffer symbolisiert die Subjektivität von Odysseus A, aber in dem Inhalt fehlt noch die Fotografie, die weder gefunden noch gezeigt werden kann. Eine solche persönliche Beziehung mit den Personen auf der Fotografie kann nicht sozial – geschweige denn politisch – anerkannt werden. Die – sirenenhafte und mütterliche – zentripetale Anziehungskraft, durch die das Subjekt gebildet wird, bildet hier trotzdem in einer mystischen Kommunion nicht nur das Subjekt, sondern auch die ganze Gemeinschaft. Denn das hörend gebildete Subjekt eignet sich auch die gehörten Stimmen an, die von der Ferne sprechen. Und die Zentripetalkraft unterschlägt sowohl das Subjekt als auch die Gemeinschaft. Kritisiert wird hier also weder die Tradition der verborgenen Christen an sich noch das Leiden der Opfer an der Radioaktivität selbst, sondern die Problematik der Struktur der Subjekts- und Gemeinschaftsbildung durch das ungestüme Pathos. Am Ende geht Odysseus A hinter die unsortierten Müllhaufen außerhalb der Bühne, nämlich seines Heimatorts, und verschwindet ins Dunkel. Die anderen Heimischen murmeln Fragmente aus den verschiedenen Geschichten. Über dem Murmeln auf der Bühne tönt währenddessen eine technisch aufgezeichnete Stimme, die die persönliche Geschichte des Jungen völlig monoton wiederholt. Die elektronische Stimme erinnert an die »Kassettenrekorder-Kamera«, mit der der Müllsammler in einem komischen Ritual die Bestrahlung in der Heimat aufgenommen hat. In diesem Murmeln kommt Odysseus A leblos auf dem Wagen des Müllsammlers zurück. Und nur diese monotone Stimme aus dem Lautsprecher bleibt: »Einen Tag vor der großen Flucht gab es eine Hochzeit im Nachbarhaus. Der Schleier der Braut folgte unseren Bussen, die durch den Himmel die Stadt verließen, lang wie die Ewigkeit. Sayonara, unsere Stadt und meine Braut! Komischerweise sah ich, zum ersten Mal, mit eigenen Augen die Existenz einer Stimme schlechthin«.

In der wiederholten Erzählung ist ein weißer, fliegender Schleier der Braut des Nachbarn mit der Stimme seines Vaters identifiziert: »Der weiße, klare Schleier im Wind, er war wie der Schrei meines Papas«.

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Der farblose Schleier, der schon vom Kopf der Braut weggeflogen ist, schwebt formlos im Wind. Obwohl es nicht die Braut des Vaters, sondern des Nachbarn ist, eignet sie sich der Vater in seinem Schrei an. Obwohl der Vater mit dem Wort »Sayonara« von »unsere[r] Stadt und [seiner] Braut« Abschied nimmt, folgt ihre Spur dem davonfahrenden Vater und Kind »wie in die Ewigkeit«. Somit wird hier im Gegensatz zu der Fotografie der Eltern die Stimme des Vaters beschrieben. Während die Fotografie hier nur gesucht wird und die Zuschauer keine Information darüber haben können, ist die Identität der Stimme durch die erzählten Informationen völlig verwirrt: Die Stimme spricht in der Pluralform und der Sprecher eignet sich ein Liebesverhältnis zwischen einem Nachbarn und dessen Braut an, das tatsächlich unverwechselbar persönlich sein muss. Wie das Gesicht der Eltern auf der Fotografie hier nicht gezeigt wird, ist allerdings die Stimme des Vaters auch nicht zu hören. Sie wird nur automatisch und monoton wiedergegeben. Die Eigenartigkeit der erzählten Stimme kann nicht überliefert werden. Nach der Erzählung kriechen die Anderen wieder in das Loch hinein. Dann wird Odysseus A von einem unheimlichen Müllsammler in die Grube – ins chaotisch gestapelte Gedächtnis der Stadt – geworfen. Oder anders gesehen, mit den Anderen zusammen begraben. Aber in dem Loch auferstehen sie wieder. Unter dem Riesenstein, der nun in einem dunkelroten Licht glüht und gleichzeitig wie ein Grabstein und Grabdeckel aussieht, heben sie gespenstisch leise ihre rechte Hand hoch, als ob sie jemanden ansprechen wollten. In dieser Szene ist Autodafé zu sehen, wobei das Ereignis selbst verbrannt wird, aber seine Spur doch noch hinterlässt. Der Müll tragende »Kameramann« nimmt sie mit seiner »Kassettenrekorder-Kamera« auf. Dann wendet er die audiovisuelle »Kamera« auch zu den Zuschauern/Zuhörern hin. Allmählich verschwindet das glühende Licht und im Dunkel hört man nur das Knarren der Schubkarre des Müllträgers – des ironischen Archivisten. Die persönliche Geschichte wird in der Gemeinschaft und von einer fremden Maschine weitererzählt. Die Stimme wird durch die körperlose Maschine wiedergegeben. Wiederholt wird nicht das Ereignis selbst, sondern nur Erzählungen und Bilder, die das Ereignis spüren lassen können. Odysseus A, der auf der Suche nach seinen Eltern Heimkehrende und Reisende, wird mit Trödel und anderen Menschen ins Loch des Gedächtnisses eingegraben, auf dass sie einst ausgegraben würden. Ihre Geschichten würden somit in Zukunft wiederholt. Es bleibt aber offen, ob die Stimmen der Wiedergabe ihre Geschichten vollenden oder ihnen ein Nachleben verleihen.

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K ulturkontak t

in

Stimmen

In der Stimminszenierung von Matsudas »Autodafé« sind zwei unterschiedliche Stimmen zu finden, in denen der ephemere Körper mit der sprachlichen Kultur jeweils anders kontaktiert: sirenenhaft dargestellte Stimmen der gemeinschaftlichen Heimatgeschichte und die nicht dargestellte Stimme in der persönlichen Erinnerung. Jene bildet in einem Körper ein hörendes Subjekt und konserviert es in einer geschlossenen sprachlichen Kultur, während diese sich nicht mehr einfach weiter hören, sondern nur in der Erzählung spüren lässt. Diese Stimme ist einmalig und flüchtig, aber ihre Existenz wird nur noch in jener automatischen Wiederholung gespürt und bildet dadurch auch einen Teil einer Kultur, obwohl da die Gefahr der automatischen Reproduktion und Konservierung besteht, die das einmalige, unverwechselbar persönliche Ereignis des Hörens unterschlägt. In der nicht dargestellten Stimme wird klar gezeigt, dass darin das einmalige Dasein der Körper des Sprechers und des Hörers entflieht, aber das in der Sprache doch noch gespürt wird, indem sie in einem anderen (leblosen) Körper dargestellt werden, der wiederum entflieht und nur seine Spur hinterlässt. Der hier gezeigte Kulturkontakt in Stimmen heißt nicht nur die Konservierung einer Kultur in einer gemeinschaftlichen Sprache und den in die »Aufschreibesysteme« verschlungenen Körpern, sondern auch das feinste, einander immer nur streifende, lose Geflecht zwischen dem ephemeren Körper und der Sprache. Indem Matsuda die Auflösung der schönen Einheit zwischen seinem Theatertext und dem Körper der Schauspieler in einer körperlosen Automatenstimme inszeniert, zeigt er in tragikomischer Weise das delikate Geflecht des unverfügbaren Kulturkontakts.

L iteratur Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer, aus dem Französischen, Frankfurt a. M. Chion, Michel (1994): Le son au Cinema, Paris. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. Freud, Sigmund (2008): »Das Unheimliche«, in: Ders.: Der Moses des Michel­ angelo. Schriften über Kunst und Künstler, Frankfurt a. M., S. 135-172. Goethe, Johann Wolfgang von (1977): »Regeln für Schauspieler«, in: Ders.: Sämtliche Werke, Zürich. Hirata, Eiichiro (2009): »Der offene Theatertext bei japanischen Dramatikern«, in: Eiichiro Hirata/Hans-Thies Lehmann (Hg.): Theater in Japan, Berlin, S.  100-108. Homer (2010): Odyssee, Stuttgart.

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Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno (31972 [1969]): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 3. Aufl., Frankfurt a. M. Kittler, Friedrich (2003): Aufschreibesysteme 1800-1900, München. Kolesch, Doris/Jenny Schrödel (2004): »Einleitung«, in: Dies.: Kunst-Stimmen, Berlin, S. 9-11. Kolesch, Doris/Sybille Krämer (2006): »Stimmen im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band«, in: Doris Kolesch/Sybille Krämer (Hg.): Stimme, Frankfurt a. M., S. 7-15. Krämer, Sybille (2008): »Medien, Boten, Spuren. Wenig mehr als ein Literaturbericht«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a. M., S. 65-90. Kuba, Alexander (2005): »Geste/Gestus«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/ Mattias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, S. 129-136. Matsuda, Masataka (2006): Libretto von Autodafé, Besitz der Theatergruppe »Marebito no kai«. Miyazaki, Kentarō (1996): Kakure kirishitan no shinkō sekai [Die Welt des Glaubens der verborgenen Christen], Tōkyō. Sloterdijk, Peter (1998): Sphären 1, Frankfurt a. M. Sloterdijk, Peter (2007): »La musique retrouvée«, in: Ders.: Der ästhetische Imperativ, Hamburg, S. 8-28. Tomatis, Alfred (1994): Klangwelt Mutterleib. Die Anfänge der Kommunikation zwischen Mutter und Kind, München.

Rhythmus im Theater als Transitraum - Idiorrhythmie bei Laurent Chétouane und Alain Platel Mai Miyake

1. Theater als U nterbrechung /Verfremdung ‒ Kultur im Theater? Kann das Gegenwartstheater die Frage der Kultur verhandeln? Um dies zu beantworten, muss man zunächst einmal klären, was Theater von heute überhaupt vollbringt und was für ein Prozess es ist. Theater, vor allem Gegenwartstheater, ist ein Verhalten, nämlich das, Ereignisse, Begriffe und Regeln, denen wir im Alltag unbewusst oder zumindest ohne Reflexion begegnen, unter einem neuen Aspekt sehen und vor allem spüren zu lassen. Das sogenannte »Postdramatische Theater« ‒ ein Begriff, den der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann am Ende des letzten Jahrhunderts vorgeschlagen hat ‒ lässt sich verstehen als eine neue, vielgestaltige theatrale Diskursform, die »im Zuge der Verbreitung und dann Allgegenwart der Medien im Alltagsleben seit den 1970er Jahren« (Lehmann 1999: 22 f.) aufzutreten begann. Es ist ein Theater, »das sich veranlaßt sieht, jenseits des Dramas zu operieren, in einer Zeit ›nach‹ der Geltung des Paradigmas Drama im Theater« (ebd.: 30).1 Postdramatisches Theater, in dem der Schwerpunkt mehr auf die »szenische Dynamik« (ebd.: 113) wie Körperlichkeit, Stimme, Räumlichkeit, Collage der visuellen Elemente oder Benutzung der Medien gelegt wird, bedeutet die Abweichung vom linearen Fluss der Handlung und die Befreiung vom Logozentrismus. Heute betrachtet man die theatrale Praxis tendenziell nicht mehr als einen Ort, der der rein diskursiven Übermittlung dient oder als solcher konzipiert ist. Nach Lehmann ist Theater heute eben nicht mehr das Medium, das uns bestimmte politische und soziale Behauptungen übermittelt, sondern ein Verhalten, das Politische in Frage zu stellen. Demnach besteht die Funktion des Theaters in der »Unterbrechung des Politischen«. »Politisch ist, so sagt man seit der Antike, so wiederholt es beispielsweise Julia Kristeva in Politique de la littérature, was - von der Sprache bis zu Gesetzen, Rechten und Pflichten 1 | Als typische Merkmale des postdramatischen Theaters nennt Lehmann beispielsweise »Fragmentierung der Narration, Stil-Heterogenität, hypernaturalistische, groteske und neoexpressionistische Elemente« (Lehmann 1999: 26).

348 Mai Miyake - ein gemeinsames Maß gibt, eine Regel, die Gemeinsamkeit konstituiert, ein Regelfeld für potentiellen Konsens. Trifft das zu, so wäre politisches Theater als eine Praxis gerade nicht der Regel, sondern der Ausnahme zu verstehen. Nur die Ausnahme, die Unterbrechung des Regelhaften gibt die Regel zu sehen und verleiht ihr wieder, wenn auch indirekt, den in der fortdauernden Pragmatik ihrer Anwendung vergessenen Charakter radikaler Fragwürdigkeit […]« (Lehmann 2011: 35).

Wenn theatrale Praxis Unterbrechung unserer üblichen Regeln oder ihre Verfremdung ist, wie Lehmann unterstreicht, dann können wir die Kultur in der theatralen Praxis nicht im üblichen Kontext verhandeln. Seitdem Deutschland gegen die Invasion Napoleons am Anfang des 19. Jahrhunderts sein nationalistisches Bewusstsein entdeckt und einer neuen »Kultur«Idee eine Repräsentationsfunktion verliehen hat, die für die eigentümliche Tradition und historische Aufgabe der Nation sprechen sollte - so wie sich Frankreich und andere westeuropäische Staaten mit der Idee der Zivilisation darum bemüht haben −, hat sich der Begriff der Kultur, der bisher als ›cultura animi‹ die Bestrebungen für die geistliche Vervollkommnung der einzelnen Menschen durch Ausbildung bedeutet hatte, zum Nationalistischen verändert. Auch heute benutzt man das Wort ›Kultur‹ im Zusammenhang von nationalen/gemeinschaftlichen Eigenschaften, aus kulturpolitischem Interesse (wenn auch nicht unbedingt nationalistisch). Andererseits hatte der emphatische und/oder inflationäre Kulturbegriff auch eine produktive Seite. So wurden die Lebensformen der außereuropäischen Völker und Stämme seit der Ausbildung der amerikanischen Kulturanthropologie im 19. Jahrhundert untersucht; auch an anregenden soziologischen Betrachtungen hat es nicht gefehlt (vgl. z. B. die Untersuchungen von Georg Simmel oder Max Weber). ›Kultur‹ bezeichnet zudem rein deskriptiv einheitliche Lebensstile sozialer Gruppen. Auf jeden Fall kann man sagen, dass der Kultur-Begriff für gewöhnlich von Akten des Kategorisierens, Klassifizierens, Unterscheidens sowie des Ein- und Ausgrenzens begleitet wird. Man neigt dazu, zu einem bestimmten Kollektiv gehören zu wollen, und man fühlt sich behaglich, wenn die eigene Gemeinschaft eine gewisse Stabilität zeigt. Man glaubt, dass die einzelnen Gemeinschaften voneinander zu unterscheiden und miteinander zu vergleichen sind, weil sie beständige Merkmale aufzuweisen scheinen. Aber in der heutigen Theaterpraxis sehen wir Kulturen in solchem Sinne sehr selten. Die folgenden Überlegungen sind ein Versuch, Theateraufführungen mit einer anderen Idee von Kultur im Hinblick auf Rhythmus zu analysieren. Deswegen wird das Wort ›Kultur‹ oder ›kulturell‹ hier nicht im Sinne von Nationalidentität gebraucht − also nicht etwa im Sinne von ›deutsch‹ oder ›japanisch‹. Die theatralen Elemente sind als Erscheinung der Kultur zu begreifen, die man nicht mit der Nationalität identifizieren kann.

Rhythmus im Theater als Transitraum 349

In der Kulturwissenschaft selbst wird auch argumentiert, dass man überhaupt von der Kultur nicht sprechen kann. Der Komparatist und Literaturtheoretiker Werner Hamacher begründet diese Position in seinem Aufsatz »Heterautonomien­ − One 2 Many Multiculturalisms − « wie folgt: Kultur sei ein Versuch, den Anderen zu erreichen, und deswegen sei Kultur immer das Werdende. Zugleich aber erreiche Kultur kein Ziel: Kultur bleibe nie etwas, sei nichts Statisches. Um mit Hamacher zu sprechen: »Keine Kultur ist die Kultur, keine ist Kultur überhaupt, jede versagt vor ihrem Anspruch, Kultur zu sein« (Hamacher 2003: 157). Kultur wird verändert und vermehrt. Und deshalb kann man Kultur nicht als ein Objekt definieren: »Kultur kennt [...] keinen objektiven Standard und keinen, der sich anmaßen dürfte, ihn zu repräsentieren. Kultur ist das Tabu darüber, urteilend von ihr zu sprechen. Über Kultur spricht man nicht − das ist ihre Definition und ihre Selbstdefinition −: Aber über Kultur spricht man nicht deshalb nicht, weil man sie etwa, wie dieser Satz da und dort fortgesetzt worden ist, hätte, sondern weil sie selbst es ist, die spricht, und weil es nicht möglich ist − freilich auch nicht zu verhindern −, dass man über das Sprechen spricht, ohne eben damit schon von etwas anderem zu sprechen. [...] Kultur ist kein Objekt, sie ist unsere Weise, sprechend und handelnd mit uns und anderen da zu sein und dabei allen ObjektFixierungen zu entgleiten« (ebd.: 159).

Man kann nicht über die Kultur an sich sprechen, sondern nur über einzelne Merkmale oder Ereignisse, die nur flüchtig in der stets werdenden Kultur erscheinen. Deswegen sollte man die von mir angeführten Beispiele nicht bestimmten Kulturräumen zurechnen. Wie verhält es sich nun mit dem Theaterraum von heute? Der Theaterwissenschaftler Günther Heeg begreift den Theaterraum in der globalisierten Gegenwart als transkulturellen »Transitraum«. Demnach haben wir es in einer globalisierten Gesellschaft nicht etwa mit einer verschmelzenden, Unterschiede harmonisch vereinbarenden Welt zu tun, sondern mit Schwierigkeiten infolge von »kulturellen Bruchzonen«. Bruchzonen entstehen, wenn geschlossene kulturelle Räume mit selbstverständlichen kulturellen Prinzipien und Identitäten durch die Begegnung mit anderen Prinzipien und Identitäten aufgebrochen werden. Will man solche Bruchzonen überwinden, ist eine soziale Gemeinschaft im Allgemeinen, eine Nationalkultur im Besonderen, das heißt jeglicher Raum, der eine bestimmte Ideologie symbolisiert, keine taugliche Kategorie. Gültig und wirksam in der heutigen Situation ist vielmehr der »mediale Transitraum« (Heeg 2008: 50). Das Adjektiv ›medial‹ hier lässt sich auf den Begriff des Mediums als ›reines Mittel ohne Zweck‹ bei Walter Benjamin zurückführen.2 Wenn wir eine 2 | Vgl. Benjamin 1977: 140-157.

350 Mai Miyake

Flugreise machen­, bedeutet der Transit normalerweise den Ort zwischen dem Abfahrtspunkt und dem Ziel, wo wir für eine kurze Weile bleiben, um später den Weg fortzusetzen. Aber nach Heeg haben mediale Transiträume − oder hier theatrale Transiträume − kein Ziel: »Mediale Transiträume sind keine geschlossenen Räume. Sie sind ›reiner‹ Transit, ›reines‹ Dazwischen ohne Woher und Wohin, ohne ontologisches Fundament. Die einzige Existenzweise, die zu dieser Beschreibung paßt, ist die der Unterbrechung. [...] [Mediale Transiträume] unterbrechen die Identifikation mit dem symbolischen kulturellen Raum der Nation oder dem eines politischen Lagers. Diese Erschütterung setzt jedwede kollektive kulturelle Identität außer Kraft« (ebd.).

Theaterraum als Transitraum stellt den Begriff jeder kollektiven kulturellen Identität in Frage und provoziert, indem er Situationen dieser Infragestellung inszeniert.

2. Veränderlichkeit

und

P luralität

des

R hy thmus

Mit den oben geklärten Voraussetzungen für unsere Überlegungen lässt sich nun der Rhythmus im Theater diskutieren. Als besonderes Merkmal des Gegenwartstheaters wird in der Theaterwissenschaft oft eine Musikalisierung der Aufführung genannt.3 Das ist eine wichtige Tendenz, nicht nur in dem Sinne, dass Musik selbst in der Aufführung mehr und mehr in den Vordergrund tritt. Musikalisierung der Aufführung heißt vielmehr, wie Lehmann aufweist, dass auch theatrale Elemente außer der Musik in der Aufführung wie musikalische Elemente behandelt werden ‒ z. B. werden die gesprochene Rede des Schauspielers, seine Gesten oder die Konstruktion der Aufführung wie musikalische Elemente bearbeitet und geordnet.4 Diese Tendenz kann man auch als Rhythmisierung der Elemente verstehen − wenn z. B. die Struktur der Rede zuerst dekonstruiert und danach mehr auf Rhythmen achtend als auf seine inhaltlichen Bedeutungen hin gesprochen wird, oder wenn Schauspieler rhythmisch gestikulieren. Im Gegenwartstheater werden viele Elemente (nicht nur akustische) rhythmisiert. Berücksichtigt man diese Tendenz, so scheint es für Theater und Theaterwissenschaft sinnvoll, die Merkmale der Rhythmisierung in verschiedenen Aufführungen ausführlich zu analysieren. Aber zuerst ist der Unterschied zwischen der bisherigen Definition des Rhythmus und dessen gegenwärtiger Interpretation zu erklären. Danach 3 | Vgl. Roesner 2003. 4 | Vgl. Lehmann 1999: 155-158.

Rhythmus im Theater als Transitraum 351

werden die Idee der Kultur und des Rhythmus bei Roland Barthes vorgestellt, um zwei theatrale Beispiele zu analysieren. Rhythmus ist nicht immer nur ein musikalisches Phänomen. Rhythmus ist eine Bewegung überhaupt, etwas Dynamisches. Der Philosoph Dieter Mersch schreibt in seinem Aufsatz über Rhythmus, dass dieser, anders als die Melodie, weniger gehört als gefühlt oder gespürt werde (vgl. Mersch 2005: 41). Rhythmus hören wir nicht nur mit unseren Ohren, wir spüren ihn mit unserem gesamten Körper. Derartige Wahrnehmung des Rhythmus beruht auf der Intermodalität des Rhythmus. Der Theaterwissenschaftler Patrick Primavesi unterstreicht die Wichtigkeit der Spannung zwischen Hörbarkeit und Sichtbarkeit des Rhythmus; er führt sie auf den Begriff der Synästhesie zurück, den beispielsweise Bernhard Waldenfels in einem Band der Studien zur Phänomenologie des Fremden untersucht hat (vgl. Primavesi 2005: 250 ff.). Synästhesie ist eine in unserem Alltag häufig vorkommende Wahrnehmungsweise, aber im radikalen Fall bewirkt sie in uns manchmal ein ungewöhnliches Gefühl. Gerade diese Synästhesie hilft uns, die akustischen Darstellungen z. B. der Musik und die visuellen z. B. der Gesten gleichermaßen als Rhythmen zu empfinden. Mit den Worten von Bernhard Waldenfels: Synästhesie bedeutet nach dem Wortsinn »Mitwahrnehmung oder Mitempfinden. Es gehört zur gewöhnlichen Erfahrung, daß wir in der aktuellen Wahrnehmung vieles mit wahrnehmen, was nur mit anderen Sinnen selbst wahrgenommen oder empfunden werden könnte« (Waldenfels 1999: 58). Diese Wahrnehmung ist in diesem Sinne als »ko-modal« zu beschreiben. Aber es gibt doch besondere Fälle, in denen die Synästhesie als »ein heteromodales Wahrnehmen oder Empfinden« fungiert, »daß wir Farben hören und umgekehrt Klänge Farben annehmen, daß das Bellen eines Hundes die Beleuchtung durcheinanderbringt oder daß der Geschmack einer Speise sich kugelförmig ausnimmt« (ebd.: 58). Wir drücken viele Sachverhalte in dieser Wahrnehmungsweise aus, wenn wir »von hellen und dunklen Tönen, von einem tiefen Blau oder einem hohen Sopran, von Klangfarben, einem schreienden Gelb, einer Samtstimme, einer rauhen Stimme oder einem süßlichen Rosa« sprechen; »intermodale Qualitäten« (ebd.) wie Intensität, Helligkeit oder Dichte, die wir bei diesen Ausdrücken verwenden, gehen dabei durch die Sinnessphären hindurch. Die Gegenstände des Wahrnehmens wie Töne und Farben, die wir scheinbar im Einzelnen empfinden, verschaffen uns auch Eindrücke einer wechselseitigen Assoziation.5 Dies nicht, weil wir 5 | Bekanntlich verbindet Arthur Rimbaud (1854-1891) in seinem Gedicht Le Sonnet des Voyelles einzelne Vokale mit bestimmten Farben. Die Kombination der wechselseitig assoziierten Eindrücke können aber je nach den Wahrnehmenden variieren: In der Musik zum Beispiel hat Alexander Skrjabin (1872-1915) bei seiner Kombinierung von Tonskalen und Farben »C-Dur« als »rot« und »A-Dur« als »grün« beschrieben, während Nikolai Rimski-

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die wahrgenommenen Eindrücke der einzelnen Sinnesorgane (Augen, Ohren, Nase, Zunge) nachträglich zusammensetzen würden. Nach Waldenfels geht es vielmehr um eine »intermodale Wahrnehmung«. Und dabei spielen die Sinne an ihren Schwellen zusammen: »Wir erfahren intersensorielle Gegenstände auf dem Hintergrund einer intersensoriellen Welt, weil die Sinne miteinander kommunizieren. Der Synästhesie entspricht auf seiten des Leibes eine Synergie [...]« (ebd.: 60).

Diese wichtige Eigenschaft des Rhythmus, seine Intermodalität, ist zugleich die Schnittstelle, wo Rhythmus und Theater einander begegnen. Im Theater, wo man verschiedene Bewegungen körperlicher, szenischer oder musikalischer Art wahrnimmt, ist die Dynamik des intermodalen Rhythmus selbstverständlich ein bedeutsames Element. Antonin Artaud z. B. hat die über-sprachliche Naturkraft des Rhythmus in der Musik und der Bewegung am balinesischen Theater aufgespürt und unter diesem Einfluss in den 1930er Jahren Le théâtre et son double geschrieben. Er entdeckte im Rhythmus die (geistige) Übereinstimmung von Musik und Bewegung und nahm am balinesischen Theater sozusagen die Manifestation der rhythmischen Intermodalität wahr. »[...] [D]ie Hieratik der Kostüme verleiht jedem Schauspieler gleichsam einen doppelten Körper, doppelte Glieder ‒; und in seinem hochgeschlossenen Kostüm, das den Hals zu kurz erscheinen läßt, wirkt der Künstler wie sein eigenes Bildnis. Außerdem gibt es den weit ausgreifenden, kleinteiligen Rhythmus der Musik [...]. Übrigens sind alle diese Geräusche an Bewegungen gebunden, sie sind gleichsam die natürliche Vollendung der Gebärden, die genauso beschaffen sind wie sie selbst; und dies mit solchem Sinn für musikalische Analogie, dass sich der Geist schließlich zu schmelzen genötigt sieht, dass er die tönenden Eigentümlichkeiten des Orchesters auf die artikulierte Gestik der Künstler überträgt ‒ und umgekehrt« (Artaud 1996: 62-63).

Die intermodale Wahrnehmung beim theatralen Zuschauen wird dann angeregt, wenn viele verschiedene Faktoren auf der über-sprachlichen bzw. nicht-phonischen und nicht-diskursiven Ebene zusammenwirken. Besonders die nichtsprachlichen der theatralen Zeichen wirken intermodal. Wenn Rhythmus eine dynamische Bewegung ist, die man intermodal wahrnehmen kann, wie bewegt er sich dann, und welche Wirkung hat er? Das Wesentliche am Rhythmus wurde lange als Regelmäßigkeit und Wiederholung der Korsakow (1844-1908) die erstere als »weiß« und die letztere als »rosa« empfunden hat (vgl. Harrison 2001: 123).

Rhythmus im Theater als Transitraum 353

Bewegung definiert. Das Wort Rhythmus stammt vom altgriechischen Verb rhéo (fließen); daher kann man vermuten, dass Rhythmus ursprünglich einen zeitlich regelmäßigen Fluss bedeutete. Seit der Antike ist Rhythmus als eine zeitliche Struktur verstanden worden, also als Metrik, und als eine Ordnung beim Tanz oder in der Musik (vgl. Risi 2005: 271). In der Moderne aber trat eine Wende im Rhythmusbegriff ein: die Idee, Unregelmäßigkeit und Veränderlichkeit im Rhythmus zu erkennen, trotz seines Prinzips regelmäßiger Wiederholung. Diese Idee verdankt sich der Tendenz, Rhythmus nicht als eine lediglich mechanisch wiederholende Bewegung zu betrachten, sondern eine enge Verbindung zwischen Rhythmus und der lebendigen Natur zu entdecken. Ludwig Klages (1872-1956) zum Beispiel geht diesem Aspekt in seinem Buch Vom Wesen des Rhythmus (1934) nach. Dort unterscheidet er deutlich zwischen Rhythmus und Takt. Laut Klages ist der Takt die mechanische (deswegen künstliche), unveränderliche Wiederholung, wie man an der Bewegung des Rades oder des Metronoms, oder auch am Ticken der Uhr sehen kann. Dagegen ist der Rhythmus zwar eine regelmäßige, aber zugleich eine veränderliche Bewegung, und er wird deshalb auch als »die Wiederkehr des Ähnlichen« sowie als »Erneuerung« beschrieben (Klages 1934: 32). Aufgrund der unterschiedlichen Eigenschaften wird bei Klages der Takt als das aufgefasst, was dem menschlichen Geist zugehört, und der Rhythmus als das, was dem Leben eignet. Als passendes Beispiel dafür bietet Klages einen Vergleich von unterschiedlichen musikalischen Spielweisen an. Die mechanische Vorführung eines Anfängers, der dem Taktgeber sorgfältig folgt, fasziniert uns viel weniger als die eines Künstlers, der rhythmisch spielt. Das ist so, weil erstens »die Bewegung der Melodie alle Einschnitte überspannt und auch die Pausen mit lebendiger Schwingung füllt« und weil zweitens »innerhalb einer nur erfühlbaren Breite, jenseits deren die Störung des Rhythmus begänne, das Tempo einem unablässigen Schwanken huldigt« (ebd.: 36). Dieser Aufweis von Klages lässt uns bemerken, dass die Beweglichkeit des Rhythmus oder dessen »regelmäßige Unregelmäßigkeit« (Plessner 1981: 178) ein wesentliches Element ist, das die Anziehungskraft der Kunst und der Performance unterstützt. In der heutigen Theaterszene nimmt diese Eigenschaft des Rhythmus einen wichtigen Platz ein. Primavesi übernimmt diesen Rhythmusbegriff unter einem theatralen Aspekt. Aber er unterstreicht noch stärker das kritische Moment der Abweichung oder Unterbrechung des Rhythmus. Er nennt die Abweichung und Unterbrechung des Rhythmus »Markierung« und beschreibt sie als das kritische und zugleich kreative Moment von Rhythmus. Ein Beispiel für die Wirkung der Markierung entdeckt er in der Anfangsszene des Musiktheaterstücks The Black Rider. The Casting of the Magic Bullets des amerikanischen Regisseurs Robert Wilson. Im Titelsong, der zu Anfang vorgetragen wird, geht die Melodie nicht in einem regelmäßigen

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Takt voran − »wie wenn die Nadel auf einer Schallplatte hüpft« −, und der letzte Takt kommt in einer Synkope immer etwas später. Laut Primavesi wird die »Störung« des Flusses durch die Wiederkehr dieser Synkope integriert und dadurch die Spannung in der Szene gesteigert (vgl. Primavesi 2005: 254). Eine derartige Phrasierung des Rhythmus wird nicht nur akustisch, sondern auch in Licht, Farbe und durch Choreographie dargestellt. Die visuellen Darstellungen (besonders Körperbewegungen) geben ebenso den Eindruck des Ungeschickt-Holprigen, da sie gar keinen Fluss aufweisen. Dieser Begriffswechsel schärft die Aufmerksamkeit für eine weitere Eigenschaft des Rhythmus − eine Eigenschaft, der das Hauptinteresse dieses Aufsatzes gilt: die Pluralität (oder auch: Multiplizität) des Rhythmus. Das heißt, es geht um die Frage, was eigentlich während einer Aufführung geschieht, in deren Formen sich unterschiedliche, nämlich separate Rhythmen gleichzeitig manifestieren, wie auch darum, wie sie wahrgenommen werden. Aufführungen, in denen die Schauspieler (Tänzer) keinem einheitlichen Rhythmus folgen, sondern mit ihren verschiedenen körperlichen Rhythmen synchron auf der Bühne erscheinen, sind heutzutage oft im Bereich des sogenannten Performance-Theaters und bei Tanzaufführungen zu sehen. Plurale Rhythmen heißt, viele andere vorauszusetzen, sich an den Anderen zu richten und sich vielfältig zu verändern. Pluralität des Rhythmus setzt Differenzen zwischen den einzelnen Rhythmen voraus, die wiederum auf der Unregelmäßigkeit und Veränderlichkeit des Rhythmus beruhen. Um das Verhältnis zwischen Pluralität und Differenz (oder dem Anderen) zu erläutern, ist ein Argument des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy aufschlussreich. Er sieht das Wesen des Seins im Dauerzustand des Zusammens. Für Nancy gibt es keine Reihenfolge wie »zuerst das Sein des Seienden und dann das Seiende selbst als Mit-ein-ander«6 − also nicht etwa zuerst die Existenz der Individuen und dann das Kollektiv als das Ergebnis ihres Zusammenkommens −, sondern das Seiende wird gedacht als »in seinem Sein als Mit-einander seiend« (Nancy 2004: 61). Dass alles Seiende Singular = singulär ist, ist nicht von der Pluralität des Seins trennbar. »Das Sein ist Singular und Plural (bzw. ist singulär und plural) zugleich, ununterschiedener- und unterschiedenermaßen. Es ist auf singuläre Weise plural und auf plurale Weise singulär« (ebd.: 57). Dieser Zustand ist aber keinesfalls Substantiv, sondern »immer das Adverb eines Zusammen-seins« (ebd.: 98). In einer Zeit, wo oft behauptet wird, dass uns »der Sinn« verloren­ 6 | Nancy weist hier darauf hin, dass eine solche Ordnung (1: Singular → 2: Kollektiv) selbst bei Heidegger bewahrt ist: Er führt »die Mit-Ursprünglichkeit des Mit-seins« erst ein, »nachdem er die Ursprünglichkeit des Daseins etabliert hat«. Er fügt auch hinzu, dass man dasselbe gegen die Husserlsche Konstitution des alter ego anführen kann (Nancy 2004: 60).

Rhythmus im Theater als Transitraum 355

gegangen ist, sind wir selbst, nach Nancy, der Sinn. Darüber hinaus ist das Sein in diesem Sinne seine eigene Zirkulation, die ihrerseits singulär und plural ist, Wiederholung des nie ganz Gleichen: Zirkulation, die nicht einen Ursprung hat, sondern »die ursprüngliche Pluralität der Ursprünge« ist (ebd.: 23). Und selbst diesem wesentlichen Zusammen wohnt das Andere (oder die Differenz) inne. Weil wir singulär-plurale Zirkulation sind, sind wir immer das Werdende und damit immer im Begriff, ein Sich zu verlieren. Pluralität ist eng verbunden mit dem Anderen bei Nancy. Dieses Andere versucht immer, das Zusammen zu überschreiten. Indem die Alterität stets im Zusammen (Pluralität) wirkt, ist dieses singulär-plurale Zusammen m.E. nicht statisch, sondern dynamisch. Das Zusammen ist daher immer ein Zustand des trans. »[Das Andere] ist nicht ›mit‹, es ist nicht mehr oder noch nicht ›mit‹, es ist näher oder weiter weg als jedes Zusammen-sein. Es begleitet nicht, es durchquert und überschreitet die Identität, es übergeht sie. In gewisser Weise begleitet eine allgemeine Modalität des trans- (Transport, Transaktion, Transparenz, Transsubstantialität, Transzendenz) im Namen der Alterität ständig die Modalität des cum-, die sie jedoch weder überdecken noch ersetzen kann« (ebd.: 122 f.).

In den unten beschriebenen Theateraufführungen wird eine theatrale Manifestation des dynamischen Zusammens vorgestellt, die auf der Pluralität des körperlichen Rhythmus beruht.

3. I diorrhy thmie im G egenwartstheater − L aurent C hétouane und A lain P latel Hier sollen zwei theatrale Beispiele vorgestellt werden, um zu zeigen, wie Veränderlichkeit und Pluralität des Rhythmus an heutigen Theateraufführungen zu erkennen sind, besonders an sogenannten performativen Aufführungen. Das erste Beispiel ist Tanzstück #4: leben wollen (zusammen)7 des französischen Regisseurs Laurent Chétouane. Chétouane hat an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main studiert und arbeitet seitdem an vielen Theatern in Deutschland. Früher hat er sich eher mit dem Sprechtheater beschäftigt, aber seit 2006 arbeitet er parallel an Projekten mit Tänzern und Tänzerinnen. Am Anfang der Aufführung tritt eine Frau langsam in die Mitte eines requisitenlosen Theaterraums. Sie betrachtet eine kurze Weile die Zuschauer, hebt dann 7 | Uraufführung: November 2009, Sophiensäle, Berlin.

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ihren rechten Arm. Nachdem auch ihr linker Arm sich in Bewegung setzt, fangen die beide Arme an, jeweils ihre Positionen zu ändern. Ihre Bewegungen lassen keine spezifische Handlung erkennen, und das ausdruckslose Gesicht der Frau sieht so aus, als ob sie durch Fäden oder elektrische Signale gelenkt wäre. Nach einigen Momenten tritt eine andere Frau stumm an ihre Seite und beginnt selbst ihre Bewegungen. Währenddessen berührt sie ab und zu den Arm und die Schulter der ersten Frau. Die Bewegungen der nebeneinander stehenden Frauen werden allmählich größer ‒ sie bewegen ihre Beine, beugen sich, legen sich auf den Boden usw. Sie zeigen voneinander abweichende Gesten, aber sie berühren sich oder umschlingen sich auch manchmal; dann wieder werden einige Gesten synchronisiert oder es reagiert die eine auf die andere. Wenn wir die zwei Akteure betrachten, die ohne Musik oder Effekttöne im Hintergrund verstummt ihre Bewegungen fortsetzen, entsteht der Eindruck, dass sie in irgendeinem Verhältnis stehen. Während sie kreuz und quer im Theaterraum gehen, verschiedene Teile ihrer Körper bewegen, entfernen sie sich nicht zu weit voneinander, sie nehmen ihre Positionen im Raum zusammen ein. Es ist so, als ob ein Molekül aus zwei oszillierenden Atomen in einem Raum schwebte. Und andere Atome kommen noch hinzu: Als dritte Person kommt ein Mann in den Raum und nähert sich den Frauen. Als wollten die Frauen ihn in ihrer Gesellschaft willkommen heißen, tippen sie auf seinen Körper mit ihren Fingern und berühren seine Schultern. Dann, als ob ihm davon Energie eingeflößt würde, fängt er an, sich zu bewegen. Gleiches geschieht danach mit dem zweiten und dritten Mann. In einer Gruppe von fünf Personen entfalten die Beteiligten ihre Bewegungen. Sie gestikulieren sehr unterschiedlich − ihre Bewegungen entstehen aus der Zeichensprache (vor allem der Finger) oder aus Gesten, die bestimmte Gefühle ausdrücken −, doch reagieren sie aufeinander und beeinflussen sich wechselseitig durch das gegenseitige Berühren und Anstarren. Einzelne Mitglieder wechseln ihre Positionen in der Gruppe, sie bewegen sich also in der stetigen Umwandlung der Formation. Deswegen sehen sie nach einem Dasein aus, das von Regeln und Rahmen befreit ist, aber wir Zuschauer haben noch das Gefühl, dass sie eine Gruppe, eine kleine Gesellschaft bilden. Das Gefühl ergibt sich allein aus ihren körperlichen Ausdrücken. Was den Eindruck der Freiheit in dieser Szene gewährleistet, sind sowohl die sich wandelnden Formationen der Gruppe als auch die jeweils verschiedenen und sich variierenden Rhythmen der Einzelkörper. Die einzelnen Akteure bewegen sich beliebig, ohne einheitliches Bewegungsmuster: Plural-singuläre Rhythmen rauschen in ihren Körpern, die manchmal auch aufeinander wirken. Mit ihren verschiedenen Rhythmen bleiben die Akteure doch zusammen, sie entziehen sich nicht vollkommen den anderen. Was für einen rhythmischen Zustand zeigt diese Szene? Der Anlass für die Aufführung von Chétouane war ein Schlagwort der Lebensphilosophie von Roland Barthes: »Idiorrhythmie«. Genannt wird es in einem­

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Band der Vorlesungen, die Barthes von 1976 bis 1977 am Collège de France­ gehalten hat. Der Titel der Vorlesung heißt Wie zusammen leben. Barthes hatte nach einem Begriff gesucht, auf den sich seine Vorstellung vom Zusammenleben-Können bringen ließe. In dem Essay Griechischer Sommer des französischen Schriftstellers Jacques Lacarrière ist er dann dem passenden Wort, eben »Idiorrhythmie«, begegnet (vgl. Barthes 2007: 42 f.). Die Vorsilbe stammt von dem Wort »idios«, das »eigen« oder »eigentümlich«, die Nachsilbe aus dem Wort »rhythmos«, das, man ahnt es, »Rhythmus« bedeutet (ebd.: 45). Idiorrhythmie wird im Essay von Lacarrière im religiösen Zusammenhang erwähnt. Auf dem griechischen Berg Athos leben Mönche, die zu den griechisch-orthodoxen Klöstern gehören, grundsätzlich aber nach ihren eigenen Lebensrhythmen, also auch allein leben. Ihre Lebensweise wird »Idiorrhythmie« genannt. Sie schlafen und essen beliebig nach ihren eigenen Rhythmen, wiewohl sie sich im gleichen Bezirk aufhalten. Allerdings sind sie nicht gänzlich getrennt voneinander, ab und zu versammeln sie sich zu einer Veranstaltung oder essen zusammen. Sie gestalten ihre Gemeinschaft als flexible Verbindung. Idiorrhythmie wird also als der Zustand einer Gemeinschaft verstanden, in der alle verschiedenen Rhythmen der einzelnen Mitglieder frei und selbständig bleiben können. Der Berg Athos liegt auf der gleichnamigen Halbinsel im nordöstlichen Griechenland. Dort ist er als das ehemalige Zentrum der griechisch-orthodoxen Kirche bekannt. Die Lebensweise der Mönche auf Athos beschreibt Barthes mit Worten von Jacques Lacarrière, Jean Décarreaux und der Encyclopädia Universalis: »Diaita: der eigentliche Ansatz der Idiorrhythmie. Prinzip: Jeder Mönch hat die Erlaubnis, seinem persönlichen Lebensrhythmus zu folgen. […] Beschränkungen: a) Liturgie: kein Zwang zur Teilnahme an Gottesdiensten (fakultativ), mit Ausnahme der Nachtmesse und an bestimmten hohen Feiertagen. b) Fasten und Abstinenzen: Spielräume. c) Einmal im Jahr kommen alle Idiorrhythmiker zu einer gemeinsamen Mahlzeit zusammen (sehr alter Brauch schon der vorchristlichen Anachorese: Therapeuten, Essener). FAZIT. Flexible Auffassung von Beschränkungen. Keine Ordensregel; nur ›Hinweise‹. → Mobilität (vgl. die übrigen Schlußfolgerungen) und Anpassungsfähigkeit: Übergang zum Gemeinschaftsleben oder zur völligen Einsamkeit stets möglich« (Barthes 2007: 79).

Zu Barthes’ Zeit waren die Mönche im westlichen Europa in den Klöstern einem einheitlichen Regelwerk und Tagesablauf unterworfen. Barthes sah dort ein

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Schema, in dem die christliche Kirche als eine starke Autorität den Menschen zwingt, nach einem Rhythmus zu leben. Die idiorrhythmische Lebensweise der Mönche vom Athos dagegen, die eigenständig, aber zugleich in Gemeinschaft leben, schien Barthes ein Ideal des Zusammenlebens. Die Idee der Idiorrhythmie, die als eine flexible Gemeinschaft ohne zwanghafte Regel zu begreifen ist, ist bei Barthes also der autoritären und moralischen Gemeinschaft der christlichen Kirche, die einen einheitlichen Rhythmus erzwingt, deutlich entgegengestellt. Die Inszenierung von Chétouane ist sozusagen die Manifestation eines idiorrhythmischen Zustandes, der aus den unterschiedlich (sich) bewegenden körperlichen Rhythmen der Tänzer entsteht. Chétouane versucht im Theater eine mögliche Form der Idiorrhythmie durch Körperlichkeit zu veranschaulichen. Das zweite Beispiel ist ebenfalls im Kontext der Idiorrhythmie interpretierbar. Doch ist es wegen der Kombination von Geste, Text und Musik etwas komplizierter zu analysieren. Die Aufführung heißt OUT OF CONTEXT ‒ for PINA8 und stammt von Alain Platel. Platel ist ein belgischer Regisseur und Choreograph. 1984 hat er seine eigene Performanz-Gruppe les ballets C de la B gegründet, aus der viele erfolgreiche Tänzer/Choreographen wie Sidi Larbi Cherkaoui, Franck Chartier und Gabriela Carrizo stammen.9 Die Aufführung wurde zum Gedächtnis der weltberühmten Choreographin Pina Bausch konzipiert, die 2009 gestorben war. Neun Tänzer zeigen auf der freien Bühne Tänze, die ihre Körperlichkeit akzentuieren, indem sie wie Lebewesen der primitiven Zeit vor der Erfindung der menschlichen Sprache agieren. Am Beginn treten die Tänzer unterschiedlicher Herkunft in ihrer Alltagskleidung vom Zuschauerraum auf die Bühne. Sie ziehen ihre Kleidung an der hinteren Wand der Bühne aus. Bloß in ihrer Unterwäsche hüllen sie sich jeweils in ein rotes Tuch ein und bleiben so stehen. Auf der nächsten Stufe fangen sie an, einander zu beschnüffeln und den Boden mit ihren Füßen zu streichen, so wie Tiere es machen. Dann legen sie ihre Tücher ab und entfalten die Bewegungen, als wären sie wirklich Tiere der primitiven Zeit. Es gibt unter ihnen keinen sprachlichen Austausch − sie sprechen nur, wenn sie einer nach dem anderen am Mikrofon auf der Bühne singen. Die Tänzer sehen stets geistesabwesend aus, sie erzeugen sozusagen eine barbarische Atmosphäre ohne Vernunft oder Willen. Eine ächzende Stimme, wie ein tiefes Rindermuhen, ist gelegentlich im Hintergrund zu vernehmen und färbt den ganzen Raum tierisch. 8 | Uraufführung: Februar 2010, Théâtre de la Ville, Paris. 9 | Sidi Larbi Cherkaoui ist heute bekannt als Tänzer/Choreograph und künstlerischer Direktor seiner eigenen Produktion Eastman; Franck Chartier und Gabriela Carrizo haben ihre eigene Tanzgruppe Peeping Tom gegründet.

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Es gibt in OUT OF CONTEXT aber eine Szene, wo die Tänzer sich in eine menschliche Phase entwickeln. Als man einen regelmäßigen Beat spielen hört, fangen die Tänzer dem Beat folgend allmählich mit eigenen Tänzen an. Eine Disco-Szene sehen wir hier, in der allein oder in Paaren energisch getanzt wird. An eines der zwei Stehmikrophone auf der Bühne geht manchmal eine/r der Tänzer/innen und singt einige Phrasen aus Popsongs der 70er bis 90er Jahre − z. B. No Woman, No Cry von Bob Marley, That’s the way (I Like it) von K. C. & The Sunshine Band, Calling You von Jevetta Steele oder I Want It That Way von den Backstreet Boys usw. In dieser Szene, die länger als zehn Minuten dauert, tanzen die Tänzer beliebig einzeln, aber teilweise tanzen sie plötzlich alle zusammen synchron. Doch danach zerstreuen sie sich wieder in ihren jeweiligen Tänzen. Sie tanzen auch mit verschiedenen Partner/inne/n, mit denen sie jeweils nur kurz zusammenkommen. Hier haben die Tänzer den Beat, also den regelmäßigen Takt der Musik gemeinsam, deswegen scheinen ihre Tänze einheitlich. Aber wenn man sie im Einzelnen betrachtet, kann man sehen, dass sie nach ihren eigenen körperlichen Rhythmen tanzen, überdies, dass ihre Rhythmen sich sogar allmählich verändern. Beachtenswert ist, dass der Takt nicht mit dem Rhythmus zu identifizieren ist, obwohl der Rhythmus auch dem Takt immanent sein kann. Wir müssen hier zwischen dem Takt der Musik und den Rhythmen der Körper unterscheiden. Der Takt der Musik ist klar und unveränderlich, die körperlichen Rhythmen der Tänzer dagegen sind veränderlich und plural. Aber manchmal tanzen letztere auch einheitlich. In diesem Sinne agieren auch sie idiorrhythmisch. Die eigentümlichen Rhythmen kommen ab und zu zusammen. Während die Aufführung bei Chétouane voll von körperlichen Zeichen ist, die kaum wie choreographierte Tänze, sondern wie eine Mischung alltäglicher Gesten wirken, ist die oben beschriebene Szene bei Platel gefüllt mit den Fetzen der tänzerischen Bewegungen, die man leicht mit der Disco-Kultur assoziieren kann. Dazu werden bestimmte Phrasen aus der Popmusik der letzten vierzig Jahre hier auch gesungen, darum könnte man sie als Parodie bestimmter Kulturen interpretieren. Aber die Szene ist eine Collage von Fragmenten, die man nicht in einem eindeutigen Kontext verorten kann (im Übrigen heißt das Stück ja OUT OF CONTEXT). Die Entfernung von einem bestimmten Kontext, einer bestimmten Kultur wird von den Tänzern unterstrichen, weil sie ihre eigenen körperlichen Rhythmen haben, behalten und zugleich verändern. Ihre Rhythmen repräsentieren keine Kulturen im gewöhnlichen Sinne und bleiben nie gleich. Barthes hat im Hintergrund der Vorstellung von Idiorrhythmie seine Idee von Kultur. Ihm zufolge versteht die Praxis einer Kultur nur, wer auf ihre verschiedenen Kräfte achtet. Barthes meint hier die Kraft des Begehrens des Einzelnen, von Individuen. Und mit Nietzsche versteht er Kraft als das Schaffen

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einer Differenz. Die Praxis der Kultur heißt bei Barthes, »auf Kräfte« (Barthes 2007: 38) und damit auf Differenzen zu achten (wie Barthes mündliche ergänzte). Eben deshalb macht das idiorrhythmische Zusammenleben für Barthes kein soziales Modell aus. Er betont, dass die Idiorrhythmie »keine Utopie einer Gesellschaft« ist: »Idiorrhythmie Athos. → In dieser Form Themen, Merkmale, Strukturen wiederfinden, die es erlauben, Licht auf aktuelle Probleme zu werfen. Keine allgemeinen, kulturellen, soziologischen Probleme (zum Beispiel die Gemeinschaften oder Kommunen), sondern idiolektale Probleme: was ich um mich herum erlebe, bei meinen Freunden, was mich bewegt. Also könnte man denken: Richtung einer Psychologie der Affekte, Beziehungen zu den anderen, zum anderen« (ebd.: 48).

Wir können also festhalten: Das Phantasma der Idiorrhythmie berührt bei Barthes die Frage der Beziehung zum Anderen auf einer inneren oder individuellen Ebene. Barthes erwähnt nicht ein kollektives Wesen wie eine Kultur oder eine soziale Gemeinschaft, er definiert denn auch keines. In seinem Essay Das Reich der Zeichen stellt er z. B. verschiedene Phänomene der sogenannten japanischen Kultur vor, doch schreibt er gleich zu Anfang: »Osten und Westen dürfen hier also nicht als ›Realitäten‹ verstanden werden, die man einander historisch, philosophisch, kulturell oder politisch anzunähern oder entgegenzusetzen suchte. Ich blicke nicht mit verliebten Augen auf ein ›Wesen des Ostens‹; der Orient ist mir gleichgültig, er liefert mir lediglich einen Vorrat von Zügen, den ich in Stellung bringen und, wenn das Spiel erfunden ist, dazu nutzen kann, mit der Idee eines unerhörten und von dem unsrigen gänzlich verschiedenen Symbolsystems zu ›liebäugeln‹« (Barthes 1981 [1970]: 13).

Barthes spricht nicht darüber, was für ein Land Japan ist oder was für eine Kultur Japan hat. Er versucht nur einige Merkmale und Züge des Landes zu zeigen und damit seine Figur zu zeichnen. Bei Barthes liegt in diesem Sinne eine ähnliche Idee wie bei Hamacher vor, nämlich die Idee der Unbestimmbarkeit von Kultur. Mit der Betrachtung von Kultur bei Barthes (Kultur als Praxis der Aufmerksamkeit für Differenzen und damit die Unbestimmbarkeit der Kultur) lassen sich die vorgestellten Szenen bei Platel und Chétouane so verstehen, dass die Körper der Akteure/Tänzer Kultur als die Differenzen der Individuen hervorheben, indem sie zusammen, doch idiorrhythmisch pulsieren.

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4. S chluss : I diorrhy thmie

im

Transitraum ,

im

Spiel

Wir können schließen, dass Chétouane und Platel mit ihren Inszenierungen nicht einfach den sogenannten Multikulturalismus beschreiben oder vorschlagen. Es gibt, mit Hamacher zu sprechen, nicht die eine Kultur und damit auch nicht den einen Multikulturalismus. Da sich Kulturen ständig verändern, gibt es nur eine unbegrenzte Zahl von Multikulturalismen, Plural.10 Kultur selbst, die Wiederholung sei erlaubt, ist unbestimmbar. Mit Roland Barthes könnte man über die besagten Aufführungen sagen, dass die individuellen Kulturen in Formen von körperlichen Bewegungen idiorrhythmisch zusammenleben. Sie behalten ihre einzelnen Rhythmen, und zugleich beeinflussen sie einander. Darüber hinaus tritt das idiorrhythmische Phänomen im medialen Transitraum auf, einem für das Theater charakteristischen Raum. Gerade im Transitraum, im Dazwischen, das sich nicht auf einen bestimmten Kulturraum bezieht, entdecken wir die Manifestation der phantasmagorischen Idiorrhythmie. Die Idiorrhythmie im Theater ist aber weder »positiv« ‒ wie Barthes sie mehr oder weniger so betrachtet ‒, noch »negativ« bestimmbar. Denn die Aufführung im Gegenwartstheater verficht keine bestimmte Aussage oder Idee, sondern sie zeigt uns, den Zuschauern, nur Möglichkeiten, und stellt sie zugleich in Frage. Der Theaterwissenschaftler Tim Schuster, der die Aufführungen von Chétouane in Bezug auf die Frage des Raumes verhandelt, sieht diese Wirkung auch im Tanzstück #4: leben wollen (zusammen): »›Utopisch‹ im besten Sinne des Wortes bleibt der Abend insofern, als er den Ort dieses Zusammen niemals festlegt, sondern immer nur als Möglichkeit am Horizont erscheinen lässt − als eine Fülle von Möglichkeiten, die als Sehnsucht und niemals zu stillendes Begehren zwischen den Tänzerinnen und Tänzern pulsiert« (Schuster 2013: 317).

Die idiorrhythmische Aufführung von Chétouane stellt auf keine Weise dar, wie das Zusammenleben aussehen soll. Aufführung ist keine Antwort, sondern nur eine Fragestellung. Auch in diesem Sinne ist Theater als Transitraum ein Dazwischen, das keinesfalls auf einen Pol der Polarität weist, sondern spielerisch zwischen den beiden Polen schwankt. Das Potential des idiorrhythmischen Raums entfaltet sich im Rahmen des theatralen Spiels.

10 | Vgl. Hamacher 2003: 167 ff.

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L iteratur Artaud, Antonin (1996): Das Theater und sein Double, aus dem Französischen, München. Barthes, Roland (1981 [1970]): Das Reich der Zeichen, aus dem Französischen, Frankfurt a. M. Barthes, Roland (2007): Wie zusammen leben ‒ Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976-1977, hg. von Éric Marty, aus dem Französischen, Frankfurt a. M. Benjamin, Walter (1977): »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften BandⅡ1 (Aufsätze, Essays, Vorträge), Frankfurt am Main, S.  140-157. Hamacher, Werner (2003): »Heterautonomien ‒ One 2 Many Multiculturarisms  ‒ «, in: Burkhard Liebsch/Dagmar Mensink (Hg.): Gewalt Verstehen, Berlin, S.  157201. Harrison, John E. (2001): Synaesthesia. the strangest thing, New York. Heeg, Günther (2008): »transit existence – a contemporaneidade do teatro, estratégias estéticas e o desafio da identidade transcultural«, in: Fátima Saadi/ Silvana Garcia (Hg.): Próximo Ato: questões da teatralidade contemporânea, São Paulo, S. 48-58. (Der ursprünglich deutschsprachige Text »Transit Existence – Die Zeitgenossenschaft des Theaters. Ästhetische Strategien und die Herausforderung transkultureller Identität«, der hier zitiert wird, ist unveröffentlicht.) Klages, Ludwig (1934): Vom Wesen des Rhythmus, Kampen auf Sylt. Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. Lehmann, Hans-Thies (2011): »WIE POLITISCH IST POSTDRAMATISCHES THEATER?«, in: Jan Deck/Angelika Sieburg (Hg.): Politisch Theater machen: Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, Bielefeld, S. 29-40. Mersch, Dieter (2005): »Maß und Differenz. Zum Verhältnis von Mélos und Rhythmós im europäischen Musikdenken«, in: Patrick Primavesi/Simone Mahrenholz (Hg.): Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Schliengen, S. 37-51. Nancy, Jean-Luc (2004): singulär plural sein, aus dem Französischen, Berlin. Plessner, Helmuth (1981): Gesammelte Schriften IV. Die Stufen des Organischen und der Mensch, Frankfurt a. M. Primavesi, Patrick (2005): »Markierungen. Zur Kritik des Rhythmus im postdramatischen Theater«, in: Christa Brüstle/Clemens Risi u. a. (Hg.): AUS DEM TAKT. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld, S. 249-268.

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Risi, Clemens (2005): »Rhythmus«, in: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/ Weimar, S. 271-274. Roesner, David (2003): Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen. Schuster, Tim (2013): Räume, Denken. Das Theater René Polleschs und Laurent Chétouanes, Berlin. Waldenfels, Bernhard (1999): Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a. M.

Kulturkontakte Szenen und Modelle in japanisch-deutschen Kontexten

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Christian Baier wurde im Jahr 2011 an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg mit einer Arbeit zu Geniekonzepten bei Thomas Mann promoviert. Seit 2012 unterrichtet er deutsche Sprache und Literatur an der Seoul National University in Südkorea, zunächst als DAAD-Lektor und seit 2014 als Assistant Professor. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Fiktionaliäts- und Narrationstheorie, das Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung, die Genieästhetik sowie die Werke Thomas Manns und Franz Kafkas. Moritz Baßler, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Studium der Germanistik und Philosophie in Kiel, Tübingen und Berkeley, 1993 Promotion in Tübingen (Die Entdeckung der Textur), bis 1998 Redaktor des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft, bis 2003 Wiss. Assistent in Rostock (Habilitation: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv), bis 2005 Professor of Literature an der International University Bremen. Zahlreiche Publikationen mit den Schwerpunkten Literatur der Klassischen Moderne, Literaturtheorie, Gegenwartsliteratur (Der deutsche Pop-Roman, 2002), Realismus und Popkultur. Mitbegründer der Zeitschrift POP – Kultur und Kritik (seit 2012). Mechthild Duppel-Takayama, Associate Professor an der Abteilung Germanistik der Sophia Universität in Tokyo. Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Ethnologie, Afrikanistik und Japanologie in Mainz, Zürich, Frankfurt am Main und Tokyo, danach wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Japanologie in Frankfurt am Main und Associate Professor am Institut für Germanistik der Keio Universität in Tokyo. Forschungsschwerpunkte: deutsche und japanische Gegenwartsliteratur, deutsch-japanische Kontakte und Wissenschaftsstile. Asako Fukuoka, Studium der Germanistik in Nagoya (Promotion 2011) und Wien (2004-2006 als Stipendiatin der Rotary Foundation). Förderpreis der Gesellschaft zur Förderung der Germanistik in Japan (2010). Seit 2013 Dozentin an der Universität Kobe. Ihr Forschungsschwerpunkt gilt der österreichischen Literatur im späten 20 Jahrhundert. Veröffentlichungen u. a. zu Elfriede Jelinek. Yeon Jeong Gu wurde an der Humboldt Universität zu Berlin mit einer Arbeit über Transformation des Schwindels. Von der physischen Täuschung zum poetischen Schöpfungsakt bei W. G. Sebald promoviert. Sie arbeitete von 2012 bis 2014

366 Autorinnen und Autoren

als wissenschaftliche Mitarbeiterin (PostDoc) an der Seoul National Universität. Seit 2014 ist sie Research Professor an der Chung-Ang Universität in Seoul. Zu ihren besonderen Forschungsinteressen gehören literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeiten zu Erinnerungen, zum urbanen Raum und Posthumanismus. Mariko Harigai hat an der Keio Universität Tokyo Germanistik studiert. Gegenwärtig promoviert sie am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin über das Thema Verhältnis zwischen Stimmen und Orten im Gegenwartstheater. Seit 2013 arbeitet sie als Lehrbeauftragte an der Keio Universität und an verschiedenen anderen Universitäten in Tokyo. Zu ihren besonderen Forschungsinteressen gehören die Ästhetik der Stimmen und Raum- und Medientheorien. Ryu Itose studiert Germanistik im Doktorkurs an der Tokyo Metropolitan University. Sein Forschungsthema ist Nation und Individuum bei Ernst Jünger. Weitere Forschungsinteressen gelten der Moderne, dem Bedeutungsunterschied des Wortes ›total‹ bei Ernst Jünger und Carl Schmitt. Auslandstudium an der Universität Wien von 2010 bis 2011. Verschiedene Publikationen zu diesen Themen. Markus Joch, seit April 2013 Associate Professor an der Keio University Tokyo, lehrte zuvor Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin, Goethe-Universität Frankfurt am Main und Stanford University. Er promovierte 1998 mit einer Studie zu Intellektuellenkämpfen in Deutschland. Sein Forschungsinteresse gilt  besonders Epochenzäsuren (1945/90), Postkolonialismus, Pop-Literatur und der Theorie des literarischen Feldes.  Yuichi Kimuara wurde an der Gakushuin Universität Tokyo mit einer Arbeit über die Sprachkrise um 1900, vor allem über Fritz Mauthner, Hugo von Hofmannsthal und Franz Kafka, im Jahr 2013 promoviert. Er arbeitet seit 2014 als wissenschaftlicher Assistent an der Gakushuin Universität. Zu seinen besonderen Forschungsinteressen gehört die deutschsprachige Literatur im 20. Jahrhundert. Arne Klawitter wurde 2001 an der Universität Rostock mit einer Arbeit über Michel Foucaults Diskursanalyse promoviert und 2012 an der Universität Münster habilitiert. Von 2008 bis 2013 war er Associate Professor an der Universität Kyoto und seit 2013 ist er Professor für Neuere deutsche Literatur an der Waseda Universität in Tokyo. Zu seinen Forschungsinteressen gehören: Deutschsprachige Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert, Gelehrtenjournale im 18. Jahrhundert, optische Medien in der Literatur, Bildtheorien, vergleichende Ästhetik, Philosophie des Poststrukturalismus, insbesondere Foucaults Diskursanalyse und Wissensarchäologie. Verschiedene Publikationen zu diesen Themen.

Autorinnen und Autoren 367

Kyungboon Lee wurde an der Universität Marburg in der Musikwissenschaft und Germanistik mit einer Arbeit über Musik und Literatur im Exil promoviert. Sie arbeitet seit 2010 als Research Professor des Japaninstituts an der Seoul National University. Zu ihren besonderen Forschungsinteressen gehören musikalische Propaganda im Dritten Reich, die Exilmusik in Ostasien und der Kulturaustausch zwischen Korea, Japan und dem Westen. Mai Miyake ist Doktorandin am Institut für Germanistik an der Keio-Universität Tokyo und studiert dort Theaterwissenschaft. Sie beschäftigte sich bisher mit Themen wie Lachen (beim Regisseur Christoph Marthaler) und Atmosphäre und Musik (beim Regisseur Michael Thalheimer) im Gegenwartstheater. Seit Herbst 2014 promoviert sie als DAAD-Stipendiatin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit forscht sie dort zu ihrem aktuellen Schwerpunkt Rhythmus im Theater. Akane Nishioka wurde an der Universität Hildesheim über Georg Heym promoviert. Sie arbeitet seit 2010 als Associate Professor an der Tokyo University of Foreign Studies. Zu ihren besonderen Forschungsinteressen gehören Expressionismus, historische Avantgardebewegungen und die Kunst des Totalitarismus. Satomi Nobata studierte Germanistik im Doktorkurs an der Keio Universität in Tokyo. 2009-2011 studierte sie als Stipendiatin der Österreichischen Regierung Germanistik an der Universität Wien. Sie arbeitet seit 2014 als Sprachdozentin an der Rikkyo Universität in Tokyo. Ihr Forschungsthema ist Zigeunervorstellungen in der deutschen und österreichischen Literatur. Weitere Forschungsinteressen gelten der Stereotypisierung des Eigenen und Fremden. Thomas Pekar wurde an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit einer Arbeit über Robert Musil promoviert und an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Untersuchung über die europäische Japan-Rezeption habilitiert. Er arbeitete als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Oldenburg, als Assistenz-Professor an der Keimyung University in Daegu (Süd-Korea), als DAAD-Lektor an der Universität Tokyo und als Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten in Deutschland (Bayreuth, Heidelberg und München). Seit 2001 ist er Professor für deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft an der Gakushuin-Universität in Tokyo. Zu seinen Forschungsinteressen gehören besonders die Exil- und Kulturkontaktforschung sowie die Literatur der klassischen Moderne.

368 Autorinnen und Autoren

Walter Ruprechter wurde an der Universität Wien mit einer Arbeit über Konrad Bayer promoviert. Er arbeitet seit 1992 an der Tokyo Metropolitan University in Japan als Professor für Literatur- und Kulturwissenschaften. Zu seinen Forschungsinteressen gehört neben der Wiener Moderne auch die avantgardistische Literatur in Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein weiteres Forschungsgebiet stellt der Kulturaustausch zwischen Japan und dem Westen dar, wobei sich das Interesse vor allem auf die theoretische Erfassung solcher Phänomene richtet. Leopold Schlöndorff studierte in Wien und Oxford deutsche Literatur und wurde an der kulturwissenschaftlich-philologischen Fakultät der Universität Wien mit einer Arbeit über moderne Apokalyptik promoviert Er arbeitet seit 2012 als Dozent für deutsche Literatur und Kulturgeschichte an der Sophia Universität in Tokyo. Zu seinen besonderen Forschungsinteressen gehören religiöse Motive in säkularer Literatur, das Verhältnis von Naturwissenschaft und Literatur, die Erinnerungskultur nach 1945 und zeitgenössische literarische Strömungen. Uwe Wirth wurde an der Goethe-Universität Frankfurt mit einer Arbeit über Abduktion und Komik – Grenzphänomene des Verstehens 1999 promoviert. Dort habilitierte er auch zum Thema Die Geburt das Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann (Fink-Verlag 2008). Seit 2007 hat er den Lehrstuhl für neuere Deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Liebig-Universität Gießen inne. Zu seinen besonderen Forschungsinteressen gehören Zeichen-, Performanz- und Kulturtheorie. Zur Zeit verfolgt er ein Projekt, das sich unter den Neologismus »Greffologie« subsumieren lässt – und das Spannungsfeld von Hybriditätskonzepten einerseits und der Kulturtechnik der Pfropfung andererseits untersucht.

Edition Kulturwissenschaft Rainer Guldin Politische Landschaften Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität Oktober 2014, 296 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2818-0

Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven Februar 2015, ca. 360 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9

Inga Klein, Sonja Windmüller (Hg.) Kultur der Ökonomie Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen September 2014, 308 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2460-1

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Edition Kulturwissenschaft Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2015, ca. 190 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2200-3

Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten April 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8

Christoph Wulf Bilder des Menschen Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur November 2014, 270 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2949-1

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Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Februar 2015, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0

Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren Juli 2015, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9

Regula Valérie Burri, Kerstin Evert, Sibylle Peters, Esther Pilkington, Gesa Ziemer (Hg.) Versammlung und Teilhabe Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste

Christian Grüny, Matteo Nanni (Hg.) Rhythmus – Balance – Metrum Formen raumzeitlicher Organisation in den Künsten Oktober 2014, 214 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2546-2

Insa Härtel Kinder der Erregung »Übergriffe« und »Objekte« in kulturellen Konstellationen kindlich-jugendlicher Sexualität (unter Mitarbeit von Sonja Witte) November 2014, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2884-5

Werner Hennings, Uwe Horst, Jürgen Kramer Die Stadt als Bühne Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert September 2015, ca. 270 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2951-4

Ralf Junkerjürgen, Isabella von Treskow (Hg.) Amok und Schulmassaker Kultur- und medienwissenschaftliche Annäherungen März 2015, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2788-6

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