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German Pages 338 Year 2015
Gerlind Rüve Scheintod
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Gerlind Rüve (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Wissenschafts- und Medizingeschichte.
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Gerlind Rüve
Scheintod Zur kulturellen Bedeutung der Schwelle zwischen Leben und Tod um 1800
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Die Drucklegung wurde vom Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld (IWT) unterstützt.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. zgl. Diss.: Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld 2006 © 2008 transcript Verlag, Bielefeld
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INHALT
Eine Kontingenzerfahrung im 18. Jahrhundert im Verhältnis von Wissenschaft und Tod Scheintod um 1800. Randphänomen und allgemeine gesellschaftliche Problemlagen Schein als Täuschung, Tod als Verwandlung. Semantische Befunde Von Totengeistern zu Scheintoten, vom Moment des Todes zum Prozess Wahlverwandtschaften. Gesellschaftliche Eliten und Scheintod Scheintod und die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung. Zusammenfassung Scheintod in den Medien der Aufklärung. Verbreitung, Adressierung, Reaktionen Geschichten über das Lebendigbegrabenwerden in einem neuen Frame Der frühneuzeitliche Staat reagiert. Rechtliche Kontinuitäten und Diskontinuitäten an der Grenze zum Tod Theoretisches Wissen und neue Handlungsanweisungen. Die Durchsetzung medizinischer Ansprüche Medizinisch-anthropologische Konstruktionen und Strategien in der Öffentlichkeit. Zusammenfassung Frühzeitige Beerdigungen. Bestattungspraktiken auf dem Prüfstand Konflikte um Bestattungsfristen in Oldenburg 1803. Zwei Anthropologien treffen aufeinander Beharrungskräfte und neue Möglichkeiten der Zuordnung. Katholiken, Protestanten, jüdische Gemeinden und die Beerdigungszeiten
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»Keine Leiche darf vor Ablauf von drei Tagen beerdigt werden«. Bestattungsfristen werden Sache des Staates Medizinische Ansprüche und kulturelle Praktiken. Zusammenfassung Vom Zentrum zurück an die Peripherie. Der Scheintod im weiteren 19. Jahrhundert Ein Scheintodfall aus dem Jahr 1833. Scheintote vor Ort Die Ausdifferenzierung des Scheintodes. Wissen, Technik, Bevölkerungsgruppen Volksaberglauben, Psychoanalyse und Einzelfälle. Die Umdeutung des Scheintodes Wissenschaftliche Umorientierungen und Marginalisierung des Scheintodes. Zusammenfassung
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Zusammenfassung und Ausblick. Scheintod und verzeitlichte Gesellschaft
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Dank
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Abkürzungen
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Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Sekundärliteratur
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Register
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EINE KONTINGENZERFAHRUNG IM 18. J A H R H U N D E R T I M V E R H Ä L T N I S WISSENSCHAFT UND TOD
VON
Die Aufmerksamkeit dafür, dass Menschen lebend begraben und die Zeichen des Todes missdeutet worden sein könnten, trat seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem Bereich des Nichtdokumentierten heraus. Sie brachte den Neologismus »Scheintod« hervor, der damit im ausgehenden 18. Jahrhundert erst entstand. Der Begriff umfasste eine heterogene Gruppe von gewissermaßen todähnlichen Zuständen. Dazu zählten epileptische Anfälle und die Endstadien epidemischer Krankheiten wie Pest und Cholera, Zustände also, die in den Zuständigkeitsbereich der Medizin gehörten, aber genauso juristische Sachverhalte wie Unfälle durch Ertrinken und Ersticken. Gemeinsam war diesen ungleichartigen Vorkommnissen, dass die davon betroffenen Menschen sich an der Schwelle zum Tod befanden. In den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerieten dadurch eine Reihe verschiedenartige Krankheiten und Zustände, aber auch die Techniken zur Todesfeststellung und die gesellschaftspolitischen Vorschläge, mit denen Abhilfe geschaffen werden sollte. Der Übergang vom Leben zum Tod erregte jedoch nicht erst seit und nicht nur im 18. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen. Dazu gibt es zahlreiche Belege aus verschiedenen Kulturen und aus unterschiedlichen Zeiten.1 So weist der französische Historiker Philippe Ariès 1
Die Merina, ein Volk in Madagaskar, bestatten ihre Toten zweifach, um sicherzugehen, dass die Seele des Verstorbenen nicht aus dem Totenreich zurückkehrt. Vgl. Maurice Bloch: »Death, Women and Power«, in: Maurice Bloch/Jonathan Parry (Hg.): Death and the Regeneration of Life, Cambridge: Cambridge University Press 1982, S. 211-230. 7
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auf die Gewohnheit im antiken Rom hin, die Toten dreimal mit ihrem Namen anzurufen. Damit wurde sichergestellt, dass die Leiche nicht doch noch lebte.2 Auch im Mittelalter störten Grenzüberschreitungen zwischen der Sphäre des Lebens und der des Todes die soziale Ordnung empfindlich. Die Anwesenheit von Totengeistern wurde stets als Beeinträchtigung des diesseitigen Lebens wahrgenommen und die mittelalterlichen Menschen waren bestrebt, die Totengeister (zurück) ins Jenseits zu befördern.3 Auf die Einhaltung der Grenze zwischen Leben und Tod zu achten, war für die Lebenden in Hinblick auf beide Seiten der Grenze wichtig: Totengeister sollten das Leben im Diesseits nicht stören, Pestkranke oder Ohnmächtige durften aber auch nicht versehentlich sterben, weil sie im Grab erstickten. So warnte 1512 ein Bremer Arzt davor, Pestleichen vorschnell zu bestatten4 und bereits in Kirchenordnungen aus dem 16. Jahrhundert wurde davor gewarnt, eine »onmecht« mit dem Tod zu ver- wechseln.5 Auch gegenwärtig bleibt die Öffentlichkeit mit der Grenze zwischen Leben und Tod beschäftigt. Seit den 1970er Jahren unterziehen Mediziner sogenannte Nahtoderlebnisse wissenschaftlicher Betrachtung und können sich der Aufmerksamkeit der Medien gewiss sein.6 In Zeitungen und Zeitschriften werden bis heute Geschichten über lebendig begrabene Menschen kolportiert. Dass plötzlich »Scheintote wieder munter« werden,7 in Portugal kürzlich ein noch lebender Mann in der Leichenhalle aufgebahrt8 und einer Kolumbianerin mehrmals irrtümlich der Totenschein ausgestellt wurde,9 unterhält die Öffentlichkeit weiterhin. Angesichts dieser Befunde ist es erklärungsbedürftig, weshalb der Übergang zwischen Leben und Tod in der zweiten Hälfte des 18. Jahr2 3 4
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Vgl. Philippe Ariès: Geschichte des Todes, München: Dtv 1982, S. 505. Vgl. Jean-Claude Schmitt: Die Wiederkehr der Toten. Geistergeschichten im Mittelalter, Stuttgart: Klett-Cotta 1995. Beleg bei Johannes Bolte: »Die Sage von der erweckten Scheintoten«, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 20 (1910), S. 353-381, hier S. 357. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1, München: Beck 21995, S. 217. Vgl. Christoph Drösser: »Wenn der Tod kehrtmacht. Gibt es endlich Beweise für die Existenz der Seele?«, in: Die ZEIT Nr. 51, 13.12.2001, S. 35; Pim van Lommel/Ruud van Wees/Vincent Meyers/Ingrid Elfferich: »Near-Death-Experience in Survivors of Cardiac Arrest: A Prospective Study in the Netherlands«, in: The Lancet 358 (2001), S. 2039-2045. Vgl. die Mitteilung: »Scheintote wieder munter«, in: Neue Westfälische, Nr. 63, 15.03.2001, o.S. Vgl. die Notiz: »Lebend in der Leichenhalle aufgebahrt« (http://www. spiegel.de/panorama/0,1518,392739,00html [Zugriff: 29.12. 2005]). Vgl. »Greisin irrtümlich vier Mal für tot erklärt« (http://www.spiegel.de/ panorama/0,1518,3786651,00html [Zugriff: 7.10. 2005]).
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hunderts dieses gesteigerte Maß an Aufmerksamkeit erfuhr. Um die historische Spezifizität der Debatte um die Grenze zwischen Leben und Tod seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu erfassen, ist die Veränderung der Semantik ein erster Indikator:10 Es muss eine Bedeutung haben, dass die Grenze zwischen Leben und Tod im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert mit einem neuen Begriff – nämlich »Scheintod« – belegt wurde. Dieser neue Begriff, so der Ansatz dieser Arbeit, ist vor dem Hintergrund der mentalitätsgeschichtlichen und sozialstrukturellen Veränderungen im Zuge der Aufklärung zu deuten und zu verstehen. Für den Wandel des Todesbildes im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert war dabei in erster Linie die gesellschaftliche Erfahrung der »Verzeitlichung« (Lepenies) von Bedeutung: Sie eröffnete die Perspektive einer prinzipiell unendlichen Zukunft, die zuvor durch die christliche Erwartung eines Endgerichts begrenzt worden war.11 Dadurch veränderte sich der Bezugsrahmen, in den Leben und Tod gestellt wurden: Es waren nicht mehr die Erwartung des Endgerichts und die Hoffnung auf das Weiterleben der Seele im Jenseits, welche die Perspektive auf Leben und Sterben bestimmten, sondern es war nun der Mensch, der sich von göttlicher Autorität befreit selbst ermächtigte, sein Leben zu gestalten. Die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkommende Diskussion um den Scheintod hing also eng mit der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung zusammen. Die besondere Brisanz der erschütterten heilsgeschichtlichen Erwartung in Bezug auf den Tod – dies wurde in der Diskussion um den Scheintod verhandelt – bestand darin, dass die Öffnung der Zeit den ehemals durch die christliche Heilserwartung gesicherten Sinn des Daseins in Frage stellte. Der Sinn des Lebens konnte nicht mehr durch die Hoffnung auf die Auferstehung und die unsterbliche Seele garantiert werden, vielmehr mussten neue Formen der 10
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Vgl. Niklas Luhmann: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, 4 Bde., Bd. 1, S. 9-71. Vgl. dazu die Arbeiten von Reinhart Koselleck, insbesondere den Artikel: »Geschichte«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta 1972 ff, Bd. 2, S. 647-691; Reinhart Koselleck: »›Neuzeit‹. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe«, in: Reinhart Koselleck (Hg.): Studien zum Beginn der neuen Welt, Stuttgart: Klett-Cotta 1977, S. 264-299, hier S. 281-292; Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München: Hanser 1976; Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt am Main: Fischer 1999. 9
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Sinnstiftung gefunden werden. Die Aufrufe zur Wiederbelebung, zur Verlängerung der Bestattungsfristen und zur Lebensrettung – Handlungsanweisungen, die im Rahmen der Scheintoddiskussion formuliert wurden – stellen vor diesem Hintergrund Reaktionen auf die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung dar. Denn in diesen Aufrufen wurde die neu aufgeworfene Frage nach dem Sinn des Lebens mit der Sicherung des Lebens im Diesseits beantwortet: Der Sinn des Lebens wurde vom Jenseits ins Diesseits verlagert. Es ist dieser Epochenumbruch, der den Rahmen absteckt, vor dem die Geschichte des Scheintodes – die Aufregung um Zustände der Bewusstlosigkeit, Ohnmachten und vorzeitigen Beerdigungen – ihren historischen Ort hat. In Bezug auf die Anthropologie des Menschen heißt diese Rahmung, dass sich in der Scheintoddebatte eine anthropologische Transformation, die sich dann in den Gesetzestexten des 18. Jahrhunderts sowie in den Zeitschriften der Aufklärung zeigte, niederschlug. Mit anthropologischer Transformation ist der Übergang des Menschen vom Seelenwesen zum Körper-Geistwesen gemeint, die an der Neudefinition des Lebens sichtbar wurde. Das Leben des Menschen war nicht mehr die von Gott gegebene unsterbliche Seele, sondern ein organisches Funktionssystem mit einem aus sich selbst heraus arbeitenden Blutkreislauf und eigenständigen Muskelbewegungen. Diese neuzeitliche Anthropologie, die seit dem 16. Jahrhundert in der Entstehung begriffen war, zeichnete sich dadurch aus, dass der Mensch aus dem theologisch-heilsgeschichtlichen Zusammenhang herausgelöst und als Teil der Natur, im Verhältnis zu Tieren, zu außereuropäischen Menschen und als autonom handelndes Subjekt der Geschichte neu positioniert wurde.12 An dieser anthropologischen Transformation rieben sich die vormaligen Sinnstifter des Todes, namentlich die Religion und das tradierte Wissen. Abgebildet wurde mit der Diskussion um den Scheintod somit eine moderne Sichtweise auf den Tod, welche die christliche und auch die im Volksglauben existierende Vorstellung verwarf, dass der Tod der Moment sei, in dem sich die Seele vom Körper trenne. Nach den christlichen und volksreligiösen Vorstellungen war der Tod ein zeitlicher Moment, der Punkt, an dem das Leben in Form der unsterblichen, unteilbaren Seele auf einmal aus dem Körper entwich und die sterblichen Überreste der Vernichtung anheimfielen. Dieses Verständnis des Todes als eines Moments war eingebettet in das christlich-mittelalterliche Temporalitätsmodell, welches davon ausging, dass die unsterbliche Seele nach 12
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Vgl. Richard van Dülmen: Die Entdeckung des Individuums 1500-1800, Frankfurt am Main: Fischer 1997; als Beitrag zur Anthropologie des modernen Menschen vgl. Michael Hagner: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin: Berlin Verlag 1997.
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dem Tod auf das Jüngste Gericht und dann das ewige Leben oder die ewige Verdammnis wartete. Die diesem Modell zugrunde liegende Zeitvorstellung war auf die Vollendung der christlichen Heilsgeschichte gerichtet, in der das Handeln Gottes am Menschen manifest wurde. An die Stelle der christlichen Betrachtungsweise des Todes trat seit dem 18. Jahrhundert eine Sichtweise, die den Tod als einen sich in die Zeit erstreckenden, sukzessiven Prozess beschrieb: Die Lebenskräfte nahmen langsam ab und der Tod trat durch das allmähliche Verschwinden der organischen Funktionen ein. Mit den Kategorien des modernen Zeitbewusstseins konnten auch Leben und Tod erfasst werden: Leben und Tod waren Pole am Anfang und am Ende sukzessiv abfolgender Zustände eines Lebewesens. Die Natur gab die Entwicklungsstadien des Lebens vor und der Mensch – soweit es sein Wissen und sein Verständnis der Natur zuließen – konnte in sie eingreifen. Über den Verlauf des Lebens konnten Prognosen getroffen und die Lebensdauer konnte manipuliert werden: Diese Vorstellungen von Selbstermächtigung prägten die Perspektive auf Leben und Tod seit der Aufklärung: Die Mathematik verhalf zu Berechnungen über Lebenserwartung und Sterblichkeit, und die Wiederbelebung des Menschen tat sich im Handlungshorizont der Zeitgenossen als reale Möglichkeit auf. Durch den Wandel des Todesbildes kam die Vorstellung zum Ausdruck, dass das Leben – ob es nun das eines Menschen oder das der Welt betraf – kein göttlicher Schöpfungsakt war, sondern seine Entstehung auf Prozessen beruhte, deren Anfang und Ende nicht mehr eindeutig feststellbar waren. Das Leben funktionierte nach Gesetzen, die experimentell und empirisch überprüfbar und darstellbar waren. Dieser Umbruch hat sich als sehr voraussetzungsvoll und reich an Konsequenzen erwiesen. Er verweist auf ein Wissen über den Menschen und die Welt, das nicht auf göttlicher Autorität beruht und das nicht in den Schriften der Alten zu finden ist. An die Stelle eines allmächtigen Gottes trat das vernunftgeleitete, autonom denkende Individuum. Diese Situation sollte sich von Anfang an als zweischneidig erweisen. Als neuer Handlungsträger nahm der Mensch zwar für sich in Anspruch, Leben und Tod selbst steuern, er hatte aber auch die Garantie auf Unsterblichkeit und Auferstehung verloren. Die entstehende bürgerliche Gesellschaft als Trägerin und Popularisiererin dieses neuen Deutungsmusters des Todes sah sich vor die Aufgabe gestellt, mit dieser Erschütterung umzugehen und musste mit neuen Formen der Sinnstiftung aufwarten. Die Aufwertung des irdischen Lebens war eine Ausdrucksform dieser neuen Sinnstiftung. Die christlichmittelalterliche Vorstellung, dass der Mensch als Körper-Seele-Wirkeinheit zu verstehen sei, bei der die Seele das Lebensprinzip des Körpers 11
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darstellte, war für die Vertreter der Scheintoddebatte obsolet geworden. Zur Disposition standen die Unsterblichkeit der Seele und der damit verbundene Glauben an die leibliche Auferstehung. An die Stelle der Auferstehungsgewissheit trat das Problem, mit einer Kontingenzerfahrung ungekannten Ausmaßes umgehen zu müssen. Dieses Erschrecken lag der Debatte um den Scheintod zugrunde.
»Kulturelle Bedeutung« als Frage des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft Begreift man die Debatte um den Scheintod als Ausdruck eines Epochenwandels, stellt sich die Frage, welche neuen Umgangsformen die Gesellschaft mit dem Wissen um die eigene Sterblichkeit gefunden hat. Die vorliegende Arbeit untersucht diese Frage anhand der Scheintoddebatte für den Zeitraum zwischen ungefähr 1750 und 1850. Um 1750 erreichte die Öffentlichkeit der Aufklärung die Sorge, dass Menschen lebendig begraben werden könnten. Um 1850 begann der Duktus dieser Debatte sich zu ändern. Die Angst vor dem Scheintod, ehemals lanciert und kolportiert durch Angehörige der bürgerlichen Stände, wurde umgedeutet, indem sie der Irrationalität des Volkes zugeschrieben und mit dem Verweis auf die Wirkungsmächtigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse, gesetzlicher Maßnahmen und einer verbesserten Technik für überwunden erklärt wurde. Damit ist schon angedeutet, dass eine neue, genuin neuzeitliche Wissensform an dem Aufkommen des Scheintodes beteiligt war, genauso wie ihre Erkenntnisse sowohl den Zusammenbruch der christlichen Heilserwartung als auch die anthropologische Transformation mit hervorgebracht haben. Diese Wissensform entwarf ein neues Erklärungsmodell des Todes und trat in Aushandlungsprozesse mit den bis dahin dominanten Sinnstiftern des Todes, namentlich der Religion und der Volkskultur. Welchen Verlauf diese Aushandlungsprozesse nahmen und welche Ergebnisse sie zeitigten, ist ein Thema dieser Arbeit. Weiterhin wird mithilfe wissenschaftsgeschichtlicher und wissenssoziologischer Ansätze ein neuer Blick auf die Konjunktur des Themas Scheintod um 1800 geworfen, um zu genaueren Einschätzungen hinsichtlich der Wirkungsmacht moderner Wissenschaft und Instrumente für eine Gesellschaft zu kommen. So verfolgt die Arbeit wissenschaftsgeschichtliche Fragen, sie ist aber nicht in erster Linie epistemologisch ausgerichtet. Sie richtet sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven auf das wissenschaftliche Wissen: Weshalb, so wird gefragt, wird ein Konzept wie der Scheintod wirkungsmächtig? Wer sind seine Trägergruppen? Was haben 12
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Denktraditionen, Milieus und sozialstrukturelle Bedingungen mit der Wirkmächtigkeit von und Affinität zu bestimmten medizinischen Konzepten zu tun? Den Vorgang, durch den wissenschaftliches Wissen zu einem Teil der Gesellschaft und zu gesellschaftlich relevantem Wissen wird, kann man abstrakt formuliert als Reflexion bezeichnen. Damit ist das Ergebnis eines systematischen und kontrollierten Vorgehens gemeint, durch das sowohl Handlungsorientierungen als auch Normen und Werte, die vormals fraglos tradiert wurden, durch neue »rationale« Bezugsrahmen und Kalküle des Handelns ersetzt wurden, »und zwar in dem Maß, in dem Lebensbereiche Gegenstand wissenschaftlicher Analyse« wurden.13 Dabei gehen »Handlungsorientierungen durch relativ stabile, weil fraglos akzeptierte Erwartungen, Normen und Werte in dem Maße verloren«, wie diese durch die Wissenschaft »rationalisiert« und in ihrer Legitimität untergraben werden.14 Der Bezug auf die Wissenschaft und seine neu etablierten Kalküle des Handelns haben dann zur Folge, dass sich »die bisherigen Orientierungen als ineffizient, irrational oder falsch im Hinblick auf die geltenden Bezugsrahmen erweisen«.15 Bisher gültige Orientierungen werden neu bewertet, weil aktuelles Handeln von Wahrnehmungen, Situationsdefinitionen und Zukunftsentwürfen geleitet wird, die zum Großteil durch die Kategorien und Wissensbestandteile sowie vor allem durch die Methoden der Wissenschaft geprägt werden. Nicht nur menschliches Handeln verändert sich durch wissenschaftliches Wissen, auch die Primärerfahrung wird in immer mehr Lebensbereichen durch die Produktion und Anwendung systematischen Wissens als Handlungsorientierung ersetzt. Das wissenschaftliche Wissen, das seit dem 17. Jahrhundert produziert wurde, konnte in einer ersten Phase – die der Wissenschaftssoziologe Peter Weingart bis ungefähr zum Ende des 18. Jahrhunderts ansetzt – sein Versprechen, überlegene, weil theoretisch begründete Praxis zu sein, jedoch noch nicht einlösen. Es bedeutete eine »Selbstüberforderung der Wissenschaft, deren Wissen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der Umsetzung dem der Praktiker noch unterlegen war«.16 Wie sich Praktiker, Mediziner und Naturforscher in Fragen etwa der Todesfeststellung und der Behandlung des toten Körpers an der Epochenschwelle verhielten und welche Bedeutung die sys13
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Peter Weingart: »Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Politisierung der Wissenschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie 12 (1983), S. 225241, hier: S. 228. Ebd. Ebd. Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Göttingen: Velbrück 2001, S. 24. 13
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tematische Reflexion des Wissens über den Tod im weiteren 19. Jahrhundert erhielt, ist entsprechend ein Interesse dieser Arbeit. In diesem Phasenmodell der Verwissenschaftlichung geht es um die Bestimmung des »Charakters der neuzeitlichen Wissenschaft« und den »Veränderungen im Verhältnis zur Gesellschaft«.17 Diese Aussage impliziert zweierlei und ist auch für historische Arbeiten hilfreich. Erstens geht sie davon aus, dass die Wissenschaft kein einförmiger Wissensbestand ist, keine in sich kohärente und gleichsam objektive Einheit, die sich langsam, aber stetig, mit Widerständen und Brüchen Bahn in die Gesellschaft bricht. Sie unterstreicht die Bedeutung der sozialen Bedingungen und gesellschaftlichen Vorgaben aus der Politik, dem Recht oder der Wirtschaft für die Produktion, Beförderung und Behinderung von Wissen: Diese Vorgaben sind Teil der Wissensproduktion. Das von Weingart vorgeschlagene Modell schützt zweitens davor, Verwissenschaftlichung mit dem Prozess der Durchsetzung einer einzigen, nämlich wissenschaftlichen Rationalität gleichzusetzen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die noch bestehenden irrationalen Überhänge der Gesellschaft im Laufe der Zeit in Rationalität zu überführen. Denn das Modell geht davon aus, dass die Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnis nicht kausal und proportional mit der Lösung gesellschaftlicher Probleme zusammenhängt, sondern dass im Gegenteil die Wissensproduktion zugleich neue Probleme in Gestalt von Risikowahrnehmungen und Wissen über Nicht-Wissen schafft«.18 Dieses Verständnis von Verwissenschaftlichung trifft die Scheintoddebatte des ausgehenden 18. Jahrhunderts insofern, als dass Naturforscher und Ärzte in dieser Zeit die anthropologische Konstante Tod erstmals systematisch durchdrangen und reflektierten. Sie bildeten am Ende der Aufklärung einen Neologismus, der, wissenschaftlich-theoretisch begründend, dazu beitrug, den Übergang zwischen Leben und Tod mit einer eigenen Begrifflichkeit zu belegen. Diesem Reflektionsvorgang unterlag ein neues Beschreibungsmuster oder Erklärungsmodell einer anthropologischen Konstante und zog Vorschläge nach sich, dieses Konzept in Handlungsanweisungen umzusetzen. Das neue Verständnis des Todes machte die Neugründung von Institutionen nötig, erforderte Gesetzesinitiativen und legte einen Wandel der gesellschaftlichen Praktiken nahe. Der Wandel des Todesbildes, verstanden als Folge eines veränderten gesellschaftlichen Wissenstandes, macht zudem Aussagen über das oben dargestellte Verhältnis zwischen der Produktion von Wissen und der da-
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Ebd. Ebd., S. 21.
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mit einhergehenden Produktion von sogenanntem Nicht-Wissen. Diese Arbeit geht davon aus, dass die Grundkonstante »Tod« im Zuge der sozialen Differenzierung in verschiedene soziale Systeme übersetzt wurde und dort jeweils seine spezifische Ausprägung fand. Bezogen auf den Gegenstand »Scheintod« bedeutet dies, dass sich das gesellschaftliche Problem »Scheintod« einfach ausdifferenzierte. Es verschwand aus dem Sichtfeld der breiten Öffentlichkeit, weil es sich in verschiedene Topoi und Praktiken auffächerte. Der Scheintod wurde nicht einfach durch die zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnisse eingedämmt und kontrolliert – auch wenn dies der Selbstwahrnehmung der Wissenschaftler am Ende des 19. Jahrhunderts entsprach. Andere medizinische Themen lösten ihn ab und vereinnahmten ihn.
Historische Argumente für ein skeptischkonstruktivistisches Konzept von Verwissenschaftlichung Verwissenschaftlichung als den Zusammenhang des »Charakters der neuzeitlichen Wissenschaft« und seinen »Veränderungen im Verhältnis zur Gesellschaft« zu verstehen, stellt die Frage in den Mittelpunkt, wie wissenschaftliches Wissen Teil der Gesellschaft wird. Diese Frage greift die vorliegende Arbeit auf und versucht aus historischer Perspektive einen Beitrag zu ihrer Beantwortung zu leisten. An dieser Stelle sollen Ergebnisse historischer Arbeiten herangezogen werden, die die Kritik an einem eindimensionalen Verständnis von Rationalisierung untermauern und historische Argumente dafür liefern, weshalb das im vorigen Abschnitt dargestellte Konzept des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft angemessener für das Verständnis von Verwissenschaftlichung ist. Dieser Ansatz soll systematisch mit dem Thema dieser Arbeit, dem Scheintod, verknüpft werden. Verwissenschaftlichung im Sinne einer eindimensionalen Rationalisierung zu verstehen, hat einen seiner prominentesten Theoretiker nach wie vor in Max Weber. Seine Rationalisierungsthese, die als Diktum von der »Entzauberung der Welt« Eingang in den wissenschaftlichen Kanon gefunden hat, misst der Wissenschaft im allgemeinen Rationalisierungsprozess eine wichtige Rolle zu.19 Denn entzaubert wird die Welt dadurch, dass es mit der Wissenschaft »das Wissen davon, oder den Glauben daran [gibt]: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnis19
Max Weber: Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919. Studienausgabe, Tübingen: Mohr 1994, S. 1-23, S. 9. 15
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vollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip durch Berechnen beherrschen könne«.20
Die Wissenschaft, so dieser Ansatz, stellt Methoden und Erkenntnisse bereit, die Rationalisierung der Gesellschaft zu befördern, indem sie die »geheimnisvollen unberechenbaren Mächte«21 berechenbar, kalkulierbar und damit rationalisierbar macht. Die prinzipiell totalisierende Wirkungskraft der Wissenschaft stellt sich in Webers Perspektive so dar, dass sie alte Wissensformen und traditionelle Handlungsorientierungen komplett destrukturieren kann: Je mehr wissenschaftliche Gesetze und Regelmäßigkeiten entdeckt werden, umso mehr werden Volkskultur und Religion als Bezugsrahmen menschlichen Handelns zurückgedrängt und gehen verloren. In welchem Maße traditionelle Formen der Lebensführung verschwinden, hängt danach von der Durchdringungstiefe und Reichweite der Wissenschaft ab. Solange sie nur Teil der Elitenkultur bleibt, ist der Grad der Rationalisierung einer Gesellschaft niedrig. Die von Weber konstatierte zunehmende Durchdringung aller Lebensbereiche durch einen Prozess formaler Rationalisierung, zu dessen Merkmalen die Bürokratisierung und Rationalisierung der Lebensführung gehören, kennzeichnet das Leben des modernen im Unterschied zu dem des vormodernen Menschen. Gleichzeitig weist Weber auch auf die Schattenseiten eines solchen Prozesses hin. Er bezeichnet die moderne Rationalisierung als »stahlhartes Gehäuse«, in dem die emotionalen und irrationalen Bedürfnisse des Menschen auch in der Moderne nicht befriedigt werden könnten. Eine solche modernisierungstheoretische Perspektive birgt verschiedene Probleme: In ihrer teleologischen Ausrichtung geht sie davon aus, dass die zunehmende gesellschaftliche Durchdringung von wissenschaftlichem Wissen zur Überwindung von Ideologie (in der Politik beispielsweise) und dem sogenannten Aberglauben und der Religion führt. In dem Maße, in dem Religion und Aberglauben verschwänden, nehme die Rationalität zu. Um die negative, kulturkritische Wahrnehmung dieses Prozesses auf einen Begriff zu bringen, haben Rationalisierungskritiker den Ausdruck der »Kolonisierung der Lebenswelt« geprägt.22 Sowohl in Bezug auf die Beschaffenheit wissenschaftlichen Wissens, die dieser modernisierungstheoretischen Perspektive zugrunde liegt, als auch im Hinblick auf die prinzipielle Wirkungsmacht der Wissenschaft in ihrer Relation zum tradierten Wissen und zur Religion konterkariert histori20 21 22
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Ebd. Ebd. Weingart hat diese Modelle Technokratietheorien genannt. Vgl. Weingart: Stunde der Wahrheit?, S. 19.
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sches Wissen Webers Perspektive. Historiker plädieren entsprechend dafür, den Modernisierungsprozess nicht als Zunahme von Wissenschaft und proportional dazu abnehmendem traditionellen Wissen zu betrachten. Ihre Arbeiten belegen, dass die größere gesellschaftliche Präsenz wissenschaftlichen Wissens nicht als lineare Zunahme oder als ersatzlose Verdrängung alter Wissensbestände zu verstehen ist. So gibt es erstens Hinweise in historischen Arbeiten, die darauf hinweisen, dass die Wissenschaft immer schon durch andere Wissensbestände gewissermaßen kontaminiert und vermischt wurde. Es handelt sich also nicht nur um experimentell-empirisch hergestelltes Wissen, das als wissenschaftliches Wissen gesellschaftlich wirksam wurde, sondern auch wissenschaftliches Wissen griff auf schon vorhandenes Wissen der Bevölkerung oder vorprofessionellen Gruppen zurück. So wurden die Kompetenzen der Leichenwäscherinnen seit Anfang des 18. Jahrhunderts von der frühneuzeitlichen »medizinischen Polizey« in Anspruch genommen, indem ein städtisches Amt für sie geschaffen und sie auch im frühneuzeitlichen Staat zu Funktionsträgerinnen wurden.23 In Hannover beispielsweise setzte die frühneuzeitliche Verwaltung Leichenfrauen ein, die für die Meldung von ansteckenden Krankheiten zuständig waren sowie mit der Versorgung von alleinstehenden Kranken und Toten betraut wurden. Somit beschränkte sich der Aufgabenbereich der Leichenwäscherinnen im frühen 18. Jahrhundert nicht nur darauf, Tote für die Bestattung vorzubereiten, er erstreckte sich auch auf die Pflege von Kranken und die Begleitung von Sterbenden. Ein Jahrhundert später hatten sich die Verwaltungs- und Tätigkeitsbereiche der Leichenwäscherinnen wieder verändert. In Hannover waren sie seit 1890 Angestellte des Stadtgartenamts, also einer hygienischen Behörde. Sie waren zuständig für diejenigen Leichen, die nicht im Kreise ihrer Angehörigen, sondern in Krankenhäusern oder allein starben. Der behördliche Bedarf von Wissensbeständen, die von Frauen in Tätigkeiten umgesetzt wurden, hatte sich im Professionalisierungsprozess offensichtlich eingeschränkt. Nur noch die Armen- und Begleitfürsorge blieb übrig. Die Kompetenz der Todesfeststellung bei ambivalenten Fällen beispielsweise war auf 23
Vgl. Karljosef Kreter: »›… das ich doch die Todten auf hiesiger Neustadt alle bekommen möge‹. Totenfrauen – Geschlechterfragen beim Dienst am Toten«, in: Karin Ehrich/Christiane Schröder (Hg.): Adelige, Arbeiterinnen und …. Frauenleben in Stadt und Region Hannover, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1999, S. 87-111; in Marburg waren die Totenfrauen seit 1799 städtische Angestellte: Dietmar Cremers: »Totenweiber und Totengräber in einer mittelhessischen Kleinstadt – zwei Beispiele zum Umgang mit dem Leichnam im 19. Jahrhundert«, in: Norbert Stefenelli (Hg.): Körper ohne Leben. Begegnungen und Umgang mit Toten, Köln/Weimar: Böhlau 1998, S. 181-187. 17
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Ärzte übergegangen. Gleichzeitig rüsteten die Ärzte technisch auf, was die Asymmetrie zwischen Handlungsbefugnissen, die auf tradiertem Wissen und wissenschaftlichem Wissen beruhten, im Laufe des 19. Jahrhunderts noch verstärkte. Instrumente wie das Stethoskop erleichterten dann die Feststellung des Herzstillstandes. In Bezug auf das Verhältnis zwischen wissenschaftlichem Wissen und anderen Wissensbeständen hat der französische Historiker Alain Corbin herausgearbeitet, wie Geruchsbelästigung zu einem wissenschaftlichen Konzept wurde. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts setzte eine Debatte über den Zustand der Friedhöfe ein, in deren Zentrum die Klagen über ihre Überfüllung und die damit entstandenen Gerüche standen. Ärzte und Chemiker wiesen auf die daraus resultierende Gefährdung der Lebenden durch die Ausdünstungen der verwesenden Leichen hin und belegten ihre Behauptungen mit Schwindel- und Ohnmachtsanfällen, die bei Friedhofsbesuchern auftraten. Die Sensibilität für hygienische Mängel der Begräbnisstätten war Teil einer medizinischen Auseinandersetzung, die im Zuge der Aufklärung entstanden war und die Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege aufgriff. Bürgerliche Sensibilitäten wie Geruch und Ekel waren Grund genug, wissenschaftliche Aktivitäten zu mobilisieren und besaßen zugleich Gültigkeit als empirischer Beweis.24 Entsprechend sind für die vorliegende Arbeit nebeneinander existierende Wissensbestände und der Wandel ihrer sozialen Bedeutung von Interesse. Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (HWDA) gibt beispielsweise eine Fülle von Auskünften darüber, wie man sich im Todesfall zu verhalten habe und wie mit dem toten Körper umzugehen sei. Auch wenn berücksichtigt werden muss, dass dieses Werk ein Produkt der Volkskunde des 19. Jahrhunderts ist, das den Volksglauben tendenziell als Aberglauben romantisiert oder deklassiert, ist es dennoch eine Fundgrube, die erkennen lässt, dass das Wissen über den Tod immens war und die Menschen über ein großes Repertoire an Handlungsanweisungen verfügten. Des Weiteren konterkarierte die Wahl der wissenschaftlichen Objekte im Professionalisierungsprozess den ärztlichen Anspruch auf Objektivität und Universalität. Mediziner bezogen ihr Wissen am Krankenbett in erster Linie über diejenigen Menschen, die außerhalb der sozialen Ordnung standen und die sich überhaupt nur in Krankenhäusern befanden, weil kein soziales Netzwerk sie auffing.25 Auch Frauen waren dies24
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Vgl. Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin: Wagenbach 1982, S. 59 ff; vgl. auch Ariès: Geschichte des Todes, S. 634 ff. Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München: Hanser 1973.
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bezüglich bevorzugte Untersuchungsobjekte. Als »das Andere« in der bürgerlichen Gesellschaft boten sie sich als Beleg für das basale Unterscheidungskriterium der bürgerlichen Gesellschaft (»normal« versus »pathologisch«) an. Die anatomischen Theorien und Darstellungen des 19. Jahrhunderts liefern anschauliche Beispiele für diese Konstruktionsleistung. Die Anatomen strebten an, durch das Öffnen einer Leiche das unsichtbare Reich des menschlichen Körperinneren sichtbar zu machen und ihre Theorien am Körper einer toten Frau zu verifizieren.26 Entsprechend betrafen medizinische Theorien Männer und Frauen auf unterschiedliche Art und Weise. So wurde Frauen am Ende des 18. Jahrhunderts eine höhere Affinität zum Scheintod zugewiesen und diese konnte medizintheoretisch begründet werden. Der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland attestierte den Frauen in seiner Abhandlung über den Scheintod, dass »die Dauer der Reizbarkeit bey dem weiblichen Geschlecht länger [sei], als bey dem männlichen; auch ist die Reizbarkeit bey ihnen in einem stärkeren Grade. Das weibliche Geschlecht ist dem Scheintode mehr ausgesetzt, als das männliche«.27 Der Wissenschaft gelang es durch Theorien wie dieser, die Konstruktion »normal« versus »pathologisch« zu legitimieren und die Assoziation von Frauen mit Krankheit, Leiden und Verfall zu objektivieren und zu verifizieren. Ein weiteres Beispiel für das komplexe Verhältnis zwischen wissenschaftlichem Wissen und alten Wissensbeständen stellt Carl von Linnés Klassifikationssystem der Botanik dar. Es macht deutlich, dass wissenschaftliche Bezeichnungen vorher vorhandene Begrifflichkeiten zwar kategorial unterwanderten, aber nicht aufhoben. Linné schuf mit seinem 1735 erschienenen Werk Systema Naturae die Grundlage der modernen biologischen Systematik.28 Die binäre lateinische Nomenklatur, die mit der Festlegung des Artenbegriffs verbunden war und auf der Verteilung, Zahl und Verwachsung der Geschlechtsorgane gründete, gab der Pflanzenwelt eine bis heute gültige neue Systematik. Sie führte jedoch nicht dazu, dass umgangssprachliche Namen der Pflanzen ausstarben, beispielsweise existierte neben der Bezeichnung »Viola canina« die Angabe »Hundsveilchen«. Es entstand also eine Art mehrschichtiger Alltag, 26
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Vgl. Ruth Richardson: Death, Dissection and the Destitute, London/New York: Routledge & Paul 1987; Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München: Kunstmann 1994. Christoph Wilhelm Hufeland: Der Scheintod, oder Sammlung der wichtigsten Thatsachen und Bemerkungen darüber, in alphabetischer Ordnung, Berlin: Matzdorff 1808, S. 96-97. Vgl. Londa Schiebinger: »Das private Leben der Pflanzen. Geschlechterpolitik bei Carl von Linné und Erasmus Darwin«, in: Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main: Fischer 2001, S. 107-133. 19
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in dem wissenschaftliche Namen und alltagssprachliche Bezeichnungen gleichermaßen verwendet wurden. In allen diesen Fällen führte Verwissenschaftlichung zwar zur Delegitimierung ehemals vorherrschender Werte, die Destrukturierung bedeutete aber gleichzeitig eine Restrukturierung der Gesellschaft, indem neue und andere Institutionen und Normen gebildet wurden.29 Für historische Analysen des Verwissenschaftlichungsprozesses ist entsprechend aufschlussreich, dass eine Gesellschaft neue Institutionen gründet und es ist zu untersuchen, wie sie mit diesen Einrichtungen umgeht. Wie beispielsweise bewältigen die Zeitgenossen die Diskrepanz zwischen wissenschaftlichen Ansprüchen und ihrer Lebenswelt? Wie gehen sie damit um, dass Menschen sich nicht impfen lassen wollten oder sich weigerten, akademische Ärzte aufzusuchen? Zur Beantwortung dieser Frage sind die sozialstrukturellen und mentalitätsgeschichtlichen Bedingungen zu betrachten, auf welche die Strategien zur Durchsetzung der Wissenschaft trafen. So stoßen Versuche, die gesellschaftlichen Praktiken, Gesetze oder Institutionen zu ändern, die sich aus neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben, auf eine bestimmte Konstellation von rechtlichen, mentalen oder politischen Vorgaben. Auf diese Konstellationen soll in der vorliegenden Arbeit das Augenmerk gerichtet werden. Worauf verweist beispielsweise der Befund, dass die Benutzung von Leichenhäusern am Anfang des 19. Jahrhunderts von der Bevölkerung abgelehnt, am Ende des 19. Jahrhunderts jedoch von ihnen Gebrauch gemacht wurde? Ein Grund für den sich wandelnden Autoritätsstatus des Wissens kann das konkrete Handeln von Personen sein. Zu untersuchen ist entsprechend, inwiefern die Durchsetzungsfähigkeit des Wissens von der Einbindung lokaler Funktionsträger und Eliten abhängig war. Konnten nichtwissenschaftliche Autoritäten wie Geistliche oder Verwaltungsangehörige gewonnen werden, um die Verbreitung und Popularisierung von Wissen voranzutreiben? Belege in historischen Arbeiten, dass Wissenschaft oder Religion nicht streng getrennte Sphären waren, unterstützen diese Überlegungen: Wissen konnte je nach Situation an ein- und demselben Ort von ein- und derselben Person aktualisiert und für sich beansprucht werden, je nachdem wie die betroffenen Personen die Situation wahrnahmen und welche Rolle sie darin einnahmen. Diese Form der Wahlverwandtschaft zwischen Wissenschaft und Religion und die Personalunion von Gelehrten und Geistlichen hat Steven Shapin gezeigt. Die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts stand in Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um religiöse Autorität und 29 20
Vgl. Weingart: »Verwissenschaftlichung der Gesellschaft«, S. 229.
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Schrifttum, an der Vertreter der Geistlichkeit maßgeblich beteiligt waren.30 Die Dispute führten nicht dazu, dass die göttliche Autorität abgelehnt oder negiert wurde, sondern die neuen Erkenntnisse wurden mit dem religiösen Wissen harmonisiert. Die Teilnehmer dieser Auseinandersetzungen verstanden sich sowohl als Theologen als auch beanspruchten sie, auf der Höhe des wissenschaftlichen Forschungsstandes zu sein. Gleichzeitig heißt dies auch, dass eine Mehrschichtigkeit des Alltags immer quer zu Milieus, Klassen und Professionen steht. Neben dem Blick auf personale Wissensvermittler ist zudem von Interesse, wie sich der Status von Wissen über den Gebrauch von Techniken und Instrumenten geändert hat.31 Wie ist die Herstellung von Autorität durch Personen im Vergleich zu technischen Instrumenten zu gewichten? Lorraine Daston hat in Bezug auf den Fotoapparat darauf aufmerksam gemacht, dass ein mechanischer Gegenstand seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Garanten für die Herstellung wissenschaftlicher Objektivität wurde, weil er, so die zeitgenössische Auffassung, Authentizität rein mechanisch erzeugen konnte. Objektivität herzustellen hieß, so zeigt dieses Beispiel, das menschliche Eingreifen aus dem wissenschaftlichen Prozess auszuschließen, und technische Geräte schienen dies zu gewährleisten.32 Um die Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen vor Ort und den konkreten lokalen Umgang mit den verschiedenen Wissensbeständen in den Blick zu bekommen, haben sich Fallstudien als weiterführender methodischer Zugang erwiesen. Für die vorliegende Studie konnten zwei Fälle eruiert werden. Dabei handelt es sich erstens um eine Klage über »die grausame Gewohnheit des zu frühen Begrabens« aus dem Jahre 1810 im Herzogtum Oldenburg. Anhand dieser wird die Geschichte der Drei-Tages-Regelung für Bestattungen erzählt, die in diesem Zeitraum in verschiedenen deutschen Territorien eingeführt wurde. Zweitens werden anhand des 21-tägigen Scheintodes des Caspar Kreite aus Paderborn aus dem Jahr 1833 die Umstände der Errichtung eines Leichenhauses rekonstruiert. Die Verkleinerung des Maßstabs ermöglicht es zunächst, Aussagen über kulturelle Praktiken und Alltagser30
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Vgl. Steven Shapin: »Woher stammte das Wissen in der wissenschaftlichen Revolution?«, in: Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, S. 43-103; Oliver Hochadel: Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung, Göttingen: Wallstein 2003. Vgl. Jens Lachmund: Der abgehorchte Körper. Zur historischen Soziologie der medizinischen Untersuchung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997; Volker Hess, Der wohltemperierte Mensch. Wissenschaft und Alltag des Fiebermessens (1850-1900), Frankfurt/New York: Campus 2000. Vgl. Lorraine Daston: »Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität«, in: Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, S. 137-158, S. 154. 21
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fahrungen zu treffen. Bezüglich ihrer Repräsentativität sei zugestanden, dass sie – in den Worten Edoardo Grendis – nur das »außergewöhnliche Normale«33 darstellen: Diese Fälle sind nur aktenkundig geworden, weil sie die öffentliche Ordnung störten und sich Bürokratie, Geistlichkeit und Ärzte einschalteten. In der Art und Weise jedoch, wie diese Störungen behandelt wurden, welche Wissensbestände wirksam und welche Argumente benutzt wurden, gehen sie über die Außergewöhnlichkeit hinaus und weisen auf eine historische Normalität hin. Des weiteren helfen Fallstudien bei der Beantwortung der Frage, wie Wissen(schaft) sozial implementiert wird, da an einem konkreten Ort Produzenten und Rezipienten von Wissen auftreten und gegebenenfalls miteinander in Kontakt treten (müssen). Die verschiedenen historischen Akteure, Ärzte, Priester und Verwaltungsbeamte, treffen aufeinander und müssen ihre Weltbilder und Ansprüche verhandeln. Der Verlauf und die Ergebnisse des jeweiligen Falls können in dieser Arbeit in Bezug auf die verschiedenen Wissensbestände und ihre Durchsetzungskraft analysiert werden. In Bezug auf die Produktion, Aneignung und Zirkulation von Wissen schließt die vorliegende Arbeit an die Sekundärliteratur an, die es für überholt hält, dass es eine Diffusion der Ideen von oben nach unten gebe und dass soziale Unterschichten die Ideen der Elitenkultur nur passiv aufnähmen.34 Vielmehr muss man sich den Prozess als ein Amalgam aus Bestandteilen unterschiedlicher Sphären vorstellen. Unterschiedliche Wissenssphären vermischten sich und wurden zu einem neuen Weltbild integriert.35
Forschungsstand Diese Arbeit argumentiert mit einer Diskontinuität in der Sinnstiftung des Todes. Sie geht davon aus, dass die Transformationen in der Aufklärung eine neue Definition von Leben und Tod sowie neue gesellschaftliche Praktiken, Institutionen und Einstellungen im Umgang mit dem Tod hervorgebracht haben. Dafür steht exemplarisch die Diskussion um den Scheintod, die die Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur, welche die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung mit sich brachte, 33
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Zit. nach Hans Medick: »Mikro-Historie«, in: Winfried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 40-53, S. 47. Vgl. Peter Burke: Varieties of Cultural History, Cambridge: Polity Press 1997; Roger Chartier: Cultural History between Practices and Representations, Ithaca: Cornell University Press 1987. Mittlerweile klassisch Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Berlin: Wagenbach 1990.
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reflektiert. Diese Veränderungen erfassten auch nicht-medizinische und nicht-wissenschaftliche Wissensbestände, die sich ihrerseits mit Veränderungen in der Sinnstiftung des Todes auseinandersetzen mussten. Das Thema Tod ist also ein Schlüsselphänomen für die Epochenschwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert: Denn die gesellschaftlichen Transformationsprozesse und die neue Sinnstiftung des Todes stellen parallele Diskontinuitäten dar, die sich gegenseitig erhellen. Diese Diskontinuitäten durch die Aufklärung einerseits und in der Sinnstiftung des Todes andererseits werden deshalb so hervorgehoben, weil sie konstitutiv für die moderne Gesellschaft sind und die moderne von der vormodernen Gesellschaft unterscheiden. In der Diskussion um den Scheintod kommt entsprechend ein Todesverständnis zum Ausdruck, das für ein modernes Verständnis des Todes steht. Der nun folgende Abschnitt greift diese parallele Diskontinuität auf und diskutiert in einem ersten Schritt den Zusammenhang zwischen dem historischen Befund der erschütterten heilsgeschichtlichen Erwartung und den Deutungen, die der modernen Gesellschaft für die Sinnstiftung des Todes angeboten werden. Der Verlust der Auferstehungshoffnung und des Lebens im Jenseits hat kulturkritische Ansätze hervorgebracht, die genau dies beklagen. Von philosophischer und sozialwissenschaftlicher Seite ist ein solches Deutungsangebot, das auch in den Feuilletons sehr prominent war und noch immer ist, die These von der »Verdrängung des Todes«.36 Diese These wird auf ihren Gehalt überprüft und innerhalb weiterer sozialwissenschaftlicher Deutungsangebote positioniert. Dadurch soll deutlich werden, dass der Bruch zwischen moderner und vormoderner Gesellschaft entlang der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung verläuft und dieser Bruch argumentativ von den modernen Sozialwissenschaften genutzt wurde. Erst dann wird in einem zweiten Schritt die Historiographie über den Scheintod im 18. und 19. Jahrhundert nach ihren Ergebnissen befragt und es wird dargestellt, wie die vorliegende Arbeit an die Sekundärliteratur anschließt. Die Geschichte des Todes seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wird gemeinhin wie folgt erzählt: Das Bevölkerungswachstum sowie die Akkumulation des Kapitals und des Wissens im 19. und 20. Jahrhundert führten mithilfe der staatlichen Institutionen dazu, den Bereich des Todes neu zu regeln. Vormalige Umgangsformen mit dem Tod erwiesen sich angesichts des sozialen Wandels als ungeeignet und so wurden die Bürokratie, die Medizin, das Recht und die Professionen zur Steuerung des gesellschaftlichen Umgangs mit Tod und Sterben herangezogen. Be36
Vgl. zur Verdrängungsthese zuletzt Armin Nassehi/Georg Weber: »Verdrängung des Todes – Kulturkritisches Vorurteil oder Strukturmerkmal moderner Gesellschaften?«, in: Soziale Welt 39 (1988), S. 377-396. 23
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stattungsunternehmer, Ärzte und Verwaltungsbeamte nahmen der Familie und Nachbarschaft den Umgang mit dem Tod mehr und mehr ab. Im 19. Jahrhundert, so lautet die gängige These für die Geschichte des Todes, begannen Wissenschaft und Technik gemeinsam mit Bürokratie und Wirtschaft Leben und Tod zu kontrollieren. Diese Literatur ist grundsätzlich mit einer mehr oder weniger verhaltenen Kulturkritik an der modernen Industriegesellschaft unterlegt. Sie beklagt, dass der Tod in der Moderne verdrängt würde.37 Seine Tabuisierung, die Unfähigkeit, den Tod zu kommunizieren und ihn damit zum Bestandteil des Lebens zu machen, seien Merkmale des modernen Verhältnisses zum Tod. Der zweite Subtext, der die Forschungsliteratur durchzieht, besteht in den normativen Implikationen, die in diesen Texten für die moderne Gesellschaft bereitgestellt werden. Die Verdrängung des Todes führe zur Einsamkeit der Sterbenden in den Krankenhäusern und verdränge ihn, der doch gleichsam natürlicher Bestandteil des Lebens wie Geburt, Pubertät oder Alter sei, aus der Lebenswirklichkeit. Ein sogenannter »guter« Tod geschähe inmitten der Familie, umgeben von Freunden und werde aufgefangen von der Gemeinschaft. Diese Kulturkritik bezieht ihre Plausibilität in erster Linie aus den Individualisierungs- und Entfremdungstheorien der modernen Gesellschaft.38 Denn auch gegenwärtig müssen Menschen mit dem Tod des anderen und dem Bewusstsein ihrer eigenen Sterblichkeit konkret umgehen und sich konfrontieren: Sie müssen Bestattungen organisieren und den Verlust durch Tod verarbeiten. Die Verdrängungsthese verstellt durch ihre Romantisierung der traditionalen Gesellschaften jedoch den Blick auf die konkreten Praktiken, die in der modernen Gesellschaft an die Stelle von traditionalen Verarbeitungsformen getreten sind. Denn, darauf haben Autoren wie Norbert Elias und der französische Historiker Michel Vovelle hingewiesen, ist die Verdrängung des Todes kein genuin
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Die ersten sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen, die von einer Verdrängung des Todes sprachen, waren Herman Feifel (Hg.): The Meaning of Death, New York/Toronto/London: McGraw-Hill 1959 und Geoffrey Gorer: Death, Grief and Mourning in Contemporary Britain, London: Cresset Press 1965. Für den deutschsprachigen Raum vgl. Werner Fuchs (Hg.): Todesbilder in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969. Vgl. Klaus Feldmann: »Sterben und Tod. Sozialwissenschaftliche Theorien und Forschungsergebnisse«, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 34; Alois Hahn: »Tod und Sterben in soziologischer Sicht«, in: Jan Assmann/Rolf Trauzettel (Hg.): Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, Freiburg: Alber 2002 (= Veröffentlichungen des »Instituts für Historische Anthropologie e.V.«, Bd. 7), S. 55-89.
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neuzeitliches Phänomen.39 Angst vor dem Tod und seine Tabuisierung habe es zu allen Zeiten gegeben, geändert hätten sich laut Elias nur die Formen der Verdrängung. Auch für Michel Vovelle sind ältere Formen der Verdrängung nur durch neuere abgelöst worden. So sei beispielsweise an die Stelle der mythischen Negation des Todes das Verbergen des biologischen Vorgangs, der realen Leiche, getreten. Die Konfrontation mit dem Tod ist nicht verschwunden, sie ist nur anders, vielfältiger und vermittelter geworden. Um den normativen Setzungen und kulturkritischen Fluchtpunkten der Verdrängungsthese zu entgehen, sind neuere soziologische Arbeiten von einer differenzierungstheoretischen Perspektive ausgegangen. Danach gibt es eine funktionale Zergliederung der Gesellschaft, in der die an dem Umgang mit dem Tod Beteiligten – so das Krankenhaus und das Pflegeheim, die Bürokratie und die Bestatter – sich Tod und Sterben auf jeweils spezifische Weise angeeignet haben. Der Tod wurde demnach nicht verdrängt, sondern die Praktiken im Umgang mit Tod und Sterben differenzierten sich lediglich aus.40 Diese differenzierungstheoretische Perspektive ist eng an das Verwissenschaftlichungskonzept gebunden, das in dieser Arbeit Anwendung findet. Denn wie sich die Praktiken im Umgang mit Tod und Sterben ausdifferenzierten, differenzierte sich auch das Wissen über den Scheintod aus. Er verschwand nicht oder löste sich im Zuge der Verwissenschaftlichung auf, sondern hielt als Koma oder Erste-Hilfe-Thema, als Belletristik oder Gesetz zur Leichenschau Eingang in die zuständigen gesellschaftlichen Funktionsbereiche. Auch die Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft erscheint in der differenzierungstheoretischen Perspektive in einem anderen Licht.41 Die Form der religiösen Sinnstiftung am Ende des Lebens veränderte sich nicht deshalb, weil es keinen gesellschaftlichen Erklärungsbedarf mehr gibt. Jedoch wandelte sich die gesellschaftliche Rolle der Religion überhaupt, etwa in der Politik und den Wissenschaften, was sich schließlich auch im Umgang mit dem Tod niederschlug. Im Verlauf der modernen Gesellschaft wurde die Religion zu einem Deutungssystem neben anderen. Deshalb ist auch die Geschichte des Umgangs mit dem Tod von einer latenten Konkurrenz zwischen religiöser und wissen39
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Vgl. Norbert Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983; Michel Vovelle: Piété Baroque et Déchristianisation en Provence au XVIIIe Siècle. Les Attitudes Devant la Mort d’Après les Clauses des Testaments, Paris: Plon 1983. Vgl. Norbert Fischer: Wie wir unter die Erde kommen. Sterben und Tod zwischen Trauer und Technik, Frankfurt am Main: Fischer 1997; Feldmann: Sterben und Tod, S. 11-17. Vgl. Niklas Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. 25
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schaftlich-medizinischer Interpretation geprägt. Konflikte zwischen den unterschiedlichen Deutungssystemen werden meist konkret ausgetragen, wenn etwa die Ärzte ihre Kompetenz für die Leiche geltend machten, die damit nicht nur Objekt der Religion, sondern auch medizinischer Sorge wurde. Der differenzierungstheoretischen Perspektive gelingt es wegen ihres höheren Abstraktionsgrades und des geringeren kulturkritischen Bias’, Wissensbestände wie die Religion nicht von vornherein aus der Untersuchung wissenschaftlicher Prozesse auszuschließen und offener für das Nebeneinander unterschiedlichen Wissens zu bleiben. Um den Bogen zu dem anfangs postulierten Zusammenhang zwischen der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung und den soziologischen und philosophischen Deutungsangeboten zu schlagen, soll auf eine Gemeinsamkeit der differenzierungstheoretischen Perspektive und der Verdrängungsthese hingewiesen werden: Sie werden beide nicht zufällig auf die Beschaffenheit und den Zustand moderner und nicht vormoderner Gesellschaften angewendet. Denn beide Thesen oder Theorien beinhalten den Wandel in der Sinnstiftung des Todes schon als Voraussetzung oder haben das moderne Verständnis des Todes implizit zu ihrem Grundpfeiler gemacht. Während die Verdrängungsthese den Verlust des »guten« Todes beklagt und ihn aus dem allgemeinen Bewusstsein verdrängt sieht, fasst die Differenzierungstheorie diesen Verlust abstrakter. So kann man argumentieren, dass die Idee moderner Funktionssysteme darauf basiert, den durch die erschütterte christliche Heilsgeschichte verlorenen Sinn zu kompensieren, indem – systemtheoretisch formuliert – die anthropologische Konstante Tod in den jeweiligen Funktionssystemen in die entsprechenden Codes übersetzt wird. Durch die Umsetzung der anthropologischen Konstante »Tod« in ein spezifisches Funktionssystem wird dem Tod Sinn verliehen. Wenn die Medizin Krebstherapien oder Medikamente entwickelt und wenn die Wirtschaft das System der Lebensversicherungen ausbaut, so sind dies in einer Gesellschaft, die sich nicht mehr auf ein Weiterleben im Jenseits verlassen kann, sinnvolle Maßnahmen des Umgangs mit Tod und Sterben. Diese Übersetzungstätigkeit ist damit eine Form, mit dem Verlust der Auferstehungshoffnung umzugehen und stellt eine Form der Sinnstiftung des Todes dar: Sie nahm ihren Anfang in den Lebensrettungs-, Lebenserhaltungs- und Lebensverlängerungsmaßnahmen seit der Aufklärung. Wenn an dieser Stelle von Sinn gesprochen wird, geschieht das nicht im Sinne eines positiv besetzten oder normativ gemeinten »sinnvoll«. Mit sinnförmigem Erleben und Handeln ist gemeint, dass individuelles Tun an den Möglichkeitsraum einer Gesellschaft anschließt, der durch die sozialen, kulturellen und kollektivmentalistischen Ressourcen vorge-
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geben ist.42 In der modernen Gesellschaft, in der die Unsterblichkeit der Seele nicht mehr gesichert ist, kann es entsprechend für sinnvoll gehalten werden, neue Unsterblichkeitsstrategien zu entwickeln und sich beispielsweise als Plastinat verewigen zu lassen. So ist Günther von Hagens Ausstellung »Körperwelten«, die Millionen Besucherinnen und Besucher anzieht, gerade deshalb so populär, weil darin das Angebot gemacht wird, irdische Unsterblichkeit zu erlangen.43 Die zahlreichen Menschen, die zu Lebzeiten die Einwilligung geben, sich plastinieren zu lassen, sehen in der Ausstellung ästhetisierte Körper, die bis in alle Ewigkeit überdauern, und streben dies auch für sich selbst an. Was von einer Gesellschaft als sinnvoll bewertet wird, hängt also vom jeweiligen Bezugsrahmen ab und verweist auf die existenten Werthaltungen und Normen. Ob in einer Gesellschaft Unsterblichkeitsphantasien populär sind oder diese im Umgang mit Tod und Sterben überhaupt nicht auftauchen – welche Entscheidungen eine Gesellschaft für ihre Sinnstiftung des Todes trifft – gibt damit Auskunft über die Beschaffenheit der Gesellschaft. Was die soziologische Theorie als Übergang von der stratifizierten zur funktional-differenzierten Gesellschaft beschreibt, greift in ihren Unterscheidungskriterien auf historisches Wissen zurück. Reinhart Koselleck hat diesen Übergang als »Auflösung der alten und die Entstehung der modernen Welt« bezeichnet, der sich als gesellschaftliche Erfahrung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Bewusstsein der Menschen niederschlug.44 In der Geschichte des Todes ist diese Transformation als Säkularisierung oder wie in der französischen Historiographie als Dechristianisierung beschrieben worden. Sie hatte die zunehmende Trennung der Lebenden von den Toten zur Folge. Dabei wird ein erster Säkularisierungsschub für die Periode der Konfessionalisierung konstatiert. Der für das Mittelalter geltenden These von der Gemeinschaft der Lebenden und der Toten (communio vivorum et mortuorum) wurde seit der Reformation eine Hinwendung zum Diesseits gegenübergestellt, die zum einen eine Schwächung klerikalen Einflusses mit sich brachte und zum anderen die Einstellung stärkte, dass das Leben im Diesseits durchaus gottgefällig sei. Die Reformation stärkte Formen des bürgerlichen Zusammenlebens und reduzierte die Rolle des Klerus bei der Beerdi42 43
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Vgl. Luhmann: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, S. 17-18. Vgl. Thomas Assheuer: »Die Olympiade der Leichen. Der Tabubruch erreicht eine neue Qualität. Gunther von Hagens ›Körperwelten‹ ziehen in ein Hamburger Erotik-Museum«, in: Die ZEIT, Nr. 35, 21.08.2003, S. 35. 5200 Leichen wurden Gunther von Hagens bis zu diesem Zeitpunkt bereits für seine »Körperwelten«-Ausstellung gespendet. Reinhart Koselleck: »Einleitung«, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. XIII-XXVII, S. XIV. 27
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gung.45 Diese Form der Verweltlichung tastete den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und ihr Schicksal im Jenseits jedoch nicht an. Maßgeblich für die Geschichte der Dechristianisierung des 18. und 19. Jahrhunderts sind nach wie vor die Ergebnisse des französischen Historikers Michel Vovelle. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Religion und Einstellung zum Tod setzt er den Prozess der Dechristianisierung zwischen 1760 und 1815 an. In dieser Zeit nahmen religiöse Formeln in Testamenten, die Vovelle in großer Anzahl untersuchte, ab. Es wurde weniger nach Messen für die verstorbenen Seelen verlangt, und die Anrufung der Heiligen verschwand aus diesen Schriftstücken.46 Die Geschichte des Todes seit dem 18. Jahrhundert ist als Geschichte der Verdiesseitigung und der Sicherung des diesseitigen Lebens geschrieben worden. Der Verlust der heilsgeschichtlichen Erwartung habe dazu geführt, sich am Leben zu orientieren und die Lebenden von den Toten zu trennen.47 Sichtbarstes Zeichen für die Trennung von Lebenden und Toten war die Auslagerung der Friedhöfe vor die Städte. Der Tod war also nicht im kulturkritischen Sinne verdrängt worden, aber er wurde zumindest räumlich an den Rand verlegt. Die entstehende moderne Hygiene, die den Ausdünstungen toter Körper Schäden für die Gesundheit der Lebenden zuschrieben, lieferte das Argument, die Friedhöfe vor die Städte zu verlegen.48 Die Hygiene war eine Wissenschaft neben anderen, mit deren Hilfe Leben und Tod des Menschen neu geregelt wurden. Daneben wurden auf Grundlage mathematischer Verfahren Mortalitätsstatistiken eingeführt worden und die Medizin schrieb Ernährung und gesunde Lebensführung auf ihre Agenda.49 In diesen Zusammenhang der Wissenschaften der Aufklärung gehört auch die Diskussion um den Scheintod. Der folgende Abschnitt widmet sich deshalb nun der Sekundärliteratur über den Scheintod und stellt ihre Ergebnisse vor. Die vorhandene Sekundärliteratur wird nach Anschlussmöglichkeiten für die vorliegende Arbeit befragt und dabei in Beziehung zu den eigenen Fragestellungen gesetzt. Die Fragenkomplexe der bereits existierenden Studien können in zwei Stränge geteilt werden: Es gibt zum einen medizinhistorische Studien, die sich der medizinischen De45
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Vgl. Martina Kessel: »Sterben/Tod Neuzeit«, in: Peter Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart: Kröner 1993, S. 260-274. Vgl. Vovelle: Piété Baroque et Déchristianisation. Noch immer maßgeblich diesbezüglich ist Ariès: Geschichte des Todes. Vgl. Corbin: Pesthauch und Blütenduft, S. 59 ff; Norbert Fischer: Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland, Köln/Wien: Böhlau 1996, S. 15 f. Vgl. Erwin H. Ackerknecht: »Death in the History of Medicine«, in: Bulletin of the History of Medicine 43 (1968), S. 19-23.
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batte im engeren Sinne gewidmet haben. In ihnen geht es um die Frage nach der historischen Realität des Scheintodes, die auf die Wirkungsmächtigkeit der damaligen Medizin bezogen wird.50 Der zweite Strang der Forschungsliteratur hat sich um eine sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Verortung bemüht. In ihnen geht es weniger um den medizinischen Fortschritt und die Entwicklung wissenschaftlicher Techniken, sondern um Fragen der Professionalisierung und Medikalisierung, um kulturelle Praktiken im Umgang mit Tod und Sterben sowie sozialstrukturelle Voraussetzungen und Bedingungen der Scheintoddebatte. Geschah es tatsächlich, dass Menschen lebendig begraben wurden, und stimmen die zahlreichen Fälle, die im 18. Jahrhundert kolportiert wurden? War außerdem die Angst der Menschen vor einem vorzeitigen Begräbnis angesichts der medizinisch-wissenschaftlichen Fähigkeiten berechtigt? Der langjährige Gerichtsmediziner Koch verneint, dass ihm in seiner Praxis jemals solche Fälle untergekommen seien. Das Phänomen Scheintod als Vita reducta gebe es als physiologischen Zustand natürlich, in der Medizin bezeichne er einen so starken Rückgang aller Stoffwechselprozesse, dass sie ohne apparative Hilfe nicht mehr festzustellen seien. Entsprechend sei es durchaus möglich, dass dann und wann Fälle vorgekommen seien und noch immer vorkommen, bei denen Menschen lebendig begraben wurden. Angesichts der mangelhaften wissenschaftlichen Kenntnisse und der fehlenden technischen Geräte der Ärzte sei auch durchaus vorstellbar, dass eine reale Gefahr bestanden habe. Das Maß, in dem die Angst vor dem Scheintod die Gemüter des 18. Jahrhunderts in Atem hielt, interpretiert Koch jedoch als Aberglauben, als tradierte Vorstellung, die im sozialen Gedächtnis in ähnlicher Weise verankert sei wie die Existenz von Hexen. In ähnlicher Weise urteilt der britische Historiker John McManners in seinem Buch über die Einstellung zum Tod in der Aufklärung. Der Scheintod sei nichts anderes gewesen als französische Hypochondrie,51 die die Medizinhistorikerin Ingrid Stoessel gar tiefenpsychologisch deutet.52 Es handle sich dabei um eine pathologische Form der Angst, die aus der Verdrängung des Todes in der modernen Gesellschaft resultiere 50
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Vgl. Tankred Koch: Lebendig begraben, Leipzig: Tosa 1990; Jan Bondeson: Buried Alive. The Terrifying History of Our Most Primal Fear, New York: W. W. Norton & Co. 2001; Elisabeth Vogl: Der Scheintod. Eine medizingeschichtliche Studie, med. Diss. TU München: ohne Verlag 1986. Vgl. John McManners: Death and the Enlightenment, Oxford: Clarendon 1981, S. 48-49. Vgl. Ingrid Stoessel: Scheintod und Todesangst. Äußerungsformen der Angst in ihren geschichtlichen Wandlungen (17.-20. Jahrhundert), Feuchtwangen: Kohlhauer 1983. 29
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und in Phasen bis heute wiederkehre. Sowohl Koch als auch McManners und Stoessel kommen zu dem Schluss, dass die zahlreichen Publikationen, die das 18. und 19. Jahrhundert über dieses Thema produziert hat, nicht bewiesen, dass es tatsächlich zahlreiche Scheintodfälle gegeben habe. Die im 18. Jahrhundert initiierte Debatte habe jedoch glücklicherweise, gewissermaßen als Nebeneffekt, dazu geführt, den Gesetzgeber, die moderne Wissenschaft und die Technik zu veranlassen, Vorbeugungsmaßnahmen für den unwahrscheinlichen Fall zu entwickeln. Entsprechend lautet Kochs Resümee in Bezug auf die Gefahr des Scheintodes: »Moderne Gesetze, moderne Wissenschaft, moderne Techniken haben das Problem des Lebendig-Begrabenwerdens gelöst«.53 Die Publikationswelle über den Scheintod deutet die Medizinhistorikerin Margrit Augener hingegen als Mittel der Ärzte und Naturforscher, den Staat und die Öffentlichkeit in diese Problematik einzubinden. Sie schätzt damit eine reale Gefahr im 18. Jahrhundert höher ein, denn die medizinische Wissenschaft habe nicht über die geeigneten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Mittel verfügt, das Scheintodproblem zu lösen und musste auf nicht-wissenschaftliche Mittel wie Gesetzeserlasse und Volksaufklärung setzen. Der Fokus der Debatte habe entsprechend darin bestanden, auf Missstände des Begräbniswesens hinzuweisen und der Nachlässigkeit der Bevölkerung diesbezüglich entgegenzuwirken.54 Der dänische Medizinhistoriker Jan Bondeson schätzt die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden ebenfalls als eine reale Gefahr ein. Zwar gesteht auch er zu, dass es sich bei den vielen verbreiteten Fällen um literarisch geronnene Ängste oder tradierte Geschichten handelt. Jedoch glaubt der Medizinhistoriker, dass es in Seuchen- und Kriegszeiten durchaus möglich war, als Opfer während einer Epidemie oder im Krieg irrtümlich für tot gehalten worden zu sein.55 Die Geschichte des Scheintodes endet in diesen Werken da, wo die neuzeitliche Wissenschaft in Zusammenarbeit mit dem Staat und seiner Exekutive es schafft, Gesetze zur Verlängerung der Beerdigungsfristen durchzusetzen und Leichenhäuser zu bauen, in denen Scheintote von Ärzten überwacht werden können. Die erfolgreiche Eindämmung der Gefahr vor dem Scheintod wird weiterhin den Gesetzen zugeschrieben, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eingehalten wurden. Die mangelnde Akzeptanz der Leichenhäuser innerhalb der Bevölkerung wird dem geringen Maß an Verwissenschaftlichung zugeschrieben. So beendet Jan Bondeson seine Geschichte des Scheintodes um 1890 und gibt 53 54 55 30
Koch: Lebendig begraben, S. 109. Vgl. Margrit Augener: Scheintod als medizinisches Problem im 18. Jahrhundert, med. Diss. Kiel: ohne Verlag 1965. Bondeson: Buried Alive, S. 32-34 und S. 254.
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die Vorkriegszeit als den Zeitraum an, in dem die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden verschwand. Er macht dafür den medizinischen Fortschritt und die ärztliche Autorität verantwortlich. Neben diesen teleologisch ausgerichteten und dem Modell zunehmender Rationalisierung folgenden Geschichten haben andere Arbeiten sich um eine tiefenschärfere ideen-, sozial- und kulturgeschichtliche Einbettung bemüht. So widmet Philippe Ariès dem Scheintod in seiner monumentalen Geschichte des Todes zwar nur ein kurzes Kapitel, er verortet die Angst vor dem Scheintod jedoch als Ausdrucksform eines explizit modernen Todesverständnisses.56 Die Angst vor dem Scheintod sei einerseits nur imaginär gewesen, so Ariès, und die Geschichten über das Lebendigbegrabenwerden seien entsprechend in ihrer Fülle unglaubwürdig, andererseits jedoch stellte diese gesellschaftliche Phantasie eine Form des Ausdrucks dar, in der das Erschrecken über das neue Todesverständnis ausgelebt worden und in die die Angst vor der ungewiss gewordenen Unsterblichkeit geronnen sei. Martin Patak leitet die Angst vor dem Scheintod direkt aus der Philosophie der Aufklärung ab.57 Er interpretiert sie ideengeschichtlich. Weil es den Glauben an ein Nachher nicht mehr gab, orientierten sich die Aufklärer an der Erforschung und der Erhaltung des Lebens. Auch Patak geht davon aus, dass die Gefahr, lebendig begraben zu werden, schon lange bekannt gewesen war, aber erst der Aufklärung bedurfte, damit sich jemand dieses Problems annahm. Weil die an Leben und Licht orientierten Aufklärer die Vorstellung schreckte, in einem dunklen Grab jämmerlich zu ersticken, seien sie angesichts dieser Gefahr von ihren Gefühlen übermannt worden und übersteigerten ihre Angst ins Unermessliche. Damit erklärt Patak die Vielzahl der Publikationen über den Scheintod. Dass die Bemühungen zur Wiederbelebung institutionalisiert werden konnten, lag, so Patak, an den real- und machtpolitischen Absichten des absolutistischen Staates, der Interesse an gesunden und lebensfähigen Staatsbürgern und Untertanen hatte. Die Angst vor dem Scheintod, so Pataks Schlussfolgerung, diente als Motor für den medizinischen Fortschritt und die wissenschaftliche Klärung dieses Problems. Sean Quinlan interessiert sich für die Frage, welche Impulse die Scheintoddebatte der Professionalisierung der Ärzte in Frankreich und
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Ariès: Geschichte des Todes, S. 504-517, S. 515 f. Aus medizingeschichtlicher Perspektive verfolgt diesen Ansatz auch Ernst Burkel: Über die Verhütung des Scheintodes, med. Diss. München: ohne Verlag 1984. Vgl. Martin Patak: Die Angst vor dem Scheintod in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, Zürich: Juris 1967. 31
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England gab.58 Für ihn verkörpert sie eine Krise innerhalb der medizinischen Community, die die Ärzte als eine Plattform auf ihrem Weg der erfolgreichen Professionalisierung nutzten. Die Beschäftigung der Ärzte mit der Frage der eindeutigen Todesfeststellung um 1740 interpretiert Quinlan als Ansporn, sich praktischen Lösungen zuzuwenden und damit ihre gesellschaftliche Wichtigkeit und ihren sozialen Nutzen zu demonstrieren: Die Ärzte fingen an, erfolgreiche Wiederbelebungsmethoden und Kriterien der Todesfeststellung zu entwickeln und schlugen in Form von angewandtem medizinischen Wissen Kapital für ihre Professionalisierung. Martina Kessel ordnet den Scheintod in den Prozess der Dechristianisierung des 18. Jahrhunderts ein und macht die Frage der individuellen Selbstermächtigung zu ihrem Thema.59 Sie erklärt das Interesse der Zeitgenossen an dieser Frage zum einen mit der wissenschaftlichen Bereitschaft, Tabus am toten Körper zu brechen. Kessels zweite Erklärung richtet sich auf das allgemeine Interesse des absolutistischen Staates an gesunden Bürgern und Untertanen. In ihrem Aufsatz betont die Autorin den Moment der Ambivalenz und des Nebeneinanders konkurrierender Todes- und Körpermodelle.60 Kessels Fazit ob der Möglichkeit, die 58
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Vgl. Sean M. Quinlan: »Apparent Death in Eighteenth Century France and England«, in: French History 9 (1995), S. 27-47. Ergänzend gibt es das Argument, dass der frühneuzeitliche Staat die professionellen Ansprüche der Ärzte nutzte, um Gesetze in der Bevölkerung zu legitimieren und durchzusetzen: Stefan Haas: »Der Experte und die Verwaltung des Todes. Symbolische und materiale Strategien medizinischer Entscheidungsexperten und administrativer Implementationsexperten am Beispiel des Diskurses über den Scheintod im frühen 19. Jahrhundert«, in: Eric J. Engstrom/Volker Hess/Ulrike Thoms (Hg.): Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. Jahrhundert und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Peter Lang 2005, S. 147-166. Martina Kessel: »Die Angst vor dem Scheintod im 18. Jahrhundert. Körper und Seele zwischen Religion, Magie und Wissenschaft«, in: Claudia Wiesemann/Thomas Schlich (Hg.): Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 126-159, S. 127. Die Ambivalenz der Übergangszeit des 18. Jahrhunderts betont auch Kerstin Rehwinkel: »Kopflos, aber lebendig? Konkurrierende Körperkonzepte in der Debatte um den Tod durch Enthauptung im ausgehenden 18. Jahrhundert«, in: Clemens Wischermann/Stefan Haas (Hg.): Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung, Stuttgart: Steiner 2000, S. 151-171. Die Momente der Unbestimmtheit in ihrer Bedeutung für den Todesdiskurs in der gegenwärtigen Gesellschaft macht stark Cornelia Brink: »›Ein jeder Mensch stirbt erst dann, wenn er lange zuvor schon gestorben zu seyn geschienen hat‹. Der Scheintod als Phänomen einer Grenzverschiebung zwischen Leben
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Grenze zwischen Leben und Tod zugunsten des Lebens verschieben zu können, fällt verhalten aus. Einerseits seien durch Gesetzestexte und Institutionen wie das Leichenhaus Grundlagen geschaffen worden, die eine Verlängerung oder zumindest den Schutz des Lebens böten, andererseits hätten diese wissenschaftlichen Ansprüche um 1800 noch nicht sehr weit gegriffen. Der französische Historiker Claude Milanesi hat sich in seiner Arbeit die Frage nach dem Aufkommen der Scheintoddebatte auf einer übergeordneten Ebene gestellt, indem er den Scheintod in Beziehung zu den gesellschaftsstrukturellen Veränderungen der Epochenschwelle gesetzt hat.61 Dadurch ist es ihm gelungen, die Fragen von Professionalisierung, Medikalisierung und der kulturellen Ambivalenz, die in der Scheintoddebatte auch zum Tragen kommen, in einen anderen, erhellenden, Zusammenhang zu stellen. Warum entwickelten die Menschen ein Interesse daran, die Grenze zwischen Leben und Tod zu verschieben? Warum setzten sie Wiederbelebung und Lebensrettung auf die gesellschaftliche Agenda? Milanesi kann diese Fragen mit den gesellschaftsstrukturellen Veränderungen beantworten: Die Fragen tauchen deshalb auf, weil die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung einen neuen Umgang mit Leben und Tod nötig machte. Lebensrettung und Wiederbelebung waren damit nicht Ergebnisse medizinischen Fortschritts, sondern Formen der Verdiesseitigung im Zuge der Umbrüche an der Epochenschwelle. An diesen Zusammenhang, der Diskontinuität durch den Epochenumbruch und der Diskontinuität des Todesverständnisses, schließt diese Arbeit an. Sie fragt nach den wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Mitteln und Voraussetzungen, die zum Scheintod führten, und fragt dadurch nach den gesellschaftlichen Konsequenzen der erschütterten heilsgeschichtlichen Erwartung. Dazu nimmt sie die Konjunktur des Scheintodes in den Blick, fragt aber auch nach den Voraussetzungen und Gründen für das Abebben des Themas. Weil davon ausgegangen wird, dass die Scheintoddebatte exemplarisch für die Umbrüche an der Epochenschwelle steht, gerät sie in ihrem größeren Zusammenhang in den Blick: Die Frage, weshalb der Scheintod als Problem auftaucht, wird entsprechend nicht wissenschaftsimmanent gestellt und ist nicht nur auf den Bereich der Medizin beschränkt. Deshalb ist der Untersuchungsbereich geöffnet worden: Wie deuteten beispielsweise die Theologen den
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und Tod 1750-1810«, in: Rolf W. Brednich/Annette Schneider/Ute Werner (Hg.): Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt, Münster/München/Berlin: Waxmann 2001, S. 469-479. Vgl. Claude Milanesi: Mort Apparente, Mort Imparfaite. Médicine et Mentalités au XVIIIe Siècle, Paris: Payot 1991. 33
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Scheintod und was machte die kleine gesellschaftliche Elite der Literaten mit der Ungewissheit der Auferstehung? Wie ging die Bevölkerung damit um, dass ihr Geisterglaube zum Aberglauben wurde? Was machte sie mit Institutionen wie dem Leichenhaus, das für ihre Sinnstiftung des Todes doch eigentlich unnötig war?
Quellen und Aufbau der Arbeit Die Scheintoddebatte wurde von Ärzten initiiert und aus der Medizin in die Öffentlichkeit der Aufklärung getragen. Entsprechend bildet die medizinisch-wissenschaftliche Reflexion einen grundlegenden Bestandteil des Quellenkorpus’. Zu diesen Publikationen gehören die Schriften verschiedener Vertreter der öffentlichen Gesundheitspflege und Medizin der Aufklärung wie Johann Peter Frank und Christoph Wilhelm Hufeland. Daneben haben sich die Angehörigen der sogenannten medicinischen Polizey in den einzelnen deutschen Territorien mit dieser Thematik beschäftigt. Diese medizinische Literatur konnte über die Bibliothekskataloge ermittelt und in den einschlägigen Universitätsbibliotheken eingesehen werden. Weitere gedruckte Literatur dieser Arbeit bilden die Schriften von Naturforschern, Juristen und Theologen. Bei ihren Schriften handelt es sich um einen akademisch-wissenschaftlichen Diskurs, auf den ähnlich wie auf die medizinische Literatur zugegriffen wurde. Die verwendeten Zeitschriftenbeiträge stammen aus den wichtigsten überlokal verbreiteten medizinischen und wissenschaftlichen Zeitschriften des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert. Ihre Indizes wurden nach den einschlägigen Stichworten für den Zeitraum durchgesehen. Diese Zeitschriften waren ebenfalls in den Universitätsbibliotheken leicht zugänglich, ebenso verhielt es sich mit Gesetzestexten. Die Zeitschriftenliteratur der Aufklärung ließ sich über die Datenbank Index der deutschsprachigen Zeitschriften 1750-1815 und das Projekt der Bielefelder Universitätsbibliothek »Retrospektive Digitalisierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum« (www.ub.uni-bielefeld.de /digibib/aufklaerung/) ermitteln. Darüber hinaus sind zeitgenössische Lexikonartikel und Handbücher herangezogen worden. Zuletzt seien noch die belletristischen Texte und die Literatur der Romantik über den Scheintod erwähnt. Für die Eruierung der Fallstudien sind kommunale, regionale, kirchliche und staatliche Archive in ganz Deutschland angeschrieben worden. Zwei Fallstudien erwiesen sich als so gehaltvoll, dass sie eigenständige 34
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Teile dieser Arbeit bilden. Sie entstammen beide einem katholischen Umfeld, was aber als Zufall zu werten ist. Zwar gibt es – wie im Folgenden zu sehen sein wird – unterschiedliche Umgangsformen mit dem Scheintod in den Konfessionen, die protestantischen Quellen werden jedoch jeweils mit den Belegen aus dem katholischen Raum in Beziehung gesetzt. Weil sich die Protagonisten der Fallstudien an die lokalen und überlokalen Medien und bürokratischen Instanzen wandten, Beamte ihr Anliegen in den entsprechenden Wochenschriften der Aufklärung veröffentlichten und der Arzt es für wichtig erachtete, seinen Scheintodfall in einer überlokalen medizinischen Zeitschrift zu publizieren, geben sie Auskunft auf sozialgeschichtliche wie auch auf wissenschafts- und medizingeschichtliche Fragen. Einen weiteren Quellenbestand, welche die Ebene von Handlungen und kulturellen Praktiken ergänzten, stellen das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens und volkskundliches Material dar. Hier fanden sich zahlreiche Hinweise auf das Leben und Sterben der Unterschichten sowie auf den quasi vorwissenschaftlichen Umgang mit Tod und Sterben, die komplementär zu den Fallstudien und den gedruckten Quellen untersucht wurden. Die Arbeit konzentriert sich auf die Schwelle um 1800. Zwar folgt die Studie zeitlich der wissenschaftlichen Reflexion des Begriffs »Scheintod«: Sie fängt mit der Bildung dieses Neologismus in der Aufklärung an und beginnt, in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihr Ende zu nehmen, als die Wissenschaft die Angst vor dem Scheintod für unbegründet erklärte. Der Aufbau der Arbeit orientiert sich jedoch systematisch an den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, die der Diskussion um den Scheintod vorausgehen, und spürt den unterschiedlichen Ausprägungen nach, die die Deutung des Scheintodes seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen genommen hat. Die Studie ist in vier Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel beginnt mit einem Problemaufriss: Welche soziale Dringlichkeit besaß die »Angst vor dem Scheintod« und in welchen Bedeutungszusammenhängen stand der Scheintod? Dazu werden zunächst begriffsgeschichtliche Befunde und die gängigen Konversationslexika untersucht, um die wissenschaftlichen und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge zu identifizieren, in denen der »Scheintod« entstand und seinen Ort hatte. Diese Befunde werden vor dem Hintergrund einer neuen Definition des Todes in der Aufklärung, der Auflösung alter Seelenvorstellungen und der Entstehung einer neuen Anthropologie, beleuchtet. Sodann werden nach den sozialen Trägergruppen und der diskursiven Ausbreitung gefragt. Das zweite Kapitel analysiert, wie der medizinisch-anthropologische Kenntnisstand der Aufklärung den Zirkel der frühneuzeitlichen Natur35
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forscher verließ und in die Öffentlichkeit der Aufklärung getragen wurde. Kern dieses Kapitels bildet die Rezeption der Dissertation von Bruhier in den sogenannten moralischen Wochenschriften. Dann wird sich der Wirkung und den Handlungsanweisungen gewidmet: Staatliche Institutionen und der kleine Kreis der gebildeten Öffentlichkeit agierten, indem sie Rettungsgesellschaften gründen, Beerdigungsfristen verlängern und Gesetze zur Leichenschau neu formulieren. Diese Maßnahmen wurden in den Medien der Aufklärung verhandelt. Das dritte Kapitel befasst sich mit den Praktiken der Bestattung. Auf welche Beerdigungspraktiken bezog sich die Kritik, dass die Beerdigungen »zu früh« durchgeführt würden? Zur Klärung dieser Frage wird eine Fallstudie aus dem Herzogtum Oldenburg 1803 herangezogen. Der Streit zwischen einem Priester und einem Verwaltungsbeamten steht dabei für den Zusammenprall zwischen alter und neuer Anthropologie. Diese Fallstudie wird in Verbindung mit katholischen, protestantischen und jüdischen Bestattungspraktiken analysiert und in Bezug darauf untersucht, wie sich die Konfessionen mit der neuen Anthropologie arrangierten. Im abschließenden vierten Kapitel wird ein Ausblick über den weiteren Verlauf des Scheintodes im 19. Jahrhundert gegeben. Es zeigt sich, dass zwar die Öffentlichkeit ihr Interesse am Thema »Scheintod« schon bald wieder verlor, die anthropologische Transformation und die gesellschaftliche Umstellung vom Jenseits ins Diesseits jedoch unhintergehbar geworden waren. Welche Bedeutung hatte dieser unumkehrbare Umbruch für den Scheintod nach 1800? Dazu werden die verschiedenen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Praktiken und Diskurse, in die sich der Scheintod auffächerte, in den Blick genommen.
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1800. R A N D P H Ä N O M E N U N D GESELLSCHAFTLICHE PROBLEMLAGEN
UM
ALLGEMEINE
Der Begriff »Scheintod« ist ein Neologismus des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm führt drei Textstellen auf, die die Entstehung des Wortes in diesem Zeitraum belegen. In der 1808 erschienenen Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn findet sich ein von Achim von Arnim gedichtetes Volkslied mit diesem Titel.1 Als zweiten Beleg führt das Wörterbuch der Brüder Grimm die Geschichte des Christenthums des protestantischen Theologen Gottlieb Jakob Planck aus dem Jahr 1818 an, ein Buch, das den Tod und die Auferstehung Jesu relativiert, indem es die Geschehnisse als ein bloßes Erwachen aus einem Ohnmacht- oder Schlafzustand deutet.2 Schließlich findet sich das Wort im 1882 erschienenen zweiten Band Heinrich von Treitschkes Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Die Nennung des Scheintodes taucht hier in Zusammenhang mit einer Kritik an einem weiteren protestantischen Theologen auf, Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, der »die Auferste1
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»Der Scheintod«, in: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L. Achim von Arnim und Clemens Brentano, Teil I/2. Studienausgabe in neun Bänden, hg. v. Heinz Rölleke, Bd. 5, Stuttgart: Kohlhammer 1979, S. 312-315 und 548-554. Arnims Dichtung basierte auf dem Bänkellied »Die wahrhafte Wunder-Geschichte von einer Frau in Zürich im Schweizerlande, welche im Januar 1792. mit schwangern Leibe gestorben, im Grabe das Kind gebohren, und nach neun Tagen wieder lebendig herausgekommen ist«. Gottlieb Jakob Planck: Geschichte des Christenthums in der Periode seiner ersten Einführung in die Welt durch Jesum und die Apostel, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1818, Bd. 1, S. 300. Planck (17511833) war Professor für Theologie in Göttingen. 37
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hung für ein Erwachen vom Scheintode, das Wunder von Kana für den gelungenen Spaß eines vergnügten Hochzeitsgastes erklärt« hatte.3 Dieses erste Kapitel beginnt mit einem Problemaufriss. Wenn Veränderungen im semantischen Apparat mit Veränderungen der Gesellschaftsstruktur zusammenhängen, worauf verweist dann die Entstehung des Wortes »Scheintod«? Scheintode waren Sterbesonderfälle: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert einen tatsächlichen Anstieg an Menschen gab, die irrtümlich bestattet wurden.4 Die Wahrscheinlichkeit, an Cholera und Tuberkulose zu sterben, war höher, als durch eine starke Bewusstlosigkeit oder ein »heftiges Fieber« in einen Zustand unerkannten Scheintodes zu geraten und lebendig begraben zu werden. Weshalb rückt ein Randphänomen wie der Scheintod also stärker ins Zentrum des öffentlichen Interesses und wird ein neuer Begriff für die Schwelle zwischen Leben und Tod ins gesellschaftliche Vokabular eingeführt? Der Rahmen, in den die Entstehung des Wortes »Scheintod« einzuordnen ist, spannt sich zunächst durch ein neues Verständnis von Leben und Tod in der Aufklärung auf: Das physiologische und anatomische Wissen vom Körper hatte die christlich-mittelalterlichen Seelenvorstellungen so untergraben, dass ein neues Verständnis von Leben und Tod entstand. Nicht mehr die Seele war Prinzip und Motor des Lebens, es konnte nun aus den Bewegungen und der Physiologie des Körpers selbst erklärt werden. Besondere Brisanz besaß diese Neudefinition dadurch, dass sie die Unsterblichkeit der Seele und ihr Weiterleben im Jenseits ein für alle Mal in Frage stellte. Das medizinische Problem des Scheintodes, das die Ärzte der Aufklärung als Uneindeutigkeit verhandelten, wie der Eintritt des Todes sicher festzustellen war, war damit ein viel größeres: Welchen Sinn hatte der Tod, wenn Auferstehung und ewiges Leben nicht mehr garantiert werden konnten? Die Auflösung der alten Seelenvorstellungen und die neue Anthropologie wurden um 1800 mittels einer eigenen Spielart spätaufklärerischen und frühromantischen Denkens verhandelt: Scheintod wurde durch die enge Verzahnung von Medizin und Philosophie ein gesellschaftliches Thema. Der Scheintod war in eine Lebensphilosophie und Erkenntnistheorie eingebettet, die eng mit der Mentalität der Eliten verbunden war. Er fand entsprechend nicht nur Eingang in die Medizin, sondern wurde auch in Feldern wie der Theologie und Literatur reflektiert. An der Art und Weise, wie der Neologismus »Scheintod« in Dis3 4
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Vgl. Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Leipzig: Hirzel 1882, Bd. 2, S. 87. Vgl. dazu ausführlich die Analyse der Fallgeschichten und Kasuistiken im nächsten Kapitel.
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kursen jenseits der Medizin Spuren hinterließ, kann deshalb nachvollzogen werden, welche Vorstellungen von Leben und Tod die gesellschaftlichen Eliten nach der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung besaßen, und welche Bedeutung diese für ihr Selbstverständnis hatten. Mit dem Scheintod um 1800 wurde ein genuin modernes Todesproblem reflektiert: Es trat eine Todesangst hervor, die nur ein sich als einzigartig und unverwechselbar, als »nur noch mit sich selbst identisch«5 verstehendes Individuum entwickeln kann. Dieses Individuum plagte nämlich die Angst vor einem Selbstverlust, die ein Fortleben der Seele im alten Sinn ausschließen und mit der Vorstellung eines kompletten Nichts umgehen musste. Der Übergang vom Leben zum Tod stand Pars pro Toto für diese größere Erschütterung. Er geriet in den Fokus der gesellschaftlichen Eliten, weil Übergangszustände, Prozesse und Schwellenphänomene zu den bevorzugten Untersuchungsgegenständen der Naturphilosophie am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehörten. In diesem Kapitel werden zunächst begriffsgeschichtliche und lexikalische Befunde diskutiert und so der historische Ort und die Art der sozialen Dringlichkeit des Scheintodproblems bestimmt. In einem zweiten Schritt wird hergeleitet, von welchen wissenschaftlichen Konzepten einerseits und volksreligiösen Vorstellungen andererseits sich die Scheintoddefinition abgrenzte. Schließlich werden dann die Protagonisten – die Ärzte, Literaten und Theologen – selbst zu Wort kommen. Ihre Deutungen des Scheintodes werden mentalitätsgeschichtlich gelesen, das heißt als Äußerungen aufmerksamer Zeitgenossen, die gesellschaftliche Umbrüche wahrnahmen und auf sie reagierten.
Schein als Täuschung, Tod als Verwandlung. Semantische Befunde Das neue Kompositum »Scheintod« entstand Anfang des 19. Jahrhunderts aus zwei bedeutungstragenden Teilen. Das Wort »Schein« verwies auf einen erkenntnistheoretischen Zusammenhang. Mit »Schein« war eine Täuschung gemeint. Sie bezeichnete dasjenige an der Erscheinung eines Gegenstandes, wodurch der Betrachter sich irrte. Es konnten die eigenen Sinne sein, die dem Betrachter einen Streich spielten oder aber es war der Gegenstand selber, der durch ein möglicherweise temporär, Umstände bedingtes Erscheinungsbild den »Schein« im Auge des Be5
Niklas Luhmann: »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, S. 149-258, S. 186. 39
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trachters verursachte. Die Täuschung zu erkennen, hing in beiden Fällen vom betrachtenden Subjekt ab, von seiner Auffassungs- und Erkenntnisfähigkeit. Der »Schein« war also stets subjektabhängig. Die Bedeutung des Begriffes »Tod« speiste sich aus naturphilosophisch-pantheistischen Inhalten. Eigentlich, so die dahinterstehende Auffassung, müsse der Tod aus der Natur »verschwinden«, weil sie doch an sich belebt sei und es keinen unwiderruflichen Tod gebe.6 Tod könne nichts anderes sein, lautete der zeitgenössische Schluss, als eine Verwandlung. Die Erkenntnismöglichkeiten und -bedingungen des betrachtenden Subjekts und sein Verhältnis zur Welt sowie die (Wahl-)Verwandtschaft der Begriffe »Täuschung« und »Verwandlung, die in dem Wort »Scheintod« transportiert wurden, stellten Inhalte und Problemlagen der Philosophie im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert dar. Als Kompositum war »Scheintod« so mit den Werkzeugen und Erkenntnisinteressen der Philosophie um 1800 konstruiert. Ihre Bedeutung soll anhand lexikalischer Befunde erläutert werden.
Schein als Täuschung Ein Blick in die Enzyklopädien und Konversationslexika gibt Auskunft über den verhältnismäßig großen Raum, der dem Scheintod in den Debatten des gebildeten Publikums zugemessen wurde. In Zedlers Universal-Lexikon aus dem Jahr 1742 findet sich noch kein Eintrag zu Scheintod. Auch in der ersten Auflage des Brockhaus’, die zwischen 1796 und 1806 erschien, taucht Scheintod als Stichwort noch nicht auf. In der zweiten Auflage findet sich erstmals ein langer Artikel: Der achte Band des Brockhaus’ aus dem Jahr 1817 referiert mehr als vier Seiten über »Scheintod«.7 Der Eintrag nimmt damit mehr Raum ein als die Lemmata »Tod« und »Leben« mit zwei Seiten, respektive einer Seite. Bemerkenswerterweise handelt auch der Artikel »Tod« in erster Linie von »Schein6
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»Tod«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexicon), 7. Aufl., 2. durchges. Abdr., Leipzig: Brockhaus 1830, 12 Bde., Bd. 11, S. 283-284, S. 283. »Scheintod«, in: Conversations-Lexikon oder Hand-Wörterbuch für die gebildeten Stände oder die in der geselligen Unterhaltung und bei der Lectüre vorkommenden Gegenstände, Namen und Begriffe […], 2. Aufl., Leipzig: Brockhaus 1812-1819, 10 Bde., Bd. 8, S. 698-702. Der Beitrag stammte wahrscheinlich von dem Leipziger Psychiater Johann Christian August Heinroth (1773-1843). Der Mediziner habilitierte sich mit der Arbeit Über das Bedürfniß der medizinischen Anthropologie. Von 1827 bis zu seinem Tod war Heinroth Professor für psychische Medizin in Leipzig.
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tod«: Angesichts der Prozesshaftigkeit des Todes werde der Scheintod oftmals fälschlicherweise schon dem Tod zugerechnet, obwohl er noch ein Zustand des Lebens sei. Die Todeszeichen würden in diesem Fall missdeutet.8 Wie sind diese Befunde einzuordnen? Die Einträge zu »Tod«, »Scheintod« und »Leben« in den Konversationslexika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beruhten auf einem Wissensstand, der die Medizin und die Philosophie um 1800 eng verzahnte. Die Philosophie prägte nicht nur die Medizin, sondern die gesamten Wissenschaften und überhaupt das intellektuelle Leben in diesem Zeitraum.9 Innerhalb dieser Bezüge hatte der Scheintod seinen historischen Ort und erhielt seine Bedeutung. Seit den 1740er Jahren wandte sich die Physiologie von der mechanistischen Sichtweise ab, nach der die Funktionen des Körpers mit Vorrichtungen wie Hebeln und Rollen, und ausgestattet mit Schrauben und mit Scharnieren verglichen wurden. Die Metapher der »Körpermaschine«, die für diese Sichtweise stand, war an ihre Grenzen gestoßen, um die Selbstbewegung des Körpers erklären zu können. Die mechanistische Anthropologie hatte mit ihrem Versuch, das Leben auf Kausalgesetze zurückzuführen, Fragen offen lassen müssen: Wie entstanden Lebewesen, wie entwickelten und wie reproduzierten sie sich?10 Descartes’ Trennung von res cogitans und res extensa, mit der eine belebte von einer unbelebten Welt unterschieden wurde, konnte keine zufriedenstellende Antwort darauf geben, wie die vermeintlich träge Materie aktiv würde und sich bewegte. Zur Klärung dieser Fragen kamen deshalb eine Reihe von Theorien ins Spiel, die von »Funken« – göttlichen oder natürlichen – ausgingen oder eine natürliche »Lebenskraft« für die Entstehung des Lebens verantwortlich machten. Der amerikanische Historiker Peter Hanns Reill hat für die mit dieser Frage beschäftigten Naturforscher der Spätaufklärung die Bezeichnung »Enlightenment vitalists« gefunden.11 Die von Reill so bezeichneten Vitalisten, die in der Nachfolge des Hallenser Mediziners und Descartes-Kritikers Georg Stahl standen – 8 9
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»Tod«, in: ebd., Bd. 10, S. 3-5. Vgl. Andrew Cunningham/Nicholas Jardine (Hg.): Romanticism and the Sciences, Cambridge: Cambridge University Press 1990; Nicholas Jardine/James Secord/Emma Spary (Hg.): Cultures of Natural History, Cambridge: Cambridge University Press 1996. Vgl. Guenter B. Risse: »Medicine in the Age of Enlightenment«, in: Andrew Wear (Hg.): Medicine in Society. Historical Essays, Cambridge: Cambridge University Press 1992, S. 149-195. Vgl. Peter Hanns Reill: Vitalizing Nature in the Enlightenment, Berkeley: University of California Press 2005. Für Frankreich siehe Jessica Riskin: Science in the Age of Sensibility. The sentimental empiricists of the French Enlightenment, Chicago: University of Chicago Press 2003. 41
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die Mechanisten waren Herman Boerhaave gefolgt –, verstanden auch die Materie als belebt: Sie enthalte Eigenaktivität anstatt träge zu sein, oder nur durch mentale oder spirituelle Einwirkung in Bewegung versetzt werden zu können. Reill wies diese Form der Naturforschung vor allem in der Physiologie und der Chemie nach. »Enlightenment vitalism« dominierte die Naturforschung zwischen 1750 und 1820. Die in der Folge des aufgeklärten Vitalismus entstandene romantische Naturphilosophie übertrug die Vorstellung einer belebten Welt, in der der Kosmos eine Einheit bildete und in dem die Trennung von belebter und unbelebter Natur aufgehoben war, auch auf die Forschungsmethodik. Denn neues Wissen über die Natur konnte nur durch die Kombination aus Sinneserfahrung und Gefühl gewonnen werden, die Erforschung der belebten Natur bedurfte einer einfühlsamen und empfindsamen Forscherpersönlichkeit. Introspektive Verfahren und die unbedingte Ausrichtung der Erkenntnis an der eigenen Subjektivität standen im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Der Naturforscher erprobte das Wesen der Natur an sich selbst und gewann dabei zugleich Erkenntnisse über sich selbst. In ihrer Sensibilität und Offenheit gegenüber dem Wesen der Natur lehnten die Forscher die mechanistische Rationalität und führten Kategorien wie Analogie und Metapher als wissenschaftliche Erklärungswerkzeuge ein. Die Ästhetik wurde zu einem legitimen Ausdrucksmittel der Wissenschaft. Dieses Forschungsinteresse führte die Naturphilosophie des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert dazu, das Augenmerk auf den Übergang zwischen Leben und Tod zu richten und nicht auf den Anfang oder das Ende. Die Naturphilosophie sah in der Natur den unbewussten Geist, in den Naturkräften die Organe dunkler Willensmächte und versuchte daher, überall nachzuweisen, wie bewusstes und unbewusstes Leben ineinander spielten.12 Die spätaufklärerische und frühromantische Naturphilosophie dachte in Prozessen, Interdependenzen und nie endenden Kreisläufen und stellte die Unterscheidung in diskrete Entitäten und Abgrenzungen hinten an. Empirische Studien über das Leben wurden in einem metaphysischen Rahmen betrieben, der dem Rationalismus des Aufklärungsdiskurses fremd wurde. Das Universum wurde dematerialisiert, es war durchzogen von Kräften wie der Elektrizität oder dem Galvanismus.13 Die Unterscheidung zwischen objektiver Welt und subjektiver Wahrnehmung wurde dabei aufgelöst: Das Wissen um das Absolute (als das von keinen Bedingungen Abhängige) und das Absolute waren 12
13 42
Vgl. Nicholas Jardine: »Naturphilosophie and the Kingdoms of Nature«, in: ders./James Secord/Emma Spary (Hg.): Cultures of Natural History, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 230-245, S. 232-233. Ebd.
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eins, und das Organ, mit dem man zu diesem Wissen kam, war nur noch die eigene Anschauung. Es fühlte und erlebte.14 Diese Vorstellungen waren für die Definition des Scheintodes entscheidend. Scheintod, so begann der Eintrag im Brockhaus, sei »der Zustand eines Menschen, da alle Äußerungen des Lebens, welche von anderen Menschen bemerkt werden können, fehlen, und doch im Innersten des Körpers noch Leben vorhanden ist«.15 Diese Definition von »Leben«, die dem Verständnis des Scheintodes unterlag, war idealistisch konzipiert: Erkenntnisse über das Leben wurden nicht in erster Linie durch eine Naturforschung im Sinne der exakten Wissenschaften gewonnen, die Experimente machte, verglich und beobachtete, vielmehr basierten sie auf philosophischen Prämissen. Es waren die Ideen, die geistigen Entitäten, die Realität konstruierten und die nicht auf materielle Gegebenheiten reduzierbar waren. So wusste man über das Leben, dass es aus »Dasein und Thätigkeit« bestand. Es setze zwar einen Körper voraus, er müsse aber vor allem aus »eignem Antriebe«, Bewegungen vornehmen. In Pierers Universal-Lexikon wurde dieser Antrieb »Wahrnehmung« und »Bewusstsein« genannt. Er führe zu einer Selbstständigkeit, die anderen Lebewesen fehle.16 »Dasein und Thätigkeit« des einzelnen Lebewesens waren dabei »nur der Ausfluß des allgemeinen, ewigen und höchsten Lebens, eine endliche Abstufung und Darstellung desselben nach unzählig mannigfaltigen Graden«.17 Der mit Bewusstsein ausgestattete Mensch stand auf der höchsten Lebensstufe, Tiere und Pflanzen folgten ihm: »Der Mensch nimmt die höchste Stufe des organischen Lebens ein, in ihm ist das Leben weder bloß in sich versenkt, noch bloß der Außenwelt hingegeben, sondern Beides mit Freyheit und Selbstbewusstsein vereinigt, die klarste Unterscheidung des Ichs von der Außenwelt und allen äußeren Verhältnissen in der Intelligenz (Vernunft) vorherrschend.«18
Das so aufgefasste Leben war eine Essenz, ihm lag eine »innere Ursache« zugrunde, die »Lebenskraft und Lebensprincip« genannt wurde.19 14 15 16
17 18 19
Vgl. Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Handbuch Deutscher Idealismus, Stuttgart: J.B. Metzler 2005, S. 11. »Scheintod«, in: Conversations-Lexikon oder Hand-Wörterbuch für die gebildeten Stände [Brockhaus], 2. Aufl. Bd. 8, S. 698. »Leben«, in: Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, hg. v. H. A. Pierer, 2. Aufl., 3. Ausg., Altenburg: Pierer 18401854, 34. Bde., Bd. 17, S. 269-272, S. 269. »Leben«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände [Brockhaus], 7. Aufl., Bd. 6, S. 486-487, S. 486. Ebd. Ebd. 43
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Diese Lebenskraft hielt den Körper am Leben. Sie sorgte für seine Bewegungsfähigkeit. Entsprechend war ein Körper leblos, »sobald die Organisation zur Ausübung ihrer Verrichtungen untauglich ist, oder die innere Kraft fehlt. Diese Kraft als Lebensprinzip muß in dem feinsten und durchdringendsten Fluidum enthalten sein, das wir nur mit dem Äther, der elektrischen, magnetischen und Lichtmaterie vergleichen können«.20
Diese idealistische Definition des Lebens war dadurch gekennzeichnet, dass seine Existenz nur durch den Betrachter objektiviert werden konnte. Lebensäußerungen wurden erst dann real, wenn sie von einem Betrachter wahrgenommen wurden: »Der Anblick einer Gestalt belehrt uns von ihrem Dasein, aber erst dann, wenn wir Bewegung an ihr sehn, oder solche Zeichen wahrnehmen, von welchen wir auf das Vermögen der Bewegung schließen können, halten wir sie für belebt.«21 Daneben verlangte sie vom Betrachter ein hohes Maß an emphatischem Einfühlungsvermögen. Um die Präsenz von einem so verstandenen Leben feststellen zu können, benötigte man ein Ich, das die Erscheinungen der Natur durchdrang und verorteten konnte. Die Wahrnehmung des Einzelnen bestimmte das Bild der Welt und diese Wahrnehmung war unterhintergehbar. Wahrnehmung und die äußere Welt, Objektivität und Subjektivität gingen ineinander auf. Der Scheintod war entsprechend insofern problematisch, als es gut möglich war, dass das Leben im Körper für den Betrachter unsichtbar blieb. Der Umwelt biete sich ein trügerisches Bild, wenn die »äußern Erscheinungen des Lebens fehlen, die innern Bedingungen desselben aber noch Statt finden«.22 Mit den fehlenden »äußern Erscheinungen des Lebens« waren die mit den Augen sichtbaren »Muskelbewegungen, der Gebrauch der Sinne, die Gegenwirkung durch Sprache und willkürliche Bewegung, das Athmen« gemeint, ferner die fühlbare »Wärme des Körpers«, die wiederum sichtbare »Röthe der Haut«, das abermals fühlbare »Schlagen des Herzens und der Arterien«.23 Dieses Bild täusche aber, denn »sind […] die innern Bedingungen des Lebens, unverletzte Organisation der zum Leben nothwendigen Theile des Körpers und gehörige Beschaffenheit der Flüssigkeiten desselben, noch nicht soweit angegriffen, daß sie des Lebens un-
20 21 22 23 44
Ebd. Ebd. »Scheintod«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände [Brockhaus], 7. Aufl., Bd. 9, S. 722-725, S. 722. Ebd., S. 723.
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fähig sind, so ist wenigstens die Möglichkeit vorhanden, daß […] das Leben wieder zurückkehren könne«.24
Man erkenne an einzelnen Körperteilen, den Fingern, der Hand, den Füßen oder den Ohren, dass sie »von Kälte gleichsam abgestorben erscheinen, daß sie gefühllos, erstarrt, ohne Wärme und Bewegung sind, und doch ihre Organisation im Innersten noch nicht zerstört ist«.25 In diesem Lexikonartikel wurde der Scheintod im Duktus der Philosophie von Spätaufklärung und Frühromantik, die auch unter der Bezeichnung Deutscher Idealismus firmiert, als Wahrnehmungs- und Erkenntnisproblem beschrieben. Der Scheintod verdankte seinen Namen der Möglichkeit der Täuschung, die, wie aus dem dem Artikel »Scheintod« voranstehenden Eintrag »Schein« zu erfahren ist, auch immer eine Selbsttäuschung war. Damit war eine erkenntnistheoretische Frage angesprochen: Wie konnte der Schein von der Wahrheit unterschieden werden, wenn nicht nur der Betrachter sich irren, sondern auch der Erscheinung täuschen konnte? Das Problem des Scheintodes wurde hier als quasi selbst gemachtes Problem definiert. Denn der Schein, so führte der Autor des entsprechenden Artikels aus, bezeichne stets »das Verhältnis der Gegenstände zu unserm Vorstellen«.26 Der Schein beruhe »auf einem subjectiven Grunde«, weshalb eine Täuschung »in unserer auffassenden und erkennenden Thätigkeit, sowie in dem ganzen Verhältnisse unserer geistigen Kräfte« liege: »Denn die Wahrnehmungsfähigkeit äußerer oder innerer Erscheinung hat ihren bestimmten Wahrnehmungskreis und Wahrnehmungspunkt, und was den äußern Sinn betrifft, so verursacht […] die besondere […] Beschaffenheit unserer Sinnesorgane auf mannigfache Weise Schein.«27
In diesem Verständnis von »Schein« war sein Gegenbegriff die »Wahrheit«, ähnlich einer Unterscheidung zwischen »Scheintod« und »wahrem Tod«. Denn beim Scheintod handelt es sich um einen Zustand, der über die Präsenz von Lebenszeichen hinwegtäuschte und den Betrachter täuschte.
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Ebd. Ebd. Bei dem Verfasser handelt es sich wahrscheinlich um den Leipziger Theologieprofessor und Anhänger eines gemäßigten Supranaturalismus Heinrich Gottlieb Tzschirner (1778-1828). »Schein«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversationslexikon), 7. Aufl., Bd. 9, S. 721-722, S. 722. Ebd. 45
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Die Differenz zwischen »Schein« und »Wahrheit« stellte sich um 1800 entsprechend als Frage des Verhältnisses von Erkenntnis und Realität.28 Auch der Eintrag »Schein« kommt auf das Verhältnis von Erkenntnismöglichkeit und Realität zu sprechen, wenn der »Schein« als »Verhältniß der Gegenstände zu unserm Vorstellen« definiert wird. Den »Schein« so aufzufassen, ist Kants Kritik der reinen Vernunft entnommen. Indem er Raum und Zeit als Vorstellungen a priori, als reine Anschauungsformen, konzipierte, konnte er folgern, dass die Realität uns nur deshalb räumlich erscheint oder wir einen zeitlichen Verlauf wahrnehmen, weil es keine Räumlichkeit und Zeitlichkeit unabhängig von unserer Wahrnehmung gibt. Die Gegenstände müssen sich also nach unserer Erkenntnis richten und nicht umgekehrt: Die Welt ist also quasi immer so, wie man sie sieht. Damit hing eine weitere Annahme zusammen, dass nämlich die subjektiven Bedingungen der Erkenntnis zugleich die objektiven Bedingungen der Gegenstände der Erkenntnis sein mussten. Daraus folgte, dass Erkenntnis niemals auf »Dinge an sich selbst«, sondern nur auf Erscheinungen als Gegenstände der Erfahrung bezogen werden konnte. Es gab also keine zwei Gegenstandsbereiche der Erkenntnis, den der eigenen Wahrnehmung und den wirklichen der Außenwelt. Aus Kants erkenntnistheoretischer Perspektive war es nicht mehr sinnvoll, äußere Realität und innere Subjektivität zu trennen. »Die Erscheinung« wurde damit zum einzigen Zustand, in dem etwas erkannt werden konnte.29 Der »Schein« war eine Täuschung an der »Erscheinung« der Dinge (oder Zustände wie dem Scheintod), die sich dem Betrachter – aus welchen Gründen auch immer – falsch darboten. Diese Erkenntnistheorie wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts weiter mitgeführt. Im Pierer der Ausgabe von 1845 blieb der intentionalistische Kern als eine von mehreren Bedeutungen des »Scheins« erhalten. »Schein« meine unter anderem, so Pierers Universal-Lexikon 1843, »4) eine Täuschung, wie in den Worten böser, guter S., Tugendschein, Scheinheiligkeit, Scheintod«.30
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Vgl. »Schein«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, 13 Bde, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971-2007 [im Folgenden abgekürzt: HWP], Bd. 8, Sp. 1230-1243, Sp. 1234. Ebd., Sp. 1234-1235. »Schein«, in: Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe [Pierer], 2. Aufl., 3. Ausg., Bd. 27, S. 34-35, S. 34.
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Tod als Verwandlung Wie das Leben wurde auch der Tod nicht materialistisch gedacht, er bedeutete nicht das vollständige Ende des Daseins. Das Leben war eine Art immerwährende Essenz, die nicht vollständig verging. Auch im Tod blieb das Leben erhalten. Entsprechend hieß es im Brockhaus über den Tod: »Es muß aber, wenn wir in höherer Ansicht die ganze Natur als belebt erkennen, der Begriff des Todes […] aus derselben ganz verschwinden; dann aber ist der Zustand, der diesen Namen trägt, nichts Andres als ein Zerfallen des organischen Einzelwesens, ein Wechseln der Form, wobei es in einem größeren Lebenskreis oder Organismus wieder aufgenommen wird, und nur als Individuum verschwindet.«31
In diesem Verständnis des Todes kam ein Naturverständnis zum Ausdruck, für das die idealistische Philosophie um 1800 sich mit der Identitätsphilosophie Spinozas auseinandergesetzt hatte. Spinoza hatte Gott mit Natur gleichgesetzt (»Deus sive natura«) und verstand diese Ineinssetzung als die einzige und ewige Substanz. Spinoza hatte sich durch die Gleichsetzung von Gott und Natur von seinen Zeitgenossen den schwerwiegenden Vorwurf des Atheismus eingehandelt, weil ihm unterstellt wurde, er verwerfe die Existenz eines theistischen, also persönlichen und überweltlichen Gottes. Er mache keine Unterscheidung zwischen Gott und einer diesem Gott gegenüberstehenden Welt. Ende des 18. Jahrhunderts wurde er von der Philosophie wiederentdeckt, weil er der Kritik des Deutschen Idealismus an der traditionellen Metaphysik zu helfen versprach.32 Spinoza schien ein interessanter Ideengeber zu sein, hatte er doch eine Antwort auf das von Descartes aufgeworfene Problem gegeben, den Zusammenhang zwischen res cogitans und res extensa zu erklären: Wenn es nur eine Substanz gab, aus der alles Geschaffene hervorging und die alles schuf, musste nicht zwischen einer belebten und einer unbelebten Welt unterschieden werden. Spinoza begriff die Identität von Natur und Gott als einzige, alles umfassende Wirklichkeit. Schöpfer und geschaffene Welt waren dieselbe Wirklichkeit, nur verschieden gesehen: Aktiv verstanden hatte die unendliche und ewige Substanz eine aus sich heraus unbeschränkte Wirkkraft, die, selbst ungeschaffen, alles aus sich hervorbrachte (natura naturans), passiv war sie die Gesamtheit alles endlich Geschaffenen (natura naturata). Alles war 31 32
»Tod«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände [Brockhaus], 7. Aufl., Bd. 11, S. 283-284, S. 283. »Spinozismus«, in: HWP, Bd. 9, Sp. 1398-1401. 47
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quasi immer zugleich Gott. Diese Gedanken führte Spinoza als philosophisches System mit dem Anspruch aus, Weltzusammenhänge umfassend und vollständig darzustellen und rational zu begründen. Der Systemgedanke und die Originalität, mit denen Spinoza sein Werk und seine Weltsicht konzipierte, waren für die Philosophie um 1800 mit ihrem Streben nach Einheit und Ganzheit sehr inspirierend. Insbesondere Schelling griff auf Spinozas Identitätsphilosophie zu und entwickelt sein eigenes System des transzendentalen Idealismus in kritischer Auseinandersetzung mit und in Bezugnahme auf Spinoza.33 Spinoza wurde Anfang des 19. Jahrhunderts pantheistisch ausgelegt, weil für ihn Gott in allen Dingen der Welt existierte, es aber keinen persönlichen wirkenden Gott außerhalb der Welt gab. Seine Konzeption von Gott und Natur hatten weitreichende Konsequenzen für seine Vorstellungen von Seele und Unsterblichkeit, denn es verging nur das, was zeitlicher Dauer unterlag. Davon waren Modi (Zustände) betroffen, die in Kategorien wie Geburt, Wachstum und Alter existierten: Körper gehörten dazu. Weil aber der menschliche Geist Attribut der ewigen, ungeschaffenen Substanz war und keiner zeitlichen Beschränkung unterlag, war dieser Teil des Menschen, sein substanzieller Geist, unsterblich.34 Für Spinoza gab es aber keine individuell gebundene Unsterblichkeit. Angesichts einer als ewig verstandenen Substanz musste es auch keine Auferstehung im christlichen Sinne geben. Nur das Gesamtsystem (Natur = Gott) war das einzig Seiende, in dem der Einzelne schließlich aufging. Der Mensch war nicht mehr als ein unselbstständiger Zustand des Gesamtsystems. Das Unendliche, Unbestimmte (Natur = Gott) war primär, das Bestimmte (der räumlich und zeitlich festgelegte Körper beispielsweise) sekundär und nachgeordnet. Er war bloßer Zustand (Modus oder Affektion) der Substanz. Diese pantheistische Form des Unsterblichkeitsglaubens, zurückgehend auf Baruch de Spinoza und umgedeutet von der Philosophie um 1800, steckte in den Lexikonbeiträgen zu »Tod« und »Leben«: Der Tod musste nicht gefürchtet werden, weil er nicht das Ende der Existenz bedeutete. Ein Weiterleben nach dem Tod war nur ein »Wechseln der Form«, die »Aufnahme in einen größeren Organismus«. Der Mensch »verschwand« durch den Tod »als Individuum« und nicht in seiner Substanz, der Einzelne starb deshalb gewissermaßen auch »nur« als Individuum. Denn der Tod bedeutete nicht mehr als »ein Zerfallen des organischen Einzelwesens«, wenn der Mensch in einen größeren 33 34
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Vgl. Sandkühler: Handbuch Deutscher Idealismus, S. 7. Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, übersetzt v. Otto Baensch, eingeleitet v. Rudolf Schottlaender, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1976 [zuerst 1677], S. 282 (V. Teil, Lehrsatz 23).
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Lebenskreis oder Organismus wieder aufgenommen wurde. Dadurch verlor der Tod an Schrecken. Es verblieb jedoch in einer Spannung, dass der Mensch »als Individuum«, also in seiner Persönlichkeit und seinen Eigenschaften verging, auch wenn er als Wesen in das große Ganze aufging. An der Schwelle vom Leben und Tod wurde diese Spannung ausgehalten und trat ganz besonders deutlich hervor. So beeilte sich der Brockhaus-Autor des Eintrags »Tod« nach der Eingangsdefinition darauf hinzuweisen, dass der Übergang vom Leben zum Tod »nicht gar so schnell« gehe, sondern durch Krankheit oder Alter eingeleitet werde oder bei Unfällen und Krankheiten, bei denen nur das Herz oder das Hirn betroffen sei, der Tod noch gar nicht eingetreten sei. Dieser Phase müsse besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.35 Die pantheistischen Ideen und Spinozas Philosophie gehörten zu den virulenten, aber nur teilweise öffentlich geführten Diskussionen der Spätaufklärung. Sie setzten mit Lessings angeblichem Bekenntnis ein, Spinozist zu sein, einem Geständnis, das er dem Publizisten und Philosophen F. H. Jacobi auf dem Sterbebett gemacht haben soll. 1785 veröffentlichte Jacobi die Schrift Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, mit der seinem Befremden und seiner Ablehnung Spinozas Lehre Ausdruck verleihen wollte. Er stellte Spinoza als Fatalist und Atheist dar, stieß aber gleichzeitig den sogenannten »Pantheismus-Streit« an, der Spinozas rationalistischem Ansatz größere Anerkennung verschaffte und ihn als Philosoph zurück ins Gespräch brachte.36 Erst die Generation um Herder, Goethe und Novalis Anfang des 19. Jahrhunderts dann bewertete Spinozas Gleichsetzung von Gott und Natur nicht mehr als seelenlosen Materialismus oder Atheismus. Diese Dichter und Schriftsteller entdeckten die sogenannte eine Substanz als das Göttliche. Sie deuteten sie als die einzig organisierende Kraft des Systems.37 Diese Auslegung half, den erkenntnistheoretischen Dualismus von Subjekt und einer ihm gegenüberstehenden Welt zu überwinden. Krünitz’ Oeconomische Encyklopädie aus dem Jahr 1825 behandelt schließlich das Thema »Scheintod« von allen Lexika und Enzyklopädien am ausführlichsten. Sie breitet sich auf 26 Seiten darüber aus. Dabei handelt es sich bei dem Eintrag um eine erweiterte Version des Artikels aus der zweiten Auflage des Brockhaus’ aus dem Jahr 1819. Dabei verlängert sich der Artikel durch die Beschreibungen und das Aufführen
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»Tod«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände [Brockhaus], 7. Aufl., Bd. 11, S. 283. »Pantheismus«, in: HWP, Bd. 7, Sp. 59-63, Sp. 60. »Spinozismus«, in: HWP, Bd. 9, Sp. 1400. 49
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von gesammelten Fällen, Rettungsmitteln und anderen praktischen Maßnahmen. Der Beitrag des Verfassers H. aus der zweiten Auflage des Brockhaus’ wurde mit dem gleichen Wortlaut bis in die 6. Auflage übernommen. Der Eintrag der 7. Auflage von 1827, geschrieben vom gleichen Verfasser, beläuft sich noch auf knapp zwei Seiten.38 Die 8. und 9. Auflage sind schon deutlich kürzer, obwohl auch hier noch die medizinische Theorie vertreten wird, die von vegetativem und animalischem Leben sowie einer »Kraft« ausgeht.39 In der 10. Auflage des Brockhaus’ hat sich der Stil des Eintrags dann stark geändert.40 Der Scheintod wird empirisch und therapeutisch abgehandelt. Der Artikel kann mit Studien zum Abhören der Herztöne bei diesen Zuständen aufwarten und kennt Instrumente, die bestimmte Todeskriterien gesichert überprüfbar machen. Um 1850 hatte sich der Duktus in den Konversationslexika deutlich gewandelt. Der Brockhaus aus dem Jahre 1854 relativiert, »das Lebendigbegraben der Scheinleichen [sei] durch übertriebene oder romanhafte Berichte in Volksblättern [erschreckt]«41 worden und bestärkt diese Einschätzung vierzehn Jahre später. »[D]ie Erzählungen von vorgekommenem Scheintod sind mindestens stark übertrieben, wo nicht völlig erfunden«. Die Philosophie des Scheins tritt ganz zurück. Es handle sich beim Scheintod, so heißt es lapidar, um einen Zustand, der »unendlich selten vorkomme«.42 1890 benutzt Meyers Konversations-Lexikon Begriffe wie »Lebenskraft«, »Lebensflamme« oder »Mittelzustand« gar nicht mehr. Unter Scheintod wird dort ein Zustand verstanden, »in welchem das Leben erloschen zu sein scheint, aber nicht wirklich vollständig erloschen ist«. Denn es gebe einen Zustand, »bei welchem mit fast vollständigem Erlöschen der übrigen Funktionen des Körpers diese beiden wichtigsten vegetativen Thätigkeiten [gemeint sind der Atem und der Herzschlag] ein
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»Scheintod«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände [Brockhaus], 7. Aufl., Bd. 9, S. 722-724. Vgl. die achte Auflage des Brockhaus’ für »Scheintod«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, 12 Bde., Leipzig: Brockhaus 1833-1837/39, Bd. 9, S. 729-730 und die neunte Auflage Leipzig: Brockhaus 1843-1848, Bd. 12, S. 620-621. »Scheintod«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, 10. verb. und verm. Aufl., 15 Bde., Leipzig: Brockhaus 1851-1855, Bd. 13, S. 485-486. Ebd. »Scheintod«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, 11. Aufl., Leipzig: Brockhaus 1864-1868, 15 Bde., Bd. 13, S. 171-172.
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dem Laien kaum erkennbares Minimum herabsinken«.43 Der Tod war demgegenüber »das endgültige Aufhören des Stoffwechsels und der sonstigen Lebensthätigkeiten in einem Individuum, zum Unterschied von einem durch äußere Hindernisse, die sich wegschaffen lassen, erzwungenen zeitweisen Stillstand«.44 Die Geschichte des Scheintodes beginnt dort, wo die in der Natur verortete physisch-chemisch definierte »Lebenskraft« den des göttlichen Geistes (spiritus sanctus), der das Leben im Menschen erzeugt, ersetzte. Leben war die durch die Lebenskraft erzeugte Bewegung der Körpermaschine. Die Unterscheidung von lebenden und toten Kräften machte auch Leibniz: Lebende Kräfte brachten Bewegung hervor, tote Kräfte hingegen verhinderten Bewegung, so der Luftwiderstand oder die Reibung. Der Scheintod verlor an Brisanz, als diese Form des neuzeitlichen Vitalismus aus der medizinischen Theorie verschwand. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts ersetzten physikalisch-chemische Kausalzusammenhänge animistische Ansätze, um physiologische Vorgänge im Körper zu erklären.45 So widerlegte Emil DuBois-Reymond den Lebenskraftbegriff mit dem Energieerhaltungssatz und Jakob Moleschott postulierte, dass das Leben nicht eine besondere Kraft sei, sondern ein Zustand des Stoffes selbst. Mechanistische Ansätze gewannen wieder Oberhand.46
Von Totengeistern zu Scheintoten, vom Moment des Todes zum Prozess Welches medizinisch-anthropologische Verständnis von Leben und Tod ging dem Konzept der Naturphilosophie um 1800 voraus? Für diese Frage sind zwei Aspekte von Bedeutung. Zum einen entstand in der Aufklärung ein neuartiges Verständnis von Leben und Tod, das die bis dahin gültigen, christlich-mittelalterlichen Seelenvorstellungen in ihrer Gültigkeit untergrub. Zum Zweiten handelt es sich bei dem idealistischnaturphilosophischen Verständnis von Leben, Tod und Scheintod um ein genuin modernes Konzept, welches in Konflikt mit den volksreligiösen und christlich-mittelalterlichen Seelenvorstellungen stand. Die moderne Vorstellung des Todes bezog sich auf Veränderungen im menschlichen
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»Scheintod«, in: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des Wissens, 4. Aufl., Leipzig: Bibliographisches Institut 1890-1892, 16 Bde., 1 Erg.-Bd., 2 Suppl.-Bde., Bd. 14, S. 422-423, S. 422. »Tod«, in: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Aufl., Bd. 15, S. 735-737, S. 735. »Leben«, in: HWP, Bd. 5, Sp. 52-103, Sp. 102. »Lebenskraft«, in: HWP, Bd. 5, Sp. 122-128, Sp. 126. 51
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Körper. Sie basierte auf der Beobachtung physiologischer Prozesse und Vorgänge in den einzelnen Organen. Nicht der Zeitpunkt, an dem die Seele den Körper verließ, bedeutete den Tod, sondern die allmähliche Abnahme der Lebenskräfte, durch die die Körperfunktionen zum Stillstand gebracht wurden. Formulierungen wie »das zu frühzeitige Begraben der Leichen«, dass »noch Leben in ihnen [den Körpern] ist«, und dass mit der Bestattung gewartet werden müsse, »so lange nicht eine wahre Fäulniß« eingesetzt habe,47 weisen auf die Umdeutung dessen hin, was bis zum 18. Jahrhundert als Leben und was als Tod definiert wurde. Zeitliche Markierungen wie »zu früh«, »noch« oder »so lange«, die typisch für den sprachlichen Duktus der Diskussion um das Lebendigbegrabenwerden Ende des 18. Jahrhunderts waren, gaben diesem Bedeutungswandel Ausdruck: Weshalb liefen am Ende des 18. Jahrhunderts Menschen Gefahr »zu früh« bestattet zu werden, während die Bestattungspraktiken davor offensichtlich unproblematisch waren?
Die Auflösung der alten Seelenvorstellungen durch das physiologische und anatomische Wissen vom Körper Das christliche Mittelalter verstand den Menschen als Körper-SeeleZweiheit, bestehend aus einem materiellen, vergänglichen Körper und einer immateriellen, unsterblichen Seele. Die Seele war als Lebensprinzip des Menschen definiert, die Bewegungs- und Formursache des Körpers. Diese Seele war geistig und unsterblich. Sie war von Gott geschaffen.48 Dennoch wurde die Seele entgegen ihrer Konzeption als so konkret empfunden, dass sie eine quasi körperliche Präsenz besaß. Anschaulich wird diese Vorstellung auf Darstellungen, die den Menschen als Doppelkörper zeigen. Neben seinem leiblichen Körper ist auf mittelalterlichen Bildern oftmals ein weiterer Körper zu sehen, der in Form eines kleinen Menschen seine Seele darstellte.49 Die Seele war so gegenständlich, dass Engel sie berühren und forttragen konnten. Sie war in der Lage, vor Gott zu knien und Schmerz zu fühlen. Auch dass bei einem Todesfall das Fenster geöffnet werden musste, damit die Seele entwei-
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K. F. Rehfeld: »Des Königl. Gesundheits-Collegii erforderten Aeußerung im Jahre 1788 wegen der Kennzeichen des Todes und Vorkehrungen zur Verhütung der Erfüllung des Scheintodes«, in: Magazin für Freunde der Naturlehre und Naturgeschichte 1 (1794), S. 1-9, passim. »Leben«, in: HWP, Bd. 5, Sp. 98. Vgl. Philippe Ariès: Bilder zur Geschichte des Todes, München: Hanser 1984, S. 146 f.
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chen konnte,50 deutet auf eine Stofflichkeit der Seele hin. Der französische Historiker Jean-Claude Schmitt berichtet von einem Mönch, der davon geträumt hatte, heftig ausgepeitscht worden zu sein. Als der Mönch am nächsten Morgen erwachte, so steht in seinen Visionen zu lesen, war sein Rücken blutig und schmerzte stark. Da niemand im Kloster in der Nacht irgendwelche Geräusche gehört hatte, die auf einen Einbrecher oder Ähnliches hindeuteten, erschrak der Mönch. Er besann sich dann aber, denn »die geistigen Dinge [konnten] ohne einen körperlichen Laut geschehen«.51 Dass die Seele als immaterielle Substanz, und trotzdem als körperlich erfahrbar verstanden wurde, lag in der spezifisch mittelalterlichen Konzeption des »Geistes« begründet. Die mittelalterlich-christliche Philosophie unterschied zwischen geschaffenen Geistern (spiritus) – den Engeln und dem menschlichen Geist – und dem ungeschaffenen göttlichen Geist (spiritus sanctus). Der Geist des Menschen war die Seele. Der Geist (spiritus) hatte seinen Platz zwischen der Seele und dem Körper. Weder der Geist des Menschen, der denken konnte und Vorstellungsvermögen besaß, noch der Totengeist waren jedoch immaterielle Geister. Sie waren qua Definition aber auch nicht körperlich. »Alles, was kein Körper und dennoch ›etwas‹ ist, wird zu Recht als ›Geist‹ bezeichnet«, zitiert Schmitt den Mönch Alcher von Clairvaux aus dem 12. Jahrhundert und fasst zusammen: »Der Geist ist also kein Körper, aber dennoch mit dem Körper verbunden«.52 Die menschliche Seele führte also gewissermaßen ein Eigenleben als – von Schmitt so bezeichnetes – »Zwischending«. So besaß sie die Fähigkeit, auf den Körper oder den Geist von anderen zu wirken. So wie der von Schmitt zitierte Mönch das geträumte Auspeitschen als Wunden an seinem Körper erlebte, hatten die Geister eine quasi physische Präsenz. Sie waren selbst in den Träumen und Gedanken konkret anwesend. Der französische Mittelaltergermanist Claude Lecouteux hat in diesem Zusammenhang Texte, in denen Geister als körperhafte Wesen beschrieben wurden, in der Edda und in anderen skandinavischen Sagen nachgewiesen. Die Edda, eine im 13. Jahrhundert verfasste Sammlung nordischer Lieder, Mythologien und Verse, beinhaltet die Darstellung eines solchen Doppelkörpers namens hamr, der nach dem Tode eines Menschen weiterlebte. Ähnlich der christlichen Vorstellung einer Körper-Seele-Zweiheit war es auch hier eine Art innere Form – wie eine 50
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»Tod«, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. v. Hanns Bächtold-Stäubli, 8 Bde., Berlin/Leipzig: de Gruyter 1927-1936/37 (im Folgenden abgekürzt: HWDA), Bd. 8, Sp. 967-985, Sp. 980. Schmitt: Die Wiederkehr der Toten, S. 215-216. Ebd., S. 215. 53
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Seele –, die das Aussehen und den Charakter eines Menschen bestimmte. An Odin, dem Oberhaupt des germanischen Göttergeschlechts der Asen, beschreibt die Edda, wie dieser die Gestalt wechseln und sich in Vogel, Fisch oder Schlange verwandeln konnte. Diese Fähigkeit wurde ebenfalls mit der Wendung hamr bezeichnet.53 Das lateinische Mittelalter hat diese heidnisch-germanische Konzeption des Doppelkörpers überlagert und mit der christlichen Schöpfungslehre und Eschatologie harmonisiert. Für die Argumentation dieser Arbeit ist dabei die Beschaffenheit des Wissens von Bedeutung, welches sich in dem Geisterglauben der mittelalterlichen Autoren manifestierte. Das mittelalterliche Wissen über Körper und Seele bestand aus einer Mischung zwischen überliefertem, traditionalem und scholastischem (Buch-)Wissen: »Der Körper wurde zunächst gelesen und danach erst angeschaut«, heißt es bei dem französischen Historiker Jacques Le Goff, nicht umgekehrt.54 Es handelte sich bei dem Wissen über den Körper also nicht um experimentell gewonnenes oder auf empirischen Methoden fußendes Wissen. In der Lebenswirklichkeit der mittelalterlichen Menschen befand sich der menschliche Körper, auch der menschliche Leichnam, in der Spannung, gleichzeitig erniedrigt und erhöht zu werden.55 Es galt also nicht, dass die formgebende Seele dem Körper einfach vorrangig war: Der physische Körper wurde nicht ausgeblendet. Vielmehr hatte der mittelalterliche Körper die Widersprüchlichkeiten der Vorstellungen über den Tod auszuhalten. Er erinnerte die Lebenden einerseits besonders drastisch an die Vergänglichkeit und musste Schmerz und Krankheit aushalten. Andererseits war der tote Körper aber auch Wohnstatt der Seele gewesen und verwies auf die christliche Hoffnung, dass dieser Körper auferstehen würde. Diese Anthropologie wurde Ende des 18. Jahrhunderts in den sogenannten moralischen Wochenschriften der Aufklärung als »Aberglaube« deklassiert und verworfen. In der Aufklärung hatte sich nämlich eine anthropologische Transformation vollzogen, die den Übergang des Menschen vom Seelenwesen zum Körper-Geist-Wesen meinte. Diese Transformation wird an einem Konflikt deutlich, der in der Zeitschrift ausgetragen wurde. Im zweiten Jahrgang des Neuen Hannoverischen Magazins von 1792 erschien ein Beitrag mit dem Titel »Was lassen uns jene älteren und neuern Sagen von dem Pochen in den Gräbern schließen, und wovon giebt es uns einen Beweis?« Darin äußerte sich der Verfasser 53 54 55 54
Vgl. Claude Lecouteux: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter, Köln/Wien: Böhlau 1987, S. 211 f. Vgl. Jacques Le Goff/Nicholas Truong: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter, Stuttgart: Klett-Cotta 2007, S. 133. Ebd., S. 135 ff.
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erleichtert darüber, dass »endlich jenem Aberglauben: daß das Pochen in den Gräbern nur leeres Geschwätz sei, um den Menschen Furcht einzujagen», mit einer plausiblen Erklärung beizukommen sei. »Ich habe ein solches fürchterliches Pochen selbst gehört«, sagte der Autor, »an dem Grabe einer Frau, die des Tages vorher begraben war – und mehrere haben es mit mir gehört«.56 Er entwarf das Schreckensszenario, »in einem Sarge zu seyn, in demselben aufzuwachen, es fühlen, daß man ringsum verschlossen ist«,57 und klagte über das Verhalten des »Pöbel[s], der sich haufenweise einfand, um dieses Wunder anzuhören«,58 aber nichts dagegen unternahm: »O dergleichen haben wir schon manchesmal gehört!«, hieß es, oder: »[D]ie Frau will ihren Mann wohl bald nachholen.«59 Eine weitere Deutung, die nach Auskunft des Autors innerhalb der Bevölkerung verbreitet war, besagte, dass ein kurz nacheinander verstorbenes Ehepaar, das sich schon zu Lebzeiten ständig gestritten hatte, sich auch im Grabe noch schlug. Was bedeutete die Rede vom »Klopfen« und »Nachholen«? Klopfgeräusche gehören nach Auskunft der Volkskunde zu den regulären Kommunikationsformen von Geistern. Durch sie machen sie sich bemerkbar und verständlich.60 Ergänzend erklärt die Mittelalterforschung den Geisterglauben als Teil »einer Kultur, die zutiefst religiös (religiös in dem Sinne, daß jeder Mensch von der Existenz und der Macht übernatürlicher Wesen überzeugt war […], [und in der] der ›Geisterglaube‹ etwas allgemein Akzeptiertes darstellte«.61 Meistens wurden Klopfzeichen in Zusammenhang mit dem Eintreten eines Todesfalls gesetzt. Geistern wurde die Fähigkeit zugeschrieben, Voraussagen treffen zu können. Speziell Klopfgeister konnten den bevorstehenden Tod eines Menschen anzeigen. Es gehörte zu den verbreiteten Vorstellungen, dass die Totengeister die nächsten Toten zu sich holten. Claude Lecouteux konnte dies in der um 1300 entstandenen skandinavischen Saga der »Leute vom Flói« nachweisen. In dieser Geschichte strandete eine Gruppe Schiffbrüchiger an der grönländischen Küste. In der Notunterkunft, die sie sich bauten, hörten die Männer Klopfgeräusche, auf die einer der Gestrandeten reagierte und hinauslief. Er zog sich eine
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Heinrich Th. Schnorr: »Was lassen uns jene ältern und neuern Sagen von dem Pochen in den Gräbern schließen, und wovon giebt es uns einen Beweis?«, in: Neues Hannoverisches Magazin 2 (1792), Sp. 437-442, Sp. 437. Ebd., Sp. 438. Ebd., Sp. 439. Ebd. Vgl. »Klopfen«, in: HWDA, Bd. 4, Sp. 1534-1542, Sp. 1537. Schmitt: Die Wiederkehr der Toten, S. 14. 55
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mysteriöse Krankheit zu und verstarb am nächsten Morgen. Dieser Vorfall löste eine Seuche aus, die fast allen Männern das Leben kostete.62 Man glaubte von Totengeistern, dass sie nahe der Erde lebten: »Sie schweben um die Gräber und man meidet ihren Aufenthaltsort.«63 Entsprechend fürchteten die Menschen die klopfenden Geister, denn »auch der Tote selbst als Individuum kann den Überlebenden gefährlich werden, mag er nun […] als Seele [oder] Toten-Geist sein Wesen treiben. Man sucht deshalb seine Wiederkehr zu verhindern«.64 Die Furcht vor dem Klopfen in den Gräbern war also die Angst vor »Wiedergängern«, vor Unheil treibenden Totengeistern. Diese Totengeister waren verirrte Seelen: Sünder, die keine Buße getan hatten oder keine Ruhe finden konnten. Wenn Tote im Grab rumorten, war ihre Seele als unheilvoller Totengeist zurückgekommen. Während eigentlich im Tod die Seelen in Frieden ruhten, kehrten die Sünder zurück. Sie mussten noch einmal sterben, um endgültig Ruhe zu finden. Obwohl die mittelalterlichen Menschen mit Geistern vertraut waren, war ihre Präsenz nicht erwünscht. Sie bedeuteten eine Störung der sozialen Ordnung und wiesen darauf hin, dass die Übergangsriten zwischen Leben und Tod nicht ordnungsgemäß vollzogen worden waren. Wenn Angehörige aus Geiz oder anderen niederen Beweggründen die erforderlichen Fürbitten der Geistlichen verweigert hatten oder der Tote keine vollständige Buße getan hatte, meldete sich die Seele aus dem Zwischenreich und forderte bei den Lebenden ihr Seelenheil ein.65 Die »Gegenwart der Toten«66 als Präsenz quasi körperlicher Geister, die bei Bedarf Jenseits und Diesseits durchschreiten konnten, war unter diesem Gesichtspunkt für die Menschen des Mittelalters ganz real. In dem oben angeführten Konflikt in der moralischen Wochenschrift aber wurde das Klopfen in den Gräbern umgedeutet. Die Erklärung lautete nunmehr: »Was konnte dies Pochen […] anders seyn, als ein Beweis von Leben? Die Wirkungen wieder aus ihrer Ohnmacht erwachter Menschen, Scheinverstorbener!«67 Aus Wiedergängern, die als Totengeister im Grab ihr Unwesen trieben, waren Scheintote geworden: Menschen also, die noch gar nicht tot waren und nur lebendig bestattet worden waren. Wie konnte es zu dieser neuen Erklärung kommen? 62 63 64 65 66
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Vgl. Lecouteux: Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter, S. 122123. »Geist«, in: HWDA, Bd. 3, Sp. 471-510, Sp. 476-477. Ebd. Vgl. Schmitt: Die Wiederkehr der Toten, S. 239. Otto-Gerhard Oexle: »Die Gegenwart der Toten«, in: Hermann Braet/ Werner Verbeke (Hg.): Death in the Middle Ages, Löwen: Leuven University Press 1988, S. 19-77. Schnorr: »Was lassen uns jene Sagen schließen?«, S. 440.
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Entscheidend für die Neukonzeption des Lebens war die Unterscheidung René Descartes’ von res cogitans und res extensa. Seiner Auffassung nach war der Mensch eine Einheit aus zwei grundsätzlich gegensätzlichen Entitäten: dem Körper (res extensa) und dem Geist (res cogitans). Der Körper war materiell und vergänglich, der Geist hingegen immateriell und unvergänglich: Er denkt, fühlt und will. Die Eigenschaften der Seele – Intellekt und Emotionen – das, was im modernen Sinne unter psychische Vorgänge oder Bewusstsein subsumiert wird, wurden dem Geist, den res cogitans, zugeschlagen. Andere Eigenschaften der Seele hingegen – Triebe, Wachstum und Bewegungsfähigkeit – wurden aus der materiellen Beschaffenheit des Körpers, seiner Anatomie und Physiologie, erklärt.68 Fielen im Mittelalter Leben mit Seele zusammen und waren Körper und Seele ein Gegensatzpaar, hatte Descartes einen Gegensatz mit neuen Inhalten geschaffen: Es gab eine Welt innerhalb und außerhalb des Bewusstseins. Der Gegensatz bestand zwischen den physischen, materiellen Dingen und den psychischen Vorgängen. Damit gab er die mittelalterliche Vorstellung eines »Geistes« oder einer Seele als Zwischending zwischen Materie und Nicht-Materie auf. Gehörten für die mittelalterlichen Gelehrten Atmen und Ernährung ebenso wie Wollen und Denken zur Seele und damit zum Leben, schlug Descartes Atmen und Ernährung den res extensa, der organischen Natur, zu. Denken und Wollen hingegen zählten zum Bewusstsein, den res cogitans. Descartes trennte die Seele als Geist vom Leben ab, sie wurde »vergeistigt«. Nur als Geist behielt die Seele ein Daseinsrecht.69 Durch den Descartes’schen Dualismus von res cogitans und res extensa entstand ein Bild des menschlichen Körpers, das sich in weiten Teilen auf seine mechanischen Bestandteile beschränkte. Die Erforschung einer Seele in ihrer alten Form als Leben gebendes Prinzip wurde entweder zurückgestellt oder, wie von Descartes, nur als Organ in die Physiologie integriert. (Descartes postulierte, dass die Zwirbeldrüse der Sitz der Seele sei.) Das Leben unterlag bei Descartes mechanischphysikalischen Gesetzen, es konnte mittels Stoß- und Druckkräften verstanden und mathematisch beschrieben werden. Descartes hatte damit ein Modell entwickelt, mit dem das Verhältnis zwischen Tod und Seele umgekehrt wurde: Nicht, weil die Seele entwich, trat der Tod ein, sondern die Seele, die Vermittlungsstelle zwischen Körper und Geist, entwich, weil der Tod eingetreten war. Der Tod trat dann ein, wenn in 68
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Vgl. »Seele«, in: Theologische Realenzyklopädie, hg. v. Gerhard Krause/Gerhard Müller, auf zahlreiche Bde. berechnet, Berlin/New York: de Gruyter 1977 ff [im Folgenden abgekürzt: TRE], Bd. 30, S. 733-773, S. 753. Vgl. »Seele«, in: HWP, Bd. 9, Sp. 9-89, Sp. 29. 57
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der Maschinerie des Körpers etwas zerbrach und sie aufhörte, sich zu bewegen.70 Dieser Wandel bedeutete zugleich, dass die Gleichsetzung von Leben mit gottgegebener Seele und die Definition des Lebens als einer metaphysischen Substanz verworfen wurden. Die Auflösung der alten Seelenvorstellungen definierte damit nicht nur das Lebensproblem neu und positionierte den Menschen als Teil der empirisch zu untersuchenden, vergänglichen Natur neu. Sie veränderte auch die Perspektive des Menschen auf seinen Tod und untergrub seine Hoffnung auf Unsterblichkeit und Auferstehung. Denn wenn die Seele nur ein Organ war, die von Descartes postulierte Zwirbeldrüse, und damit materiell und vergänglich, was sollte dann die Unsterblichkeit sichern? Dieser Wissensstand barg enormes soziales Erschütterungspotential, stand doch nun erstmals der Glaube an die prinzipielle Unsterblichkeit des Menschen zur Disposition. Der von Descartes geprägte Dualismus von Körper und Geist hatte für die Sicht auf Leben und Tod ein Problem erzeugt, das die bis dahin existierenden Körper-Seele-Modelle nicht kannten. Da Descartes die komplette Wesensverschiedenheit von Körper und Geist postuliert hatte, musste geklärt werden, wie das Leben in den Körper kam, wie er sich erhielt und bewegte und wie, wann und warum das Leben den Körper verließ. In einem Modell, das davon ausging, dass die unsterbliche Seele formgebendes und Leben spendendes Prinzip des Körpers war, stellte sich die Frage nach dem Zusammenhang zweier Entitäten gar nicht. Die antik-mittelalterliche Vorstellung des Lebens, auf Aristoteles zurückgehend und im Mittelalter mit der Schöpfungslehre harmonisiert, ging nämlich von einer belebten (im Sinne von beseelten) Welt aus, während der neuzeitliche Rationalismus Descartes’ erstmals eine total unbelebte, anorganische Welt von einer organischen, lebenden trennte.71 Die Diskussion über die unsicheren Zeichen des Todes ist vor dem Hintergrund dieser neuen Problemlage zu verstehen. Sie ist die Geschichte der Auflösung der Seelenvorstellungen und die mit aller Nachdrücklichkeit betriebenen Suche nach Alternativmodellen und empirischen Lösungen. In diesem Prozess hatten sich die Bedeutungsgehalte von Leben und Tod verschoben, wobei der Übergang zwischen Leben und Tod in den Blick der Zeitgenossen geriet. Das Ringen um die Festlegung von sicheren und unsicheren Todeszeichen sowie die Überführung von Uneindeutigkeit in Eindeutigkeit kennzeichnete diese Übergangsphase. Die Geschichte des Scheintodes ist die Geschichte dieses Aushandlungsprozesses. Sie macht zugleich klar, dass dem Scheintod
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Vgl. »Tod«, in: HWP, Bd. 10, Sp. 1227-1242, Sp. 1232. Vgl. »Leben«, in: HWP, Bd. 5, Sp. 98.
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eine neuzeitliche Anthropologie zugrunde liegt, denn der Mensch wurde nicht mehr von seiner Seele her betrachtet. Die Anfänge dieser anthropologischen Transformation datieren auf die erste systematische Beschreibung des menschlichen Körperbaus und der Organe von 1543, die Andreas Vesalius in seinem siebenbändigen Werk De humani corporis fabrica libri septem vorgenommen hatte.72 Vesal hatte das anatomische Wissen direkt am menschlichen Körper gewonnen, indem er Leichen sezierte. Durch Leichensektionen und Tierversuche erhielt er empirisches Wissen vom Körper. Descartes waren neben der empirischen Beschreibung der menschlichen Anatomie Galileis Physik und William Harveys Blutkreislauflehre (1628) behilflich. Ebenfalls durch Sektionen an Tierleichen konnte Harvey zum einen belegen, dass entgegen der mittelalterlichen Blutflusstheorie das Herz eine Blutpumpe mit zwei getrennten Kammern war. Zum anderen konnte er nachweisen, dass in den Adern, die Herz und Lunge verbinden, nur Blut floss und entsprechend kein Austausch von Luft und Blut im Herzen stattfand. Durch die Berechnung der Blutmenge, die das Herz in den Körper pumpt, widerlegte er eine weitere medizinische Auffassung des Mittelalters, nach der das Blut im menschlichen Körper aus der Leber stammte. Zuletzt wies er den Kreislauf des Blutes nach: Das Blut floss in einem geschlossenen Kreis vom Herzen zum Körper und wieder zurück. Harveys Forschungen gelangten durch sein Werk Anatomische Abhandlung über die Bewegung des Herzens und des Blutes von Tieren, das zuerst in England im Jahre 1628 erschienen war, in die Gelehrtenschaft.73 Seine Untersuchungen wurden durch die Versuche des Engländers Stephen Hales, der in Experimenten an Pferden 1726 den Blutdruck maß, sowie durch die Forschungen zum Stoffwechsel des Italieners Santorio Santorio ergänzt, der erste Berechnungen zum Energieumsatz im menschlichen Körper vornahm.74 All diese Vorgänge in der Körpermaschine hatten darauf schließen lassen, dass es von der Seele unabhängige Kräfte geben musste, die für ihr Funktionieren verantwortlich waren. War der mittelalterliche Mensch das Geschöpf Gottes und wurde das Wissen über ihn aus der Schöpfungsgeschichte abgeleitet, generierten neue Methoden wie Beobachtung, Erfahrung und Experiment Aussagen über das Wesen und die Lebensfunktionen des Menschen.75 Das so ge72 73 74
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Vgl. van Dülmen: Die Entdeckung des Individuums, S. 68. Vgl. ebd. Vgl. E. M. Tansey: »The Physiological Tradition«, in: William F. Bynum/Roy Porter (Hg.): Companion Encyclopedia of the History of Medicine, Bd. 1, London/New York: Routledge 1993, S. 120-152, S. 122123. Vgl. Steven Shapin/Simon Shaffer: Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle and Experimental Life, Princeton: Princeton University 59
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wonnene Wissen unterschied sich von theologischem, volksreligiösem oder traditionellem Wissen dadurch, dass sich seine Plausibilität oder Wahrheit nicht über den Glauben erschloss, sondern über Sichtbarkeit. Experimente machten dieses Wissen für jeden nachvollziehbar, es erschloss sich nicht über Überlieferung und alte Texte. Das in diesem Zusammenhang entstandene Interesse der Naturforscher an todähnlichen Zuständen und Leichenerscheinungen hatte unter anderem zur Folge, dass Anfang des 18. Jahrhunderts das Wort »Vampir« Eingang in den deutschsprachigen Raum fand. Denn die physikalischen und physiologischen Erkenntnisse über den Körper führten zu einer neuen Erklärung für das Phänomen des »Nachzehrers«, der in der slawischen Prägung »Vampyr« hieß. Aus verschiedenen serbischen und bosnischen Dörfern, die nach dem letzten Türkenkrieg an Österreich gefallen waren, waren 1718 sogenannte »Vampyrepidemien« gemeldet worden. Über mehrere Wochen in den Jahren zwischen 1718 und 1732 wüteten dort Seuchen, die die Bevölkerung auf Blutsauger zurückführte, die des Nachts ihren Gräbern entstiegen sein und ihre Angehörigen ermordet haben sollten. Das Erscheinungsbild des Nachzehrers oder Vampirs konnte von den habsburgischen Beamten, die dieser Seuche nachgingen, nunmehr, dem mechanistischen Weltbild gemäß, auf verschiedene »natürliche Würckungen des Cörpers« zurückgeführt werden.76 Der böse Totengeist wurde dadurch »entzaubert«. Die moralischen Wochenblätter gingen mit den Anforderungen, die die neue Anthropologie mit sich brachte, weitgehend pragmatisch um. So jedenfalls verhielten sich die Personen, die sich in den Konflikt um das »Pochen in den Gräbern« eingeschaltet hatten. Man stritt sich nicht über die Präsenz von Geistern, sondern über die Glaubwürdigkeit der Zeugen, die diese Geschichten kolportierten. Auch die Aufklärer fanden es schwierig zu entscheiden, ob es nun in den Gräbern geklopft hatte oder nicht. Während für den einen das Klopfen ein sicherer Hinweis auf einen Lebendigbegrabenen war, wollte ein weiterer Beitrag im Hannoverischen Magazin die ganze Diskussion als Gerücht und Einbildung entlarven. So führte ein Pastor, der sich in die Diskussion einschaltete, die Aufregung auf die Aussage eines Kutschers zurück, dem aufgetragen
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Press 1985; Shapin: »Woher stammte das Wissen in der wissenschaftlichen Revolution?«, in: Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Michael Ranft: Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern, worin die wahre Beschaffenheit derer hungarischen Vampyrs und Blut-Sauger gezeiget, Leipzig: Teubner 1734, zit. nach Stefan Grothe: Der Einfluß der Seuchen auf die Entstehung des Vampirmythos im Spiegel der Leipziger Vampirdebatte 1725-1734, med. Diss. Köln: ohne Verlag 2001, S. 45.
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worden war, »er solle jedermann der ihn fragte, sagen: daß die Gesellschaft, die er gefahren, und er auch, wirklich das Pochen gehört hätten«.77 Bei dem Klopfen in den Gräbern, so der Pastor, handelte es sich nur um ein Gerücht. Die gängigen Bestattungspraktiken ließen eine Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens gar nicht zu, weil »ein Mensch 3-4 Tage: denn so lange läßt man doch wenigstens unter uns die Todten über der Erde stehen« aufgebahrt würde.78 Jedoch machte auch die Replik auf den Beitrag des Pastors der Diskussion kein Ende. Der Verfasser des ersten Artikels warnte wiederum davor, mit der Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens zu leichtfertig umzugehen. Der Autor führte als Beleg eine Geschichte, erzählt von einem »glaubwürdige[n] Mann«, als »ein Faktum« an, in der sich bei der Beisetzung in einem Mehrfachgrab gezeigt hätte, dass ein zuvor bestatteter »Leichnam nicht im Sarge, sondern in einiger Entfernung davon« lag.79 Er musste also dem Sarg noch lebend entstiegen sein und war erst dann in der Gruft gestorben. In dieser Geschichte taucht ein Motiv auf, das für die weitere Diskussion um den Scheintod typisch war: Bei einer Graböffnung lag der Sargdeckel verschoben und es gab andere Hinweise, dass der vermeintlich Tote dem Sarg entstiegen war.80 Das Motiv »Graböffnung« wurde auch in dem Noth- und Hülfsbüchlein von Rudolph Zacharias Becker verwendet. In diesem Werk, das für Zwecke der Volksaufklärung bestimmt war, wurde bei der Grablegung des Herrn des fiktiven Örtchens Mildheim festgestellt, dass seine Jahre zuvor verstorbene Frau lebendig begraben worden sein musste: »Die verstorbene gnädige Frau saß nämlich leibhaftig in ihrem weißseidenen Todtenkleide auf einem Sarge.«81 Diese Motive wurden in die Öffentlichkeit der Aufklärung getragen und dort anhand von Bildern und Figuren diskutiert, die in der Vorstellungswelt und der Realität ihrer Zeitgenossen fest verankert waren: Wiedergänger, Totengeister und Klopfgespenster stellten eine Realität dar, auf die sich die Zeitgenossen beziehen konnten und welche ihrer Erfahrungswelt entstammten. Durch die Umdeutung dieser Realität wurde 77 78 79
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Bosse: »Auch noch etwas über das Pochen in Gräbern«, in: Neues Hannoverisches Magazin 2 (1792), S. 893-896. Ebd., S. 894. »Etwas über den Aufsatz des Herrn Pastor Bosse zu Edemissen, das Klopfen in den Särgen betreffend, im 50sten Stück des neuen hannoverischen Magazins d. J.«, in: Neues Hannoverisches Magazin 2 (1792), S. 1193-1196, S. 1196. Vgl. auch hier zur Motivgeschichte das zweite Kapitel dieser Arbeit. Rudolph Zacharias Becker: Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute. Oder eine lehrreiche Freuden- und Trauer-Geschichte des Dorfs Mildheim, Gotha/Leipzig: Becker 1788, S. 6. 61
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dem Scheintod die Aufmerksamkeit verschafft, die es benötigte, um als gesellschaftlicher Missstand wahrgenommen zu werden.
Vom Moment des Todes zum Prozess Die wissenschaftlichen Veränderungen, die zur Auflösung der alten Seelenvorstellungen und zur Entstehung einer neuen Anthropologie beigetragen hatten, standen in Zusammenhang mit weiteren Veränderungen. Das Wissen, das die alten Seelenvorstellungen unterminiert hatte und zur Herauslösung des Menschen aus seinem theologischen Zusammenhang führte, sollte nämlich auch das Wissen über die Beschaffenheit der Welt selbst verändern. Nicht nur der Mensch wurde zu einem Teil der empirisch zu untersuchenden, vergänglichen Natur, auch die Welt wurde erklär- und analysierbar als Teil einer wissenschaftlich ergründbaren und allgemeinen Gesetzmäßigkeiten unterliegenden Natur. Mit diesem Wissen wurden christlich-mittelalterliche Zeit- und Raumkonzepte ins Wanken und letztlich die Prämissen der christlichen Heilsgeschichte zum Einsturz gebracht. Der Verlust des Glaubens an die Unsterblichkeit und die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung hingen eng zusammen, waren sie doch der gleichen Wissensform geschuldet. Die Auflösung der alten Seelenvorstellungen resultierte in der Erschütterung des Glaubens an die prinzipielle Unsterblichkeit des Menschen, der Zusammenbruch der heilsgeschichtlichen Erwartung mündete in eine kulturhistorische Situation, in der wir uns bis heute befinden. Reinhart Koselleck meinte damit den Einbruch des geschichtlichen Denkens in das Bewusstsein der Menschen,82 Lucian Hölscher hat diesen Perspektivwechsel als das Hineinziehen der Menschen »aus dem Jenseits ins Diesseits, aus der Ewigkeit in die Geschichte« umschrieben.83 Mit der Erkenntnis, dass die Seele sterblich sein könnte, zerfielen auch die Prämissen der christlichen Heilsgeschichte. Nach der mittelalterlich-christlichen Lehre »dauerte« der Tod nur einen Moment. Der Tod war der Zeitpunkt, in dem die unsterbliche Seele aus ihrem vergänglichen Körper fuhr und ins Jenseits gelangte. Im Jenseits erwartete die Seele zunächst ein Individualgericht, bei dem entschieden wurde, ob sie direkt in den Himmel auffahren konnte oder im
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Vgl. Reinhart Koselleck: »Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit«, in: ders./Reinhart Herzog (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München: Fink 1987, S. 269-282. Vgl. Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, S. 45.
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Fegefeuer geläutert werden musste.84 Dann warteten die Seelen auf die Parusie, die Rückkehr Christi zur Erde und auf das Jüngste Gericht. Die Parusie war gleichzeitig das Ende der Welt, bei dem über das endgültige Schicksal der Seelen entschieden wurde. Entweder erhielten die Verstorbenen das ewige Leben oder aber sie waren auf ewig verdammt. Die Vorstellung des Todes als dem Moment, in dem sich die unsterbliche Seele von ihrem vergänglichen Körper trennte, war Teil der christlichen Zeitvorstellung und Heilsgeschichte. Das Verstreichen der Zeit wurde zwar linear gedacht, die Zeit war jedoch durch das herannahende Weltgericht begrenzt. Die Zeitgenossen wähnten sich stets im letzten Zeitalter und erwarteten das Ende der Welt:85 Die Menschen durchliefen ein Lebensalter, nach ihrem Tod trennte sich die Seele vom Leib und die abgeschiedene Seele erwartete die Wiederkehr Christi, um sich bei Anbruch der Ewigkeit mit dem Leib zu vereinigen.86 Die christliche Eschatologie war auf die Auferstehung der Toten und das ewige Leben ausgerichtet und besaß als Perspektive die Vollendung von Schöpfung und Heilsgeschichte. Wenn man von einer Zukunftserwartung des Einzelnen sprechen will, dann richtete sie sich auf die Prüfung im Fegefeuer. Die Gesamtheit der Christen erwartete die Wiederkehr Christi auf Erden und das Jüngste Gericht. Dadurch orientierte sich die Erwartungshaltung des Einzelnen am Endgericht der Heilsgeschichte. Der Sinn des Lebens bestand in der Hoffnung auf das Leben im Jenseits und war gesichert durch den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele. Als der Schweizer Arzt und Naturforscher Albrecht von Haller (1708-1777) Ende des 18. Jahrhunderts in seinem Grundriß der Physiologie für Vorlesungen seine Definition des Todes vorstellte, ging er von einem stufenweisen Übergang vom Leben zum Tod aus. Der Tod, so Haller, stellte sich da ein, »wo die Kräfte immer allmählig abnehmen; […] Das Herz vermag nicht mehr das Blut in die entfernten Theile zu treiben; und der Puls sowohl als die Wärme verlassen erst die Füsse, dann auch die Hände. […] Aber auch die Bewegung des Herzens hört endlich auf, wann die übrigen Theile des Körpers erkaltet sind, und das Fett geronnen ist und stockt! Der vollkommene Tod ist da.«87
Der Tod war das Resultat eines vielfältigen, sich in die Zeit erstreckenden Prozesses geworden. Er bedeutete, dass die einzelnen, aber zusam84 85 86 87
Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, 128 ff. Vgl. Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, S. 30. Vgl. »Eschatologie«, in: LexMA, Bd. 4, Sp. 5. Albrecht von Haller: Grundriß der Physiologie für Vorlesungen, Berlin: Haude und Spener 41781, S. 597. 63
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menhängenden Organe des Körpers sukzessive aufgehört hatten, zu funktionieren. Der Tod wurde als ein allmähliches Versagen der körperlichen Funktionen beschrieben. Die Tätigkeit der Organe und die Arbeit von Muskeln und Gewebe nahmen nach und nach ab: Der Tod wurde zu einem Prozess, der sich über einen mehr oder minder langen Zeitraum erstrecken konnte. Damit war die mittelalterlich-christliche Vorstellung des Todes hinfällig geworden, die den Tod als den Moment verstand, in dem die unteilbare, gottgegebene Seele aus dem Körper fuhr und den vormals lebenden Körper zu einem toten machte. Dieses Prozessmodell des Todes unterlag auch der Beschreibung des Scheintodes. Christoph Wilhelm Hufeland, königlicher Leibarzt, Professor für Medizin in Jena und Berlin sowie Verfasser des 1808 erschienenen Kompendiums Der Scheintod oder Sammlung der wichtigen Thatsachen und Bemerkungen darüber, in alphabetischer Ordnung, unterschied drei zeitlich nacheinander verlaufende Todesphasen. Ähnlich wie Haller postulierte er in einem Aufsatz zu dem Thema, dass »der Tod des Menschen […] keine plötzliche Verwandlung, kein Werk des Augenblicks [sei], sondern ein stufenweiser Übergang aus dem Zustand des wirksamen Lebens in den des gebundenen oder Scheintods, und durch diesen erst in den vollkommenen Tod, oder den totalen Verlust aller Lebenskraft«.88
In den ersten beiden Phasen befinde sich noch Lebenskraft im Körper. Zwar bewege sich der Körper nicht mehr, aber die Organe funktionierten noch. Der zweite Grad des Todes unterscheide sich äußerlich nicht vom ersten, aber die Organe hätten in Folge der Dauer der ersten Phase bereits an »Brauchbarkeit« eingebüßt. In diesen beiden Stadien des Todes sei es jedoch noch möglich, die verborgenen oder gebundenen Lebenskräfte so zu mobilisieren, dass der Tote wieder lebendig werde. Erst der dritte Grad bringe die »Vollkommenheit des Todes«, »die wirkliche Auflösung durch Fäulniß«.89 Die Organisation des Körpers selbst sei dann getrennt und das »zusammengesetzte Wesen in seine einfachsten Bestandtheile zerlegt«.90 Alle Lebenskraft sei in diesem Stadium erloschen. Welche Bedeutung besaß das Prozessmodell des Todes? Mit dem Verständnis des Todes als einen sich in die Zeit erstreckenden Prozess war die Vorstellung hinfällig geworden, den Tod als den Moment zu 88
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Christoph Wilhelm Hufeland: »Die Ungewißheit des Todes und das einzige untrügliche Mittel, sich von seiner Wirklichkeit zu überzeugen und das Lebendigbegraben unmöglich zu machen«, in: Blätter vermischten Inhalts 3 (1790), S. 290-321, S. 299. Ebd. Ebd.
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verstehen, in dem die unteilbare, gottgegebene Seele aus dem Körper fuhr und den vormals lebenden Körper zu einem toten machte. Dieser Wissensstand enthielt zwei Implikationen. Zum einen gab es gab keine Seele mehr, die nach dem Tod in den Himmel auffuhr, die Unsterblichkeit des Menschen sicherte und die christliche Heilsgeschichte vollendete. Zum anderen war an die Stelle des Todesverständnisses als einer Durchgangsstation auf dem Weg zum ewigen Heil oder der ewigen Verdammnis die Erkenntnis getreten, dass der Tod das absolute Ende bedeuten konnte. Das Wissen um die Existenz einer Seele und ihr Leben im Jenseits waren unwiederbringlich erschüttert worden. An dieser Zäsur hat der Scheintod seinen historischen Ort. Er kam nach dem Zusammenbruch der heilsgeschichtlichen Erwartung auf und stand dafür, dass dem Tod neuer Sinn verliehen werden musste. Dabei zielt die Frage nach einer neuen Sinnstiftung des Todes nicht so sehr in eine ethisch-moralische Richtung in dem Sinn, was ein »gutes Leben« sein könnte oder wie der Einzelne mit seiner individuellen Angst vor dem Sterben umgeht. Was kann vielmehr für eine Gesellschaft sinnvolles Handeln sein, wenn Fürbitten und Stiftungen für das Seelenheil angesichts des veränderten Wissens über Leben und Tod nicht mehr die einzige Option sein können? Die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden kann damit zunächst als Angst betrachtet werden, das irdische Leben zu verlieren. Angesichts des Glaubensverlusts an die prinzipielle Unsterblichkeit des Menschen können die Aufrufe zur Lebensrettung und Wiederbelebung, die insgesamt als Handlungsanweisungen aus der Angst vor dem Scheintod abgeleitet wurden, als Aufwertung des irdischen Lebens betrachtet werden. Gemeinsam mit den in dieser Zeit entstandenen Schriften wie Hufelands Makrobiotik und Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern sowie der Einführung der Pockenimpfung verweisen diese Maßnahmen auf die Umstellung der Gesellschaft »vom Jenseits ins Diesseits, aus der Ewigkeit in die Geschichte«. Die Angst, dass man aus Todesgefahr nicht mehr rechtzeitig gerettet würde oder dass man durch eine voreilige Beerdigung sein Leben zu früh verlieren könnte, ist vor dem Hintergrund des Verlusts an die Auferstehung und das Ewige Leben zu deuten: Zum Heil wurde nunmehr das Leben selbst. So widmet sich entsprechend auch der restliche Artikel über Scheintod im Brockhaus praktischen Erwägungen. Er beschließt seine Darstellung damit, wie »durch die gehörigen Mittel wieder das gehörige volle Leben in ihnen zurückgerufen werden kann«. Dazu wurden die verschiedenen Krankheitszustände und Umstände aufgelistet (Ohnmacht, Asphyxie und Unfälle wie Ersticken und Erfrieren), in denen ein Scheintod möglicherweise unerkannt blieb, um sodann die gesellschaftlichen Prak65
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tiken (das Bestatten mit geschlossenem Deckel beispielsweise) zu kritisieren. Dann folgten Fälle namhafter Ärzte, die in ihrer Praxis mit dem Scheintod konfrontiert waren sowie die Nennung vom Scheintod betroffener Personengruppen: Neugeborene beispielsweise. Der Eintrag endet mit zahlreichen Hinweisen zum praktischen Umgang mit Scheintoten: Bei uneindeutigen Todesfällen müssten Sachverständige, also Ärzte, hinzugezogen werden und die Maßnahmen zur Wiederbelebung seien »sanft, gradweise und kräftig, aber nicht stürmisch« zu vollziehen, damit »der schwach und verborgen glimmende Lebensfunke nicht vollends verlischt«. Der Eintrag des Brockhaus’ zu »Beerdigung«, war im Grunde ebenfalls wie der zu »Tod« eine Fortsetzung des Scheintodartikels. Er befasst sich im Wesentlichen mit den sogenannten »zu frühen Beerdigungen« und ist zentriert um jene subjektzentrierte Frage: »Und ist es nicht ein schrecklicher Gedanke, wenn ein Wiedererwachter nur Minuten lang in einem so qualvollen Zustande seyn müßte?«91 Der Autor betont die Wichtigkeit, auf das einzig sichere Zeichen des Todes zu warten, die beginnende Zersetzung. Erst dann dürfe zur Bestattung geschritten werden. Zuletzt wirbt er für die Errichtung von Leichenhäusern, damit der tote Körper nicht im Haus aufgebahrt werden müsse. Der Scheintod war als Schwellenphänomen Ausdruck dieser Übergangsphase vom »Jenseits ins Diesseits, von der Ewigkeit in die Geschichte«. Am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts stand der Zustand des Scheintodes exemplarisch für dieses Übergangsstadium. Diese Beispielhaftigkeit lässt sich mittels der Lebenskraftlehre verdeutlichen, dem Erklärungsparadigma für Leben und Tod und zugleich einem naturphilosophischen Konzept. Lebenskräfte waren empirisch schwer zu überprüfen, damit verlängerten und zelebrierten sie den Zustand der Uneindeutigkeit und des Übergangs quasi. Christoph Wilhelm Hufeland definierte den Scheintod als Zustand des »gebundenen Lebens«, »in welchem […] die Lebenskraft wirklich nicht lebt, und ohne Wirksamkeit auf den mit ihr verbundenen Körper ist«.92 In dem Zustand des Scheintodes, so Hufeland, könnten Personen wenige Stunden, aber auch mehrere Tage verharren. Diese »unbegreifliche Kraft«, so Hufeland, bleibe dem Lebewesen »treu«, auch wenn es »aus seinem Element gerissen, zur Mumie gebrannt, ohne Nahrung, ja dem Anscheine nach, ohne alle Lebensorgane« sei«.93 91
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»Beerdigung«, in: Conversations-Lexikon oder Hand-Wörterbuch für die gebildeten Stände, 2. Aufl., Bd. 1, S. 620-621. Dieser Beitrag ist wie der zu »Scheintod« auch mit »H.« unterzeichnet und stammt vermutlich ebenfalls von Johann Christian August Heinroth. Hufeland: »Die Ungewißheit des Todes«, S. 292. Ebd., S. 294.
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Die Lebenskraftlehren füllten gewissermaßen eine Leerstelle, die das mechanistische Paradigma offen gelassen hatte. Zu den physikalischen Kräften, die nach dem mechanistischen Denken für die Bewegungen des Lebens verantwortlich waren, kam ein neues Prinzip des Lebendigen hinzu. Es gab ein immaterielles Lebensprinzip, das aber in der Natur verortet war: Es wurde »Lebenskraft« genannt. Albrecht von Haller versuchte erstmals, diese Grundkraft des Lebendigen empirisch nachzuweisen. Er identifizierte verschiedene Arten von Fasern, aus denen die Organe des Körpers bestanden. So bildeten Verbindungsfasern das Gefäßsystem, die Membranen und die Gewebe der wichtigsten Organe. Darüber hinaus gab es Nerven- und Muskelfasern. Diese beiden Letztgenannten waren laut Haller mit vitalen Eigenschaften ausgestattet, die er »Sensibilität« und »Irritabilität« nannte. Irritabilität bezeichnete die Fähigkeit der Sinnes- und Nervenzellen auf Reize zu reagieren – die Kontraktionsfähigkeit der Muskeln beispielsweise –, Sensibilität hieß die Wahrnehmungsfähigkeit der Fasern von Stimuli. Der Schweizer Arzt wies die Kontraktilität der Muskelfasern und die Sensibilität der Nervenfasern als experimentell gesicherte Eigenschaften und Grundstrukturen des Körpers nach, die äußerlich zwar nicht zu erkennen, in ihren Wirkungen jedoch messbar waren.94 Experimente zur Elektrizität und zum Galvanismus schienen Hallers Befunde zu erhärten. Der Naturforscher Caspar Friedrich Wolff nannte diese Grundkraft des Lebendigen vis essentialis, der Göttinger Medizinprofessor Johann Friedrich Blumenbach sprach von Organisations-, Regulations-, Form- und Bildungskräften.95 Das Wesen der Organismen, betonten Caspar Friedrich Wolff und Johann Friedrich Blumenbach, zeichne sich durch prozesshafte Zielgerichtetheit aus und unterscheide sich von der mechanischen, unorganischen Natur. Sie erklärten die Funktionsweise der belebten Natur aus einer Verbindung von mechanistischen und teleologischen Prinzipien, die der amerikanische Wissenschaftshistoriker Timothy Lenoir »Vitaler Materialismus« genannt hat.96 Dieses grundsätzlich in einem lebendigen menschlichen Körper vorhandene Lebensprinzip konnte in seiner freien Entfaltung behindert werden, sich versteckt halten oder durch äußere Einwirkung daran gehindert werden, sich zu zeigen. Ein Schlaganfall, eine Ohnmacht oder ein Schlag auf den Kopf, der zu Bewusstlosigkeit führte, stellten unterschiedliche Erscheinungsformen desselben Zustandes dar. Die Art und 94 95 96
Vgl. »Leben«, in: HWP, Bd. 5, Sp. 100. Vgl. »Lebenskraft«, in: HWP, Bd. 5, Sp. 122-128, Sp. 124. Timothy Lenoir: »Morphotypes and the Historical-Genetic Method in Romantic biology«, in: Cunningham/Jardine (Hg.): Romaticism and the Sciences, S. 119-129, S. 120. 67
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Dauer des Scheintodes wurde vom »Vorrath« und »die mehrere oder mindere Energie« der Lebenskraft bestimmt.97 Der Scheintod zählte damit zwar zu den Zuständen des Lebens, er war aber nicht eindeutig zuzuordnen. Diese Ambivalenz sprach Hufeland auch so aus: »Die Gränzlinie zwischen Leben und Tod scheint bei weitem nicht so bestimmt und so entschieden zu seyn, als man gewöhnlich glaubt und nach den gewöhnlichen Begriffen von Leben und Tod erwarten könnte. Es existiert ein Zustand, der auf keine Weise Leben, aber eben so wenig Tod genannt werden kann.«98
Damit verwischte die Lebenskraftlehre die Grenze zwischen Leben und Tod nur stärker. So wie der Mechanismus das Problem eines empirisch feststellbaren Zusammenhangs zwischen Leben und Tod aufgeworfen hatte und nicht eindeutig lösen konnte, verstärkte das Theorem mysteriöser Lebenskräfte diese Uneindeutigkeit noch mehr. Denn die Annahme von Lebenskräften erschwerte die empirische Überprüfung von Todeszeichen. Diese Schwierigkeit zu überbrücken und zu beheben, wurde Aufgabe der einen Trägergruppe des Scheintodes, die der Ärzte. Indem sie den Eintritt der Verwesung kontrollierten und gehalten waren, Scheintote in Leichenhäusern (die Hufeland bezeichnenderweise »Asyle des zweifelhaften Lebens« nannte) zu überwachen, wurde der Scheintod in erster Linie als medizinisches Problem verhandelt. Der Scheintod trat als empirische Schwierigkeit hervor, die Präsenz von Lebenskraft im Körper zu überprüfen. Dieses medizinische Problem, die Feststellung des Todes, konnte nur über die verstreichende Zeit gelöst werden, also über das Warten auf den Eintritt der Verwesung. In der Zwischenzeit, wie zur Überbrückung quasi, wurde dieser Ambivalenzraum in epischer Breite ausgeschmückt. Es könne nichts Schrecklicheres geben, als lebendig begraben zu werden, sagte Hufeland im Vorwort seines Scheintodkompendiums und bezeichnete den Scheintod dramatisch »als das letzte Verbrechen der Menschheit.«99 In dieser Spannung, in diesem Ambivalenzbereich, verblieb das Verhältnis des Individuums zu seinem Tod insgesamt. Einerseits war der Mensch ein unsterbliches Wesen, das im Tod »nur seine Form« änderte, andererseits verschwand der Einzelne aber als Individuum. Diese Spannung konnten auch die Spätaufklärer nur als solche feststellen und in epischer Breite darstellen. Der nun folgende Abschnitt wird jedoch zeigen, dass der Scheintod als Begriff und Erklärungsmoment noch weitere Funktionen erfüllen konnte. Er konnte so 97 98 99 68
Hufeland: »Die Ungewißheit des Todes«, S. 292. Hufeland: Der Scheintod, oder Sammlung, S. 171. Ebd., Vorwort.
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eingesetzt werden, dass sich eine Mentalität um 1800 über sich selbst verständigte und dadurch der Erschütterung der heilgeschichtlichen Erwartung einen Sinn verlieh, der jenseits von so praktischen Erwägungen wie Lebensrettung und verlängertem Aufbahren lag.
Wahlverwandtschaften. Gesellschaftliche Eliten und Scheintod Christoph Wilhelm Hufelands eben zitierter Aufsatz, der auch 1792 im Teutschen Merkur erschien, entstand auf der Grundlage mehrerer Vorträge, die er im Weimarer Gelehrtenverein gehalten hatte. Hufeland war zu der Zeit Hofmedikus in Weimar. Im Herzogtum Sachsen-WeimarEisenach herrschte ein reges kulturelles Leben, in dessen Mittelpunkt die Herzogmutter Anna Amalia stand. Anna Amalia hatte Christoph Martin Wieland, den Herausgeber des Teutschen Merkurs, zum Prinzenerzieher bestellt und weitere namhafte Schriftsteller um sich versammelt. Neben Wieland gehörten Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang von Goethe dazu.100 Die Zusammenkünfte des Weimarer Gelehrtenvereins fanden in den Räumen der Weimarer Herzogin Anna Amalia einmal monatlich statt. Adelige und bürgerliche Mitglieder der Hofgesellschaft trafen sich und ließen sich über wissenschaftliche Erkenntnisse informieren, bekamen Experimente vorgeführt und lasen sich aus literarischen Neuerscheinungen vor.101 Der Scheintoddiskurs war damit auch Teil einer städtischen Kultur, für die exemplarisch Weimar genannt werden kann. Denn wie der nun folgende Abschnitt zeigen wird, tauchten verschiedene Gelehrte und Schriftsteller, die zu diesem Kreis gehörten, in der Diskussion um den Scheintod auf: Sie waren mit dem naturphilosophisch-pantheistisch geprägten Zirkel durch persönliche Kontakte oder durch gemeinsame intellektuelle Interessen verbunden. Am 2. März 1792 etwa hielt Hufeland im Weimarer Gelehrtenverein einen Vortrag über die »Lebenskraft« und ihre »Erscheinungen […] in der organischen Natur«.102 Teilnehmer dieser Sitzung waren unter ande100 Vgl. Olaf Breidbach/Paul Ziche (Hg.): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2001; Joachim Berger (Hg.): Der »Musenhof« Anna Amalias. Geselligkeit, Mäzenatentum und Kunstliebhaberei im klassischen Weimar, Köln/ Weimar/Wien 2001. 101 Vgl. ebd., S. 8. 102 Vgl. »Versammlung. Den 2ten März 1792«, in: Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, hg. v. Klaus Gerlach/René Sternke, Berlin: Aufbau Verlag 1998, S. 57-59, S. 57. Böttiger war ein stadtbekannter Jour69
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rem Johann Wolfgang von Goethe, Christoph Martin Wieland und der Bruder des Herzogs von Gotha. Der Publizist und Altertumshistoriker Karl August Böttiger, der sich, wie im dritten Kapitel dargestellt ist, auch in der Scheintoddebatte engagierte, protokollierte die Sitzung. Böttiger selbst hielt an dem Abend einen Vortrag über ein antikes Thema, über römische Vasen. Die Gefäße konnten in Augenschein genommen und untersucht werden, befanden sich doch einige im Besitz der Herzogmutter. Goethe las an jenem Abend das Gedicht Über die Pflanzen vor, über das Vater Wieland »ganz entzückt« war. Es war in Hexametern geschrieben und Goethe trug es ganz »meisterhaft« vor.103 Die im Folgenden beleuchteten Verwendungen des Wortes »Scheintod« werfen ein Schlaglicht auf die Befindlichkeiten und Problemlagen einer geistesgeschichtlichen Strömung um 1800. Es kommt eine eigentümliche Spielart der Spätaufklärung in Deutschland zum Tragen, die Peter Hanns Reill als eine Art des Wissens, eine Denkart, bezeichnet hat, die der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eigen war. Sie könne weder als »modern« noch als »proto-romantisch« klassifiziert werden, aber sei faszinierend wegen der Fragen, die sie aufwarf und der Antworten, die sie gab.104 Diese Einschätzung wird genutzt, um einen differenzierten Blick auf das späte 18. Jahrhundert werfen zu können. Denn mit dieser Perspektive kommen Denkströmungen der Spätaufklärung zum Vorschein, die nicht unter »Rationalismus« subsumiert werden können, die aber trotzdem im 18. Jahrhundert entstanden und in dieser Zeit ihren Ort haben. So antwortet Hanns Peter Reill auf die Frage, »was ist Aufklärung?«, dass man eher von einer Reihe »gegenläufiger Aufklärungen« sprechen müsse. Gemeint ist damit, dass es eine Einheit aufklärerischen Denkens, die letztlich doch (nur) zu verschiedenen Formen von Disziplinierung, Rationalisierung und Kontrolle geführt habe, in dieser Eindimensionalität nicht gibt. Das in der Aufklärung produzierte Wissen nalist und Portraitist der Weimarer Gesellschaft, der damit nicht nur bei seinen Zeitgenossen Wieland und Goethe auf Missfallen stieß. 103 Ebd., S. 59. Bei Johann Wolfgang von Goethe lassen sich die Auseinandersetzungen mit Spinoza und mit dem Konzept der Lebenskraft ausdrücklich nachweisen. Vgl. David Bell: Spinoza in Germany from 1670 to the Age of Goethe, London: Institute of Germanic Studies University of London 1984. S. 168. Goethe verfasste sogar ein Gedicht, das mit »Scheintod« betitelt war und in dem er auf die Uneindeutigkeit der Grenzen zwischen Leben und Tod und die Unbestimmtheit abhob, diesen Zustand aufzulösen: »Weint, Mädchen, hier bei Amor’s Grabe; hier || sank er von nichts, von ohngefähr darnieder. || Doch ist er wirklich tot? Ich schwöre nichts dafür. || Ein Nichts, ein Ohngefähr erweckt ihn öfters wieder.« Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke, Bd. 1, Berlin 1960, S. 40. 104 Reill: Vitalizing Nature in the Enlightenment, S. IX. 70
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und seine ihm zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Umbrüche können nicht als monolithischer Block verstanden werden. Die Aufklärung müsse als Konglomerat von Ideen in ihren jeweiligen Bedeutungen für den Kontext, in denen sie entstanden und in denen sie jeweils ihre Wirklichkeit entfalteten, untersucht werden. Übertragen auf die Scheintoddiskussion bedeutet diese These, dass soziale Träger und ihre geistes- und ideengeschichtlichen Kontexte identifiziert werden müssen, um eine solche Variation aufklärerischen Denkens sichtbar zu machen. Denn mit einer solchen Vorgehensweise kann nachgewiesen werden, dass der Scheintod eben in einem Kontext des späten 18. Jahrhunderts entstand: Dem Scheintod unterlag eine nichtmaterialistische Sichtweise auf Leben und Tod, die von einem naturphilosophisch begründeten Weiterleben nach dem Tod ausging und subjektzentriert angelegt war. Diese Denkart fiel zum einen auf fruchtbaren Boden in der protestantischen Theologie und fand zum anderen Eingang in der Literatur. Die Hüter der letzten Gewissheiten waren aufgefordert, sich nach der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung mit dem Tod auseinanderzusetzen und entwickelten deshalb einen Zugang zum Scheintod. Die Dichter und Schriftsteller schöpften aus diesem ideengeschichtlichen Kontext, weil sie gewissermaßen qua Beruf sensibel für gesellschaftliche Umbrüche sind und gehalten waren, eigene Deutungen zu kreieren und Sinnstiftungen für ihr eigenes Leben zu schaffen.
Die Theologie verliert ihr Monopol auf letzte Gewissheiten Ein Verwendungskontext des Wortes »Scheintod« findet sich in der protestantischen Theologie um 1800. Exegetische Texte, die sich mit grundsätzlichen Glaubenswahrheiten beschäftigten, insbesondere mit der neutestamentarischen Erzählung von der Auferweckung des Lazarus und der Auferstehung Jesu, bildeten einen solchen Diskussionsrahmen. Innerhalb der protestantischen Theologie um 1800 gab es Auseinandersetzungen um pantheistisch-naturphilosophische Ideen, für die der Begriff »Scheintod« eine Rolle spielte. Naturalistisch-rationalistische und pantheistisch inspirierte Standpunkte ermöglichten es, die Auferstehung Jesu und die Auferweckung des Lazarus wahlweise als Dichtung, Mythos oder eben als bloßen Scheintod zu interpretieren. In der protestantischen Theologie wurden damit Ideen diskutiert, die in der traditionellen christlichen Glaubenslehre nicht vorgesehen waren und sogar konträr zu ihr standen. Denn ein Scheintod bedeutete, dass Jesus über kurz oder lang wirklich gestorben sein musste, und dass sein Weiterleben nur als individuelle Seelenunsterblichkeit, oder – noch gravierender für die 71
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christliche Auferstehungshoffnung – als ideelle Unsterblichkeit im Gedächtnis der Mit- und Nachwelt gedacht wurde. Die Scheintodhypothese stand damit im Widerspruch zur christlichen Auferstehungslehre. Denn »christliche Auferstehung« bedeutete nicht bloß seelische Fortdauer des Individuums, sondern »Wiederherstellung des wirklich aufgehobenen Lebens durch göttliche Belebungskraft«.105 Für die christliche Auferstehungslehre waren das Handeln Gottes, die »göttliche Belebungskraft«, und der Akt der »Wiederherstellung« entscheidend. So jedenfalls lautete die offizielle protestantische Lehre im Jahr 1854 auch wieder. Die Auferstehung Jesu Christi sei »doch so kräftig und vielfach bezeugt (vgl. 1 Kor. 15, 5 ff.)« und deshalb »die nicht wegzudenkende Basis allen christlichen Glaubens, Lebens und Hoffens«.106 Kurz, die Zeit um 1800 war ein Moment in der Geschichte der protestantischen Theologie, in der der Scheintod Konjunktur hatte. Der eingangs zitierte Theologe Gottlieb Planck, im Grimm’schen Wörterbuch als einer der Gewährsmänner für die Prägung des Wortes »Scheintod« um 1800 angeführt, stand in dem Kontext dieser naturphilosophisch orientierten Theologie. Auch er deutete die Auferstehung Jesu zur Scheintodgeschichte um. Es könne dadurch, dass auch den Evangelisten die Nachricht der Auferstehung nur zugetragen wurde und sie sich auf die Erzählungen anderer verlassen mussten, nicht mehr eindeutig entschieden werden, was von den Ereignissen »dem Mythos, was der blossen Volkssage, und was der reinen Geschichte gehören möchte«.107 Planck argumentierte wie Kant, dass auch die glaubwürdigsten Augenzeugen der Auferstehung durch »den Schein« getäuscht worden sein könnten. Es könne keine Urteile geben, die über jeden Zweifel erhaben seien. Die Jünger, die den sterbenden Jesus gesehen hätten, könnten nie völlig sicher sein, dass ihre Sinne oder die Zeichen des Todes sie nicht getäuscht hätten. Mit diesem Problem müssten auch um Objektivität bemühte Ärzte umgehen, welche Gutachten auf der Grundlage von Erzählungen verfassten und sich dabei auf das Urteil anderer verlassen mussten. Planck postulierte deshalb, dass der Tod Jesu als Scheintod aufzufassen sei. Der Theologe deutete die neutestamentarische Erzählung über die letzten Tage Jesu dann so, dass sich die menschliche Größe Jesus’ offenbare, es trete seine außergewöhnliche Persönlichkeit hervor. Mit dem Anspruch, nicht mehr an der Faktizität der biblischen Ereignisse interessiert zu sein, sondern »zu erzählen, wie das Christenthum durch seine Stifter und durch die ersten Schüler von diesem in der Welt 105 »Auferstehung Jesu Christi«, in: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 1, S. 592-595, S. 592. 106 Ebd. 107 Planck: Geschichte des Christenthums, Bd. 1, S. VI und VII. 72
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ausgebreitet und wie es von den Menschen, welche es zuerst von ihnen erhielten, aufgefasst wurde«, konnte Planck Jesus Strategie und Methode in seinem Handeln unterstellen.108 Die biblischen Geschichten hätten keine Wunder nötig, sondern Jesus verfolgte einen »göttlichen Plan« mit seinem Handeln. Dieser Plan bestand darin, ein eindrucksvolles Schauspiel zu inszenieren und dadurch einen tiefen Glauben in den Jüngern zu verankern, »durch den sie allein zu der Ausrichtung des Berufes, zu dem sie ausersehen waren, vollends geschickt gemacht, und mit dem Geist und mit der Kraft, welche sie dazu bedurften, ausgerüstet werden konnten«.109 So urteilte der protestantische Theologe, dass »der Entschluß sich zu dem Scheintode und zu dem Spiele mit der Scheinauferstehung herzugeben […] von Seiten Jesu nicht weniger Seelenstärke und nicht weniger Festigkeit des Willens« erfordert habe, »als zu der Uebernahme des wirklichen Todes gehört haben würde«.110
Der nur noch scheintote Lazarus Auch aus dem toten Lazarus, den Jesus nach dem Evangelium des Johannes von den Toten auferweckte und der als Sinnbild für die christliche Auferstehungshoffnung schlechthin gilt, konnte im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ein scheintoter Lazarus werden. Weil der Faktizität der Tat Jesu der empirische Beweis fehlte, also ein Beleg für die historische Wahrheit schwer beizubringen war, versuchten die Theologen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus neu zu deuten. Wie konnte die Erweckung des Lazarus einer offenbarungskritischen Erklärung standhalten? Die Erweckung des Lazarus aus dem Evangelium des Johannes (Joh 11, 1-45) zählt zu den grundlegenden Texten der christlichen Auferstehungslehre. Sie gehört gemeinsam mit den Erzählungen über die Auferweckung des Jünglings von Nain und der Auferstehung der Tochter des Jaïrus zu den Taten Jesu, die ihn als Sohn Gottes und Herrscher über Leben und Tod ausweisen.111 Die Erzählung spielt kurz vor der Verhaftung Jesu und dem Beginn der Passion. Sie setzt ein, als Jesus sich mit seinen Jüngern in der Nähe von Bethanien aufhält, wo Lazarus lebt, der wie seine Schwestern Maria und Martha zum engeren Freundeskreis von Jesus gehört. Als Lazarus schwer erkrankt, schickt ein Bote nach Jesus, 108 109 110 111
Ebd. Ebd., S. 310. Ebd., S. 300. Vgl. »Lazarus«, in: LThK, Bd. 6, Sp. 697-698; »Lazarus«, in: RGG4, Bd. 5, Sp. 127-128. 73
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um ihn über den Zustand seines Freundes zu informieren und ihn zu bitten, an sein Krankenlager zu eilen. Jesus jedoch bleibt zunächst an seinem Aufenthaltsort. Unterdessen stirbt Lazarus. Was dann laut biblischer Überlieferung geschah, wurde in den theologischen Interpretationen des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert unterschiedlich gedeutet. Zunächst seien Verlauf und Ausgang der Erzählung jedoch in ihren Grundlinien zu Ende dargestellt: Jesus reist, nachdem er vom Tod des Lazarus’ erfahren hatte, mit seinen Jüngern nach Bethanien, wo er die trauernden Schwestern Maria und Martha antrifft. Sie machen ihm Vorwürfe, dass er nicht eher gekommen ist und ihren Bruder geheilt hat. Jesus trauert mit seinen Freundinnen und weint mit ihnen über den Verlust. Er begibt sich daraufhin zum Grab, in dem Lazarus schon seit einiger Zeit liegt. Jesus fordert Lazarus auf, aus seiner Grabeshöhle herauszukommen. Der mit Binden umwickelte Lazarus erscheint der erstaunten Trauergemeinde. Jesus dankt Gott für sein Eingreifen und kommentiert das Ereignis mit den Worten der Verse 25 und 26: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Wer lebt und an mich glaubt, der wird nie mehr sterben.« Seit den ersten Jahrhunderten des Christentums galt diese biblische Erzählung zugleich als empirischer Beweis, dass die Hoffnung auf eine leibliche Auferstehung gerechtfertigt sei.112 Belege für die Faktizität des Wunders lieferten der Satz »er riecht schon«, mit dem Martha erklärt, dass die Verwesung schon eingesetzt habe. Der Satz tauchte in frühchristlichen Überlieferungen an der Stelle auf, wo Jesus an das Grab kommt, in dem Lazarus seit mehreren Tagen ruht. Weiterhin galten als Auferstehungsbeweise, dass ein Stein vor dem Grab wegbewegt werden musste und die Passage, dass ein in Binden gewickelter Lazarus den Menschen erschien. An diesen materiellen Gegenständen, dem Leib, dem Stein und dem Leichentuch, konnten sich alle von der Auferweckungsgewissheit überzeugen.113 Die Auferweckung des Lazarus war zugleich ein Hinweis auf die allgemeine Auferstehung der Toten und ein Vorzeichen für die bevorstehende Auferstehung Jesu. Die Totenerweckung wurde als Zeichen der göttlichen Macht über den Tod gewertet. Auch im Mittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit blieb die Auferweckung des Lazarus eine unhinterfragte Tatsache. Faktizität wurde von den Theologen seit dem Humanismus durch den genauen Ablauf der Geschichte selber hergestellt. Sie legten großes Gewicht auf die Rekon-
112 Vgl. Jacob Kremer: Lazarus. Die Geschichte einer Auferstehung. Text, Wirkungsgeschichte und Botschaft von Joh 11, 1-46, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1985, S. 111 ff. 113 Vgl. ebd. und S. 162. 74
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struktion des genauen Hergangs der Ereignisse.114 Ausschlaggebendes Kriterium für die Glaubwürdigkeit der Geschichte blieb die Autorität der Alten: Der Evangelist Johannes habe die Ereignisse selber gesehen und sie wahrheitsgetreu dokumentiert. Im 17. Jahrhundert wurde erstmals eine Kritik an biblischen Berichten formuliert, die sich gegen ihre bis dahin unhinterfragte Faktizität richtete und auch den Auferstehungsglauben betraf. Es war wiederum der Rationalismus des niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza, der die Textauslegung der Alten in radikaler Weise kritisierte. In seinem Theologisch-Politischen Traktat von 1670 formulierte er eine Wunderkritik, mit der er die Annahme fragwürdig machte, dass ein personaler Gott in die irdischen Geschehnisse eingriff und Wunder tat. Spinoza stellte die Eigengesetzlichkeit der Natur gegen das Handeln eines wirkungsmächtigen Gottes. Die Natur verhalte sich gemäß einer ewigen, festen Ordnung, und die Dinge, die außerhalb der natürlichen Ordnung geschehen, würden von den Menschen nur deshalb als Wunder wahrgenommen. Dass die Ereignisse in den biblischen Berichten für Wunder gehalten wurden, argumentierte Spinoza, besagte zweierlei. Erstens konnte es sein, dass die Vollkommenheit des mechanistischen Regelwerks der Natur das menschliche Fassungsvermögen einfach überstieg. Zweitens konnte das menschliche Fassungsvermögen überfordert worden sein, weil die Menschen noch zu wenig über die Naturgesetze wussten und die Naturforschung ihrerseits noch zu wenig weit gediehen war.115 Diese neuartige Bewertung der biblischen Erzählungen kam im Grunde hermeneutisch und historisch daher, denn Spinoza versuchte, die Geschichten der Bibel aus sich selbst heraus zu verstehen und nach ihrer Form und Funktion zu fragen. Diese Herangehensweise verstand dann Wunder als Adressierungen, mit denen Gläubigen eine bestimmte Moral oder Lehre durch eine ungewöhnliche Begebenheit vermittelt werden sollte. Prophetie und Offenbarung übernahmen dadurch die Funktion, Gehorsam und Frömmigkeit zu vermitteln, während die Philosophie für die wahre Gotteserkenntnis zuständig war.116 Spinoza öffnete damit einer kritischen Hinterfragung der Zuverlässigkeit der Angaben von Evangelisten und anderen Bibelautoren Tür und Tor. Die nun folgenden untersuchten theologischen Schriften belegen, dass die Formulierung »Schein als Täuschung« hier eine eigene Wendung und Bedeutung erhielt. Denn wenn Lazarus nur scheintot war, hat114 Vgl. ebd., S. 171. 115 Baruch de Spinoza: Theologisch-Politischer Traktat, neu bearb., eingel. und hg. v. Günter Gawlick, Hamburg: Felix Meiner 1976 [zuerst 1670], S. 105. 116 Vgl. »Spinoza/Spinozismus«, in: TRE, Bd. 31, S. 687-695, S. 691. 75
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ten entweder die Evangelisten ihre Leser getäuscht, oder der Scheintod wurde von Gott oder Jesus intentional eingesetzt und besaß eine bestimmte Funktion für die Geschichte. Der Aufklärungsphilosoph und -theologe Johann Philipp Gabler (1753-1826) absolvierte 1778 ein Theologiestudium in Jena und kehrte 1804 als Professor dorthin zurück.117 Er argumentierte, dass die Evangelisten, zwar »nicht um zu täuschen, wohl aber […] weil sie von Jesus nichts als Wunderbares erwarteten, erst durch ihre Deutung«, die Begebenheit in eine Wundergeschichte verwandelten.118 Auch er unterstellte den Autoren eine intentionalistische Haltung gegenüber ihrem Publikum. Gabler ging davon aus, dass der Evangelist Johannes der Auferweckung des Lazarus als Augenzeuge wohl beigewohnt hatte und auch eine Totenerweckung schildern wollte. Gleichwohl habe es sich aber nicht tatsächlich um ein Wunder gehandelt. Vielmehr sei »die Wiederbelebung des Lazarus bloß ein außerordentliche[r] Akt der göttlichen Provenienz« gewesen, »welche sich der geheimen Naturkräfte selbst bediente, um zur neuen Beglaubigung Jesu ein außerordentliches Phänomen in der Natur hervorzubringen«.119 Zweck des Scheintodes und zugleich die natürlich-rationale Erklärung für das Wunder war also die »Beglaubigung Jesu«. Damit stand Gabler für eine theologische Denkweise, bei der Vernunft und Offenbarung so in Einklang gebracht wurden, dass nur das seine Gültigkeit behielt, was der geistlichen Erziehung und Bildung der Gläubigen diente. Die Offenbarung wurde nicht verworfen, aber das Bildungsideal und das Bestreben, für allgemeine Aufklärung zu sorgen, stand bei der Bibelinterpretation im Vordergrund.120 Auf derselben Linie führt der Superintendent Lindemann aus Dannenberg die Argumentation Gablers zu Ende. Auch Lindemann ging von »geheimen Naturkräften« aus, die zu einem ungewöhnlichen Naturereignis geführt hatten: »Es war ein Scheintod, den man damals noch nicht kannte; so wie man auch von Wiederauflebungsversuchen noch nichts wusste«.121 Aber auch er befürchtete nicht, dass der christliche Glaube dadurch an Glaubwürdigkeit verlieren könnte: »[S]o verliert auch die christliche Religion, als positive göttliche Anstalt, als Institut zur Erziehung des Menschengeschlechts, durchaus
117 »Gabler, Johann Philipp«, in: TRE, Bd. 12, S. 1-3. 118 Johann Philipp Gabler: »Über die Wiederbelebung des Lazarus, Joh XI«, in: Journal für auserlesene theologische Literatur 2 (1807), S. 223-285, S. 227. 119 Ebd., S. 282. 120 Vgl. »Rationalismus«, in: RGG3, Bd. 5, Sp. 790-799, Sp. 796. 121 F. H. Lindemann: »Über die Auferweckung des Lazarus«, in: Journal für auserlesene theologische Literatur 6 (1811), S. 102-110, S. 109. 76
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nichts von ihrem göttlichen Ansehen, wenn das Factum auch noch so natürlich zuging«.122 Der Theologe und als Professor zeitweise in Leipzig, Gießen und Halle lehrende Carl Friedrich Bahrdt (1741-1792) kam zu einem ähnlichen Schluss wie Gabler und Lindemann. Er argumentierte jedoch etwas anders: Auch Bahrdt setzte zwar die historische Wahrheit der Bibel voraus, wandte aber ein, dass die Geschichte falsch erzählt oder interpretiert worden war.123 Es habe sich nicht um eine Auferweckung gehandelt, sondern um die Heilung eines Kranken. Er glaubte, dass Jesus die Strategie verfolgte, den Jüngern zu zeigen, dass »Heilmittel eben dasselbe wirken, mögen sie von mir oder einem anderen angewendet werden.«124 Bahrdt beschrieb Jesus damit als den quasi idealen Menschen – nicht den Gottessohn –, der vernünftig handelte und seinen Jüngern beibringen wollte, es ihm gleichzutun. Bahrdt hielt es entsprechend für wahrscheinlich, dass der Evangelist Johannes ein Missverständnis notiert hatte: Die Jünger hatten aus der Formulierung »wie ein Toter schlafen«, den Satz »er ist tot« verstanden. Bahrdts zweite Erklärung, mit der er den Scheintoderklärungen nahe kam, bestand darin, dass eine Krankheit nicht diagnostiziert und mit dem Tod verwechselt wurde: Denn »da könnt ihr alle erfahrenen Ärzte fragen, ob es möglich sey, daß gewisse Arten von Ohnmachten 50 Stunden dauern können, und sie werden diese Frage mit ja beantworten. Daher jetzt an mehrern Orten Gesetz ist, daß man die Toten nicht vor dem vierten Tag beerdigen soll […]«.125
Jesus, so argumentierte Bahrdt, habe eine Gesundung inszeniert, um den Glauben an den Jesus der Vernunft und der Aufklärung unter seinen Anhängern zu befördern. Jesus wollte »nicht für Messias und Wunderthäter [gehalten werden], sondern für einen Weisen, einen Gottesgelehrten, dessen einziger Zweck es war, durch die reinere Vernunftreligion, den Aberglauben zu verdrängen und die Welt, nicht nur die Juden, durch Aufklärung zu beteiligen.«126 Bahrdts Haltung entsprach weitestgehend der überwiegenden Zahl der protestantischen Aufklärungstheologen: Sie
122 Ebd., S. 109-110. 123 »Bahrdt, Carl Friedrich«, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1, Sp. 346-347, Sp. 346. 124 Karl Friedrich Bahrdt: Ausführungen des Plans und Zweks Jesu, 12 Bde., Berlin: ohne Verlag 1784-1793, Bd. 8, S. 66. 125 Ebd., S. 68. 126 Ebd., S. 95. 77
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stellten den vernünftigen Jesus, der als Aufklärer gefeiert werden konnte, in den Mittelpunkt ihrer Deutungen, nicht den Wunderheiler.127 Gegen die Auffassungen von Bahrdt, Gabler und Lindemann richtete sich der katholische Benediktinermönch Beda Mayr (1742-1794). Mayr war seit 1767 Professor für Philosophie und Theologie in Donauwörth und gehörte der Benediktinerabtei zum Heiligen Kreuz an. Mayr war einer der wenigen, die sich überhaupt von katholischer Seite zu dieser Frage äußerten. Er argumentierte orthodox. Für Mayr blieb es eine Tatsache, dass Lazarus auferstanden war. Als Argument dafür, dass die »Erzählungen der Evangelisten, und Apostel von den Wunderwerken im eigentlichen, und buchstäblichen Sinne genommen werden« müssten, führte er die Autorität der Autoren und ihre Anwesenheit als Augenzeugen an.128 Dass die Erweckung des Lazarus einzig im Evangelium des Johannes auftauchte, schwächte Mayrs Ansicht nicht, obwohl die Aufklärungstheologie den Umstand, dass die anderen drei Evangelisten die Auferweckung des Lazarus nicht erwähnten, kritisch angemerkt hatte. Für Mayr blieb die Autorität des Schreibers das maßgebliche Argument: »Diese Geschichte erzählet zwar der hl. Johannes allein, aber so ausführlich, und umständlich, daß man wohl sieht, er müsse ein Augenzeuge gewesen seyn.« Die Angaben des biblischen Berichts glaubte Mayr wahrheitsgetreu wiedergegeben: »Der Ort ist authentisch: Bethanien, in der Stadt bekannte Familien waren Augenzeugen«.129 Die Augenzeugenschaft des Evangelisten Johannes und die verschiedenen Indizien – der weggerückte Stein und das Leichentuch – boten ausreichende Beweiskraft für die Glaubwürdigkeit der Geschichte. Steven Shapin und Simon Shaffer haben für die frühneuzeitliche Wissenschaft auf die Bedeutung von Augenzeugen hingewiesen, die durch ihre Anwesenheit bei Experimenten und wissenschaftlichen Vorführungen für die Glaubwürdigkeit des Dargebotenen bürgten.130 Sie belegten durch ihre Autorität, die durch Rang und Status zugemessen wurde, die Wahrheit des Gesehenen in Zeitschriften, naturforschenden 127 Vgl. »Aufklärung«, in: LThK, Bd. 1, Sp. 1207-1216, Sp. 1213; »Aufklärung«, in: RGG4, Bd. 1, Sp. 929-951, Sp. 942; »Auferstehung«, in: TRE, Bd. 4, S. 441-546, S. 535. 128 Beda Mayr, Vertheidigung der natürlichen, und Einleitung in die geoffenbarte Religion, Augsburg 1789 (= Vertheidigung der natürlichen, christlichen, und natürlichen Religion. Nach den Bedürfnissen unserer Zeiten, Zweyter Theil, zweyte Abtheilung, Verteidigung der christlichen Religion) Augsburg: Rieger 1789, S. 452. 129 Ebd. 130 Shapin/Shaffer: Leviathan and the Air-Pump; Shapin: »Woher stammte das Wissen in der wissenschaftlichen Revolution?«, in: Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. 78
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Berichten oder comptes rendus.131 Dieses Verfahren, Wissen zu objektivieren, machten sich auch andere Wissenschaftler zu eigen, in diesem Fall sowohl protestantische als auch katholische Theologen. Bürgte in der frühneuzeitlichen Wissenschaft der Gentleman durch den Stand seiner Person und die Teilnahme an wissenschaftlichen Experimenten für die Wahrheit des Wissens, war das biblische Äquivalent, auf das sich die Theologen bezogen, die Autorität des Apostels Johannes und seine Anwesenheit am Grab. Der ebenfalls eingangs zitierte evangelische Theologe Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851) sprach sich gegen eine tatsächlich stattgefundene Auferweckung aus und vertrat ganz explizit eine Scheintodhypothese. Er schrieb der Offenbarung nur insoweit Gültigkeit zu, als Jesus in seinem Handeln als historische Figur Teil des Weltgeschehens gewesen sei.132 Es gelte nur das, was der Bildung und geistlichen Vervollkommnung des einzelnen Gläubigen diente. Damit verwarf er Wunder als Ausdruck der göttlichen Offenbarung. Jesus habe gewusst, dass Lazarus keine tödliche Krankheit gehabt hatte, entsprechend habe sich Jesus mit dem Besuch Zeit lassen können. Jesus sei von der Nachricht des Todes Lazarus’ selbst überrascht worden. Jedoch, sinnierte Paulus, habe Jesus mit der Aussage »Lazarus ist gestorben« nur den Wortlaut der Botschaft wiedergegeben, nicht sein Urteil. Lazarus sei gar nicht tot, sondern nur scheintot gewesen. Er war nur für tot gehalten worden und »Opfer« der jüdischen Bestattungsrituale (weil in der Regel die Grablege nur wenige Stunden nach dem Tod stattfand). Also argumentierte er: »Müssen wir nicht […] befürchten, was leider in jenen Tagen noch niemand denkbar fand! – daß der ›nichttödlich kranke‹ Lazarus in irgendeinem heftigen, mit einem Zurückziehen der Lebensäußerungen verbundenen Paroxysmus [medizinischer Fachbegriff für Anfall] als erstarrt und bewegungslos allzu schnell für todt gehalten worden sey?«133
Paulus deutete die vermeintliche Auferweckung des Lazarus in Zusammenhang mit der bevorstehenden Festnahme Jesu und den Beginn der Passion: Der Evangelist Johannes habe diese Erzählung in sein Evangelium aufgenommen, weil ihm »sein Herz an diese Erinnerung [blutete]«
131 Vgl. Martin Kusch/Peter Lipton: »Testimony. A Primer«, in: Studies in History and Philosophy of Science 33 (2002), S. 209-217. 132 Vgl. »Rationalismus«, in: RGG3, Bd. 5, Sp. 796. 133 Heinrich Eberhard Gottlob Paulus: Philologisch-kritischer und historischer Commentar über das Evangelium des Johannes, Leipzig: Barth 1812 (= Philologisch-kritischer und historischer Commentar über das Neue Testament 4,1), S. 544. 79
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und er die dramatischen Ereignisse dokumentieren wollte.134 Denn der Aufruhr, den Jesus durch sein Eingreifen verursacht hatte, sei den Hohepriestern Grund genug gewesen, seine Verhaftung voranzutreiben. Während einige Aufklärungstheologen am Ende des 18. Jahrhunderts den Scheintod als zweckgerichteten Plan präsentierten und an die hermeneutische Herangehensweise Spinozas anschlossen, bildete sich zu der gleichen Zeit eine Denkweise heraus, die sich explizit auch auf Spinozas Monismus und seine Identitätslehre, der Annahme nur einer Substanz, die nicht zwischen Gott und der Welt unterschied, bezog. Nun zusätzlich ausdrücklich historisch argumentierend konnte die Frage nach Form und Funktion der biblischen Geschichten noch weiter getrieben werden. Die Auferstehung des Lazarus war nur noch Dichtung oder Mythos, durch den sich ein »höherer, allgemeiner Begriff« des Wunders reflektierte und »die absolute Bedeutung der Person Jesu in einer bestimmten Form zum Bewusstseyn« kam.135 Von erklärten Idealisten und Romantikern in der Theologie wurde eine explizite Scheintodhypothese gar nicht mehr bemüht. Sie war quasi zu rational. Der Rationalität des Denkens wurde die Unmittelbarkeit des Glaubens durch Erfahrung und der Primat des Gefühls gegenübergestellt. An die Stelle des Seins traten das Werden und die Entwicklung.136 Mit der Identitätslehre gingen neue – pantheistische – Formen des Unsterblichkeitsglaubens einher. Dass der Mensch kein für sich bestehendes Wesen sei, sondern nur Gedanke in Gott – ein spinozistischer Gedanke – wurde mit geschichtlichem Denken und Individualismus verbunden: Prozesse wie Bildung und Vervollkommnung der Persönlichkeit überdauerten die Endlichkeit und bestanden in einem Leben nach dem Tod fort. So postulierte Herder, ganz im Sinne des Brockhaus-Artikels,137 dass Unsterblichkeit in der Fortdauer aller wirkenden und lebendigen Kräfte der Welt bestehe: Deshalb vergehe die Ichheit, aber nicht das Ewige im Selbst. Für Schleiermacher war Unsterblichkeit das Einswerden mit dem Unendlichen mitten in der Endlichkeit. Goethe, ein weiterer Vertreter dieser Identitätsphilosophie, glaubte, dass seine diesseitigen Tätigkeiten im Jenseits fortgesetzt würden.138 Friedrich Schleiermacher ging in seinen Predigten auf die Frage der Faktizität eines Wunders überhaupt nicht mehr ein und erklärte ledig134 Ebd., S. 549. 135 Ferdinand Christian Baur: Kritische Untersuchungen über die kanonischen Evangelien, ihr Verhältnis zueinander, ihren Charakter und Ursprung, Tübingen: Fues 1847, S. 190. 136 »Lebensphilosophie«, in: HWP, Bd. 5, Sp. 135-140, Sp. 138. 137 Vgl. S. 51 in diesem Kapitel. 138 Vgl. »Unsterblichkeit«, in: RGG3, Bd. 6, Sp. 1174-1178, Sp. 1176; »Spinozismus«, in: RGG4. Bd. 7, Sp. 1582-1583. 80
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lich, diese sei nicht die Tat Jesu, sondern die von Gott gewesen. Die Tat aber »ist unseren Augen verborgen«.139 Die Lehre aus der Lazarusgeschichte bestehe darin, dass die Jünger aus der Voraussage Jesu Hoffnung schöpfen sollten, auch an ihm werde sich die Auferstehung erfüllen. Bezeichnenderweise verglich Schleiermacher die Auferweckung des Lazarus mit Tod und Auferstehen in der Natur. Bei der Auferweckung handele es sich um ein Bild. Die Frage des biblischen Wunders wurde so geklärt, dass es schon genug Beweis der Vaterliebe Gottes gewesen sei, Lazarus in dem kalten, dunklen Grab durch das Eindringen des Lichts und den warm einströmenden Luftzug, verbunden mit den Nerven reizenden Wohlgerüchen, von selbst wieder erwachen zu lassen. Ein Grund für die Affinität zwischen den pantheistischen Ideen und der Theologie um 1800 bestand darin, dass die im Tübinger Stift ausgebildeten Studenten, darunter auch Schelling, Hölderlin und Hegel, mit Platon und dem Neuplatonismus, also antiken Formen der Einheitsmetaphysik, vertraut waren.140 Auch H. E. G. Paulus stammte aus dem Umkreis dieses württembergischen Protestantismus, er hatte ebenfalls im Tübinger Stift studiert. Paulus jedoch behielt seine »natürlichen« Erklärungen der Lazarusgeschichte gegen die Herausforderungen durch Romantik und Idealismus bei. Er gilt gemeinhin als Vertreter eines »christlichen Rationalismus«.141 1789 erhielt er einen Ruf an die Universität Jena und geriet dadurch in Kontakt mit der Weimarer Klassik und Frühromantik. Seine Frau Caroline, eine Schriftstellerin, und er waren persönlich mit Schiller, Goethe, Herder oder Fichte bekannt.142 Johann Philipp Gabler folgte ihm 1804 auf seinen Lehrstuhl in Jena, als Paulus nach Würzburg wechselte. In seiner Jenenser Zeit besorgte Paulus auf Anregung von Hegel und Goethe eine Übersetzung der gesamten Werke Spinozas. Diese Gesamtausgabe erschien 1802/1802.143 139 Friedrich Schleiermacher: Homilien über das Evangelium des Johannes in den Jahren 1825 und 1826 gesprochen, hg. v. A. Sydow (= Literarischer Nachlass, Predigtenband V), Berlin: Reimer 1847, S. 238-291, S. 278. 140 Vgl. Sandkühler: Handbuch Deutscher Idealismus, S. 7. 141 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: »Frühliberaler Rationalismus. Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851)«, in: ders. (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1990, S. 128-155, S. 133. 142 Vgl. Graf: »Frühliberaler Rationalismus«, S. 131. 143 Vgl. Manfred Lauermann/Maria-Brigitte Schröder: »Textgrundlagen der deutschen Spinoza-Rezeption im 18. Jahrhundert«, in: Eva Schürmann/ Norbert Waszek/Frank Weinreich (Hg.): Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2002 (= Spekulation und Erfahrung Abt. 2, Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus Bd. 44), S. 39-83, S. 44. 81
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David Friedrich Strauß (1808-1874) war ebenfalls Absolvent des Tübinger Stifts. Seine symbolische Deutung der Auferweckung des Lazarus sah sich vor die Alternative gestellt, dass man entweder an das Übernatürliche glauben oder den historischen Charakter der Erzählung leugnen müsse. Folglich bestritt Strauß, dass Lazarus im wörtlichen Sinne von den Toten auferstanden sein konnte. Er interpretierte die Evangelien als mythische Erzählungen. Zwar gestand Strauß zu, »dass sowohl an sich bei manchen Krankheiten Zustände eintreten können, welche dem Tode täuschend ähnlich sehen, als auch bei dem schlechten Zustand der Heilkunde unter den damaligen Juden eine Ohnmacht leicht für den wirklichen Tod genommen werden konnte.«144
Eine solche rationale Erklärung jedoch musste Strauß erst gar nicht bemühen. Eine Auferweckung von den Toten vorzunehmen, hieß, dem Verstorbenen »auf’s Neue […] das Bewusstsein […] zu verleihen«, eine schöpferische Tätigkeit also, die für Menschen unmöglich sei.145 Weil die frühe christliche Gemeinde eine solche Tat von ihrem Messias erwartete, schrieb sie ihm ein solches Vermögen zu. Strauß deutete die Lazarusgeschichte als Mythos, als »geschichtsartige Einkleidung urchristlicher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage«.146 Ferdinand Christian Baur (1792-1860) vertrat ähnlich wie Strauß die Auffassung, dass es keine Auferweckung gegeben habe. Die Lazarusgeschichte sei die schriftstellerische Idee des Evangelisten Johannes gewesen und Teil einer literarischen Strategie. Baur, seit 1826 Professor für evangelische Theologie in Tübingen, gilt als Begründer der historisch-kritischen Methode in der neutestamentarischen Forschung und betrachtete die Wundergeschichten als Teil einer teleologisch verlaufenden Narration: Wunder hätten »eine gewisse typische und symbolische Bedeutung, der äussere geschichtliche Hergang […] ist gleichsam nur die Form für den Inhalt, welchen sie in sich darstellt«.147 Die inhaltliche Bedeutung des Johannesevangeliums bestehe darin, dass sich an Ereignissen wie der Auferweckung des Lazarus »die concrete, bildliche Anschauung der absoluten Größe und Göttlichkeit Jesu« zeige. Diese Aussage war in eine Auferweckungsgeschichte eingebettet, denn »das göttliche Lebensprinzip«, mit dem Jesus identisch sei, entfalte vollends erst 144 David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Bd. 2, Tübingen: Osiander 21837, S. 140. 145 Ebd., S. 135. 146 David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Bd. 1, Tübingen: Osiander 1835, S. 75. 147 Baur: Kritische Untersuchungen über die kanonischen Evangelien, S. 190. 82
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seine Bedeutung in der »den Tod negierenden, in sich aufhebenden Macht«. Die Lazarusgeschichte veranschauliche diese Wahrheit. Der Tübinger Theologe August Friedrich Gfrörer (1803-1861) wiederum, auch er ein Absolvent des Tübinger Stifts, ging von einem historisch wahren Kern der Lazarusgeschichte aus, der literarisch überformt worden war. Der durch die Arbeiten David Strauß’ angeregte Historiker ging damit literaturkritisch-historisch vor. Seine Wunderkritik war durch Spinoza inspiriert, indem er davon ausging, dass »die in der Bibel erzählten Wunder Ereignisse [sind], die, ohne jenen Gesetzen zu widerstreiten, eine andere Gestalt haben als die täglich gewohnte.« Wie Paulus hatte auch Gfrörer Spinoza übersetzt.148 Er unterstellte, dass die angegeben Orte und der Hergang des Ereignisses plausibel wiedergegeben, jedoch literarisch ausgeschmückt und ausgestaltet worden waren. Die Evangelisten kannten die modernen Methoden der Textkritik noch nicht und konnten entsprechend nicht zwischen den literarischen Schichten unterscheiden. Vor einem ähnlichen Problem stünde allerdings auch der Bibelexeget. Lazarus war seiner Meinung nach nur scheintot gewesen: »Wie man durch Galvanismus [im 18. Jahrhundert der Elektrizität zugerechnete Kraft] einen toten Körper wieder zum Leben erwecken kann«, so seine Erklärung, konnte auch Jesus den scheintoten Lazarus wieder auferwecken.149 Die Anhänger Jesu hätten jedoch an der These der wahren Auferstehung festgehalten, um ein Argument für die Größe ihres Meisters zu haben. Seine Gegner hätten die Scheintodhypothese vorangetrieben. Um die Argumente der Gegner zu entkräften, habe sich im Text des Neuen Testaments eine möglichst unangreifbare, plausible Auferweckungsgeschichte festgesetzt. Als Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit der Philosophie des Deutschen Idealismus konnte man aber auch daran festhalten, dass die Auferweckung des Lazarus ein Wunder gewesen sei. So lehnte F. A. G. Tholuck (1799-1877) Spinozas Bibelkritik mit der Begründung ab, er setze ein Apriori, das für den Glauben an Wundererzählungen nicht offen sei, selbst wenn es sie gebe. Mit dem Apriori war die Annahme gemeint, dass Gott nicht in das Weltgeschehen eingreife und die Natur kein Durchbrechen ihrer Gesetze zuließe.150 Tholuck war seit 1823 Professor in Berlin, ab 1826 war er in Halle an der Saale tätig. In seinem 148 »Gfrörer, August Friedrich«, in: Meyers Konversationslexikon, Bd. 7, S. 315-316. 149 August Friedrich Gfrörer: Das Heiligthum und die Wahrheit, Stuttgart: Schweizerbart 1838 (= Geschichte des Urchristenthums, III. Haupttheil), S. 267. 150 Friedrich August Gottreu Tholuck: Commentar zu dem Evangelio Johanis, Hamburg: Perthes 1827, S. 190. 83
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Commentar zu dem Evangelio Johannis aus dem Jahr 1827 wandte sich Tholuck gegen die Scheintodhypothese. Tholuck verteidigte als Supranaturalist den Offenbarungsglauben. Tholuck war später einer der einflussreichsten Erweckungstheologen des 19. Jahrhunderts.151 Der Theologieprofessor aus Göttingen und spätere Konsistorialrat in Hannover, Friedrich Lücke (1791-1855), ging von einer Auferweckung aus und bewegte sich damit auf der Linie Tholucks. Er war jedoch weder Supranaturalist noch Erweckungstheologe. Als Argument gegen die Scheintodhypothese These führte er die Autorität und Redlichkeit des Evangelisten an. Johannes sei ein glaubwürdiger Augenzeuge, der Jesu Worte wahrheitsgetreu wiedergebe. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Christus und seine Jünger »die Wahrheit […] zur Täuschung« gewendet hätten. Jesu Handeln interpretierte Lücke so, dass es eindeutig auf eine Auferweckung hinwies: »Wenn nun Christus, dem man doch wenigstens Besonnenheit und Redlichkeit zutrauet, entschieden erklärt, Lazarus sey todt, und wenn alle Anwesenden in seiner That eine wirkliche Todtenerweckung finden, […] so haben wir keinen hinreichenden historischen Grund, an der Wirklichkeit des Todes und der Erweckung vom wahren Tode zu zweifeln.«152
Lücke bemühte als Erklärung den Begriff des »relativen Wunders«, bei dem »Natürliches und Wunderbares« mehr oder weniger ineinander übergingen. Nur ein absolutes Wunder sei undenkbar, aber die Grenzen des »historischen Wunders« seien oft noch nicht bestimmt und könnten nicht bestimmt werden. Ein historisches Wunder müsse deshalb angenommen werden.153 Umgekehrt argumentierte der in Berlin lehrende August Neander (1789-1850), ein Schüler Gottlieb Plancks, mit der Scheintodhypothese, um an der Möglichkeit eines Wunders festzuhalten. Es sei nicht mehr zu klären, ob es sich um eine wirkliche Totenerweckung gehandelt habe oder nur »ein den Symptomen nach dem Tode ähnliches Zurückgetretenseyn der Lebenskraft«.154 Welche Todesart also vorgelegen habe,
151 Vgl. Günter Wenz: »Erweckte Theologie. Friedrich August Gottreu Tholuck (1799-1877)«, in: Graf: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1, S. 251-264. 152 Friedrich Lücke: Commentar über das Evangelium des Johannes, Zweyter Theil, Bonn: Weber 1834 (= Commentar über die Schriften des Evangelisten Johannes), S. 399. 153 Ebd., S. 472. 154 August Neander: Das Leben Jesu Christi in seinem geschichtlichen Zusammenhang und seiner geschichtlichen Entwicklung, Hamburg: Perthes 1837, S. 338. 84
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könne nicht mehr entschieden werden. Für den christlichen Glauben sei diese Frage nicht entscheidend. Es handelte sich bei der Geschichte des Lazarus jedenfalls um ein Wunder, »denn auch ein Zurückrufen der schlummernden Lebenskraft« geschehe nur »durch die unmittelbare Einwürkung« Christi.155 Allein diese Fähigkeit erhebe die Tat Jesu zu einem Wunder. Sein Versprechen, den Lazarus zu heilen, deute schon auf eine Wundertätigkeit hin: Kein seriöser Arzt hätte sich zu einer solch weitreichenden Prognose hinreißen lassen. Jesus wollte »öffentlich bezeugen, daß er die Kraft, mit der er dieses würke, Gott verdanke«.156
Die Auferstehung Jesu und die Auferstehung der Toten Galt schon die Auferweckung des Lazarus als Sinnbild der christlichen Auferstehungshoffnung und musste sie sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert einer grundsätzlichen Kritik unterziehen, stellte das Kriterium der historischen Faktizität ein noch viel wichtigeres Glaubensgeheimnis in Frage: die Auferstehung Jesu. Auch hier lautete die Frage, ob die Auferstehung Jesu dem Anspruch auf empirische Gültigkeit standhielt: Handelte es sich bei der Auferstehung um eine historische Tatsache? Heinrich Eberhard Gottlob Paulus erklärte ausdrücklich, dass Jesus nur scheintot gewesen sei.157 Ein Rest an Lebenskraft sei in Jesu Körper geblieben und die Düfte der Spezereien und Balsame hätten ihn wieder zum Leben erweckt. Paulus entwickelte aus dieser These eine theologische Wahrheit, die dem naturalistisch-rationalistischen Strang der Aufklärung nahestand. Die Osterberichte wurden bei ihm zu einem Wahrheitsbeweis für die Lehre Jesu, die den Menschen zu verbesserten sittlich-religiösen Vorstellungen führen sollten.158 Wenn man von einem Wunder sprechen wolle, sei es die herausragende Persönlichkeit Jesu. David Friedrich Strauß hingegen vermutete in seinem Werk Das Leben Jesu, dass die Auferstehung nur eine Wahrnehmungstäuschung der Jünger gewesen sei.159 Sie sei eine Projektion gewesen, in der sich alttestamentarische Vorstellungen der Propheten über den Messias ver-
155 Ebd. 156 Ebd., S. 356. 157 Heinrich Eberhard Gottlob Paulus: Exegetisches Handbuch über die ersten drei Evangelien, Heidelberg: Winter 1830, S. 785 ff. 158 Vgl. »Auferstehung«, in: TRE, Bd. 4, S. 535. 159 Vgl. Strauß: Das Leben Jesu, Bd. 2, S. 658. 85
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dichtet hätten.160 Strauß führte auf dieser Grundlage die Unterscheidung zwischen der historischen Person Jesus und dem mythischen, vom Glauben überlagerten Christus, ein. Sein zweibändiges Werk Das Leben Jesu von 1834/35 wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt der Leben-JesuForschung, die als Forschungsfeld im 18. Jahrhundert entstanden war. Sie machte es sich zur Aufgabe, anhand biblischer und außerbiblischer Quellen das Leben des historischen Jesus zu rekonstruieren. Insgesamt war die deutsche Aufklärung »christentumsfreundlicher«, indem sie – wie gesehen – die Kritik an der Auferstehung durch den Glauben an pantheistisch gewendete Formen der Unsterblichkeit entschärfte.161 Aber auch hier vertraten die katholische und die protestantische Theologie unterschiedliche Standpunkte. Während das katholische Kirchenlexikon von Wetzer und Welte 1882 darauf bestand, dass die Auferstehung »kein Naturprozess« sei, »sondern ihr Prinzip und ihre bewirkende Ursache die göttliche Allmacht«,162 verglich die Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 1854 das »Auferstehungsorgan« mit der »absterbenden Pflanze«.163 Bei ihr bleibe »nur ein Keim zurück, welcher dann, neuen Stoff an sich ziehend, unter dem Einfluß des Lichts zu einem neuen Pflanzenleibe sich gestaltete, der vermittelst des Keims derselbige ist und doch ein anderer«.164 Es handle sich um »Herstellung einer neuen, den Lebensgesetzen der Ewigkeit entsprechende Leiblichkeit«.165 Es gebe drei unterschiedliche Formen, sich dieses »Auferstehungsorgan« zu denken: als Identitätskern, durch den der spinozistische Gedanken transportiert wurde; als Ätherleib, der sich wie der Samen zur reifen Frucht entwickelte und dadurch den Entwicklungsgedanken verkörperte; oder aber, dass die Seele selbst das körperbildende, den Geist in Körperlichkeit umsetzende, Agens sei.166 Die Naturphilosophie schrieb sich in solchen Definitionen also fort. 160 August Neander bemühte die gleiche Erklärung wie Strauß für die Entstehung des Auferstehungsglaubens: Er schrieb sie einer Erscheinung der Jünger zu. Vgl. Neander: Das Leben Jesu Christi, S. 645. 161 »Auferstehung«, in: TRE, Bd. 4, S. 535; Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 30; vgl. »Auferstehung«, in: LThK, Bd. 1, Sp. 1182. 162 »Auferstehung des Fleisches«, in: Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften, Bd. 1, Sp. 1591-1602, Sp. 1597-1598. 163 »Auferstehung der Todten«, in: Real-Encyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 1, Sp. 595-599, Sp. 596. 164 Ebd. 165 Ebd. 166 Vgl. zu diesen im Bürgertum um 1800 salonfähigen Formen des Unsterblichkeitsglaubens die Studie von Diethard Sawicki: Leben mit den 86
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Die Vorstellung von Geschichte als einer steten Entwicklung mit zunehmender Perfektion des menschlichen Individuums, die auch über den Tod hinaus fortdauerte, ging in die Lehre der leiblichen Auferstehung auch an anderer Stelle ein. So wurde in der protestantischen Real-Encyklopädie postuliert, dass es eine Identität des Auferstehungskörpers mit einem ursprünglichen, dem ersten Menschen durch den Sündenfall abhandengekommenen Körper gebe. Auf der Skala einer steten Entwicklung holten die Menschen damit so etwas wie den Naturzustand wieder ein. Die protestantische Real-Encyklopädie argumentierte, dass die Seele im Tod nicht nackt sei, sondern umkleidet mit einem feinen Organ, mit einem ätherischen Leib (Nervenäther), welches schon im Diesseits ein Mittelglied zwischen Leib und Seele bilde. Dieser ätherische Leib sicherte die Kontinuität der Identität. Diese Vorstellung von Unsterblichkeit unterschied sich deutlich von der christlich-mittelalterlichen Konzeption. Denn diese hatte das göttliche Einwirken, das den toten Körper wieder zu einem lebendigen machte, benötigt und ging von einem Tod aus, in dem der Mensch Kontrolle über seine Existenz abgeben musste und erst durch Gottes Kraft auferstand. In der protestantischen Theologie wurde dieses Problem umgangen, indem die Unsterblichkeit der Seele im Sinne einer unendlichen Fortdauer der menschlichen Existenz erklärt wurde. Daran anschließend konnte sogar postuliert werden, dass die künftige Auferstehung die Vollendung des schon mit oder gar vor dem Tode begonnenen Prozess der Verklärung des Leibes sei. Die katholische Dogmatik um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verhielt sich demgegenüber viel eindeutiger und orthodoxer. Die katholische Lehre betrachtete es als historische Wahrheit, von Jesus vorausgesagt und durch die Evangelien verbürgt, dass Jesus Christus im wörtlichen Sinn von den Toten auferstanden sei und für die allgemeine Auferstehung der Toten bürge. Die katholische Glaubenslehre blieb von naturphilosophischen Ideen unberührt: »Wir lehren, Gott werde den Leichnam eines jeden Menschen wieder herstellen, und mit eben der Seele, die ihn zuvor bewohnet hat, wieder vereinigen, damit vor dem Richterstuhle Christi ein jeder die Vergeltung desjenigen empfange, was er in seinem eignen Leibe gethan hatte, sey es Gutes, oder Böses. […] Es wird also kein ganz neuer Menschenkörper erschaffen, sondern der neue Leib muß der Wesenheit nach der nemliche seyn mit dem vorigen.«167 Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900, Paderborn: Schöningh 2002, S. 44-45. 167 Mayr: Vertheidigung der natürlichen, und Einleitung in die geoffenbarte Religion, S. 60. 87
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Die Lehre der leiblichen Auferstehung wurde mit dem Hinweis begründet, dass es nicht genügend Materie in der Welt gebe, um komplett neue Körper zu schaffen. Zudem müsse der Auferstehungskörper nicht notwendigerweise die gleiche Masse haben wie der verstorbene Leib. Er müsse nur die gleichen Merkmale wie die Seele aufweisen, damit die Person wiederzuerkennen sei. Die katholische Dogmatik behielt ihre Position auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts bei. Sie bestand im Jahr 1882 darauf, dass es eine »Wiederherstellung des abgestorbenen Menschenleibes und dessen Wiedervereinigung mit der zu ihr gehörigen Seele durch Gottes Allmacht am jüngsten Tage gebe«.168
Täuschung und Verwandlung in der Literatur. Anfänge der Individualisierung des Todes In der Einleitung zu diesem Kapitel ist postuliert worden, dass es sich bei der Angst vor dem Scheintod um eine Form der Todesangst handle, die ein sich als »nur noch mit sich selbst identisch« verstehendes Individuum (Luhmann) haben könne. Gemeint war damit, dass die Umstellung vom »Jenseits ins Diesseits, von der Ewigkeit in die Geschichte« (Hölscher) an ein neuartiges Verständnis von Individuum gekoppelt war, bei dem der Mensch nicht mehr in der allgemeinen Heilsgeschichte aufging, sondern sich nach der Auflösung der alten Seelenvorstellungen als einzigartig und unverwechselbar konzipierte. Der Soziologe Alois Hahn hat, fußend auf diesem historischen Befund, den modernen Umgang mit Tod und Sterben als Individualisierung des Todes charakterisiert. Unter Individualisierung versteht der Autor, dass »das Individuum seine Individualität im Zuge der größeren sozialen Differenzierung als lebendige Wirklichkeit erfährt« und es als »zunehmend schwerer« empfindet, »sein eigenes Schicksal und das der Gruppe als fast identisch zu erleben«.169 Diese These erhält ihre Plausibilität vor dem historischen Hintergrund, dass der Einzug des Denkens in Kategorien moderner Geschichtlichkeit die Individualität einer Person nicht mehr in Kategorien der stratifikatorischen-sozialen Zuordnung aufgehen lässt. Der Mensch erfährt sich nur noch als psychische Einheit, die Individualität einer Person wird in ihren »inneren Kern« verlegt. Es ist die psychologische Be168 »Auferstehung des Fleisches«, in: Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften, Bd. 1, Sp. 1597-1598. 169 Hahn: »Tod, Sterben und der Glaube an ein Weiterleben in soziologischer Sicht«, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 29 (2000), S. 75-87, S. 76-77; vgl. auch Hahn: »Tod und Sterben in soziologischer Sicht«, S. 56 f. 88
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schaffenheit, die das Individuelle eines Menschen ausmacht. In der Folge empfindet er sich und sein Leben als zunehmend einzigartig und unvergleichlich. Dieser Konnex von Verdiesseitigung und Individualisierung wird im Folgenden auf drei ausgewählte Beispiele der Belletristik um 1800 angewendet. Zur Untersuchung kommen dabei das Märchen Schneewittchen der Brüder Grimm, Jean Pauls Roman Siebenkäs und die Novelle Florentinische Nächte von Heinrich Heine. Die Erzählstrategien und Pointen dieser Scheintodgeschichten verweisen auf einen modernen Umgang mit Tod und Sterben. In der Bedeutungszumessung des Todes kristallisierte sich in der Zeit nämlich ein neuer Parameter heraus: der sich als Individuum verstehende Mensch und seine Subjektivität. Der Verlust, der seitdem durch den Tod entstand, war weder ersetzbar noch rückgängig zu machen. Die Empfindung von Schmerz und Trauer im Angesicht der Trennung ergab sich aus dem Maß der Empfindung, das der Einzelne für den anderen besaß und durch die Gewissheit, dass die miteinander verbrachte Zeit nicht wiedereinholbar oder zurückzuholen ist. Die kulturhistorische Situation der Verdiesseitigung und Verzeitlichung hat also eine ganz eigene Problematik in Bezug auf den Tod hervorgebracht. In der Gesellschaft um 1800, die mit einer hohen Sterblichkeitsrate zu kämpfen hatte und in der Seuchen wie Typhus, Tuberkulose und die Pocken in allen Bevölkerungsschichten grassierten,170 konnten die Menschen noch keine Erwartungshaltung entwickeln, den Ehepartner erst am Lebensende zu verlieren oder Söhne und Töchter ins Erwachsenenalter aufwachsen zu sehen. Dieser Aspekt von Individualisierung, die Erfahrung, den Lebenspartner oder die Familie erst spät in der Biographie zu verlieren, traf auf die Gesellschaft um 1800 sicher nicht zu. Trotzdem können andere Individualisierungsphänomene in einem kleinen Kreis, der für die Literatur, Musik und Kunst tonangebend war und damit den Ausdruck einer Epoche geprägt hat, dem Bürgertum in der Romantik, beobachtet werden. Richard van Dülmen hat anhand der Brief- und Salonkultur herausgearbeitet, wie durch diese gesellschaftliche Praxis und Lebensführung eine Individualisierung zum Vorschein kam, die um die eigene Subjektivität und persönliche Befindlichkeit zentriert war und als Loslösung von konventionellen Zwängen und Traditionen verstanden
170 Vgl. Arthur E. Imhof: Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit dreihundert Jahren, oder von der Notwendigkeit einer neuen Einstellung zu Tod und Sterben. Ein historischer Essay, München: C. H. Beck 1981; Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866, Bürgerwelt und starker Staat, München: C. H. Beck 1983, S. 141. 89
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werden kann.171 Um 1800 wurde die Furcht vor einem kompletten Selbstverlust noch durch pantheistisch gewendete Formen der Unsterblichkeit aufgefangen, die hier ausgewählten Scheintodgeschichten machen jedoch bereits deutlich, dass es das moderne Individuum war, das sich zwischen Leben und Tod bewegte, mit Leben und Tod spielte und sich zum Gradmesser des Umgangs mit dem Tod aufschwang. Als ein erstes Beispiel für die Umsetzung dieser individuumszentrierten gesellschaftlichen Praxis sei die Bearbeitung der Kinder- und Hausmärchen durch die Brüder Grimm genannt. In ihrer Sammlung trat der Scheintod als Motiv in gleich zwei bekannten Märchen auf: in Schneewittchen und in Dornröschen. Im Mittelpunkt dieser Märchen steht das handlungsmächtige Individuum, welches durch die Erzählform des romantischen Volksmärchens gestärkt wird. Denn die Erzählstrategie läuft darauf hinaus – typisch für die romantischen Volksmärchen – dass der kühne, heldenhafte Prinz den Tod überwindet, das Mädchen rettet und selbst zum Happy End führt. Einer der beiden Herausgeber der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn, Clemens Brentano (1778-1842), regte die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm 1806 an, mündliche Überlieferungen der Märchen schriftlich zu fixieren. Die Texte waren als Fortsetzung der von ihm und Achim von Arnim herausgegebenen Volksliedersammlung geplant.172 Die wissenschaftliche Tätigkeit, die in enger Zusammenarbeit der Hausund Arbeitsgemeinschaft der beiden Brüder vollzogen wurde, bestand zunächst in der Sammlung der Überlieferungen. Den wissenschaftlichen Anspruch erfüllten sie durch die Anwendung der historischen Methode. Sie führte, wie an der Erzählung des Lazarus vorgeführt wurde, schon die (protestantische) Theologie der Jahrhundertwende zu neuen Erkenntnissen. Mithilfe Quellenstudiums und detaillierter Forschung entstand auch hier ein neues Produkt, im Fall der Brüder Grimm ein umfassender Korpus dessen, was Volksliteratur genannt werden sollte. Die Geschichten wurden von den Grimms gesammelt, weil sie das Mythologische, das Nicht- oder Vorindividuelle darstellten und so – in historischen Kategorien gedacht – zu so etwas wie dem »Ursprung« von Kultur führten. Die Idee, mit der Sammlung sogenannter Volkskultur zu den Anfängen der eigenen Kultur vorzudringen, verwies gleichzeitig auf die anthropologischen Kategorien, in denen die Grimms dachten und die 171 Vgl. Richard van Dülmen: »Freundschaftskult und Kultivierung der Individualität«, in: ders. (Hg.): Die Erfindung des Menschen, Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, Köln/Weimar: Böhlau 2001, S. 267-286. 172 Vgl. Heinz Rölleke: Grimms Märchen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 (= Suhrkamp Basis Bibliothek 6), S. 91. 90
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unbedingt modern waren. Die typisierten Figuren – der kühne Held, das unschuldige Mädchen, die böse Königin – konnten von den Brüdern Grimm so interpretiert werden, dass sie in ihre Version von Moderne passten. Dieser scheinbar paradoxe Ansatz (vormoderne Typen und moderne Einzigartigkeit der Figuren in der Märchenerzählung) stellte damit auf einen Universalismus und eine Standortgebundenheit ab, die dem Denken in historischen Kategorien eigen ist. Denn wenn Ursprung und Gegenwart durch den Lauf der Geschichte verbunden waren, stellten vormoderne Typen und moderne Individuen nur unterschiedliche Punkte auf einer Entwicklungslinie dar. Der Scheintod in dem Märchen Schneewittchen, das hier näher betrachtet wird, war ein Resultat menschlicher Niedertracht. Die böse Stiefmutter wollte Schneewittchen umbringen. Dabei ging es in der Grimm’schen Version des Märchens eben nicht, wie in ihren Vorlagen, um einen Mutter-Tochter-Konflikt, der von dem Vater gelöst oder bei dem Schneewittchen nur zufällig gerettet wurde,173 sondern um den kühnen Prinzen, der seine Geliebte befreite und dadurch den sicher scheinenden Tod überwandt. Das Schneewittchen der Kinder- und Hausmärchensammlung von 1812 war dreimal scheintot. Zuerst fiel es in Ohnmacht, als die Stiefmutter, verkleidet als alte Krämerin, ihr einen Schnürriemen verkaufte und das Schneewittchen damit erdrosselte. Ein zweites Mal wurde es mit einem Kamm vergiftet, als die Stiefmutter, wiederum als alte Frau verkleidet, ihr die Haare mit dem vergifteten Kamm bürstete. Beim dritten Versuch schien die auf Schneewittchens Schönheit neidische Stiefmutter ihren böswilligen Plan endlich erfolgreich auszuführen. Als Bauersfrau verkleidet, gab sie dem Schneewittchen einen vergifteten Apfel zu essen, der ihm in der Kehle stecken blieb. Aus den ersten beiden Scheintoden wurde Schneewittchen von den sieben Zwergen gerettet. Gegen den vergifteten Apfel waren jedoch auch sie machtlos. Erst der Prinz, der sich im Wald verirrt hatte und bei den Zwergen übernachten wollte, fand das aufgebahrte Schneewittchen. Es lag in einem gläsernen Sarg, den die Zwerge nicht ins Grab hinab lassen wollten, weil Schneewittchen »noch so frisch« aussah, »wie ein lebender Mensch«.174 Überwältigt von Schneewittchens Schönheit, bat der Prinz die Zwerge, den Sarg mitnehmen zu dürfen. Auf dem Weg zurück 173 Vgl. Johannes Bolte/Georg Polívka (Hg.): Anmerkungen zu den Kinderund Hausmärchen der Brüder Grimm, Bd. 1, Leipzig: Dieterich 1913 [ND Hildesheim: Olms 1982], S. 450-455. 174 »Schneewittchen«, in: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837), hg. v. Heinz Rölleke, Frankfurt am Main: Dt. KlassikerVerlag 1985, S. 235-244, S. 242. 91
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ins Schloss fuhr die Kutsche des Prinzen über eine Wurzel, die Achse tat einen Schlag und der Apfel löste sich. Schneewittchen wurde wieder lebendig, und der Prinz und die Königstochter heirateten. Die Stiefmutter wurde ihrer gerechten Strafe zugeführt und musste sich auf der Hochzeit in glühend heißen Schuhen zu Tode tanzen. Während das zweite Beispiel dieses Abschnitts, Jean Pauls Roman Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel, 1796 erschien und an der Grenze von Aufklärung und Romantik angesiedelt war, fiel Heinrich Heines Novellenfragment Florentische Nächte von 1836, das dritte, hier untersuchte Werk, in die Spätphase der Romantik. Der Scheintod erhielt in diesen Prosastücken seine Bedeutung im Lebensvollzug des jeweiligen Protagonisten und besaß eine spezifische Funktion für die Sinnstiftung der Biographie der Hauptperson. Welche Bedeutung er erhielt, war unterschiedlich. Bei Jean Paul war die Inszenierung des Scheintodes eine Befreiung, die die Hauptfigur zu ihrem wahren Ich führte. Bei Heinrich Heine diente der Scheintod als Steigerungsmoment unerfüllter romantischer Liebe und der dramatischen Selbstthematisierung. Der Anwalt und Schriftsteller Firmian Stanislaus Siebenkäs inszenierte seinen Tod mithilfe eines Scheintodes, um seiner Ehe zu entfliehen. Für ihn war dieses drastische Mittel ein Kunstgriff, um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Er entkam dadurch äußeren Zwängen und setzte seine Vorstellungen eines sinnvollen Lebens durch. Der schriftstellerische Ambitionen pflegende Anwalt Siebenkäs stand in diesem Roman seiner kleinbürgerlichen, sich in Alltagsdingen verlierenden Frau Lenette gegenüber. Siebenkäs wollte seiner Berufung, der Literatur, nachgehen, während seine Frau sich nur mit profanen Dingen des Alltags, Putzen und Kochen, beschäftigte. Als Armenanwalt ging Siebenkäs einem Brotberuf nach, weil ihn die Schriftstellerei nicht ernährte. Die Unvereinbarkeit der Lebenseinstellungen beider überstieg das Maß der Erträglichkeit, als die Eheleute in eine wirtschaftliche Notlage gerieten, die Siebenkäs durch einen bösen Scherz herbeigeführt hatte. Er hatte mit seinem ihm zum Verwechseln ähnlich sehenden Freund Heinrich Leibgeber den Namen getauscht, was sein Vormund herausfand und zum Anlass nahm, Siebenkäs die Erbschaft zu entziehen. Um sich dieser Zwangslage zu entziehen, überredete Leibgeber Siebenkäs, seinen Tod vorzutäuschen. Siebenkäs gab vor, einen Schlaganfall erlitten zu haben, der ihn scheintot machte.175 Für alle scheinbar
175 Jean Paul: Werke in drei Bänden, hg. v. Norbert Miller, Nachwort von Walter Höllerer, Bd. 1, München: Hanser 41986, S. 817 ff. 92
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offensichtlich, erlag er diesem Schlaganfall. Siebenkäs wurde für tot erklärt und beerdigt. Durch die Inszenierung seines Todes gelang es ihm, noch auf dem Sterbebett seine ungeliebte Frau Lenette dazu zu bringen, sich dem Schulrat Stiefel zuzuwenden und diesen zu heiraten. Siebenkäs gelang es damit, aus seiner Ehe auszubrechen. Dann ging er an Leibgebers Stelle zum Grafen Vaduz und arbeitete fortan als Inspektor. Mit diesem Schritt änderte er seine Identität und entfloh dem Leben als Armenadvokat. Leibgeber wiederum wanderte hinaus in die Welt und war frei. Der Roman endet schließlich damit, dass Siebenkäs und Natalie, seine eigentliche große Liebe, am Grab Lenettes, die später im Kindbett verstorben ist, zueinanderfinden. Der Literaturwissenschaftler Peter Horst Neumann hat argumentiert, dass Jean Paul sich auch mit dem Scheintod beschäftigt habe, um eine persönliche Sinnstiftung des Todes zu finden. Denn das Werk des Autors insgesamt sei von Darstellungen menschlichen Sterbens durchzogen. So ging dem Roman Siebenkäs die Erzählung Meine lebendige Begrabung aus dem Jahr 1790 voraus. Jean Pauls Werk könne damit als Versuch gelesen werden, die neu aufgeworfene Frage nach dem Sinn des Lebens mit der Überwindung des Todes beantwortet zu haben. Paul sei zu der Erkenntnis gekommen, dass der Tod »das Ende jeder Erfahrung und selbst keine sei« und deshalb nur in »Sinnbildern vorgestellt werden« könne.176 Jean Pauls persönliche Form der Sinnstiftung sei der Glaube an die Unsterblichkeit gewesen, die aber nur ästhetisch gedacht und als Überlistung oder Täuschung dargestellt werden könne. Damit habe Paul eine genuin moderne Form des Umgangs mit dem Tod gefunden. Jean Paul war mit den pantheistischen Gedanken der geistigen Elite um 1800 wohl vertraut. 1796 besuchte er Weimar zum ersten Mal und siedelte zwei Jahre später dorthin über. Goethe und Schiller hatten seine Werke wahrgenommen, Wieland, Herder und Gleim äußerten sich ganz begeistert über den Schriftsteller. 1800 zog Paul nach Berlin und befreundete sich dort mit Schleiermacher, Fichte und Schlegel.177 Heinrich Heine (1797-1856), Autor von Florentinische Nächte, war sogar erklärter Pantheist.178 Er sah im Pantheismus die Überwindung des Dualismus von Leib und Seele und des christlichen Gegensatzes von Satan und Jesus. Er glaubte, im Sinne der Identitätsphilosophie, an die 176 Peter Horst Neumann: »Vorgriffe auf die Unsterblichkeit. Über das Scheintod-Motiv bei Jean Paul«, in: Aurora 50 (1990), S. 207-212, S. 208. 177 Vgl. Bell: Spinoza in Germany, S. 142. 178 Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, hg. v. Manfred Windfuhr, Hamburg: Hoffmann und Campe 1979 [zuerst 1834] (= Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke 8/1), S. 16-17 und S. 60. 93
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Einheit zwischen Gott und Natur, die auch den rationalistischen Dualismus überwinden könne. Heine verwendete in seinem Novellenfragment der Jahre 1825-1831 ein Scheintodmotiv, die »Geburt im Grab«.179 Mit diesem Motiv stellte er die Todessehnsucht des Protagonisten Maximilian, welche ihn zu einer innerlich zerrissenen Person machte, als persönlichkeitsformende und -bestimmende Eigenschaft heraus. In der Novelle schilderte Heine mehrere Grenzgänge des Ich-Erzählers Maximilian zwischen Leben und Tod, die auch als Grenzgänge zwischen Traum und Wirklichkeit gelesen werden können. Der Protagonist erzählt Erlebnisse aus seinem Leben, die als Rahmenhandlung der Unterhaltung einer anderen Person dienen: Maximilian unterhielt die sterbenskranke Maria mit diesen Episoden. Es wird aber schnell deutlich, dass Maximilian selbst großes Interesse daran hatte, diese Erlebnisse zu erzählen. Es ist dem Protagonisten ein inneres Bedürfnis, sich selbst zu thematisieren. Seine Individualität, seine Person macht es aus, dass er sich zu einer Frau hingezogen fühlt und sich in ihr spiegelt, die sich als ein im Grab geborenes Kind entpuppt – ein sogenanntes »Totenkind«.180 Die gefühlte Nähe zu der im Grab geborenen Frau verrät seine Anziehung zum Tod. Der Protagonist Maximilian fühlt sich zerrissen, er changiert zwischen einem Bedürfnis nach Liebe und dem Gefühl, dass dieses nie erfüllt werden kann. Das Scheintodmotiv dramatisiert die Tragik dieser unerfüllbaren romantischen Liebe. Es weist Maximilians Gefühlsleben als zwiegespalten aus, als Verbundenheit mit der vormals lebendig begrabenen Geliebten und als Unmöglichkeit, ganz »bürgerlich« mit ihr zu leben. Maximilian beginnt seine Erzählung mit einem Grenzgang zwischen Traum und Wirklichkeit oder Tod und Leben, bei dem ihn als zwölfjähriger Junge weibliche Marmorstatuen in einem italienischen Garten faszinierten. Diese Marmorstatuen behandelte Maximilian wie lebende Frauen, er küsste sie und machte so seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Scheinlebendigen. Diese Uneindeutigkeit zwischen Leben und Tod ließ den jungen Mann auch später nicht mehr los und setzte sich fort in einer ambivalenten Gefühlshaltung gegenüber Liebesbeziehungen. Der zweite Grenzgang, den Maximilian schildert, enthält dann bereits alle Elemente der romantisch-tragischen Liebe. Sie handelt von zwei Seelenverwandten, Maximilian und Mademoiselle Laurence, die einander begegneten, sich aber wieder verlieren mussten. Die beiden Liebenden tra179 Vgl. zum Thema »Motiv« ausführlicher das zweite Kapitel der Arbeit. 180 Heinrich Heine: »Florentinische Nächte«, in: ders.: Denn das Meer ist meine Seele. Reisebilder, Prosa und Dramen. Mit Anmerkungen von Bernd Kortländer, Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2003, S. 607660, S. 656. 94
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fen sich zum ersten Mal, als Maximilian eine Tänzerin in einer Gruppe fahrender Künstler sah, die ihn magisch anzog. Sie hieß Mademoiselle Laurence: »Sie tanzte wie die Natur den Menschen zu tanzen gebietet: ihr ganzes Wesen war im Einklang mit ihren Pas, nicht bloß die Füße, sondern ihr ganzer Leib tanzte, ihr Gesicht tanzte […] sie wurde manchmal blaß, fast totenblaß, ihre Augen öffneten sich gespenstisch weit, um ihre Lippen zuckten Begier und Schmerz.«181 Die beiden verloren sich jedoch aus den Augen und trafen sich erst Jahre später auf einer Feier in Paris wieder. Mademoiselle Laurence befand sich in Begleitung ihres Ehemanns, einem napoleonischen Feldherrn. Die Gruppe der fahrenden Künstler hatte sich inzwischen aufgelöst, alle Mitglieder waren verstorben. Durch einen weiteren Zufall traf Maximilian Mademoiselle Laurence in der Oper ein zweites Mal, sie sprach ihn an und nahm ihn mit zu sich nach Hause. Ihnen waren einige Wochen Gemeinsamkeit vergönnt, als Laurences Ehemann sich außer Haus befand. Als der Ehemann jedoch nach Paris zurückkehrte, reisten dieser und Laurence nach Sizilien ab, Maximilian blieb zurück und sah seine Geliebte nie wieder. Wie sich in der gemeinsam verbrachten Zeit herausstellte, trug Maximilians Geliebte ein furchtbares Geheimnis in sich. Sie war die Tochter eines Grafen, der seine hochschwangere Frau misshandelte und sie daraufhin starb. Die Gräfin war jedoch nur scheintot. Sie gebar im Grab ihr Kind Laurence, das »Totenkind«. Grabräuber fanden das Baby, nahmen es mit und übergaben es einer Gruppe fahrender Künstler. Diese zogen das Kind auf und machten es zu ihrer Tänzerin.
Scheintod und die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung. Zusammenfassung Innerhalb welcher Bezüge entstand um 1800 der Neologismus »Scheintod«? Mithilfe dieser Frage wurde eine geistesgeschichtliche Verortung vorgenommen, die auf aktuelle philosophische Fragen der Zeit verwies: »Schein« hieß Täuschung und meinte Fallstricke für die von Kant postulierte subjektabhängige Wahrnehmung der objektiven Erscheinungen. »Tod« meinte Verwandlung und verwies auf pantheistische Unsterblichkeitsvorstellungen, für deren Konzeption die Philosophie um 1800 sich Spinoza angeeignet und eigengedeutet hatte. Auf diesen Zusammen181 Heine: »Florentinische Nächte«, S. 639. 95
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hang, die Verbindung zwischen (Natur)Philosophie und Medizin, ist in Bezug auf den Scheintod bisher noch nicht geachtet worden. Die geistesgeschichtliche Grundlegung ist für eine historische Arbeit von Interesse, weil sie die soziale Wirkung von Ideen zeigt. Die Bedeutung des »Schein-Todes« liegt in seinem Zusammenhang mit der Philosophie um 1800, die zugleich Lebensphilosophie war. Sie wollte philosophischen Kategorien wie »Wahrheit« erleben und fühlen, nicht rational herleiten und denken. Die Auseinandersetzung mit dem niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza wurde für diese Lebensphilosophie bestimmend, indem Philosophie und Leben, Dichten und Denken gleichgesetzt und als eine alles umfassende Einheit gedacht wurden. In dieser Bedeutung des Scheintoddiskurses liegt zugleich seine Beschränkung. Er wurde gewissermaßen »nur« innerhalb der gesellschaftlichen Eliten geführt, aber weil diese tonangebend waren, spiegelte auch der Scheintod ein allgemeines gesellschaftliches Anliegen. Der Scheintod geriet in den Fokus der Öffentlichkeit, weil die Spätaufklärer und Frühromantiker ein größeres Interesse an Übergangs- und Schwellenzuständen besaßen als an diskreten Entitäten und Polen. Mit dem »Scheintod« wurde der Verhandlung von Subjektivität und pantheistischen Ideen – als zwei zentralen philosophischen und erkenntnistheoretischen Themen der Zeit – ein Begriff zur Verfügung gestellt, mit dem diese beiden Problemlagen zusammengebracht und gedeutet werden konnten. Dabei gab es kein Kausalverhältnis zwischen dem Scheintod und der Philosophie um 1800, wohl aber Wahlverwandtschaften: Den Ärzten wurde die Kontrolle des Schwellenzustandes übertragen. Sie waren dafür verantwortlich, Scheintote in Leichenhäusern zu überwachen und den Eintritt der Verwesung festzustellen. Sie hingen dem Konzept eines Scheintodes an, weil sie die wissenschaftlichen Veränderungen ernst nahmen. Das anatomische und physiologische Wissen arbeitete an der Auflösung der alten Seelenvorstellungen und machte die Annahme einer »»Lebenskraft«, die empirisch schwierig zu bestimmen war, plausibel. Dieses Wissen reichte aus, um ein gesellschaftliches Problempotenzial zu erkennen und der Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden Bedeutung zuzumessen. Die (protestantischen) Theologen um 1800 diskutierten mithilfe des Scheintodes Formen der Sinnstiftung des Todes nach der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung. Sie vertraten pantheistische Ideen, um Fragen nach der Faktizität der Auferstehung Jesu und der Erweckung des Lazarus plausibel zu beantworten. Denn glaubte man an eine Einheit von Gott und Natur und hatte eine monistische Weltsicht, hätten Jesus oder Lazarus auch nur scheintot gewesen sein können. Der Scheintod diente hier als Argument, den Wunderglauben zu rationalisieren. Der 96
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christliche Glaube wurde dadurch nicht aufgegeben. Der Pantheismus bestimmte für den Zeitraum um 1800 den gesellschaftlichen Diskurs. Er kann als eine Variation in der Geschichte der Aufklärung betrachtet werden, durch die die These von der Vielfältigkeit der Aufklärungen (Reill) unterstützt wird. Die Literaten griffen »Täuschung« und »Verwandlung«, die beiden Bestandteile des Wortes »Schein-Tod«, auf ihre Art auf. Ein Scheintod wurde vom handelnden Subjekt intentional eingesetzt, um Lebensziele durchzusetzen. Dadurch wurde die Umwelt getäuscht. Der Einsatz eines Scheintodes diente auch als literarische Strategie des Autors, um die Heldenhaftigkeit und Handlungsmacht des Protagonisten deutlicher darzustellen. Bei Heinrich Heine hatte er eine Funktion innerhalb eines pantheistisch verstandenen Weltbildes. Wenn Gott und Natur eine Wirklichkeit darstellten und keine Unterscheidung zwischen einer inneren und einer äußeren Welt getroffen werden mussten, waren auch Leben und Tod, Traum und Wirklichkeit nicht zu trennen. Der Rückgriff auf ein Scheintodmotiv konnte dann zur Steigerung der eigenen Individualität dienen. Es konnte den Zustand betonen, in dem sich das Individuum vor der Einheit mit Gott und der Natur befand: in der eigenen Zerrissenheit und dem Zweifel an der Welt.
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SCHEINTOD IN DEN MEDIEN DER AUFKLÄRUNG. VERBREITUNG, ADRESSIERUNG, REAKTIONEN
Die neue Anthropologie der Aufklärung und die damit verbundenen Folgen für das Verständnis von Leben und Tod mussten auf passende Sozialstrukturen – Medien, Politik und Recht – treffen, um in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Als Debatte um die »Unsicherheit der Todeszeichen«, angestoßen durch ein gleichnamiges Buch, wurde sie in Frankreich in den 1740er Jahren initiiert und gelangte über diesen Weg in den deutschsprachigen Raum. Die Diskussion um den Scheintod beschränkte sich nicht nur auf Deutschland und Frankreich, sie stieß in den verschiedenen europäischen Ländern auf einen geeigneten Nährboden und wurde dort popularisiert. Dies zeigt, dass das Netzwerk der frühzeitlichen Gelehrten einen Wissensstand geschaffen hatte, auf den sich international bezogen werden konnte. Dieses Kapitel widmet sich der Veröffentlichung der neuen Anthropologie und ihren Folgen. Zur Veröffentlichung kam ein Elitendiskurs, der, ausgehend von der Medizin, das Zeitschriftenpublikum der Aufklärung und die staatlichen Funktionsträger erreichte. An dieser Stelle nahm die Scheintoddebatte im ihren Anfang. Diese Form der Veröffentlichung, die zuerst in Frankreich das Problem der »unsicheren Todeszeichen« einem breiteren Publikum zugänglich gemacht hatte, wurde in den deutschen Landen übernommen und die frühneuzeitlichen Staaten reagierten. Seit den 1760er Jahren schufen sie Gesetze und förderten Einrichtungen, mit denen die Grenze zwischen Leben und Tod unter besondere Beobachtung gestellt wurde. Diese Gesetzesnovellen können als Indikator für die Aufgeklärtheit des absolutistischen Staates gewertet werden. Denn gerettet werden sollte »von nun an ein jeder, ohne Ausnahme des Standes, […] 99
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ohne den mindesten Vorzug«.1 Es schrieben vornehmlich Mediziner, aber auch die aufgeklärt-absolutistischen Herrscher veröffentlichten in diesen Organen Gesetzestexte zur Lebensrettung oder Wiederbelebung. Seit den 1790er Jahren war auch das Wort »Scheintod« in den moralischen Wochenblättern und Zeitschriften der Aufklärung nachweisbar. In den Jahren zuvor, in den 1770er und 1780er Jahren, war dieser Diskurs noch mit den Formulierungen »lebendig begraben«, »zu frühes Begraben« oder »Ungewissheit des Todes« geführt worden.
Geschichten über das Lebendigbegrabenwerden in einem neuen Frame Der Diskurs über die »unsicheren Kennzeichen des Todes« im deutschen Sprachraum Die Gefahr eines Lebendigbegrabenwerdens erhielt ihre Dynamik durch die wechselseitige Bezugnahme von Autoren und Artikeln in den moralischen Wochenschriften. Ein Großteil der Quellen über das Lebendigbegrabenwerden wurde in der Presse des 18. Jahrhunderts veröffentlicht und wurde nicht nur von diesen Zeitschriften lanciert, sondern der Eindruck der Intensität hing auch mit der Dynamik, die sich durch die Vielzahl der Beiträge entwickelte, zusammen. Ausgehend von diesem Befund soll die Furcht vor dem Lebendigbegrabenwerden als spezifische Form der frühneuzeitlichen Gelehrtenkommunikation mit ihrem Publikum analysiert werden. Ein konkretes Angebot zum Umgang mit der Frage, wie zu bestimmen sei, ob sich noch Leben im Körper befinde oder nicht, hatte der nach Paris emigrierte dänische Anatom Jacques-Bénigne Winslow im Jahr 1740 gemacht. Er legte der medizinischen Fakultät in Paris eine Arbeit vor, die sich mit der Frage beschäftigte, ob die chirurgischen Mittel, das heißt die Mittel, mit denen der Körper zerschnitten oder geöffnet wurde, zuverlässiger seien als andere Methoden der Todesfeststellung.2 Winslow war einer der führenden Anatomen des 18. Jahr-
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»Edict wegen schleuniger Rettung der durch plötzliche Zufälle leblos gewordenen, im Wasser oder sonst verunglückten Personen, Berlin, den 15ten November 1775« [Edikt Friedrichs II. von Preußen], abgedruckt in: Hannoverisches Magazin 17 (1779), Sp. 1175-1182, Sp. 1176. Vgl. Milanesi: Mort Apparente, Mort Imparfaite, S. 13 f. Der Titel des Buches von Jacques-Bénigne Winslow lautet: Dissertatio an mortis incertae signa minus incerta a chirurgicis, quam ab aliis experimentis, Paris: kein Verlag 1740.
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hunderts und zählte unter anderem den Schweizer Arzt und Naturforscher Albrecht von Haller zu seinen Schülern.3 Zu den chirurgischen Mitteln zählten Nägel unter die Zehen zu stechen, glühende Eisen auf die Haut zu setzen und den Brustkorb zu öffnen, während der Einsatz medizinischer Mittel hieß, dass sich eine Feder bewegte, wenn sie vor den Mund gehalten wurde. In Winslows Arbeit tauchte zum ersten Mal die Forderung auf, dass man die Verwesung des Körpers abwarten müsse, um ein völlig sicheres Zeichen des Todes zu erhalten. Zwar stelle das Aufschneiden des Brustkorbs und das Zerschneiden der Organe eine sicherere Methode dar als die traditionellen Zeichen, jedoch, so seine Sorge, »auch diese jezuweilen sind unzureichend befunden worden«4 Winslow kam zu dem Schluss, dass die Todeszeichen im Zweifelsfall uneindeutig waren, und wollte dies als medizinisches und praktisches Problem von seinen Kollegen anerkannt wissen. Seine Sicht ergab sich als Konsequenz aus dem neuen Verständnis von Körper und Seele. Weil die »drei Grade« des Todes nicht zwangsläufig aufeinanderfolgen mussten und durcheinandergeraten konnten, so seine Forderung, musste »an also […] einen verstorbenen Menschen als eine Person betrachten, die noch einen Theil ihres ganzen Lebens übrig behalten hat, so lange bis sie Zeit und Verwesung gänzlich vernichten«.5 Der französische Arzt und Übersetzer medizinischer Werke, JeanJacques Bruhier, übersetzte Winslows Thèse und veröffentlichte sie 1742 unter dem Titel Dissertation sur l’Incertitude des Signes de la Mort et l’Abus des Enterremens & Embaumemens Précipités.6 Das Buch umfasste 438 Seiten: die Thèse, ergänzt um eine Sammlung von Personen, die nach Bruhiers Darstellung lebendig begraben worden waren. In diesem Buch stellte Bruhier in großer Anzahl Fälle vor, bei denen sich während des Aufbahrens gezeigt hatte, dass sie noch gar nicht tot gewesen oder die nach der Beerdigung im Grab erwacht waren. Ausgehend von diesem Befund propagierte Bruhier in Anschluss an 3
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Vgl. den Eintrag zu Winslow in August Hirsch (Hg.): Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker, Bd. 5, München/Berlin: Urban & Schwarzenberg 31962, S. 961-962. »Dissertation sur […] von Jean-Jacques Bruhier am 19. September« [Besprechung], in: Neue Zeitungen von den gelehrten Sachen [Leipzig] 75 (1743), S. 667-668. »Gedanken von den Graden der Sterblichkeit und des Todes«, in: Nützliche Sammlungen 1 (1755), S. 1201-1222, S. 1217. Vgl. Jean-Jacques Bruhier d’Ablaincourt: Dissertation sur l’Incertitude des Signes de la Mort, et l’Abus des Enterremens et Embaumemens Précipités, par Mr. Winslow, traduite et commentée par J. J. Bruhier, 2 Bde., Paris: Chez De Bure 1746 und 1749. 101
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Winslow, dass der Eintritt des Todes durch die gebräuchlichen Kriterien nie völlig verlässlich zu bestimmen sei und diese für eine eindeutige Feststellung des Todes immer ein Restrisiko beinhalteten.7 Drei Jahre später entwarf er eine »Vorstellung der Notwendigkeit einer allgemeinen die Beerdigungen und Einbalsamierungen betreffende Verordnung«.8 1745 erschien ein zweiter Band der Dissertation, in der er auf die Kritiker seines ersten Bandes antwortete. Der zweite Teil war 540 Seiten stark und beinhaltete weitere Fälle, die lebendig dem Grab überantwortet worden waren und die ihm in der Zwischenzeit von Angehörigen der Akademie, Ärzten und verschiedenen Korrespondenten zugetragen worden waren. Sein Anliegen war ein pragmatisches. Bruhier ließ die beiden Bücher an verschiedene staatliche Stellen verteilen – den Kanzler, den Staatsminister, die Präsidenten der hohen Gerichte und die Minister des Königs an den auswärtigen Höfen – und warb dafür, die Beerdigungsfristen so zu verlängern, dass in zweifelhaften Fällen auf das einzig sichere Zeichen des Todes, die Verwesung, gewartet würde. Bruhier wollte, dass man Verstorbene bis zum Einsetzen der Verwesung aufbahrte und dies popularisieren und flächendeckend umgesetzt wissen. Damit verließ die Problematik der unsicheren Todeszeichen die wissenschaftlichen Institutionen und wurde einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Seine zwei Bände wurden an die wissenschaftlichen Akademien und Fakultäten in Frankreich und an verschiedene Institute im Ausland gesendet.9 In der Diskussion, von der die Zeitgenossen selbst als ihre »Lieblingsmaterie« sprachen, kann die Veröffentlichung des Buchs von Bruhier im Jahre 1742 als Ausgangspunkt gelten.10 Das Buch über die Unsicherheit der Todeszeichen löste eine Debatte in Frankreich aus, die in verschiedene westeuropäische Länder übersetzt wurde und in der Bruhiers Buch medialer Bezugspunkt war. Mit der nun folgenden Rezeptionsgeschichte dieses Buches wird das Ziel verfolgt zu zeigen, wie ein Medium, die Presse der Aufklärung nämlich, als spezifische Plattform genutzt wurde, um den von der frühneuzeitlichen Wissenschaft neu auf7
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Vgl. »Dissertation sur l’Incertitude […]« [Rezension], in: Journal des Sçavants 131 (1743), S. 376-390, S. 380. Die Formulierung lautet: »[L]a mort ne se manifeste pas par des signes certains«. Angegeben in der Vorrede der deutschen Übersetzung von 1754: JeanJacques Bruhier d’Ablaincourt: Abhandlung von der Ungewißheit der Kennzeichen des Todes und dem Misbrauche, der mit übereilten Beerdigungen und Balsamirungen vorgeht, übersetzt von J.G. Jancke, Leipzig/Kopenhagen: Roth 1754, o. S. Vgl. Milanesi: Mort Apparente, Mort imparfaite, S. 27. Bosse: »Auch noch etwas über das Pochen in Gräbern«, S. 894.
SCHEINTOD IN DEN MEDIEN DER AUFKLÄRUNG
geworfenen Zusammenhang zwischen Körper und Seele öffentlich zu machen. Bruhiers Veröffentlichung erschien 1742 in Paris und wurde in der gelehrten Öffentlichkeit bald rezipiert. Ein Jahr später erschien eine Rezension im Journal des Sçavans, der wissenschaftlichen Zeitschrift der Académie Royale des Sciences in Paris.11 Ein zweiter Band der Dissertation von 540 Seiten folgte 1745 und wurde in der gleichen Zeitschrift besprochen.12 Bruhiers Buch über die Ungewissheit der Todeszeichen entstand und verbreitete sich zunächst im Kontext der seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in London, Paris, Berlin und St. Petersburg gegründeten Akademien der Wissenschaften und ihrer publizistischen Netzwerke. Diese Akademien lieferten den institutionellen Rahmen, in dem sich eine europäische Gelehrtenkultur entwickelte. Sie firmierte unter der Bezeichnung »République des Lettres«.13 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde die République des Lettres zu einem Raum der Öffentlichkeit, in dem sich Schriftsteller, Gelehrte und Interessenten der Aufklärung trafen und austauschten. Organe dieser Öffentlichkeit waren Zeitschriften und Leserbriefe. Sie waren Bestandteil der Medienrevolution in der Aufklärung, in der die Teilnehmer mittels Lesen und Schreiben kommunizierten. Seit dem 17. Jahrhundert zählten Akademien zu wichtigen Institutionen, in denen Naturforscher organisiert waren. Bruhier und Winslow waren Mitglieder der 1635 von Richelieu gegründeten Académie française. Zum Umkreis dieser Institutionen in den deutschen Landen zählte Bruhiers späterer Übersetzer, der Leipziger Medizinprofessor Johann Gottfried Jancke (1724-1763). Die älteste deutschsprachige Gelehrtengesellschaft war die Leopoldina, die 1652 in Schweinfurt entstand und 1742 in die Kaiserlich Leopoldinisch-Carolinische Akademie der Naturforscher umbenannt wurde. Eine wietere naturforschende Gesellschaft war die Societas regia scientarum in Berlin, daneben gab es in den verschiedenen deutschen Staaten und Städten aber auch informelle Gruppen, in denen sich Gelehrte trafen. Auch hier waren die Kommunikationsorgane Zeitschriften. Die Publikationen der offiziellen Akademien waren in Paris das schon erwähnte Journal des Sçavans, in London die Philosophical Transactions. In Leipzig erschienen seit 1682 11 12 13
Vgl. »Dissertation sur l’Incertitude […]« [Rezension], S. 376-390. Vgl. »Dissertation sur l’Incertitude […] Secondes Partie« [Rezension], in: Journal des Sçavans 155 (1746), S. 309-327. Vgl. Krzysztof Pomian: Europa und seine Nationen, Berlin: Wagenbach 1990, S. 57-64; Sebastian Neumeister/Conrad Wiedemann (Hg.): Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Wiesbaden: Harrassowitz 1987. 103
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die Acta Eruditorum, in Rotterdam veröffentlichte der Hugenotte Pierre Bayle die Nouvelles de la République des Lettres. Die Zirkulation des von Bruhier verfassten Buches ist also als Wissenschafts- und Publikationstransfer innerhalb der gelehrten europäischen Öffentlichkeit zu verstehen. Die Übersetzung des Winslowschen Buches fand stärkeren Widerhall als nur in Deutschland. Ungefähr zeitgleich wurde es ins Englische und ins Schwedische übersetzt. Außerdem erschienen italienische und irische Ausgaben.14 Die englische Version erschien 1746 in London unter dem Titel The Uncertainty of the Signs of Death, and the Danger of Precipitate Interrements and Dissections Demonstrated. Auch sie wurde im Journal des Sçavants rezensiert.15 Die deutsche Übersetzung wurde 1754 veröffentlicht. Sie folgte einer Neuauflage der Dissertation aus dem Jahre 1749, die nunmehr nur noch Bruhiers Namen als Herausgeber führte. Jacques-Bénigne Winslow fiel als Verfasser fort. Begründet wurde die Neuauflage mit dem Hinweis, dass so viele Zusätze, neue Erkenntnisse und Fälle zusammengetragen worden seien, dass das Werk mit Winslows Thèse nur noch wenig gemeinsam habe. Jancke ergänzte seine Übersetzung wiederum um eigene Anmerkungen. Diese Fallsammlung mit ihrer Diskussion in Frankreich wurde in weiten Teilen der gebildeten Stände rezipiert und durch die Presse der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verbreitet.16 1743 wurde das Buch bereits in den Leipziger neuen Zeitungen von den gelehrten Sachen angezeigt. Das Buch sei beim Buchhändler seit August 1743 zu erhalten, hieß es darin. Informationen, die über die Ankündigung hinausging, enthielt diese Meldung jedoch nicht, da zu diesem Zeitpunkt »[w]ir […] diese Schrift selbst noch nicht gelesen [haben]« und sie »nur dem Titel nach, wegen ihres berühmten Verfassers« vermerkt wurde.17 Einige Nummern später erschien eine ausführlichere Besprechung des ersten Bandes.18 Darin fasste der Rezensent den Inhalt des Buches wie folgt zusammen: »Herr Bruhier [hat] versucht zu beweisen, daß man durch die chirurgischen Versuche die Gewißheit des Todes besser, als durch andere erfahren könnte, ob sich gleich der Todt eigentlich durch fast kein einiges gewisses Kennzei14 15 16 17 18
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Vgl. Bondeson: Buried Alive, 68 f. Vgl. »The Uncertainty of the Signs of Death […]« [Rezension], in: Journal des Sçavants 155 (1746), S. 435-445. Vgl. Quinlan: »Apparent Death in the Eighteenth Century; Milanesi: Mort Apparente, Mort imparfaite. »15. August 1743« [Ankündigung der »Dissertation« von Bruhier], in: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen 65 (1743), S. 666-667. »19. September 1743« [Besprechung der »Dissertation« von Bruhier], in: Neue Zeitungen von den gelehrten Sachen 75 (1743), S. 667-668.
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chen recht offenbare, welchen Satz Herr Bruhier gleichfalls mit einer Menge Exempel lebendig begrabener zu bestärken bemühet ist.«19
Danach beschrieb der Rezensent die Kapitel des Buchs. Er wies auf die Krankheiten hin, die »einen Menschen in den Stand setzen können, daß er vor todt angesehen wird« und griff Winslows und Bruhiers Warnung auf, auf das »einzige gewisse Zeichen des Todes, nehmlich die angefangene Fäulniß« zu warten.20 Im Jahr 1746 wurde in den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen das Erscheinen von Bruhiers Mémoire über die Neuregelung der Bestattungen angekündigt. In einem Heft desselben Jahrgangs warben die Redakteure für den zweiten Band der Dissertation. Bei diesen Buchbesprechungen handelte es sich um Zusammenfassungen der Bücher.21 Ein erstes größeres Echo fand Bruhiers Werk in Deutschland durch die Übersetzung einer Diskussion aus dem Jahr 1756, die durch verschiedene Artikel eines französischen Arztes, des Chirurgen, Professors für Physiologie und Sekretärs der Académie Royale de Chirurgie, Antoine Louis lanciert worden war. Im Hamburgischen Magazin, oder gesammlete Schriften, aus der Naturforschung und den angenehmen Wissenschaften überhaupt, einer Zeitschrift für das Publikum der Aufklärung, erschienen »Briefe«, in denen Louis »die Gewißheit der Todeszeichen« diskutierte, um »die Mitbürger von der Furcht lebendig begraben zu werden, [zu] befreye[n]«.22 In diesen Beiträgen nahm Louis direkten Bezug auf die von Bruhier aufgeworfene Frage, ob »Kennzeichen eines ungewissen Todes durch chirurgische Versuche zuverlässiger bestimmt werden [können] als durch andere Proben?«23 Dabei hielt Antoine Louis gegen Bruhier, dass der Eintritt des Todes genau festzustellen sei und das Problem nicht in einer uneindeutigen Grenze zwischen Leben und Tod bestehe. Dass über die Kennzeichen des Todes Unsicherheit herrsche, 19 20 21
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Ebd., S. 667. Ebd. Vgl. »25. Februar 1746«, »25. April 1746«, »18. August 1746« [Ankündigungen und Besprechungen des zweiten Bandes der Dissertation von Bruhier], in: Neue Zeitungen von den gelehrten Sachen (1746), S. 148-149, S. 291 und S. 619-620. Antoine Louis: »Briefe über die Gewißheit der Todeszeichen, worinnen man die Mitbürger von der Furcht, lebendig begraben zu werden, befreyet«, in: Hamburgisches Magazin 17 (1756), S. 623-665; Fortsetzungen in: Hamburgisches Magazin 18 (1757), S. 181-224 und 20 (1758), S. 261-296. Im Original heißt die Abhandlung Antoine Louis: Lettres sur la Certitude des Signes de la Mort, où l’on Rassure les Citoyens de la Crainte d’ċtre Enterres Vivans, Paris: Lambert 1752. Zitiert nach der Vorrede in der deutschen Übersetzung von 1754: Bruhier: Abhandlung von der Ungewißheit des Todes, o. S. 105
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liege an der Nachlässigkeit und den mangelnden Fähigkeiten der Ärzte oder derjenigen Personen, die für die Bestattung der Verstorbenen zuständig seien. An diese Fragen, ob die bekannten Todeszeichen an sich uneindeutig und unzureichend seien, oder ob die am Sterbeprozess beteiligten Personen unzureichende Kompetenzen an den Tag legten, wurden in den deutschen Zeitschriften im Folgenden angeknüpft. Die erste Referenz auf den Beitrag von Louis fand sich in der gleichen Zeitschrift bei dem Arzt Johann August Unzer aus Altona.24 Unzer war Mitherausgeber des schon erwähnten Hamburgischen Magazins und Begründer einer der ersten medizinischen Zeitschriften, die sich an ein breiteres Publikum richteten. Sie hieß Der Arzt. Unzer griff das Problem auf, indem er seinen eigenen Patienten vorstellte, bei dem der Eintritt des Todes ebenfalls nicht sicher festgestellt werden konnte. Dieser war an einer Leberkrankheit verstorben, die Totenstarre, die Louis in seinen Briefen als Kennzeichen des Todes aufgeführt hatte, ließ jedoch auf sich warten. Unzer kannte das aufgeworfene Problem also aus eigener Praxis. Er relativierte Louis’ Kritik an Bruhier und machte darauf aufmerksam, dass auch bei einer scheinbar gewöhnlich verlaufenden Krankheit Unregelmäßigkeiten auftauchen könnten. Sie verlangten ein größeres Maß an ärztlicher Sorge, so Unzers Urteil. An die Unsicherheit der Todeszeichen, die in den deutschen Zeitschriften durch Übersetzungen der französischen Debatte rezipiert wurde, konnten die deutschsprachigen Ärzte und andere Teile der gelehrten Leserschaft durch Hinzufügen eigener Fälle und Berichte aus eigener Anschauung anknüpfen. Es gab zwei Formen der Bezugnahme auf die französische Debatte. Entweder wurden eigene Fälle referiert, oder französische Fälle wurden übersetzt und mit der medizinischen Literatur in Deutschland und dem Diskussionsstand abgeglichen. So übertrug der spätere Begründer der Oeconomisch-technologischen Encyclopädie, Johann Georg Krünitz, den Fall eines neu geborenen und für tot gehaltenen Kindes und versah ihn mit Anmerkungen, die er durch die Sichtung eigener, von ihm gesammelter Informationen vorliegen hatte.25 Teile dieser Anmerkungen verwertete Krünitz noch weiter. Sie waren als Diskussionsstand noch gültig, als er das Lemma »Scheintod« in der Oeconomisch-technologischen Encyclopaedie verfasste. 24
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Vgl. Johann August Unzer: »Sammlung einiger medicinischer Beobachtungen und Betrachtungen«, in: Hamburgisches Magazin 10 (1753), S. 534-554. Vgl. Olivier de Villeneuve: »Sendschreiben von einem neugebohrenen, für todt gehaltenen, nacket beerdigten, nach acht und zwanzig Tagen lebendig wieder ausgescharrten, getauften, und noch fünf Stunden darnach lebenden Kinde«, in: Hamburgisches Magazin 19 (1757), S. 311324. Dieser Text wurde von J.G. Krünitz übersetzt.
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Zunächst konnten sich in diesen 1750er Jahren viele Ärzte und Gelehrte, die sich an der Debatte beteiligten, auf die Beobachtung aus Frankreich vergleichsweise unaufgeregt beziehen. Fälle von Menschen, die nur tot schienen und aus Nachlässigkeit bestattet wurden, kamen dann und wann vor, stellte man etwas lapidar fest. Ihr periodisches Auftreten war als solches bekannt. Johann Georg Krünitz kommentierte das Erscheinen von Bruhiers Buch mit der Einschätzung, dass es »hier und dar verschiedene merkwürdige Exempel und Begebenheiten von Menschen und Thieren« gegeben hätte, die für tot gehalten und begraben wurden, bei denen man aber »die gewissesten Merkmaale angetroffen, daß noch ein Leben in ihnen gewesen seyn müsse, und die zum Theile wirklich wieder aufgelebet«.26 Als Beleg führte er ein Buch an, in dem die Geschichte einer Anna Green erzählt wird, welche 1650 in Oxford wegen Kindsmords gehenkt wurde und in der Anatomie wieder zum Leben erwachte.27 Darüber hinaus wies er auf vier weitere Textstellen in medizinischen Veröffentlichungen hin, in denen Ärzte auf ein solches Vorkommnis aufmerksam machten.28 Philippe Ariès konstatiert für Frankreich zwei Wellen der Popularisierung: Die erste datiert er auf die 1740er Jahre, die zweite setzt er um 1770/1780 an.29 In der deutschen Öffentlichkeit haben diese beiden Schübe, zeitlich versetzt, auch in diesem Abstand ihre Spuren hinterlassen. Eine erste Bezugnahme konnte, wie erwähnt, für die 1750er Jahre verzeichnet werden. Auch in den 1760er Jahren erschienen nur einzelne Beiträge, so die »Geschichte von einem wieder aufgelebten todten Weibe, mit Anmerkungen über diesen Vorfall« des bayerischen Lexikographen und Naturforschers Wilhelm Simon Christian Hirsching in den Fränkischen Sammlungen.30 Anfang der 1770er Jahre veröffent26 27
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Villeneuve: »Sendschreiben von einem neugbohrn, für todt gehaltenen […] Kinde«, S. 311-312. Vgl. Richard Watkins: Etwas Neues vom Tod: Oder Eine warhaftige und richtige Erzehlung der wunderbaren Erledigung/ Anna Green Betreffend: Welche nach dem man sie zu Oxfurth in Engeland den 14. Dec. 1650 gehenkt/ wieder lebendig/ und vermittelst etzlicher Ertzte daselbst vollkijmlich zurecht gebracht worden, Nürnberg: Endter 1655. Vgl. Christian Ehrenfried Eschenbach: Observata quaedam AnatomicoChirurgico-medica, cum continuat., Rostock: Koppe 1755. Als medizinische Sammlungen werden die Acta physico-medica Academiae Caesarae Leopoldino-Carolinae Naturae Curiosum, die seit 1727 erschienen und die Miscellanea curiosa, deren erste Ausgabe auf das Jahr 1670 datiert ist, genannt. Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, S. 512. Wilhelm Simon Christian Hirsching: »Geschichte von einem wieder aufgelebten todten Weibe, mit Anmerkungen über diesen Vorfall«, in: Fränkische Sammlungen von Anmerkungen aus der Naturlehre, 107
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lichte der niederrheinische Medizinal- und Hofrat von Jülich-Berg, Johann Peter Brinckmann, mehrere Aufsätze aus seinem Buch Beweis der Möglichkeit, daß einige Leute lebendig können begraben werden, nebst der Anzeige wie man dergleichen Vorfälle verhüten könne in den Mannigfaltigkeiten. Brinckmanns Werk glich der Kasuistik von Bruhier: Es war mit dem Anliegen an das Regierungsoberhaupt, die Erbstadthalterin der Vereinigten Niederlande, gerichtet (zu denen Kleve, Brinckmanns Wohnort in diesen Jahren, zählte), die Bestattungszeiten zu verlängern.31 Daneben gab es eine Reihe von Schriften von Ärzten, die die Gedanken von Bruhier und den anderen aufgriffen, um die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens ihrerseits in Monografien zu popularisieren. Diese Bücher waren nach einem ähnlichen Muster aufgebaut. Sie stellten die Wichtigkeit ihres Gegenstandes mit dem Verweis auf berühmte zeitgenössische Ärzte dar, um dann eine Reihe von Fällen darzulegen, die ihre Anliegen bewiesen. Zum Schluss wurden praktische Abkehrmaßnahmen propagiert und Gesetze gegen das Lebendigbegrabenwerden vorgeschlagen.32 Auch die Ephemeriden, die Zeitschrift des Schweizer Geschichtsphilosophen Isaak Iselin, griffen das Thema auf und in Unzers Hamburgischen Magazin wurden weitere Beiträge zum Thema veröffentlicht: In diesen beiden Zeitschriften wurden erstmals die bestehenden Bestattungspraktiken kritisiert. Eine größere Resonanz trat dann erst mit dem zweiten Veröffentlichungsschub in Deutschland, Ende der 1770er Jahre, ein. Ab diesem Zeitpunkt erreichten die ersten Edikte und Verlautbarungen, mit denen Rettungsmaßnahmen bekannt gemacht und Beerdigungsfristen verlängert wurden, die entsprechenden Publikationsorgane. Ein Höhepunkt wurde in den 1790er Jahren erreicht. Zwischen diesen beiden
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Arzneygelahrheit, Oekonomie und den damit verwandten Wissenschaften [Nürnberg] 7 (1765), S. 406-423. Johann Peter Brinckmann: Beweis der Möglichkeit, daß einige Leute lebendig können begraben werden, nebst der Anzeige, wie man dergleichen Vorfälle verhüten könne, Düsseldorf/Cleve/Leipzig: Bärstecher 1772. Dazu zählten Gottfried Hieronymus Müller: Wie sich lebendig Begrabene gar leicht wieder aus Sarg und Grab helfen und ganz bequem herausgehen können, Leipzig: ohne Verlag 21790; François Thiery: Unterricht von der Fürsorge, die man den Todten, oder denen die todt zu seyn scheinen, schuldig ist, wie auch von den Leichenbegängnissen und Begräbnissen, aus dem Französischen übersetzt, Lübeck: Donatius 1788; Adolf von Hüpsch: Neue Entdeckung eines wohlfeilen, würksamen Mittels, wie alle Menschen zu behandeln sind, um darin die scheinbar Todten wieder zum Leben zu bringen, zum Besten der Menschheit bekannt gemacht, Köln: ohne Verlag 1789, Marx Jacob Marx: Über die Beerdigung der Todten, Hannover: Schmidt 1788.
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Wellen ebbte die Anzahl der Veröffentlichungen ab. Während es sich in den 1750er Jahren über die Übernahme eines Phänomens aus der französischen Gelehrtenöffentlichkeit handelte, bezog die zweite Phase ihre Dynamik stärker aus den politisch-strukturellen Veränderungen in den Ländern und dem Engagement einzelner Ärzte. Zu nennen ist hierbei vor allem Christoph Wilhelm Hufelands Artikel Die Ungewißheit des Todes von 1790, der in lokalen Zeitschriften anderer Städte und Territorien abgedruckt wurde.33 Die Einbindung von Ärzten in den Staatsdienst und die medizinische Polizei, die das Wohl und die Gesundheit der Bürger des Gemeinwesens zu ihren Aufgaben erklärte, wurde in Veröffentlichungsformen wie Edikten oder Vorschlägen zu architektonischen Veränderungen in einer Stadt wie Leichenhäusern reflektiert. An diese zweite Welle wird im zweiten Teil des Kapitels angeschlossen, das sich mit den Reaktionen des frühneuzeitlichen Staates befasst. In den 1820er Jahren verschwand das Thema allmählich aus der Zeitschriftenöffentlichkeit; es erschienen jedoch weiterhin einzelne Monographien. Zunächst soll sich den Spezifika des ersten Veröffentlichungsschubs gewidmet werden. Die erste Publikationswelle dient dazu, die frühneuzeitliche Wissensproduktion und die Kommunikationsmuster in ihren Eigenheiten zu untersuchen. Verschiedene Historiker haben auf plausible Weise den Scheintod als Modethema ausgemacht, weil sie auf Kommunikationsstrukturen und deren Inhalte geachtet haben.34 Jedoch können ihre Beobachtungen argumentativ noch weiter genutzt worden. Hier sollen sie in Bezug auf den Herstellungsmodus eines wissenschaftlichen Problems analysiert werden.
Medizinische Kasuistiken. Alte Autoritäten und neue Erzählformen In der Sekundärliteratur ist argumentiert worden, dass die Scheintoddebatte an volkstümliche Ängste anknüpfe und die Furcht vor dem Schein-
33
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Vgl. beispielsweise die Oldenburger Ärzte Gerhard Anton Gramberg und Gerhard Anton von Halem: »Die Ungewissheit des Todes und das einzige untrügliche Mittel, sich von seiner Wirklichkeit zu überzeugen und das Lebendigbegraben unmöglich zu machen«, in: Blätter vermischten Inhalts [Oldenburg: Stalling] 3 (1790), S. 290-324. Vgl. Patak: Die Angst vor dem Scheintod in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts; Koch: Lebendig begraben; Kessel: »Die Angst vor dem Scheintod im 18. Jahrhundert«. 109
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tod damit in einer Kontinuität stehe.35 Das, was ohnehin stets zu den gesellschaftlichen Ängsten gehörte, benötigte lediglich einen Popularisator wie Bruhier. Diesen Arbeiten liegt die Annahme zugrunde, dass es sich bei dem Scheintod um eine in der kollektiven Erinnerung verankerte Angst handelte, für die es eine reale Grundlage gab, die aber erst in die Sprache und Praktiken der Wissenschaft überführt werden musste, um öffentlichkeitswirksam zu werden. Dieses Argument stützt sich auf die zahlreichen, in den Quellen befindlichen Fallbeispiele, mit denen belegt wird, dass Menschen irrtümlich zu früh begraben wurden. In diesem Abschnitt der Arbeit wird jedoch umgekehrt argumentiert, dass es sich bei der Angst vor dem Scheintod nicht um eine schon immer schwelende oder existente Grundangst gehandelt hat. Vielmehr reagierten Bruhier und andere Gewährsmänner wie Christoph Wilhelm Hufeland oder Johann Peter Frank auf ein radikal neues Verständnis des Todes. Sie benutzten schon existierende Geschichten, um auf ein neues Verständnis von Leben und Tod hinzuweisen und konnten mit mithilfe der Fallgeschichten Wahrheit und Plausibilität für ihr Anliegen herstellen. Denn in der frühneuzeitlichen Wissenschaft galten diese Kasuistiken, in denen Faktoren wie Zeit und Raum, die Form der mündlichen Überlieferung oder des selbst Erlebten für die Glaubwürdigkeit der Fälle keine Rolle spielten, als gültige Wissensform. In einer Gesellschaft, in der die Autorität der Alten einen so hohen Stellenwert besaß und erst allmählich durch Kriterien, wie experimentell hergestellter Objektivität, unterminiert wurde, hatten diese Erzählungen ihren quasi selbstverständlich autoritativen Platz. Deshalb konnten sie für die Popularisierung des Anliegens eingesetzt werden. Bei Bruhiers Dissertation handelte sich um eine Sammlung zahlreicher Scheintod-Einzelfälle, zusammengefasst in einer sogenannten Kasuistik. Diese Fallbeispiele schlossen an mündliche Überlieferungen an oder zählten zu den in der Bevölkerung kolportierten Geschichten. Aus diesem Grund erweckten sie den Eindruck, dass es Scheintodfälle zu allen Zeiten gegeben hatte. Kasuistiken, also Einzelfälle, gehören bis heute zu den gängigen Methoden in der Medizin, auf neue Krankheiten aufmerksam zu machen.36 In der Diskussion um den Scheintod zeichneten sie sich dadurch aus, dass die Fälle, mit denen frühzeitige Bestattungen belegt wurden, einerseits in großer Anzahl auftauchten, andererseits je35
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Vgl. Patak: Die Angst vor dem Scheintod in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 5 f und S. 26 ff; Koch: Lebendig begraben, S. 14 ff; Bondeson: Buried Alive, S. 17 ff. Das war im Fall von AIDS so, als ein Arzt in San Francisco 1981 auf Patienten in seiner Praxis hinwies, die unter den gleichen, nicht zuzuordnenden Symptomen litten.
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doch typisiert und kategorisiert werden konnten. Sie mussten nicht notwendigerweise aus der eigenen Praxis stammen, sie mussten aber von ausgewiesenen Autoritäten wie den medizinischen Gelehrten aufgeführt worden oder ihnen musste durch Tradierung Glaubwürdigkeit zugemessen worden sein. So erzählte Bruhier von der Frau eines Buchhändlers namens Matthäus Harnisch, welche im Wochenbett gestorben und dann begraben worden war. Als man bei der Grablegung den Sarg öffnete, damit jeder die Tote noch einmal sehen konnte, sahen die Totengräber, dass die Leiche an jedem Finger Ringe hatte. In der Nacht nach der Bestattung kehrten die Totengräber zurück und öffneten den Sarg, um den Schmuck zu stehlen. Die Frau erwachte, als sie die Berührung spürte, und zog erschrocken den Arm zurück. Sie war nur scheintot gewesen. Die Fallbeispiele konnten sowohl aus der Antike stammen als auch selbst erlebt worden sein. So führte Jean-Jacques Bruhier unter anderem Platon als Beweis an, dass Menschen schon in der Antike lebendig begraben wurden. Platon berichtet im 10. Buch seiner Politeia von einem Soldaten, der in einer Schlacht schwer verwundet und für tot gehalten wird. Nachdem er nach Hause gebracht wird, um für die Bestattung vorbereitet zu werden, »lebte er zwei Tage hernach wieder auf […] und erzählte alles das, was er in der anderen Welt gesehen hatte«.37 Während Bruhier diese Geschichte als Evidenz für die Gefahr des Lebendigbegrabens anführte, erzählt Platon die Geschichte dieses Kriegers, um Aussagen über die zu erwartenden Strafen und Belohnungen im Jenseits zu treffen. Ihm ging es um eine moralische Aussage, um Fragen der Lebensführung und des tugendhaften Verhaltens gegenüber den Göttern. Platon problematisiert das vermeintliche »zu frühe Begräbnis« gar nicht. Die Erzählforscherin Ines Köhler-Zülch interpretiert Kasuistiken als Instrumente, um Mentalitäten und Realitäten so zu verändern – auch mittels fiktionaler Texte – dass sie eine Sorge zu popularisieren vermögen.38 Jean-Jacques Bruhiers Fallgeschichten waren also eine spezifisch historische Form der Herstellung von Glaubwürdigkeit und Plausibilität. Bruhier trug sein Anliegen für die Öffentlichkeit plausibel vor, indem er nicht nur auf antike Beispiele, sondern auch auf tradierte und mündlich überlieferte Geschichten, Legenden oder Sagen zurückgriff und diese 37 38
Zit. nach Koch: Lebendig begraben, S. 36. Vgl. Ines Köhler-Zülch: »Erzählungen über den Scheintod. Faktizität und Fiktionalität in medizinischen Fallberichten«, in: Jürgen Beyer/Reet Hiiemäe (Hg.): Folkore als Tatsachenbericht, Tartu/Estland: Estn. Literaturmuseum, Sektion für Folkloristik, S. 107-126; dies.: »Scheintod«, in: Rolf W. Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, begr. v. Kurt Ranke (im Folgenden abgekürzt EM), auf 14 Bde. angelegt, Berlin/New York: de Gruyter 1977 ff, Bd. 11, Sp. 1324-1331. 111
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zur Beweisführung einsetzte. Für die Frage dieser Arbeit nach der Beschaffenheit des Wissens und den Kriterien für Wissenschaftlichkeit ist an dieser Stelle bedeutsam, dass über die Form »Kasuistik« eine Wahrheit hergestellt werden konnte, die für die Zeitgenossen Gültigkeit und Autorität besaß. Obgleich das Leben im 18. Jahrhundert aus den »Kräften der Natur« erklärt wurde, auf neuem Wissen wie der Lehre des Blutkreislaufs und anatomischem Wissen basierte, blieben frühneuzeitliche Formen der Wissensproduktion weiterhin wirkungsmächtig. Rezipiertes Wissen war für die Ärzte insofern gültig, als dass sie eine große Anzahl von Fällen seit der Antike aufführten, anhand derer sie belegten, dass Menschen lebendig begraben wurden. Mit mündlich oder schriftlich überlieferten Berichten, Sagen und Geschichten konnten sie ihr Publikum erreichen. Die Herstellungsweisen gesellschaftlicher Probleme sind deshalb von Bedeutung, weil im Falle des Scheintods die Geschichten strategisch so eingesetzt wurden, dass sie auf einen Missstand der Beerdigungspraktiken hinwiesen: Beerdigungen sollten erst nach dem Einsetzen der Verwesung angesetzt werden. Mit dieser Perspektive verliert die Frage, ob zur Zeit der Aufklärung Menschen tatsächlich häufiger zu früh bestattet wurden als zu anderen Zeiten, an Bedeutung. Irrtümliche Bestattungen und Geschichten von Wiederbelebungen reichten zurück bis in die Antike und gehörten zu den fest verwurzelten Bildern des kollektiven Gedächtnisses. Während der Aufklärung, dies ist der entscheidende Punkt, konnten diese Einzelfälle als wissenschaftlich gültig abgerufen werden. Ein anderes narratives Motiv war das der Rettung. Scheintote, besonders Frauen, wurden durch den verlassenen und unglücklichen Liebhaber gerettet, der an das Grab zurückkehrt. Dadurch erwacht die nur scheintote Frau. Ein zweites Motiv ist das des Wiederaufwachens der Scheintoten durch Geräusche und Grabräuber. Die Umdeutung der Klopfgeister als lebendig begrabene Menschen, die sich durch lautes Klopfen bemerkbar machen, gehört in diese Kategorie. Eine typische Geschichte, in der die Scheintote von Grabräubern aufgeschreckt wird, handelt von einer plötzlich verstorbenen Frau, deren Ehemann ihr einen wertvollen Ring mit ins Grab gibt. Ein Dieb versucht ihn zu stehlen und öffnet das Grab. Weil der Ring aber zu fest am Finger sitzt, muss der Dieb Gewalt anwenden und die Frau erwacht. Die Geschichte der Frau Matthäus Harnisch zählt zu dieser Kategorie. Der Medizinhistoriker Jan Bondeson hat nachgewiesen, dass eine erste Version dieser Geschichte
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bereits 1357 aus Köln bekannt war.39 Am Neumarkt, dem Marktplatz der Stadt Köln, lebte die Patrizierfamilie von Aducht. Richmodis, die Ehefrau von Mengius von Aducht, wurde krank und verstarb nach kurzer Krankheit. Ihr Ehemann ließ sie mit einem goldenen Ring am Finger bestatten. Wiederum war es der Totengräber, der versuchte, den Ring nach der Beerdigung zu stehlen. Ausgerüstet mit einem Spaten, einer Laterne und einem Brecheisen öffnete er den Sarg. Weil der Ring aber zu fest an der Hand saß, nahm der Totengräber ein Messer zur Hilfe und wollte den Finger durchtrennen. Daraufhin erwachte Richmodis mit einem Schmerzensschrei, ergriff die Laterne und floh nach Hause zum Neumarkt. Sie klopfte an die Tür, eine Magd öffnete ihr und erschrak, weil sie dachte, ein Geist stünde vor ihr. Auch ihr Ehemann fürchtete sich, als die Magd nach ihm rief. Nachdem Richmodis ihrem Mann jedoch glaubhaft machen konnte, dass sie noch gar nicht tot gewesen war, zog sie zurück nach Hause. In der Apostelkirche in Köln befindet sich ein Gemälde, das diese Geschichte festhält. Weiterhin wurden in den Kasuistiken Scheintote dadurch gerettet, dass die Beerdigung zufällig verschoben wurde. Christoph Wilhelm Hufeland griff in seinem Kompendium über den Scheintod eine Geschichte von Jean-Jacques Bruhier auf, in der von einer Frau erzählt wird, die einem frühzeitigen Begräbnis durch das Eingreifen ihres Mannes entgeht. Die Frau in dieser Geschichte war schwer krank geworden und wurde in der Abwesenheit ihres Mannes, der sich auf einer Geschäftsreise befand, für tot erklärt. Er kehrte erst nach Hause zurück, nachdem die Bestattung bereits angefangen hatte, und zwang den Leichenzug umzukehren. Der Ehemann rief einen Arzt, der mit Wiederbelebungsmaßnahmen begann, und die Scheintote erwachte. Sie wurde wieder ganz gesund.40 In diesem Narrationstyp, sowie in den Erzählungen über das Wiedererwachen während einer Leichensektion, kamen auch Männer vor. So missdeute der Gehilfe im anatomischen Theater in Paris die Schreie eines zu sezierenden Selbstmörders. Er hielt sie für eine Seele, die inmitten der Hingerichteten und Selbstmörder keine Ruhe finden konnte und Lärm schlug. Der anatomische Gehilfe fürchtete sich und vergrub sich unter seiner Bettdecke. Als er am nächsten Morgen dem leitenden Arzt von den nächtlichen Geräuschen berichtete, wurde der Gehilfe gescholten: Er hatte die Hilferufe des Selbstmörders ignoriert und ihn seines Schicksals überlassen. Der Unglückliche war in dem kalten Aufbahrungssaal der Anatomie dann erfroren und verstorben.41 39 40 41
Vgl. Bondeson: Buried Alive, S. 35-39; Motivschilderung auch in Bolte: »Die Sage von der Scheintoten«, S. 356 ff. Vgl. Hufeland: Der Scheintod, oder Sammlung, S. 27. Vgl. ebd., S. 23-26. 113
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Auch nicht geglückte Rettungen gehörten in den Motivkatalog. Zu den nicht geretteten Scheintoten zählten schwangere Frauen, in deren Grab nach der Öffnung ein Kind gefunden wurde. Vorläufergeschichten dieses Motivs wurden bereits durch Flugblätter aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs verbreitet: »Drey vnterschiedliche Newe Zeitungen || Erstlich || Von einer Frau- || wen zu Zellerfeldt im Braun- || schweigerlandt / wie dieselbe schwan- || gers leibs gestorben / im Grab das Kindt ge- || boren / vnd nach 9. Wochen wieder lebendig auß dem || Grab kommen / sambt dem Kindt / vnd was jhr Aus- || sag gewesen / ordentlich beschrieben / gesche|| hen am Heil: Pfingsttag || 1641. || Beschrieben durch Jeremiam Wollerum || Supperatendenten daselbsten […] Getruckt zu Nürnberg / bey Christoph || Lochner / 1641.«42
Hier bestand die Pointe der Geschichte darin, dass durch göttliche Einwirkung an einem hohen christlichen Feiertag ein wundersames Ereignis geschehen war. Diese Form der schriftlichen Überlieferung war auch aus anderen Ländern bekannt. In England wurde 1661 per Flugschrift der Fall des Londoner Metzgers Laurence Cawthorn kolportiert, der durch die Nachlässigkeit seiner Wirtin, die ihn für tot hielt, begraben wurde.43 Als Grund für die vorzeitige Bestattung wurde die Habgier der Vermieterin genannt, die auf das Vermögen ihres Mieters aus war. Graböffnungen generell stellten ein erzählerisches Motiv dar, mit dem über Scheintote berichtet wurde. Kennzeichnend war dabei die veränderte Körperlage, über die die Verstorbenen als scheintot identifiziert wurden. Die »gnädige Frau aus Mildheim«, die als Skelett in ihrem weißen Totenhemd auf dem Sarg sitzend vorgefunden wurde, ist ein Beispiel für dieses Motiv. Das Motiv »Graböffnung« verbunden mit dem Element »Geräusch« verwendete auch Christoph Wilhelm Hufeland. In seiner Version lautete die Geschichte folgendermaßen: »Die erstere Geschichte fand ich im Esprit des Journaux 1791. Jun., wo sie so erzählt wird. ›Vor einigen Tagen starb der Pfarrer zu Jassorff, und man eilte ihn zu begraben, ohne die gehörige Zeit abzuwarten. Verschiedene Personen, die seinem Grabe zu nahe kamen, glaubten ein Getöse darin zu hören, und meldeten es. Aber man hielt es für Folgen der Furcht und achtete nicht darauf. – Da aber wiederholte Nachrichten von der Fortdauer des Getöses einließen, so beschloß man endlich die Sache zu untersuchen, und den Sarg zu öfnen, und da fand man zwar den Leichnam todt, aber ganz auf dem Bauch liegend, zum sichern Beweis, daß er wieder lebendig geworden, und wahrscheinlich 42 43 114
Zit. nach Erich Seemann: »Newe Zeitung und Volkslied«, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 3 (1932), S. 87-119, S. 100. Vgl. Quinlan: »Apparent Death«, S. 30.
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durch die Anstrengung seinem fürchterlichen Gefängniß zu entfliehen, in diese ungewöhnliche Lage gekommen war.‹«44
Bezeichnenderweise adressierte Hufeland allerdings seine Leser in einer Weise, die strukturelle Ähnlichkeiten zur Erzählform einer literarischen Gattung aufweist, die am Ende des 18. Jahrhunderts erst entstand: der Novelle. Diese Erzählform zeichnet sich dadurch aus, dass sie ungewöhnliche Vorfälle und Begebenheiten in den Mittelpunkt stellt, sich erzählstrategisch auf diese Ereignisse konzentriert und straff durchkomponiert ist.45 Die Novelle ist ihrem Wesen nach kurz und eignet sich ideal für die Veröffentlichung in einem Medium wie der Zeitschrift. Hufelands Fallgeschichte ist typisch für die Art und Weise, mit der Ärzte auf die Gefahr eines unerkannten Scheintodes aufmerksam machten: Die Beiträge in den moralischen Wochenschriften bestehen aus mehreren Seiten, auf denen die verschiedenen Scheintodfälle aneinandergereiht wurden. Ähnlich dem Aufbau der Novelle beginnen sie direkt mit dem Kern des Geschehens: Der Pfarrer zu Jasdorff starb vor wenigen Tagen und wurde gleich bestattet. Sie weisen wie die Novelle einen Wendepunkt auf, auf den strategisch zugesteuert wird (Leute hören den Lärm, melden es und der Sarg wird daraufhin geöffnet), und sie enden mit einer Spitze oder einem Höhepunkt: In Hufelands Erzählung wird der im Sarg Eingeschlossene glücklich gerettet. Hufeland verlieh diesen Geschichten also einen neuen Rahmen und verwendete mit diesem Frauming Strategien, die den zeitgemäßen Formen entsprachen, mit denen die Aufmerksamkeit des Publikums am Ende des 18. Jahrhunderts gewonnen werden konnte. Die mittelalterlichen Geschichten über Menschen, die lebendig begraben wurden oder irrtümlich für tot gehalten wurden, standen hingegen in Zusammenhang mit den zeittypischen Moral- und Tugenderzählungen; sie handelten von verwerflichem Handeln wie List und Täuschung oder problematisierten die Folgen von menschlichen Irrtümern. Sie transportierten nicht die individuelle Angst und den Schrecken, die den Scheintodgeschichten nach 1800 eigen waren. Sie propagierten auch nicht den Schutz des irdischen Lebens oder problematisierten den Verlust des physischen Daseins. Thematisiert wurden in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichten Menschen, die aus den unter44
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Christoph Wilhelm Hufeland: »Neuere Beyspiele von der Möglichkeit, auch in unseren Tagen lebendig begraben zu werden«, in: Der neue teutsche Merkur 3 (1791), S. 125-138, S. 128. Vgl. Hildburg Herbst: Frühe Formen der deutschen Novelle im 18. Jahrhundert, Berlin: Erich Schmidt 1985, S. 65-67; Saskia Haag: »Kammerszenen. Zur Poetik der Engführung in Kleists Erzählung ›Der Findling‹«, unveröffentl. Diplomarbeit Wien 2003, S. 53-59. 115
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schiedlichsten Gründen – aus List oder Irrtum – lebendig begraben wurden. Allerdings handelten die Erzählungen aus der Zeit um vor 1800 auch nicht von Wiedergängern oder anderen mittelalterlichen Totengeistern. Der Zusammenhang dieser mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichten und mündlichen Überlieferungen mit der Scheintodangst am Ende des 18. Jahrhunderts besteht darin, dass Mediziner wie Bruhier und Hufeland die mittelalterlichen Themen List, Täuschung und Irrtum als Narrative einsetzten, um auf das neu entstandene Problem des Lebendigbegrabenwerdens aufmerksam zu machen. Ein weiterer, aus dem Mittelalter stammender Kontext des Lebendigbegrabenwerdens, der in den Kasuistiken der Aufklärung und damit in den Analysen der Erzählforschung gar nicht auftaucht, ist das Lebendigbegrabenwerden als Strafe. Lebendig begraben zu werden war nämlich eine seit dem Frühmittelalter bekannte Todesstrafe, die seit dem Spätmittelalter neben dem Ertränken die typische Hinrichtungsform für Frauen war. Sie wurde insbesondere bei Kindsmord vollstreckt.46 Der Motiv- und Narrativkatalog der Historischen Erzählforschung soll in diesem Abschnitt der Arbeit deshalb noch unter einem anderen Aspekt betrachtet werden. Die weiterführende Beobachtung besteht darin, dass der Eintrag »Scheintod« in der Enzyklopädie des Märchens auf den Kasuistiken Bruhiers, Hufelands und anderer beruht.47 Damit belegt die Historische Erzählforschung ihr Schema anhand von Quellen, für die die als Scheintodmotive identifizierten Handlungstypen überhaupt erst zusammengetragen wurden. Die historische Erzählforschung hat einfach Bruhiers oder Hufelands Kasuistiken als Märchen- und Sagensammlungen oder als Relikte vormoderner Erzählungen betrachtet und die Narra-
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»Lebendig begraben«, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin: Schmidt 19711998, 5 Bde., Bd. 2, Sp. 1652-1657. Dabei taucht »Lebendigbegrabenwerden« als Strafe oder Selbstbestrafung auch in der Literatur auf, so in dem historischen Roman »Die Belagerung von Florenz« von Francesco Domenico Guerrazzi aus dem Jahr 1836. Schauplatz des Romans ist das Florenz des 16. Jahrhunderts, das sich gegen die Übergriffe Karls V. und Papst Clemens VII. zur Wehr setzt und seine Freiheit zu verteidigen sucht. Florenz wird jedoch wieder der Macht der Medici ausgeliefert, woraufhin der Wahrsager Pieruccio, einer der Protagonisten der Handlung, sich lebendig begraben lässt, weil er den Verlust der Freiheit nicht hinnehmen will. Vgl. »Francesco Domenico Guerrazzi«, in: Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 7, S. 27-30, S. 28. In August Graf von Platens Komödie »Der romantische Ödipus« (1829) lässt sich Ödipus lebendig begraben um seine Schuld, den Mord am Vater, zu sühnen. Vgl. »August Graf von Platen«, in: Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 13, S. 354-361, S. 358-359. »Scheintod«, in: EM, Bd. 11, Sp. 1324-1331.
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tive kategorisiert. Das heißt also, dass die Geschichten über lebendig begrabene Menschen, die aus der Zeit vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammen, ihre Bezeichnung als Scheintodgeschichten von den Literaturwissenschaftlern, Volkskundlern und Germanisten des 19. und 20. Jahrhunderts erhalten haben. So stammen die von den Volkskundlern und Erzählforschern identifizierten Motive, die die Ärzte der Aufklärung verwendeten und die von Bruhier und anderen eigens in den Zusammenhang des Scheintodes gestellt wurden, eigentlich aus anderen Zusammenhängen. Indem die historischen Erzählforscher die politische Motivation der Ärzte nicht beachtete und deren Instanz als Autoren übergingen, haben sie die Kategorie Scheintod einfach rückprojiziert. Historisch betrachtet ist die Kategorisierung der historischen Erzählforschung damit etwas ungenau. Das Dekameron des italienischen Dichters Giovanni Boccaccio beispielsweise entstand zwischen 1348 und 1353 und versammelt 100 Begebenheiten, in denen sieben Frauen und drei Männer ihre Erlebnisse auf einem toskanischen Landgut in einem Zeitraum von zehn Tagen erzählen. Das Buch spielt zur Zeit der großen Pest des Jahres 1348. Zentrales Thema und roter Faden der Sammlung waren Fragen der Liebesmoral. Sie waren dem Ideal der mittelalterlichen Minne verhaftet und zielten auf die Werbung für tugendhaftes Verhalten zwischen den Geschlechtern.48 Die zehn Tage, an denen Boccaccios Erzählungen spielen, folgen jeweils einem Motto. Die Geschichte eines Abts, der die Frau eines Bauern verführt, steht unter der Überschrift Streiche, »welche tagtäglich eine Frau dem Manne oder der Mann der Frau oder auch ein Mann dem anderen spielt«.49 Die Frau, die (beinahe) im Grab ein Kind gebiert, steht in Zusammenhang mit »Menschen […] die in Liebesangelegenheiten oder anderen Dingen Großmut oder Edelsinn bewiesen haben«.50 Am vierten Tag, an dem der Schlaftrunk dem Liebhaber beinahe zum Verhängnis wird, werden Schicksale verhandelt, »deren Liebe ein unglückliches Ende nahm«.51 Während Bruhier in seiner Kasuistik eine Episode aus Boccaccios Dekameron aufführte, um auf die Möglichkeit des Scheintodes durch Vergiftung hinzuweisen, verwendete Boccaccio dieses Motiv, um die triebhafte Liebe, quasi das Gegenmodell zur hohen Minne, zu kritisieren. So vergiftet in der achten Geschichte des dritten Tages ein lüsterner Abt einen Ehemann, um dessen Frau zu gewinnen und versetzt 48 49 50 51
Vgl. »Il Decamerone«, in: Kindlers neues Literatur-Lexikon, hg. v. Walter Jens, 22 Bde., München: Kindler 1988-1998, Bd. 2, S. 824-827. Giovanni Boccaccio: Das Dekameron, München: Winkler 1966, S. 589. Ebd., S. 745. Ebd., S. 301. 117
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ihn in einen tiefen Schlaf. Ferondo, der gehörnte Ehemann, wird für tot erklärt und begraben. Der Abt entführt Ferondo aus seinem Grab und gaukelt ihm vor, er befinde sich im Fegefeuer. Dort wird ihm das Versprechen abgenommen, nie wieder die Tugendhaftigkeit seiner Frau zu bezweifeln, wodurch Ferondo in der Folge sein scheinbar verlorenes Leben zurückerhält. Der Abt und Ferondos Frau können sich nun ungehindert vergnügen.52 Diese Episode aus Boccaccios Dekameron beinhaltet ein altes Fabel- und Märchenmotiv, mit dem sexuelles Verlangen kritisiert wurde und verbotene Liebschaften bloßgestellt wurden. Bei Boccaccio zielte die Pointe der Geschichte nicht auf die Rettung des irdischen Lebens ab, sondern auf die Kritik an sexuellen Ausschweifungen und verbotenen erotischen Verbindungen. Bruhier kontextualisierte diese Geschichten neu. Ein weiteres Handlungsmotiv thematisiert weibliche Tugend: Die wehrlose Frau wird ausgenutzt, um sich ihrer zu bemächtigen. Dazu verliebt sich in der vierten Geschichte des zehnten Tages ein junger Ritter in eine verheiratete Edeldame, die ihn in ihrer Position als treue Ehefrau und zudem werdende Mutter abweist. Kurze Zeit später stirbt sie unerwartet, ist hochschwanger, und wird beerdigt. Der Ritter eilt an ihr Grab, um sie noch einmal zu sehen. Als er ihre Brust berührt, merkt er, dass das Herz noch schlägt und seine Angebetete lebt. Der Ritter bringt sie zu sich nach Haus, wo sie zu sich kommt und von ihrer Krankheit genest. Der Ritter muss ihr bei seiner Liebe und seiner Ehre versprechen, dass »ihr in seinem Haus nichts widerführe, was die Ehre ihres Gatten oder ihre eigene Ehre beeinträchtigen könne«.53 Im Haus des Ritters, unter der Obhut seiner Mutter, entbindet die edle Dame ein Kind. Der edle Ritter gibt dem Ehemann seine Frau und seinen neugeborenen Sohn zurück und wird auf ewig ein Freund der Familie. In der zehnten Geschichte des vierten Tages wird ein Tod inszeniert, um zwei Diebe zu überführen.54 In der Vorgeschichte dazu trinkt der Liebhaber einer jungen Frau, die ihren Ehemann, einen alternden Arzt, betrügt, versehentlich von einem Schlafmittel im Hause des Arztes, das er für Trinkwasser hält.55 Zu diesem Zwischenfall kommt es, weil die 52 53 54 55
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Vgl. ebd., S. 271-300. Ebd., S. 766. Vgl. ebd., S. 374-384. Zum Vergleich wird in Goethes Singspiel »Scherz, List und Rache« aus dem Jahr 1790 das Motiv Scheintod durch Vergiftung umgekehrt und weist auf eine neue Pointensetzung im Handlungsablauf hin. Dort setzt sich die Protagonistin erfolgreich gegen ihr Schicksal zur Wehr und stellt Gerechtigkeit selbst her. Scapine, die Heldin des Stücks, soll von einem habgierigen Doktor umgebracht werden, der sie um ihre Erbschaft bringen will. Scapine erkennt jedoch seine Absichten und tauscht das
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beiden die Gelegenheit nutzen, dass der Arzt über Nacht bei einem Patienten bleiben muss und außer Haus ist. Die untreue Ehefrau wähnt ihren Geliebten tot, weiht die Magd in das Missgeschick ein und überlegt mit ihr, wie man den Toten aus dem Haus schaffen kann. Sie fassen den Plan, ihn wie ein Mordopfer aussehen zu lassen. Gemeinsam legen sie ihn in einen Schrank und stellen diesen neben das Haus. Daraufhin stehlen zwei Diebe den Schrank, ohne zu merken, dass sich ein menschlicher Körper darin befindet. Der vermeintlich tote Liebhaber wacht auf, tappt umher und wird seinerseits für einen Dieb gehalten. Er wird verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Frau, voll des Mitleids für ihren unschuldigen Liebhaber, fasst jedoch einen neuen Plan, um ihn zu retten. Sie weist ihre Magd an, vor dem Richter auszusagen, dass sie den Mann vor ihrer Herrschaft habe verstecken wollen und in den Schrank gelegt habe. Der Mann habe nichts verbrochen, das Vergehen bestünde darin, dass zwei Diebe den Schrank gestohlen hätten. Der Richter glaubt ihr, die Diebe werden wegen des Diebstahls verurteilt und der schläfrige Liebhaber wird vor dem Galgen gerettet. Die untreue Ehefrau und ihr Geliebter können ihre Affäre ungehindert fortsetzen. Dieser mittelalterliche Handlungskontext von List, Verführung und Täuschung war noch in die Argumentation der oben beschriebenen Professionalisierungsdebatte zwischen Jean-Jacques Bruhier und seinem Kollegen Antoine Louis präsent. Die beiden Ärzte hatten sich auf der Grundlage der von Bruhier vorgestellten Fälle gestritten, ob es Techniken gäbe, mit denen eindeutig zwischen Tod und Scheintod unterschieden werden könnte. Während Bruhier anhand der zahlreichen Einzelfälle belegen wollte, dass die Unterscheidung zwischen Tod und Scheintod oftmals schwierig war, widersprach Louis auf der Grundlage der gleichen Fälle, dass für akademisch ausgebildete Ärzte, denen adäquate Techniken an die Hand gegeben würden, die Feststellung des Todes unproblematisch sei. Louis kritisierte seinen Kollegen anhand der Geschichte eines jungen adeligen Mönchs, der in einem schwachen Moment die in Ohnmacht gefallene und tot gehaltene Wirtstochter geschwängert hatte: Es handelte sich also um einen Handlungstypus, der in ähnlicher Weise schon in Boccacchios Dekameron aufgetaucht war. Antoine Louis zog jedoch ganz andere Schlüsse aus dieser Geschichte als Bruhier. Während Bruhier den Fall als eine zufällig geglückte Rettung schilderte, glaubte Louis, die beiden Liebenden hätten sich den Scheintod nur ausgedacht, damit der junge Mann ungestraft die Nacht
Gift gegen ein harmloses Mittel aus. Sie spielt die Vergiftete und überführt den Betrüger. Vgl. »Goethe«, in: Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 6, S. 429-540, S. 504-505. 119
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mit dem Mädchen verbringen konnte und also die verbotene sexuelle Handlung vertuschen wollte.56 Der adelige Mönch hatte auf einer Reise Halt an einem Gasthof gemacht und sollte über Nacht die scheintote Schönheit, die Tochter des Hauses, bewachen. Als er entdeckte, wie schön sie war, konnte er nicht an sich halten und nahm »mit der vermeynten todten Person eben diejenige Freyheit, welche nur die Trauung bey Lebzeiten hätte gültig machen können«.57 Der junge Mönch reiste noch vor der Beerdigung schlechten Gewissens ob seiner Tat wieder ab. Deshalb erfuhr er nicht, dass die Wirtstochter auf ihrem Totenbett wieder erwachte. Nachdem sie ihr Kind gebar, wurde sie von ihren Eltern in ein Damenstift gesteckt. Den jungen Adeligen, der in der Zwischenzeit aus dem Kloster ausgetreten war und das Erbe seines Vaters angetreten hatte, führte sein Weg später nochmals zu dem Wirtshaus und er erfuhr von dem Schicksal der Tochter. Er hielt um ihre Hand an, heiratete sie und stellte so seine Ehre und ihre Tugend wieder her. Die historische Erzählforschung hat diesen Handlungstypus »Die scheintote Geliebte« genannt. Er überschneidet sich mit der Kategorie »Grabwunder«.58 Die Geliebte erwacht jeweils dadurch, dass der Liebhaber an das Grab zurückkehrt und sie, obwohl mit einem anderen Mann verheiratet, zurückgewinnen will. Auch die Erzählung über die Frau, die bei der Graböffnung in einem weißen Kleid aufrecht sitzend in ihrem Sarg vorgefunden wird, gehört zu diesem Typus. Beckers volksaufklärerisches Noth- und Hülfsbüchlein, das schon im ersten Kapitel angeführt wurde, enthält eine solche Geschichte. Die Gruft, in der sich das Grab der Frau befand, wurde für die Beisetzung ihres Ehemanns Jahre später wieder geöffnet und die Hinterbliebenen mussten erkennen, dass die Frau gar nicht tot gewesen sein konnte.59 Dass die Bedeutung der Motive sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert wandelte und eine genauere Analyse des Motivs »Geburt im Grab« beispielsweise im Kontext mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Vorstellungen über Krankheit, Tod und Magie aufschlussreich wäre, 56 57
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Vgl. Louis: »Briefe über die Gewißheit der Todeszeichen«, S. 655. Louis: »Briefe über die Gewißheit der Todeszeichen« [1. Brief], S. 653. Louis gibt Bruhier: Dissertation sur l’Incertitude, S. 74-79, wörtlich wieder. Vgl. auch Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main/New York: Campus 1992, S. 13-15. Laqueur interpretiert diesen Fall im Kontext der sich herausbildenden bipolaren Geschlechtscharaktere und den divergierenden Vorstellungen über männliche und weibliche Sexualität. Vgl. »Grab, Grabwunder«, in: EM, Bd. 6, Sp. 56. Becker: Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute, S. 6.
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zeigt auch das Bänkellied, das unter dem Titel »Der Scheintod« Eingang in die Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn von 1806 fand.60 Der Dichter Achim von Arnim nahm in diese Sammlung einen mündlich überlieferten Text namens »Die wahrhafte Wunder-Geschichte von einer Frau in Zürich im Schweizerlande, welche im Januar 1792. mit schwangern Leibe gestorben, im Grabe das Kind gebohren, und nach neun Tagen wieder lebendig herausgekommen ist« auf. Es handelte sich dabei um ein Flugblatt, das er von einer Reise in die Schweiz mitgebracht hatte.61 In dem Original wurde die Geschichte einer Frau erzählt, die kurz vor der Entbindung starb, begraben wurde und – wie sich im Verlauf des Liedes herausstellt – in ihrem Grab ein Kind bekam. Die schon älteren Geschwister, die ihre Mutter täglich auf dem Friedhof besuchten, hörten eines Tages die Stimme der Mutter, die ihrem Baby ein Lied sang. Daraufhin wurde das Grab geöffnet, Mutter und Kind konnten gerettet und ihnen zu Ehren ein großes Festmahl gefeiert werden. Bezeichnenderweise endet die Geschichte der schweizerischen Vorlage nicht mit einer glücklichen Rettung. In dem Original war es der »allmächtige Gott«, der »Wunder« mit der sterbenden Frau »treiben« wollte und sie durch einen »zeitigen Tod« bald zu sich nahm.62 Weiterhin war es ein Junge, der die Frau entdeckt, ihr dreimal am Tag Speisen bringt, damit sie ihren neugeborenen Sohn versorgen kann und ihr mitteilt, dass sie nach neun Tagen aus ihrem Grab befreit würde. Die wunderbare Entdeckung der Frau durch den Jungen, so erzählt das Lied, erfolgte zu dem Zweck, die Menschen vor Unglück und Leid zu warnen. Denn die Frau sah eine Pestepidemie herannahen und sagte ein »erschreckliches Morden, groß Krieg« voraus.63 Sie lebte noch drei Jahre, um ihre Kunde zu verbreiten und die Menschen zu Umkehr und Buße aufzurufen. Unter dem Titel »Der Scheintod« erschien damit die 60
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Vgl. »Der Scheintod«, in: Des Knaben Wunderhorn, S. 312-315 und S. 548-554. Den Eintrag »Sarggeburt« verzeichnet demgegenüber ein Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke und verweist so auf eine andere Seite des Verwissenschaftlichungsprozesses: den Eingang vorwissenschaftlichen Wissens in wissenschaftlich-medizinisches Wissen. Der Begriff »Sarggeburt« meint die »Geburt des Kindes nach dem Tode der Mutter, durch die Leichenstarre des Uterus oder durch den Druck der Fäulnisgase im Leib«. Vgl. Klinisches Wörterbuch. Die Kunstausdrücke der Medizin, erläutert v. Otto Dornblüth, Berlin/Leipzig: de Gruyter 12 1926, S. 366. Bei diesem Kompendium handelt es sich um den Vorläufer des medizinischen Wörterbuchs, geläufig unter dem Namen seines Herausgebers, Pschyrembel. Vgl. ebd., S. 548. Ebd., S. 549. Ebd., S. 551. 121
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Geschichte einer Seherin, die Pest und Unheil ankündigte. In Achim von Arnims Bearbeitung jedoch fielen die Passagen, in denen die Frau Pest und Krieg prophezeit, weg. Dort endet das Lied damit, dass der Frau, um sich für die Rettung erkenntlich zu zeigen, von Gott aufgetragen wird, die Menschen allgemein zur Bekehrung aufzurufen und sie auf den herannahenden Jüngsten Tag hinzuweisen.64 Weshalb also wurde die Angst vor dem Scheintod mit Motiven wie Rettung der Geliebten, Instrumentalisierung eines Todes und Irrtum kolportiert, andere Verwendungskontexte des Lebendigbegrabenwerdens jedoch ausgeblendet? Bei den zahlreichen Motiven, die die historische Erzählforschung zusammengetragen hat, geht es immer um die Möglichkeit eines Irrtums und die Bandbreite der Vorfälle, unter denen Menschen fälschlicherweise für tot gehalten werden können. Auf dieser Grundlage stellten Bruhier und seine Gewährsmänner in der Medizin ihre Kasuistiken zusammen. Die zahlreichen Verwendungskontexte, aus denen diese Geschichten eigentlich stammten, wurden von Bruhier in seinem Anliegen, die Bestattungsmodalitäten zu ändern, ausgeblendet. Das Argument, dass Bruhier in seinem Buch ein neues Verständnis des Todes transportierte, wird durch einen weiteren Befund unterstützt. Autoren wie Jan Bondeson oder Martina Kessel setzen den Beginn der Scheintoddebatte während der großen Pestepidemien seit dem 14. Jahrhundert an. Die Pest diente als realhistorisches Argument, mit dem die Debatte über die Unsicherheit von Todeszeichen einsetzte. Bei einem Massensterben liege es auf der Hand, dass noch Lebende irrtümlich für tot erklärt werden könnten. In diesem Zeitraum, so Kessel, tauchten die ersten Geschichten über lebendig Begrabene auf.65 Bondeson begründet seinen Zeitschnitt mit einem archäologischen Fund nahe Marseille, der bei der Öffnung eines Massengrabes der Pest Anfang des 18. Jahrhunderts zutage getreten war. Forscher hatten einen im Fußknochen steckenden Nagel entdeckt. Da bei unklaren Todesursachen oftmals mit einem spitzen Gegenstand geprüft wurde, ob die Person noch lebte, interpretiert Bondeson diesen archäologischen Fund als frühesten historischen Beweis.66 Das Massensterben zu Pestzeiten habe die Zeitgenossen zuerst dafür sensibilisiert, dass die Zeichen des Todes unsicher sein könnten. Diese Einschätzung stützt sich jedoch auf Belege, die die zeitgenössischen Naturforscher zusammengetragen haben und die die Historiker als Quelle einfach übernommen haben. Bereits 1707 habe, so 64 65 66 122
Vgl. ebd., S. 315. Vgl. Bondeson: Buried Alive, S. 32; Kessel: »Die Angst vor dem Scheintod im 18. Jahrhundert«, S. 127. Vgl. Bondeson: Buried Alive, S. 32.
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Bondeson und Patak, der päpstliche Leibarzt und Anatom Giovanni Maria Lancisi (1654-1720) in seinem De subitaneis mortibus (Über den plötzlichen Tod) und noch früher, im 17. Jahrhundert, hatte der Rechtsmediziner Paolo Zacchia (1584-1659) in der Quastionum medicolegalium darauf hingewiesen, dass während der Pest Menschen oftmals noch lebend begraben wurden.67 Das siebenbändige Werk, Quaestiones medico-legales, erschien zwischen 1621 und 1635 und gilt als erste umfassende wissenschaftliche Grundlegung der Gerichtsmedizin. Lancisis Werk griff wissenschaftlich allerdings bereits auf die Descartes’sche Unterscheidung von res cogitans und res extensa zurück und stellt einen Beitrag zur Erforschung des neu entstandenen Lebensproblems dar. Lancisi unternahm diesbezüglich Studien zum Blutkreislauf und beschrieb den Herztod, also den plötzlichen Tod durch Herzstillstand. Diese beiden Werke hatten in der breiteren Öffentlichkeit keinen Widerhall gefunden. Sie tauchen jedoch bei Winslow und Bruhier als Autoritäten auf, derer sich beide bedienten, um ihre eigenen Fälle zu belegen. Paolo Zacchia kontextualisierte den Zusammenhang zwischen Pest und vorzeitiger Bestattung als Frage der Gerichtsmedizin und schlug vor, dass in solchen Fällen die Verwesung abgewartet oder die Nagelprobe gemacht werden müsse. Diesen pragmatischen Hinweis übernahm Bruhier in seiner Dissertation. Andere Techniken zur effizienten Feststellung des Todes entnahm Bruhier dem Werk De subitaneis mortibus. Vor diesem Hintergrund sind die Hinweise von Zacchia oder Lancisi auf die Pest nicht einfach als Vorläufer oder erste Hinweise auf die Debatte des 18. Jahrhunderts zu verstehen. So wies der Rezensent im Journal des Sçavants, der die Erscheinung der Dissertation im März 1743 ankündigte, erleichtert darauf hin, dass, obwohl niemand die unausweichliche Notwendigkeit des Todes ignorieren könne, die Menschen sich glücklich schätzten, nicht mehr von der Pest, den Röteln oder anderen Seuchen heimgesucht zu werden.68 Dort tauchten Epidemien als besonders problematische Zeiten für die Gefahr des Scheintodes gar nicht auf. Abschließend sei deshalb eine »echte« Scheintodgeschichte angeführt, in der das Framing und die literarische Umformung besonders eindrücklich gelungen sind: Es handelt sich um eine Novelle des amerikanischen Schriftstellers Edgar Allan Poe. In diesem Text namens »The Premature Burial« beschreibt er aus der Perspektive eines einzelnen Menschen, wie dieser sich damit konfrontiert sieht, sein irdisches Leben, 67 68
Vgl. Bondeson: Buried Alive, S. 53-54; Patak: Die Angst vor dem Scheintod in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 30-31. Vgl. »Dissertation sur l’Incertitude […]«, in: Journal des Sçavants 131 (1743), S. 377. 123
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langsam, qualvoll und in vollem Bewusstsein zu verlieren. Der Bruch zu Boccaccio oder anderen tut sich dadurch auf, dass eben nicht mittelalterliche oder tradierte Pointen des Irrtums oder der Täuschung verwendet werden, sondern Poe ganz bewusst das Grauen eines Menschen schildert, das auch jeder andere moderne, die Erschütterung der heilsgeschichtliche Erwartung reflektierende, Mensch in dieser Situation haben könnte. Poe muss mit den medizinischen Kasuistiken der Aufklärung vertraut gewesen sein, denn seine Novelle weist den gleichen Aufbau auf wie die Kasuistiken der medizinischen Aufklärer. In seinem Text verwendet Poe mehrere Fallgeschichten, verlegt jedoch die Geschehnisse in die amerikanische Ostküstenstadt Baltimore – in deren Nähe Poe lebte – die Betroffenen sind Amerikaner und die Geschehnisse werden zeitlich in das 19. Jahrhundert verlegt. Wie die zahlreichen warnenden Aufrufe in den moralischen Wochenschriften eröffnet auch Poe seine Erzählung mit den Worten, dass die Gefahr, lebendig begraben zu werden, »ohne Zweifel die entsetzlichste jener äußersten Möglichkeiten« sei, »die jemals Sterblichen widerfahren sind«.69 Christoph Wilhelm Hufeland hatte in diesem Zusammenhang von »dem schrecklichsten aller Schrecken, dem lebendigen Begräbnisse« gesprochen, um seine Kasuistik einzuleiten.70 Auch bei Poe war es die Ehefrau eines wohlhabenden Bürgers, die plötzlich schwer erkrankte, starb und bestattet wurde. Als sie nach mehreren Jahren umgebettet werden sollte und das Grab geöffnet wurde, »fiel ein weißgewandetes Etwas rasselnd« in die Arme des Ehemanns: »Es war das Skelett seines Weibes in dem noch unvermoderten Leichentuch.«71 Es hätte auch die »gnädige Frau von Mildheim« aus Beckers Noth- und Hülfsbüchlein sein können. Poe führt die Beispiele der wohlhabenden Frau, dann der unglücklichen Geliebten, die von ihrem zurückkehrenden Liebhaber erweckt wird und des Mannes, der auf dem Seziertisch zu sich kam, auf. Die besondere Wendung von »The Premature Burial« besteht in der Übertragung dieser Fälle auf die eigene Situation. Denn der Protagonist glaubt selbst in der Situation zu sein, lebendig begraben zu werden und beschreibt diesen Zustand wie folgt: »Der unerträgliche Druck auf die Lungen, die erstickenden Dünste der modrigen Erde, das Beklemmende der Totenkleider, die harte Enge des schmalen Hauses, die Schwärze der vollkommenen Nacht, die Stille, die 69 70 71 124
Edgar Allan Poe: »Vorzeitiges Begräbnis (1844)«, in: ders.: Erzählungen, München: Winkler 1971, S. 414-431, S. 414. Hufeland: »Die Ungewißheit des Todes«, S. 290. Poe: »Vorzeitiges Begräbnis«, S. 416.
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einem alles überflutenden Meer gleicht, die unsichtbare, doch fühlbare Nähe des Eroberers Wurm, all dies und die Gedanken an die Luft und das Gras da droben.«72
Das Identifikationspotential für den modernen Menschen besteht in der zugrundeliegenden Anthropologie selbst. Denn es handelt sich bei dem Protagonisten der Erzählung um einen Menschen, der über einen den Körper steuernden Geist verfügt und für den die Grenze zwischen Leben und Tod nicht von Präsenz oder Absenz einer Seele bestimmt wird, sondern ebenso die Verzerrung zwischen Realität und gestörtem Bewusstsein sein könnte. So leidet der Ich-Erzähler in Poes Geschichte nämlich unter »einer eigentümlichen Störung«, die »Katalepsie« genannt wird.73 Dabei verharrte nach Poes Auskunft der Patient in einer bestimmten, oft unbequemen Körperhaltung, die wie eine Art Starre aussah. Poe beschreibt diesen Zustand als den eines Menschen, der in seinem Körper gefangen, dessen Geist aber dennoch aufnahme- und wahrnehmungsfähig ist. Genau wie Ohnmachten, Unfälle oder Komata konnte laut Poe dieser »kataleptische« Zustand »wochen-, ja, monatelang [andauern], und selbst die […] die sorgfältigste ärztliche Prüfung ist nicht imstande, einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Zustand des Leidenden und dem, was wir vollkommenen Tod nennen, anzugeben«.74 In Poes Novelle bleibt es unklar, ob es sich um die Grenze zwischen Leben und Tod oder Realität und getrübtem Bewusstsein handelt. In diesem Zustand macht der im doppelten Sinne Eingeschlossene eine Todeserfahrung, die den Tod als eines kompletten Nichts vor Augen hat: »Ich fühlte mich übel, wurde starr und kalt, mir schwindelte, und auf einmal fiel ich der Länge nach zu Boden. Dann war wochenlang alles leer, schwarz und schweigend, das Weltall wurde zum Nichts. Vollständige Auflösung konnte nicht anders sein.«75
Sterbesonderfälle und die Feststellung des Todes. Alte Todeszeichen, neue Erklärungsmuster Die Fälle, die der Übersetzer und Enzyklopädist Johann Georg Krünitz im Visier hatte und von denen er berichtete, dass sie dann und wann vorkamen, wurden von ihm als letztlich leicht erklärbar beschrieben. Es handelte sich bei diesen Fällen um Personen, bei denen die Zeichen des 72 73 74 75
Ebd., S. 421. Ebd., S. 422. Ebd. Ebd. 125
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Todes missdeutet worden oder deren Todesursache unklar geblieben waren. Bei ihnen war aber noch kein »vollständiger Tod befördert« worden.76 Beispielsweise widerfuhr es »gehangenen Personen«, so Krünitz, zuweilen, dass sie »nicht bis soweit, daß der Tod erfolget, zugeschnüret worden«.77 Auch Einzelfälle waren Krünitz bekannt. Betroffen war der Scholastiker John Duns Scotus (1264-1308), der in »eine langwierige Ohnmacht« gefallen war, »für todt gehalten« und »lebendig begraben« wurde.78 Es gerieten eine Reihe von Krankheiten und anderen Erscheinungsformen des Körpers in den Blick der Ärzte: »Heftiger Affect«, »hitzige Fieber, besonders bösartige«, »Schlagfluss und Schlaffsucht«, »Krämpfe und Zuckungen«, »Blutflüsse und Ohnmachten« und »Erstickung«.79 Außerdem gehörten zu dem Personenkreis, die zu früh dem Grab überantwortet werden oder bei denen der Tod nicht eindeutig festgestellt werden konnte: Ertrunkene, Erfrorene – also die Gruppe der Unglücksfälle – Selbstmörder, Ohnmächtige, Epileptiker sowie Neugeborene. Die Gruppe der von diesem Zustand betroffenen Personen umfasste eine Reihe von medizinischen Zuständen, aber auch juristischen Sachverhalten. Gemeinsames Merkmal dieser heterogenen Personen- und Zustandsgruppe bestand zum Ersten darin, dass der vermeintliche Eintritt des Todes nicht von Angehörigen, Nachbarn oder anderen Zeugen überprüft werden konnte. Dadurch standen sie, wenn auch nur kurzzeitig, außerhalb der sozialen Ordnung. Dazu zählten auch »Personen, die durch Gram und Kummer, durch langwierige Nervenkrankheiten, […] geschwächt werden« und »das weibliche Geschlecht«, das »die meisten und interessantesten Fälle dieser Art« lieferte.80 Zum Zweiten war die Frage der Ursächlichkeit oder Kausalität des Todes schwierig zu klären. Dies traf insbesondere auf die Unglücksfälle und die Todesfälle durch Gewalteinwirkung zu. Der Scheintod wurde damit nicht rein medizinisch, also über die Zuordnung von Krankheiten, sondern auch mithilfe von juristischen Sachverhalten konstruiert. Die Wissenschaft schuf sich ihre Untersuchungsobjekte über Ambivalenz, welche in Eindeutigkeit überführt werden sollte, und nahm sich derjenigen an, die zeitweilig außerhalb der sozialen Ordnung standen 76 77 78 79
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Villeneuve: »Sendschreiben von einem neugbohrn, für todt gehaltenen […] Kinde«, S. 314. Ebd., S. 313. Vgl. Milanesi: Mort Apparente, Mort Imparfaite, S. 16. »Ueber die frühe Beerdigung der Todten und über die Ungewißheit der Kennzeichen des wahren und falschen Todes«, in: Almanach für Ärzte und Nichtärzte 21 (1790), S. 177-215, passim. Vgl. auch Joseph Lieutaud: Inbegriff der ganzen medicinischen Praxis, Frankenthal: Verlag einer typographischen Gesellschaft 1785, Bd. 2, S. 294-295. Hufeland: »Die Ungewißheit des Todes«, S. 305 und S. 306.
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und kontrolliert werden mussten. Bei der Konstruktion dieser Problemgruppe griff die Wissenschaft nicht nur auf juristische Kategorien, sondern auch auf lebensweltliche Vorläufer zurück. Bereits in Kirchenordnungen aus dem 16. Jahrhundert oder in Mirakelbüchern gerieten ambivalente und uneindeutige Todesursachen in den Blick der Zeitgenossen. Die Todesfälle, bei denen der Verbleib der Lebensgeister ungeklärt oder schwierig festzustellen war, wurden seit dem 16. Jahrhundert häufig in sogenannten Mirakelbüchern dokumentiert. Dabei handelte es sich um Sammlungen von Wunderberichten, die angelegt wurden, um vermeintliche Wunder zu verifizieren oder zu falsifizieren. In diesen Texten ging es um wundersame Wiedererweckungen und die Dokumentation von Heilungen. Seit dem Konzil von Trient (1545-1563) war die Führung dieser Bücher vorgeschrieben, um Zeugen, die den Vorfällen beigewohnt hatten, angegeben zu können. Auch diese Gruppe der Sonderfälle umfasste Personen, bei denen durch Unfälle, epileptische Anfälle oder Schlaganfall nicht eindeutig zwischen Leben und Tod unterschieden werden konnte. Dass vorgeschrieben wurde, den Leichnam länger aufzubahren, um eine »onmecht auszuschließen«81 oder dass sich die Sorge auf Fälle richtete, wie bei »dem achtjährigen Knaben, der in das Rad einer Wassermühle gefallen war«82 und der sogenannten Fallsucht (= Epilepsie), verdeutlicht, dass ambivalente Zustände auch vor dem 18. Jahrhundert besondere Beachtung fanden. Die Anwesenden bemühten sich dann, die Verunglückten zurück ins Leben zu holen. Sie bewegten und schüttelten sie, flößten ihnen Bier ein oder wärmten den Körper.83 Die Entscheidung, ob ein Körper lebendig oder tot war, trafen im Mittelalter selten die Ärzte. Der Historiker Daniel Schäfer schließt sich dem Urteil des amerikanischen Historikers Martin Pernick an, dass »for most of Western history, the actual diagnosis of death was primarily a non-medical function«.84 Ärzte waren höchstens für die Prognose des Todes, das heißt für die Überwachung des Krankheitsverlaufs bis zum
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Van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, S. 217. Christian Krötzl: »Evidentissima signa mortis. Zu Tod und Todesfeststellung in mittelalterlichen Mirakelberichten«, in: Gertrud Blaschitz (Hg.): Symbole des Alltags. Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1992, S. 765-775, S. 769. Ebd., S. 768 f. Martin S. Pernick: »Back from the Grave: Recurring Controversies over Defining and Diagnosing Death in History«, in: Richard M. Zaner: Death. Beyond Whole-Brain Criteria, Dordrecht: Kluwer 1988, S. 15-74, S. 20. 127
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Einsetzen des Sterbens, verantwortlich.85 Danach überließen sie den Führungsstab dem Geistlichen, dem »Arzt der Seele«.86 Auch in medizinischen Lehrtexten war die Feststellung des Todes kein zentrales Thema. Die Zuordnung der Medizin zur Heilung von Krankheiten und die des Priesters zum Tod hingen mit der Sorge um das Seelenheil zusammen. Zentral für den mittelalterlichen Umgang mit Tod war die richtige Vorbereitung auf den Tod, literarisch geronnen in den Büchern über die ars moriendi, das Ablegen der Beichte und der Empfang der Sterbesakramente. All diese Handlungen fielen in den Aufgabenbereich des Priesters, der den Sterbenden mit den Angehörigen zu dem Moment begleitete, in dem die Seele den Körper verließ. Schäfer weist zudem darauf hin, dass dem Arzt am Sterbebett Habgier unterstellt werden konnte, weil er bezahlt werden musste.87 Der Leib als quasi Organ der Seele war der Bezugspunkt, über den Leben und Tod abgelesen werden mussten. Also machten körperliche Zeichen Aussagen über die Präsenz und die Abwesenheit des Lebens. Es galt zu prüfen, ob die Seele noch im Körper vorhanden war oder nicht. Im Zweifelsfall konnte es deshalb geschehen, dass, auch wenn die Leiche sich noch bewegte, aber angenommen wurde, dass die Seele den Körper bereits verlassen hatte, der Körper für tot gehalten wurde.88 Wichtigste physiologische Indikatoren für die Präsenz des Lebens waren dabei der Herzschlag und der Atem, weil das Herz der Sitz des Lebens war. Es wurde als das erste lebende Organ eines menschlichen (embryonalen) Körpers betrachtet und das als das letzte, das starb. Das Vorhandensein des Herzschlags entschied über Leben und Tod.89 Das Blut galt als Träger der Seele, welche vermittelt durch die spiritus ihre körperliche Wirkung zeitigte. Alles Lebende besaß eine eingeborene Wärme, die ihren Sitz im Herzen hatte und sich durch die spiritus im Leib ausbreiten. Sie wurden sich als eine äußerst feine Materie vorgestellt, die zum größten Teil in den Arterien flossen. Daneben erzeugte die Leber aus der Nahrung einen dampfartigen spiritus naturalis. Er wandelte sich im Herzen zum luftartigen spiritus vitalis und im Gehirn zum ätherischen spiritus animalis. Diese spiritus waren physiologische Träger und Vermittler der sogenannten Vermögen, der facultates animae. Diese Vermögen waren die Werkzeuge der Seele. Die facultates hatten wiederum 85
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Vgl. Daniel Schäfer: »Todesfeststellung im Mittelalter«, in: Thomas Schlich/Claudia Wiesemann (Hg.): Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 102-115. Zit. nach ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 107. Vgl. Pernick: »Back from the Grave«, S. 18. Vgl. ebd.
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helfende Vermögen, die die verschiedenen Körper- und Organfunktionen gewährleisteten.90 Im Tod entwichen die spiritus dem Körper. Fehlender Herz- und Pulsschlag bedeuteten also, dass die Seele den Körper verlassen hatte. Bei Thomas von Aquin endete das Leben mit dem Entzug des spiritus. Spiritus war dabei eine Bezeichnung für den menschlichen als auch den göttlichen (spiritus sanctus) Geist. Diese doppelte Bezeichnung rührte daher, dass es der Atem Gottes war, der das Leben des Menschen erweckte und erhielt. Ähnlich dem jüdischen Glauben bedeutete der fehlende Atem, dass die Seele über die Nase des Verstorbenen ausgehaucht worden war. Nach dem jüdischen Glauben hatte sich die Seele dann wieder mit dem göttlichen Geist (hebr. ruach) vereinigt. Geprüft werden konnte dieses Todeszeichen, indem Wolle oder eine Feder vor das Gesicht gehalten wurde. Dann wurde abgewartet, ob sich der Gegenstand bewegte.91 Weil sich die Bewegungen der Seele weiterhin durch Körperwärme und Bewegung des Körpers äußerten, wies die fehlende Reaktion auf Schmerz, akustische Reize und Berührungsempfindung auf den Eintritt des Todes hin. Um diese Merkmale zu überprüfen, sollte die betreffende Person beispielsweise an den Haaren gezogen oder mit einem spitzen Gegenstand gestochen werden. Weitere Kennzeichen des Lebens zeigten sich durch den fühlbaren Puls oder die Bewegung des Körpers, wenn ihm eine Schale Wasser auf die Brust gestellt wurde.92 Die Todeszeichen, die in diesen Fällen überprüft wurden, beschränkten sich nicht auf Herz- und Atemstillstand. Da davon ausgegangen wurde, dass dem Körper eine ihm angeborene Wärme innewohnte, die auf die Zirkulation der Lebensgeister hinwies, musste überprüft werden, ob und welche Körperteile bereits kalt geworden waren, oder noch Wärme aufwiesen. Weitere Todeszeichen konnten Steife und Farblosigkeit der Körperglieder sein und Schaum am Mund. Somatische Zeichen, die auf die baldige Trennung von Körper und Seele hindeuteten, bestanden in der Veränderung der Hautfarbe oder der Kontur, der Atmung oder der Schweißbildung, psychische Auffälligkeiten wie ungewöhnliches Verhalten, Unruhe oder Abwehr. Sie konzentrierten sich meist auf den Gesichtsausdruck des oder der Sterbenden. Diese den Tod prognostizierenden Zeichen wurden gesammelt, um in den Klöstern Handreichun90
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Vgl. »Einleitung«, in: René Descartes: Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des menschlichen Körpers (1648). Nach der französischen Ausgabe von 1664 übersetzt und mit einer historischen Einleitung versehen von Karl E. Rothschuh, Heidelberg: Schneider 1969, S. 17-18. Vgl. Schäfer: »Todesfeststellung im Mittelalter«, S. 103. Ebd. 129
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gen zu geben, wann mit den rituellen Sterbevorbereitungen begonnen werden sollte.93 Die Frage für die Protagonisten der Scheintoddebatte des 18. Jahrhunderts, ob und wie viel Lebenskraft noch bei scheintoten Zuständen im Körper vorhanden war, und wie über die Erscheinungsweise des Körpers Rückschlüsse auf das Vorhandensein von Leben gezogen werden konnten, blieb für sie empirisch schwierig zu beantworten. So folgte den wissenschaftlichen Erklärungsmustern die Frage nach den praktischen Handlungsanweisungen: Was sollte man also tun, wenn man sichergehen wollte, dass der betroffene Mensch tot war? Es war deshalb wichtig, Sensibilität dafür zu schaffen, dass der Mensch noch lebte und nicht aufgegeben werden durfte. Kriterien für die Unterscheidung der Grenze zwischen Leben und Tod lagen also in der Zeit und in der Verwesung des Körpers. Deshalb hatten Ärzte Merkmale entwickelt, zwischen den »trüglichen Kennzeichen des Todes sowohl, als die wahrscheinlichen und die untrüglichen« zu unterscheiden.94 Die Zuverlässigkeit der Todesfeststellung ergab sich aus der genauen Beobachtung der Körpervorgänge, die bei allen Sterbenden zunächst gleich waren: »Hier muß man von den gewöhnlichen Erscheinungen ausgehen, und die ungewöhnlichen darnach abmessen«.95 Die Ärzte am Ende des 18. Jahrhunderts verwendeten viel Aufmerksamkeit darauf, die Effekte des Todes auf den Körper zu untersuchen: Veränderungen der Körperoberfläche, das Einsetzen der Totenstarre, die Zersetzung der einzelnen Körperteile durch Verwesung. Gleichwohl bedeutete diese neue Wissenskonzeption für die empirische Feststellung des Todes keine wesentliche Neuerung. Zwar hatte sich das Erklärungsmodell zur Erstellung des Katalogs gewandelt, aber die empirischen Kriterien, derer sich die Naturforscher und Ärzte bedienten, griffen auf schon vorhandenes Wissen zurück und schlossen an die Kenntnisse des Alltags an. Der Katalog der Todeszeichen wurde lediglich als ein solcher festgelegt und festgeschrieben. Zu den sicheren Todeszeichen zählten wie schon zuvor das Aufhören des Pulses, Atemstillstand, Trübung der Hornhaut, »Mangel aller innern und äusern Sinne«, »Kälte und Steifigkeit des Körpers«, »Todtenfarbe und Todtenflecke« und die einsetzende Verwesung samt Leichen93
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Vgl. Frederick S. Paxton: »Signa Mortifera. Death and Prognostication in Early Medieval Monastic Medicine«, in: Bulletin of the History of Medicine 67 (1993), S. 631-650. Johann Erich Biester: »Einige Ideen zur Verhütung, daß Scheintodte begraben werden«, in: Neue Berlinische Monatsschrift 8 (1802), S. 63-69, S. 65. »Ueber die frühe Beerdigung«, S. 184.
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geruch.96 Unsichere Todeszeichen bestanden demgegenüber in offen stehenden Mündern und Augen, geröteten Gesichtern, warmen Körpern und biegsamen Gliedern. Größte Zuverlässigkeit darüber, dass der Tod tatsächlich eingetreten war, gewährleistete das Zusammentreffen aller sicheren Todeszeichen. Sicherheit war vor allem eine Frage der Zeit. Da die Möglichkeiten, um die sicheren Todesmerkmale zu überprüfen, begrenzt waren – nämlich der einzelnen Beobachtung unterworfen waren und durch Zeugen verifiziert wurden – konnte sich einzig sicher auf die verstreichende Zeit verlassen werden. Letztlich einigte man sich deshalb nur auf das sicherste Todesmerkmal, die Verwesung: »Die Fäulniß allein ist im Stande, uns die völlige Gewißheit zu geben, daß nun nicht allein alle Verbindung der Lebenskraft mit der Machine aufgehoben, sondern auch die Organisation selbst zerstört und die Wiederbelebung in dieser Gestalt unfähig geworden ist.«97
Solange die Todesursache keinen offensichtlichen physischen Grund hatte, keine »augenblickliche Stockung des Geblüths« oder eine zu »starke Ausdehnung der Blutgefässe«, sondern von beispielsweise »einer bloßen Vorstellung veranlasset wird«, sollte man versuchen, »dieses kleine Hindernis der Lebensbewegungen wieder aus dem Weg zu räumen«.98 Auf diese Weise würde man einen solchen Verstorbenen wieder auferwecken können. Damit richtete sich der Blick auf alle die Sonderfälle, die an unklaren Todesursachen gestorben waren. Zweifel bestand in den Fällen, in denen die Personen nicht regelgerecht verschieden waren und bei denen sich zur Verifizierung des Todes auf die Phänomenologie, also die körperlich sichtbaren Zeichen verlassen werden musste. Eindeutigere Kriterien zur Unterscheidung von Leben und Tod gab es jedoch nicht. An dieser Stelle wird verständlich, weshalb die Todeszeichen in diesem Maße problematisiert wurden, wie dies in den Zeitschriften der Aufklärung geschah. Denn es war möglich, dass Körper und Seele beziehungsweise Geist noch nicht voneinander getrennt waren, die betroffene Person jedoch »ein dem Ansehen nach Verstorbener« war.99 In den Kennzeichen zur Todesfeststellung unterschied sich das 18. Jahrhundert nicht. Atemstillstand, fehlender Puls oder verminderte Empfindungsfähigkeit des Körpers bedeutete auch hier den Tod oder zeigte sein Eintreten an. Was sich jedoch verändert hatte, war das zugrunde liegende anthropologische Erklärungsmodell. Es war dieses neue Verständ96 97 98 99
Ebd., passim. Hufeland: »Die Ungewißheit des Todes«, S. 312-313. »Gedanken von den Graden der Sterblichkeit«, S. 1220 f. Ebd. 131
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nis von Leben und Tod, das über die Thematisierung und Verbreitung der empirisch feststellbaren Todeszeichen am Ende des 18. Jahrhunderts verhandelt wurde.
Der frühneuzeitliche Staat reagiert. Rechtliche Kontinuitäten und Diskontinuitäten an der Grenze zum Tod Die deutsche Übersetzung des Buchs von Jean-Jacques Bruhier verfolgte den gleichen Zweck wie das Original in Frankreich: Das Problem, das sich aus der Neukonzeption von Leben und Tod ergeben hatte, sollte in den deutschen Territorien popularisiert und der frühneuzeitliche Staat darauf aufmerksam gemacht werden. Diese Aufgabe übernahmen Medizinalbeamte und Ärzte, die in den Verwaltungen der frühneuzeitlichen Staatswesen tätig waren. So hatte der in Kleve und Düsseldorf praktizierende Arzt und später als russischer Leibarzt wirkende Johann Peter Brinckmann 1778 das Buch Patriotische Vorschlaege zur Verbesserung der Medicinalanstalten als Beitrag zur öffentlichen Gesundheitspflege auf dem Lande beigesteuert. Sechs Jahre zuvor hatte er einen Beweis der Möglichkeit, daß einige Leute lebendig können begraben werden: nebst der Anzeige, wie man dergleichen Vorfälle verhüten könne veröffentlicht. Auch Johann Peter Frank betrachtete in seinem System einer vollständigen medicinischen Polizey die Sorge um Scheintote als einen der wichtigsten Gegenstände, um den sich die Obrigkeit kümmern sollte.100 Frank und Brinckmann standen nur stellvertretend für Angehörige der medizinischen Polizei, die sich in ihrer Aufgabe als Funktionsträger innerhalb der frühneuzeitlichen Verwaltung aufgefordert sahen, das neu entstandene Problem der unsicheren Todeszeichen an die Obrigkeit weiterzuleiten.101 Die medicinische Polizey war Teil des spätabsolutistischen Staatsdenkens, das seine Vorstellung einer »guten Ordnung« am Merkantilismus ausrichtete. Grundlage dieser absolutistischen Politik war die Sicherung des landesfürstlichen Haushalts durch planmäßige Förderung der Wirtschaft. In ihrer spezifischen Form, die in den deutschsprachigen
100 Vgl. Johann Peter Frank: System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. IV (= Von Sicherheitsanstalten, in so weit sie das Gesundheitswesen angehen), Mannheim: Schwan 1788. 101 Vgl. die Verweise auf Bruhier in Brinckmann: Beweis der Möglichkeit, daß einige Leute lebendig können begraben werden; Johann F. Ackermann: Der Scheintod und das Rettungsverfahren, Frankfurt am Main: Andrea 1804. 132
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Ländern verbreitet war, wurde sie Kameralismus genannt.102 Wirtschaftsfaktor war dabei auch der Mensch und seine Arbeitskraft. Diese Politik reagierte auf die durch den Dreißigjährigen Krieg bedingten Verluste. Ein Weg, den Macht- und Reichtumszuwachs des frühmodernen Staates zu sichern, bestand in einer Peuplierungs- oder Bevölkerungspolitik, die dadurch eine günstigere Altersstruktur schaffen sollte. Diese politischen Bestrebungen wurden durch Mittel wie Zunftzwangbefreiung, Schutz vor religiöser Verfolgung und Steuerentlastungen in die Tat umgesetzt. So förderte Frankreich frühe Eheschließungen und unterstützte Heiraten durch finanzielle Zuwendungen.103 Die Kameralisten befürworteten nicht nur Einwanderung, sondern waren darüber hinaus darauf bedacht, die Leistungsfähigkeit ihrer Untertanen zu erhalten. Dazu entwarfen sie gesundheitspolitische Programme in Form von medizinischen Polizeiordnungen, die den Erhalt der Gesundheit als eine den ganzen Staat betreffende Angelegenheit administrativ steuerten. Der staatliche Schutz richtete sich auf die potenziell lebensgefährlichen Umstände und Gefahren, denen die Bevölkerung ausgesetzt sein konnte: Seuchen, Gewaltverbrechen, Armut und Unfälle. Diesen sollten mittels Ärzten und anderem medizinischen Personal wie Hebammen sowie Verordnungen Einhalt geboten werden. Als Instrument dieser Politik gewann die Bevölkerungsstatistik an Bedeutung, mit deren Hilfe Todesursachen und die Sterblichkeit der Gesamtbevölkerung erhoben wurden. Das soziale Geschehen wurde mit wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen abgebildet und handhabbar gemacht. Die ersten Veröffentlichungen dieses merkantilistisch-kameralistischen Vorhabens datieren auf das 17. Jahrhundert, institutionell verankert wurde es seit dem Ende des 17. Jahrhunderts. Die ersten Schriften, die in den deutschen Landen über die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens publiziert wurden, entstanden im Kontext der medizinischen Polizei. Ihre Autoren waren Angehörige der Verwaltung des frühneuzeitlichen Staates. Die Veröffentlichung der neuen Anthropologie und ihrer Folgen für die Feststellung des Todes schlug sich damit nicht nur in den Zeitschriften der Aufklärung nieder, sie hatte auch an staatlichen Stellen Befürworter. Der absolutistische Staat reagierte. Es gab eine Anzahl öffentlicher Bereiche, in denen Scheintote auftauchen konnten und die nun einem besonderen Schutz unterstanden. Die staatlichen Eingriffe, die als Ver102 Vgl. George Rosen: »Kameralismus und der Begriff der Medizinischen Polizei«, in: Erna Lesky (Hg.): Sozialmedizin. Entwicklung und Selbstverständnis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S. 94123, S. 97. 103 Ebd., S. 95 f. 133
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ordnungen und Ankündigungen in den moralischen Wochenschriften der Aufklärung veröffentlicht wurden, stellen damit die zweite Phase der von Ariès konstatierten Popularisierungswelle des Scheintodes dar. Der Scheintod fand in unterschiedlichen Bereichen der Gesetzgebung Eingang. Er war Teil der Obduktionsgesetze, weil als Schutz vor dem Lebendigbegrabenwerden der eindeutig festgestellte Todeszeitpunkt und die Todesursache betrachtet wurden. Aus dem gleichen Grund führten verschiedene Länder Totenscheine ein. Scheintote waren außerdem Opfer, die durch Ertrinken, Ersticken und Ähnliches leblos geworden waren und Gegenstand der seit den 1760er Jahren verbreiteten Rettungsedikte in verschiedenen westeuropäischen Ländern und deutschen Territorien wurden.104 Zuletzt wurden Leichenhäuser zur Beobachtung von vermeintlich Toten errichtet und die Verlängerung der Beerdigungsfristen auf bis zu drei Tagen eingeführt. Dieser Vorgang ist auch als »Verrechtlichung des Todes« bezeichnet worden.105 Gemeint ist damit der Regulierungseifer des frühneuzeitlichen Staates, der dem Interesse an gesunden Subjekten geschuldet war und auch vor Tod und Leben nicht haltmachte: Das Leben vor dem Tod wurde aus ökonomischen Gründen geschützt und diente der absolutistischen Staatsraison. Damit habe man auch den Scheintod wirksam bekämpfen wollen. Für die Zwecke dieser Arbeit wird an dieses biopolitische Unterfangen jedoch aus einer anderen Perspektive angeschlossen. Erstens wird argumentiert, dass das ökonomistische Kalkül des frühneuzeitlichen Staates und das neue Verständnis von Leben und Tod zusammenhingen. Gemeint ist damit, dass das reformabsolutistische Interesse an gesunden Subjekten der gleichen Wissensform geschuldet war wie die Auflösung der alten Seelenvorstellungen. Die wissenschaftlichen Veränderungen waren auch Teil der merkantilistischen Politik und fanden dort ihre Anwendung. Sowohl der Organisation des Gemeinwesens mit statistischen Methoden als auch der Erklärung des Lebens aus den Kräften der Natur und der Beschaffenheit des menschlichen Körpers unterlag die Suche nach naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die dem mechanistischen Weltbild entsprachen. Unter diesem Aspekt sind die biopolitischen Bestrebungen Ausdruck dieser frühneuzeitlichen Verwissenschaftlichung und verweisen auf eine Form verwissenschaftlichter Staatsführung. Jedoch wäre es zum Zweiten 104 Vgl. Justus Goldmann: Geschichte der medizinischen Notfallversorgung. Vom Programm der Aufklärung zur systemischen Organisation im Kaiserreich (1871-1914) am Beispiel von Berlin, Leipzig und Minden, Bielefeld 2000 (http://bieson.ub.uni-bielefeld.de/volltexte/2003/119/ [Zugriff: 29.10.2007]), S. 46. 105 Kessel: »Die Angst vor dem Scheintod«, S. 138. 134
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zu kurz gegriffen, die Gesetze, die zum Schutz des Lebens erlassen wurden, allein unter diesem ökonomischen Kalkül zu betrachten. Sie werden deshalb nicht in ihrer Eigenschaft als Regulierungsinstrumente betrachtet, die mehr oder weniger effektiv – weil die Bedeutung des Rechts als sozialer Regulator in der frühneuzeitlichen Gesellschaft als eher gering eingeschätzt wird – einen Schutz vor dem Scheintod boten. In dieser Arbeit werden die Gesetzesnovellen, die sich seit den 1760er Jahren allmählich Bahn brachen und im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in großer Anzahl in den verschiedenen deutschen Territorien auftauchten, als Reaktion auf die Problemlage gelesen, die durch die neue Anthropologie entstanden war und die auf ein neues Verständnis von Leben und Tod verweist. Dass der Tod an sich verrechtlicht wurde, ist also keine die Debatte um den Scheintod auszeichnende Besonderheit. Belegt wird diese These durch die Gesetze selber. Leichenschau und Totenscheine waren historisch betrachtet keine neuen rechtlichen Verfahren. Seit dem Mittelalter wurde die Grenze zwischen Leben und Tod auf diese Weise beobachtet. Das öffentliche Interesse an Leben und Tod per se ist nicht neu. Gesetzgebung in Form von Totenscheinen und Obduktionen sind rechtliche Verfahren, die dem frühneuzeitlichen Staat als Mittel zur Verfügung standen und in denen ein neues Verständnis von Leben und Tod zunächst nur in Form von Gesetzen gerann. Historisch neu hingegen waren die Errichtung von Leichenhäusern, die Verlängerung der Beerdigungsfristen und die Maßnahmen zum Rettungswesen. Sie verweisen auf die Spezifizität einer »Verrechtlichung des Todes« in diesem Zeitraum im Vergleich zu ihren vormodernen Formen. Denn die neue Anthropologie legte es nahe, neue Formen des Umgangs mit Toten einzuführen. Die allmähliche Abnahme der Lebenskräfte zu überwachen, erforderte Zeit, und es verlangte eigene, in der öffentlichen Sphäre zugängliche Gebäude. Die Theorie der Lebenskräfte begründete wissenschaftlich erstmals aber auch die Möglichkeit der Wiederbelebung und legte es nahe, Foren und Orte zu schaffen, um das Leben reaktivieren zu können.
Die Kontinuität und Diskontinuität von Gesetzen Kontrolliert werden mussten deshalb alle Zustände, bei denen unklar war, ob »noch Leben in ihnen«, den Körpern, war. Dazu nahm die medizinische Polizei Fälle in den Blick, die schon vorher im öffentlichen Interesse gestanden hatten und über die auch die Ärzte und Gelehrten des 18. Jahrhunderts ihr Wissen über den Scheintod bezogen hatten: unge135
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klärte Todesfälle, Gewaltverbrechen und Zustände wie Unfälle und plötzlicher Tod. Fälle, bei denen ein Mensch ohne Zeugen, plötzlich oder gewaltsam vom Leben zum Tod übergegangen war, unterstanden bereits im Mittelalter rechtlichem Schutz. Zwar schützten die Gesetze die Interessen der Hinterbliebenen und waren nicht zum Schutz des Individuums erlassen worden, gleichwohl aber gab es ein Anliegen der mittelalterlichen Obrigkeit, mit der Hilfe von Verordnungen Gewalttaten, ungeklärte Todesursachen und Ähnliches aufzuklären. War es nämlich nicht bekannt, woran der Tote gestorben war, konnten keine Vorkehrungen für ein ordnungsgemäß christliches Begräbnis getroffen werden.106 Deshalb wurde eine Leichenschau eingerichtet, die inspectio cadaveris, die seit dem 13. Jahrhundert bekannt war. Sie bestand darin, dass ein Rats- oder Hofbarbier die Wunden der Leiche ansah. Er legte die Todesursache fest. Seit 1500 wurden Obduktionen vermehrt durchgeführt. Bereits die Bamberger Halsgerichtsordnung aus dem Jahr 1508 legte eine Leichenschau zur Feststellung der Todesursache fest. Das Hamburger Stadtrecht aus dem Jahr 1497 beinhaltete gleichlautende Bestimmungen.107 Die forensische Begutachtung von Wunden bei ungeklärten Todesfällen durch einen Ratsbarbier gehörte in den spätmittelalterlichen Städten des norddeutschen Raums zur gängigen Praxis.108 Der Sachsenspiegel verfügte, dass die Leiche als corpus delicti für die Dauer des Strafverfahrens nicht beerdigt werden dürfe. Ähnlich verhielt es sich mit den Totenscheinen, die es auch schon vor dem 18. Jahrhundert gab. Der Totenschein war eine Urkunde über das erfolgte Ableben und Begräbnis einer Person. Er diente dem Nachweis bei Gericht und der Identifizierung von gefallenen Soldaten. Auch gab es bereits im Mittelalter einen Schutz für die Erhaltung des Lebens. Diese Gesetze sicherten nicht in erster Linie das Leben des Einzelnen, sondern schützten die Gemeinschaft vor der Gewalt oder der Willkür des Einzelnen. So war im Mittelalter nicht einmal die Tötung in Notwehr erlaubt und Totschläger wurden aus den Stadtmauern verbannt.109 Der Wille zur Körperverletzung oder Misshandlung reichte aus, damit die Tat geahndet wurde.
106 Vgl. »Totschlag«, in: LexMA, Bd. 8, S. 902-903. 107 Vgl. D. Leopold: »Die Feststellung des Todes in historischer Sicht«, in: Kriminalistik und forensische Wissenschaften 48 (1982), S. 43-54, S. 48. 108 Vgl. Manfred Stürzbecher: »Über die Entwicklung der Leichenschau in Berlin«, in: Beiträge zur gerichtlichen Medizin 27 (1970), S. 256-262, S. 256. 109 Vgl. »Totschlag«, in: LexMa, Bd. 8, Sp. 902-903. 136
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Eine Maßnahme zur Verhütung des Scheintodes, die an diese schon existierenden rechtlichen Verfahren anschloss, war die Leichenschau. Sie wurde in verschiedenen Territorien ab dem Ende des 18. Jahrhunderts neu formuliert und fand im Laufe des 19. Jahrhunderts weitere Verbreitung. So hatte Stettin 1806 als erste Stadt in Preußen eigens Ärzte bestellt, die für die Todesfeststellung zuständig waren. Hamburg besaß seit 1812 eine gesetzlich geregelte ärztliche Leichenschau, wobei der Arzt auf einer Bescheinigung die Bestätigung des Vorhandenseins der Zeichen des eingetretenen Todes (nach seiner eigenen Untersuchung) und das Fehlen von Spuren eines unnatürlichen Todes zu geben hatte. In dem gleichen Jahr gab es in Hamburg Todesbescheinigungen, die vom Arzt ausgefüllt werden mussten.110 1822 wurde in Württemberg die Leichenschau eingeführt, 1824 stellte das Land medizinisch vorgebildete Leichenschauer an.111 Der Polizeipräsident von Berlin führte durch Bekanntmachung vom 28. Dezember 1824 obligatorisch einen Sterbezettel für jeden Todesfall ein, der »von dem Arzte, der den Verstorbenen in seiner letzten Krankheit behandelt hat, eigenhändig unterzeichnet und mit dem Stempel des betreffenden Revier-Polizei-Commissarius versehen werden muss«.112 In Frankfurt wurden 1841 Totenscheine eingeführt. Ein gänzlich neuer Bereich, in den die Grenze zwischen Leben und Tod geriet und rechtlich überhaupt erst geregelt werden musste, war das Rettungswesen. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden Rettungsanstalten für Ertrunkene, Erfrorene und andere Unglücksopfer gegründet. Seit den 1760er Jahren hatten die jeweiligen Obrigkeiten begonnen, Rettungsedikte zu erlassen und Prämien für Rettungsversuche auszusetzen.113 Der wissenschaftliche Kenntnisstand über Wiederbelebung und den Körper ermöglichte es, den verunglückten oder scheintoten Körper wieder ins Leben zu holen. Das Diktum von der »Angst vor dem Scheintod« ließ sich in seiner Aussagekraft und Reichweite nämlich auch umkehren. Galt es auf der einen Seite als Warnung, Zustände der Bewusstlosigkeit nicht dem Tod zuzuschlagen, sondern Rettungsmaßnahmen anzuweisen, eröffnete das Theorem der Lebenskraft auf der anderen Seite die Möglichkeit, den Tod zu überlisten, ihn zu »heilen«. 110 Vgl. Leopold: »Die Feststellung des Todes in historischer Sicht«, S. 48. 111 Vgl. Dominik Gross: »Entstehung und Entwicklung der Leichenschau in Württemberg im Spiegel zeitgenössischer Quellen«, in: Sudhoffs Archiv 81 (1997), S. 39-61. 112 Hermann Eulenberg: Das Medicinalwesen in Preussen nach amtlichen Quellen, Berlin: Hirschwald 31874, S. 140. 113 Vgl. Goldmann: Geschichte der medizinischen Notfallversorgung, S. 48. 137
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Auch hier waren andere europäische Länder Vorbild. In Frankreich hatte Ludwig der XV. eine Lehrschrift mit Rettungsmaßnahmen herausgegeben, die 1742 ins Deutsche übersetzt wurde. 1740 wurden in Paris und Lille bereits Vorbereitungen getroffen, um eine Lebensrettungsgesellschaft zu gründen. 1772 entstand sie in Paris.114 1767 wurde die erste europäische Lebensrettungsgesellschaft in Amsterdam gegründet, weitere folgten in Deutschland, England und Skandinavien. Die ersten Gründungen erfolgten in Küstenstädten. Hamburg folgte dem Beispiel Amsterdams 1769, als dort eine Gesellschaft zur Rettung im Wasser verunglückter Menschen gegründet wurde. Venedig und Mailand folgten 1768. Die Gründung von Rettungsgesellschaften fand bald Nachahmer in den Städten im Landesinneren, so 1776 in Weimar und sieben Jahre später in Erfurt.115 Diese Einrichtungen waren private Initiativen, die durch Subskriptionen finanziert und von einzelnen Bürgern geleitet wurden. In Hamburg war sie aus der Gesellschaft zur Beförderung der nützlichen Künste hervorgegangen. Das Rettungshaus in Hamburg wurde vom Bürgermeister und Rat der Freien Reichsstadt unterstützt. Diese Rettungsanstalt sorgte sich vornehmlich um Ertrunkene. Ihre Rettungsausrüstung, der sogenannte »Rettungsapparat«, enthielt einen »Sucher, eine lange Zange, ein Eisboot, eine Rettungsleiter, einen Tragekorb, die nöthige Bekleidung, eine Wärme-Bank, einen doppelten Blasebalg zur Herstellung der Respiration, und eine Maschine zur Beybringung des TobakRauchs.«116
Die Rettungsfälle wurden gezählt, statistisch ausgewertet und nach Erfolg und Misserfolg unterschieden. Die hamburgische Anstalt zählte 339 Menschen in dem Zeitraum zwischen 1794 und 1804, »die durch schnelles Herausziehen aus dem Wasser gerettet« wurden. Mithilfe eines Chirurgen konnten 143 Personen wiederbelebt werden, was eine Gesamtsumme von 482 Geretteten machte. Die Statistik wies weiterhin 54 Leichname auf, die mit Verwesungszeichen an den Ufern aufgefunden wurden sowie 74 missglückte Wiederbelebungsversuche, was insgesamt eine »Totalsumme der Verunglückten« von 128 bedeutete. Da nicht alle Unglücksfälle zur Anzeige gebracht wurden, kann »das Ver-
114 Vgl. Patak: Die Angst vor dem Scheintod in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 6. 115 Vgl. ebd., S. 10. 116 Johann Arnold Günther: Geschichte und itzige Einrichtung der hamburgischen Rettungs-Anstalten für im Wasser verunglückte Menschen, Hamburg: Herold 31828, S. 10. 138
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hältnis der Geretteten zu den Verunglückten«, wie es abschließend hieß, »daher in dem verflossenen Zeitraume wenigstens Vier zu Eins angenommen werden […] und möge zum Beweis des wichtigen Erfolgs unserer Rettungsanstalt dienen«.117 Grund genug für den Autor zu betonen, dass, obwohl »unsere Anstalt gegen die überwiegende Wirksamkeit der holländischen und englischen Anstalten leider noch immer zurücksteht so sehen wir wenigstens so viel daraus, daß auch in den schwierigsten Unternehmungen Ausdauern und allmählicher Fortschritt unendlich viel vermögen«.118
Das Zusammenwirken von Rettungsgesellschaften und der Obrigkeit war nicht auf Hamburg beschränkt. In der amerikanischen Ostküstenstadt Boston hatten sich der Reverend, verschiedene gentlemen und Doktoren zusammengefunden, um die Humane Society of the Commonwealth of Massachusetts 1786 nach Londoner Vorbild zu gründen. In Boston wurde ihre Gründung in den Kontext anderer Wohltätigkeitsvereine gestellt. Als Johann A. Günther, Senator der Stadt Hamburg, 1794 über die »Geschichte und itzige Einrichtung« der Rettungsanstalt reflektierte, stellte er den politischen Wert der Rettungsbemühungen heraus: »Welcher biedere Deutsche wird nicht von edelsten Gefühlen durchdrungen werden, wenn er eine vaterländische Gesellschaft von würdigen Männern mit vereinten Kräften und so einer freygiebigen Aufopferung für Menschenwohl und Menschenglückseligkeit auftreten und handeln sieht.«119
In Hamburg standen Ärzte, die Mitglieder der Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe waren, der Rettungsanstalt vor. Zu weiteren Mitgliedern zählten Kaufleute und Handwerker. Bürgerliches und obrigkeitliches Engagement sowie wissenschaftliche Erkenntnisse trafen sich in Personalunion der gesellschaftlicher Eliten: In der Stadt gehörten Ärzte zu den politischen Funktionsträgern, in anderen Gemeinwesen verkehrten sie mit den politischen Funktionsträgern. Vertreter der Wissenschaft und Machtinhaber bildeten eine 117 »Nachricht über die in den Hamburger Rettungsanstalten mit den im Wasser verunglückten, während des letzten Dezenniums angestellten, gelungenen und nicht gelungenen Belebungsversuchen«, in: Neues Archiv für medizinische Erfahrung 2 (1805), S. 172-174. 118 Johann Arnold Günther: »Geschichte und itzige Einrichtung der hamburgischen Rettungs-Anstalten für im Wasser verunglückte Menschen«, in: Medicinisch-chirurgische Zeitung 3 (1795), S. 129-133, S. 133. 119 Ebd., S. 130. 139
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Öffentlichkeit, in der sich über diese Problematik verständigt werden konnte. In Hamburg belohnte die erste obrigkeitliche Verordnung 1762 die Behandlung und Rettung von Verunglückten mit Prämien. 1769 wurde in Hamburg ein Gesetz erlassen »die möglichste Rettung in’s Wasser gefallener und sonst erstickter Leute betreffend«, mit dem eine Belohnung von 50 Mark Courant verbunden war.120 Alle so aufgefundenen Menschen wurden vom Rathchirurgus besichtigt und gegebenenfalls mit ärztlicher Hilfe wiederbelebt. Im Königreich Hannover erschien 1768 – basierend auf der hamburgischen Vorlage – eine »Anweisung, wie denen Menschen, welche im Wasser oder von der Kälte erstarret oder erhenket und erdrosselt oder auch von schädlichen Dämpfen entkräftet gefunden werden, zu helfen sey, um sie bey Leben zu erhalten«.121
Dort hatte es weitere Verordnungen gegeben, die Rettungsmaßnahmen zur Pflicht machten und belohnten. Im Jahre 1780 wurde folgende Landesverordnung erlassen: »Jedermann soll sogleich Hülfe leisten und den Fall der nächsten Obrigkeit anzeigen, welche die nötigen Vorkehrungen (Herbeirufen eines Arztes) zu treffen hat. Wer einen Verunglückten zuerst auffindet und die in der Anweisung angegebenen Hülfsmittel anwendet, erhält, falls seine Bemühungen von Erfolg gekrönt sind, ein Gratial von 12 Talern, andernfalls 6 Taler. Alle diejenigen, die einen Verunglückten nicht aufnehmen und ihm nicht helfen wollen oder dem Finder und ersten Helfer den mindesten Vorwurf an seine Ehre machen, werden bestraft, Zünfte und Gilden verlieren ihre Privilegien.«122
1770 erschien eine solche Verordnung in Braunschweig. 1780 machte eine allgemeine Landesverordnung die Hilfeleistung zur Pflicht und setzte ebenfalls eine Belohnung aus.123 Bis 1787 wurden allein in 12 Territorialstaaten solche Edikte erlassen.124 Verunglimpft wurden diejenigen, die sich gegen dieses neue Programm sperrten. Dies zeigt sich an der Schilderung eines geglückten Rettungsversuchs. In den letzten Julitagen des Jahres 1797 wurden zwei Bauern in der Nähe von Frankfurt an der Oder von einem Gewitter über120 Ebd. 121 Zit. nach Hermann Deichert: Geschichte des Medizinalwesens im Gebiet des ehemaligen Königreichs Hannover, Hannover/Leipzig: Hahnsche Buchhandlung 1908, S. 185. 122 Ebd. 123 Ebd. 124 Vgl. Goldmann: Geschichte der medizinischen Notfallversorgung, S. 48. 140
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rascht. Sie suchten unter einem Birnbaum Schutz vor den starken Regengüssen, als ein Blitz in den Baum einfuhr und die beiden erfasste. »Den einen« traf der Blitz »so unschädlich, daß er, obgleich ihm die Haare auf dem Kopfe versengt wurden, sich von der Betäubung bald wieder völlig erholte«.125 Der zweite Bauer »hingegen blieb ohne das geringste Zeichen des Lebens, dem Scheine nach, erschlagen liegen« und wurde »als ein Todter auf den Wagen geladen, und in seine Behausung gefahren«.126 Der Graf von Finkenstein, zu dessen Besitztümern das Dorf Drehnow, in dem sich der Vorfall ereignete, gehörte, schickte nach dem Wundarzt Ölgart, damit dieser Hilfe leistete und »die erstickte Lebenskraft wieder in Bewegung«127 setzte. Der Wundarzt musste nach seinem Eintreffen feststellen, dass die Verwandten sich weigerten, den Mann wieder zu beleben: »Gott selber habe den Mann durch einen Blitz erschlagen; kein Mensch werde ihn wider den Willen des Allmächtigen zu erwecken vermögen«.128 Der Wundarzt ließ den Bauern zur Ader, es floss jedoch kein Blut. Dann bürstete er den Scheintoten und rieb ihn mit Wolltüchern. Nach einer halben Stunde erhöhte sich die Temperatur des Körpers, und er begann zu bluten. Nach einigen Stunden des Reibens hörte der Wundarzt ein erstes Atemholen. Die Umstehenden äußerten keine Freude über die Lebenszeichen, denn »[e]s sei […] im Grunde doch nichts anderes als Verlängerung der Quaal des armen Mannes, den nun Gott einmal habe strafen wollen, und den keine Kunst vor dessen Gerichten schützen werde«.129 Sein Frevel hatte darin bestanden, dass er an einem Sonntag, dem Tag, der für den Besuch des Gottesdienstes vorgesehen war, auf dem Feld gearbeitet hatte. Deshalb habe Gott ihn mit dem Blitz erschlagen. Nachdem die Angehörigen zur Hilfeleistung nicht zu bewegen waren, befahl der benachrichtigte Graf zwei Dorfbewohnern dem Arzt zu assistieren. Nach weiteren acht Stunden, und der Anwendung der Reizmittel Kampfer und Salmiak, konnte festgestellt werden, dass das Blut zirkulierte und der scheintote Mann stark zu schwitzen begann. Zuletzt erlangte er das Bewusstsein zurück. Mit dem glücklichen Ausgang des Rettungsversuchs endete der Bericht aus Frankfurt an der Oder. Er schloss mit der Hoffnung des Autors, dass dieser Fall Nachahmer finde und »auch unter der Volks-
125 »Wiederbelebung eines vom Blitz getroffenen Scheintodten«, in: Berlinische Blätter 2 (1798), S. 97-109. 126 Ebd., S. 98. 127 Ebd., S. 99. 128 Ebd., S. 100. 129 Ebd., S. 101. 141
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klasse sich Aufklärung und Wohlstand und Tugend immer weiter verbreiten«.130 Zu weiteren neuen Forderungen, die in den Schriften der Kameralisten aufgestellt wurden, gehörten neben den Rettungsedikten die Verlängerung der Beerdigungsfristen und der Bau von Leichenhäusern. Den Anfang machten die Verlängerung der Beerdigungsfristen und die Errichtung von Leichenhäusern. 1768 untersagte die Königliche Kriegs- und Domänenkammer in Breslau, dass Leichen vor Ablauf des dritten Tages bestattet werden dürften.131 In einer »Bitte und Anfrage an das Publicum: daß zu frühe Begräbniß scheintodter Leichen betreffend« setzte der Verfasser in einer moralischen Wochenschrift die Sorge, durch die Nachlässigkeit und Unvorsichtigkeit der Mitmenschen dem Grab überantwortet zu werden, in Beziehung zur staatlichen Verantwortung.132 Der Autor zeigte sich erleichtert darüber, dass »die Fürsorge der Landespolizey […] diesem besorgliche[n] Unglücke vorzubeugen sucht«, indem ein entsprechendes Gesetz zur Verlängerung der Beerdigungsfristen erlassen wurde. Diese beiden Beispiele stehen stellvertretend für eine ganze Reihe von Aufrufen oder Ankündigungen, mit denen vor frühzeitigen Beerdigungen gewarnt wurde und diese verhindert werden sollten. Das preußische Collegium Sanitatis verfügte 1794, dass Leichen drei Tage aufgebahrt werden müssten,133 »[v]or Ablauf dreyer Tage [sei] keine Leiche zu begraben«, hieß eine Verordnung aus Schlesien.134 Andere deutsche Territorien erließen in den folgenden Jahren gleichermaßen solche Verordnungen. Sie schrieben vor, die Toten »wenigstens sechs Stunden auf ihrem Lager unberührt liegen«135 zu lassen oder erhöhten die Aufbahrungszeiten auf 24, 48 oder 72 Stunden. Während der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kam es in 130 Ebd., S. 97. 131 Vgl. »Bekanntmachung der Königlichen Regierung in Oppeln«, in: Ludwig von Rönne (Hg.): Das Medicinal-Wesen des preußischen Staates, 2. Teil, Breslau: Aderholz 1846 (= Die Verfassung und Verwaltung des Preußischen Staates, hg. v. Ludwig von Rönne, 6. Teil: Das Polizeiwesen, 3. Bd.: Das Medicinalwesen), S. 493. 132 »Bitte und Anfrage an das Publicum: das zu frühe Begräbniß scheintodter Leichen betreffend«, in: Schlesische Provinzialblätter 21 (1795), S. 324-329, S: 324 f. 133 Vgl. »Instruktion des K. Preuß. Ober. Collegium Sanitatis v. 31. Okt. 1794 über die Kennzeichen des wirklich erfolgten Todes zur Vermeidung des Begrabens lebender Menschen«, in: Rönne: Das MedicinalWesen des Preußischen Staates, S. 496. 134 »Bitte und Anfrage an das Publicum«, S. 324. 135 »Verordnung gegen zu frühzeitiges Entfernen gestorbener Personen von dem Sterbelager«, in: Königlich-Württembergisches Staats- und Regierungsblatt Nr. 48, 26.10.1816, S. 319. 142
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zahlreichen deutschen Territorien zur Verlängerung der Beerdigungsfristen, damit der eingetretene Tod zuverlässig abgewartet werden konnte.136 Die Forderung nach einem längeren Aufbahren zog ein Folgeproblem nach sich. Weil die Naturforscher herausgefunden hatten, dass die Ausdünstungen der Toten die Lebenden gefährden könnten, mussten sie räumlich voneinander getrennt werden. Die Hinterbliebenen konnten jedoch nicht einfach das Verstreichen der verlängerten Beerdigungsfrist in den Sterbehäusern abwarten. Es mussten eigene Gebäude für ihre Überwachung erbaut werden. Die Lösung bestand für die Mediziner und Ärzte in der Errichtung von Leichenhäusern. Dies gemeinsam mit der Verlegung der Friedhöfe vor die Mauern der Stadt stellte den Beginn der Trennung der Lebenden von den Toten dar und kennzeichnet eine Form des Umgangs mit Tod und Sterben in der modernen Gesellschaft.137 Die Verlängerung der Beerdigungsfristen, der Bau von Leichenhäusern und die Verlegung der Friedhöfe waren dem gleichen Wissen geschuldet. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatte nämlich ebenfalls eine Debatte über den Zustand der Friedhöfe eingesetzt, in deren Zentrum die Klagen über ihre Überfüllung und die damit entstandenen Gerüche standen. Ärzte und Chemiker wiesen auf die daraus resultierende Gefährdung der Lebenden durch die Ausdünstungen der verwesenden Leichen hin und belegten ihre Behauptungen mit Schwindel- und Ohnmachtsanfällen, die bei Friedhofsbesuchern auftraten. Die Sensibilität für hygienische Mängel der Begräbnisstätten war ein weiterer medizinischer Diskurs, der im Zuge der Aufklärung entstanden war und Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege aufgriff. Die Überlegungen zu Reformen im Hygiene- und Gesundheitswesen flossen unter anderem in eine Friedhofsneuordnung ein, die in den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts für Preußen 1794 Folgendes vorsah: Friedhöfe wurden leicht erhöht vor den Toren der Stadt angelegt, weil sich die 136 Vgl. die Bestimmungen für das Kurfürstentum Hessen aus dem Jahre 1787 in Deichert: Geschichte des Medizinalwesens des ehemaligen Königreichs Hannover, S. 169; Kessel führt in ihrem Aufsatz die Verordnung für Schwedisch-Pommern aus dem Jahr 1794 an, S. 126; der Wortlaut für das Gesetz in Brandenburg-Preußen ist zu finden in: Rehfeld: »Des Königl. Gesundheits-Collegii erforderte Aeusserung wegen der Kennzeichen des Todes«. In Braunschweig wurde eine solche Verordnung erst 1827 erlassen: Vgl. Anneliese Gerbert: Öffentliche Gesundheitspflege und staatliches Medizinalwesen in den Städten Braunschweig und Wolfenbüttel im 19. Jahrhundert, Braunschweig: Braunschweigischer Geschichtsverein 1983, S. 175. 137 Vgl. dazu die Arbeiten von Ariès: Geschichte des Todes; Vovelle: Piété Baroque et Déchristianisation en Provence; Corbin: Pesthauch und Blütenduft. 143
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Verwesungsdünste dort leichter verflüchtigen könnten als innerhalb der Stadtmauern. Um ausreichende Luftzirkulation zu gewährleisten, wurden die Friedhöfe nur spärlich bepflanzt. Die Einzelbestattung wurde als Regel eingeführt. Jeder Leichnam erhielt sein eigenes Grab, das in Länge, Breite und Tiefe normiert wurde und damit den Verwesungsprozess begünstigen sollte.138 Es bestand die Gefahr, so mutmaßten die Ärzte, »daß der Anblick und die Ausdünstungen todter Körper – auch wenn sie nicht immer schädlich sind – doch in dem Augenblick der Abnahme der Sargdeckels […] für Personen von feineren Geruchs-Nerven schädlich seyn können«.139 Der Geruchssinn wurde zum analytischen Werkzeug und die neue Sensibilisierung für schlechte Gerüche leitete die »Desodorierung« der Gesellschaft ein.140 Abwässer-, Belüftungs- und Hygienemaßnahmen säuberten zunächst den öffentlichen Raum und sorgten dafür, dass Gärten, Latrinen und Waschräume geschaffen wurden. Aber auch der Einzelne war gehalten, sich zu waschen und auf persönliche Hygiene zu achten. Der als unerträglich empfundene Geruch wurde von den Ärzten dahingehend funktionalisiert, eine neue Norm in Bezug auf hygienische Standards zu setzen.
Theoretisches Wissen und neue Handlungsanweisungen. Die Durchsetzung medizinischer Ansprüche Dass es eine Diskrepanz zwischen der Durchsetzung von Gesetzen und dem Verhalten im Alltag gebe, darüber beschwerten sich bald die Beamten und Ärzte. Sie klagten über die mangelnde Initiative innerhalb der Bevölkerung, bei Unglücksfällen zur Hilfe zu eilen. Die in den zahlreichen Territorien erschienenen Gesetze, um einen vorzeitigen Tod zu verhindern, würden kaum eingehalten: »Den Gesetzen geht es oftmals
138 Vgl. Norbert Fischer: Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1996, S. 13-20; Bärbel Sunderbrink: »Zwischen Tradition und bürgerlicher Rationalität. Friedhofsverlegungen im 19. Jahrhundert in MindenRavensberg«, in: Johannes Altenberend (Hg.): Ein Haus für die Geschichte. Festschrift für Reinhard Vogelsang (= 89. Jahresbericht des Historischen Vereins der Grafschaft Ravensberg, Jg. 2004), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2004, S. 189-210. 139 Heinsius: »Bemerkungen über das von der Königl. Kurmärk. Kriegsund Domänen-Kammer«, S. 272. 140 Corbin: Pesthauch und Blütenduft, S. 15. 144
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wie den Scheintoten: Sie werden lebendig begraben«.141 Kreisärzte oder Amtmänner äußerten sich wiederholt über die herrschenden Verhältnisse, indem sie die ausgeübten Sitten und Gebräuche als unangemessen kritisierten und auf die Einhaltung der Gesetze pochten. Die im Brandenburgischen vorherrschende Sitte, den Sarg vor dem Einlassen in die Erde nochmals zu öffnen, um sich davon zu überzeugen, dass der Verstorbene auch tatsächlich tot war, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts aus hygienischen Gründen verurteilt.142 Diese Praxis wurde trotz des Verbots bis weit ins 19. Jahrhundert hinein beibehalten: Die wiederholten behördlichen Ermahnungen lassen diesen Schluss zu.143 Weil rechtliche Bestimmungen im 18. und bis ins 19. Jahrhundert geringe Reichweite besaßen und das Verhalten der Bevölkerung nicht zu regulieren vermochten, hat der Historiker Jürgen Schlumbohm gefragt, ob es sich dabei um ein Charakteristikum der frühneuzeitlichen Gesellschaft handle?144 Als maßgeblichen Grund für die geringe Reichweite der Gesetze hat Schlumbohm den noch schwach ausgebildeten Verwaltungsapparat genannt, der über zu wenig Personal und Behörden verfügte, als dass er vor Ort und vor allem auf dem Land die Einhaltung der Gesetze hätte überprüfen können. Neben diesen praktischen Durchsetzungsschwierigkeiten hat Schlumbohm die grundsätzliche Frage nach der Position des Rechts in der frühneuzeitlichen Gesellschaft gestellt und argumentiert, dass soziale Ordnung in der Vormoderne nicht über Gesetze hergestellt worden sei. Das Verhalten der Menschen sei durch Face-to-Face-Kommunikation und eingeübte tradierte Praktiken und Normen sozial reguliert worden. Die Gesetzgebung könne in erster Linie als Selbstdarstellung des frühneuzeitlichen Staates interpretiert werden. Diese Perspektive wird in diesem Abschnitt zunutze gemacht, um die erlassenen Gesetze dahingehend zu lesen, mit welchen Mitteln die zeitgenössische Gesellschaft neue Normen und Verhaltensweisen durchgesetzt wissen wollte. Da in diesen Gesetzen ein neues Wissen, das die
141 Biester: »Einige Ideen zur Verhütung, daß Scheintote begraben werden«, S. 66. 142 Vgl. Heinsius: »Bemerkungen über das von der Königl. Kurmärk. Kriegs- und Domänen-Kammer«, S. 271 ff. 143 Vgl. »Amtliche Verfügungen der Königlichen Regierung für den Verwaltungsbezirk Frankfurt/Oder, Betreffend die Oeffnung der Särge vor dem Versenken«, in: Vierteljahrsschrift für die gerichtliche und öffentliche Medizin 1 (1864), S. 179. 144 Jürgen Schlumbohm: »Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?«, in: GG 23 (1997), S. 647-663; zu einem ähnlichen Ergebnis diesbezüglich kommt Joachim Eibach: Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt am Main: Campus 1994. 145
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Änderung des Verhaltens forderte, transportiert wurde, werden die rechtlichen Verfahren als Strategien der Verwissenschaftlichung fruchtbar gemacht. Verwissenschaftlichung kann in diesem Zusammenhang eben nicht heißen, dass die Gesetze auch umgesetzt und eingehalten wurden; werden die Gesetzestexte jedoch als Selbstdarstellung des frühneuzeitlichen Staates interpretiert, weisen sie darauf hin, dass das neue wissenschaftliche Wissen bei den staatlichen Eliten angekommen war und sich dort eine Bereitschaft zeigte, dieses auch anzuwenden und weiter zu verbreiten. Waren im Mittelalter ausgewiesene Personen wie der Rats- oder Hofbarbier für die Begutachtung von Wunden zuständig, beanspruchten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts akademisch ausgebildete Ärzte die Entscheidungskompetenz die Todesursache festzustellen. Die Ärzte konnten deshalb Professionalisierungsansprüche anmelden, weil der Tod nunmehr als physiologischer Prozess betrachtet wurde und theoretisch begründet werden konnte. Körperliche Vorgänge fielen in den Zuständigkeitsbereich der Mediziner. Der Bereich des Todes und des Sterbens unterschied sich diesbezüglich nicht von anderen Feldern, in denen die Ärzte ein Wissensmonopol beanspruchten. Dieser Befund deckt sich mit den Arbeiten über den Beginn der medizinischen Professionalisierung und Medikalisierung am Ende des 18. Jahrhunderts.145 Der sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entstehenden und organisierenden Wissenschaften an den Universitäten, deren epistemologische und organisationale Grundlage die Ausdifferenzierung in Disziplinen bildete, werden für diesen Zeitraum Überhänge aus oder die Präsenz der Verfahren der stratifizierten Gesellschaft konstatiert. Die Träger und Produzenten dieser neuen Wissensform waren Gelehrte, die Teil der Elite in der stratifizierten Gesellschaft bildeten. Der Arzt oder der Naturforscher definierte sich nicht vornehmlich über die Art der Arbeit, die er verrichtete, die Zuschreibung als Gelehrter vollzog sich genauso über den Status seiner Person.146 Zudem haben historische Studien belegt, dass zum einen Anspruch und Wirklichkeit medizinischer Professionalisierung auseinanderfielen und zum anderen die medizinische Versorgung der Bevölkerung in diesem Zeitraum nicht von akademisch ausgebildeten Ärzten geleistet wurde. Die Menschen griffen auf die Gesamtheit des medizinischen Angebots vor Ort zurück. Hebammen und Heiler aller Art stellten traditio145 Vgl. Claudia Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten. Das Beispiel Preußens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985. 146 Vgl. Thomas H. Broman: The Transformation of German Academic Medicine, Cambridge: Cambridge University Press 1996. 146
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nelle Mittel zur Verfügung und wendeten Praktiken an, die den Menschen vertrauter und ihrer Lebenswelt nicht so fremd waren wie die akademische Medizin.147 Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Zugriff auf den Tod durch den Prozess der Medikalisierung und Professionalisierung in diesem Zeitraum dadurch auszeichnete, dass die Ärzte zwar Ansprüche erhoben, die auch gesetzlich festgelegt wurden, aber gleichzeitig darauf angewiesen waren, dass andere Funktionseliten einsprangen. Die Gesetzestexte sprachen die von jeher mit Tod und Sterben befassten Berufsgruppen und Tätigkeitsfelder an, insbesondere die Geistlichen und die Leichenfrauen. In seiner Antwort auf Jean-Jacques Bruhiers Dissertation hatte der französische Arzt Antoine Louis die eigene Berufsgruppe präsentiert, um »die Mitbürger von der Furcht, lebendig begraben zu werden, [zu] befreyen«. Diesem Urteil schlossen sich auch die deutschsprachigen Ärzte an. Verantwortlich für die Feststellung des Todes und der Todesursache sollten akademisch ausgebildete Ärzte sein. Es dürfe keine Bestattung vollzogen werden, hieß es in einer Verlautbarung aus dem Jahre 1794 in Preußen, »bevor entweder jene Zeichen, der wahren bereits angefangenen Fäulniß, sich an dem Körper offenbaret, oder auch derselbe von Sachverständigen, insbesonderheit einem approbirten Arzte, beschauet, untersucht und von selbigen für würklich todt erkläret worden«.148
Begründet wurde dieser Machtanspruch mit der Überlegenheit des Wissens: »Wie will man dieses [die Unterscheidung von Leben und Tod] aber von einem fodern, der nicht die allermindeste Kenntniß der Theorie unseres Lebens besitzet, der sehr oft nicht einmal recht weiß, wie das Blut in unserem Körper seinen Umlauf verrichtet?«149
Weil insbesondere auf dem Lande »Kenner [fehlten], welche das Vermögen haben, gehörig zu erforschen und zu entscheiden«, wurden die Geistlichen in die Ausführung der Gesetze ausdrücklich eingebunden. 147 Vgl. Mary Lindeman: Health and Healing in 18th Century Germany, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1996; Francisca Loetz, Vom Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens, Stuttgart: Steiner 1993. 148 Rehfeld: »Des Königl. Gesundheits-Collegii erforderte Aeusserung wegen der Kennzeichen des Todes«, S. 4. 149 Brinckmann: »Beweis der Möglichkeit, daß einige Leute können lebendig begraben werden«, S. 229. 147
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Pastoren und Priester sollten »über den Befehl halten«, »nicht vor dem dritten Tage begraben zu lassen, wenn die Leiche angemeldet wird«.150 Andere Verordnungen zur Verhütung des Scheintodes zielten ebenfalls auf die Kooperation mit der Geistlichkeit. So gab es Beispiele aus Württemberg und Brandenburg, in denen die Geistlichen aufgefordert wurden, Rettungsmaßnahmen zu verlesen und für den Ernstfall Rettungsgeräte im Haus zu verstauen. Das Allgemeine Preußische Landrecht forderte die Geistlichen dazu auf, größere Sorgfalt bei der Ermittlung der Todesursache zu üben sowie die Anwesenheit der Totengräber beim Zuschlagen der Särge sicherzustellen.151 In den Rheinbundstaaten, in denen der Code Napoléon galt, wurde hingegen die Bürokratie schon nach 1806 verstärkt in den Beerdigungsablauf eingebunden: Zivilbeamte konnten die Ermächtigung zur Beerdigung 24 Stunden nach dem Tode erteilen. Darüber hinaus wurde es verboten, eine Beerdigung ohne behördliche Erlaubnis durchzuführen.152 Neben der Einbindung von Geistlichen wurde die Kompetenz anderer, die mit der Versorgung von Sterbenden und Toten betrauten Personen in Anspruch genommen.153 »Die Anstellung von Leichenfrauen ist obligatorisch für alle Gemeinden«, hieß es in einem Gesetz aus Marburg.154 Die Leichenfrauen wurden über die Kennzeichen des Todes unterrichtet und durften im Zweifelsfall auch Totenscheine ausstellen.155
150 »Aktenstücke aus den Verhandlungen des kuhrfürstlichen Collegii medici zu Münster über das Begraben der Todten, und über die Zeit zur Einimpfung der Pocken«, in: Scherfs Beiträge zum Archiv der medizinischen Polizei und der Volksarzneikunde 6 (1796), S. 60-139. 151 Vgl. Christian Pietsch: »Der Einfluß staatlicher Verordnungen auf die Entwicklung des neuzeitlichen Begräbniswesens in Berlin und Brandenburg-Preußen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts«, in: Christoph Fischer/Renate Schein (Hg.): »O ewich ist so lanck.« Die historischen Friedhöfe in Berlin-Kreuzberg, Berlin: Nicolai 1987, S. 143-166, S. 151. 152 Vgl. beispielsweise das vierte Kapitel »Von den Todten-Büchern«, in: Code Napoléon mit Zusätzen und Handelsgesezen als Land-Recht für das Großherzogthum Baden, Karlsruhe: Müller 1809, S. 24-28. 153 Vgl. »Chursächsisches Mandat die Behandlung der Leichen, und die, damit nicht todscheinende Menschen zu früh begraben werden, auch sonst dabei zu beobachtende Vorsicht betreffend«, »Instruction der Leichenfrauen in Leipzig«, eine ähnliche Vorschrift für die Leichenfrauen in Heilbronn, alle in: Günther Heinrich von Berg: Handbuch des Teutschen Policeyrechts, Zweyter Theil, Hannover: Hahn 1799, S. 208. 154 Zit. in Cremers: »Totenweiber und Totengräber in einer mittelhessischen Kleinstadt«, S. 186. 155 Vgl. Brunner: »Sächsisches Friedhofs- und Bestattungsrecht«, in: Fischers Zeitschrift für Verwaltungsrecht 60 (1927), S. 329-412, S. 391392. 148
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Die Rettung verunglückter Personen wurde durch die Aussetzung von Prämien attraktiv gemacht. Die Stadt Hamburg belohnte 1769 »jeden wirklich gelungenen Rettungsfall mit einer Prämie von 50 Mark Cour[ant]«.156 In Hannover wurden erfolgreiche Rettungsversuche mit 12 Talern belohnt, vergebliche Rettungsmanöver wurden mit 6 Talern vergütet.157 Die Verbreitung der Todeskriterien und Maßnahmen zur Ersten Hilfe als Mittel zur Distribution des Wissens erfolgte dadurch, dass Wundarztgesellen in Vorlesestunden unterrichtet und Erste-HilfeÜbungen an Strohpuppen vorgenommen wurden. Des Weiteren wurden Medien eingesetzt: Die Rettungsgesellschaften verteilten kostenlose Erste-Hilfe-Schriften und veröffentlichten ihr Anliegen in Volkskalendern und Wochenschriften. Halbjährlich veröffentlichten die »Adreß-Comtoir-Nachrichten« Rettungsfälle und entsprechende Anleitungen wurden in den hiesigen Volkskalendern bekannt gemacht.158 Zwar begründeten die Mediziner ihre Kompetenz mit der theoretischen Grundlage ihres Wissens, die medizinische Professionalisierung in diesem Zeitraum war jedoch dadurch gekennzeichnet, dass der akademisch ausgebildete Arzt die – in diesem Fall – Entscheidung über Leben und Tod mit Techniken fällte, die aus dem Alltag bekannt waren. Das Vorgehen, den Eintritt des Todes festzustellen, beruhte zwar auf Erfahrungswissen, »[w]as bei tausend Sterbenden vorhergieng und nachfolgte, kann doch wohl nicht so zweifelhaft und ungewiß seyn«, in der Praxis unterschied sich das Wissen jedoch nicht von dem der Laien.159 In einer Anweisung des Preußischen Collegium Sanitatis aus dem Jahre 1794 wurde als ein gültiges Mittel genannt, »[m]an hält die Flamme eines brennendes Lichtes, oder eine Pflaumfeder, vor den offenen Mund oder die Nase des anscheinenden Todten; bewegen sich diese Dinge nicht im geringsten, so findet kein Atem mehr statt«.160 Ebenso konnte der Eintritt des Todes dadurch bestimmt werden, dass ein Spiegel vor dem Gesicht des Toten nicht beschlug. Die Einführung der Totenscheine erfolgte vereinzelt und zeitlich versetzt. 1824 führte Berlin obligatorisch für alle einen sogenannten »Sterbezettel« ein, der den Kirchenbeamten, die den Sterbefall registrierten, vorzulegen war. Dieser Totenschein enthielt folgende Rubriken: 156 Günther: Geschichte und itzige Einrichtung der hamburgischen Rettungs-Anstalten für im Wasser verunglückte Menschen, S. 131. 157 Vgl. Deichert: »Geschichte des Medizinalwesens im Gebiet des ehemaligen Königreichs Hannover«, S. 185. 158 Vgl. Günther: Geschichte und Einrichtung der Hamburgischen RettungsAnstalten für im Wasser verunglückte Menschen, S. 30. 159 »Ueber die frühe Beerdigung«, S. 184. 160 »Instruction des K. Preuß. Ober-Collegium-Sanitatis v. 31. Okt. 1794«, in: Rönne, Das Medicinal-Wesen des Preußischen Staates, S. 493. 149
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»1. Name, Stand und Geschlecht des Verstorbenen; 2. Wohnung des Verstorbenen; 3. Alter des Verstorbenen; 4. Tag des Ablebens; 5. Name der Krankheit; 6. Name des Arztes; 7. Bemerkungen über Rettungsversuche und ansteckende Krankheiten.«161
Diese Verordnung wurde 1835 für Berlin wiederholt. Totenscheine waren nicht das Mittel der Wahl allein dagegen, lebendig begraben zu werden. Sie erfüllten auch die Aufgabe, das öffentliche Interesse an gewaltsamen oder ungeklärten Todesfällen zu dokumentieren. Flächendeckend konnten die Totenscheine nicht durchgesetzt werden. Zum einen gab es ein Stadt-Land-Gefälle: »Was die Ausfertigung von Todtenscheinen betrifft, die in Berlin lange vorschriftsmäßig geschieht, so ist mir nicht bekannt, ob auch in den Provinzen die Todtenscheine gewöhnlich sind; in den Regierungsbezirken Frankfurt und Posen kennt man sie nicht.«162
Zum anderen, klagten die Ärzte, würde bei der Angabe der Todesursache gemogelt und damit die Erstellung eines verlässlichen Totenscheins behindert. »Dass aber Jemand an Krebs irgend eines Organs gestorben sei, wird, namentlich in wohlhabendern Familien, selten in dem Todtenschein notirt; und Scirrhus [= Krebs] noch viel seltener, weil kein deutsches Synonym vorhanden. […] Ein alter Mann aus der niedern Klasse starb an einer organischen Krankheit des Magens. Die Section ergab Scirrhus ventriculi, und, der Wahrheit getreu, setzte ich dies in den Todtenschein. - Als ich Tags darauf die Familie wiedersah, wurde ich scheel angesehen und mit Vorwürfen überhäuft«.163
Als Erklärung für diese Vorwürfe ergab sich, dass der PolizeiCommissär bei Ansicht des lateinischen Namens sein Gesicht verzogen hatte und auch die Nachbarn stutzig geworden waren. Die Hinterbliebenen waren ob dieser Reaktion überzeugt, das Familienoberhaupt sei an einer »bösen ansteckenden, aus Jugendsünden resultierenden Krankheit« gestorben, »dieser Umstand […] durch die lateinische Benennung
161 Stürzbecher: »Über die Entwicklung der Leichenschau in Berlin«, S. 257-258. 162 Mosse: »Ueber Todtenscheine und Sanitätsberichte«, in: Casper’s Wochenschrift für die gesammte Heilkunde 10 (1842), S. 696-702, S. 697. 163 Magnus: »Ueber Todtenscheine und Sanitäts-Berichte«, in: Casper’s Wochenschrift für die gesammte Heilkunde 9 (1841), S. 385-399, S. 389. 150
SCHEINTOD IN DEN MEDIEN DER AUFKLÄRUNG
divulgirt« worden und das Familiengeheimnis öffentlich gemacht worden war: »Ich hatte Mühe genug, den Leuten die Wahrheit nur einigermaassen plausibel zu machen.«164 Noch Mitte des 19. Jahrhunderts gestaltete sich die Erfassung der Todesfälle unterschiedlich. In den Städten stellte ein Arzt einen sogenannten »Sterbezettel« oder »Todtenzettel« aus, welcher von dem Arzt, der den Verstorbenen in seiner letzten Krankheit behandelt hat, unterzeichnet und mit dem Stempel des betreffenden Revier-PolizeiCommissarius versehen lassen musste. Diese Sterbezettel gingen an die Geistlichen, die über sämtliche Beerdigungen sowie Geburten und Trauungen Listen aufstellten und diese den Superintendenten oder Pröbsten übersandten, welche daraus eine Tabelle machten, die der Landrat für den Kreis zusammenstellte und an die Regierung schickte.165 Auf dem Land wurde der Todesfall direkt dem Geistlichen angezeigt. Diese Regelung galt bis 1875.166 Bis 1875 bildeten die Kirchenbücher auch die Grundlage für die Erfassung aller Todesfälle. Entsprechend wurden die Geistlichen in die Kontrolle über den eingetretenen Tod eingebunden. Das Allgemeine Landrecht von Preußen bestimmte in II.11. §469, dass der Pfarrer sich nach der Todesursache zu erkundigen habe und dem Totengräber auftragen müsse, anwesend zu sein, wenn die Leiche eingesargt und der Sarg zugeschlagen würde. Im Laufe des 19. Jahrhunderts beklagten sich 164 Ebd. 165 Die Bedeutung der Kirchenbücher als amtliche Quelle für die medizinische Statistik und für die amtliche Statistik überhaupt wurde durch das Gesetz zur Beurkundung des Personenstandes vom 6. Februar 1875 für das gesamte deutsche Reich aufgehoben. Nunmehr waren nicht mehr die Geistlichen für die Erfassung der Todesfälle zuständig, sie fiel in den Zuständigkeitsbereich der Behörden. Das zuständige Standesamt beurkundete den Personenstand mittels Eintrags in das Standesregister, dessen Führung einem bürgerlichen Standesbeamten übertragen wurde. 166 Zu den Verfahren bis zur Bestattung gehört in der Bundesrepublik Deutschland heute die gesetzlich vorgeschriebene Leichenschau durch einen approbierten Arzt: »Die Leichenschau ist in der Regel einmal und zwar innerhalb von 24 Stunden nach dem Tode vorzunehmen.« Jürgen Gaedke: Handbuch des Friedhofs- und Bestattungsrechts, Köln/ Berlin/Bonn/München: Carl Heymanns Verlag 31971, 126 f. Die Festschreibung und Vereinheitlichung dieses Gesetzes für das ganze Bundesgebiet dauerte bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst 1977 wurde die ärztliche Leichenschau bundesweit obligatorisch. Einzelne Länder, denen das Bestattungsrecht obliegt, begannen verfügten erstmals 1936, dass jeder Todesfall durch einen ärztlich ausgestellten Leichenschauschein, den sogenannten Totenschein, bestätigt werden muss. Vgl. Irene Schweitzer: Zu Problemen von Leichenschau und Totenbescheinigungen unter besonderer Berücksichtigung des Strafrechts, jur. Diss. Tübingen: ohne Verlag 1986, S. 3. 151
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die Ärzte deshalb, dass Fehler bei der Übertragung der Todesursache vom Sterbezettel in das Kirchenbuch unterlaufen würden. Ebenso drangen sie auf eine vereinheitlichte Nosologie. Priester und Pastoren wurden beauftragt, in das Sterberegister den Tag und die Stunde des Todes einzutragen. Zudem musste sie angeben, an welcher Krankheit die Person verstorben war und wer den Todesfall mitgeteilt hatte. Die Geistlichen stellten dazu die sogenannte »kleine Tabelle« über Geburten, Trauungen und Sterbefälle auf, sandten sie zu den Superintendenten oder Pröpsten, welche daraus eine sogenannte Ephoraltabelle machten, die der Landrat für den Kreis zusammenstellte und der Regierung übermittelte. Bis zur Französischen Revolution galten die Kirchenbücher allgemein auch für staatliche Zwecke. Danach begannen einzelne Länder mit der schrittweisen Einführung von Zivilstandsregistern. Auch hier waren die Territorien, in denen der Code Napoléon Anwendung fand, Vorreiter.167 Erst das deutsche Reichsgesetz über die Beurkundung des Personenstandes vom 6. Februar 1875 hob für das ganze Deutsche Reich die staatliche Bedeutung der Kirchenbücher auf.168 Die Ausgestaltung von Leichensektionen und Obduktionen blieb im Verlauf des 19. Jahrhunderts Thema von Medizinern und Juristen. Die Verhütung des Scheintodes wurde jedoch zum zweitrangigen Problem. Im Blickfeld staatlicher Sorge blieben zwar ungeklärte und zweifelhafte Todesfälle, die Problemfelder verschoben sich jedoch: So beklagte 1897 der Geheime Medizinalrat Arnold Heller aus Kiel in einem Vortrag vor der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, dass die gerichtlich angeordneten Obduktionen nur daran orientiert seien, den Tod durch Fremdverschulden auszuschließen. Es sei hingegen von öffentlichem Interesse, ein besonderes Augenmerk auf Seuchen zu richten.169 Diese Sorge war vor allem dem Auftauchen der beiden Krankheiten Cholera und Tuberkulose geschuldet. Diese Epidemien stellten im 19. Jahrhundert die häufigste Todesursache in der Bevölkerung dar. Aber auch die Pocken, Meningitis, Gelbfieber und die durch verdorbenes Schweinefleisch verursachte Trichinenkrankheit sollten gemeldet werden. Daneben blieb die Kontinuität bestehen, staatliche Sorge auf soziale Außenseiter oder Personen, die kurzzeitig außerhalb der sozialen Ordnung 167 Vgl. beispielsweise »Von den Todten-Büchern«, in: Code Napoléon, S. 24 ff. 168 Vgl. »Kirchenbücher«, in: Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften, Bd. 7, S. 522-533, S. 522. 169 Vgl. Arnold Heller: »Ueber die Nothwendigkeit der gesetzlichen Einführung von Verwaltungs-Sectionen«, in: Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen 51 (1897), S. 387-390. 152
SCHEINTOD IN DEN MEDIEN DER AUFKLÄRUNG
standen zu richten: Heller wollte Sektionen bei allen Selbstmördern sowie ledigen Wöchnerinnen, alleinstehenden Personen und unehelichen Kindern bis zum schulpflichtigen Alter, die gestorben waren, durchgeführt wissen.
Medizinisch-anthropologische Konstruktionen und Strategien in der Öffentlichkeit. Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden die Anfänge der Scheintoddebatte im engeren Sinne, das heißt die Veröffentlichung der anthropologischen Neuformulierung und ihrer Folgen für das veränderte Verständnis des Todes in den Medien der Aufklärung, nachgezeichnet. Damit wurde gezeigt, dass neues Wissen einen Promotor benötigt, um zu einem Teil der Gesellschaft zu werden. Diese Aufgabe übernahm der französische Arzt JeanJacques Bruhier d’Ablaincourt mit seiner Dissertation de l’Incertitude des Signes de la Mort. Dieses Buch wurde ins Deutsche übersetzt, gelangte in die Zeitschriftenöffentlichkeit der Aufklärung und geriet in die Hände der verschiedenen Obrigkeiten. Dadurch wurde eine Diskussion über die Feststellung des Todes innerhalb der gesellschaftlichen Eliten in Gang gesetzt. Sie verdankte ihre Dynamik dem Pressewesen in der Aufklärung, zielte auf staatliche Stellen ab und mündete in konkreten Handlungsanweisungen: Die Todeszeichen sollten in den Bereichen, die in der Verantwortung der Obrigkeit lagen, kontrolliert werden. Zu diesen Verantwortungsgebieten zählten von jeher die ungeklärten Todesursachen und die Todesfälle durch Gewalteinwirkung. Die Feststellung des Todes wurde rechtlich neu formuliert. Der Schutz des Lebens markiert die Herauslösung des Rechts aus dem theologischen Naturrecht in seine säkularisierte Form. In der rechtlichen Fixierung des Lebensschutzes besteht der eigentliche Gehalt der Gesetzesnovellen, denn ein öffentliches Interesse an der Erhaltung des Lebens und des Leibes anderer hatte es schon vorher gegeben. Auch in diesem Kapitel zeigt sich, wie das Randphänomen »Scheintod« auf allgemeine gesellschaftliche Wandlungsprozesse verweist: Die Ärzte, die sich zum Sprachrohr der Naturforschung machten und sich der Gefahr vor dem Lebendigbegrabenwerden annahmen, waren »nur« Einzelpersonen. So waren auch die Multiplikatoren der Scheintoddebatte in gewisser Weise eine Randgruppe. Bezeichnend ist jedoch, dass diese Träger klar machen konnten, dass Leben und Tod in die Deutungshoheit der Medizin – gegen die Theologie oder die Religion – einrückte. Weil das Randphänomen für die Zeitgenossen plausibel auf tief greifende, 153
SCHEINTOD
wichtige Fragen verwies und es für einen neuen Imperativ kollektiven Handelns stand, konnten aus der Sorge um Scheintote weitreichende Ansprüche an gesellschaftlichen Wandel gestellt werden: für die flächendeckende Verlängerung der Bestattungsfristen, für die Errichtung von Leichenhäusern und Rettungsanstalten. Diese Neuerungen stehen für die »Trennung der Lebenden von den Toten« und waren dem veränderten Verständnis von Leben und Tod geschuldet. Was geschah, als diese Neukonzeption die Kreise gesellschaftlichen Eliten verließ und weitere Teile der Bevölkerung konfrontierte, ist Gegenstand des nächsten Kapitels.
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FRÜHZEITIGE BEERDIGUNGEN. BESTATTUNGSPRAKTIKEN AUF
DEM
PRÜFSTAND
Die Forderung der Medizinalpolizei, Bestattungen bis zu drei Tage aufzuschieben, stellte einen Eingriff in die praktische Ordnung des Alltags dar, denn Verstorbene wurden häufig in weniger als drei Tagen beerdigt. Für die Möglichkeit, dass Menschen lebendig begraben wurden, gab es also eine Entsprechung in der Praxis: Insbesondere Kinder und Arme wurden häufig innerhalb von 24 Stunden beerdigt. In der frühneuzeitlichen Gesellschaft gab es keine einheitlichen Bestattungszeiten, bemaß sich doch der Zeitraum zwischen Tod und Bestattung nicht danach, ob Lebenskräfte im menschlichen Körper wiederkehren könnten. Vielmehr richtete sich der Zeitpunkt der Beerdigung nach Personenstatus und Stand des Verstorbenen. Wurden Kinder und soziale Unterschichten oft innerhalb eines Tages beerdigt, konnte es bei Ranghöheren vorkommen, dass die Zeit zwischen Tod und Beerdigung sogar mehr als drei Tage betrug. Die Geistlichen um 1800 nahmen entsprechend für sich in Anspruch, Menschen nicht lebendig zu begraben. Dass die Medizinal- oder Verwaltungsbeamten ihnen diesbezüglich Leichtfertigkeit vorwarfen, lag an Unterschieden im Verständnis von Leben und Tod. Die Beamten vertraten die medizinisch-anthropologische Vorstellung, nach der das Maß der Lebenskräfte ausschlaggebend für die Bestimmung des Todes war. Im Gegensatz dazu war für die Priester und Pastoren – hier verkürzt als die Vertreter einer voraufklärerischen Definition des Todes benannt – entscheidend, dass die Seele, »geistig, aber dennoch erfahrbar« (Schmitt), der kleine Doppelkörper, sich von seinem leiblichen Körper getrennt hatte. Wenn dieser Moment eingetreten war, konnte bedenkenlos zur 155
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Beerdigung geschritten werden. Die Ausführung der Bestattung richtete sich dann nach unterschiedlichen Vorgaben. Die Struktur und die Zeremonien der Beerdigungen unterschieden sich nach den jeweiligen Konfessionen, Regionen, Bräuchen und Gewohnheiten. In diesem Kapitel wird der veränderte Wissensstand, der die Auflösung der alten Seelenvorstellungen auf den Weg gebracht hatte, auf seine Konfrontation mit den Alltagspraktiken und Routinen geprüft. Die Gegenüberstellung von neuer und alter Anthropologie verdeutlicht unter anderem, weshalb die Gesetze zur Verhütung des Scheintodes nicht eingehalten wurden: Die Theorie der Lebenskräfte stieß mit einer Anthropologie zusammen, für die das Konzept des Scheintodes fremd war. Die Rahmenhandlung dieses Kapitels bildet eine Fallstudie aus dem Herzogtum Oldenburg, in der ein Artikel in einer moralischen Wochenschrift im Jahr 1803 einen Streit zwischen einem katholischen Priester und einem Verwaltungsbeamten über die Bestattungsmodalitäten auslöste. An diesem Fall wird exemplarisch vorgeführt, an welchen Stellen im Umgang mit Tod und Sterben alte Seelenvorstellungen und neue medizinische Ansprüche im Widerspruch standen. Betroffen waren, dies zeigt der Abgleich mit nichtkatholischen Bestattungspraktiken, von dieser Konfrontation alle Konfessionen gleichermaßen. Sowohl bei Katholiken, Protestanten als auch in den jüdischen Gemeinden lag den Bestattungen ein anthropologisches Modell zugrunde, das von dem Moment der Trennung von Körper und Seele ausging. Um den Umgang mit der Körper-Seele-Zweiheit hatten sich religiöse, magische und regionale Praktiken gebildet. Die Beharrungskräfte der alten Seelenvorstellungen, das zeigen die hinzugezogenen Fälle waren im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert zwar stark und in der Lebenswirklichkeit der Menschen präsent, gleichwohl waren sie nicht mehr selbstverständlich. Es war die neue Anthropologie, die die Grundlage für die Neugestaltung der Beerdigungsvorschriften des ausgehenden 18. Jahrhunderts bildete. Die Fallstudie aus dem Herzogtum Oldenburg umfasst die Jahre zwischen 1803 bis 1810. In diesem Zeitraum wurde die Frage der Bestattungsfristen zwischen der katholischen und evangelisch-lutherischen Kirche im Land und den staatlichen Stellen in Oldenburg verhandelt: 1810 wurde vom Herzog festgelegt, die Bestattungsfristen auf drei Tage zu verlängern. Die neue Anthropologie wurde damit staatlich verankert und der Bereich des Umgangs mit Tod und Sterben, der die Zeit zwischen Eintritt des Todes und der Beerdigungsfeier betraf, dem medizinischen Zuständigkeitsbereich zugeschlagen.
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FRÜHZEITIGE BEERDIGUNGEN
Konflikte um Bestattungsfristen in Oldenburg 1803. Zwei Anthropologien treffen aufeinander Im Februar 1803 erschien im Wochenblatt zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse, einer der sogenannten moralischen Wochenschriften im Herzogtum Oldenburg, ein Beitrag mit dem Titel »Grausame Gewohnheit des zu frühen Begrabens«. Darin klagte der Verfasser, Carl Heinrich Nieberding, Obervogt des Kirchspiels Lohne im Herzogtum Oldenburg, die »unmenschliche Gewohnheit« an, Verstorbene würden dort weniger als 24 Stunden nach ihrem Ableben beerdigt werden.1 Wenn jemand am Vormittag starb, erklärte Nieberding, läuteten bereits am gleichen Mittag die Totenglocken und der Verstorbene wurde am folgenden Morgen um zehn Uhr bestattet. Wenn Kinder verstorben waren, fand die Beerdigung noch eher statt. Starb das Kind morgens um sechs Uhr, so »wird es gleich verläutet« und noch am gleichen Morgen um zehn Uhr, also kaum vier Stunden nach dem Tode bestattet. Menschen hatten so »auf eine Art, die man sich wohl nicht schrecklich genug denken kann, geendigt, und«, das empörte Nieberding am meisten, »doch wird es noch geduldet«. Der Umstand, dass gegen diese Praxis nichts unternommen wurde, rief den Staat auf den Plan, denn »[w]arum sollte nicht hier, wenn Gründe der Volkslehrer nicht wirken, von Polizeywegen ein Einsehen gethan werden, da meines Wissens im Religionssystem der Catholiken kein Grund liegt, so sehr mit der Beerdigung zu eilen«. Nieberding wollte die Bestattungsfristen behördlich geregelt wissen, denn »[a]uch die Todten haben ihre Rechte«.2 Die Klage in der oldenburgischen Zeitung verhallte nicht ungehört. Der Priester der Lohner katholischen Kirche St. Gertrud, Bernhard Heinrich Topp, erfuhr von diesem Beitrag und verfasste eine Gegendarstellung. Gekränkt warf er dem Obervogt vor, er habe »nur aus stafirte Unwahrheiten an[ge]führet, und auch die Ehre des gantzen Kirchspiels, des Pfarrherrn, ja, was das abscheulichste ist, sogahr der vorgefaßten Obrigkeit verletzt«. Er, Topp, habe sich sehr wohl an die Vorschriften der Agende, dem liturgischen Buch, das die Vorschriften für den Gottesdienst und einzelne Amtshandlungen des Priesters bei der Taufe oder Trauung enthielt, gehalten. Außerdem habe er sich an »den im Kirch1
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Carl Heinrich Nieberding: »Grausame Gewohnheit des zu frühen Begrabens«, in: Wochenblatt zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse 1 (1803), S. 60-61. Ich danke Prof. Dr. Werner Freitag, Münster, für den Hinweis auf diesen Fall. Vgl. auch Werner Freitag: Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft. Das Dekanat Vechta 1400-1803, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1998, S. 344-345. Alle Zitate in Nieberding: »Grausame Gewohnheit des zu frühen Begrabens«, passim. 157
SCHEINTOD
spiel Lohne schon vor undenklichen Jahren gehabten Gebrauch in Betref des Todes Begräbnis« gehalten, bei dem die Gemeinde »den Tag und die Zeit der Begrabung« bestimme.3 Ihm sei kein Fehlverhalten vorzuwerfen. Der Priester stellte die Bestattungspraktiken aus seiner Sicht klar. Starb ein »grosser mensch«, ein Erwachsener, vor Mitternacht, so wurde sein Tod am darauf folgenden Tag um Viertel vor zwölf durch Glockengeläut angezeigt. Am nächsten Morgen, also am zweiten Tag nach dem Tod, fand dann die Beisetzung um zehn Uhr statt. Kam der Verstorbene aus einem umliegenden Dorf, wurde das Begräbnis auf elf Uhr festgesetzt. Starb jemand kurz »oder doch nicht lange nach« Mitternacht, »nicht aber wie angegeben 11 ¾ Uhr Morgens«, wurde das Prozedere beibehalten. Trat der Tod zu einer anderen Tages- oder Nachtzeit ein, fand das Begräbnis erst am dritten Tag statt. So sei der reguläre Verlauf. Topp betonte: »[D]ie meisten aber, wenigstens Viele, laßen erst am dritten Tage begraben«.4 Ausnahmen von dieser Praxis waren Beerdigungen von Kindern, insbesondere von Neugeborenen. In diesen Fällen verhielt es sich durchaus so, dass sie am Tag ihres Ablebens oder am folgenden Tag beigesetzt wurden. »Um armen und dürftigen Eltern die [Beerdigungs-] Kosten zu ersparen« geschah es auch, dass ihr Kind direkt nach erhaltener Nottaufe begraben wurde.5 Diese Bestattungen bestanden nur aus dem Vollzug der christlichen Riten, bei denen der Priester und die nächsten Angehörigen anwesend waren. In diesen Fällen konnten zwischen Tod und Begräbnis tatsächlich erst wenige Stunden verstrichen sein. Nieberding hatte also polemisiert oder zumindest übertrieben. Es war nicht so, dass alle Verstorbenen innerhalb von wenigen Stunden unter die Erde gebracht wurden. Trotzdem aber genügten die Lohner Beerdigungspraktiken den medizinalpolizeilichen Ansprüchen, die durchgängig drei Tage Aufbahrungszeit zwischen Tod und Bestattung gefordert hatten, nicht mehr. In seiner Kritik wurde Nieberding von dem Amtsarzt Jacobi bestärkt: Er bestätigte, dass »die Armen am Ende des ersten Tages, die Bemittelten erst am dritten oder gar vierten Tage begraben werden«.6
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BAM Lohne A 5. Ebd. Ebd. »Aktenstücke aus den Verhandlungen des kuhrfürstlichen Collegii medici zu Münster über das Begraben der Todten«, in: Scherfs Beiträge zum Archiv der medizinischen Polizei und der Volksarzneikunde 6 (1796), S. 60-112, S. 86.
FRÜHZEITIGE BEERDIGUNGEN
Der Lohner Seelenhirt gab sich mit seiner Gegendarstellung nicht zufrieden. Er konnte diesen Angriff auf seine Ehre nicht auf sich beruhen lassen. Es folgte eine Kirchenvisitation, bei der Nieberding und Topp ihren Streit nochmals in aller Schärfe ausfochten. Sie fand ein halbes Jahr statt, nachdem Nieberdings Artikel erschienen war, am 3. Oktober 1803. Unter großer Beteiligung der Kirchengemeinde und der Anwesenheit der geistlichen Würdenträger, dem Vikar, »den beyden Provisoren, den beyden Lohnerschen- und sämtlichen Bauerschafts Schullehrern« kam es zu einer lautstarken Auseinandersetzung. Topp, in vollem Ornat und in Begleitung des Landdechanten Haskamp sowie des Kaplans, schritt in die Kirche und schrie Nieberding an, ob er »ihn verklagt hätte, daß er die Todten zu früh begrabe?« Er »suche ihn zu chicaniren, [er], ein Junge, der eben von der Schule komme, wolle [Topp] was lehren? [Er] solle ihn wohl lassen«. Nieberding war entrüstet. Der Priester hatte den oldenburgischen Amtmann als unmündig geschmäht, ihn öffentlich beleidigt und ihm Böswilligkeit unterstellt. Nun war der Zug an Nieberding. Er verklagte Topp bei der Kammer in Oldenburg. Nieberding relativierte seinen Beitrag im Oldenburger Wochenblatt. Er führte aus, dass er in seinem Beitrag »nur meine Privatmeinung hierüber an den Tag legen wollte«.7 Der in seiner Ehre gekränkte Amtmann Nieberding verlangte Genugtuung. Topp wurde gerichtlich aufgefordert, sich zu rechtfertigten. Er wich von seiner Meinung nicht ab, dass Nieberdings Vorwurf ungerechtfertigt sei und selbst eine Ehrverletzung darstelle. Er entschuldigte sein ausfallendes Verhalten mit seinem Alter. Topp war zu jenem Zeitpunkt 74 Jahre alt und seit 47 Jahren im Kirchspiel Lohne tätig: »[D]er Gedanke, daß ich öffentlich am Ende meiner Tage als ein Mann unter dessen Augen und Aufsicht eine grausame, unmenschliche Grausamkeit ausgeübt werde, dargestellt sey, sollte zu sehr auf mein graues Haupt gewirkt, […] als daß sich der erste gerechte Eifer (den Alter wenigstens entschuldigen wird) auf dem Weg von meinem Hause nach der Kirche schon ganz sollte gelegt haben.«8
Der Pastor gab zu, Nieberding angegriffen zu haben, rechtfertigte sein Verhalten jedoch damit, »daß jene öffentliche Prostitution meiner und des Kirchspiels Lohne in mehr alls einer Rücksicht ganz unverzeihlich und billig einer nachdrücklichen Ahndung würdig sey«. Der Priester jedenfalls stritt weiter jedes Fehlverhalten ab. Im Kirchspiel Lohne würden die Verstorbenen ordnungsgemäß bestattet und wer dies bestreite, 7 8
BAM Lohne A 5. Ebd. 159
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müsse mit Gegenwehr rechnen. »Wer sich einer […] aller guten Regel und Ordnung widerstreitende öffentliche Beschimpfung erlaubt«, der habe es sich selbst zuzuschreiben, »wenn er die wohlverdiente Rüge auch wieder öffentlich empfindet«.9 Ob Nieberding jemals Genugtuung bekommen hat, ist aus den Quellen nicht zu erfahren. Ein Jahr später hieß es lapidar in einem Schreiben der oldenburgischen Kammer an den Herzog über den gegenwärtigen Stand des Streits, dass der von kirchlicher Seite für derartige Gerichtssachen zuständige Erbkämmerer und Drost, Graf von Galen, »die Sache […] jetzt gütlich beygelegt« habe.10 Auseinandersetzungen als Ehrkonflikte auszutragen, gehört zu den regulären rechtlichen Verfahrensweisen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft und ihrer Übergangsphase.11 Dabei konnte es wahlweise um Bestattung, Besitzverhältnisse und andere Konflikte gehen. An dieser Stelle soll auf die rechtliche Form und die Frage der Ehre nicht weiter eingegangen werden. Vielmehr soll es um die Streitfrage gehen, die Topp und Nieberding so erbost hatte: den Zeitpunkt der Bestattung. Wogegen richtete sich die Aufregung? In diesem Ehrkonflikt ging es um verschiedene Auffassungen des Todes, um die Differenz zwischen alter und neuer Anthropologie. Dabei stehen die beiden Kontrahenten idealtypisch für das alte und neue Verständnis des Todes. Carl Heinrich Nieberding (1779-1851) war Vogt des Kirchspiels Lohne im Amt Vechta, gelegen im südöstlichen Teil des Herzogtums Oldenburg. Das Amt Vechta gehörte ehemals zum Niederstift Münster, welches den nordöstlichen Teil des Fürstbistums Münster bildete. Nach dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 fiel es an das Herzogtum Oldenburg. Nieberding hatte seine Karriere unter der Herrschaft eines zugleich geistlichen und weltlichen Fürsten begonnen. In Steinfeld bei Vechta geboren, besuchte der Sohn eines Landwirts und Verwalters der fürstbischöflich-münsterschen Rezeptur die Gymnasien in Vechta und Osnabrück.12 Nach vierjähriger Gymnasialzeit begann er 1796 in der Landwirtschaft zu arbeiten. Bereits ein halbes Jahr später wurde er bei einem Gerichtsschreiber in Vechta angestellt. 1798 legte Nieberding in Münster das Notariatsexamen ab. Im Mai 1799 wurde er als Markenfiskal des Amtes Vechta eingesetzt. Zwischen 1799 und 1805 verwaltete 9 10
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Ebd. An dieser Stelle endet der Konflikt. Über die Aussage, dass der Drost den Streit »gütlich beygelegt« habe, reicht die Quellenüberlieferung nicht hinaus. Vgl. StAOl Best. 31-6-16, Nr. 21 I, Bl. 117. Vgl. Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 1995. Vgl. Hans-Joachim Behr: »Carl Heinrich Nieberding in seiner Zeit«, in: Jahrbuch für das Oldenburger Münsterland 30 (1981), S. 42-60, S. 45 ff.
FRÜHZEITIGE BEERDIGUNGEN
Nieberding verschiedene fürstbischöfliche Güter in der Nähe von Lohne. Im September des Jahres 1799 wurde er zum münsterschen Vogt in Lohne bestellt. Nieberding repräsentierte damit den geistlichen und weltlichen Fürstbischof und Landesherrn, den Bischof von Münster, in einem unteren Verwaltungs- und Gerichtsbezirk. Beim Übergang des Amtes Vechta an das Herzogtum Oldenburg wurde Nieberding wie fast alle münsterschen Beamten in seinen Ämtern bestätigt. Dem Beitrag über die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens waren Ausführungen vorausgegangen, die Nieberding in einer Denkschrift 1803 an seinen neuen Landesherrn, den Herzog von Oldenburg, Peter Friedrich Ludwig (1755-1829), niedergeschrieben hatte. In seinen Patriotische[n] Gedanken zu einer verbesserten Verfassung der Aemter Vechta und Cloppenburg machte er, nach Stichworten geordnet, Vorschläge zur Neuorganisation und Integration der beiden Ämter in das Herzogtum.13 Vor dem Reichsdeputationshauptschluss hatte Vechta gemeinsam mit den Ämtern Cloppenburg und Wildeshausen das Niederstift Münster gebildet; die beiden überwiegend katholischen Ämter Vechta und Cloppenburg wurden danach dem protestantischen Oldenburg zugesprochen. In dieser Denkschrift machte Nieberding verschiedene Vorschläge zur Neuregelung der Gebiete nach ihrer Herauslösung aus dem ehemaligen Fürstbistum. Der Autor schlug eine Ämterreform vor und forderte die Einführung verschiedener staatlicher Behörden und ihre Besetzung mit Beamten für ein Medizinalwesen, die Verwaltung und das Gericht. Unter dem Eintrag »Kirchhöfe« griff er den Vorschlag einer anderen Schrift, das schon erwähnte Noth- und Hülfsbüchlein von Rudolph Zacharias Becker, auf, und sprach sich für die Errichtung von Friedhöfen außerhalb des jeweiligen Ortes »auf einem abgelegenen freyen Platze angelegt« und für eine Bepflanzung durch Lindenbäume und eine Hecke aus. In einem anderen Abschnitt hatte sich Nieberding zusätzlich dafür eingesetzt, ein Grabhäuschen auf dem Friedhof zu errichten, in dem Tote aufgebahrt werden könnten »bis zur völligen Sicherheit, daß sie wirklich todt sind«.14 So würden sie nicht schon binnen 24 Stunden beerdigt. Mit seiner Denkschrift schloss der Obervogt direkt an die Vorschläge an, die von Johann Peter Frank in seinem System einer medizinischen Polizey und von anderen im Umlauf befindlicher medizinalpolizeilicher Veröffentlichungen gemacht worden waren.
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Vgl. Friedrich-Wilhelm Schaer: »Carl Heinrich Nieberdings Denkschrift zu einer Verwaltungs- und Kirchenreform in Südoldenburg (1803)«, in: Jahrbuch für das Oldenburger Münsterland 32 (1983), S. 35-44. StAOl Best. 6-D Nr. 315, Bl. 35. 161
SCHEINTOD
Politisch bestimmten die Revolutionskriege das Geschehen im Amt Vechta der Jahre 1803/1804. Die Wirren der politischen Verhältnisse bekam auch Nieberding zu spüren. Er stieß mit französischen Offizieren aneinander, die in diesen Jahren mehrmals das Land durchquerten. Im Oktober 1804 verlangten zwei französische Offiziere eine berittene Ordonanz als Wegführer durch ein nahe gelegenes Moor. Nieberding wollte diesem Befehl nur nachkommen, wenn die Offiziere diesen Dienst bezahlten oder zumindest einen Requisitionsschein ausstellten. Er verwies auf die Neutralität des Herzogtums. Die Offiziere beschwerten sich über diesen Vorfall und die Kammer in Oldenburg stellte Nieberding zwei Wochen unter Arrest.15 Das Herzogtum Oldenburg wurde 1806 nach dem Ausbruch des vierten Koalitionskrieges von französischen Truppen besetzt. Zwar wurde im Frieden von Tilsit 1807 die Souveränität des Herzogtums sichergestellt, aber Oldenburg trat auf Druck des Bündnisses zwischen Frankreich und Russland 1808 als letzter Staat dem Rheinbund bei. Der Code Civil wurde eingeführt und das Herzogtum nach dem Vorbild der französischen Verwaltung umstrukturiert. Aufgrund weiterer Querelen zwischen Russland und Frankreich 1810 wurde das Herzogtum von Frankreich annektiert und der Herzog Peter Friedrich Ludwig veranlasst, ins Exil nach St. Petersburg zu gehen. Zwei Jahre später, 1813, kehrte der Landesherr aus dem russischen Exil nach Oldenburg zurück. Nach dem Ende der französischen Besatzung und der Befreiungskriege trat das Herzogtum dem Deutschen Bund 1815 als wiederum souveräner Staat bei und stieg zum Großherzogtum auf.16 In dieser Zeit der französischen Besetzung Oldenburgs wurde die Verlängerung der Beerdigungsfristen beschlossen.
Frühzeitige Beerdigungen und ständische Gesellschaft Dass Tote innerhalb von 24 oder 48 Stunden begraben wurden, war keine Besonderheit des oldenburgischen Kirchspiels Lohne. Auch in anderen Orten wurde so verfahren. Der protestantische Pfarrer der Gemeinde Kleinfahnern bei Gotha in Thüringen, Johann Volkmar Sickler (17421820), beschrieb dieselbe Praxis. Der auch als Apfelzüchter und Obstforscher bekannt gewordene Geistliche äußerte sich ähnlich wie der Verwaltungsbeamte Nieberding. Er sprach von der »Eile« der Landbevölke15 16
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Vgl. Behr: »Carl Heinrich Nieberding in seiner Zeit«, S. 52. Vgl. Friedrich-Wilhelm Schaer/Albrecht Eckhardt: »Herzogtum und Großherzogtum Oldenburg im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus (1773-1847)«, in: Albrecht Eckhardt (Hg.): Geschichte des Landes Oldenburg, Oldenburg: Heinz Holzberg Verlag 1987, S. 271-331.
FRÜHZEITIGE BEERDIGUNGEN
rung, »die Todten unter die Erde zu bringen«, die ihn als Pfarrer oftmals in die Verlegenheit brachte, »der Zudringlichkeit der Hinterbliebenen nachzugeben«, indem er »bey zweifelhaften Fällen früher begräbt«.17 Die Praxis des »zu frühen Beerdigens«, gegen die sich die Aufrufe und Artikel in den Zeitschriften der Aufklärung wendeten, hatte also hier ihre Grundlage und die Klage der Verwaltungsbeamten war vor dem Hintergrund dieses Brauchs plausibel. Das Beispiel aus dem Herzogtum Oldenburg und die Aussage des Pfarrers aus Thüringen bezogen sich auf ländliche Gebiete. In Frankreich jedoch reagierte Bruhiers Buch auf die gleiche Praxis, auch dort wurden Verstorbene in diesem Sinne frühzeitig bestattet.18 Ähnliche Befunde weist der niederländische Historiker Johan Huizinga für das Mittelalter nach: Auch dort wurden die Toten in weniger als drei Tagen begraben.19 Weshalb wurden Bestattungen in weniger als drei Tagen vollzogen? Hinter dieser Praxis stand sich die Vorstellung, dass dann zur Bestattung geschritten werden konnte, wenn die »kleine, geistige, aber quasi körperhafte Seele« (Schmitt) den Körper verlassen hatte. Diese Anthropologie und die daraus resultierende Praxis waren nicht auf das 18. Jahrhundert beschränkt, sie bezogen sich nicht allein auf ländliche Gebiete und waren nicht nur in bestimmten Regionen heimisch. Vorläufer dieser Form der Bestattung reichen weit zurück. Sie kamen dann zur Anwendung, wenn von einer Körper-Seele-Zweiheit ausgegangen wurde. Bereits ein alttestamentarisches Verbot sagt, den Leichnam nicht »über Nacht« aufgebahrt zu lassen. Rabbinische Texte sprechen von einem »Schauder vor der Gefahr unbestattet zu bleiben«.20 Im Buch Tobias des Alten Testaments findet sich eine Stelle, an der Tobit, der Vater des Tobias, seine ermordeten Volksgenossen innerhalb weniger Stunden bestat17
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»Des Herrn Pfarrer Joh. Volkmar Sickler zu Kleinfahnern im Gothaischen, Vorschlag zur Verhütung, daß die Menschen einander nicht lebendig begraben«, in: Scherfs Beiträge zum Archiv der medizinischen Polizei 4 (1793), S. 158-162. Vorher abgedruckt als »Noch ein Vorschlag, zu verhüten, daß die Menschen einander nicht lebendig begraben«, in: Neues Hannoverisches Magazin 2 (1792), S. 1557-1562. Sickler beschäftigte sich außerdem mit dem Obstanbau und wurde durch die Züchtung verschiedener Apfel- und Birnensorten über Thüringen hinaus bekannt. Vgl. Milanesi: »Mort Apparente, Mort Imparfaite«, S. 206 (Fn. 6). Vgl. Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hg. v. K. Köster, Stuttgart: Kröner 1975, S. 198 f; die Praxis »das Begräbnis geschwind wegzumachen« ist auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts belegt bei Hermann Gebhardt: Zur bäuerlichen Glaubens- und Sittenlehre, Gotha: Gustav Schloeßmann 31895, S. 330. Zit. nach »Bestattung«, in: TRE, Bd. 5, S. 730-756, S. 741. 163
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tet. Dort heißt es, dass Tobit den Leichnam vom Tatort in ein Haus brachte und ihn bis Sonnenuntergang aufbahrte. Nach Einbruch der Dunkelheit ging er hinaus, um ein Grab zu schaufeln und begrub den Toten. Dass der Eintritt des Todes sichergestellt sein musste, dessen war sich auch der Lohner Priester Topp bewusst, denn »keine Leute, besonders bey plötzlichen Todesfällen werden früher begraben als man vom wirklichen Tode gewiß ist«.21 Der Bezugsrahmen, in dem er zwischen Leben und Tod unterschied, ging jedoch von dem alten Seelenmodell aus. All die unklaren Todesursachen und die ambivalenten Todesfälle, die Ärzte ins Visier genommen hatten, um auf eine Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens hinzuweisen, zu denen »plötzliche Todesfälle« genauso wie Ohnmachten oder Unfälle gehörten, hatten auch im Alltag und vor der Aufklärung der besonderen Beobachtung unterstanden. Darauf wies Topp hin. Dass nun diese Gruppe der Todesfälle unter dem Gesichtspunkt betrachtet wurde, ob noch Lebenskraft in ihnen steckte, hatte jedoch für ihn keinen Bezug. Was am Anfang des ersten Kapitels als Gegensatz zwischen Geisterglauben und neuer Anthropologie, also als Gegensatz zwischen den Lebensprinzipien Seele und Kräftelehre beschrieben wurde, wird in diesem Kapitel zunächst als Gegensatz zwischen Religion und aufgeklärter Medizin fortgeführt. Es soll jedoch nicht der Eindruck entstehen, als würden Religion und Aberglaube gleichgesetzt. Es steht außer Frage, dass sich Theologen und Geistliche gegen eine Verwandtschaft zwischen Volksglauben und theologischer Lehre wehren würden. Die Kirchen haben in ihrer Geschichte Abweichungen von der offiziellen Lehre, zu denen die Glaubensformen und -inhalte der Bevölkerung zählen, oftmals als Aberglauben diskreditiert. Der Aberglaube um 1800 unterscheidet sich von dem Aberglauben, den die Kirche bis dahin bekämpfte. Unter Aberglauben wurden ursprünglich Glaubensinhalte und -praktiken verstanden, die von der offiziellen christlichen Lehre abwichen und die als Bestandteil vorchristlicher Religionen für überwunden oder einfach für falsch erklärt wurden. Der Aberglaube in der Aufklärung verstand unter Aberglauben all die Vorstellungen und Praktiken, die sich naturgesetzlich nicht erklären ließen und die deshalb als übernatürlich oder unnatürlich galten. Den Aberglauben nunmehr so zu verstehen, markiert die gesellschaftliche Ablösung des religiös-metaphysischen Bezugsrahmens und weist auf die empirisch zu untersuchende und verstehende Welt hin. Unterschieden wurde im Laufe der Aufklärung nach einer Theologie, die mit den Ansprü21 164
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chen der Aufklärung kompatibel war. Sie stand im Gegensatz zu einer Religion, die von der Bevölkerung praktiziert wurde. So gesehen entstand ein sogenannter Volksglaube erst Ende des 18. Jahrhunderts. Bezeichnend für diese Differenzierung ist, dass auch der Begriff »Volksreligiösität« erst Ende des 18. Jahrhunderts geprägt wurde.22 Diesen Differenzierungsvorgang gilt es mitzubedenken, denn die Inhalte dessen, was später in Religion und Volksglaube getrennt wurde und von den Aufklärern am Ende des 18. Jahrhunderts als Aberglaube abqualifiziert wurde, sind in Bezug auf die vertretene Anthropologie gleich. Beide gehen von der »geistigen, aber dennoch körperhafte Seele« (Schmitt) aus, die nach dem Tod den Körper verlässt. Auch das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens basiert auf der seit der Aufklärung gültigen Unterscheidung von Volksglauben als Aberglauben und naturforschendem Wissen. Dieses Lexikon versammelt Einträge, die unter Aberglauben die Anthropologie versteht, die von Jean-Claude Schmitt für das Mittelalter als gelebte Wirklichkeit nachgewiesen wurde und in dieser Fallstudie noch immer gültig ist. Es handelt sich dabei um eine Auffassung, in der die Menschen von der Existenz und der Macht übernatürlicher Wesen überzeugt waren und in der der Geisterglaube, zu denen die Seelen zählten, etwas allgemein Akzeptiertes darstellte. Wann die Bestattung letztlich stattfand, war am Ende der Frühen Neuzeit den unterschiedlichsten Umständen und Kriterien geschuldet. Sie fand zwar nach der Trennung von Körper und Seele statt, der Zeitpunkt war jedoch abhängig von dem Status der Person. Weiterhin unterschied er sich regional und war durch liturgische und theologische Vorgaben bestimmt. Diese Mischung aus religiösen und gewohnheitsrechtlichen Maßgaben ließ Topp sagen, dass es die Gemeinde war – und nicht er oder die Kirche –, die den Tag und die Uhrzeit der Bestattung bestimmte. Es handelte sich bei Beerdigungen um einen »schon vor undenklichen Jahren gehabten Gebrauch«.23 Sie waren eine kulturelle Praxis, die nicht von staatlichen, geschweige denn medizinischen Erwägungen bestimmt wurde. Die Beerdigungsfristen waren keinesfalls einheitlich und spiegelten zudem die Hierarchie der stratifizierten Gesellschaft wider. Es gibt Beispiele, dass sich die Zeit zwischen Tod und Bestattung über mehrere Tage erstreckte. Aus Nürnberg ist beispielsweise überliefert, dass im Mittelalter der Sonntag ein bevorzugter Tag für eine Bestattung war. So 22
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Vgl. Robert Scribner: »Volksglaube und Volksfrömmigkeit. Begriff und Historiographie«, in: Hansgeorg Molitor/Heribert Smolinsky (Hg.): Volksfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit, Münster: Aschendorff 1994, S. 121-138. BAM Lohne A 5. 165
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konnte es geschehen, dass eine am Montag verstorbene Person bis zum nächsten Sonntag aufgebahrt wurde, um sie dann beizusetzen.24 Daneben richtete sich die Zeit, in der der Verstorbene aufgebahrt wurde, nach der sozialen Stellung. Der »gemeine Mann«, arme Menschen generell und Kinder wurden nach kürzerer Zeit beerdigt als Wohlhabende und Personen, die in der Ständegesellschaft einen hohen Rang besetzten. Diese längere Zeit des Aufbahrens erfüllte soziale Zwecke. Sie diente dazu, Abschied zu nehmen und die letzte Ehre zu erweisen. Ein Aufschub hatte manchmal ganz praktisch damit zu tun, dass die Trauergäste von weit anreisen mussten.25 Begräbnisse, ihre Rituale und Zeremonien, sind in der Sekundärliteratur meist im Hinblick auf ihre Funktion in der stratifizierten Gesellschaft analysiert worden. In ihnen wurde, wie in anderen Riten auch, Ungleichheit festgeschrieben. Dabei unterschieden sich Bestattungen nicht nur durch Kategorien wie Stand und Personenstatus, auch wurde ganz grundsätzlich eine Grenze zwischen »ehrlichen« und »unehrlichen« Bestattungen gezogen. Mary Lindemann hat am Beispiel des Armen- und unehrlichen Begräbnisses in der Frühen Neuzeit erklärt, wie solche Formen des Begräbnisses den Umgang einer Gesellschaft mit ihren Außenseitern deutlich machten.26 Ehrliche Begräbnisse waren die mit allen christlichen Riten vollzogenen Bestattungen. Wurde jemand »unehrlich« bestattet, reflektierte dies seinen oder ihre Außenseiterposition innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Die seit dem Mittelalter herausgebildete Distinktion in Bezug auf den Ort der Bestattung hatte dazu geführt, dass Geistliche und Adelige in den Kirchen beerdigt und weniger bedeutende Gemeindemitglieder auf dem Kirchhof um die Kirche bestattet wurden. Ketzer, Angehörige der sogenannten unehrlichen Berufe wie Henker oder Abdecker, Selbstmörder und Verbrecher wurden ganz von der Bestattung auf einem ordentlichen Friedhof ausgeschlossen. Denn erst während des 17. und 18. Jahrhunderts verlor das unehrliche Begräbnis an Härte. Lindemann schreibt es dem nachlassenden Hexenwahn und der Hexenverfolgung zu, dass ein stabileres und komplexeres Gemeinwesen diese einst ausgestoßenen Leute ohne Ge24
25 26
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Vgl. Hubert Mattausch: Das Beerdigungswesen der Freien Reichsstadt Nürnberg (1219 bis 1806). Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung. an Hand der Ratserlässe und der vom Rat erlassenen Leichenordnungen, München: Dissertationsdruck Schön 1970, S. 31. Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, S. 462; Norbert Ohler: Sterben und Tod im Mittelalter, München: Artemis 1990, S. 115. Vgl. Mary Lindemann: »Armen- und Eselbegräbnis in der europäischen Frühneuzeit, eine Methode sozialer Kontrolle«, in: Paul Richard Blum (Hg.): Studien zur Thematik des Todes im 16. Jahrhundert, Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek 1983, S. 125-139.
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fahr nach und nach integrieren konnte. Manche Stadt- und Staatsregierungen erlaubten dann, dass uneheliche Kinder, Selbstmörder und sogar Verbrecher auf bestimmten Friedhöfen beerdigt werden durften. Im Herzogtum Oldenburg entschied das evangelisch-lutherische Konsistorium von Fall zu Fall, wie mit Selbstmördern und anderen Sündern zu verfahren sei.27 Erst das Allgemeine Landrecht für Preußen gehört zu den Gesetzeswerken, die erstmals verfügten, dass niemandem ein ehrliches Begräbnis auf dem öffentlichen Friedhof versagt werden dürfte. Die Kirche behielt sich nur noch das Recht vor, bei wem sie Zeremonien ausführte. Die Bestattungen nach Stand und Personenstatus reflektierten nicht nur die ungleiche frühneuzeitliche Gesellschaft, sie machten auch Aussagen über das Verständnis des Todes. Die Bestattungen in der Kirche sowie in Abstufungen um die Kirche, auf dem Friedhof oder Verscharrungen außerhalb der geweihten Erde stellten nicht nur die soziale Position im Diesseits dar, sondern wiesen auch darauf hin, welches Schicksal die Seele im Jenseits zu erhoffen wagte. Denn je näher sie an Gott stand, umso größer der Anteil derer, die in der Kirche für sie beteten und die Hoffnung auf Seelenheil verstärkten. Beerdigungen gehörten entsprechend zu den Übergangsriten und den wichtigen Ereignissen im Leben, für die, wenn es finanziell möglich war und es der Stand erlaubte, großer Aufwand betrieben wurde. »Von Armen wegen« wollte niemand bestattet werden, deshalb bemühten sich auch weniger wohlhabende Schichten schon zu Lebzeiten um ein angemessenes Begräbnis. Zünfte und Brüderschaften unterhielten ihre eigenen Sterbekassen, aus denen Bestattungen finanziert wurden.28 Zwei Aspekte zeichneten die Bestattungsordnung in der frühneuzeitlichen Gesellschaft aus. Zum einen bestand der Tod aus der Trennung von Körper und der in ihrer mittelalterlich-christlichen Konzeption verstandenen Seele. Damit zusammenhängend waren Beerdigungen zum anderen Spiegel der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft, die ihre Toten nach Personenstatus und Stand beisetzte. Dies resultierte in sehr uneinheitlichen Beerdigungsfristen. Die Kritik an den »frühzeitigen Beerdigungen« richtete sich gegen beide Aspekte der frühneuzeitlichen Bestattungspraktiken. Sie bestand auf einen zeitlich größeren Ambivalenzbereich, in dem die Präsenz der Lebenskräfte – und nicht einer Seele – unklar war und verlangte, die Beerdigungsfristen zu verlängern. Aus diesem Grund gerieten die ständischen Bestattungsfristen unter Beschuss.
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Vgl. Heike Düselder: Der Tod in Oldenburg. Sozial- und kulturgeschichtliche Untersuchungen zu Lebenswelten im 17. und 18. Jahrhundert, Hannover: Hahn 1999, S. 93. Vgl. ebd. 167
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Beharrungskräfte und neue Möglichkeiten der Zuordnung. Katholiken, Protestanten, jüdische Gemeinden und die Beerdigungszeiten Die nun folgenden drei Unterkapitel beschreiben Rituale und Praktiken aller drei Konfessionen, Katholizismus, Protestantismus und Judentum, die den Umgang mit Tod und Sterben um 1800 kennzeichneten. Maßgeblich für diese Übergangszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert war die Präsenz des Geisterglaubens, die als Gegenwart der alten Seelenvorstellungen verstanden werden kann. Er schlug sich in den Sterbe- und Bestattungspraktiken insofern nieder, als dass die Menschen bei einem Todesfall Sorge für die Reise der Seele ins Jenseits trugen. Dabei rankten die Rituale und Praktiken sich gleichermaßen stark um das Wohl von Körper und Seele: Der Leichnam war nach christlicher und jüdischer Vorstellung Wohnort der und als Auferstehungskörper bedeutsam, die Seele war Trägerin des ewigen Lebens und der Unsterblichkeit.29 Die magischen Vorstellungen bezogen sich darauf, dass der tote Körper als Hülle der Seele daran erinnerte, dass sich die Seele noch im Diesseits aufhalten konnte, solange der Körper noch nicht beerdigt war. Die Auflösung der Seelenvorstellungen hatte demgegenüber dazu geführt, dass mehr Aufmerksamkeit auf die angemessene Entsorgung des toten Körpers gerichtet wurde, weil er als vergänglicher Organismus der Natur zurückgeführt werden musste und eine etwaige Seele für die Ärzte und Medizinalbeamten keine Rolle mehr spielte. Diese Sichtweise wurde durch die neuen Bestattungsverordnungen kolportiert. Die Beharrungskräfte waren in der Übergangszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert zwar stark, es zeichneten sich jedoch neue Zuordnungsmöglichkeiten zu der Lebenskraftlehre auch innerhalb der Konfessionen ab. Diese Differenzierung vollzog sich entlang von Schichten und Ausbildung. Zu den Befürwortern der neuen Bestattungsfristen gehörten der katholische Verwaltungsbeamte Nieberding, aber auch protestantische Pastoren wie der thüringische Pfarrer Sickler oder der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn. Neues Wissen und Religion standen sich also nicht als statische, gegensätzliche Wissensentitäten gegenüber. An welchen Stellen religiöse und volkskulturelle Vorstellungen aneinanderstießen und für Reibungen mit den neu erlassenen Bestattungsvorschriften sorgten, soll Thema der nächsten drei Unterkapitel sein. Sie machen deutlich, weshalb die neuen Bestattungsvorschriften mit den Alltagsbräuchen konfligierten, sie zeigen aber auch auf, dass es im Alltag unterschiedliche Umgangsweisen mit der neuen Herausforderung 29 168
Vgl. Le Goff/Truong: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter, S. 138.
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gab: Das neue Wissen ließ sich teilweise in die herkömmlichen Bestattungsrituale integrieren.
Eingriffe in den Umgang mit der Seele Die Verlängerung der Bestattungsfristen hatte eine Reihe von Problemen aufgeworfen. Denn eigentlich verfügten die Menschen vor der Furcht, lebendig begraben zu werden, so könnte auch argumentiert werden, über wirksame Schutzwälle: So war es Sitte im Brandenburgischen, dass der Sarg unmittelbar bevor er ins Grab gesenkt, nochmals geöffnet wurde, um sich zu vergewissern, dass der Tote tatsächlich tot war.30 Im Jahre 1802 wurden von der kurmärkischen Kriegs- und Domänenkammer das öffentliche Ausstellen der Leichen und das Öffnen der Särge vor der Beerdigung verboten.31 Diese Praxis war weit verbreitet und keine regionale Besonderheit. Eine eindeutige Erklärung dafür gab es nicht: »Vielleicht war es Prachtliebe, welche diesen ekelhaften Gebrauch erzeugte, vielleicht Nachgiebigkeit gegen die Freunde und Bekannten des Verstorbenen, die ihren Freund auch im Tode noch zu sehen wünschten, vielleicht war auch die ganze Handlung ein religiöser Ritus.«32
Auch das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens liefert keine weitergehende Erklärung für den Brauch, den Sarg vor der Grablegung nochmals zu öffnen. Der Sargdeckel wurde kurz vor der Beerdigung auf den Sarg gelegt, »bis die Verwandten den Toten nochmals gesehen haben«.33 Im zweiten Kapitel ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die neue Anthropologie neue Formen des Umgangs mit dem toten Körper nach sich zog. Dazu gehörte, dass, um die Abnahme der Lebenskräfte beobachten zu können, Ärzte und Naturforscher die Errichtung von Leichenhäusern vorgeschlagen hatten. Gleichzeitig lehnten sie mit der Errichtung von Leichenhäusern die Aufbahrung in den Wohnhäusern ab, weil sie die möglichen Ausdünstungen des verwesenden Organismus bei langen Aufbahrungszeiten als gesundheitsgefährdend für die Lebenden einstuften. Der Autor in einer moralischen Wochenschrift deutete die Praxis des frühzeitigen Beerdigens nun hygienisch: 30 31
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Heinsius: »Bemerkungen über das Ausstellen der Leichen«, S. 271 ff. Vgl. beispielsweise Biester: »Einige Ideen zur Verhütung, daß Scheintodte begraben werden«; Heinsius: »Bemerkungen über die Ausstellung der Leichen«, S. 271 ff. Heinsius: »Bemerkungen über das Ausstellen der Leichen«, S. 274. »Sarglegung«, in: HWDA, Bd. 7, Sp. 953-955, Sp. 953. 169
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»Man setze sich nur an die Stelle der Bewohner eines Hauses, und bedenke, was eine dreytätige Leiche in der Stube oder in der daran stoßenden Cammer in der Wärme für Ausdünstungen verursache, so wird man es den Leuten wahrhaftig nicht verargen können, wenn sie auf baldige Beerdigung dringen.«34
Die möglichen Ausdünstungen waren auch der Grund, dass das Öffnen der Särge verboten wurde. Damit stellte die neue Anthropologie den bisherigen Umgang mit den Toten vor ein Problem. Einerseits mussten längere Aufbahrungszeiten eingeführt werden, andererseits gefährdete die Aufschiebung die Gesundheit der Lebenden, weil sie sich vor den Ausdünstungen der Toten in Acht nehmen sollten. Dieses Dilemma schilderte Pfarrer Sickler: »Will er [der Geistliche] aber zweymal 24 Stunden, nebst der Tageszeit, um welche man gewöhnlich zu begraben pflegt, abwarten, wo oft 60 und noch mehrere Stunden herauskommen, so muß er bey großer Hitze im Sommer besorgen, daß durch den zunehmenden Geruch der Leiche die Lebenden, die so nahe um die Todten seyn müssen, an ihrer Gesundheit leiden, und wohl gar ein Fieber epidemisch werde. Berichte zu früher Beerdigung zu erstatten, und Atteste von den Medicis beizubringen, leidet oft die Entfernung der Oerter und die Umstände der Armen.«35
Mit dem neuen anthropologischen Modell, das eine längere Zeit zwischen Tod und Bestattung festgelegt wissen wollte, musste die Zeit des Aufbahrens neu verhandelt werden. Darum ging es auch in dem Streit zwischen Nieberding und Topp. Die neue Anthropologie griff insgesamt an drei Stellen in den bisherigen Umgang mit Tod und Sterben ein. Die Neuordnung der Friedhöfe am Ende des 18. Jahrhunderts ist bereits im vorherigen Kapitel erwähnt worden. Dass diese Reform nur sehr schleppend umgesetzt wurde, zeigt das Beispiel eines Nachbarorts von Lohne. Als der hiesige Pfarrer, Landdechant Haskamp, der Geistliche, in dessen Gefolge sich Topp während der Kirchenvisitation befand, um die Einstellung eines Totengräbers ersuchte, beschrieb er folgende Verhältnisse auf dem Friedhof: »Auf dem Kirchhofe zu Vechta haben die Einwohner eigene ungemauerte Grabstellen, welche aber durch versäumte Umschreibungen, besonders weil jetzt der alte Kirchenprovisor verstorben ist, künftig schwerlich jedesmal angegeben werden können. Das Begraben wird durch die Nachbaren besorgt, 34 35
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»Von leicht zu errichtenden Leichenkammern auf dem Dorfe«, in: Journal von und für Deutschland 7 (1790), S. 44-48, S. 46. Sickler: »Vorschlag zur Verhütung, daß die Menschen einander nicht lebendig begraben«, S. 160.
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doch manchmal unordentlich, indem die Gräber oft nicht tief genug geöffnet, und auch nicht gehörig wieder zugescharrt werden, weshalb auf dem Kirchhof eine widerliche Ansicht gewährt, und weil bald hie bald dort eingegraben wird, durch Höhen und Tiefen uneben ist.«36
Schnelle Verwesung, ausreichende Luftzirkulation, die den Verwesungsgeruch vertreiben sollte und Einzelbestattungen waren hier sicherlich nicht gewährleistet. Die zweite Veränderung, die ebenfalls eine hygienische Sorge betraf, waren die Bestattungen in der Kirche. Die bevorzugten Begräbnisplätze von Adel und Klerus, in den Kirchen, möglichst nahe am Altar, wurden verboten.37 Begründet wurde auch diese Maßnahme mit Ohnmachtsanfällen, die Kirchenbesucher erlitten hatten, als sie in die Grüfte hinab stiegen, um dort jemanden beizusetzen. Der Körper war durch seine organische Beschaffenheit zum Objekt der Sorge von Medizinern und dem Staat geworden. Drittens wurde die Praxis des Aufbahrens neu geregelt. In der Regel verhielt es sich so, dass die Toten in den Sterbehäusern aufgebahrt wurden. Solange es die räumlichen Verhältnisse zuließen, wurde dafür ein eigener Raum bereitgestellt oder der Tote auf der Tenne des Bauernhofs ausgestellt. Wenn es keine Möglichkeiten gab, die Verstorbenen aufzubahren, wie es in den kleinen Häusern auf dem Land oftmals der Fall war, musste man, um den entstehenden Leichengeruch zu umgehen, die Bestattung möglichst vorziehen: »Die besten und weitläufigsten Häuser bestehen außer den Ställen, in einer Wohnstube, Schlaf- und Hauskammer. […] In kleinen Häusern trifft man, außer der Wohnstube, nur eine einzige Kammer, auch wohl gar keine an.«38 Deshalb fanden auf dem Land und für die Armen vorzugsweise die sogenannten frühzeitigen Begräbnisse statt. Die Menschen im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert starben in der Regel zu Hause. Nach katholischem Ritus war es vorgesehen, dass die Angehörigen in Anbetracht der herannahenden Sterbestunde nach dem Priester riefen. Der Kranke legte die Beichte ab, und empfing die Kommunion. Dann wurde ihm die »letzte Ölung«, die sogenannte Krankensalbung, gespendet.39 Auch der protestantische Ritus war darauf 36 37
38 39
StOl Best. 31-6-16, Nr. 21 II, Bl. 565. Vgl. Jean-Jacques Bruhier d’Ablaincourt: »Abhandlung wider die schädliche Gewohnheit, die Todten in der Kirche zu begraben«, in: Hamburgisches Magazin 7 (1751), S. 16-59; ALR II, 11 §184: »In den Kirchen sollen keine Leichen beerdigt werden«, abgedruckt in Rönne: Das Medicinal-Wesen des Preußischen Staates, S. 108. »Von leicht zu errichtenden Leichenkammern auf den Dörfern«, S. 45. Vgl. Franz-Xaver Schmid: Kultus der christkatholischen Kirche, III. Bd., Passau: Ambrosius Ambrosi 31842, S. 416 ff. 171
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ausgelegt, dass man gut vorbereitet starb. Der protestantische Christ wollte nach Möglichkeit vorher das Abendmahl einnehmen. Konfessionelles Ideal und Realität klafften oftmals auseinander. In einer Untersuchung der Lebensformen im ehemaligen Fürstbistum Münster zwischen 1570 und 1800 ist herausgearbeitet worden, dass die Riten der katholischen Kirche auf dem Land im Zuge der Konfessionalisierung überhaupt erst wieder eingeübt werden mussten. So waren Menschen um 1600 in verschiedenen Kirchspielen des Fürstbistums gestorben, ohne das Sakrament der »letzten Ölung« empfangen zu haben.40 Grund für diesen Missstand, der dem Sendgericht, dem Hauptinstrument der katholischen Konfessionalisierung nach dem Tridentinum, gemeldet wurde, war zum einen die mangelhafte Ausbildung der Pfarrer. Ein weiterer Grund bestand darin, dass die konfessionellen Mischverhältnisse das Spenden der Krankensalbung hatten einschlafen lassen. Aber auch innerhalb der Bevölkerung kam es vor, dass das Sakrament für ein »seliges Sterben« nicht nachgefragt wurde. Manchmal hatte schlicht das schlechte Verhältnis zum Pfarrer dazu geführt, dass der Sterbende sich weigerte, ihn in der Todesstunde bei sich zu haben. Teilweise schützten die Hinterbliebenen die ungünstige Tageszeit, Unwetter oder den beschwerlichen Weg vor, den Priester nicht zu benachrichtigen. Dieser Befund bedeutet einerseits, dass der Umgang mit Tod und Sterben nicht allein konfessionellen Vorgaben gehorchte. Andererseits bedeutete die Resistenz gegen den Priester oder die Nachlässigkeit gegenüber katholischen Sterberiten nicht, dass die Menschen nicht religiös waren. Sogenannte magische und religiöse Praktiken gingen oft Hand in Hand und standen für die Ausführenden nicht im Widerspruch. So zündete ein Dorfbewohner in der Kirche eine Kerze für die Gottesmutter Maria an, damit er von seinen Kopfschmerzen, durch die ihn die verirrte Seele eines Verstorbenen heimsuchte, befreit würde.41 Während solche Praktiken für die Dorfbewohner und oft auch für die Priester unproblematisch waren, versuchte die Obrigkeit der Kirche, dieses Verhalten zu unterbinden. Der Geisterglaube war in der Bevölkerung präsent und existent. Unabhängig davon, ob die konfessionellen Riten eingehalten wurden oder nicht, sowohl die konfessionell geprägten Bestattungsriten als auch die anderen magischen Praktiken verweisen darauf, dass die Seele auf ihre Reise ins Jenseits vorbereitet werden sollte. Ob es sich um katholische oder protestantische Vorgaben, begleitet von magischen Vorstellungen 40
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Vgl. Andreas Holzem: Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570-1800, Paderborn: Schöningh 2000, S. 433. Vgl. ebd., S. 447.
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und Bräuchen, handelte: Immer ging es um eine unsterbliche Seele, die ein Dasein jenseits der Grenze des Lebens führen würde und die auf ihre Reise vorbereitet werden musste. Nach dem Eintritt des Todes hob man den Leichnam aus dem Bett, schloss seine Augen und den Mund und kleidete ihn an. Was er trug, war unterschiedlich. Das Waschen und Ankleiden besorgten Nachbarn oder Totenfrauen, meist nicht die Angehörigen.42 Geistliche wurden in ihrem Ordensgewand oder Ornat bestattet, die übrigen Leichen trugen ein Totenhemd oder wurden in ihrer eigenen Kleidung bestattet. In einer Leichenordnung aus dem Ende des 18. Jahrhunderts, die es unnötig fand, Reisevorbereitungen für die Seele zu treffen und im Geist der Aufklärung einfache und unaufwändige Begräbnisse forderte, wurde darauf hingewiesen, dass »der verblichene Leichnam ganz einfach in eine reine weisse Leinwand von mittelmäßiger Gattung, ohne die mindeste weitere kostspielige Verzierung« gekleidet sein sollte.43 Dann wurde der Verstorbene mit dem Gesicht nach oben, »gegen den Himmel«, wie es in einem katholischen Handbuch der Liturgie hieß, gewendet auf eine Bank gelegt. Dort, oder wenn kein Platz im Sterbehause war, in der Kirche, wurde er aufgebahrt. Auf dem Totenbett, so sah es der katholische Brauch vor, wurde dem Verstorbenen ein kleines Kruzifix oder ein Rosenkranz in die Hand gegeben, um zu zeigen, dass der Verstorbene betend Gnade zu finden hoffte. Man ließ ein Wachslicht vor ihm brennen und deckte ihn mit einem Leichentuch zu.44 Das Licht war einerseits Sinnbild dafür, dass die Seele noch lebte, aber andererseits Aufforderung an die Hinterbliebenen, im Angesicht des Scheins für den Verstorbenen zu beten. Während in der christlichen Symbolik durch die brennende Kerze das ewige Leben und die Auferstehungshoffnung gekennzeichnet wurden, setzte das Brauchtum noch weitere Bedeutungen daneben. Das angezündete Licht sollte den Teufel und die bösen Geister vertreiben, die Rückkehr des Toten unterbinden, den Weg ins Jenseits erhellen und zur Seligkeit verhelfen.45 42
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Vgl. Kreter: »›… das ich doch die Todten‹«, in: Ehrich/Schröder (Hg.): Adelige, Arbeiterinnen und …, S. 87-111; Cremers: »Totenweiber und Totengräber in einer mittelhessischen Kleinstadt«. »Churfürst von Trier Clemens Wenceslaus Herzog von Sachs, Churfürstlich Trierische Verordnung, wie es bei Sterbfallen mit der Beerdigung, den Exequien und der Trauer gehalten werden soll«, in: Ephemeriden der Menschheit oder Bibliothek der Sitte 1 (1781), S. 77-96, S. 8283. Vgl. »Anmerkungen, über die Gewohnheit, brennende Wachslichter um die Todten herum zu stellen«, in: Hamburgisches Magazin 7 (1770), S. 237-241. Vgl. »Licht«, in: HWDA, Bd. 5, Sp. 1239-1258, Sp. 1245-1246. 173
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Die Präsenz von Geistern war in der Erlebniswelt besonders stark, wenn Übergangsriten stattfanden. Diese körperliche Gegenwart der Geister war, darauf hatte Jean-Claude Schmitt für das Mittelalter hingewiesen, für den lebenden Menschen auf dreifache Weise erlebbar. Geisterhafte Erscheinungen konnten für den Lebenden körperlich spürbar sein, die Geister selber konnten sich in welcher Form auch immer materialisieren und drittens konnten sie in ihrer Erscheinungsform auf ihren Leichnam bezogen sein. So glaubte man im Herzogtum Oldenburg, dass der Tote als Wiedergänger sein Recht holen wollte, »wenn man ihm seine volle Totenkleidung nicht mitgibt; wenn man ihm die Hobelspäne vom Sarg und die Nadel, mit welcher das Totenkleid genäht ist, nicht in den Sarg legt; wenn man nicht, sobald die Leiche aus dem Hause getragen ist, sofort das Herdfeuer ausgießt, wenn die Leiche nicht tief genug begraben ist; wenn die Leichen beraubt oder mit ihren Gebeinen Spott und Unfug getrieben wurden«.46
Im Herzogtum Oldenburg bestand zudem die Vorstellung, dass wenn der Verstorbene die Augen geöffnet hatte oder im Tode lächelte, bald ein weiterer Tod folgen würde. Dann wurde er gewaschen, männliche Verstorbene wurden rasiert. Der Tote wurde angekleidet, teilweise war es üblich, dem Barbier das Rasiermesser des Toten zu schenken. Er wurde auf Stroh gelegt. Das Läuten und Herrichten des Grabes war den Nachbarn vorbehalten. Der Sarg wurde auf einen Wagen gehievt, welcher wiederum vierspännig von Pferden gezogen wurde. Der Sarg von unverheirateten Toten wurde meist von unverheirateten Personen getragen, Verheiratete trugen verstorbene Ehemänner oder Ehefrauen. Verheiratete wurden in einem schwarzen Sarg bestattet, unverheiratete Tote lagen in einem weißen Sarg.47 Der Leichnam blieb bis zur Bestattung aufgebahrt. Dies geschah üblicherweise in einem Raum des Sterbehauses. Beim Verstorbenen sollte auch während der Nacht gewacht werden. In einem Handbuch der katholischen Liturgie aus dem 19. Jahrhundert beschwerte sich ein Priester, dass die Zeit zwischen Tod und Bestattung oftmals von den Jugendlichen dazu missbraucht würde, »allerlei umfug zu treiben«, obwohl auch dann die Angehörigen und Nachbarn Fürbitten sprechen sollten. Um die physische Anwesenheit des Leichnams rankten sich verschiedene Glaubensvorstellungen und Praktiken. Erstens handelte es sich bei der Wache um ein soziales Ereignis. Die Hinterbliebenen waren 46 47
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Ludwig Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg, Bd. I, Oldenburg: Stalling 21909, S. 196. Vgl. Ludwig Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg, Bd. II, S. 216 f.
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gehalten, die Besucher zu bewirten. Dadurch, so die Sorge und Beschwerde sowohl der Kirche als auch der Obrigkeit, kam es zu Ausschweifungen. Die Leichenfeier fand am offenen Sarg statt. Im selben Raum wurden von Region zu Region unterschiedliche Speisen und Getränke gereicht. Meist war Alkohol involviert.48 Deshalb schrieb eine Leichenverordnung aus dem Ende des 18. Jahrhunderts vor, dass an der Nachtwache nur die »Hausgenossen des Verstorbenen, oder höchstens nur […] zwo bis drei Personen einerlei Geschlechts aus der Nachbarschaft« teilnehmen dürften.49 Der Verzehr von Speisen und Getränken wurde ganz verboten. Zum Zweiten bedeutete die Zeit zwischen Tod und Bestattung, solange der Körper noch nicht unter der Erde war, dass die Seele des Verstorbenen sich noch in der diesseitigen Welt aufhalten konnte. Die Leichenbewachungen und -feiern sind deshalb als Umgang mit der Furcht gewertet worden, die Seele könnte zurückkommen und Schaden anrichten. Die Hinterbliebenen vermieden es, sich schlafen zu legen oder die Leiche allein zu lassen. Das »Verläuten«, von dem Topp sprach, war die Totenglocke. Ein Todesfall wurde auf diese Weise angezeigt. Zwischen Tod und Beerdigung wurde jeweils mittags um 11.45 Uhr eine Viertelstunde die Totenglocke geläutet. In der katholischen Kirche bedeutete das Glockengeläut nicht nur öffentliche Bekanntmachung, sondern stellte ebenfalls einen Aufruf zur Fürbitte für den Toten dar.50 Für erwachsene Verstorbene wurde zweimal geläutet, was wieder einen Verweis auf frühzeitige Beerdigungen darstellte. Denn das erste Glockengeläut ertönte am Tag vor der Beerdigung, das zweite Mal ertönten sie während der Beerdigung. Nur kleine Kinder, welche in der Regel abends bestattet wurden, erhielten kein Geläut.51 Die Bestattungen fanden meist am Vormittag statt, Kinder wurden manchmal am Nachmittag beerdigt. Für die katholischen Beisetzungen wurde dieser Zeitpunkt dadurch begründet, dass um zehn oder elf Uhr morgens auch das Hochamt stattfand. Im Fürstbistum Münster kam es im 18. Jahrhundert vor, dass manche Leiche erst am Nachmittag ins Kirchdorf gelangte, weil sich der Trauerzug auf seinem Weg vom Sterbehaus in die Kirche so lange aufhielt. Deshalb wurde vorgeschrieben, dass Leichenzüge dem Pfarrer am Vorabend angemeldet werden müssten.52 Wie in Lohne auch fanden die Bestattungen am Vormittag 48 49 50 51 52
Vgl. »Leichenmahl«, in: HWDA, Bd. 5, Sp. 1081-1083, Sp. 1081. »Churfürstlich Trierische Verordnung«, S. 14. Vgl. Schmid: Kultus der christkatholischen Kirche, S. 449. Vgl. Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg, Bd. I, S. 33. Vgl. Holzem: Religion und Lebenswelt, S. 439. 175
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statt, im Sommer um neun, im Winter um zehn Uhr. Aus der Umgebung aus Achim heißt es in einer Chronik aus dem Jahre 1846, dass Beerdigungen meist zwischen 14 und 16 Uhr angesetzt würden. Nur die Armen wurden »in aller Stille abends gegen 6 Uhr beerdigt«.53 Zu weiteren disziplinierenden Maßnahmen sah sich die Obrigkeit beim Begräbnis selber aufgerufen. Weil nämlich in den Sterbehäusern Branntwein verabreicht wurde, kam es während der Beerdigungsfeierlichkeiten zu Störungen.54 In manchen Gebieten wurden die Ordnungsmaßnahmen sogar noch weiter ausgedehnt. In einer Leichenordnung aus dem Jahre 1784 wurden »alle Mahlzeiten« bei Begräbnissen untersagt, in der preußischen Provinz Westfalen wurde durch allerhöchste Kabinettsorder 1829 der Leichenschmaus verboten.55 Diese Maßnahme wurde als Lamento in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufiger vorgetragen: »Das Leichenconduct, sammt den Leidtragenden u. Schulknaben [begibt sich] aus der Kirche zum Leichenschmause in das Wirthshaus, wo letztere u. die Frauenzimmer Biersuppe und Semmel, die Männer aber auch Bier und Taback, nicht selten auch Branntwein und Rum bekommen, wodurch zuweilen selbst skandalöse Baccanale entstanden.«56
Diese Übergangsriten waren den bürgerlichen Beobachtern häufig ein Dorn im Auge, waren sie doch »Mißbräuche und Unziemlichkeiten«.57 Sie sollten abgestellt werden und als Maßnahme der Sozialdisziplinierung von den Behörden und der Polizei mithilfe der Geistlichkeit in Angriff genommen. Insgesamt jedoch hat Andreas Holzem in seiner Unter53 54 55
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Albrecht Hinrich Christoph Windel: Das Gohgericht Achim, Bremen: Edition Temmen 1993 [zuerst 1846], S. 122. Vgl. StOl Best. 31-6-16, Nr. 21 II, Bl. 565. Gottfried A. Grotefend: Das Leichen- und Begräbniswesen im Preußischen Staate, Arnsberg: Grote 1869, S. 129. Für Bayern wurde 1802 ein gleichlautendes Gesetz erlassen. Vgl. »Begräbniß«, in: Lexikon des Kirchenrechts und der römisch-katholischen Liturgie, hg. v. Andreas Müller, 5 Bde., Würzburg: E. Etlinger’sche Buchhandlung 1838, Bd. 1, S. 208. Albrecht Hinrich Christoph Windel: Das Dorf Achim und seine nächste Umgebung, Bremen: Edition Temmen 1994 [zuerst 1846], S. 122. Über ausschweifende Beerdigungsfeierlichkeiten innerhalb des Bürgertums beschwerte sich ein Berliner Mitbürger: Friedrich Saß: Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung 1846, hg. v. Detlef Heikamp, Berlin: Froelich und Kaufmann 1983, S. 185. Dort wirkte sogar ein »Verein gegen unnützen Aufwand beim Leichenbegängnis«, vgl. die Notiz dazu in der Spenerschen Zeitung Nr. 216, 15.09.1848. Vgl. beispielsweise StABi, ÄA 370. Die angeführte Quelle stammt aus dem Jahr 1843.
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suchung der Sendgerichte im Fürstbistum Münster herausgestellt, gab es vergleichsweise wenige Delikte in Zusammenhang mit den Übergangsriten vom Leben zum Tod.58 Die Einhaltung dessen, was in Bestattungsvorschriften gefordert wurde, stellte ein eigenes Problem dar. Es gibt Hinweise darauf, dass einerseits die neuen Verordnungen nicht umgesetzt wurden, andererseits die Obrigkeit auch nicht auf ihre Einhaltung drängte. Beim Umgang mit dem Tod wurde Beharrlichkeit zugestanden. So hatte ein Gutachter der Stadt Bielefeld die Aufgabe, das Verhalten der Bevölkerung bei Begräbnissen zu überprüfen und der hiesigen Stadt einen Bericht darüber abzulegen. Er äußerte jedoch Verständnis für die lokalen Gebräuche und schrieb, dass sowohl Gesang als auch Trauerkleidung und Leichenschmaus den religiösen und sittlichen Vorstellungen entsprächen und dass es das »typische Gepräge« nähme, würde man diese Dinge verbieten. Der Gutachter sprach sich dafür aus, den Pfarrer darauf hinzuweisen, Ausschweifungen zu unterbinden, aber ansonsten der Bevölkerung ihre Gewohnheiten und Bräuche zu lassen.59
Konfessionelle Unterschiede. Reaktionen auf die Verlängerung der Bestattungsfristen Das Hauptargument dieses Kapitels lautete, dass dem Konflikt um die »frühzeitigen Beerdigungen« zwei unterschiedliche Anthropologien zugrunde lagen: Das alte Modell der Seele stieß auf eine Anthropologie, die das Leben als Teil der physikalisch verstandenen Natur und seinen Kräften verstand und es physiologisch im Körper des Menschen verortete. Diese alte Seelenvorstellung war nicht an eine Konfession gebunden: Sowohl Katholiken als auch Protestanten – und, wie im nächsten Abschnitt zu sehen sein wird, die jüdischen Gemeinden – gingen von einer »geistigen, aber dennoch körperhaften Seele« aus, die im Tod den Leib verließ. Dabei war zwar die Anthropologie dieselbe, jedoch pflegten Protestanten und Katholiken einen unterschiedlichen Umgang mit der Seele und vertraten unterschiedliche Standpunkte in Bezug darauf, mit welchen Mitteln das Seelenheil zu erreichen sei. Diese unterschiedlichen Umgangsformen – dies ist ein Nebenargument des Kapitels, der in diesem Abschnitt dargestellt werden soll – beeinflusste auch die Perspektive auf den Scheintod.
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Vgl. Holzem: Religion und Lebenswelt, S. 436. StABi, ÄA 370. 177
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Seitdem die Reformation das Wort der Bibel zum Mittelpunkt und zum Prüfstein der Glaubenslehre erklärt hatte, standen die Protestanten zahlreichen Ritualen und Praktiken der katholischen Kirche kritisch gegenüber. Von dieser Kritik war auch der Geisterglaube betroffen. Zwar glaubten auch die Protestanten an Geister im Sinne einer Seele, jedoch kritisierten sie zahlreiche Rituale und Praktiken, die sich im Laufe der Jahrhunderte um den Umgang mit der Seele gebildet hatten. Dadurch war die Präsenz der Seele in der Glaubenswirklichkeit zugunsten der Verkündigung des Wortes zurückgedrängt worden. Diese unterschiedliche Perspektive wird im Folgenden anhand der Bestattungsrituale erläutert. Es ist die Überlegung dieses Abschnitts, dass sich durch die kritische Distanz zum Geisterglauben neue Zuordnungsmöglichkeiten und Affinitäten mit der Lebenskraftlehre abzeichnen konnten. Die Zurückdrängung des Geisterglaubens und die weniger starke Präsenz der Seele in der Glaubenswirklichkeit der Protestanten standen in Zusammenhang damit, dass die protestantischen Pastoren die Verlängerung der Beerdigungsfristen unterstützen konnten. Jedenfalls bestand eine Wahlverwandtschaft zwischen der Verlängerung der Beerdigungsfristen und der protestantischen Kirche. Wie diese unterschiedlichen Umgangsformen aussahen, machen die konfessionellen Vorgaben in Bezug auf die Bestattungszeremonie deutlich. Diese verschiedenen Vorstellungen stellten sowohl unterschiedliche Erwartungen daran, wie sich die Trauernden zu verhalten hatten, als auch prägten sie den Erlebnishorizont der Gläubigen. Der Unterschied lässt sich zugespitzt so formulieren, dass das katholische Begräbnisritual die Präsenz der Seele für die Beteiligten spürbarer machte und die einzelnen Riten auch auf die Seele bezogen waren. Die protestantische Beerdigung war hier vermittelter ausgerichtet. Ihre Rituale waren stärker auf die Verkündigung des Evangeliums für die Trauergemeinde bezogen. Das katholische Begräbnis stellte die Fürbitte für die Seele in den Mittelpunkt ihrer Zeremonie. An dieser Einflussnahme für das Seelenheil waren die Hinterbliebenen in großem Maße beteiligt. Der Seele des Verstorbenen wurde durch Gebete und Segnungen unter der Beteiligung der Gemeinde Beistand für ihren Weg geleistet. Nach römisch-katholischer Lehre wurde nicht der Verstorbene zum Grabe geleitet, vielmehr wurden Gaben und Gebete ihm zugewendet.60 Die katholische Sorge für den Toten umfasste drei Stationen: die Spendung der Sterbesakramente für den Sterbenden, die Feier der Beerdigung und danach das Totengedenken am 3., 7., 30. Tag nach dem Tod und das Jahrgedächtnis. Mit 60 178
Vgl. »Bestattung«, in: TRE, Bd. 5, S. 730-757, S. 744.
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diesem letzten Schritt ging die Seele des Verstorbenen in die ewige Gemeinschaft der Christen über. Die Exequien, die katholischen Riten des Totengeleits, und die Memoria waren darauf ausgerichtet, dass die Seele des Verstorbenen im Leben der Hinterbliebenen eine Präsenz behielt. Die katholischen Begräbnisvorschriften wurden 1614 im Rituale Romanum, der vom Heiligen Stuhl veröffentlichten Sammlung aller katholischen Riten, festgelegt. Sie gelten bis heute. In den protestantischen Bestattungsritualen hingegen wurde eine Einflussnahme auf das Seelenheil des Verstorbenen abgelehnt. Bestattungen waren auf die Verkündigung des Evangeliums, in dessen Mittelpunkt die Hoffnung auf Auferstehung zählte, ausgerichtet. Den Hinterbliebenen sollte in erster Linie die Auferstehungshoffnung als christliche Botschaft vermittelt werden.61 Aus diesem Grund avancierten Leichenpredigten seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einem zentralen Bestandteil der Zeremonien. Diese Leichenpredigten waren Angehörigen der Oberschichten vorbehalten und bestanden meist aus mehreren Teilen. Im ersten Teil interpretierte der Autor eine Bibelstelle, die er in Beziehung zum Leben des Verstorbenen setzte. Im zweiten Teil folgte der Lebenslauf des Verstorbenen.62 Je nach Zahlungsfähigkeit des Verstorbenen waren die Leichenpredigten gestaffelt: Es waren die »Gedächtnispredigt«, die »Standrede« und die »Abdankung« (Parentation) vorgesehen. Für Arme gab es überhaupt keine Predigt. Durch die Leichenpredigten wurde der Hoffnung auf Seelenheil einer Person Bekräftigung verliehen und sie öffentlich bekundet. Schon hier zeichnet sich der Unterschied zum katholischen Begräbnisritual ab: Der Erfahrungs- und Erlebnishorizont der Gläubigen war maßgeblich mit dem gedruckten oder gesprochenen Wort verbunden. Die katholische Kirche ging viel stärker von einer Einflussnahme in Form von Ritualen und Praktiken aus, die direkt für die Seele angewendet und vollzogen wurden. Die katholische Sicherung des Seelenheils des Verstorbenen begann schon beim Vorgang des Sterbens. Die Sterbesakramente wurden im Hinblick auf das den Sterbenden bald zu erwartende Gericht Gottes gespendet. Solange der Priester davon ausgehen konnte, dass der Sterbende ein christliches Leben geführt hatte und Reue zeigen würde, konnte er sie auch an Bewusstlosen vollziehen. Schon im Sterbezimmer wurden von den Anwesenden Fürbitten gesprochen, deren Text das Rituale Romanum vorgab. Der Priester, sofern er zugegen war, betete sieben Vater-
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Vgl. ebd., S. 746. Vgl. Rudolf Lenz: »Leichenpredigt«, in: Literaturlexikon, hg. v. Walther Killy, 15 Bde., Gütersloh/München: Bertelsmann Lexikon Verlag 19881993, Bd. 13, S. 509-511. 179
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unser und sieben Ave-Maria, dazwischen wurde der Vers, »Oh Herr, gib ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm« gesprochen.63 Die nun folgende Darstellung der Bestattungsrituale bezieht sich auf sogenannte »ehrliche« Bestattungen, also auf Beerdigungen, die unter Vollzug der vorgesehenen katholischen Rituale stattfanden. Die katholische Kirche unterschied sich in ihrer Klassifikation zwischen »unehrlichen« und »ehrlichen« Begräbnissen nicht von der protestantischen Kirche. »Unehrliche« Begräbnisse waren für soziale Außenseiter bestimmt, »ehrlich« wurden alle Toten bestattet, die sich innerhalb der sozialen Ordnung befanden. Begräbnisse teilten sich zudem in »ehrlich stille« Begräbnisse und »unehrlich stille« Begräbnisse. »Ehrlich still« wurde in Zeiten der Ausnahme bestattet, im Krieg oder während Epidemien. Ein unehrlich stilles Begräbnis bestrafte einen delinquenten Toten schon im Diesseits. Nach dem gewöhnlichen katholischen Ritus blieb der Leichnam bis zur Bestattung aufgebahrt, damit die Hinterbliebenen Abschied nehmen konnten. Am Tag der Beerdigung wurde der Tote vom Sterbehaus in die Kirche gebracht. Er war zuvor vom Priester im Sterbehaus ausgesegnet worden.64 Den Trauerzug in katholischen Gegenden führte ein Kruzifix oder eine schwarze Fahne an. An der Spitze gingen die Bruderschaften, sofern es welche in der Gemeinde gab. Dann folgten die Kinder, der Priester und der übrige Klerus. Hinter dem Sarg, der das nächste Element des Trauerzugs darstellte, liefen die übrigen Trauergäste: die nächsten Angehörigen, Verwandte und Nachbarn. Sie alle trugen Kerzen. In manchen katholischen Gegenden, wie in Passau oder Linz, wurde die Leiche nicht schon im Sterbehaus ausgesegnet, sondern erst in der Kirche. Das hieß, dass der Priester erst in der Kirche den Trauerzug traf. Der Sarg wurde von den Nachbarn oder von Zunftbrüdern getragen. Ein unverheirateter Mann wurde von Junggesellen getragen. In den Städten gab es eigene Leichenträger. Nur Frauen war es untersagt, den Sarg zu tragen. Wenn der Verstorbene aus einem entlegenen Ort kam, aus einer benachbarten Bauernschaft etwa, wurde ein Pferdewagen genommen. Der Sarg war mit einem Tuch verhüllt. Das Rituale Romanum schrieb vor, den Toten in der Mitte der Kirche abzustellen. Die Struktur der Totenmesse setzte die Anwesenheit des Leichnams (praesente cadavere) im Gotteshaus voraus. Bei verstorbenen Geistlichen wies der Kopf gegen den Hochaltar, bei Laien die Füße. Die Körperhaltung sollte andeuten, ob der Verstorbene der lehrenden oder der hörenden Kirche angehörte. Das heißt, als Geistlicher war er 63 64
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Vgl. Schmid: Kultus der christkatholischen Kirche, S. 447. »Begräbniß«, in: Lexikon des Kirchenrechts und der römisch-katholischen Liturgie, Bd. 1, S. 199.
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zum Altar gewendet, als Laie in Richtung der Kanzel. Dann wurden Gebete (das Totenoffizium) gesprochen und die Messe (Requiem) gelesen. Während des Offertoriums, der Gabenbereitung in der Messe, die Bereitstellung von Brot und Wein, wurde eine Bitte um Befreiung aus dem Fegefeuer gesprochen. Mancherorts opferten die Gläubigen als Form der Zustimmung Pfennige. Die Messe schloss mit der Absolution ab, einer Fürbitte zur Lossprechung von den Sünden. Nach dem Gottesdienst erfolgte die Grablegung. Der Priester erinnerte in seiner Ansprache am Grab an die Auferstehung, segnete es, vergoss Weihwasser und verteilte Weihrauch. Der kirchliche Part war damit abgeschlossen. Es folgte der Leichenschmaus. Das Andenken, Memoria, ging weit über den Tod hinaus. Der Verstorbene gehörte jetzt zu den Seelen, die auf das Jüngste Gericht warteten und derer gedacht wurde, während sie im Fegefeuer für ihre Sünden büßten. Die Reformatoren haben die Begräbnisfeierlichkeiten in weiten Teilen entsakralisiert und entzaubert. Weil Luther das Totenamt, die Seelenmessen und die Lehre vom Fegefeuer als kirchliches und päpstliches »Gaukelwerk« kritisierte, wurden diese Elemente des Bestattungsrituals verworfen und abgeschafft. Dadurch verschwand die Fürbitte für die verstorbene Seele als Mittelpunkt des Bestattungsrituals.65 Die Reformationshistorikerin Susan Karant-Nunn hat argumentiert, dass die Abschaffung des Fegefeuers und Umdeutung des Zustandes zwischen Tod und Auferstehung als Schlaf dahin geführt habe, dass der evangelische Glaube die Furcht vor Geistern abgeschwächt habe.66 Die Lebenden hatten dadurch, dass sie nicht mehr auf das Seelenheil des Verstorbenen durch Gebete einwirken konnten, keinen Grund mehr, die möglicherweise ihr Seelenheil einfordernden Toten zu fürchten. Sie musste sie die Aussicht auf das Purgatorium selbst nicht mehr schrecken. Eine Verbindung zu den Toten, die in der katholischen Kirche durch den extensiven Gebrauch von Lichtern optisch und emotional hergestellt wurde, lehnten die protestantischen Kirchen ebenfalls ab. Nur noch vereinzelt gestatteten die evangelischen Kirchenordnungen den Gebrauch von Kerzen bei Begräbnissen. Die Sphären zwischen Jenseits und Diesseits wurden dadurch stärker getrennt. Begräbnisse wurden von der protestantischen Kirche im Gegensatz zur katholischen Kirche als »Liebespflicht« der Gemeinde gegenüber dem verstorbenen Gemeindemitglied bezeichnet. Als die protestantischen Bestattungen um 1550 ihre stabile Form angenommen hatten, zen65 66
Vgl. »Bestattung«, in: RGG4, Bd. 1, Sp. 1362-1372, Sp. 1368. Vgl. Susan C. Karant-Nunn: The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern Germany, London/New York: Routledge 1997, S. 187. 181
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trierten sie sich um die Leichenpredigt und definierten sich über die Teilnahme des Pastors und der Gemeinde. Eine württembergische Kirchenordnung aus dem Jahre 1536 gibt drei Kennzeichen der Bestattung an: Sie sei die öffentliche Bekanntmachung eines Todesfalls in der Gemeinde, ihr Liebes- und Freundschaftsbeweis sowie Memento Mori im Hinblick auf den eigenen Tod.67 So übernahmen die protestantischen Kirchen das Glockengeläut, mit dem ein Todesfall angezeigt wurde, in ihr Bestattungsritual auf, ebenso das Geleit des Sarges vom Haus zur Kirche und die Bestattung auf dem Friedhof unter Gebeten und Liedern, gesungen von Chor und Gemeinde. An die Stelle des Totenamtes trat ein Gemeindegottesdienst, der die Predigt zum Mittelpunkt hatte.68 Vorgesehen war, dass ein Mitglied jedes Haushaltes der Gemeinde an dem Begräbnis teilnahm. Die Kirche war durch den Pastor, die Schüler, den Küster und den Totengräber vertreten. Bestattungen blieben hierarchisch geordnet. Kleine Kinder und arme Erwachsene erhielten die erste Stufe der sogenannten öffentlichen Bestattung, die sogenannte »Kollektenbeerdigung«. Öffentliche Beerdigungen zählten zu den ehrlichen Begräbnissen. Die zweite Stufe beinhaltete die »Vermahnige« (umgangssprachlich für Sermon), eine Rede vor dem Altar, die dritte und höchste Form des Begräbnisses beinhaltete die Leichenpredigt. Der Sarg stand bedeckt mit einem schwarzen Tuch im Hausflur, umgeben von vier Trägern und wurde nicht eher vernagelt, als bis der Prediger mit der Schule erschienen war. Dann versammelte sich das Dorf, stellte sich in die Tür und begann zu singen.69 Ein thüringischer Landpfarrer berichtete, dass es sich aus Kostengründen eingebürgert hätte, auf öffentliche Begräbnisse zu verzichten. Aus dem Grund habe sich vielerorts eine Zwischenlösung gefunden, die darin bestand, am Abend oder am frühen Morgen den Toten unter zweimaligem Läuten zu Grabe zu tragen und für den nächsten Sonntagmittag einen Trauergottesdienst mit Rede vor dem Altar zu bestellen.70 Dem Trauerzug gehörten neben den älteren Gemeindemitgliedern, die »keinen Gottesdienst versäumen«, Verwandte, Paten, Tagelöhner und je ein Vertreter oder Vertreterin aus der Nachbarschaft an.71 Aus der Umgebung aus Achim heißt es in einer Chronik aus dem Jahre 1846, dass die Bestattungen mit dem Singen zweier Totengesänge 67 68 69
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Vgl. »Begräbnis«, in: RGG3, Bd. 1, Sp. 959-968, Sp. 965. Vgl. ebd. Vgl. C.F. Wehrhahn: »Ueber die schlesischen Landleute im südöstlichen Theile des Fürstenthums Liegnitz«, in: Schlesische Provinzialblätter 14 (1799), S. 27-38, S. 31-32. Vgl. Gebhardt: Zur bäuerlichen Glaubens- und Sittenlehre, S. 330 ff. Wehrhahn: »Ueber die schlesischen Landleute im südöstlichen Theile des Fürstenthums Liegnitz«, S. 31.
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im Sterbehause begannen und danach die Leiche auf einen Leiterwagen zum Kirchhof gefahren wurde. Weitere Gesänge, Glockengeläut, der Geistliche, der Küster und verschiedene Schuljungen begleiteten den Sarg zum Friedhof, wo er ins Grab gesenkt wurde. Nach der Grablegung begab sich die Trauergemeinde in die Kirche, wo der Pastor eine Leichenrede hielt und einen Lebenslauf verlas. Danach wurde wieder ein Lied gesungen und die kirchliche Feier durch das Vaterunser beschlossen.72 Entsakralisierung und Entzauberung der Bestattungsrituale und Praktiken hatten innerhalb des Protestantismus zu einem vermittelten Umgang mit der Seele geführt, während die katholische Kirche durch ihr Festhalten an den bestehenden Begräbnisvorgaben die Präsenz der Seele zu einem erfahrbaren Erlebnis für die Gläubigen machte. Wie sich in den beiden Konfessionen der Umgang mit derselben Anthropologie, bedingt durch die unterschiedliche Perspektive auf die Seele, zu größerer Distanz einerseits und zu einer freizügigeren Haltung andererseits führte, wird an einem Begräbnissonderfall, den Bestattungen totgeborener oder kurz nach der Geburt verstorbener Säuglinge deutlich. Was mit totgeborenen Kindern geschehen sollte, war aus zwei Gründen problematisch. Erstens stand ihr Status als menschliches Wesen zur Disposition. In einem Eintrag in Zedlers Universallexikon wurde vermerkt, dass man Totgeborene »nicht anders geachtet, als ob sie gar nicht gebohren worden«.73 Zum Zweiten konnten sie nicht getauft werden, womit die Frage ihrer Bestattung im Raum stand. Die christliche Lehre, sowohl die protestantische als auch die katholische, verbot die Taufe von Toten und von Säuglingen, die kein Lebenszeichen von sich gaben. Ob jemand getauft war oder nicht, entschied auch darüber, ob er auf dem Friedhof beerdigt wurde. Die protestantischen Kirchen gestatteten die Beerdigung ungetaufter Kinder, die Katholiken verweigerten dies. Die katholische Kirche bestattete ihre Gläubigen in geweihter Erde, dem Friedhof. Dort konnten nur diejenigen bestattet werden, die auch getauft waren, also zu Mitgliedern der Kirche zählten. In der protestantischen Kirche entschied man in der Praxis von Fall zu Fall.74 Eva Labouvie belegt an einem Fall, dass die Hebammen gemeinsam mit anderen Frauen der Dorfgemeinschaft die totgeborenen Kinder auf dem Friedhof bei-
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Vgl. Windel: Das Gohgericht Achim, S. 122. »Tod gebohren«, in: Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 44, Sp. 729. Vgl. beispielsweise für das Herzogtum Oldenburg die Arbeit von Düselder: Der Tod in Oldenburg, S. 93. 183
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setzten.75 Keiner der Reformatoren verbot die Bestattung Ungetaufter ausdrücklich. Anhand eines anderen Beispiels aus dem katholischen Lothringen beschreibt Labouvie eindrücklich, wie Eltern mit ihrem verstorbenen Kind allein gelassen wurden und sich um einen Begräbnisplatz außerhalb des Friedhofs kümmern mussten. In einem Fall Anfang des 18. Jahrhunderts musste der Vater seinen toten Säugling ganz allein am Rand des Waldes in einem Feld begraben. Weil die Taufe nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden war, hatte der Pfarrer ihm eine Bestattung verweigert.76 Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts lassen sich Gesetzestexte finden – denen sich das Kirchenrecht beugen musste –, in denen tot geborene Kinder den übrigen Toten gleichgestellt wurden. In Bayern beispielsweise wurden 1805 tot geborene Säuglinge nicht mehr in abgelegenen Stellen des Friedhofs beigesetzt, sondern durften in den Familiengräbern beerdigt werden.77 Diese unterschiedlichen Praktiken standen in Zusammenhang mit der unterschiedlichen Sichtweise auf das vermeintliche Seelenheil der Kinder, insbesondere mit der Umdeutung katholischer Sichtweisen durch die Protestanten. Bereits die Taufe war notwendig, damit die Seele Anteil an der Unsterblichkeit erlangen konnte. Sie war nicht nur der Initiationsritus, durch den die Aufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen erfolgte, in der Taufe wird der Mensch von den Sünden (im katholischen Verständnis von der Erbsünde) reingewaschen und verbesserte damit die Möglichkeit, im künftigen Gottesgericht verschont zu werden. Wegen der zentralen Bedeutung der Taufe wurden Versuche unternommen, das Unglück, ungetauft zu sterben, durch Kunstgriffe zu verhindern. Die katholische Kirche erlaubte eine »Begierdetaufe«, das heißt, die Mutter äußerte den Willen, das Kind getauft haben zu wollen und rettete so das Seelenheil ihres Kindes.78 Des Weiteren wurde überlegt, vor vollendeter Geburt oder im Mutterleib eine Nottaufe durchzuführen.79 Die protestantischen Kirchen erlaubten Nottaufen ebenfalls, 75
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Vgl. Eva Labouvie: Beistand in Kindsnöten. Hebammen und weibliche Kultur auf dem Land (1550-1910), Frankfurt am Main/New York: Campus 1997, S. 66. Vgl. Eva Labouvie: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1998, S. 181 f. Vgl. »Begräbniß«, in: Lexikon des Kirchenrechts und der römischkatholischen Liturgie, Bd. 1, S. 208. Vgl. »Taufe«, in: LThK3, Bd. 9, Sp. 1282-1295, Sp. 1295. Vgl. »Taufe«, in: Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften, Bd. 11, Sp. 1249-1276, Sp. 1270.
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Luther erklärte jedoch, dass Kinder nicht eher zu taufen seien, als bis sie vollständig geboren waren.80 Die katholische Kirche vertrat die Ansicht, dass ein kurz nach der Taufe verstorbenes Kind die besten Aussichten auf das Seelenheil besaß. Es hatte ja noch nicht gesündigt. Die Handhabung der Taufe verweist auf die unterschiedliche konfessionelle Perspektive der Frage, welches Schicksal ungetaufte Kinder im Jenseits erwarten würde. Die katholische Kirche nämlich vertrat die Lehre, dass ungetauft gestorbene Kinder in den Limbus, einem dritten Ort, der weder Himmel noch Hölle war, eingehen würden. Diese Kinder seien für immer verloren.81 Die protestantische Kirche hingegen verwarf die Lehre vom Limbus, wie sie die Lehre vom Fegefeuer verworfen hatte. Luther erklärte, dass ungetaufte Kinder nicht verloren seien, sondern dass Gott sie auch ohne Taufe selig machen könne. Aus diesem Grund, nicht vor dem Hintergrund einer größeren Strenge, konnte er die Ansicht vertreten, dass nur vollständig geborene Kinder getauft werden durften.82 Um dem Unglück zu entgehen, dass die totgeborenen Kinder nicht bestattet wurden und schlimmer, auf immer verloren waren, gab es in katholischen Gebieten Wallfahrten, um totgeborene Kinder wieder zu beleben und sie dann taufen zu können.83 Die toten Kinder wurden zu einem Wallfahrtsort gebracht, wo sie durch die Fürbitte der Heiligen oder der Gottesmutter wenigstens für kurze Zeit wiederbelebt werden sollten, damit sie lebend getauft werden und in die christliche Gemeinschaft aufgenommen werden konnten. Ein bekannter Wallfahrtsort war der schwäbische Ort Ursbach, wo zwischen 1686 und 1720 ungefähr 24 000 totgeborene Kinder eine solche Wundertaufe empfangen haben sollen. Seit dem Mittelalter waren solche Wallfahrtsstätten auch in Frankreich, der Schweiz oder Belgien bekannt. Die Eltern oder Angehörigen des möglicherweise nur scheinbar toten Kindes nahmen die Reise auf sich, legten das Baby vor das Kruzifix oder die Madonna und hofften auf ein Wunder. Da die Kirche diesen Zulauf und die Mischung aus religiösen und wunderhaften Praktiken nicht billigen konnte und eindämmen wollte, kam es um 1750 in Ursberg zu einer Untersuchung. Eusebius Amort, 80 81 82 83
Vgl. »Taufe«, in: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 15, Sp. 428-485, Sp. 470. Vgl. »Taufe«, in TRE, Bd. 22, S. 659-741, S. 690. »Taufe«, in: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 15, Sp. 469. Vgl. Jacques Gélis: »Lebenszeichen – Todeszeichen: Die Wundertaufe totgeborener Kinder im Deutschland der Aufklärung«, in: Jürgen Schlumbohm/Barbara Duden/Jacques Gélis/Patrice Veit (Hg.): Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte, München: Beck 1998, S. 269-288. 185
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Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Benediktinermönch, wurde vom Papst beauftragt, den ausschweifenden Besuch des Wallfahrtsorts und seine Wundertätigkeit zu untersuchen. Amort zeigte sich dabei als Naturforscher der Aufklärung: Mithilfe eines Fragenkatalogs, verschiedener Instrumente und mit der Unterstützung von Ärzten und Chirurgen wollte er klären, ob die hergebrachten Säuglinge lebendig oder tot waren. Letztlich war es dann der Mönch selber, der die Entscheidung über Leben und Tod fällte. Nachdem Eltern, Angehörige und Ärzte seine Fragen beantwortet hatten und zu widersprüchlichen Aussagen gekommen waren, lag es in Amorts Ermessen, die Zeichen zu deuten: Er entschied darüber, ob das betreffende Kind gelebt hatte und die Taufe gewährt werden musste. Für die Glaubenswirklichkeit der Eltern des toten Kindes, aber auch in Bezug auf die Voraussetzungen und Inhalte des protestantischen Glaubens allgemein, hatte diese Perspektive eine andere Bedeutung als die Voraussetzungen und Lehren der katholischen Kirche. Die Entzauberung und Entsakralisierung des Umgangs mit der Seele hatte innerhalb des Protestantismus einerseits zu einer Abnahme an Handlungsmöglichkeiten geführt, auf sie einzuwirken und andererseits zu einer geringeren Notwendigkeit, auf das Seelenheil einwirken zu müssen. Weil das Verhalten der katholischen Kirche stark mit Missbräuchen wie dem Ablasshandel assoziiert wurde, entwickelten die Protestanten generell eine distanzierte Haltung gegenüber Lehren wie der Fegefeuerlehre, dem Glauben an einen Limbus oder der Präsenz von Seelen im Diesseits. Entsprechend standen sie klopfenden Wiedergängern oder dem »Schmatzen in den Gräbern« reservierter gegenüber. Möglicherweise hatte also auch der vermittelte Umgang mit der Seele damit zu tun, dass es den protestantischen Pfarrern leichter fiel, an eine Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens zu glauben. Jedenfalls legt die Auswertung der Beiträge, die protestantische Pastoren in den moralischen Wochenschriften veröffentlichten, die Einschätzung nahe, dass die evangelischen Geistlichen die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden ernster nahmen. Sie machten sich in ihren Artikeln zu Fürsprechern der Drei-Tage-Regelung oder befürworteten die Errichtung von Leichenhäusern. Die kritische Haltung der Protestanten gegenüber dem Geisterglauben war in ihren Anfängen nicht der Entstehung einer neuen Anthropologie geschuldet, sondern speiste sich aus dem Umgang der katholischen Kirche mit dem Seelenheil und der protestantischen Theologie. Möglicherweise konnten sie sich deshalb leichter darauf verständigen, dass es angesichts der gängigen Bestattungspraktiken durchaus möglich war, dass es keine Geister, sondern nur ohnmächtige Menschen waren, die vorzeitig begraben worden waren. Diese Offenheit gegenüber dem me186
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dizinischen Konzept »Scheintod« hatte nicht zwangsläufig mit einer naturforschenden Ausbildung zu tun und damit, dass die Pastoren womöglich mit Lebenskraftlehre und Mechanismus vertraut waren. Zumindest lassen die Beiträge mancher Pastoren diesen Schluss nicht zu. Der Autor des Beitrags über Klopfgeister im ersten Kapitel, der Pastor Heinrich Theodor Schnorr (1760-1835) aus Amelunxen in Westfalen, führte keine im engeren Sinne naturforschenden Argumente gegen die Geister an. Vielmehr wetterte er gegen die Leichtgläubigkeit der Bevölkerung und ihre Einfalt gegenüber kolportierten Geschichten. Er bezeichnete diese Vorstellungen schlicht als Aberglauben. Der zeitweise Weimarer Oberkonsistorialrat und Gymnasialrektor Karl August Böttiger (1760-1835), studierter Theologe und Altphilologe, nutzte die Schriften protestantischer Theologen, um sich gegen den Geisterglauben zu wenden. 84 Böttiger engagierte sich in der Herausgabe verschiedener moralischer Wochenschriften, darunter der Neue Teutsche Merkur des Schriftstellers Christoph Martin Wieland und das Journal des Luxus und der Moden.85 In seinem Beitrag führte er zwei Gewährsmänner an, Martin Luther und Philipp Spener, um sich für die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens zu verwenden. Böttiger argumentierte, dass die Gerüchte, die sich um den Geisterglauben rankten, schon von Martin Luther als Betrügerei und Bosheit des Teufels entlarvt worden seien. Es sei keine Seele, die im Diesseits umherirre, sondern der Teufel selbst. Deshalb solle man standhaft sein. Im Nachlass des Pietisten Philipp Spener, den Böttiger als zweiten »Gutachter« anführte, war ein Brief gefunden worden, in dem er einen befreundeten Pastor auf Krankheiten aufmerksam machte, die von Ohnmachten begleitet wurden und eine »narkotische Kraft« entwickeln konnten, dass man Kranke irrtümlich für tot erklärt hatte. Während Luther die protestantische Lehre vertrat, diente der Brief von Spener als Argument aus dem Alltag. An dieser Stelle wird deutlich, wie die gesetzlich festgeschriebenen medizinischnaturforschenden Ansprüche, alltägliche Erfahrungen und andere Wissensbestände wie die Theologie in Übereinstimmung gebracht werden konnten. Denn auch wenn Böttiger sich nicht explizit auf die Lebenskraftlehre stützte, konnte er sich gleichwohl gegen den Geisterglauben wenden. Böttigers Text wendete sich zugleich gegen Angehörige seines eigenen Standes, die die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens ignorier84
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Vgl. Karl August Böttiger: »Zwei theologische Gutachten über das Wieder-erwachen der Schein-todten«, in: Schleswigsches Journal 2 (1792), S. 334-349, S. 347. Vgl. »Karl August Böttiger«, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, begr. u. hg. v. F.W. Bautz, Hamm: Bautz 1975 ff, Bd. 27, S. 143-151. 187
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ten. Oftmals, so seine Kritik, relativierten seine Kollegen den Scheintod »als das Hirngespinst eines müssigen Kopfs« oder bedachten ihn »als eine gefährliche Neuerung mit bedeutendem Kopfschütteln wie die übrigen Ketzereien unsers klügelnden Zeitalters«.86 Es zeigt sich, dass diejenigen Geistlichen, die sich selbst als »Aufklärer« bezeichneten – und darunter konnten für diese Arbeit nur protestantische Pastoren ausfindig gemacht werden –, auf die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens aufmerksam machten.87 Es hatte sich eine Wahlverwandtschaft zwischen Erkenntnissen der Naturforschung und protestantischer Theologie entwickelt. Jedenfalls waren sie bereit, die Bestattungsfristen zu ändern und die Gefahr eines Lebendigbegrabenwerdens zu verringern. Weitere protestantische Geistliche, die sich öffentlich gegen die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens aussprachen, waren Samuel Christoph Wagener (1763-1845) und Johann Gottlieb Wolff. Wagener war nach seinem Theologiestudium in Halle lutherischer Feldprediger beim preußischen Leibkarabiner-Regiment in Rathenow und später Superintendent der Diözese von Burg bei Magdeburg.88 Wolff war Geistlicher am Braunschweiger Dom. Sie betrachteten ihr Engagement als »humanitäres Werk«. Mit diesem Argument jedenfalls ließ der Jöllenbecker Pastor Schwager seine Predigt wider die hiesigen Begräbnispraktiken drucken. Johann Moritz Schwager (1738-1804), seit 1768 evangelischer Pfarrer in Jöllenbeck bei Bielefeld, zwischen 1770 und 1784 Herausgeber der Mindenischen Anzeigen und Beiträge zum Nutzen und Vergnügen, einer moralischen Wochenschrift für Ostwestfalen, hielt 1792 eine Predigt in seiner Gemeinde, in der er auf die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens aufmerksam machte. Der Jöllenbecker Pastor schloss sich nicht nur der Kritik seiner Amtskollegen gegen den Aberglauben in der Bevölkerung an, er befand sich auch auf Höhe des medizinischen Kenntnisstandes. Schwager kannte die Dissertation von Bruhier und war mit den volksaufkläreri-
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Böttiger: »Zwei theologische Gutachten«, S. 336. Vgl. darunter: Johann Wilhelm Gottlieb Wolff: Ueber die nöthige Vorsicht Verstorbene nicht früher zu begraben, als bis wir ihres Todes völlig gewiß seyn können: Ein bisher noch zu wenig erkannte Pflicht der Liebe; Eine Predigt am 16ten Sonntage nach Trinitatis 1791 in der Domkirche zu Braunschweig gehalten, Braunschweig: Kircher 1791; Samuel Christoph Wagener: Der Lebensretter, oder wie können viele scheintodtgeborene Kinder, erdrückte Säuglinge, schwer niedergekommene Mütter, hysterische Frauen, im Starrkrampf liegende Männer, und namentlich mancher auf dem Schlachtfelde nur von Verblutung ohnmächtige Scheintode am Leben erhalten werden, Altenburg: Pierer 1835. Vgl. »Wagener, Samuel Christoph«, in: Literaturlexikon, Bd. 12, S. 81.
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schen und medizinalpolizeilichen Schriften vertraut. So führte er Mosheims Sittenlehre und Johann Peter Brinckmanns Beweis: daß einige Leute können lebendig begraben werden auf. Um in seiner Gemeinde für die Verlängerung der Beerdigungsfristen zu werben, berief Schwager sich auf die Stelle im Neuen Testament, Matthäus 5, 21 und 22, in der es um das fünfte Gebot, »Du sollst nicht töten«, geht. Schwager war vertraut mit dem Mechanismus und der Lebenskraftlehre. Er verglich den menschlichen Körper mit einer Uhr, in die Staub geraten war und durch dieses Hindernis aufgehört hatte zu schlagen: »Wer wird aber eine Uhr deswegen wegwerfen!«89 In seiner Predigt führte der Pastor aus, dass verschiedene Autoren gezeigt hatten, dass die Kennzeichen des Todes missdeutet worden waren. »Das Leben ist zunächst im Blute. […] Ein Mensch, der auch nur den kleinsten Theil seines Bluthes verliehrt, verliehrt dadurch einen großen Theil seiner Kräfte, wird schwach, ohnmächtig und einem Todten ähnlich. […] Nichts erzeugt sich aber auch geschwinder wieder, als das Blut, und ein Verbluteter kann sich in wenigen Wochen wieder erholen«.90 Solange die Bestattungspraxis existierte, die Toten innerhalb von 24 oder 48 Stunden zu begraben, könne es also auch in Jöllenbeck leicht vorkommen, dass Menschen noch lebend begraben würden. Auch Schwager rief das Bild der Klopfgeister in Erinnerung und ermahnte seine Gemeinde, diese nicht als Gespenster anzusehen, sondern als Menschen, die im Grab wieder erwacht waren und um Hilfe riefen. Die protestantischen Pfarrer taten sich also leichter, für die Verlängerung der Beerdigungsfristen zu werben, obwohl, wie Nieberding gesagt hatte, es ja »auch das Religionssystem der Catholiken zu[ließ]«, mit der Beerdigung zu warten. Pfarrer Topp machte ganz deutlich, dass ihm das Konzept Scheintod fremd war. Unter den Einwohnern seiner Gemeinde, erklärte Topp, seien »bey ihrer einfachen Lebensart keine Scheintodte zu befürchten«. Die Beerdigungsgepflogenheiten in Lohne, so Topp, erschienen ihm deshalb »ungefährlich«.91
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Johann Moritz Schwager: Daß man durch zu frühes Begraben lebende Menschen, die man für todt hielt, auf die schrecklichste Weise tödten könne. Eine Predigt über Matth. V, 21.22. Auf Verlangen einer hochpreisl. Minden-Ravensbergischen Krieges- und Domänen-Cammer, Berlin, Stettin: Friedrich Nicolai 1792, S. 47. Ebd., S. 48. BAM Lohne A5. 189
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Auch für die jüdischen Gemeinden wird die neue Anthropologie zum Testfall. Ein Streit aus dem Jahr 1772 Um die Spannung zwischen alter und neuer Anthropologie zu verfolgen, stellt der Konflikt über das »frühe Beerdigen« innerhalb der jüdischen Gemeinden am Ende des 18. Jahrhunderts einen weiteren idealen analytischen Zugang dar. Auch dort stießen alte und neue Anthropologie aufeinander; in diesem Fall in Form von jüdischen Aufklärern und religiösen Traditionalisten. Als gesellschaftliche Minderheit in einem christlichen Umfeld waren die religiösen Praktiken der Juden in einem besonders hohen Maße in der Öffentlichkeit exponiert und – auch wenn sich der Anlass des Konflikts nicht von dem ihrer christlichen Nachbarn unterschied – einem entsprechend hohen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Der Beerdigungsstreit von 1772 erhielt deshalb bereits als historisches Ereignis eine Sonderstellung und erfuhr hohe Resonanz von den Zeitgenossen, gleichzeitig nimmt er auch in der Historiographie eine Schlüsselposition ein.92 Er geriet für die Forschung zur Identitätsfrage der jüdischen Gemeinden in der Aufklärung und wurde deshalb im Hinblick auf die jüdischen Emanzipationsbestrebungen in diesem Zeitraum diskutiert. »Über den Gräbern« sei der Weg der jüdischen Gemeinden in die bürgerliche Gesellschaft festgelegt worden, der Beerdigungsstreit gilt als »Präzedenzfall der jüdischen Reform« in der Aufklärung.93 Ende des 18. Jahrhunderts kam es also auch zwischen jüdischen Aufklärern, den Maskilim, und den Anhängern der religiösen Tradition zu einer Zerreißprobe wegen der Frage, wie lange die Toten bis zur Bestattung aufgebahrt werden müssten. Ausgelöst wurde der Konflikt durch ein Reskript, das der Herzog von Mecklenburg-Schwerin am 30. April 1772 erließ und nach dem auch jüdische Verstorbene erst drei Tage nach ihrem Tod bestattet werden sollten. Dieses Gesetz regelte nicht nur das jüdische Bestattungswesen neu. Es entstand in dem gleichen Kontext wie die Gesetzesnovellen in den übrigen deutschen Territorien. Die neue Regelung traf jedoch die jüdischen Gemeinden besonders hart, denn hier wurden alle Verstorbenen gewöhnlich innerhalb eines Tages, binnen vier Stunden, bestattet. Vor dem Hintergrund dieser Praxis betrachtete die jüdische Gemeinde von Schwerin das Gesetz, »das 92
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Vgl. zum Verlauf des Konflikts: Alexander Altmann: Moses Mendelssohn. A Biographical Study, London: Routledge & Kegan Paul 1973, S. 288-295; Jacob Katz: Out of the Ghetto. The Social Background of Jewish Emancipation, 1770-1870, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1973, S. 144; Daniel Krochmalnik: »Scheintod und Emanzipation. Der Beerdigungsstreit in seinem historischen Kontext«, in: Trumah 6 (1997), S. 107-149, S. 108. Krochmalnik: »Scheintod und Emanzipation«, S. 124 und S. 108.
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Volk Gottes solle dem Gesetz der Christen Folge zu leisten« als Anmaßung und wertete es als Angriff auf ihre religiöse Autonomie.94 Sie begann sich zu wehren und bat zunächst den Philosophen Moses Mendelssohn um Vermittlung beim Herzog. Der Historiker Daniel Krochmalnik unterscheidet drei Phasen des Verlaufs dieser Auseinandersetzung: Anfang der 1770er Jahre setzte, angestoßen durch das herzogliche Reskript, eine interne Auseinandersetzung über die Vereinbarkeit der Drei-Tages-Frist und den jüdischen Beerdigungspraktiken ein. Die Maskilim bemühten sich, das herzogliche Reskript mit der jüdischen Gesetzgebung so in Einklang zu bringen, dass die Bestattungsfrist verlängert werden konnte. Dadurch zogen sie den Unmut der konservativen Rabbiner auf sich. In einer zweiten Phase, seit den 1780er Jahren, wurde die interne Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit getragen und die rabbinischen Argumente gerieten unter den Druck der Öffentlichkeit der Aufklärung. Anfang der 1790er Jahre weitete sich in einem dritten Stadium die Auseinandersetzung zwischen Aufklärern und Traditionalisten zu einem offenen Machtkampf aus, der erst vom Gesetzgeber, dem Herzog von Mecklenburg-Schwerin, beendet wurde. Er resultierte in der Gründung alternativer Beerdigungsgesellschaften und der Erbauung eines Leichenhauses. Die Einführung der Drei-Tages-Regelung bedeutete zwar auch hier nicht automatisch, dass sie umgesetzt und eingehalten wurde, die Gesetzesnovelle wurde jedoch wie auch in den anderen Territorien rechtskräftig und die Bestattungen innerhalb von vier Stunden verboten.95 Die jüdische Gemeinde von Schwerin bat den Philosophen Moses Mendelssohn im Juni 1772 um Vermittlung. Moses Mendelssohn, der als Vorkämpfer für die politische und soziale Gleichstellung der Juden mit den Christen gilt, war ausgebildeter Rabbiner und hatte in Berlin Philosophie und Sprachen studiert. Er hatte sich vor allem mit den Schriften Christian Wolffs, Leibniz’ und John Lockes auseinander-
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Brief von der jüdischen Gemeinde Schwerins an Moses Mendelssohn, abgedruckt in Moses Mendelssohn: Gesammelte Werke. Jubiläumsausgabe, begr. v. I. Elbogen, Bd. 20,2, Stuttgart-Bad Cannstadt: Friedrich Frommann Verlag/Günther Holzboog 1994, S. 221. Gabriele Zürn: »Die Jüdische Gemeinde Altona zwischen Tradition und Moderne. Aufklärung und der Umgang mit dem Tod 1772-1875«, in: Arno Herzig/Hans Otto Horch/Robert Jütte (Hg.): Judentum und Aufklärung. Jüdisches Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 91-118, S. 106. Die Autorin weist zudem in einer Auswertung eines Samples aus 250 Testamenten der jüdischen Gemeinde von Altona zwischen 1700 und 1870 nach, dass dort keine Vorkehrungen zur Verhütung des Scheintodes getroffen wurden. 191
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gesetzt. Seit 1750 veröffentlichte er, angeregt durch Gotthold Ephraim Lessing, philosophische Schriften und wurde 1771 in die Berliner Akademie der Wissenschaften gewählt. Mendelssohn gilt als der erste jüdische Philosoph, der die jüdische Religion mit den Begriffen der aufgeklärten Philosophie interpretierte und sich für die Emanzipation und Integration der Juden einsetzte. Zu diesem Zweck übersetzte er die Bibel aus dem Hebräischen ins Deutsche. In seiner Schrift Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele von 1769, entwickelte er in Auseinandersetzung mit Leibniz eine eigene moraltheologische Begründung für die Unsterblichkeit der Seele. Damit schloss er an die Diskussion der Aufklärung um die Beschaffenheit der Seele aus jüdischer Perspektive an. In seinem Brief an die Schweriner Juden bewertete er das herzogliche Gesetz wohlwollend. Mendelssohn befürwortete die längere Frist zwischen Tod und Bestattung mit der Begründung, dass es die jüdische Gesetzgebung durchaus zulasse, »zu Ehren des Toten, ihn übernachten zu lassen«.96 Es gebe keinen gesetzlichen Zwang, Tote innerhalb weniger Stunden bestatten zu müssen. Er begründete sein Argument pragmatisch, bezog sich jedoch stets auf die üblichen jüdischen Bräuche. Eine Verschiebung der Beerdigung komme schon allein deshalb vor, »um einen Sarg und ein Totenhemd und Klagefrauen zu bringen oder damit die Verwandten kommen können und um es in der Umgebung bekannt zu geben«.97 Zudem sei es im alten Israel üblich gewesen, die Toten in Höhlen und Grabnischen beizusetzen und sie drei Tage zu bewachen, »ob ihr Geist in ihren Körper zurückgekommen sei«.98 Mendelssohn zeigte, dass es immer wieder Abweichungen von der Bestattungsnorm gegeben hatte, und führte eine Reihe von pragmatischen und Alltagsgründen an, die den Zeitpunkt der Bestattung aufzuschieben rechtfertigten. Zudem, so seine Ausführungen, sei die frühe Beerdigung nicht den jüdischen Gesetzen im engeren Sinne geschuldet, sondern hänge mit den klimatisch-geografischen Verhältnissen zusammen. Zuletzt argumentierte der Philosoph, dass die »Rettung einer Seele« Vorrang vor der Unreinheit eines Körpers habe. Damit zog Mendelssohn das Argument der Lebensrettung dem der rituellen Verunreinigung vor. Die Bestattung am gleichen Tag des Ablebens wurde nämlich traditionell auch damit begründet, dass der Leichnam sonst unrein würde und diese Unreinheit sich auch auf die Lebenden übertrüge.99 Aber, so Men96 97 98 99
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Mendelssohn: Gesammelte Werke, S. 225. Ebd. Ebd. Vgl. »Bestattung«, in: Neues Lexikon des Judentums, hg. v. Julius H. Schoeps, Gütersloh/München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1998, S. 125.
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delssohn, »[d]er Schleimflüssige und die Blutflüssige, die Unreine und die Wöchnerin, die gestorben sind, verunreinigen beim Tragen [der Leiche], bis das Fleisch sich auflöst […]«. Deshalb hielt Mendelssohn das Argument, Tote möglichst schnell unter die Erde zu bringen, um die Reinheitsvorschriften einzuhalten, für paradox. Bei diesen Krankheitszuständen und Todesfällen abzuwarten sei ohnehin sinnvoll, weil, wie die jüdischen Gesetze anerkannten, »es schwierig ist, zwischen Ohnmacht und Tod zu unterscheiden, und daß man in der Sache keine Klarheit gewinnen kann, bis das Fleisch sich auflöst«.100 Mendelssohn schloss sich damit in der Frage der Todesfeststellung mit pragmatischen Gründen, biblischen Belegen und Argumenten aus dem Alltag den medizinischen Ansprüchen der Aufklärung an: Die Verwesung sei das einzig sichere Zeichen, den Tod festzustellen. Damit stellte er sich über die traditionellen Reinheitsgesetze und -bräuche. Die frühe Beerdigung sei kein talmudisches oder mosaisches Gebot im engeren Sinne, sondern habe sich als Brauch so eingebürgert. Dies war sein Hauptargument. Und weil es ohnehin schon Abweichungen von diesem Brauch gebe, könnten diese auch generalisiert werden. Ein Aufschub der Beerdigungen mit den Lehren der jüdischen Religion sei grundsätzlich leicht vereinbar. Neben Mendelssohn hatte die jüdische Gemeinde von Schwerin den Rabbi Jacob Emden aus Altona bei Hamburg als einen weiteren Gutachter bestellt. Er sah in Mendelssohns großzügiger Auslegung des jüdischen Gesetzes, »jeder, der seine Toten übernachten läßt, vergeht sich, außer« eine unzulässige Interpretation. Würden die Ausnahmen, die dieses Gesetz ansprach (die unklaren Todesursachen und die geographischklimatischen Umstände im alten Israel) zur Regel erhoben, ginge die eigentliche Absicht, auf die die frühe Bestattung abzielte, verloren. Frühe Beerdigungen, darauf berief Emden sich, standen in der Tradition der Vorfahren und würden von den Juden in der ganzen Welt praktiziert. Es sei nicht zu vertreten, »an dem Brauch unserer Väter zu kritteln, die in allen vier Himmelsrichtungen zerstreut sind. […] Nun ist es weder bekannt, noch hat man es gehört in der ganzen Welt, an Orten, wohin unsere Brüder […] zerstreut wurden, daß man bei der Beerdigung ihrer Toten einen anderen Brauch pflegt, als wir in diesen Ländern zu tun pflegen, und ein ausgesprochenes Gesetz aus der Mischna [der jüdischen Gesetzessammlung] damit übertreten.«101
100 Mendelssohn: Gesammelte Werke, S. 225-226. 101 Von Jacob Emden an Moses Mendelssohn, abgedruckt in Mendelssohn: Gesammelte Werke, S. 234. 193
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Es könnten zwar Ausnahmen im Falle von Ohnmachten oder plötzlichen Todesfällen gewährt, aber keine prinzipielle Abweichung von der Tradition geduldet werden. Emden schalt Moses Mendelssohn einen ungehörigen und ungehorsamen Schüler. Mordechai Jaffe, der Landesrabbiner von Schwerin, argumentierte ähnlich wie Emden. Auch er verstand die von Mendelssohn aufgeführten Textstellen als Ausnahmeregelungen, die eine generelle Ausweitung des Gesetzes nicht legitimierten.102 Hätte die jüdische Gemeinde nachweisen können, dass es sich bei ihrer Bestattungspraxis um ein von der Bibel oder dem Talmud vorgeschriebenes Gesetz handelte, wäre ein Eingriff in die Religionsautonomie zur Geltung gegen das herzogliche Reskript gekommen. Diese gesetzliche Grundlage gab es jedoch nicht. Letztlich waren die jüdischen frühzeitigen Bestattungen wie der christliche Brauch, Verstorbene innerhalb eines Tages zu bestatten, eine lang eingeübte Praxis, die mit biblischen Belegen zwar gerechtfertigt werden konnten, jedoch von der Religion nicht vorgeschrieben wurde. So war eine weitere Textstelle, mit der die Gegner der verlängerten Bestattungsfrist ihren Standpunkt belegten, das 5. Buch Moses. Im 21. Kapitel, Vers 23 heißt es, dass Hingerichtete möglichst schnell beerdigt werden sollten. Diese Textstelle wurde verallgemeinert und von den Befürwortern der frühen Beerdigungen als Argument für die gängige Bestattungspraxis herangezogen. Letztlich waren auch hier die Bestattungsbräuche ein Konglomerat aus Traditionen, Bräuchen und geographisch-klimatischen Bedingungen, die religiös begründet wurden. Damit verwies der Beerdigungsstreit 1772 ebenfalls auf einen Konflikt zwischen unterschiedlichen anthropologischen Konzepten. Ein Hinweis auf diese anthropologische Konzeption findet sich nämlich in Emdens Äußerungen über die Feststellung des Todes: »Auf jeden Fall sagten sie, man untersucht ihn nur an der Nase, und stützen sich auf das, was geschrieben steht, daß jeder, in dessen Nase kein Lebenshauch ist, bekanntlich tot ist, und für ihn besteht keine Lebensrettung. Du hast also gelernt, daß die Worte des Arztes, der die Lehre verneint, nichtig sind.«103
Auch Mordechai Jaffe führte diese Stelle als Zeichen des Lebens an: »Wie weit untersucht man? Bis zur Nase, denn es ist geschrieben, daß jeder der Odem hat, lebt.«104 102 Von Mordechai Jaffe an Moses Mendelssohn, in: Mendelssohn: Gesammelte Werke, S. 240-242. 103 Brief von Emden an Mendelssohn, in: Mendelssohn: Gesammelte Werke, S. 238. 104 Brief von Jaffe an Mendelssohn, in: Mendelssohn: Gesammelte Werke, S. 242. 194
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Der Mensch wird nach 1 Moses 2,7 dadurch lebendig, dass Gott ihm seinen Atem einflößt. Solange er den Lebensatem in sich hat, gilt er als lebendig. Im Tod haucht der Mensch sein Leben aus, es entweicht durch die Nase. Nach jüdischer Vorstellung erhält man das Seelenheil, indem die menschliche Seele so schnell wie möglich zum göttlichen Geist zurückkehrt. Nach kabbalistischer Auffassung konnte die Seele erst mit der Bestattung ins Paradies eintreten. Die Seele könne solange nicht zu Gott zurückkehren, wie sein Leib nicht beerdigt worden ist. Durch eine frühe Bestattung gelangte der Mensch schneller in den Himmel.105 Damit wies die alte Anthropologie Parallelen zur mittelalterlich-christlichen Anthropologie des Seelenwesens Mensch auf und legte damit eine ähnliche Problemlage wie die nicht-jüdische Scheintoddebatte nahe. Diese alte Anthropologie tauchte nämlich bei dem Arzt und Philosophen Marcus Herz (1747-1803), der von der jüdischen Zeitschrift Der Sammler um eine medizinische Stellungnahme gebeten wurde, nicht mehr auf. Herz hatte in Halle Medizin studiert und arbeitete seit 1774 im jüdischen Krankenhaus in Berlin. Er lebte seit 1770 in Berlin und hatte sich dem Kreis jüdischer Aufklärer um Moses Mendelssohn angeschlossen. Herz war mit den Schriften Bruhiers und Hufelands vertraut und seine Einstellung gegenüber frühzeitigen Beerdigungen war eindeutig. Diese Bestattungspraxis speiste sich »keineswegs aus einer ächten religiösen Quelle«, sondern gründete auf dem »Starrsinn und Eigendünkel einige[r] neue[r] Rabbinen«.106 Sie stellten eine geistige Bequemlichkeit dar, die von einem unkritischen Umgang mit den religiösen Lehren rühre. In seiner Begründung, die Bestattungen aufzuschieben, bezog sich der Arzt auf das Bild der Körpermaschine von Descartes. Er verglich den menschlichen Körper mit einem Uhrwerk und führte die Lebensvorgänge auf den Körper, nicht auf etwaige Bewegungen der Seele zurück. Damit vertrat er die mechanistische Sichtweise des Lebens: »Die innere Ursache und Einrichtung des Körpers, welche diese Aeusserungen vom Empfinden und Bewegen hervorbringt, ist eigentlich das Leben, und diese besteht in einer uns verborgenen inneren Kraft, welche etwa dem Nervensaft, dem Gehirne oder andern organischen Theilen eigen ist.«107
Das Leben war also dem Körper und den Kräften der Natur eigen. Entsprechend konnte er, ganz in der Argumentation Hufelands, den 105 Vgl. Krochmalnik: »Scheintod und Emanzipation«, S. 121-122. 106 Marcus Herz: Über die frühe Beerdigung der Juden. An die Herausgeber des hebräischen Sammlers, Berlin: In der Königl. privil. orientalischen Buchdruckerey 1788, S. 25. 107 Ebd., S. 9. 195
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Scheintod als einen Zustand des Lebens beschreiben, in dem die Lebenskraft »durch gewisse vorübergehende Umstände in ihrer Thätigkeit verhindert wird; eben so, um bey meinem Gleichnisse von der Uhre zu bleiben, wie die Zeigerbewegung […] wegen verlorner Schnellkraft der Feder«.108 Weil man über die Präsenz und die Funktionsweise der Lebenskräfte so wenig wusste, empfahl auch Herz, sich dem Kriterium Verwesung als dem einzig sicheren Todeszeichen anzuschließen. Herz hielt diese medizinische Sicht durchaus mit seiner jüdischen Identität vereinbar. Auch er argumentierte, dass die »ächten religiösen Quellen« des Judentums einen Aufschub der Bestattung nicht ausdrücklich verböten.109 Außerdem betonte er, dass nach dem von ihm vertretenen medizinischen Modell, die Bestattung Scheintoter die Bestattung lebender Personen bedeutete: »Die Frage ist nicht, ob wir einen Todten früh begraben, sondern ob derjenige, den wir früh begraben, auch wirklich todt ist?« Die Beantwortung dieser Frage obliege der Medizin, nicht der Religion. Wegen der »damaligen Eingeschränktheit der Naturerkenntnis und des Mangels an hinreichenden Erfahrungen« könne nicht die Religion über Leben und Tod entscheiden. Mediziner müssten diese Aufgabe übernehmen. Da aber auch der jüdische Glaube den Erhalt des Lebens wertschätzte, läge es auch in ihrem Interesse, noch lebende Menschen zu schützen. Der Ausgang der Geschichte gestaltete sich wie folgt: Der Streit um die Beerdigungspraxis der jüdischen Gemeinden wurde 1798 mit einem preußischen Zirkular entschieden, das die Frist zwischen Tod und Bestattung sowohl für Christen als auch für Juden der preußischen Territorien auf drei Tage festsetzte. Das bedeutete, dass die Maskilim sich gegen den Widerstand der Rabbiner, der Beerdigungsgesellschaften und der Mehrzahl der konservativen Gemeindemitglieder durchgesetzt hatten.110 Die Sekundärliteratur hat den Begräbnisstreit als Scheideweg, an dem sich die jüdischen Traditionalisten von den aufgeklärten Reformern trennten, gewertet. Der größere Zusammenhang, in den diese Reform gehört, ist die Auseinandersetzung um die sogenannte »bürgerliche Verbesserung der Juden«, die seit den 1780er Jahren diskutiert wurde. Dabei ging es um die Frage der Integration dieser Gruppe in die entstehende bürgerliche Gesellschaft und die damit verbundenen Rechte und Pflichten als Staatsbürger. Bevor 1812 das preußische Emanzipationsedikt erlassen wurde, das alle privilegierten Schutzjuden zu Inländern und Bürgern des preußischen Staates erklärte und sie zumindest privatrechtlich 108 Ebd. 109 Vgl. Krochmalnik: »Scheintod und Emanzipation«, S. 141. 110 Ebd., S. 149. 196
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den christlichen Einwohnern gleichstellte, wurde innerhalb der jüdischen Gelehrtenkreise und in Auseinandersetzung mit den christlich-bürgerlichen Philosophen diskutiert, wie diese Integration aussehen müsse. Wie weit – diese Frage machte das Herzstück der Debatte aus – sollten sich die jüdischen Gemeinden der christlichen Herrschaft unterordnen und ihre Identität zugunsten der Assimilationsforderungen aufgeben? So ist der Beerdigungsstreit als Identitätskonflikt gedeutet worden, den die jüdischen Aufklärer gewannen.111 Diese These geht davon aus, dass ein mit den Ideen der Aufklärung konform gehender Flügel, die Maskilim, das Zugeständnis machte, die Zeit der Bestattung zu verlegen und sich so den Ansprüchen der christlichen Obrigkeit unterzuordnen. Ihr Status in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft wurde dadurch aufgewertet. Sie gaben zwar den traditionalistischen Teil ihrer Identität preis, konnten von dem Zeitpunkt an aber die Diskursmacht innerhalb des Judentums übernehmen. Sie bestimmten den Weg der jüdischen Gemeinden in die Moderne. Die konservativen Stimmen, die Rabbiner, hatten an Macht und Einfluss verloren. Die christliche Obrigkeit setzte ihre religiösen und weltanschaulichen Standards nach und nach durch und die Integration der jüdischen Mitbürger entschied sich entlang ihrer Bereitschaft, sich diesen Vorgaben anzupassen oder sie sich anzueignen. Der Akkulturationsthese unterliegt eine Vorstellung, nach der die christliche Obrigkeit die jüdische Minderheit unter die bereits herrschenden Gesetze und damit zur Aufgabe ihrer Traditionen gezwungen habe. Die Akkulturation der jüdischen Gemeinden habe sich unter Aufgabe alter jüdischer Traditionen vollzogen: Indem der an der Aufklärung orientierte Teil der Juden sich der Neuregelung der Bestattungsfristen gebeugt habe, mussten die Befürworter der vormaligen Praxis, der Bestattung innerhalb weniger Stunden, ihren Brauch aufgeben. Der Preis der jüdischen Emanzipation und Integration in die bürgerliche Gesellschaft habe in der Aufgabe ihrer Identität bestanden. Dabei war auch für die christliche Obrigkeit die Regelung der Begräbnisfristen neu. Die Drei-Tages-Regelung war kein christliches Bestattungsgesetz, sondern ergab sich aus der Neuformulierung der Anthropologie: Wenn das Leben im Körper war und das Versagen der körperlichen Funktionen empirisch schwierig festzustellen war, konnte sich nur auf das Verstreichen der Zeit als Möglichkeit verlegt werden, den Tod eindeutig festzustellen. Die jüdischen Vertreter mussten sich gleichermaßen wie die christlichen Teilnehmer der Scheintoddiskussion 111 Zuletzt bei Gerda Heinrich: »Akkulturation und Reform. Die Debatte um die frühe Beerdigung der Juden zwischen 1785 und 1800«, in: ZRGG 50 (1998), S. 137-155. 197
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mit einem neuen Problem auseinandersetzen. Das Problem der neuen Bestattungsfristen betraf Juden wie Christen gleichermaßen und war dem neuen Verständnis von Leben und Tod geschuldet. Weil auch das christliche Verständnis des Todes eigentlich von dem Moment ausging, in dem sich Körper von Seele trennte, stellte die Verlängerung der Beerdigungszeiten auch für die Christen beider Konfessionen eine Neuerung dar. In seinem maßgeblichen Beitrag über den jüdischen Umgang mit den frühzeitigen Beerdigungen hat Krochmalnik die Scheintoddebatte als »Zugehörigkeitstest« gewertet: In dem Maße, in dem die jüdischen Vertreter Anteilnahme an einem gesamtgesellschaftlichen Problem – die Angst vor dem Scheintod und die daraus resultierende Verlängerung der Bestattungsfristen – zeigten, bekundeten sie ihren Willen, zur bürgerlichen Gesellschaft zu gehören. Krochmalnik erweitert den Identitätskonflikt der jüdischen Gemeinden um die Einordnung der Scheintoddebatte in die übergreifenden Säkularisierungs- und Medikalisierungsprozesse. Er erklärt sich den Druck, der auf die jüdischen Gemeinden ausgeübt wurde, damit, dass der Beerdigungsstreit den »Anfang vom Ende der mittelalterlichen Herrschaft des Gesetzes« darstellte: »Er war die erste Auseinandersetzung in einer Reihe religionsgesetzlicher Streitfälle, die nach dem gleichen Muster ausgetragen wurden. An ihm kann man die Säkularisierungs- und Anpassungskrise des modernen Judentums in nuce studieren«.112 Diese These trifft nicht nur für die jüdische Bevölkerung zu. Zunächst verweist nämlich die allgemeine Scheintodangst auf einen allgemeinen Wandel der Todesvorstellungen, der durch die medizinischen Erkenntnisse der Aufklärung hervorgerufen wurde. Mit diesem Wandel des Todesverständnisses konnten sich Juden wie Christen in dem Maß identifizieren, wie es ihr Selbstverständnis als Naturforscher und ihre Ausbildung zuließen. Das bedeutete zum Zweiten, dass die Angst vor dem Scheintod und die daraus resultierende Verlängerung der Bestattungsfristen ein gesamtgesellschaftliches Problem war, dem die jüdischen Gemeinden genauso fremd gegenüberstanden wie ihre christlichen Nachbarn – solange sie der mittelalterlich-christlichen Konzeption der Seele anhingen. Für die Vertreter des Judentums, die sich mit dem neuen Verständnis von Leben und Tod identifizieren konnten, bedeutete es keinen Identitätsverlust, sich mit der Neuregelung der Bestattungsfristen einverstanden zu erklären. Sie ergab sich vielmehr auch für sie aus der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung und dem Verlust des Glaubens 112 Krochmalnik: »Scheintod und Emanzipation«, S. 125. 198
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an die Unsterblichkeit. Für den Arzt Marcus Herz bedeutete die Befürwortung der verlängerten Bestattungsfristen keine Aufgabe von Identität, weil er sich mit dem medizinischen Kenntnisstand identifizieren konnte. Dazu gehörten das neue mechanistische Verständnis des Lebens und die damit einhergehende anthropologische Neuformulierung. Dadurch zeigte er sich als Vertreter einer neuzeitlichen Anthropologie, der versuchte, diese sowohl mit den Anforderungen des absolutistisch-aufgeklärten Staates als auch mit der jüdischen Lehre kompatibel zu machen. Die Verschiebung der Beerdigungsfristen war durchaus vereinbar mit einer jüdischen Identität, die die Lebenskraftlehre als wahres Wissen verstand und es entsprechend in die religiöse Lehre integrieren konnte.
»Keine Leiche darf vor Ablauf von drei Tagen beerdigt werden«. Bestattungsfristen werden Sache des Staates Der Streit zwischen Nieberding und Topp hatte sich zwar erledigt, die Frage der Bestattungsgesetze im Herzogtum Oldenburg war jedoch noch nicht geklärt. Das Konsistorium in Oldenburg, die oberste protestantische Kirchenbehörde, sah sich deshalb genötigt, dem Fall nochmals nachzugehen. Es stand noch immer nicht fest, ob die Toten in den Ämtern Cloppenburg und Vechta ordnungsgemäß bestattet wurden. Der Vorstand des Konsistoriums schrieb deshalb im Januar 1804 unter Bezugnahme auf den Artikel Nieberdings im Oldenburgischen Gemeinnützigen Wochenblatt einen Brief an den oldenburgischen Herzog, in dem er erstens darauf hinwies, dass die Bestattungen innerhalb von 24 Stunden eingestellt werden müssten und zum Zweiten darauf drang, die Zuständigkeiten in Bezug auf diese Frage zu klären. War das Vikariat in Münster verantwortlich, die oldenburgische Polizeibehörde oder das Konsistorium? Es stellte sich heraus, dass die Bestattungsfristen von kirchlicher Seite in der Vergangenheit nur ungenau festgelegt worden waren. Die Frage der Zuständigkeiten sorgte zudem zusätzlich für Verwirrung, weil die beiden Ämter Vechta und Cloppenburg katholisch waren und in das protestantische Herzogtum integriert werden mussten. Vor 1803 hatten sie der fürstbischöflichen Verwaltung in Münster unterstanden. Bereits Anfang August 1803 hatte Herzog Peter Friedrich Ludwig deshalb eine Kommission zur Wahrnehmung der geistlichen Angelegenheiten in den
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Ämtern Cloppenburg und Vechta eingerichtet.113 Sie bestand aus zwei protestantischen Beamten des Herzogs und war beauftragt, alle päpstlichen und münsterschen Verordnungen zu prüfen.114 Denn Angelegenheiten, die kirchliche Zuständigkeitsbereiche betrafen, unterstanden nach wie vor der Hoheit von Münster. Da Oldenburg jedoch staatskirchliche Ansichten vertrat und evangelisch-lutherisch orientiert war, gab es für die beiden katholischen Ämter eine besondere Prüfung. Wie die Implementierung des Bestattungsgesetzes vor sich ging, soll anhand des konkreten Beispiels Lohne veranschaulicht werden. Es zeigt sich, dass die Bestätigung des Gesetzes ohne großen Widerstand weder seitens der protestantischen Kirche noch seitens der katholischen Würdenträger im ehemaligen Niederstift Münster verlief. Die Kirche verhielt sich pragmatisch: Man sollte gesetzlich klären, dass die Leichen nicht vor 72 Stunden bestattet würden. In dem Klärungsverfahren zwischen Kirche und Staat wurden keine Fragen der Naturforschung verhandelt, sondern praktische Probleme. Ungeachtet der medizinischen Erkenntnisse ging es im Kern um die Frage, ob Bestattungen innerhalb von 24 Stunden erlaubt seien. Die Einstellung aller kirchlichen und staatlichen Behörden ging dahin, dass keine Leiche innerhalb dieses kurzen Zeitraums bestattet werden durfte und dass auch vor dem Hintergrund der alten Anthropologie 24 Stunden ein zu kurzer Zeitraum sei. Der Herzog beauftragte das Konsistorium zunächst, sich mit dem zuständigen katholischen Landdechanten in Verbindung zu setzen und sich Einblick in die Beerdigungsverordnungen geben zu lassen. Es stellte sich heraus, dass eine Unsicherheit in Bezug darauf, dass die Trennung von Körper und Seele nicht immer deutlich zu sehen war, auch das christliche Bestattungsrecht einräumte. Der Landdechant Haskamp aus Vechta verwies in seinem Schreiben an den Herzog auf eine fürstbischöfliche Verordnung aus dem Jahre 1712, wonach keine Leiche bestattet werden dürfe, bevor nicht ein gewisser Zeitraum (»temporis intervallum«) verstrichen sei, durch den der Tod festgestellt wurde. Die Angabe »gehöriger Zeitraum« wurde jedoch nicht weiter bestimmt, weshalb, so räumte der Landdechant bestätigend ein, es durchaus vorkomme, dass Verstorbene innerhalb von 24 Stunden beerdigt würden. Diese katholische Vorschrift aus dem Fürstbistum Münster des Jahres 1712 deckte sich mit dem Wortlaut des Rituale Romanum.115 113 Vgl. Peter Sieve: »Geschichte«, in: Willi Baumann/Peter Sieve (Hg.): Die katholische Kirche im Oldenburger Land. Ein Handbuch, Vechta: Plaggenborg 1995, S. 3-69, S. 24-25. 114 1831 errichtete die oldenburgische Regierung für die Katholiken des Landes ein eigenes Vikariat, Offizialat genannt. Vgl. ebd., S. 29. 115 StOl, Best. 31-6-16, Nr. 21 I, Bl. 139. 200
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Eine Nachfrage der Kammer in Oldenburg zeigte, dass es auch im protestantischen Herzogtum eine Verordnung gab, in der eine zeitliche Frist bei Beerdigungen angesprochen wurde. In der oldenburgischen Kirchenordnung Kapitel 12. §1 hieß es: »Keine Leiche soll über 4 à 5 Tage, außer erheblichen Ursachen eines längeren Verzugs, unbegraben stehen.«116 Auch in anderen protestantischen Bestimmungen des Begräbniswesens gab es zeitliche Regelungen. Für Berlin-Brandenburg ist aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überliefert, dass die Höchstdauer für die Aufbahrung der Leichen im Sommer zwei bis drei Tage, im Winter fünf Tage betragen dürfe. Begründet wurde diese zeitliche Begrenzung damit, dass sie den ausgedehnten Leichenfeiern Einhalt gebieten solle. 1655 stand in einer weiteren Begräbnisordnung, dass »gemeine Leute« nur drei bis vier Tage über der Erde stehen dürften.117 In Hannover gab es eine Beerdigungsordnung aus dem Jahre 1603, die verbot, Leichen im Sommer und in Pestzeiten länger als vier Tage aufzubahren.118 Es ging also um eine Höchst- und keine Mindestanzahl an Tagen. Auch in Oldenburg war das Schriftstück, in dem die Kirchenordnung zitiert wurde, mit dem Zusatz versehen, dass »aber aller Tage gegen diese Vorschrift gehandelt wird, ist bekannt genug«.119 Die Frage der Beerdigungsfristen war im Fürstbistum Münster schon einmal Gegenstand politischer Diskussion gewesen.120 Am 15. Mai 1784 hatten die münsterschen Landstände einen Antrag gestellt, »welcher die Gewohnheit des frühen Begrabens auf dem Lande als so sehr eingerissen vorstellte, daß oft diejenigen, so erst den vorigen Mittag gestorben seyn, schon des andern Mittags beerdigt würden«.121 Zu dem Zeitpunkt gehörten die beiden Ämter Cloppenburg und Vechta noch zum Fürstbistum Münster. Der Kurfürst Maximilian beauftragte am 7. Juni 1784 das Collegium Medicum mit der Anfertigung eines Gutachtens und dem Entwurf einer neuen Begräbnisordnung. Dem Medizinalkollegium, der 1773 gegründeten obersten Behörde zur Überwachung des staatlichen Medizinalwesens, stand der kurfürstliche Leibarzt Christoph Ludwig Hoffmann (1721-1807) vor.122 116 StOl, Best. 31-6-34, Nr. 30, Bl. 12. 117 Vgl. Pietsch: »Der Einfluß staatlicher Verordnungen auf die Entwicklung des neuzeitlichen Begräbniswesens in Berlin und BrandenburgPreußen«, S. 149. 118 Vgl. Kreter: »›… das ich doch die Todten‹«, S. 93. 119 StOl, Best. 31-6-34, Nr. 30, Bl. 12. 120 Vgl. Berg: Handbuch des Teutschen Policeyrechts, Bd. 2, S. 207. 121 StOl, Best. 31-6-16, Nr. 21 I, Bl. 135. 122 Hoffmann hatte im Jahre 1777 die erste Medizinalordnung für das Fürstbistum entworfen und war an der Gründung der medizinischen Fakultät der 1780 gegründeten Universität Münster beteiligt. 1787 trat er in die 201
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Das münstersche Medizinalkollegium hatte daraufhin seine Amtsärzte beauftragt, Berichte über die Bestattungspraktiken einzusenden. Die zur Stellungnahme aufgeforderten Amtsärzte gaben an, dass die Verstorbenen gewöhnlich nicht vor Ablauf von zwei Tagen beerdigt würden. Lediglich der Bericht des Amtsmedikus’ Jacobi aus Vechta enthielt »die Anzeige, daß die Armen wohl schon gar am Ende des ersten Tages begraben zu werden pflegten«.123 Innerhalb des Medizinalkollegiums herrschte nun Uneinigkeit darüber, wie ernst die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens einzuschätzen sei. Handelte es sich bei den sogenannten frühzeitigen Beerdigungen um Einzelfälle oder war es eine übliche Praxis? Noch größere Unstimmigkeit entstand über die Frage, mit welchen Mitteln die Bestattungsgewohnheiten zu ändern seien. Anstelle des geforderten einen Gutachtens entstanden deshalb vier Stellungnahmen und ein Entwurf für eine neue Begräbnisordnung. Hoffmann war sich der Gefahr des Scheintodes für die Bestattungspraktiken bewusst. Er bestätigte, dass es medizinisch durchaus möglich sei, dass sich Menschen in einer über mehrere Tage andauernden Ohnmacht befinden könnten und dass es vorkommen könne, dass ein »einem Todten ähnliche[n] Ohnmächtige[n] bey lebendigem Leibe begraben wird«.124 Er fand es jedoch schwierig, das Problem mit einem Gesetz zu lösen. Eigentlich, so sein Argument, müsste bei dieser Personengruppe mit der Bestattung gewartet werden. Deshalb jedoch ein Gesetz zu erlassen, sei unmöglich. Denn um zwischen Krankheit, Scheintod und Tod zu unterscheiden, müsse jeweils die Todesursache geklärt werden. Diese Entscheidung liege aber nur in der Kompetenz von Sachverständigen, Hoffmann meinte damit die Ärzte. Weil aber gerade auf dem Land akademisch ausgebildete Ärzte fehlten, sei ein Gesetz, das die Bestattung neu regelte, »nicht durchführbar«.125 Auf dem Lande »fehlen Kenner, welche das Vermögen haben gehörig zu erforschen und zu entscheiden«.
Dienste des Bischofs von Mainz und befasste sich dort mit der Errichtung eines Medizinalkollegiums und einer Medizinalverfassung. Vgl. Manfred Stürzbecher: »Zur Geschichte der Medizinalgesetzgebung im Fürstbistum Münster im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Westfälische Zeitschrift 114 (1964), S. 165-199; Peter Druffel: »Das Münsterische Medizinalwesen von 1750 bis 1818«, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 65 (1907), S. 44-128. 123 »Aktenstücke aus den Verhandlungen des kuhrfürstlichen Collegii medici«, S. 86. 124 Ebd. 125 Ebd. 202
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Was sollte also stattdessen geschehen? Hoffmann machte den pragmatischen Vorschlag, dass »kein Körper eher beerdigt werden dürfe als bis der Todtengeruch merklich geworden sey«. In seinem Gutachten schlug der Medizinaldirektor vor, ein Gesetz zu erlassen, das mit der Bestattung bei uneindeutigen Todesfällen wartete, bis der »Todtengeruch« eingetreten war. Dieses Gesetz sei leicht umzusetzen, denn die Verwesung sei ein sicheres und eindeutig wahrnehmbares Zeichen, das auch die uneindeutigen Fälle, Neugeborene, Hysterische und Ohnmächtige schütze. Die Erfahrung lehrte, so Hoffmann, dass alle Leichen, wenn man sie – wie üblich – auf dem Stroh liegen lasse, den »Totengestank als Wirkung der angegangenen Fäulnis, annehmen«. Ebenso sicher wisse man, dass die Verwesung nicht eher einsetze, als bis ein Mensch wirklich tot sei, und auch dann nicht wieder zum Leben erweckt werden könne. Dies habe nur der Heiland gekonnt, setzte Hoffmann polemisch hinzu, seine göttliche Kraft habe es beim Lazarus bewirkt. Hoffmann entwarf ein Gesetz, »alle Todtscheinenden solange auf dem Strohe liegen, und der Sarg von ihnen entfernt bleiben, bis der nach dem Tode entstandene oder verstärkte Todtengeruch deutlich vernommen wird«. Das Kennzeichen des Todes, die Verwesung, könne von der Bevölkerung erkannt werden. »Da in der Haushaltung manchmal im hohen Sommer Fleisch stinkend wird: So erlangt fast ein jeder diese Erkenntnis ohne Mühe.« Jeder kenne an der »Landstrasse gefallenes Vieh« und die »Schindgrube«.126 Damit der Geruch nicht überdeckt würde, sollte vermieden werden, dass die Särge angestrichen würden. Zeugen sollten die einsetzende Verwesung bestätigen. Zuletzt schlug Hoffmann als praktische Maßnahme vor, dass dem Geistlichen, um ihn rechtlich vor dem Vorwurf der Fehlbestattungen zu schützen, ein Zettel ausgehändigt werden könnte, worin zwei oder mehr Zeugen bestätigt hatten, dass der zu Beerdigende tot sei. Da die Toten von Nachbarn und anderen Menschen umgeben seien, dürfte die Ausstellung des Zeugnisses kein Problem darstellen. Die Bescheinigung könne aus »einer Zeile bestehen, z.B. daß der gestorbene N.N. den Todtengeruch von sich gebe, bezeugen wir hierdurch gewissenhaft. N.N.«. Der Bericht des Vizedirektors des Medizinalkollegiums Friedrich Christian von Forckenbeck (1742-1820), gleichzeitig Leibarzt des Kurfürsten, ging hingegen davon aus, dass die im Fürstbistum üblichen Bestattungszeiten von zwei Tagen als Schutzvorkehrung vor dem Lebendigbegrabenwerden ausreichten. Die Kasuistiken hielt er für unglaubwürdig und übertrieben. Es gebe
126 Ebd. 203
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»kein bewiesenes oder bewährtes Beyspiel (einige wenige und unglaubliche Mährchen ausgenommen, z.b. das von dem orientalischen Kaiser Zenoisauricus, und von dem Philosophen Dunkotus) daß eine dem Todte ähnliche Ohnmacht zweymal 24 Stunden lang angehalten habe« und außerdem scheine »es auch aus medizinischen Gründen nicht einmal möglich, daß ein solcher Zustand in demselbigen Grade eine so geraume Zeit lang anhalten könne.«127
Es genüge, ein Gesetz anzuordnen, keine Leiche vor Ablauf von 48 Stunden zu beerdigen. Falls der Körper schon vor Ablauf dieser Frist Zeichen der Verwesung aufweise, könne schon eher zur Beerdigung geschritten werden. Diese Situation könne vor allem in den warmen Sommermonaten auftreten. Dass jemand absichtlich oder fahrlässig lebendig begraben werde, wüssten Nachbarn und Angehörige schon zu verhindern. Deshalb halte er den Vorschlag des Direktors, Bescheinigungen über Todesfälle auszustellen, für »unnötig und überflüssig«, vor allem in Hinblick darauf, dass »es auf dem platten Land viele Leute gibt, die weder lesen noch schreiben können«. Karl Joseph Wirtensohn (-1788), Medizinalrat, kurfürstlicher Leibchirurg und Regimentschirurgus, stimmte mit den Ausführungen Forckenbecks überein und hielt die schon bestehenden Beerdigungspraktiken für ausreichend, das Lebendigbegrabenwerden zu verhüten. Er meinte, die Geistlichen besäßen »so viele Kenntnisse«, dass sie »gewiss bestimmen können, ob jemand an einem Entzündungsfieber, epidemischer Krankheit, oder aber an Ohnmachten, Verblutungen und Zuckungen bettlägerig gewesen«. Wenn der Tod durch eine dieser Krankheiten erfolgt sei, brauchte der Pfarrer die Beerdigung nur ein oder zwei Tage später ansetzen. Falls der Seelsorger ausnahmsweise über die Krankheit nicht unterrichtet sei, könnte der Küster hinzugezogen und ins Haus des Sterbefalls geschickt werden. Er könnte den Eintritt des Todes, den er, falls die Verwesung noch nicht eingesetzt hätte, aus der »Farbe, der Unbeweglichkeit der Gelenke und aus der Beschaffenheit der Augen, die bei dem Toten eingefallen und mit einem schleimigen Häutchen überzogen seien, bestimmen«.128 Die Berichte über die Bestattungen innerhalb von 24 Stunden wurden von den Dreien als Einzelfälle betrachtet, nicht aber als allgemeiner Missbrauch der Begräbnisgewohnheiten: »Nur ein Bericht« habe »die frühzeitige Bestattung vermeldet«. Aufgrund dieser Einschätzung entwarf ein viertes Mitglied des Medizinalkollegiums eine Begräbnisordnung, in der die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens deshalb nur marginal thematisiert wurde. Dieser Entwurf kam den münsterschen Landständen und dem Kurfürsten 127 Ebd., S. 80. 128 Ebd., S. 87. 204
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jedoch nie zu. Unter §6 wurde festgehalten, dass bei zweifelhaften Todesfällen und unklaren Todesursachen »der Pfarrherr […] keinem Begräbniß beywohnen [sollte], als denen, wovon ihm der Medikus oder Chirurgus ein Zeugniß der Krankheit und darauf erfolgten Todes abgegeben«.129 Der §10 hielt fest, dass »[d]iejenigen, so am Schlagflusse, Verwundung, Verbluten verstorben sind, könnten am zweyten oder dritten Tage, die aber an langwierigen, oder auch Entzündungs- oder faulen Krankheiten verschieden, müßten am zweyten, oder gleich nach 24 Stunden begraben werden«.130
Diese Verordnung hielt der Medizinalrat, Universitätsprofessor und fünftes Mitglied im Medizinalkollegium, Philipp Adolph Fries (17411790), für untragbar. Er betrachtete diese Maßnahmen gegen das Lebendigbegrabenwerden als zu wenig durchgreifend. Er kritisierte alle drei Gutachten und den Entwurf der Begräbnisordnung. Fries warf ihnen vor, die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens zu unterschätzen. Gegen Hoffmann argumentierte er, dass nicht nur ein Gesetz erlassen werden müsse, das bei Zuständen des Scheintodes schützte, sondern es müsse ein allgemeines Gesetz zur Verlängerung der Beerdigungsfristen erlassen werden. Fries fand, es müsse ein Gesetz gegen die frühzeitigen Beerdigungen erlassen werden, auch wenn er zugestand, dass »diese Verbesserung [der Vorschlag Hoffmanns ist gemeint] schwer und wenigstens noch nicht gefunden ist. Ein Vorschlag, der allgemein ist, und die wenigsten Ausnahmen leidet, wird doch immer den Vorzug behalten«.131 Unter Bezugnahme auf Bruhier und die Lebenskraftlehre hielt er Forckenbeck vor, dass dieser behauptet habe, es könne keine Ohnmacht länger als 48 Stunden anhalten. Wirtensohn kritisierte er für seinen Vorschlag, die Geistlichen und andere lokale Funktionsträger einbinden zu wollen. »wo er die Geistlichkeit in Polizeysachen mischet, und denselben nicht allein Krankheiten-Kenntnisse, die oft geschickten Ärzten schwer sind, zueignen will, sondern auch sogar dem Küster die Beurteilung des Todes aus lauter ungewissen Kennzeichen überlässt«.132 Fries forderte die Professionalisierungsansprüche, basierend auf einem Wissensmonopol, am stärksten ein. Die unterschiedliche Reaktion der vier Ärzte lässt sich schwer einordnen. Alle verfügten über die gleiche Ausbildung. Forckenbeck und Fries waren in Harderwijk in den Niederlanden promoviert worden und 129 130 131 132
Ebd., S. 89. Ebd., S. 90. Ebd., S. 107. Ebd., S. 112. 205
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hatten unter Johann van Gorter, einem Zeitgenossen Herman Boerhaaves, ihre klinische Ausbildung absolviert. Auch Christoph Ludwig Hoffmann hatte einen Teil seiner Studienzeit dort verbracht. Solange das Fürstbistum Münster über keine eigene Universität verfügte, waren in Harderwijk viele münstersche Ärzte ausgebildet worden.133 Was diese Diskussion jedoch zeigt, ist, dass aus einem vergleichbaren Kenntnisstand nicht zwingend einheitliche oder übereinstimmende Konsequenzen gezogen werden mussten. Ähnlich wie der Begräbnisstreit in den jüdischen Gemeinden jedoch lief die Auseinandersetzung darauf hinaus, die bisher üblichen Bestattungspraktiken für die Armen und Kinder abzuändern. Die »frühzeitigen Beerdigungen«, die Forckenbeck als Einzelfälle bezeichnet und Fries unter Bezugnahme auf die medizinische Fachliteratur zu einem größeren Problem erklärt hatte, wurden pragmatisch kritisiert: Solange die Toten erst am dritten Tag beigesetzt wurden – was ja auch Praxis war – konnten die Gewohnheiten auch beibehalten werden. Ein halbes Jahr später, im März 1785, erging eine erneute Verfügung an das Collegium Medicum. Der Kurfürst hatte die verschiedenen Stellungnahmen erhalten und ermahnte die Ärzte, nochmals zu beraten. Dabei sollte jedoch »füglich und mit dem wenigsten Beschwer« ein gemeinsames Gutachten entstehen. Dieser gutachterliche Bericht ist jedoch in den Akten nicht erhalten.134
Ein Gesetz wird erlassen Der Antrag der Landstände und die daraus resultierenden Gutachten des münsterschen Medizinalkollegiums waren folgenlos geblieben. Da es aus dem Fürstbistum Münster kein Gesetz gab, welches die Beerdigungsfristen medizinpolizeilich regelte, schlugen die Kommissare vor, Circular-Rescripte an alle Pastoren zu übermitteln, »worin diesen in der Regel vor Ablauf von 48 Stunden untersagt« wird, Beerdigungen durchzuführen.135 Die Bestattung sollte erst am dritten Tag stattfinden. In zweifelhaften Fällen sollten die nächsten Amtsärzte konsultiert werden. Auf diesen Bericht reagierte Herzog Peter Friedrich Ludwig verhalten: »So sehr ich der Meinung der Commission bin, und selbst unsere Verordnungen wenig zweckmäßig finde, so bedenklich bin ich 133 Vgl. Karl E. Rothschuh: Kleine Geschichte der medizinischen Fakultät der Universität Münster/Westfalen, Münster: Aschendorff 1957, S. 64. 134 Vgl. Druffel: »Das Münsterische Medizinalwesen«, S. 114. 135 StOl, Best. 31-6-16, Nr. 21 I, Bl. 563. 206
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da, wo ich die Grenzen meiner Befugnisse und die Rechte der Kirche nicht kenne.«136 Der Herzog wies also die Kommissare an, in Rücksprache mit der oldenburgischen Vertretung der Kommission in Münster und den dortigen Behörden festzustellen, ob es legitim sei, »den Amtsdechanten an die Hand zu geben, ihren untergebenen Pfarrern anzutragen, die Zeit der Beerdigung auf den dritten Tag« festsetzen zu lassen. Die Behörden in Münster teilten am 30. März 1804 mit, dass die Festlegung der Beerdigungstermine der medizinischen Landespolizei obliege und nicht Angelegenheit einer geistlichen Behörde sei. Die Kammer, in der Rechtsprechung unter anderem zuständig für Polizeiangelegenheiten, wurde daraufhin aufgefordert, ein Gutachten zu erstellen, auf dessen Grundlage ein Gesetz formuliert werden konnte, das die Beerdigungsfristen »ohne Rücksicht der Religion« festlegte. Der Herzog bekräftigte, »ob nicht die Cammer […] einzubringen hätte, was in dieser Sache überhaupt zu wünschen wehr« und damit eben auch das Konsistorium außen vor zu lassen, weil diese protestantische Behörde »einen ungleich stärkeren Eindruck in den Ämtern mache wo diese Sache verschieden angesehen wird«.137 Das Verfahren sollte zunächst 1 ½ Jahre ruhen. Erst nachdem der Landdechant Haskamp bei der Commission für die geistlichen Angelegenheiten den Antrag, dass er eine »obrigkeitliche von den Kanzeln bekannt zu machende Vorschrift, worin bestimmt ist, wie lange mit der Beerdigung Abstand genommen werden solle«, benötige, kam die Angelegenheit wieder in Bewegung. Die übliche Gewohnheit, die Verstorbenen am anderen Tag zu beerdigen, würde ansonsten nicht aufgegeben werden, insbesondere dann nicht, wenn die Hinterbliebenen dies so wünschten. 1808 erinnerte der Herzog die Kammer abermals daran, das Gutachten fertigzustellen, weil in Cloppenburg ein Pastor wiederholt schon am zweiten Tage nach dem Tod beerdigt habe. Der Kreisphysikus meldete den Fall der Anna Maria Beckmann, deren Tod aktenkundig wurde, weil sie an Leibschmerzen plötzlich verstorben war und eine gerichtliche Untersuchung angeordnet wurde. Im Bericht des Kreisphysikus’ wurde vermerkt, dass sie am 19. Februar abends um zehn Uhr verstorben war und bereits am 22. Februar 1808 morgens um neun Uhr beigesetzt wurde.138 Dieser Fall bewies, dass die »frühzeitigen Beerdigungen« noch immer stattfanden und veranlasste Kommission und Konsistorium, den Herzog auf baldige Klärung zu drängen.
136 StOl, Best. 31-6-16, Nr. 21 I. 137 StOl, Best. 31-6-34, Nr. 30, Bl. 7 RS. 138 Vgl. StOl, Best. 31-6-34, Nr. 20, Bl. 14. 207
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Die Kommission für die geistlichen Angelegenheiten bat den Herzog auch ohne Rückmeldung der Kammer, eine Resolution zu formulieren. Dies geschah: Die Aufgabe an die Kammer, »betreffend die Festsetzung der Beerdigung der Todten in den Ämtern Vechta und Cloppenburg auf den 3ten Tag nach dem Absterben«, 1810 lautete: »Keine Leiche darf vor Ablauf von drei Tagen beerdigt werden«.139
Medizinische Ansprüche und kulturelle Praktiken. Zusammenfassung In diesem Kapitel sind Kontexte und Verläufe des Zusammenpralls von alter und neuer Anthropologie beschrieben worden. Ausgehend von der Fallstudie aus dem Herzogtum Oldenburg konnte gezeigt werden, dass die ein mögliches Lebendigbegrabenwerden fest in der Praxis verankert war: Sogenannte »frühzeitige« Beerdigungen kamen vor, weil die Vorstellung des Todes als einer Trennung von Leib und Seele von ihrem anthropologischen Modell her nicht erforderte, dass Bestattungen aufgeschoben wurden. Als die Verlängerung der Beerdigungsfristen eingeführt wurde, zeigte sich, dass die Beharrungskräfte der alten Seelenvorstellungen zwar stark waren, die neue Anthropologie jedoch, ausgehend von den Maßnahmen staatlicher Behörden und ihrer Vertreter, alte Selbstverständlichkeiten infrage stellte. Reaktion und Umgang mit der Einführung der dreitätigen Bestattungsfrist variierten danach, wie vertraut die historischen Akteure mit den medizinisch-anthropologischen Veränderungen waren. Eine Differenzierung trifft auch die Reaktion der Konfessionen: Zustimmung zu der Verlängerung der Bestattungsfristen war 139 «Zu frühe Beerdigungen sind nicht zu dulden, Cammerpubl. vom 14 Mai 1810. B. III. S. 61 Nro. 55. Instr. f. d. Kvogt § 25«, S. 19. Als besonderer Zusatz taucht in der Gesetzessammlung auf: »Die Beerdigung der Leichen vor dem dritten Tage nach erfolgtem Absterben wird in den Ämtern Vechta und Cloppenburg, bey 5 Rth. Gold Brüche, verboten. In Nothfällen wird jedoch, auf den Attest eines beeidigten Arztes oder Wundarztes über die Nothwendigkeit und Unbedenklichkeit einer frühen Beerdigung, die Erlaubniß dazu von dem competenten Amte ertheilt werden.« Vgl. Repertorium der Oldenburgischen Gesetzgebung oder allgemeines Real-Register über alle Sammlungen und Verzeichnisse der Landesherrlichen Verordnungen und der Bekanntmachungen der Landesbehörden von allgemeinem und bleibendem Interesse, welche für das Herzogthum Oldenburg und die Erbherrschaft Jever bis zum ersten Januar 1836 erlassen und fortdauernd in Kraft sind. Bearbeitet und herausgegeben von Christian Friedrich Strackerjan, Bd. 1, Oldenburg: Stalling 1837. 208
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eine Frage der Ausbildung und der gesellschaftlichen Schicht. Das Selbstverständnis als Naturforscher stand hinter der Religion zurück oder wurde mit dem neuen Wissen kompatibel gemacht. Religion und Wissenschaft waren keine unvereinbaren Gegensätze. Die Quellen wiesen auf eine größere Offenheit gegenüber naturforschenden Konzepten bei Protestanten und jüdischen Aufklärern hin. Dabei liegt die Annahme nahe, dass die Protestanten eine Furcht vor dem Lebendigbegrabenwerden ernster nehmen konnten, weil sie dem Geisterglauben als einem katholischen Aberglauben vor Wiedergängern und Klopfgeistern reservierter gegenüberstanden. Zwar muss in Rechnung gestellt werden, dass das Material für den katholischen Raum nur auf den ländlichen Raum beschränkt ist, jedoch konnten katholische Theologen, die sich über Scheintod äußern, auch nicht eruiert werden. Die Verhandlungen zwischen dem Konsistorium in Oldenburg und dem Herzog liefen darauf hinaus, dass die Bestattungen innerhalb von 24 Stunden abgeschafft wurden. Die zuständigen Behörden konnten sich darauf verständigen, dass, auch wenn es sich um Einzelfälle und nicht die Regel handelte, Beerdigungen innerhalb dieses kurzen Zeitraums unangemessen seien. Weil die kirchlichen Bestattungsverordnungen sich zu dieser Frage nur unzureichend geäußert hatten, wurde eine Neuregelung gefunden, die nun zum Aufgabengebiet der medizinischen Polizei zählte. Die Mikrostudie weist an dieser Stelle über den konkreten oldenburgischen Fall hinaus: In vielen Territorien wurde der Zeitraum zwischen Tod und Bestattung für alle Konfessionen auf drei Tage festgelegt. Die ständische Bestattungsordnung, die Hierarchie wurde auch über den Tod hinaus beibehalten – die Verhältnisse im Leben spiegelten sich auch im Tod. Die Auflösung der alten Seelenvorstellungen jedoch und der Umgang mit dem Körper als einem, der Verwesung anheimfallenden Organismus, den es wegen seiner Ausdünstungen zu isolieren galt, gingen in die neuen Friedhofsordnungen ebenso ein: »Sollte aber ein Unterschied der Stände beliebt werden, so könnten die Vornehmeren an einer, von den Pfarrherren oder Kirchenprovisoren, zu bestimmenden Seite, und die geringeren an der andern Seite, oder wenn die Vornehmeren in der Mitte ihren Platz haben sollten, die geringeren an beyden Seiten, jedennoch in einer Reihe begraben, und damit so fortgefahren werden, bis die Kirchhöfe in 20 bis 50 Jahren mit Leichnamen gefüllet worden.«140
140 »Aktenstücke aus den Verhandlungen des kuhrfürstlichen Collegii medici«, S. 89. 209
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Dass es eine Seele sei, die auch räumlich näher an Gott sein wollte, kam in dieser die Hierarchie beibehaltenden Bestattungsordnung nicht mehr vor.
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VOM ZENTRUM ZURÜCK AN DIE PERIPHERIE. D E R S C H E I N T O D I M W E I T E R E N 19. J A H R H U N D E R T
Das letzte Kapitel widmet sich dem Scheintod im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts. Ausblickend wird damit die Endgültigkeit des Umbruchs zur Moderne belegt, der die gesellschaftliche Mentalität erfasste. Die Einschnitte durch die Aufklärung – die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung und der Einzug der Geschichte – erwiesen sich als unumkehrbar und die Gesellschaft musste die Aufgabe bewältigen, auch langfristig mit dem neuen Verständnis von Leben und Tod zurechtzukommen. Während die Sicherung des irdischen Lebens ein solch langfristig gültiges Programm darstellte, verschwand die Aufregung um das Lebendigbegrabenwerden im engeren Sinne jedoch ziemlich rasch. Die Veröffentlichungsflut ebbte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab und die Gefahr, lebendig begraben zu werden, verlor damit an öffentlicher Präsenz.1 Das Verschwinden des Scheintodes aus der Öffentlichkeit schon bald nach der Jahrhundertwende wird in dieser Arbeit als Beleg dafür gewertet, dass der in der Aufklärung eingeleitete Mentalitätsumbruch in den gesellschaftlichen Eliten angekommen war. Der Kapitelaufbau entfaltet diese These mit Blick auf drei Aspekte. Anhand der Gründung, dem Fall und dem Wiederaufstieg der Leichenhäuser wird erstens untersucht, mit welchen Ungleichzeitigkeiten die Durchsetzung des prozessualen Verständnisses des Todes verbunden war. Der Blick auf die medizinische Entwicklung zeigt zweitens, dass die Ärzte und Wissenschaftler 1
Vgl. auch die Zählung bei Kessel: »Die Angst vor dem Scheintod im 18. Jahrhundert«, S. 130 und die Statistik in Bondeson: Buried Alive, S. 279. 211
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des 19. Jahrhunderts einerseits damit beschäftigt waren, die neue Anthropologie zu befestigen und das wissenschaftliche Wissen über den lebenden Körper und die Vorgänge beim Sterbeprozess zu vermehren. Dieses Ansinnen implizierte die unbedingte, auch forschende Hinwendung zum Leben. Dabei wurden aber die Techniken der Todesfeststellung nicht effizienter und das Wissen über den Körper dämmte die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens nicht real ein. Die zeitgenössische Einschätzung, dass dem so sei, ist vielmehr als Indikator für ein gewachsenes Vertrauen zu lesen, das die bürgerliche Gesellschaft in die medizinischen Instrumente und Techniken, mithin in die wissenschaftliche Medizin selbst, setzte. Die Instrumente halfen dabei, sich des neuen Todesverständnisses zu vergewissern. Die Wahrnehmung des Scheintodes veränderte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Der Scheintod ging einerseits in den medizinischen Spezialdisziplinen auf: Er zählte zur Ersten Hilfe, wurde zu einem Betätigungsfeld der forensischen Pathologen und blieb auf der Agenda der Geburtshilfe. In diesen Feldern wurde damit das neue gesellschaftliche Programm der Verdiesseitigung weiter befestigt: Der Scheintod reduzierte sich dadurch andererseits auf ein technisches Restrisiko. Mit dieser Marginalisierung ging einher, dass der Scheintod neuen gesellschaftlichen Problemlagen für die Ärzte wich. Sozialmedizin und Hygienemaßnahmen, Bakteriologie und Desinfektion verweisen auf neue Krankheitskonzepte und die Ausweitung des ärztlichen Blicks auf die Gesellschaft als Ganzes. Die Bedeutung des Mentalitätsumbruchs der Aufklärung für die Geschichte des Scheintodes macht schließlich drittens die Umdeutung des Scheintodes als Volksaberglauben seit der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich. Der mit Instrumenten bestückte medizinische Experte war erst im Entstehen begriffen, als der Scheintod bereits dem als unaufgeklärt konstruierten Volk zugeschrieben wurde. Die Verschiebung in den Bereich des Vorgeschichtlichen und Vorbewussten vollzog sich entlang von Begriffen der Zeitlichkeit und zeigt, dass der Einbruch der Historizität die Geschichte des Scheintodes im 19. Jahrhundert bestimmt hat.
Ein Scheintodfall aus dem Jahr 1833. Scheintote vor Ort Das Kapitel beginnt mit der Gründung eines Leichenhauses in der westfälischen Stadt Paderborn im Jahr 1833. Seine übergreifende Bedeutung erhält das Paderborner Leichenhaus dadurch, dass es in einer Kontinuität steht, die bis zur Errichtung des ersten Leichenhauses in Deutschland 1791 zurückgeht. Der Bau von Leichenhäusern am Ende des 18. Jahr212
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hunderts wurde neben der Verlängerung der Beerdigungsfristen und gesetzlicher Maßnahmen wie der Leichenschau und der Einführung sogenannter »Totenzettel« zum Schutz vor dem Lebendigbegrabenwerden eingeführt. Das erste dieser Gebäude wurde 1791 in Weimar unter der Federführung des Arztes Christoph Wilhelm Hufeland errichtet. Verschiedene andere Städte in den deutschen Landen folgten. In Berlin beispielsweise wurde 1794 auf dem köllnischen Vorstadtfriedhof ein Leichenhaus gebaut,2 Mainz folgte dem Beispiel 1803.3 In Breslau entstand 1810 eine solche Stätte, in Frankfurt im Jahr 1828.4 Die Elemente der Paderborner Geschichte – ein Fall von Scheintod, ein Arzt, der die Gründung eines Leichenhauses ins Leben ruft, die Kirche, die sich dagegen sperrt, die Bevölkerung, die dieses Angebot nicht annimmt – waren entsprechend auch für andere Städte in diesem Zeitraum anzutreffen. Am Beispiel des Leichenhauses in Paderborn, seinen Protagonisten und Nachfolgern lassen sich exemplarisch die Schwierigkeiten und Widrigkeiten, aber auch die Unumkehrbarkeit der Umstellung vom Jenseits ins Diesseits, darstellen. Wie in dem nun folgenden Abschnitt zu sehen sein wird, wurden Leichenhäuser zunächst von der Bevölkerung nicht angenommen. Sie fanden als Einrichtungen, in denen Tote angemessen aufgebahrt werden konnten, keine Anerkennung. Vielerorts verfielen die Leichenhäuser, kaum dass sie um die Jahrhundertwende zum Schutz gegen das Lebendigbegrabenwerden gebaut worden waren. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten Leichenhäuser in den größeren Städten wieder vermehrt auf. Wachsende Bevölkerungszahlen und beengte Wohnverhältnisse in der Zeit der Industrialisierung machten sie dann zu einer hygienischen Notwendigkeit. Der Schutz vor dem Scheintod trat als Argument hinter das der hygienischen Bedürfnisse zurück. Die Einführung, der Fall und der Wiederaufstieg der Leichenhäuser machen den holprigen, jedenfalls nicht linearen Weg deutlich, auf dem sich das prozessuale Verständnis des Todes Bahn brach. Trotz der anfänglich mangelnden Akzeptanz und des Verfalls der Stätten in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts stehen Einführung, Fall und Wiederaufstieg der Leichenhäuser dennoch in einer Kontinuität: Denn dem Schutz vor dem Lebendigbegrabenwerden und der Sorge um die Hygiene lag die gleiche Anthropologie zugrunde – die Auflösung der alten Seelenvorstellungen. Hinter diesen Wissenstand und ihren Implikationen für das moderne Todesverständnis konnte nicht wieder zurückgegangen werden. Gleichwohl wird der argumentative Wandel vom Schutz gegen 2 3 4
Vgl. Hermann Wollheim: Versuch einer medicinischen Topographie und Statistik von Berlin, Berlin: Hirschwald 1844, S. 279. Vgl. Derwein: Geschichte des christlichen Friedhofs, S. 163. Vgl. ebd. 213
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das Lebendigbegrabenwerden zur hygienischen Notwendigkeit darauf verweisen, dass die Abnahme der Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden und die medizinischen Fortschritte sich nicht als Kausalverhältnis beschreiben lassen.
Der Fall Caspar Kreite Im Februar des Jahres 1833 verstarb der Schneider Caspar Kreite aus Werne in Lippe im Landeskrankenhaus Paderborn. Sein Tod erregte öffentliches Aufsehen, »weil sich nicht früher als gegen den 20sten Tag solche Merkmale einstellten, die man als sichere Todeszeichen zu betrachten pflegt«, und die Beerdigung erst »drei Wochen nach dem scheinbaren Hinscheiden« erfolgte.5 Der Paderborner Kreis-Physikus und Krankenhausdirektor Dokor Joseph Schmidt nahm dieses Ereignis zum Anlass, zur Gründung eines Leichenhauses aufzurufen. Denn wäre Caspar Kreite 72 Stunden nach seinem letzten Atemzug bestattet worden, wie es die Medizinalgesetzgebung in Paderborn vorschrieb, wäre er, befürchtete Schmidt, lebendig begraben worden sein. Um diese »Gefahr, die unter allen Gefahren, die das Menschengeschlecht auf Erden treffen können, die letzte, aber auch die schrecklichste ist«, abzuwenden, gab es für Schmidt nur ein einzig wirksames Mittel: »Es ist ein 5
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Joseph Schmidt: »Ueber Leichenhäuser; nebst einem Falle von Scheintod, der erst nach zwanzig Tagen in Tod überging«, in: Casper’s Wochenschrift für die gesammte Heilkunde 1 (1833), S. 385-394, S. 385; Paul Fraatz: Der Paderborner Kreisarzt Joseph Hermann Schmidt. Eine aktenmäßige Schilderung seines Lebens und seiner Verdienste um das Medizinalwesen, Berlin: Ebering 1939 (= Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Bd. 29), S. 7-142. Schmidt stammte aus einer bürgerlichen Paderborner Arztfamilie, sein Vater war bereits Kreisarzt in Paderborn gewesen. Er studierte Medizin in der Blütezeit der romantischen Naturphilosophie und war von führenden Vertretern seines Fachs ausgebildet worden. 1821 nahm er das Studium in Göttingen bei J.F. Blumenbach auf und blieb dort bis 1822/23. 1823 wechselte er nach Heidelberg und nahm dort sein klinisches Studium auf, 1824/25 studierte er in Bonn bei Nasse und Walther. 1825 ging er nach Berlin und wurde dort auch promoviert. 1826 erhielt Schmidt seine Approbation als praktischer Arzt und ließ sich in Paderborn nieder. 1830 erschien seine Schrift über die Fieberepidemie in der Senne, 1827 wurde er zum Kommissar der Seuchenbekämpfung ernannt. 1834 wurde er als Erster Lehrer an der Hebammenanstalt zu Paderborn angestellt und zum Direktor der Provinzialpflegeanstalt für körperlich unheilbar Kranke und Fallsüchtige ernannt. 1838 wurde Schmidt Kreisarzt, 1843 Mitarbeiter im Medizinaldepartement des Ministeriums in Berlin, 1844 Geheimer Medizinalrat und Mitarbeiter Rudolf Virchows für die Medizinalreform 1848.
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Leichenhaus«.6 In seinem Plädoyer argumentierte Schmidt mit der Unsicherheit, den Todeszeitpunkt genau feststellen zu können, denn es »ist und bleibt eine physiologisch-feststehende Wahrheit, dass gewisse Zeichen des Todes in den ersten Tagen nach dem letzten Athemzuge in der Regel gar nicht existiren, dass jedes einzelne Zeichen für sich betrachtet nichts beweist, und die Summe aller Zeichen nur einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit hervorbringt«.7
Um diese Unsicherheit zu beseitigen, konnte, so Schmidts Einschätzung, nur abgewartet werden, bis das untrügliche Merkmal des Todes einsetzte: »Nur die völlig ausgebildete Fäulniss kann beruhigen«.8 Und wo konnte die Verwesung des Körpers besser abgewartet werden als in einem Leichenhaus? Caspar Kreite starb in einem Krankenhaus, was Aufschluss über seinen sozialen Status gibt. Das Paderborner Landeshospital gehörte zu den karitativen Einrichtungen, in denen Arme und sozial nicht eingebundene Menschen versorgt wurden. Sie waren meist von den Kirchen gegründet, konfessionell ausgerichtet und blickten auf eine Geschichte zurück, die bis ins Mittelalter reichte. So wurde das Hospital in Paderborn 1797 auf Anregung des dortigen Hofrates ins Leben gerufen, aber die katholische Ordensgemeinschaft der Vinzentinerinnen leitete es.9 Außerdem stand dem Krankenhaus zwar ein ärztlicher Leiter vor, Doktor Schmidt, die maßgebliche Entscheidungsbefugnis lag jedoch in den Händen des Trägers des Krankenhauses, in diesem Fall der katholischen Kirche. In einer solchen Einrichtung zu sterben, bedeutete, nicht auf die tragende Sozialformation, die Familie, zurückgreifen zu können, denn man starb in der Regel zu Hause im Kreis der Familie. Caspar Kreite war ein alleinstehender Mann. Christoph Wilhelm Hufeland, selbst Befürworter der Leichenhäuser, leistete Schmidt Schützenhilfe in seinem Ansinnen. In einem Appell, den er ausdrücklich sowohl an die Bürger Berlins als auch an die Einwohner Westfalens richtete, argumentierte er, dass es gar als der »letzte Liebesdienst« gegenüber den Verstorbenen bezeichnet werden könne, sich »nicht eher von ihnen [zu] trennen, als bis wir ganz gewiß von
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Schmidt: »Ueber Leichenhäuser«, S. 389. Ebd., S. 390. Ebd., S. 391. Vgl. W. Liese: »Westfalens alte und neue Spitäler«, in: Zeitschrift für westfälische Geschichte 77 (1919), S. 128-189, S. 171. 215
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ihrem Tode überzeugt sind.«10 Deshalb sollten Leichenhäuser errichtet werden. Schmidt hielt es ebenfalls für einen »letzten Liebesdienst« zu vermeiden, dass der Scheintote »seine Beerdigung beschließen hört, sich einsargen lässt, aber nicht um Erbarmen rufen und die Nothwendigkeit der Leichenhäuser predigen kann; er ist für todt erklärt«.11 Es sei, so Schmidt, »nicht bloss menschlich gegen die (scheinbaren Todten), sondern auch gegen die Lebendigen, wenn man Leichenhäuser baut«.12 Von diesem Liebesdienst profitierten vor allem die Familien mit wenig Wohnraum. »Manche unglückliche Familie«, führte Schmidt aus, »welche drei volle Tage neben der Leiche ihres theuren Mitglieds wegen Ermangelung eines besonderen Zimmers wohnen, essen und schlafen müssen, würden gewiß wünschen, dass ein öffentliches Asyl existirte, wo sie den Gegenstand ihres Schmerzes unter guter Aufsicht wüssten, ohne ihn immer vor Augen zu haben«.13
Die Trennung der Lebenden von den Toten wertete Schmidt entsprechend positiv. Es trage »viel zur Beruhigung einer Familie bey, wenn sie des traurigen Anblicks, die Leiche bey sich zu sehen, und der Sorge, dieselbe selbst bis zur Beerdigung zu beschicken, entlediget wird«.14 Die Funktion der Todes- und Bestattungsrituale, die der Abschiednahme und Verarbeitung dienten, benutzte Schmidt deshalb als Argument gegen zu große Nähe von Verstorbenen und Lebenden. Er deutete die Trennung der Lebenden von den Toten so um, dass die Angehörigen von der Last befreit würden, sich selbst um den Leichnam kümmern zu müssen: »[Die Verwesung] in Privathäusern abzuwarten, verbieten Kummer und Schmerz, Geruchsorgan, bauliche Einrichtung der meisten Wohnungen und Medicinal-Polizei.«15 Der Fall Caspar Kreite stand ganz im Zeichen der Medizin in der Romantik. Er zeigt die Kontinuität medizinischen Handelns, welches auf Körper- und Naturauffassungen der Romantik basierte und die Handlungsanweisungen aus den Aufrufen gegen den Scheintod seit der Spätaufklärung bezog. Die neuere Medizin- und Wissenschaftsgeschichte hat sich bemüht, den Konzepten und Theorien der romantischen Medizin gerecht zu werden, indem sie diese nicht aus der Perspektive der moder10
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Christoph Wilhelm Hufeland: »Der letzte Liebesdienst«, in: Amts-Blatt der königlichen Regierung zu Arnsberg Nr. 26, 29.06.1833, S. 165-167, S. 165. Schmidt: »Ueber Leichenhäuser«, S. 394. Ebd, S. 392. Ebd. »Von leicht zu errichtenden Leichenkammern«, S. 44. Schmidt: »Ueber Leichenhäuser«, S. 391.
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nen naturwissenschaftlichen Medizin beurteilt hat. Denn vor dem Hintergrund der modernen Medizin, die auf den empirischen Wissenschaften und den naturwissenschaftlichen Methoden der Chemie, Physik und Biologie fußt, schnitt die romantische Medizin, die im Gegensatz dazu auf den philosophischen Denksystemen des Idealismus basierte, schlecht ab. Spekulativ sei sie gewesen, einen Rückschritt gegenüber dem Mechanismus und Rationalismus der Aufklärung habe sie dargestellt und – im Vergleich mit anderen Ländern – den Weg zum Durchbruch der naturwissenschaftlich basierten Medizin nur unnötig verzögert.16 Während jedoch die philosophischen Denkgebäude der Romantik und ihre großen Systementwürfe für die naturwissenschaftliche Medizin des späteren 19. Jahrhunderts tatsächlich wenig anschlussfähig waren, hat die neuere Wissenschaftsgeschichte herausgestellt, dass die Romantik den Wissenschaftler als Genius geschaffen hat. Diese ›Eigentümlichkeit‹ der romantischen Wissenschaftskultur (Jardine) führte dazu, ästhetische und introspektive Verfahren mit wissenschaftlichen Methoden zu kombinieren, indem Selbstexperimente sowie ausgeklügelte und komplexe Versuchsanordnungen entwickelt wurden.17 Dadurch trug die Wissenschaft der Romantik in hohem Maße dazu bei, die moderne Wissenschaft zu etablieren: Die Disziplinenbildung und die Ausdifferenzierung des Wissens als Bestreben mehr über das Individuum zu erfahren, erhielten in dieser Zeit einen Schub. Die Zentrierung der Romantik um das Individuum und die Erforschung des Selbst haben nicht nur wissenschaftliche Interessen bestimmt und naturphilosophische Konzepte dahingehend ausgerichtet, sie sind auch in der Figur des modernen Wissenschaftlers verwirklicht worden, der als Ideal auf zukünftige Generationen ausstrahlte. Weiterhin wurden mit Institutionen wie der von Lorenz Oken 1822 gegründete Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte und der 1810 gegründeten Berliner Universität Strukturen geschaffen, die Vorbild und Wegbereiter der Wissenschaft im 19. Jahrhundert waren. Romantische Leitideale, wie die unbändige Kreativität des Individuums, seine Fähigkeit zu originärem Schaffen und zu spontanen, intuitiven Einfällen, fanden als Programm romantischer Selbsterforschung auch Eingang in das Curriculum der neugegründeten Universität. Das medizinische Wissen selbst ging von der Vorstellung aus, dass die Natur ein ideelles System sei. Friedrich Schelling einer der wichtigsten Ideengeber der romantischen Medizin, konstruierte die Vorstellung 16
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Vgl. zur Neuinterpretation der romantischen Wissenschaft: Andrew Cunningham/Nicholas Jardine: »The Age of Reflexion«, in: diess. (Hg.): Romanticism and the Sciences, S. 1-8; Jardine/Secord/Spary (Hg.): Cultures of Natural History. Vgl. Jardine: »Naturphilosophie and the Kingdoms of Nature«, S. 233. 217
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einer Welt, in der Geist und Natur korrelierende Ausdrucksformen eines übergeordneten absoluten Prinzips darstellten. Die Erforschung der Natur wurde mit der Erforschung des Geistes gleichgesetzt. Demnach gründete jeder Organismus auf einer Idee, weshalb biologische Prozesse mit den gleichen Prinzipien erklärt werden konnten wie Denkprozesse. Geist und Natur waren analog konstruiert. Die geistigen Ideen waren der Natur also inhärent, genauso wie die Natur eine Idee des Geistes war und Geist und Natur in Wechselbeziehung zueinanderstanden. Natur wurde in der romantischen Medizin entsprechend als dreistufiges oder dreidimensionales System verstanden, mit dem das Leben, aufsteigend von der Pflanze zum Menschen, qualifiziert wurde. Die erste Stufe war die vegetative Dimension, gekennzeichnet durch Wachstum, Ernährung und Reproduktion; die zweite Stufe wurde animalische Dimension genannt, ihr Charakteristikum war die Irritabilität, also die Reizfähigkeit der Organe. Die dritte Dimension schließlich hieß sensitiv. Sie umfasste alle Tätigkeiten der Sinne, das Bewusstsein und die Seele. Nur das menschliche Leben vereinigte alle drei Grundpotenzen – Reproduktionskraft, Irritabilität und Sensibilität – in sich.18 Auf diese Naturkonzeption bezog sich auch Doktor Schmidt – ganz im Gegensatz zu seinem Widersacher Pastor Schumacher – in der Theoretisierung des Todes: »In der Natur giebt es keine Sprünge, […] Denn auch der Tod hat seine drei Stadien, wie das Leben seine drei Stufen hat. Zuerst kommt der sensitive Tod, dann der animale (eigentlich sogenannte), zuletzt der vegetative (die Fäulnis). Nicht selten aber verdreht sich diese Reihenfolge, und ein späteres Stadium anticipirt dem früheren. So kommt häufig der vegetative dem animalen zuvor.«19
Das Todesverständnis hatte sich endgültig verzeitlicht. Leben und Tod wurden als kontinuierliche Prozesse beschrieben. So zeigt sich die Romantik als eine genuin moderne Geistesströmung, in der das prozessuale Verständnis des Todes im Gegensatz zum mittelalterlich-christlichen in aller Eindrücklichkeit zum Ausdruck kommt. Nochmals rekurrierend auf das dreidimensionale Stufenmodell der Natur hielt Schmidt das Schlussplädoyer für die Einführung von Leichenhäusern, indem er ein ästhetisches Argument anführte:
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Vgl. Wolfgang Eckart: Geschichte der Medizin, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 21994, S. 219-220; Jardine: »Naturphilosophie and the Kingdoms of Nature«, S. 232. Schmidt: »Ueber Leichenhäuser«, S. 393-394.
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»Die Idee von Leichenhäusern hat schon vom Standpunkt der reinen Naturnachahmung etwas Schönes und Erhabenes, in so fern sie den schroffen Gegensatz des Familienhauses und Grabes durch einen dritten freundlichen Vermittlungsort ausgleicht. Denn auch der Tod hat seine drei Stadien, wie das Leben seine drei Stufen hat.«20
Das Betreiben des Paderborner Kreis-Physikus Joseph Schmidt zeitigte Erfolg. Er fand Paderborner Bürger, die seinen Subskriptionsaufruf unterstützten und Gelder zum Bau der Stätte bereitstellten. 1839 nahm das Leichenhaus am Friedhof vor dem Westerntor, vor einem der fünf Stadttore Paderborns, seinen Betrieb auf. Im Jahr 1809, in der Zeit des Königreichs Westfalen unter Jérôme Bonaparte, waren zwei neue Friedhöfe außerhalb der Stadtmauern an zwei der Stadttore angelegt worden. Bis dahin hatten die Toten in Paderborn ihre letzte Ruhe in der Regel auf dem Domfriedhof im Zentrum der Stadt gefunden. Hingerichtete, Pestopfer und Juden wurden auf eigenen Friedhöfen am Stadtrand beerdigt. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und verstärkt ab 1775 hatte das Domkapitel die Verlegung des Domfriedhofs aus Platzgründen vorangetrieben. Die Überbelegung hatte auf dem kleinen Friedhof um den Dom dazu geführt, dass Feuchtigkeit das Mauerwerk des Doms angegriffen hatte und der Dom nur noch über Stufen erreicht werden konnte. Das Domkapitel konnte sich gegen den Widerstand des Rats, der Bürgerschaft, der Pfarrer und der Bruderschaften jedoch lange nicht durchsetzen.21 Erst die französische Regierung schloss den Domfriedhof und richtete die beiden Friedhöfe vor den Stadttoren ein. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die beiden 1809 angelegten Friedhöfe, der Heierstorfriedhof und der Westerntorfriedhof nicht mehr belegt. Auch sie wurden für die wachsende Bevölkerung Paderborns im 19. Jahrhundert zu klein. 1866 wurde ein neuer kommunaler Friedhof an der Straße nach Driburg eingeweiht.22 Als Caspar Kreite 1833 starb, hatte sich an den Maßgaben zum Umgang mit dem Scheintod und der Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens 20 21
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Ebd., S. 393. Vgl. Wilhelm Tack: »140 Jahre Streit um die Verlegung des Domfriedhofs«, in: ders.: Paderborn. Die alte Stadt. Eine Auswahl kunst- und kulturgeschichtlicher Veröffentlichungen, hg. v. Klemens Honselmann, Paderborn: Altertumsverein 1969, S. 110-115. Vgl. Karl Hüser (Hg.): Paderborn. Geschichte der Stadt in ihrer Region. Das 19. und 20. Jahrhundert. Traditionsbindung und Modernisierung, Paderborn: Schöningh 1999 (= Frank Göttmann/Karl Hüser/Jörg Jarnut (Hg.): Paderborn. Geschichte der Stadt in ihrer Region, Bd. 3), S, 40; Klaus Hohmann, Bauten des Historismus in Paderborn 1800-1920, Paderborn: Bonifatius 1990 (= Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte, Bd. 28), S. 215. 219
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im Vergleich zur Jahrhundertwende wenig geändert. Krankenhausdirektor Schmidt schloss sich den Befürchtungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts direkt an: »Daß es Scheintode gab und gibt, kann ebenso wenig geleugnet werden, als daß solche Scheintodte dem Grabe unvorsichtig überliefert und darin eingekerkert, ein jammervolles Ende fanden.« In einem Artikel im Rheinisch-Westphälischen Anzeiger, einem lokalen Intelligenzblatt, wurde Schmidt unterstützt und die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens in romantischer Sprache ausgemalt: »Lebendig begraben zu werden! […] Ist dies nicht das Schrecklichste aller Schicksale? […] in Todtenkleidern eingehüllt, in einen engen Sarg eingeschlossen, in dunkler Gruft versenkt, des Lichts und der Nähe der Menschen beraubt, mit einem völligen Bewußtsein deiner selbst, wo dir auch der geringste Strahl von Hoffnung, hieraus erlös’t zu werden, mangelt, wo jeder Athemzug dein beklommenes Herz noch mehr beängstigen muß und dir nicht einmal die Aussicht bleibt, durch Selbstentleibung diesem schrecklichen Zustande ein Ende machen zu können.«23
Der romantischen Dramatik stand auf der anderen Seite praktische Lebenserfahrung gegenüber. Pfarrer Schumacher, Geistlicher an der Gaukirche zu Paderborn und vom Bischof bestellter Gutachter, um die Notwendigkeit eines Leichenhauses zu prüfen, hielt diese Befürchtung für völlig übertrieben. Nüchtern und versichert durch die eigene Erfahrung stellte er fest: »In unserer Vaterstadt Paderborn, wo bei Sterbenden äußerst selten sich ein Arzt befindet, wird der nach der Meinung der Anwesenden erfolgte Tod gleich, wenigstens nach einer Stunde den Nachbaren, Verwandten und Freunden des Verstorbenen angezeigt. Noch nie ist nach meinem Wissen einer, dessen Tod auf diese Weise angekündigt wurde, wieder zum Leben erwacht.«24
Der Geistliche nahm damit für sich in Anspruch, im Umgang mit dem Tod mindestens so kompetent zu sein wie der Arzt. Er verwarf die Furcht vor dem Scheintod als Idee »einzelner Ärzte« und »enthusiastischer Menschen«.25 Schumachers Vorstellung des Todes ähnelte dabei durchaus der des Lohner Priesters Bernhard Topp aus dem Herzogtum Oldenburg. Schumacher brachte in Bezug auf den Eintritt des Todes nämlich vor, dass er einen »Uebergang [vom Leben zum Tod] ohne 23 24 25 220
»Leichenhäuser«, in: Der Sprecher oder Rheinisch-Westphälischer Anzeiger 2 (1833), Sp. 990-992, Sp. 990. Pastor Schumacher: »Beiträge zur Sache der Leichenhäuser zunächst für das Publikum von Paderborn bestimmt«, in: StadtAPb A 1379. Ebd.
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Sprung nicht einsehe«.26 Der Tod war für ihn kein Prozess, sondern der Moment der Trennung von Körper und Seele. Dabei sei das Sterben selbst sehr wohl ein Übergang, bei dem man die »Ankunft des Todes« herannahen sähe, »wie der Sterbende allmählich entstellt wird, wie die einzelnen Organe allmählich ihre Funktion einstellen, und endlich […] still stehen«.27 Leichenhäuser hatte es schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gegeben. Dabei handelte es sich ähnlich der Rettungsanstalten um Einrichtungen, die in der Stadtarchitektur weithin sichtbar waren. Ärzte schufen sich mit den Leichenhäusern Stätten, in denen sie die Grenze zwischen Leben und Tod überwachen konnten. Wie im zweiten Kapitel dargestellt wurde, konstruierte die moderne Wissenschaft ihre Untersuchungsgegenstände über Phänomene der Ambivalenz und der Uneindeutigkeit – der Scheintod umfasste Personen und Zustände, die, wenn auch nur kurzzeitig, außerhalb der sozialen Ordnung standen: Ohnmächtige, Unfallopfer oder auch Frauen, die nach Ansicht der Mediziner eher dazu neigten, scheintot zu werden. Die Überführung in Eindeutigkeit und die Auflösung von Ambivalenz sollten dem ärztlichen Anspruch nach in eigens für diesen Zweck konstruierten Häusern geschehen.28 Die Versorgung der Gesellschaft mit Medizin, die, als Medikalisierung beschrieben, genau auf diesen Aushandlungsprozess von ärztlicher Normierung und Einholung der die soziale Ordnung störenden Umstände einerseits und die lebensweltlichen Praktiken andererseits zugriff, ist vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Arbeit als eine direkte Folge der Verdiesseitigung zu betrachten. Bereits in ihren Anfängen trat die Medikalisierung zweischneidig auf und spiegelte in dieser Ambivalenz die neue Werthaltung der Gesellschaft. Die Sicherung des irdischen Lebens, wie sie die Absicht der Rettungsanstalten war, sah sich, anders als Gebäranstalten beispielsweise, nicht der Kritik ausgesetzt, die sozialen Unterschichten in das System bürgerlich-männlicher Medizin einbinden zu wollen. Rettung und Lebensverlängerung wurden so unhinterfragbare positive gesellschaftliche Werte, dass sie die Dominierung von Frauen in Gebäranstalten oder den Impfzwang verdeckten, die nur die andere Seite der gleichen Medaille darstellten. Dabei waren der nachdrückliche Ein26 27 28
Ebd. Ebd. Diese Institutionen nahmen in erster Linie schwangere Frauen, die unverheiratet waren, auf. In Marburg beispielsweise wurde 1803 eine sogenannte Accouchiranstalt für diese soziale Gruppe eingerichtet. Diese Frauen waren damit den Unfallopfern, Ohnmächtigen und Epileptikern funktional ähnlich. Vgl. Marita Metz-Becker: Der verwaltete Körper. Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Campus 1997. 221
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satz für Lebensrettung genauso wie das Impfen, die Leichenhäuser oder die Accouchiranstalten Bestandteile dieses gesellschaftlichen Programms der Verdiesseitigung. Das erste Leichenhaus in Deutschland wurde 1791 in Weimar auf Initiative von Christoph Wilhelm Hufeland erbaut.29 Wie in Paderborn war es auf einem örtlichen Friedhof errichtet worden. In Weimar bestand es aus einem Raum, der Platz für acht Leichen besaß.30 Um günstige Voraussetzungen zu schaffen, dass der scheintote Körper sich regenerieren konnte, war der Raum unterhalb des Fußbodens mit Ofenröhren versehen. Sie sorgten für Wärmezufuhr, während Luftschächte die Luftzirkulation gewährleisteten. Neben dem Raum für die Leichen befand sich ein kleineres Zimmer für den Wächter. Sein Raum war mit einem Fenster ausgestattet, von dem aus er die Leichen beobachten konnte. In Orten, wo kein Arzt zugegen war, übernahm der Totengräber diese Aufgabe. So wie die Pastoren als lokale Funktionsträger eingebunden wurden, um die Verlängerung der Bestattungsfristen von den Kanzeln zu verlesen und zu veröffentlichen, wurden Totengräber dazu eingesetzt, die Aufgaben des Arztes zu übernehmen oder ihn zu unterstützen. In Münster beispielsweise besaß der Totengräber Schlüsselgewalt über das Leichenhaus.31 Dieser pragmatische Umgang soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eigentlich ein Arzt sein sollte, »dem die Oberaufsicht über dasselbe [das Leichenhaus] anvertrauet werden muß. […] Er muß den Leichenwächtern und selbst auch dem Wundarzte den nöthigen Unterricht ertheilen«.32 Das medizinische Hilfspersonal sollte nach den Vorstellungen des mecklenburgischen Kreis-Physikus Masius nur auf Anweisung des Arztes tätig werden. So sollten Totengräber nur für die handwerklichen Tätigkeiten angestellt werden. 29
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Vgl. Hans-Kurt Boehlke: »Über das Aufkommen der Leichenhäuser«, in: ders. (Hg.): Wie die Alten den Tod gebildet. Wandlungen der Sepulkralkultur 1750-1850, Mainz: v. Hase und Koehler 1979 (= Kasseler Studien zur Sepulkralkultur, Bd.1), S. 135-146. Vgl. Carl Schwabe: Das Leichenhaus in Weimar. Nebst einigen Worten über den Scheintod und mehrere jetzt bestehende Leichenhäuser, sowie über die zweckmäßigste Einrichtung solcher Anlagen im Allgemeinen, Leipzig: Voss 1834, S. 11; Klaus Pfeifer: Christoph Wilhelm Hufeland. Mensch und Werk, Halle an der Saale: Niemeyer VEB 1968, S. 71. Vgl. Friederike Schepper-Lambers: Beerdigungen und Friedhöfe im 19. Jahrhundert in Münster, Münster: Coppenrath 1992 (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland hg. v. der Volkskundlichen Kommission für Westfalen Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Heft 73), S. 63. G. H. Masius: »Plan zur aussern und innern Einrichtung eines Todtenhauses in der Stadt und auf dem Lande«, in: Neue Monatsschrift von und für Mecklenburg 6 (1791), S. 234-237, S. 236.
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Diese Arbeit könne mit der Leichenwäscherin abgesprochen und abgestimmt werden, denn »[i]n jedem Orte befindet sich auch noch eine Leichenfrau, welche jetzt die Leiche im Hause beschicket, dabey wacht und dafür bezahlt wird. Dieses könnte dort [in einer Leichenkammer] eben so geschehen, da sie des Hirten oder Gemeinde-Mannes Stube darneben zum Aufenthalt hätte. Und so wie jetzt gewöhnlich die nächsten Nachbarn die Leiche zu Grabe tragen, so würden sie sich es auch gefallen lassen, selbige in die Leichenkammer zu tragen, wenn solche vorher durch die Leichenfrau und Angehörigen in den Kasten gelegt worden ist, der zu dem Ende angeschafft werden müßte.«33
Die Räume des Leichenhauses in Weimar waren 12 Fuß hoch und besaßen gewölbte Decken.34 Weiterhin war eine Küche eingerichtet, in dem warme Bäder im Falle einer Unterkühlung bereitet werden konnten und zur Verstärkung »wiederkehrender Lebenszeichen« dienten.35 Zuletzt war vorgesehen, die Hände und Füße der Scheintoten an Fäden zu binden, die wiederum eine Klingel zum Läuten brachten, wenn sich der Scheintote bewegte. Dieses Bild, ein Leichenhaus mit einer Bahre, von der Fäden und Schellen ausgingen, an der Hände und Füße des Scheintoten befestigt werden konnten, wurde seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in großer Zahl verbreitet. Es ruft die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden bis heute in dieser Form für das kollektive Gedächtnis ab.36 Wie in den Maßnahmen zur Lebensrettung von Ertrunkenen und anderen Unfallopfern wurden die Totengräber und Wächter in Weimar nicht nur mit Instruktionen ausgerüstet, sie wurden außerdem mit 33 34
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»Von leicht zu errichtenden Leichenkammern auf den Dörfern«, S. 48. Die Vorstellungen des mecklenburgischen Kreis-Physikus Masius sahen ähnlich aus. Das Leichenhaus sollte aus einem großen Zimmer zur Aufbahrung der Leichen bestehen. »Die Höhe dieses Zimmers muß wenigstens 12 Fuß betragen, die Decke desselben überdem nicht winkelicht, sondern etwas gewölbt gebauet, unten und oben hingegen müssen Zugröhren angebracht werden, die man nach Befinden der Umstände öffnen und verschließen kann; alles dieses, um beständig eine reine Luft haben, und diese zu jeder Zeit erneuern zu können.« Daneben sollte es ein Zimmer für den Wächter, einen Hausflur und eine kleine Küche zur Bereitung »warmer Bäder und anderer medicinischer Beihülfen« geben. Masius: »Plan zur aussern und innern Einrichtung eines Todtenhauses«, S. 236. Schwabe: Das Leichenhaus in Weimar, S. 11. Vgl. die Abbildung in Derwein: Geschichte des christlichen Friedhofs, S. 159. Sie zeigt das Leichenhaus von 1795 in Berlin. Weitere ähnliche Bilder sind: »Weckapparat in der Leichenhalle zu Leipzig«, in: NationalMagazin, hg. v. der Gesellschaft zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse 1 (1834), S. 119-120, S. 120. 223
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Prämien belohnt, falls sie Scheintote retteten. Leichenhäuser, so hatten es die Medizinalbeamten vorgesehen, sollten flächendeckend entstehen. Dabei machten es die Verhältnisse auf dem Land besonders dringlich, ein Leichenhaus zu errichten, denn »[d]ie besten und weitläufigsten Häuser bestehen ausser den Ställen, in einer Wohnstube, Schlaf- und Hauskammer, und wenn es hoch kommt einem sogenannten Auszugshäuschen, welches ebenfalls nur eine kleine Stube und Kammer hat. In kleinen Häusern trifft man, ausser der Wohnstube, nur eine einzige Kammer, auch wohl gar keine an. […] Stirbt nun eines [ein Familienmitglied] im Hause, so findet man keinen schicklichen Ort, wo die Leiche hinzubringen und etliche Tage aufzubehalten wäre.«37
Es ist allerdings nur aus Städten bekannt, dass die Leichenhäuser auch realisiert wurden. Auf dem Land fehlte es offensichtlich an finanziellen Mitteln. Die Leichenhäuser in den Städten wurden über Spenden der Bürger finanziert. Dass diese Einrichtungen in den Städten Deutschlands entstanden, hing mit dem jeweiligen Mobilisierungspotential des örtlichen Bürgertums zusammen. Die Gründung von Leichenhallen waren Privatinitiativen, die auf das Engagement einer Einzelperson, in dem bekannten Weimarer Fall, Hufeland, oder in Paderborn auf den Kreis-Physikus Schmidt zurückgingen. Schmidt und Hufeland hatten Bürger verpflichtet, die Kosten für den Bau eines solchen Hauses zu tragen und mussten entsprechend keine öffentlichen Gelder beanspruchen. Dass Leichenhäuser nur von privater Hand finanziert wurden, macht auch ein vom Rheinisch-Westphälischen Anzeiger vorgeschlagenes alternatives Finanzierungsmodell deutlich. Dort schlug der Autor des Blattes nämlich vor, Vermögende ohne Erben möchten Leichenhäuser stiften. Diese Häuser hätten mit einfachsten Mitteln gebaut werden können. Die Inbetriebnahme stellte er sich wie folgt vor: Es sollten vier Wände errichtet werden, wovon zwei 10 Fuß und die anderen beiden 8 Fuß in der Breite maßen. Alle vier sollten 10 Fuß hoch sein. Die Wände könnten aus Stein oder Holz und Lehm bestehen, wobei die »landesväterliche Regierung« das Material »aus Staatswaldungen liefern würde«.38 In die schmalere Wand sollte eine Tür eingesetzt werden, die Seitenwände sollten zwei bis drei Fenster haben. Das Dach sollte mit einer Öffnung versehen werden, an der eine Schnur mit einem Glockenspiel angebracht werden 37 38
224
»Von leicht zu errichtenden Leichenkammern auf dem Dorfe«, S. 46. »Leichenhäuser«, in: Der Sprecher oder Rheinisch-Westphälischer Anzeiger 2 (1833), Sp. 1323-1324, 1324. Ähnlich wird die Ausstattung des Leichenhauses in Mainz des Jahres 1847 geschildert: vgl. Eugène Bouchut: Die Todeszeichen und die Mittel, vorzeitige Beerdigungen zu verhüten, Erlangen: Palm und Enke 1850, S. 166.
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konnte und welche der Leiche in die Hand gegeben wurde. Mit der Ausführung des Baus könnte ein armer Dorfbewohner beauftragt werden, dem dadurch ein Verdienst beschieden würde. Der Tote konnte wahlweise auf einem Tisch oder auf der mit Kalk gestreuten Erde liegen. Der Kalk sollte die Ausdünstungen aufnehmen. Ein Nachtwächter könnte gegen »ein kleines Geschenk«39 verpflichtet werden, zwei bis drei Mal pro Nacht nach der Leiche zu sehen. Anders als die Rettungsanstalten waren die Leichenhäuser ein deutsches Phänomen. Jean-Jacques Bruhier hatte bereits in seiner Dissertation vorgeschlagen, Häuser oder Unterkünfte zu erbauen, in denen geschultes und qualifiziertes Personal den Eintritt des Todes überwachen und in zweifelhaften Fällen prüfen konnte, ob die Lebenskräfte im Toten nicht wieder erwachen würden. Zwar verfügte eine Verordnung vom 11. März 1801 den Bau von sechs temples funèbres in Paris für die Präfektur der Seine, dem Gesetz folgten jedoch keine Taten.40 In anderen europäischen Ländern hatte der Bau von Leichenhäusern zwar Sympathisanten gefunden, sie wurden aber letztlich nicht errichtet. In Frankreich gehörte auch Madame Necker, die Mutter der späteren Madame de Staël und Ehefrau des französischen Staatsministers Jacques Necker, zu den Befürworterinnen von Leichenhäusern. Sie hatte 1791 die Schrift eines Arztes namens François Thiery, »La Vie de l’Homme Respectée et Défendue Dans ses Derniers Momens« von 1785 neu aufgelegt und illustriert, in der von ihm vorgeschlagen wurde, Leichenhäuser zu bauen.41 1792 hatte der böhmische Graf Berchtold dieses Buch der Académie nationale vorgelegt. Die Umsetzung dieser Initiativen kam jedoch nie zustande.42 Die französischen Beamten fanden Gesetze zur Verlängerung der Bestattungsfristen und zur Leichenschau durch den Arzt ausreichend. Sie hielten die Errichtung von Leichenhäusern für eine unnötige Ausgabe öffentlicher Gelder. Auch in England hatte es Anstrengungen von Einzelpersonen gegeben, Leichenhäuser errichten zu lassen. Der Anatom William Hawes aus Surrey reichte dazu 1783 eine Petition beim englischen König und im Parlament ein. Er blieb aber erfolglos.43 Die fehlende Initiative, Leichenhäuser auf dem Land zu errichten, hatte nach Auskunft der bürgerlichen Anhänger dieser Einrichtungen, noch andere Ursachen als Geldmangel. Dort stelle sich »der angeerbte
39 40 41 42 43
Ebd. Vgl. Quinlan: »Apparent death«, S. 33. Vgl. Milanesi: Mort Apparente, S. 187-190. Vgl. Bouchut: Die Todeszeichen und die Mittel, vorzeitige Beerdigungen zu verhüten, S. 165; Ariès: Geschichte des Todes, S. 511. Vgl. Quinlan: »Apparent Death«, S. 33. 225
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Aberglaube in den Köpfen der Vornehmern und Geringern«44 gegen Leichenhäuser. Es konnten keine Bürger mobilisiert werden, Geld für den Bau eines Leichenhauses bereitzustellen. So beschränkte sich die Einrichtung von Leichenhäusern auf dem Lande darauf, gesetzliche Empfehlungen auszusprechen. Der unterstellte Aberglauben betraf nicht nur die unaufgeklärte Bevölkerung. In den Zeitschriften der Aufklärung wurde unterstellt, dass die Errichtung von Leichenhäusern »sich auf mannigfaltige Weise« mit den Interessen des Klerus »durchkreuzen« würde:45 »Viele Prediger, die zur Beförderung dieser menschenfreundlichen Einrichtung, zum Theil selbst von ihren Vorgesetzten aufgefordert wurden, haben die ganze Sache, entweder als das Hirngespinst eines müssigen Kopfs, mit einem freundlichen Lächeln ihren Kirchen-akten, oder als eine gefährliche Neuerung mit bedeutendem Kopfschütteln den übrigen Ketzereien unsers klügelnden Zeitalters beigelegt.«46
Diese polemische Äußerung stammte von Karl August Böttiger, einem engagierten Befürworter von Leichenhäusern und – wie das vorige Kapitel gezeigt hat – der Verlängerung der Beerdigungsfristen. Böttiger wurde im Dezember 1797 von dem Superintendenten Justi in Marburg konsultiert, nachdem der Fürst von Hessen-Kassel verfügt hatte, Leichenhäuser im Land zu errichten. Justi wollte einen Erfahrungsbericht von Böttiger einholen, der ihm mitteilen musste, dass in Weimar »noch nie jemand im Leichenhaus wieder erwacht« sei.47 In manchen Orten kam es entsprechend vor, dass trotz der Reskripte und Subskriptionen der Bau von Leichenhäusern nicht zustande kam. Das war jedenfalls in Marburg der Fall. Anfang April 1797 teilte das Konsistorium durch seinen Superintendenten Justi mit, dass es eine fürstliche Verordnung gebe, mit der »ein Leichenhaus errichtet werden müsse, um das Lebendigbegrabenwerden zu verhüten«.48 Die protestantische Gemeinde veranlasste daraufhin im Juni eine Subskription unter ihren Mitgliedern und hatte den Marburger Arzt Krieger hinzugezogen, der aus medizinischer Sicht den Bau einer solchen Einrichtung begutachtete. Das Leichenhaus sollte bei der Kirche an der Barfüßerstraße, einer protestantischen Kirche in der Innenstadt von Marburg, errichtet werden. Neben der Korrespondenz mit dem Weimarer Oberkonsistorialrat beriet die Marburger protestanti44 45 46 47 48 226
Böttiger: »Zwei theologische Gutachten über das Wieder-erwachen der Schein-todten«, S. 347. Ebd., S. 336. Ebd. HessStAMr 319 Marburg A, Nr. 291. Ebd.
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sche Gemeinde darüber hinaus mit dem Collegium Sanitatis in Kassel. Das Leichenhaus wurde jedoch nicht gebaut. Das Geld der Subskription, so teilte der Superintendent 1801 mit, floss stattdessen in die Gründung eines Arbeits- und Krankenhauses in Marburg. Dass Böttigers Polemik sich nicht auf das Verhalten der gesamten Geistlichkeit bezog, zeigte beispielsweise das Engagement des Pastors Johann Volkmar Sickler aus Kleinfahnern in Gotha. Sickler war seit 1770 Geistlicher der dortigen Gemeinde. Sowohl als Mitglied der ländlichen Elite als auch als aufgeklärter Vertreter seines Standes konnte er die Errichtung von Leichenhäusern mit seinem Glauben vereinbaren und machte entsprechende Vorschläge, diese auch auf dem Land durchzusetzen. Sickler schlug wegen der hohen Kosten eine Alternative zum Leichenhaus vor. Er riet, den Verstorbenen zwar schon ins Grab zu legen, dieses aber noch nicht zu schließen. Der Tote könnte ungefähr zwei bis drei Tage dort aufgebahrt werden: »Über die Öffnung des Grabes setze man ein kleines bewegliches Gehäuse, wie ein Dach. Nachdem man den Todten mit Klang und Gesang begraben hat, so setzt man dieses kleine bewegliche Gehäuse, schwarz angestrichen, daß es wie ein Grabhügel aussieht, auf die Oeffnung des Grabes, und häufelt die aus dem Grabe geworfene Erde rund herum an, daß nicht hinzukommen kann, und es auch feststeht, und überläßt nun den Todten seiner Ruhe.«49
Für den Fall, dass das bewegliche Dach zu pietätlos erschien, hatte Sickler eine weitere Idee. Er hielt es für sinnvoll, die Leichenhäuser direkt mit den Kirchen zu vereinigen: »Sie könnten entweder in die Kirchen selbst, jedoch mit den Fenstern nach außen angebracht, oder doch außen an den Kirchen angebaut werden, daß der Eingang in sie durch die Kirchen gehe, im ersten Fall wären es Leichenzimmer, im andern Leichenkapellen«.50 Durch diese prominente Lage, so Sickler, erhielten die Leichenhäuser in der Bevölkerung ein »Ansehen von Ehrwürdigkeit und Heiligkeit«.51 Zudem befinde sich die Leiche im Schutz der Kirche
49
50 51
»Des Herrn Pfarrer Joh. Volkmar Sickler zu Kleinfahnern im Gothaischen, Vorschlag zur Verhütung, daß die Menschen einander nicht lebendig begraben«, in: Scherfs Beiträge zum Archiv der medizinischen Polizei 4 (1793), S. 158-162. Sickler beschäftigte sich außerdem mit dem Obstanbau und wurde durch die Züchtung verschiedener Apfel- und Birnensorten über Thüringen hinaus bekannt. »Etwas über Leichenhäuser«, in: Scherfs Beiträge zum Archiv der medizinischen Polizei und der Volksarzneikunde 3 (1791), S. 140. Ebd. 227
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»und das Leichendepot nähme dadurch Antheil an allen den Begriffen, welche das Volk von der Kirche hat, und ich glaube das Volksgefühl würde sich mit dem Absetzen der Leichen in diese Zimmer oder Kapellen einige Tage, ehe sie begraben würden, sehr gut familiarisieren. Die Kosten würden auch geringer sein, die Pflege könnte auch dem Küster übertragen werden.«52
Trotz dieser Bemühungen, Vorschläge und Umsetzungen zeitigten die Leichenhallen keinen Erfolg. Von überall hörte man Klagen, dass sie nicht benutzt würden.53 Die von Hufeland in Weimar gegründete Stätte verfiel bereits in der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts. In Berlin wurde das Leichenhaus auf dem Jerusalemer Kirchhof in den ersten neun Monaten des Jahres 1841 nur drei Mal benutzt, während insgesamt nur 25 Tote in der Leichenhalle seit ihrer Erbauung im Jahre 1825 aufgebahrt wurden.54 Aus Breslau kamen ähnliche Klagen.55 Pfarrer Schumacher in Paderborn bemerkte höhnisch, dass nicht einmal die Bürger, die die Subskription unterstützt hatten, von dem Leichenhaus Gebrauch machten. Einzig Schmidts verstorbene Mutter sei auf Geheiß ihres Sohnes in das Leichenhaus überführt worden, »nicht weil ihr Tod zweifelhaft gewesen wäre, sondern aus Prinzip«.56 Die Bemühungen um die Erbauung von Leichenhäusern ließen trotzdem nicht nach. In den 1830er Jahren erschienen weiter Aufrufe von Ärzten und Professoren und Medizinalbeamten, Leichenhallen zu erbauen, zu erhalten und zu nutzen.57 Die gesellschaftliche Durchdringungstiefe wissenschaftlicher Erkenntnisse war in diesem Zeitraum noch gering. Die Menschen verließen sich auf überliefertes Wissen, auf ihre Religion und die Kirche. Die Wissenschaft konnte kein besseres Angebot als andere Wissensanbieter machen, wenn es um den angemessenen Umgang mit dem toten Körper
52 53 54 55 56 57
228
Ebd. Vgl. beispielsweise Schepper-Lambers: Beerdigungen und Friedhöfe in Münster, S. 64. Vgl. Wollheim: Medicinische Topographie […] von Berlin, S. 278. Vgl. Klose: »Ueber die Gefahr, lebendig begraben zu werden«, S. 148. Schumacher: »Beiträge«, in: StadtAPb A 1379. Vgl. unter anderem Michael Benedict Lessing: Ueber die Unsicherheit der Erkenntniß des erloschenen Lebens. Nebst Vorschlägen zur Abhülfe eines dringenden Bedürfnisses für Staat und Familie, Berlin: Hirschwald 1836; Peter Joseph Schneider: Medicinisch-Polizeiliche Würdigung der Leichenhallen, als einziges und zuverlässiges Mittel zur Verhütung des Wiedererwachens im Grabe, Freiburg im Breisgau: Wagner 1839. In Würzburg wurde am 1. Oktober 1828 ein Leichenhaus gegründet. Am 21. März 1829 waren von den 47 in der Stadt bis dahin verstorbenen Menschen 45 dort aufgebart worden. Vgl. Rudolph Zacharias Becker: »Mitteilung über das Würzburger Leichenhaus«, in: National-Magazin der Deutschen 33 (1829), S. 183-184.
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ging. Im konkreten Umgang mit dem Tod konnte sie augenscheinlich nicht ernsthaft konkurrieren.58
Fall und Wiederaufstieg der Leichenhäuser Das erste Leichenhaus von Paderborn ereilte das gleiche Schicksal wie das in Weimar fünfzig Jahre zuvor. Es wurde 1868, nach der Schließung des Friedhofs vor dem Westerntor 1866, abgerissen. Dabei hatte sich Schmidt immer wieder bemüht, der Einrichtung zu ihrem Recht zu verhelfen und die Bevölkerung anzuregen, ihre Toten im Leichenhaus aufzubahren. So hatte der Kreis-Physikus 1842 einen Antrag gestellt, in dem er den Paderborner Bischof Richard Dammers und das Kapitularvikariat dazu aufforderte, »bei Hinbringung der Scheintodten zum Leichenhause und bei Beerdigung derselben nach erfolgtem Tode« einen Ritus anzuordnen.59 Auf diesem Wege erhoffte Schmidt sich Unterstützung durch die Geistlichkeit. Er beschuldigte den Klerus nämlich, er sperre sich gegen die Anstalt und hintertreibe ihre Benutzung. Der Bischof änderte die Bestattungsmodalitäten jedoch nicht: 1844 ließ er Schmidt wissen, Scheintote »werden unter Anwendung des üblichen und vorgeschriebenen Ritus im Sterbehause eingesegnet, und in der gewöhnlichen Weise bis zum Leichenhause begleitet, und in demselben ohne weiteren Ritus deponirt«.60 Der Bischof zeigte sich unbeeindruckt von den Ansprüchen des Mediziners. Auch Verfügungen und Ermahnungen der königlichen Regierung von Preußen, dass die Toten bis zur Beerdigung im Leichenhaus aufzubahren seien, blieben erfolglos und änderten an der Entscheidung des Bischofs nichts. Die Einführung neuer Rituale und die Einübung neuer kultureller Praktiken waren also problematisch. In dem Paderborner Fall stießen unterschiedliche Todesvorstellungen aufeinander, wobei die katholische Kirche keinen Anlass sah, diese Diskrepanzen womöglich pragmatisch 58
59 60
Die Rettungsanstalten stellten ihre Arbeit auch zwischen Revolutionskriegen und dem Vormärz ein. Die Lebensrettung als Schutz des Lebens vor dem Tod blieb als Idee jedoch gesellschaftlich präsent. Erst in der Zeit des Kaiserreiches wurde die Erste Hilfe jedoch wieder institutionalisiert. Zu dem Zeitpunkt erforderten die Bedürfnisse der wachsenden Industriegesellschaft die Errichtung flächendeckender Versorgungsstationen. Die Behandlung von Cholera-, Pocken-, Tbc- und Typhuskranken bestimmte dann das Tätigkeitsfeld der städtischen Notfallversorgung. Vgl. Goldmann: Geschichte der Medizinischen Notfallversorgung, S. 85. »Schreiben des Bischofs Richard Dammers an den Magistrat der Stadt Paderborn 1844«, in: StadtAPb A 1379. Ebd. 229
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zu überbrücken. Dass ein Pragmatismus allerdings auch unangemessen war, weil Rituale und Praktiken gravierenden Anteil an der Sinnstiftung des Todes besaßen und tief im Wertehorizont eingeschrieben waren, lässt sich anhand Hufelands Diktum des »letzten Liebesdienstes« illustrieren. Schmidt und Hufeland propagierten durch ihren »Liebesdienst« die Verlegung der Leiche vor der Beerdigung aus dem Sterbehaus. Eben dieser Schritt stieß bei den Gegnern der Leichenhäuser auf erbitterten Widerstand. Denn eigentlich verlief die Bestattung wie folgt: Die Exequien, die seit dem Mittelalter gültigen katholischen Riten des Totengeleits, begannen mit der Aussegnung im Sterbehaus. Von dort wurde der Leichnam in die Kirche überführt, in der Kirche wurde das Totenoffizium (Stundengebet) gebetet und die Totenmesse (Requiem) gefeiert. Dann wurde der Verstorbene zum Friedhof gebracht und beigesetzt. Das Begräbnisritual wäre durch die Integration der Leichenhäuser in den Beerdigungsablauf empfindlich gestört worden. Schmidt und Hufeland deuteten damit um, was die Bevölkerung gemeinhin als Liebesdienst empfand. So bestritt Pfarrer Schumacher, dass den Toten auf diese Art und Weise ein Liebesdienst zukomme. Vielmehr sei dies eine »grausame Maßnahme«, denn die Leichenhäuser seien kalt und trostlos. Die Kälte würde einem Scheintoten womöglich den letzten Todesstoß versetzen, und trostlos sei der Ort deshalb, weil die Toten allein, ohne familiären Beistand den Moment ihrer Beisetzung abwarten müssten. Aus diesem Grunde fand Schumacher es besonders abstoßend, dass Schmidt sich nicht gescheut hatte, seine eigene Mutter in der Leichenhalle aufzubahren.61 Die Toten sollten bis zur Beisetzung im Kreis ihrer Familie bleiben. Schon der Gedanke daran, dass der Leichnam vom Sterbehaus in die Leichenhalle geschafft werden müsste, stieß auf Abscheu. Diese Haltung traf nicht nur auf die Katholiken zu. Auch aus protestantischen Gegenden ist bekannt, dass Leichenhäuser sich lange Zeit nicht in das Beerdigungsritual integrieren ließen. Aus der Umgebung der kleinen protestantischen Gemeinde Achim bei Bremen heißt es in einer Chronik aus dem Jahre 1846, dass die Bestattungen mit dem Singen zweier Totengesänge im Sterbehause begannen und danach die Leiche auf einem Leiterwagen zum Kirchhof gefahren wurde. Weitere Gesänge, Glockengeläut, der Geistliche, der Küster und verschiedene Schuljungen begleiteten den Sarg zum Friedhof, wo er ins Grab gesenkt wurde. Nach der Grablegung begab sich die Trauergemeinde in die Kirche, wo der Pastor eine Leichenrede hielt und einen Lebenslauf verlas. Danach wurde wieder ein Lied gesungen und die kirchliche Feier durch das Vaterun61 230
Vgl. Schumacher: »Beiträge«, in: StadtAPb A 1379.
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ser beschlossen.62 Während die Beerdigungsrituale in Achim ein Beispiel dafür waren, dass Leichenhäuser die Bestattungsrituale noch nicht verändert hatten, gab es in dem gleichen Zeitraum bereits einzelne Stimmen, die Veränderungen diesbezüglich als Gefahr wahrnahmen. Ein katholischer Theologe äußerte die Sorge, dass mit der Einführung von Leichenhäusern das »seit mehr als tausend Jahren übliche Totenamt praesente cadavere [also in Gegenwart des Leichnams] mit seinem tiefen, echt christlichen Sinn unmöglich« werden würde. Dadurch, dass es sich einbürgern könnte, die Leiche in das Leichenhaus zu überführen, würde das nächtliche Gebet in Gegenwart des Toten aufhören. Zum katholischen Ritual gehörte es nämlich, dass die Trauergemeinde sich in den Nächten des Sterbens und vor der Beerdigung zu Gebeten zusammenfand, um das Seelenheil zu erbitten. Eine weitere Folge der Leichenhäuser, so die Befürchtung, könnte darin bestehen, dass die Trauerfeier unterbrochen würde. In größeren Städten werde bereits die Beerdigung am Nachmittag abgehalten, während das Requiem oft mehrere Tage später stattfand.63 Von protestantischer Seite kamen am Ende des 19. Jahrhunderts ähnliche Klagen. War es üblich, dass jemand zu Hause starb, dort aufgebahrt wurde und für die Beerdigung zurechtgemacht wurde, und dann vom Sterbehaus in die Kirche gebracht wurde, verlagerte sich die Bestattungszeremonie nun auf den Friedhof. Die Angehörigen und Trauernden kamen erst auf dem Friedhof zusammen, weil dort die Beerdigung von der Friedhofskapelle und der Leichenhalle aus begann. Es fiel dadurch die Trauerprozession der Gemeinde vom Sterbehaus in die Kirche oder zum Friedhof fort und ein Gemeinschaft stiftendes Element sei dadurch verloren.64 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Leichenhäuser in den größeren Städten vermehrt errichtet. Das Argument, dass der Bau von Leichenhäusern vor dem Lebendigbegrabenwerden schützen würde, trat dabei in den Hintergrund. Wachsende Bevölkerungszahlen und beengte Wohnverhältnisse in der Zeit der Industrialisierung machten diese Einrichtungen vielmehr zu einer hygienischen Notwendigkeit.65 Mit dem Argument Hygiene setzte sich die anthropologische Transformation der Aufklärung und die damit verbundene Neudefinition des Todes damit auf eine andere Weise durch. Indem der Tod zu einem physiologischen Phänomen geworden und die verantwortlichen Stellen in 62 63 64
65
Vgl. Windel: Das Gohgericht Achim, S. 122. Vgl. Ferdinand Probst: Die Exequien, Tübingen: Laupp 1856, S. 34 ff. Vgl. »Begräbnis«, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, begr. v. J.J. Herzog, hg. v. Albert Hauck, Leipzig: Hinrichs 3 1897, Bd. 2, S. 526-530, S. 529. Vgl. dazu auch Fischer: Vom Gottesacker zum Krematorium, S. 102. 231
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Staat und Medizin sich um einen dem medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand entsprechenden Umgang mit dem toten Körper kümmern mussten, standen die Scheintoddiskussion und die Hygienemaßnahmen des ausgehenden 19. Jahrhunderts in einer Kontinuitätslinie. Beiden lag dasselbe Verständnis des Todes zugrunde und die in dieser Frage federführenden Ärzte konnten auf Vorschläge der Institutionalisierung und damit Abhilfe zurückgreifen, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bekannt war: Leichenhäuser. Dass der Tod ein Problem der Hygiene war, kam ansatzweise schon in der Scheintoddiskussion um 1800 zum Ausdruck. Denn einerseits sollten Tote länger aufgebahrt werden, damit der Eintritt des Todes durch das Zeichen der Verwesung sichergestellt werden konnte; andererseits war ein Aufschub aus hygienischen Gründen problematisch, gefährdeten doch nach dem wissenschaftlichen Kenntnisstand des ausgehenden 18. Jahrhunderts die Ausdünstungen der Toten die Lebenden. Da die Toten im Regelfall bis zur Bestattung im Sterbehaus blieben, konfligierten an dieser Stelle gesellschaftliche Praxis und wissenschaftlicher Anspruch. Da vor 1800 die Zeit zwischen Tod und Bestattung kürzer war und die Toten teilweise innerhalb eines Tages bestattet wurden, traten die beengten Wohnverhältnisse66 auf dem Lande als Problem nicht in Erscheinung. In mehrräumigen Häusern konnte der Tote ohnehin in einem eigenen Zimmer aufgebahrt werden. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren jedoch die Vereinheitlichung der Beerdigungsfristen, ungeachtet des Standes oder des Geschlechts, und die Verlängerung der Bestattungszeit auf mindestens 24 Stunden nach dem Tode so weit festgeschrieben, dass Bestattungen vor dem Ablauf dieser Frist überhaupt unakzeptabel waren. Dadurch stellte sich das Problem der beengten Wohnverhältnisse noch einmal. Wo sollten die Toten bis zur Beerdigung hin, wenn es keine Möglichkeit zur Aufbahrung gab, die den medizinisch-wissenschaftlichen Ansprüchen genügte und die Lebenden vor den Toten schützte? Dass es einen Bedarf für Tote gab, die in Häusern ohne einen separaten Raum zur Aufbahrung gestorben waren, stand am Ende des 19. Jahrhunderts nämlich sowohl für die Kirche als auch die Stadt außer Frage. In Münster beispielsweise wurden die drei ersten Leichenhäuser 1873 auf Antrag mehrerer Pfarreien und mit Unterstützung der Stadtverordnetenversammlung auf den Friedhöfen der jeweiligen Pfarreien errichtet. Die Kosten dafür wurden von der Stadt übernommen.67 1897 war der Bau einer Leichenhalle bei der Neueinrichtung eines Friedhofs ge-
66 67
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Vgl. Gebhardt: Zur bäuerlichen Glaubens- und Sittenlehre, S. 330 f. Vgl. Schepper-Lambers: Beerdigungen und Friedhöfe im 19. Jahrhundert in Münster, S. 61.
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setzlich verpflichtend geworden.68 Von der Aufbahrung in Leichenhäusern war in erster Linie die ärmere Bevölkerung betroffen, obwohl es nicht vorgeschrieben war, dass alle Toten bis zur Beerdigung ins Leichenhaus gebracht werden mussten. Die gesetzliche Aufbahrung in Leichenhäusern bezog sich auch am Ende des 19. Jahrhunderts auf Sonderfälle. In Fällen einer Epidemie oder einer ansteckenden Krankheit, »wenn der Kreisphysikus die Entfernung der Leiche aus dem Krankenhause in sanitätspolizeilicher Hinsicht für nothwendig erachtet«, müsse die Stadt »ein Lokal zu deren Aufnahme bereit […] haben«.69 Der Magistrat von Münster erwartete jedoch, dass »die Benutzung der Häuser zeitweise nur eine geringe sein« würde.70 In Bielefeld beispielsweise entstand 1876 ein Leichenhaus auf dem dortigen Johannisfriedhof. 1837 hatte es schon einmal ein Leichenhaus gegeben, das aber mit der Schließung des sogenannten »Alten Friedhofs« 1865, des ersten städtischen Friedhofs außerhalb der Stadtmauern, niedergerissen wurde.71 Der Bau des nachfolgenden Leichenhauses ist in Zusammenhang mit der wachsenden räumlichen Trennung der Lebenden von den Toten zu sehen und zeigt, dass das prozessuale Verständnis des Todes am Ende des 19. Jahrhunderts Konsequenzen für die Bestattungspraktiken zeitigte. Der Johannisfriedhof war einer der beiden 1874 angelegten großen Kommunalfriedhöfe in Bielefeld, die weit entfernt von der Stadtmitte lagen. Das Abhalten der Trauerfeier war nun mit größeren Schwierigkeiten verbunden, weil die Trauergemeinde aufgrund der vergleichsweise großen Entfernung die Fußprozession von der Kirche respektive dem Sterbehaus zum Friedhof nicht mehr bewältigen mochte und die Gemeinde bei Beerdigungen sich zunehmend verkleinerte. Dadurch verkümmere die kirchliche Leichenfeier, so die Pastoren der Bielefelder Stadtgemeinden, was weder in religiösem noch in sittlichem Interesse wünschenswert sei.72 Aus diesem Grund richteten die Geistlichen ein Gesuch zum Bau einer Leichenhalle an den Magistrat. Neben der Ausstattung mit einem Sezier- und Isolationszimmer im Falle epidemischer Krankheiten sollte die Leichenhalle so gestaltetet werden, dass der Pastor und die Trauergemeinde Räumlichkeiten zur Andacht und zur Trauer hätten. Die Trauergemeinde könne sich dort zur Leichenfeier versammeln und der Pastor die Feier abhalten. Die Planung dieser Leichenhalle sah keineswegs ein nüchternes und kaltes Bauwerk vor. Dem Bielefelder Stadtbaumeister schwebte ein »Grottentempel« vor, der »einen 68 69 70 71 72
Vgl. ebd. Zit. nach ebd., 63. Ebd. Vgl. StadtABi ÄA 1455a. Vgl. StadtABi ÄA 137. 233
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malerischen Effect« auf dem »noch sehr schmucklosen Friedhofe ausüben« würde.73 Dieser Grottentempel, so war es geplant, sollte ein »stalactitenartig mit Tropfsteinbildungen geschmückter« Bau sein.74 Der Trauergast werde durch »die Vorstellung in einem felsenartigen Grabe zu sein« nachhaltig berührt, wenn er »angesichts der inmitten des Tempels niedergesetzten Sarges der Leichenpredigt zuhört«.75 Auch könne der Leichenwagen »direct hinein und durchfahren«.76 Auch der erste Ordinarius für Hygiene, Max Pettenkofer, setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Aufbahrung in Leichenhäusern ein. Um die Menschen zur Nutzung dieser Stätten anzuregen, betonte auch er, dass das lebensweltliche Empfinden berücksichtigt werden müsse und die gängigen Bestattungspraktiken in Rechnung gestellt werden müssten. Den Umgang mit Tod und Sterben wollte er trotz seiner hygienischen Bestrebungen nicht auf eine bloße Entsorgung des toten Körpers reduziert sehen: »Ein Leichenhaus muss eine Ehrenhalle für Todte sein, mit aller Pracht eines monumentalen Raumes. Die Leichen müssen geschmückt mit allen Zeichen der Ehre und Liebe, welche sie sich im Leben errungen haben, vor Aller Augen in offenen Särgen zwischen Blumen und Lichtern liegen.«77
Dieses Anliegen der öffentlichen Gesundheitspflege hatte am Ende des Jahrhunderts größeren Erfolg als zur Hochzeit der Scheintoddebatte. Im Jahre 1882 waren in Berlin beispielsweise 42 Leichenhallen in Gebrauch.78 1884 wurde im Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der Hygiene das Leichenhaus auf dem jüdischen Friedhof in Berlin für seine »vortreffliche Einrichtung für Isolierung und Reinigung von Leichen« gerühmt.79 In der Residenzstadt Kassel gab es
73 74 75 76 77
78
79 234
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Max Pettenkofer: »Über die Wahl der Begräbnisplätze«, in: Zeitschrift für Biologie 1 (1865), S. 45-68, S. 67. Vgl. auch die Illustrationen des Münchener Leichenhauses, die Pettenkofers Äußerungen unterstreichen, in: William Tebb/E.P. Vollum: Premature Burial and How It May Be Prevented, London: Swan Sonnenschein and Co. 1905, abgebildet in Bondeson: Premature Burial, S. 108. Vgl. J. Uffelmann: »Begräbniswesen«, in: Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiet der Hygiene 1 (1883/1884), S. 94-96, S. 96. Ebd., S. 95.
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seit 1861 wieder ein Leichenhaus.80 Auch kleinere Städte zogen nach. In Minden war im Jahre 1888 ein Leichenhaus gebaut worden.81 In Neuhaus im Kreis Paderborn und in Herford entstanden am Ende der 1880er Jahre solche Stätten.82 Pettenkofer führte das Münchener Leichenhaus als leuchtendes Beispiel (sogar der Ökumene) an: »Hier liegen Katholiken und Protestanten, nach Kräften geziert und geschmückt, mit gefalteten Händen in einer und derselben Halle, wie in einer Kirche vereinigt. Die Angehörigen besuchen sie und schauen durch’s Fenster in die Halle, wie in ein Stück Jenseits und erzählen dann, […] wie schön und friedlich die Leiche zwischen Blumen und anderen Leichen lag. In München gehört es jetzt zu den seltensten Fällen, dass eine Leiche von der Wohnung und nicht vom Leichenhause aus beerdigt wird.«83
Anders als in anderen Städten und Gemeinden wurde die Aufbahrung in Leichenhäusern in München 1862 gesetzlich vorgeschrieben.84 Ob jedoch Pettenkofer die tatsächliche Nutzung des Leichenhauses 1860 schönte und die Beharrungskräfte der Aufbahrung zu Hause stärker waren, legen Zahlen aus anderen Städten nahe. In Frankfurt am Main wurden noch 1885 nur 5% der Toten von der Leichenhalle aus beerdigt. Diese Zahl stieg jedoch zur Jahrhundertwende rapide an. 1892 betrug sie 60% und 1911 waren die Bestattungen von der Leichenhalle aus bereits auf 99% gestiegen.85 Derwein konstatierte 1931, dass die Bestattungsfeierlichkeiten gewöhnlich nicht mehr im Sterbehaus begännen, sondern die Hinterbliebenen sich direkt auf dem Friedhof oder in der Friedhofskapelle versammelten. Damit deutete er an, dass die Leichenhäuser sich flächendeckend durchsetzten. Dabei besteht bis heute keine Pflicht zur Erbauung von Leichenhäusern. Es besteht lediglich eine Dienstordnung für die Gesundheitsämter, auf die Errichtung von Leichenhallen hinzuwirken.86 Ei80
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Vgl. F. von Scheel: Bestimmungen über die Benutzung der städtischen Leichenhallen auf den Friedhöfen der Residenzstadt Cassel, Kassel: ohne Verlag 1905. Vgl. Otto Rapmund: General-Bericht über das öffentliche Gesundheitswesen des Regierungsbezirks Minden für die Jahre 1886-1888, Minden: Bruns 1889, S. 245. Vgl. Otto Rapmund: General-Bericht über das öffentliche Gesundheitswesen des Regierungsbezirks Minden für die Jahre 1889-1891, Minden: Bruns 1892, S. 222. Pettenkofer: »Über die Wahl der Begräbnisplätze«, S. 68. Vgl. Fischer: Vom Gottesacker zum Krematorium, S. 102. Vgl. ebd. Vgl. Gaedke: Handbuch des Friedhofs- und Bestattungsrechts, S. 50. Diese Dienstordnung stammt aus dem Jahr 1935. 235
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ne gesetzliche Verpflichtung war jedoch auch nicht nötig, denn Leichenhäuser wurden nach und nach fester Bestandteil der Friedhofsarchitektur. Die Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche wertete diese Entwicklung – ähnlich wie die Bielefelder protestantischen Pastoren bereits fast zwanzig Jahre früher – kritisch.87 Nicht nur der Leichenkondukt, auch der Gemeinschaft stiftende Gesang der Trauernden und »der Kunstgesang der Singvereine« verschwänden zunehmend und »friste[n] sich in der kümmerlichsten Gestalt fort«.88 Stattdessen, bedauerte der Autor, nehme die Leichenpredigt einen zentralen Platz in der Leichenfeier ein: »Nicht zum Vorteil der Kirchlichkeit des Aktes, denn das Persönliche drängt sich zu stark hervor«.89 Die Individualisierung im Prozess der Verdiesseitigung zeichnete sich so auch in der Gestaltung der Bestattungsfeier ab. Die Erinnerung an den geliebten Anderen und die Vergegenwärtigung des Verstorbenen hatten hier die Vergegenwärtigung des Todes (verstanden als Hoffnung auf das Jenseits und das Schicksal der Seele in ihrem alten Sinne) abgelöst.
Die Ausdifferenzierung des Scheintodes. Wissen, Technik, Bevölkerungsgruppen Das Verschwinden des Scheintodes aus dem öffentlichen Blickfeld ist mit der medizinischen Technik und den verbesserten ärztlichen Diagnosefähigkeiten im fortschreitenden 19. Jahrhundert begründet worden. So gibt der Medizinhistoriker Jan Bondeson an, dass die Zeit um den Ersten Weltkrieg eine solche Zäsur darstellte, an der die Medizin endgültig auf naturwissenschaftliche Grundlagen gestellt und das Vertrauen in die medizinische Profession voll ausgebildet war, sodass die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden entsprechend zurückgehen konnte.90 Neuere wissenschaftshistorische Studien bestätigen, dass Instrumente in der Medizin am Ende des 19. Jahrhunderts eine größere soziale Bedeutung erhielten. Auch das gewachsene ärztliche Selbstbewusstsein im Zuge des Professionalisierungsprozesses gehört zu den mittlerweile gesicherten medizin- und sozialgeschichtlichen Erkenntnissen.91 Bondesons Argument trifft das Verschwinden der Angst vor dem
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236
Vgl. »Begräbnis«, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 2, S. 529. Ebd. Ebd., S. 530. Vgl. Bondeson: Buried Alive, S. 258. Vgl. Volker Hess (Hg.): Normierung der Gesundheit. Messende Verfahren der Medizin als kulturelle Praktik um 1900, Husum: Matthiesen
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Lebendigbegrabenwerden jedoch nur teilweise. Der Scheintod verschwand nämlich nicht, weil die Techniken der Todesfeststellung effektiver geworden wären und die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens dadurch tatsächlich vermindert hätten. Bondesons These erscheint nur deshalb so einleuchtend, weil sie dem Glauben einer zunehmend verwissenschaftlichen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts an die Objektivität durch Instrumente und Technik entspricht. Einige Gegenevidenzen, die dazu angeführt werden können, sollen hier deshalb ins Gedächtnis gerufen und kurz erläutert werden. In der Debatte um die Unsicherheit der Todeszeichen standen sich von Anfang an, also seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, die Mediziner, die eine Eindeutigkeit postulierten und diejenigen, die die bisher gültigen Todeskriterien nicht ausreichend fanden, gegenüber. So argumentierte der französische Arzt Antoine Louis bereits 1752 gegen Bruhier, dass der Tod mit den richtigen Techniken leicht festzustellen sei, und meinte durchaus, zuverlässige Techniken schon zu jenem Zeitpunkt zur Verfügung zu haben und nicht erst in der Zukunft entwickeln zu müssen. Obwohl Ärzte im Jahr 1752 noch nicht über Instrumente wie das Stethoskop verfügten, fand Louis seine eigene Sinneswahrnehmung und Urteilskraft völlig ausreichend, um den »Pulsschlag zu fühlen« oder mithilfe eines Spiegels oder einer Feder den Atem festzustellen.92 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Möglichkeiten der Todesfeststellung entsprechend auch nicht im wörtlichen Sinne »sicherer«: Die zunehmende Bedeutung der technischen Geräte und den medizinischen Instrumenten in Äußerungen der Mediziner zur Todesfeststellung ist eher dem epistemologischen Wandel geschuldet, der alle Naturwissenschaften und auch die Medizin erfasste. Die Anforderungen an Wahrheitskriterien verschoben sich, sie richteten sich darauf, den menschlichen Eingriff, das subjektive Urteil, möglichst weit auszuschalten.93 Apparate wie die Kamera oder Messinstrumente wie das Fieberthermometer versprachen größere Authentizität in der Repräsentation natürlicher Phänomene. Sie konnten, so schien es, Beobachtungen objektiver abbilden als das interpretierende Urteil des Gelehrten. Objektivität wurde nicht mehr in erster Linie durch das erfahrungsbasierte Experten- und Gelehrtenurteil, sondern mittels Instrumenten hergestellt. So kann aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive die erfolgreiche Professionalisierung der Ärzte um das Argument ergänzt werden, dass mit dem zunehmenden gesellschaftlichen
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1997 (= Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Bd. 82); Lachmund: Der abgehorchte Körper. Louis: »Briefe über die Gewißheit der Todeszeichen«, S. 649. Vgl. Daston: »Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität«, S. 153. 237
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Vertrauen in die Technik und mit der wachsenden Akzeptanz der neuen Objektivitätskriterien auch die Autorität der Mediziner wuchs. Eine weitere Evidenz, die gegen eine kausale Beziehung zwischen der medizinischen Wissensvermehrung und dem Verschwinden des Scheintodes aus der Öffentlichkeit spricht, ist der Befund, dass die Publikationsflut über den Scheintod bereits zurückging, bevor die Medizin zur Naturwissenschaft wurde und Technik und Instrumente wissenschaftliche Autorität beförderten. Jan Bondeson hat ausgezählt, dass die Veröffentlichungen nur noch punktuell anstiegen, beispielsweise dann, wenn wie 1837 oder 1867 in Frankreich Preise zur Erfindung der sichersten Methode zur Feststellung des Todes ausgeschrieben wurden.94 Das dritte Argument gegen einen die Abkehr von der Scheintodangst vermeintlich erklärenden medizinischen Fortschritt, das an dieser Stelle nur kurz genannt werden soll und erst im letzten Abschnitt dieses Kapitels ausführlicher behandelt wird, besteht in der Umdeutung des Scheintodes als Volksaberglauben in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Um zu erklären, weshalb der Scheintod die Gemüter im Lauf des 19. Jahrhunderts immer weniger beunruhigte, bedarf es also anderer Erklärungen. Im Folgenden wird deshalb argumentiert, dass das Phänomen Scheintod mehrere Formwechsel erfuhr: Der Scheintod ging in die verschiedenen sich ausdifferenzierenden medizinischen Bereiche ein und verschwand aus der breiteren Öffentlichkeit in die Erste Hilfe, die Gerichtsmedizin und die Geburtshilfe. Die wissenschaftlichen Fragen, die bis dahin mit dem Scheintod verbunden waren, lösten sich selbstverständlich nicht einfach auf: Um Fragen der Todesfeststellung und der unklaren Todesursachen kümmerte sich beispielsweise nun die Gerichtsmedizin. Daneben tauchte der Scheintod weiterhin dann auf, wenn es um bevölkerungspolitisch wichtige Gruppen ging, neben den Unfallopfern waren dies die Neugeborenen.
Caspar Kreite 1842. Neue Objektivitätskriterien und die Verschiebung der Todesfeststellung in die Forensik Kreisphysikus Schmidt hatte 1833 seinen Patienten Caspar Kreite für scheintot gehalten, weil er den Eintritt des Todes nicht eindeutig hatte feststellen können. Zwar war kein Herzschlag mehr hörbar und auch hatte Kreite nicht mehr geatmet, Schmidt war sich trotzdem nicht sicher gewesen: »Dass Puls- und Athemlosigkeit, kalte Erstarrung der Gliedmassen, Zurückziehung der Augen kein sicheres Todeszeichen ab94 238
Vgl. Bondeson: Buried Alive, S. 267.
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geben, beweist die tägliche Erfahrung an krampfhaften Patienten«.95 Schmidt wollte sich jedoch auf die mit seinen eigenen Sinnen überprüfbaren Zeichen des Todes nicht verlassen. Dabei hatte er zur Unterstützung seiner sinnlichen Wahrnehmung das von dem französischen Mediziner René Laënnec 1819 entwickelte Stethoskop benutzt, das dem Arzt das Vorhandensein des Herzschlags übermittelte. Auch Schmidt hatte damit die Herztöne geprüft. Bei Kreite habe er jedoch »auch mittelst des Stethoskops keine Spur von Herzschlag«96 entdecken können. Letzte Sicherheit, den Tod festzustellen, bot Schmidt dieses technische Instrument nicht. Schmidt, der sich in seiner Funktion als Amtsarzt und im Gegensatz zum Paderborner katholischen Priester Schumacher als progressiver Vertreter der Leichenhäuser und moderner Verfechter des prozessualen Todesverständnisses präsentierte, gründete sein Urteil auf das Wissen der romantischen Naturphilosophie. Die Lebenskraftlehre ließ sich empirisch nur schwer überprüfen. Das Wissen um natürliche, aber unsichtbare Kräfte, deren Präsenz oder Absenz über Leben und Tod entschied, konnte viel schwieriger mit Techniken erfasst werden als Theorien, die Leben und Tod an den physikalischen und chemischen Prozessen des Körpers festmachten. So gründete sich Schmidts Urteil genau auf dieser Unsicherheit, dass er nämlich trotz Stethoskops und dem Wissen über sichere und unsichere Todeszeichen nicht eindeutig feststellen konnte, ob sich noch Lebenskräfte im Körper befanden oder nicht. Wie sich einige Jahre später zeigte, als der Fall Caspar Kreite noch einmal aufgerollt wurde und sich der Übergang zur naturwissenschaftlich basierten Medizin ankündigte, stieß die romantische Medizin in diesem Punkt an ihre Grenzen. Sie galt dann nicht mehr als Speerspitze der Medizin, sondern musste zugunsten einer empirisch-experimentell fundierten Medizin zurücktreten. Neun Jahre später, 1842, dem Jahr, in dem Schmidt im Paderborner Bistum um die Einführung eines neuen Beerdigungsritus ersuchte, wurde der Fall Caspar Kreite von 1833 nochmals aufgegriffen. In der Medicinischen Zeitschrift herausgegeben von dem Verein für Heilkunde in Preussen wurde abermals darüber verhandelt, wie und ob der Tod eindeutig festgestellt werden könne, und ob es sich bei Caspar Kreite um einen Scheintoten gehandelt habe oder nicht. In diesem Artikel kam Doktor Pieper, ebenfalls Arzt in Paderborn und ein Kollege Schmidts, zu einer unmissverständlichen Aussage: Caspar Kreite sei nicht zwanzig Tage lang scheintot gewesen, sondern sei gleich verstorben. Pieper
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Schmidt: »Ueber Leichenhäuser«, S. 391. Ebd., S. 392. 239
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selbst sei im Paderborner Krankenhaus gewesen und habe Kreite untersucht: »Die charakteristischen Zeichen konnten bei mir keinen Zweifel lassen, dass Kreite schon seit mehreren Tagen todt sein müsse«.97 Was Schmidt als uneindeutige Todeszeichen deklariert hatte, war nach Piepers Meinung nur missdeutet worden. Die Nonne habe »auf der kalten, todten Hand in ihren eigenen Fingerspitzen den eigenen Puls zittern« fühlen, lautete sein Urteil über die nichtakademischen Zeugen, und »welcher Leichenwärter hätte nicht oft gesehen, dass bei einer Leiche eine Hand durch die eigene Schwere herabsinkt und sich dann, wegen des Mechanismus der Gelenke, im Fallen meistens umdreht.«98 Pieper schloss mit der Einschätzung, »dass der angebliche Scheintod des Kreite zu sehr auf individuellen Ansichten, zu wenig auf empirischen Wahrnehmungen beruhte, als dass man den Fall zur Grundlage irgend eines Beweises benutzen könnte«.99 Was sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts einstellte und wofür Piepers Darstellung steht, ist das Aufkommen eines größeren ärztlichen Selbstbewusstseins, das sich aus einem höheren Vertrauen in medizinische Diagnosefähigkeiten speiste. Dieses Selbstbewusstsein wurde durch die Verbesserung technischer Geräte wie das schon erwähnte Hörrohr oder das Fieberthermometer erreicht, stützte sich auf physikalische Methoden wie das Abklopfen und basierte auf einer stärker empirischexperimentell orientierten Medizin. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein entscheidender Wandel in der Medizin, nämlich der Übergang von der naturphilosophischen Physiologie zur Entstehung der modernen empirisch-experimentellen Physiologie und der Solidarpathologie.100 Von diesem Wandel war 1833 in Paderborn noch wenig zu merken gewesen, aber mit Doktor Pieper kündigte sich die Abkehr von der romantischen Naturphilosophie an. Mit dem Übergang von der romantischen Naturphilosophie zur naturwissenschaftlich orientierten Medizin nämlich veränderte sich das Verhältnis zum Instrument. Der Arzt benutzte nun seine Hände, Augen und Ohren, um Organe zu fühlen und Unregelmäßigkeiten zu ertasten, Herztöne oder Lungengeräusche zu 97
Ph. A. Pieper: »War der im Jahre 1833 im Hospitale zu Paderborn angeblich beobachtete Scheintodte wirklich ein solcher?«, in: Medicinische Zeitung von dem Verein für Heilkunde in Preussen 11 (1842), S. 135137, S. 135. 98 Ebd., S. 136. 99 Ebd., S. 137. 100 Die Betrachtung der festen (soliden) Bestandteile des Körpers (Organe, oder Gewebe), die nunmehr als Sitz von Krankheit, ihre abnormen Veränderungen als die Krankheit selbst bezeichnet wurden, war auch entscheidend für die Herausbildung des so genannten ärztlichen Blicks, vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik. 240
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hören. Bevor die physikalischen Untersuchungsmethoden, die Palpation, Perkussion und Auskultation, im Zuge der Solidarpathologie in die Medizin eingeführt wurden, setzte der Arzt seine Ohren ein, um die Selbstbeschreibung des Patienten zu hören und mit den Augen wurde der Urin (Säfte) betrachtet, die Zunge oder die Haut angesehen. Dieser Übergang ist auch als Wandel von der semiotischen zur diagnostischen Medizin beschrieben worden.101 Gemeint ist mit der semiotischen Medizin, dass der Arzt die körperlich-individuellen Zeichen (Verfärbung der Zunge oder des Urins) seines Patienten deuten musste und auf die Selbstwahrnehmung des Patienten angewiesen war. Die Instrumente hingegen objektivierten die sinnliche Wahrnehmung. So ist Piepers Urteil, bei Schmidts Aussagen handele es sich um ein subjektives Einzelurteil, das zu wenig auf Empirie beruhe, als Kritik vor dem Hintergrund des neuen Verständnisses von Objektivität zu verstehen. Die Wahrheitskriterien verschoben sich darauf, die Subjektivität des Forschers oder des Arztes als Objektivitätskriterium zu beschneiden.102 Die Objektivierung des ärztlichen Urteils erfolgte mittels Instrumenten, sie korrespondierte aber auch mit einer Krankheitsauffassung, die sich im Gegenzug nicht mehr auf die subjektiv erzählte und individuell verlaufende Krankengeschichte verlassen musste, sondern Krankheiten als diskrete Einheiten beschreiben konnte. Gemeint war damit, dass Krankheiten mit den von pathologischen Anatomen beobachteten strukturellen Veränderungen des materiellen Organs gleichgesetzt wurden, und die Krankheit nicht ein Symptombündel darstellte, das von klimatischen Einflüssen, persönlicher Konstitution und vom Mischungsverhältnis der Säfte abhing und für jeden Krankheitsverlauf anders war. Es handelte sich dabei um eine lokalistische und damit quasi statische Sicht auf Krankheiten, die Pathologen als Abweichungen des Normalen beschrieben. Sie betrachteten das gesunde Organ, das den Normalzustand darstellte, und konnten Abweichungen – strukturelle und funktionale Veränderungen – als das Pathologische definieren. Die Generation von Rudolf Virchow verkörperte in Deutschland den Arzt, der für die Vernaturwissenschaftlichung der Medizin stand und eine Abkehr von der Romantik einforderte.103 Hier, im Jahr 1842 deuteten sich die ersten Umbrüche durch die empirisch-experimentelle Medizin bereits an, war die 101 Vgl. William F. Bynum: Science and the Practice of Medicine in the Nineteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 1994, S. 33; Volker Hess: Von der semiotischen zur diagnostischen Medizin. Die Entstehung der klinischen Methode zwischen 1750 und 1850, Husum: Matthiesen 1993 (= Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Bd. 66). 102 Vgl. Daston: »Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität«, S. 153. 103 Vgl. Bynum: Science and the Practice of Medicine, S. 98. 241
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Übergangszeit von Ungleichzeitigkeiten geprägt.104 So benutzte Doktor Schmidt, der Arzt der romantischen Naturphilosophie, das Stethoskop, ein Instrument zur Objektivierung körperlicher Zustände, obwohl es für die Überprüfung von Lebenskräften nicht besonders geeignet war. Instrumente und Technik kamen dann zu ihrem vollen Recht und hatten ihren stärksten Einsatz, als es in der Medizin darum ging, naturwissenschaftliche, das heißt physikalische und chemische, Prozesse im Körper zu überprüfen. Doktor Pieper jedenfalls zog aus dem Fall Caspar Kreite einen ganz anderen Schluss als Schmidt. Seine Untersuchung von Kreite führte ihn nicht dazu, die Errichtung von Leichenhäusern zur primären Konsequenz seines Urteils zu erklären. Stattdessen wies er darauf hin, dass die »retardirte Fäulnis« des Patienten interessant sei und dass die künftige Forschung auf diesen Befund ihr Augenmerk richten sollte.105 Die Untersuchung der »retardirten Fäulnis« könne womöglich Aufschluss über den genauen Todesprozess geben und dazu beitragen, die körperlichen Vorgänge beim Sterben zu verstehen. Diese Äußerung verweist darauf, dass die Wissenschaft die neue Anthropologie, verbunden mit dem Verständnis des Todes als eines Prozesses, bei dem die körperlichen Funktionen versagen, weiter befestigte. Sie wollte ihre Kenntnisse über den Sterbevorgang, verstanden als das allmähliche Versagen der körperlichen Funktionen, immer weiter ausbauen. Die Gefahr, einen Scheintod als Tod zu missdeuten, lag dann nicht mehr an der empirischen Schwierigkeit, die Präsenz oder Anwesenheit der Lebenskraft festzustellen, sondern daran – das machte eine Definition des Todes aus dem Brockhaus Jahre später deutlich – dass »wir doch über die dabei stattfindenden Vorgänge im Körper […] gar keine oder nur sehr unvollkommene Kenntniß« besitzen.106 Somit wurden Lebensvorgänge im Übergang zur naturwissenschaftlichen Medizin zu physikalischen und chemischen Prozessen, der Organismus war nicht mehr durchzogen von besonderen vitalen Kräften wie der Lebenskraft. Für die Geschichte des Scheintodes kommt damit zusammenfassend eine Definition des Lebens zum Tragen, die sich von der mittelalterlichchristlichen Anthropologie verabschiedet hatte und nur vor dem Hintergrund des Entstehens einer modernen Anthropologie zu verstehen war. 104 Jardine argumentiert sogar, dass die Experimentalwissenschaft der rigorosen Analyse des französischen Wissenschaftsstils genauso viel wie der deutschen ›Eigentümlichkeit‹ schuldete. Vgl. Jardine: »Naturphilosophie and the Kingdoms of Nature«, S. 244. 105 Pieper: »War der im Jahr 1833 im Hospitale zu Paderborn«, S. 136. 106 »Tod«, in: Brockhaus’ Conversations-Lexikon, Leipzig, 10. Aufl., Bd. 15, S. 112-113, S. 112. 242
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So konnte für das 18. Jahrhundert ein Lebensbegriff identifiziert werden, für den Descartes’ Rationalismus verantwortlich zeichnete. Die Trennung von res cogitans und res extensa führte zu der Frage, wie Leben in den Körper hineinkam und wie es wieder aus dem Körper entwich. Zur Beantwortung dieser Frage hat die Naturforschung seit dem 18. Jahrhundert Lebenskraftlehren bemüht, das heißt, die Existenz der Natur innewohnender Kräfte – unsichtbar, aber natürlich – wurden für die Erklärung des Lebendigen herangezogen. »Lebenskraft« verweist dabei auf eine neuzeitliche Anthropologie, in der das Leben nicht mehr mit der gottgegebenen, unsterblichen Seele gleichgesetzt wurde, sondern mit in der Natur befindlichen Kräften. Sichtbar schienen diese Kräfte für die Naturforscher des ausgehenden 18. Jahrhunderts bei verschiedenen Experimenten zu sein: Wenn einem Huhn der Kopf abgetrennt wurde und es sich dennoch bewegte, oder wenn ein Herz aus dem Körper genommen wurde und es trotzdem kurzzeitig noch schlug, galten diese Beispiele als Beweise für das Vorhandensein von Lebenskräften. Aus der Sicht der naturwissenschaftlichen Medizin seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und vom Standpunkt der gegenwärtigen Wissenschaft betrachtet, erscheint die Rede von Lebenskräften unwissenschaftlich, wenn nicht sogar esoterisch. Die Lebenskraftlehre galt bis zum Ende der Romantik und wurde abgelöst durch naturwissenschaftliche – physikalische und chemische – Erklärungen, um die Vorgänge des Lebens zu beschreiben. Zur Erforschung der Funktionsweise einzelner Körperteile wurde nun wie in der Physik oder Chemie vermehrt experimentell gearbeitet. Der Tierversuch rückte zur wichtigsten Methode auf. Die moderne empirisch-experimentelle Physiologie verabschiedete endgültig den Vitalismus, die Idee also, dass Krankheiten mit Behinderungen des Flusses der sogenannten »Lebenskraft« zu tun hätten. Der »Geist« verschwand aus der Medizin. Die romantische Naturphilosophie hielt sich in der wissenschaftlichen Medizin in den deutschen Landen jedoch noch deutlich länger als beispielsweise in Frankreich. Auch hier gab es Ungleichzeitigkeiten. Noch in den 1840er Jahren verfasste der Bonner Professor Friedrich Nasse ein naturphilosophisches Buch über den Scheintod, das ganz im Zeichen der Lebenskrafttheorie stand.107 1828 jedoch hatte der Chemiker Friedrich Wöhler (1800-1882) »organischen« Harnstoff aus der »anorganischen« Substanz Ammoniumcyanat synthetisiert und damit einen Hinweis geliefert, dass der von den romantischen Naturphilosophen postulierte Vitalismus so nicht haltbar war. Weitere 107 Vgl. Friedrich Nasse: Die Unterscheidung des Scheintodes vom wirklichen Tode; zur Beruhigung über die Gefahr, lebendig begraben zu werden, Bonn: Habicht 1841. 243
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Meilensteine auf dem Weg zur Beschreibung des Lebens in Form von chemischen Prozessen und physikalischen Gesetzen war Hermann von Helmholtz’ (1821-1894) Gesetz von der Erhaltung der Kraft oder Energie aus dem Jahr 1847 und Emil DuBois-Reymond (1818-1896), der den Lebenskraftbegriff mit dem Energieerhaltungssatz widerlegte. Er begründete die Elektrophysiologie mit Untersuchungen über bioelektrische Erscheinungen in Muskeln und Nerven und führte den Mechanismus in der Physiologie wieder ein.108 Ende des 19. Jahrhunderts hieß es in einem Lexikonartikel entsprechend: »Das Unvermögen, die Lebensvorgänge auf bekannte Gesetze zurückzuführen, führte zur Annahme von Lebenskräften«.109 Heute verwerfe man jedoch diese Annahme. 1847 hatten Helmholtz, DuBois-Reymond und Ernst Brücke, ein weiterer Experimentalphysiologe, die gemeinsam in Carl Ludwigs »Physiologischer Anstalt« in Leipzig – dem Inbegriff der Labormedizin schlechthin – arbeiteten, ein Manifest der Experimentalphysiologie verfasst. Das Ziel aller physiologischen Forschung müsse darin bestehen, die Vorgänge des Lebendigen auf physikalische und chemische Gesetze zurückzuführen. Gemeinsam mit Rudolf Virchow (1821-1902), der mithilfe des Mikroskops grundlegende Forschungen über Zellen und Gewebe betrieben hatte und die Zellularpathologie begründete, wurde in dieser Zeit der naturwissenschaftlich ausgebildete Arzt als medizinischer Experte geboren.110 Veränderte also die naturwissenschaftlich basierte Medizin die Methoden und Kriterien der Todesfeststellung? Ja und Nein. Die Kriterien des Todes, der Stillstand der Herz- und Atemtätigkeit, die Trübung der Augen, die später einsetzende Leichen- und Totenstarre und schließlich die Verwesung blieben dieselben.111 Sie waren bereits von den Ärzten der Aufklärung formuliert worden. Die Techniken, diese Kriterien festzustellen, wurden jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts erweitert, wobei medizinische Instrumente eine größere Rolle spielten. Sie wurden zu Autoritätsemblemen der Ärzte. Die Methoden der Todesfeststellung wurden dabei nicht im wörtlichen Sinne »sicherer« und noch weniger richtig wäre es zu sagen, die Ärzte hätten erst im 19. Jahrhundert gelernt, die richtigen Techniken zur Feststellung des Todes zu entwickeln. Bis weit ins 19. Jahrhundert wurden die aus dem Alltag bekannten Techniken in den einschlägigen Lehrbüchern aufgeführt: die sich durch den Atem bewegende Feder, Puls fühlen oder der beschlagen108 109 110 111
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Vgl. Bynum: Science and the Practice of Medicine, S. 97. Zit. nach »Lebenskraft«, in: HWP, Bd. 5, Sp. 127. Vgl. Bynum: Science and the Practice of Medicine, S. 98. So gilt auch heute noch Steffen P. Berg: Grundriß der Rechtsmedizin, München: Müller und Steinicke 121984, S. 130-146.
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de Spiegel informierten über die Atemtätigkeit.112 Daneben wurden weiterhin Brandproben durchgeführt, indem Wachs oder heißes Wasser auf die Haut geträufelt und auf eine Rötung gewartet wurde. Daneben half das Stethoskop, die Herztöne festzustellen. In manchen Fällen wurde das Thermometer eingesetzt: Sank die Temperatur im Mastdarm unter 27 Grad, konnte der Arzt davon ausgehen, dass der Patient tot war.113 Erst viel später, im 20. Jahrhundert, wurden EKG und EEG eingesetzt, um die Herz- und Hirntätigkeit überprüfen zu können.114 Instrumente wie das Thermometer aber auch die Uhr halfen, präzisere Prognosen über den Eintritt des Todes und die Dauer des Sterbeprozesses zu treffen: »Zunächst erschienen Puls und Temperatur in ihren extremen Höhen und Tiefen hiefür ein sicheres Prognostikum zu sein; doch sind die Fälle, wo man durch den Puls mit Sicherheit auf den Tod schliessen kann, wie z.B. sehr frequenter oder fadenförmiger Puls bei Sepsis, Kindbettfieber etc. sehr beschränkt. Bei grossen Blutverlusten lässt dieses Kriterium nach sicheren Anzeichen für den herannahenden Tod zu suchen ganz im Stich; so konnte ich z.B. bei Placenta praevia den Puls wiederholt nicht im geringsten fühlen oder gar zählen, und doch gelang es die Patientin am Leben zu erhalten. Das gleiche gilt von hohen Temperaturen. Die Vereinigung von Puls- und Temperaturkurve, wie sie die berüchtigte Totenkreuzkurve darstellt, tritt nur bei wenigen Infektionskrankheiten, besonders bei Pneumonien in Erscheinung.«115
So verschwand der Scheintod nicht, weil die naturwissenschaftliche Medizin ihn obsolet gemacht hätte. Es wurde vielmehr Wissen über die physiologischen Vorgänge des Sterbens gewonnen und es differenzierten sich die Untersuchungsbereiche, in denen dieser Frage nachgegangen wurde, aus. Das seit der Aufklärung etablierte Verständnis des Todes als eines Prozesses, bei dem die körperlichen Funktionen versagen, blieb von der sich ausdifferenzierenden Wissenschaft jedoch unangetastet. Die naturwissenschaftliche Medizin stand für ein größeres Vertrauen, das die bürgerliche Gesellschaft in die medizinischen Instrumente und Techniken, mithin in die wissenschaftliche Medizin selbst setzte. Die Instrumente halfen dabei, sich des neuen Todesverständnisses zu
112 Vgl. »Scheintod und Wiederbelebung«, in: Real-Encyklopädie der gesamten Heilkunde. Medizinisch-chirurgisches Handwörterbuch für praktische Ärzte, hg. v. Albert Eulenburg, Berlin/Wien: Urban & Schwarzenberg 41913, Bd. 13, S. 149-164, S. 149. 113 Vgl. ebd., S. 150. 114 Vgl. Otto Prokop/Werner Göhler (Hg.): Forensische Medizin, Stuttgart/ New York: Fischer 1976, S. 15. 115 Otto Rüdel: »Ein sicheres Zeichen des Todes«, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 66 (1919), S. 1422. 245
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vergewissern. Der Scheintod, oder vielmehr die verschiedenen Fragen, die damit verbunden waren, fanden parallel dazu Eingang in die verschiedenen Einzelbereiche der Medizin. So hat sich die Gerichtsmedizin im Laufe des 19. Jahrhunderts etwaigen Unklarheiten bezüglich der Todesfeststellung angenommen. Mit welchen Mitteln der Tod zuverlässig festgestellt werden konnte, und wie sich eindeutige von uneindeutigen Todeszeichen unterschieden, blieb Diskussionsgegenstand von Pathologen und in den wissenschaftlichen Zeitschriften der Gerichtsmediziner und öffentlichen Gesundheitspflege besprochen. In Lehrbüchern der Gerichtsmedizin lassen sich entsprechend Abschnitte finden, in denen Todeszeichen erläutert werden, um einen Scheintod auszuschließen. Im Handbuch der gerichtlich-medicinischen Leichendiagnostik von 1853 äußerte sich der Autor, der Berliner Gerichtsmediziner Johann Ludwig Casper (1796-1864), über die Fähigkeiten der Gerichtsmedizin: »Man hat sich, in der zur Tradition gewordenen Besorgniss, den Tod nicht mit dem Scheintod zu verwechseln, immer und immer wieder bemüht, neue ›sichere‹ Zeichen des Todes zu entdecken. Ich nenne unter den neuern Bemühungen nur Frank’s Angabe von der Leichtlöslichkeit der Conjunctiva von der Cornea, Nasse’s Thanatometer u.s.w. Dergleichen sind wissenschaftliche Curiosa. Die allbekannten Zeichen des Todes reichen ganz vollkommen für die Diagnose aus, und die gerichtliche Medizin könnte sich glücklich schätzen, wenn sie auf alle Fragen eine so apodictisch sichere Antwort zu geben hätte.«116
Faktisch blieben die Kennzeichen des Todes dieselben: »Respiration und Circulation hat aufgehört. […] [N]ach dem Tod erlischt der Glanz des Auges«, die Reizfähigkeit des Körpers kommt zum Erliegen, der Körper erbleicht und verliert seine Wärme.117 Die Kriterien zur Feststellung des Todes unterschieden sich nicht von dem Katalog, den die Aufklärer erstellt hatten. Fast 50 Jahre später konnten diese Zeichen zeitlich präzisiert werden: Nach dem Stillstand des Herzens und der Respiration, so ein Lehrbuch der Gerichtsmedizin,
116 Johann Ludwig Casper: Handbuch der gerichtlich-medicinischen Leichendiagnostik, Berlin: Hirschwald 1853, S. 18-19; vgl. auch G. H. Nicolai: Handbuch der gerichtlichen Medicin nach dem gegenwärtigen Standpunkte dieser Wissenschaft für Ärzte und Criminalisten, Berlin: Hirschwald 1841, S. 180-183; Eduard Ritter von Hofmann: »Die forensisch wichtigsten Leichenerscheinungen«, in: Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen 25 (1876), S. 229261. 117 Casper: Handbuch der gerichtlich-medicinischen Leichendiagnostik, S. 18. 246
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»erhalten sich noch gewisse Lebensäußerungen in den Geweben durch einige Zeit. Hierher gehört die elektro-musculäre Reizbarkeit, die an Spitalsleichen noch 2-4 Stunden p.[ost] m.[ortem], an Choleraleichen noch ½ -2 Stunden constatiert wurden, die Reactionsfähigkeit der Pupille reagiert noch in den ersten vier Stunden nach dem Tode auf Atropin [hochgiftiges Alkaloid, das aus Nachtschattengewächsen gewonnen wird]«.118
Auch die »Geburt im Sarg«, ein Vorkommnis, das in den Kasuistiken der Aufklärer ein Beweis für eine frühzeitige Bestattung war und von Clemens von Brentano und Achim von Arnim als Lied in Des Knaben Wunderhorn einging, wurde Gegenstand der Gerichtsmedizin. Durch den Fäulnisgasdruck konnte es bei verstorbenen Schwangeren geschehen, dass der Fötus durch das Becken gepresst wurde. Frau und Kind waren jedoch schon tot.119 Während die Frage der Todesfeststellung in den Bereich der Gerichtsmedizin wanderte und die unklaren Todesursachen in den Blick nahm, gab es Überschneidungen mit anderen medizinischen Spezialdisziplinen, insbesondere der Ersten Hilfe und der Säuglingspflege. Wie sich diese Schnittmengen in Bezug auf den Umgang mit dem Scheintod äußerten, sei im folgenden Abschnitt dargestellt.
Weitere Spezialdiskurse. Bevölkerungspolitisch wichtige Gruppen behalten soziale Dringlichkeit Im Zuge der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums wurden die Heilung und die Sorge um das einzelne Individuum zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem. Die Ärzte und Wissenschaftler mussten sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge von Industrialisierung und Bevölkerungswachstum mit einem Wandel der gesellschaftlichen Problemlagen auseinandersetzen, durch die das Individuum der Aufklärung als Teil der Gesamtgesellschaft thematisiert wurde und welches in den Bemühungen um die medizinische Versorgung der Gesellschaft aufging. Dadurch sprachen die Ärzte nicht mehr in erster Linie über den individuellen Patienten, sondern weite Teile der Bevölkerung gerieten in den Mittelpunkt des ärztlichen Interesses. Nicht zufällig beschäftigten sich bürgerliche Wissenschaftler mit dem Aufräumen der Städte durch großangelegte Hygienemaßnahmen und interessierten sich 118 Eduard Ritter von Hofmann: Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, Wien/ Leipzig: Urban & Schwarzenberg 61893, S. 802 f. 119 Vgl. »Sarggeburt«, in: Klinisches Wörterbuch, S. 366; Hofmann: Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, S. 813. 247
SCHEINTOD
für Statistik. Das Interesse an Statistik und der Verbesserung der sanitären Verhältnisse und Lebensbedingungen können unter diesem Blickwinkel als Maßnahmen gelten, sich des Problems der entstehenden Industriegesellschaft anzunehmen. Dieser Wandel gesellschaftlicher Problemlagen wirkte sich auch auf den Scheintod aus, indem bevölkerungspolitisch wichtige Gruppen, die vom Scheintod betroffen sein konnten – Unfallopfer beispielsweise – in den Diskurs über das Rettungswesen eingingen. Die Real-Enzyklopädie für die gesamte Heilkunde nach der Jahrhundertwende 1900 machte diesen Wandel der Blickrichtung allein dadurch deutlich, dass sie den Eintrag zum Scheintod »Scheintod und Wiederbelebung« nannte. So begann der Artikel mit einer kurzen Definition des Scheintodes, um dann über mehrere Seiten die neuesten Techniken der Wiederbelebung vorzustellen, weil der Zustand »durch zweckmäßige Eingriffe gebessert werden« könne, »so daß das Leben erhalten wird und vollkommene Erholung eintritt«.120 Dazu konnten die verschiedensten Techniken, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten, dargestellt und diskutiert werden: Die richtige Ausführung der Herzmassage wurde ebenso ausführlich erklärt wie die Bewegung der Arme und des Brustkorbs, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu setzen.121 Eine neue Methode, die auch Gegenstand der einschlägigen medizinischen Wochenschriften wurde, bestand in der künstlichen Beatmung.122 Der Scheintod verschwand also nicht einfach aus dem medizinischen Diskurs, sondern wurde mittels Erkenntnissen über künstliche Beatmung oder die richtige Anwendung von Sauerstoffgeräten thematisiert.
120 »Scheintod und Wiederbelebung«, in: Real-Encyklopädie der gesamten Heilkunde, Bd. 13, S. 149. 121 Vgl. auch Alexander Willem Michiel van Hasselt: Die Lehre vom Tode und vom Scheintode, Braunschweig: Vieweg 1862 sowie einzelne Beiträge wie: »Betreffend das Verfahren zur Wiederbelebung Ertrunkener«, in: Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medizin, N.F. 2 (1865), S. 371; G. Schmidt: »Ueber das Bewegen des Körpers Scheintoter zur Wiederbelebung«, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 66 (1919), S. 1036; Ernst Sehrt: »Die heutigen Richtlinien der Behandlung der Ertrinkung«, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 82 (1935), S. 1200. 122 Vgl. George Meyer/A. Loewy: »Über die manuelle künstliche Atmung Erwachsener«, in: Berliner Klinische Wochenschrift 45 (1908), S. 11341141; dies.: »Zur Frage der manuellen künstlichen Atmung Erwachsener«, in: Berliner klinische Wochenschrift 46 (1909), S. 207-208; E.A. Schäfer: »Künstliche Atmung bei Scheintod durch Ertrinken«, in: Berliner klinische Wochenschrift 46 (1909), S. 579-583. 248
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Das Rettungswesen wurde dann im Kaiserreich planmäßig organisiert und flächendeckend eingerichtet.123 Es erhielt einen Schub durch die Einführung der Sozialversicherung in den 1880er Jahren, zu der auch die Unfallversicherung zählte. Diese Gesetzesnovellen führten zu Einrichtungen, die an das Programm der Aufklärung anschlossen. Aus den einzelnen Unglücksfällen, den Ertrunkenen, Erwürgten und Verschütteten der Aufklärung, waren allgemeine Gefahren geworden, denen Arbeiter im Zeitalter der Industrialisierung ausgesetzt waren und gegen die Arbeiterschutzgesetze eingeführt wurden. Die Arbeiter gegen Unfälle zu schützen, waren dann Versuche, diese große Bevölkerungsgruppe in den Staat einzubinden. Dieser Vorgang verweist auf den Wandel der gesellschaftlichen Problemlagen, mit denen die Ärzte am Ende des 19. Jahrhunderts konfrontiert waren. So stellte auch die Urbanisierung und das Bevölkerungswachstum die Notfallversorgung vor neue Herausforderungen. Der Brand im Wiener Ringtheater 1881 beispielsweise machte die Notwendigkeit schneller Hilfe für eine große Anzahl von Menschen an einem kleinen Ort deutlich.124 Die Mediziner und Beamte bezogen sich in ihren Planungen auf Schriften über die Erste Hilfeim Krieg. So schloss die Neuorganisation des Rettungswesens zwar an das aufklärerische Programm des Schutzes des irdischen Lebens an, konkrete Vorschläge boten jedoch Veröffentlichungen wie die des Kieler Chirurgen Friedrich von Esmarch. Er hatte ein Buch über die Versorgung von Kriegsverletzten, basierend auf den Kriegserfahrungen von 1864, 1866 und 1870/71 geschrieben, in dem er von einer Notfallversorgung hoher Größenordnung ausging.125 Solche Abhandlungen dienten als Grundlage für die Planungen der Behörden. Dabei entstanden ambulante Versorgungsstationen, die von Ärztevereinen und Lokalvereinigungen des Roten Kreuzes oder des Arbeiter-Samariterbundes getragen wurden und mit den Polizeirevieren zusammenarbeiteten.126 Neben den Unglücksfällen zählten Neugeborene zur zweiten großen Gruppe, die vom Scheintod betroffen war. Ihnen galt entsprechend die
123 Vgl. Goldmann: Geschichte der Medizinischen Notfallversorgung, S. 104 ff. 124 Vgl. George Meyer: Das Rettungs- und Krankenbeförderungswesen im Deutschen Reiche, Jena: Fischer 1906, S. 1. 125 Vgl. Friedrich von Esmarch: Die erste Hilfe bei plötzlichen Unglücksfällen, Leipzig: Vogel 1882. 126 Vgl. Goldmann: Geschichte der Medizinischen Notfallversorgung, S. 85; S. Yandell Hendersen: »Erstickung durch Kohlenoxyd und Wiederbelebung mit Sauerstoff und Kohlendioxyd«, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 82 (1935), S. 1672-1677. 249
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zweite große Sorge der öffentlichen Gesundheitspflege.127 Die Feststellung des Todes sei bei ihnen »von jeher schwieriger […] als die Beurtheilung des Ablebens anderer menschlicher Wesen«.128 Säuglinge erlitten einen Scheintod durch Erstickung, das heißt, wenn aus verschiedenen Gründen die Sauerstoffzufuhr zwischen Mutter und Kind unterbrochen wurde. Durch das Einatmen von Fruchtwasser oder durch eine krankhafte Veränderung der Luftwege konnte ein Kind scheintot geboren werden, oder auch durch Nabelschnurumschlingung während der Geburt scheintot auf die Welt kommen. Die Mediziner unterschieden zwischen der Asphxia livida, dem sogenannten »blauen« Scheintod, wobei das Herz noch langsam schlägt und der Körper blau angelaufen ist, und der Asphyxia pallida, wobei das Kind schon ganz blutleer und bleich (pallidus) geworden ist.129 In Lehrbüchern für Hebammen war dem Scheintod und den Maßnahmen zur Reanimation ein eigenes Kapitel gewidmet.130 In den Erinnerungen einer Landhebamme um 1900 wurde von einem geglückten Wiederbelebungsfall erzählt.131 Die junge Hebamme wird nachts gerufen, weil bei einer benachbarten Bauersfrau die Wehen eingesetzt haben. Es stellt schnell sich heraus, dass die Geburt schwierig sein würde, weil das Kind falsch liegt. Der hinzugezogene Arzt muss eine Zangengeburt vornehmen, die Mutter und Kind kaum überleben. Das Kind wird geboren, ohne irgendwelche Lebenszeichen von sich zu geben. Der Arzt gibt den Säugling gleich auf, lässt die Hebamme die Nottaufe vollziehen und will es für tot erklären. Der Widerstand und das Dringen der Mutter bringen die Hebamme dazu, Wiederbelebungsmaßnahmen einzuleiten:
127 Vgl. Ludwig Knapp: Der Scheintod der Neugebornen. Seine Geschichte, klinische und gerichtsärztliche Bedeutung, 2 Bde., Wien: Braumüller 1898 und 1904; Paul Klein: »Unerwartete Wiederbelebung eines scheinbar totgeborenen Kindes«, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 69 (1922), S. 707-708. 128 Ritter: »Über Leichenschau der Neugeborenen«, in: Vierteljahrsschrift für öffentliche und gerichtliche Medicin 31 (1879), S. 370-376, S. 370. 129 Vgl. »Asphyxie«, in: Klinisches Wörterbuch, erläutert v. Dornblüth, S. 46; gleiche Definition: »Asphyxie«, in: Dornblüth. Klinisches Wörterbuch, bearb. v. W. Pschyrembel, Berlin: de Gruyter 23-261936, S. 31; vgl. auch Georg Puppe (Hg.): Atlas und Grundriss der Gerichtlichen Medizin, Bd. 2, München: J.F. Lehmann 1908, S. 574-575. 130 Vgl. beispielsweise Königl. Preußischer Minister des Innern (Hg.): Hebammen-Lehrbuch, Berlin: Springer 1912, S. 322-328. 131 Vgl. Lisbeth Burger: 40 Jahre Storchentante. Aus dem Tagebuch einer Hebamme, Recklinghausen: Paulus 1949, S. 20-25. 250
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»Viel Hoffnung hatte ich ja selbst nicht. Aber ich fing an, an dem Kindlein zu schaffen, wie es nur immer möglich ist in solchen Fällen. Mit den Schwingungen, mit künstlicher Atmung, mit heißen und kalten Wechselbädern […] was ich in der Hebammenschule einmal gesehen hatte, wandte ich an.«132
Zwei Stunden bearbeiteten die junge Hebamme und der Vater das Kind und schafften es, dass das kleine Mädchen endlich ein Lebenszeichen von sich gab: »Da […] wahrhaftig, das Kleine fing an zu atmen […] auf einmal zitterte ein Schrei durch die Luft […] es lebt!«133
Marginalisierung im medizinischen Diskurs Die Spezialisierung korrespondierte mit einer Marginalisierung des Themas im allgemeinen medizinischen Diskurs. Nur noch vereinzelte Initiativen verschafften ihm Aufmerksamkeit. So schrieb 1837 ein Medizinprofessor der Universitäten von Rom und Neapel, Professor Pietro Manni, an der französischen Akademie der Wissenschaften eine Preissumme in Höhe von 15000 Francs für denjenigen aus, der eine Untersuchungsmethode ausfindig machen konnte, den Tod vom Scheintod zu unterscheiden.134 Dieses Preisausschreiben produzierte einen neuerlichen Veröffentlichungsschub, der deutlich macht, dass es sich nicht um ein erneutes Aufflammen der Angst oder Unsicherheit handelte, sondern nur noch um die Weiterentwicklung bereits bekannter Techniken zur Todesfeststellung. Denn der Preis wurde ausgeschrieben, um ein Kennzeichen des Todes zu identifizieren, das zeitlich vor der Verwesung lag. Diesen Preis gewann, nachdem die Académie ihn zum dritten Mal ausgelobt hatte, 1849 der französische Arzt Eugène Bouchut. Die Einsendungen in den Jahren 1837 und 1842 hatte die Akademie für unzureichend befunden. In seinem »Traité des Signes de la Mort et des Moyens de Prévenir les Enterrements Prématurés« aus dem Jahr 1849 postulierte er, dass das Ausbleiben des Herzschlags für einen längeren Zeitraum die Verwesung als einzig sicheres Kennzeichen des Todes ersetzen könnte.135 Bouchuts Studie wurde 1850 unter dem Titel »Die Todeszeichen und die Mittel, vorzeitige Beerdigungen zu verhüten« ins Deutsche übersetzt und als Referenz im Brockhaus 1854 angegeben. Das sogenannte Bouchut’sche
132 Ebd., S. 23. 133 Ebd., S. 24. 134 Vgl. Madeleine Lassere: »La Peur des Inhumations Précipitées et la Mortalité ›scientifique‹ du XIXe Siècle«, in: Annales de démographie historique 1992, S. 339-342, S. 340; Bondeson: Buried Alive, S. 144. 135 Vgl. Bondeson: Buried Alive, S. 145 251
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Kennzeichen meinte dann »[d]as Verschwinden des Pulses und das Aufhören der Herzbewegungen für die Auskultation, einige Minuten nach der letzten Athembewegung«. Die »Erkennung des Todes« werde dadurch »ebenso sicher als schnell und leicht«.136 Dieses Wissen sickerte in die bürgerlichen Gesundheitsratgeber durch: »Die beste Auskunft«, um den Tod vom Scheintod zu unterscheiden, heißt es da, »giebt hier das Behorchen des Herzens, da Unhörbarkeit der Herztöne am sichersten den Tod andeutet«. Und trotzdem blieb ein Restrisiko: »Das allerdeutlichste Zeichen des Todes ist aber die nach dem Schwinden der Todtenstarre eintretende Fäulniß«.137 In einem anderen Gesundheitsratgeber wurde der Scheintod zusätzlich als höchster »Grad der Ohnmacht« spezifiziert, »mit leichenhaftem Ansehen und scheinbarem Verschwinden aller äußeren Lebenszeichen«.138 Auch hier wurde geraten, auf einen in langen Zwischentönen vernehmbaren Herzton zu achten, oder darauf, dass ätzende Substanzen auf die Haut gerieben, diese beim Lebenden rot und feucht erscheinen ließen, während sie beim Toten die Haut nur austrockneten. Im allgemeineren, übergreifenden wissenschaftlichen Diskurs änderte das Engagement einzelner Ärzte nichts an der Tatsache, dass die Frage der Todesfeststellung längst randständig geworden war. Erkenntnisse diesbezüglich wurden zwar weiter gesammelt und veröffentlicht, sie traten jedoch nur noch vereinzelt auf. 1872 veröffentlichte ein Breslauer Arzt im Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin einen Beitrag, der ein weiteres »sicheres Zeichen des eingetretenen Todes für Ärzte und Laien« präsentierte.139 Er hatte diesen Beitrag an die Pariser Akademie der Wissenschaften gesandt, die 1867 einen Preis für eine sichere Methode ausgelobt hatte, den Tod eindeutig festzustellen. Der Breslauer Arzt war in diesem Wettbewerb mit dem Vorschlag angetreten, einen Finger der vermeintlich toten Person fest zu umschnüren. Bei noch lebenden Personen werde der abgebundene Teil des Fingers bald blaurot, blieb die Färbung jedoch aus, 136 »Scheintod«, in: Brockhaus, 10. Aufl. 1854, Bd. 13, S. 485. 137 Beide Zitate in Carl Ernst Bock: Das Buch vom gesunden und kranken Menschen, Leipzig: Keil 41862, S. 190. 138 Gottlieb H.G. Jahr: Rationelle Gesundheitslehre für Jedermann, nach dem Stande der neuesten wissenschaftlichen Forschungen und Erfahrungen, Leipzig: Literarisches Institut 1870, S. 468-469, S. 468. 139 Vgl. Hugo Magnus: »Ein sicheres Zeichen des eingetretenen Todes für Aerzte und Laien«, in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin 55 (1872), S. 511-516; solche Beiträge wurden periodisch weiterhin veröffentlicht: C. Hart: »Die Zeichen des unzweifelhaft eingetretenen Todes«, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 16 (1919), S. 633-638. 252
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handelt es sich um einen Toten. Ein anderer Arzt meinte, dass das »Verhalten der Expirationsluft« Aufschluss über das baldige Eintreten des Todes gebe: »Die Ausatmungsluft nimmt nämlich bei vielen Menschen einen ausgesprochenen Leichengeruch an« und der Tod trete innerhalb von 48 Stunden ein.140 Die Wissenschaft baute ihre Kenntnisse über den Sterbevorgang immer weiter aus und befestigte damit gleichzeitig die moderne Anthropologie. Ein anderer Arzt berichtete über zwei Fälle plötzlichen Todes, bei denen beträchtliche Blutungen in den Nebennieren bei der Leichenöffnung vorgefunden wurden. »Die Ursache der Erkrankungen, denen aller Wahrscheinlichkeit nach ein septischer Prozess zugrunde lag, konnte nicht gefunden werden«.141 Neues Wissen über Sterbevorgänge zu veröffentlichen und mit der medizinischen Community zu teilen, gab es auch nach dem Verschwinden des Scheintodes aus der breiteren Öffentlichkeit. Der Vergleich zwischen den Scheintodfällen aus der Aufklärung und Romantik mit einem Scheintodfall aus dem Jahr 1919 macht die Differenz durch die Vernaturwissenschaftlichung sehr deutlich. Die naturwissenschaftlich basierte Medizin änderte die Sprache der Ärzte über den Scheintod, sie wurde nüchterner und technischer, wobei bestimmte narrative Elemente den Geschichten der Aufklärung jedoch sehr glichen. 1919 wusste ein Berliner Arzt wieder von einem Scheintodfall zu berichten, der »mindestens menschlich, aber auch medizinisch interessant ist«,142 sowie vom »rein pharmakologischen Standpunkt aus das größte Interesse«143 aufwies. Dabei ging es um eine 23jährige Kranken-
140 Rüdel: »Ein sicheres Zeichen des Todes«, S: 1422. 141 Vgl. zum Beispiel H. Kempf: »Ueber die Bedeutung von Nebennierenblutungen für den plötzlichen Tod«, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 86 (1919), S. 108; Von Engelmann: »Tod, gewaltsamer oder natürlicher?«, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 86 (1919), 82; Max von Gruber: »Kriegserfahrung über den plötzlich eingetretenen Tod – ohne direkt ersichtlichen Grund«, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 86 (1919), S. 1428. 142 E. Rautenberg: »Ein bemerkenswerter Fall von Scheintod«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 45 (1919), S. 1277-1278, S. 1277; auch erwähnt in Bertold Müller: Gerichtliche Medizin, Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer 1953 und Johannes Haedicke: Über Scheintod, Leben und Tod. Ein Beitrag zur Lehre von dem Leben und der Wiederbelebung. Zugleich eine Anleitung bei der Ausbildung von Rettungspersonal und Hebammen, Ober-Schreiberhau: Kultur und Gesundheit 1923, S. 21-22. 143 G. Joachimoglu: »Morphinvergiftung und Scheintod«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 45 (1919), S. 1413-1415, S. 1413; Wilhelm His: »Die klinisch wichtigsten Vergiftungen«, in: Ludwig Krehl (Hg.): J. v. Mirings Lehrbuch der inneren Medizin, Bd. 2, Jena: Fischer 121920, S. 253
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pflegerin – »von jeher leicht psychopathisch«144 –, die sich aus Liebeskummer mit einer Überdosis Morphium das Leben nehmen wollte. Anders als in den Scheintodgeschichten aus der Aufklärung und der Romantik, in denen die jungen Frauen krank werden, dahinsiechen, sterben und vorzeitig begraben werden, legte die junge Frau 1919 selbst Hand an. Gerettet wurde sie nicht von ihrem Geliebten, sondern ganz profan von Spaziergängern, die sie im Grunewald fanden. Der herbeigerufene Krankenwagen brachte sie zur Polizeistation, wo der Gemeindearzt Starre, Leichenblässe, Reflexlosigkeit, Fehlen von Herztönen und Herzschlag, Puls und Atmung feststellte. Auch die Siegellackprobe, bei der Wachs auf die Haut getropft wird, zeigte keine Reaktion. Der Arzt erklärte die junge Frau für tot und ließ sie in die Leichenhalle überführen. Erst der diensthabende Polizeibeamte, der die scheinbare Tote identifizieren wollte, bemerkte, dass sich die Wangen der scheinbaren Leiche gefärbt hatten und sie Kehlkopfbewegungen machte. Der Beitrag in der medizinischen Zeitschrift des Jahres 1919 zielte in seiner Darstellung auf die medizinischen Lehren bei Vergiftungen unter besonderen Umständen. Der Autor beschrieb, dass die Frau 50 ccm einer 3,5%-igen Morphiumlösung und das Schlafmittel Veronal zu sich genommen hatte – »eine unbedingt mehrfach tödliche Dosis«. Bei ihrer Ankunft im Krankenhaus war die Patientin »leichenblaß, starr, bewußtlos und völlig reaktionslos. Pupillenenge, Atmung und Puls fehlen völlig. Über dem Sternum sind die Herztöne gerade noch hörbar, als Doppelton etwa 30-40-mal in der Minute. Die Körperhaut ist blaß, die Wangen leicht zyanotisch verfärbt«.145 Nachdem die Selbstmörderin aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, wurden Kampfer und Koffein gegen die Morphiumvergiftung gegeben, eine Magenspülung vorgenommen und ein heißes Bad mit ausgiebiger Bürstung und Knetung vorgenommen. Des Weiteren wurde die Patientin mit Sauerstoff künstlich beamtet. Bei ihr wird eine Leukopenie, eine verminderte Zahl an weißen Blutkörperchen festgestellt, was häufig bei Viruserkrankungen anzutreffen ist und eine Monozytose diagnostiziert, also die Erhöhung des Monozytenanteils im Blut. Monozyten sind eine Form weißer Blutkörperchen, ein Anstieg im Blut weist ebenfalls auf eine Infektion hin. Die Ärzte waren also weniger an der Popularisierung von Wiederbelebung und Rettung interessiert, die Forschungsdiskussion befand sich darüber weit hinaus: Bemerkenswert an diesem Fall waren die Besonder676-677; H. Gödde: »Schwere Morphin- und Veronalvergiftung«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 64 (1917), S. 204-205. 144 C. Moewes: »Ein Fall von Scheintod«, in: Archiv für Kriminologie, Kriminalanthropologie und Kriminalistik 71 (1919), S. 311-315. 145 Rautenberg: »Ein bemerkenswerter Fall von Scheintod«, S. 1277. 254
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heiten bei Vergiftungserscheinungen. Wie wirkten chemische Substanzen im Körper? Welche Rolle spielten klimatische Bedingungen für die chemischen Prozesse im Körper? Rätselhaft und deshalb veröffentlichungswürdig blieb für den Arzt der Befund, dass die junge Frau 24 Stunden ohne Atmung und Blutzirkulation leben konnte. Er ging aber davon aus, dass das Zusammenwirken von Morphium und Kälte (der Fall ereignete sich am 30. Oktober) die vasomotorischen Nerven gelähmt habe und das »Lebensbedürfnis des Körpers« auf ein Minimum herabgesetzt hatte – ähnlich einem Winterschlaf. Zuletzt schlug der Autor deshalb vor, bei zweifelhaften Fällen ein EKG zurate zu ziehen. Der Pharmakologe machte darauf aufmerksam, dass basierend auf Tierversuchen und Fällen aus der Literatur als gesichert gelten könnte, dass »das Fehlen der Atmung, der Herztätigkeit und der Reflexe bei einer akuten Morphinvergiftung (dasselbe gilt auch für die Narkotika der Fettreihe) keineswegs den Tod bedeutet. Es gelingt in solchen Fällen durch Anregung des Atemzentrums mit Hautreizen und Atropin [in der Tollkirsche enthaltener Wirkstoff] in großen Dosen, einen günstigen Verlauf der Vergiftung herbeizuführen«.146
Gerichtsmedizinisch wurde darauf hingewiesen, dass derartige Fälle nur dadurch zu vermeiden seien, »gesetzlich eine Einsargung und die Ausfüllung des Totenscheins vor Ablauf der ersten vierundzwanzig Stunden zu verbieten«.147 Sicherere Techniken oder eindeutigere Merkmale der Todesfeststellung gebe es nicht und den Arzt treffe nicht der Vorwurf nachlässiger Untersuchung.
Volksaberglauben, Psychoanalyse und Einzelfälle. Die Umdeutung des Scheintodes Von Scheintoten zurück zu Totengeistern Als dritter Beleg dafür, dass das Verschwinden des Scheintodes im 19. Jahrhundert nicht mit den Fortschritten der medizinischen Technik und des ärztlichen Wissens über die Todesfeststellung, sondern mit den Umbrüchen durch die Aufklärung zu tun hat, soll hier die Zuschreibung der Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden zum Volksaberglauben durch die bürgerliche Gesellschaft untersucht werden. Das neue Verständnis 146 Joachimoglu: »Morphinvergiftung und Scheintod«, S. 1414. 147 Moewes: »Ein Fall von Scheintod«, S. 313-314. 255
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des Todes, Ausdruck des Mentalitätsumbruchs durch die Aufklärung, hatte um 1850 die gesellschaftlichen Eliten erreicht. Geschichten um das Lebendigbegrabenwerden konnten deshalb dem Fundus der Märchen und Mythen, also dem Vorgeschichtlichen zugeschlagen werden. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts sprach die bürgerliche Gesellschaft dies ausdrücklich aus. Der Brockhaus aus dem Jahre 1854 relativierte, dass »das Lebendigbegraben der Scheinleichen« durch »übertriebene oder romanhafte Berichte in Volksblättern«148 aufgebauscht worden sei. Diese Umdeutung veranschaulicht der Eintrag »scheintot« im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, dem Sammelwerk volkskundlicher Forschungen des 19. Jahrhunderts. Das Stichwort »scheintot« im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens verortet die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden an gleicher Stelle wie der Brockhaus Jahre zuvor. Die Enzyklopädie der Volkskunde führte in ähnlicher Weise wie der Brockhaus aus, dass zwar die »Furcht, scheintot begraben zu werden, heute bei manchen Leuten noch groß«149 sei, sie sei jedoch ein Phänomen des Volksglaubens.150 Zum Aberglauben zählte die Enzyklopädie zum einen die Fälle, mit denen Ärzte wie Bruhier und Hufeland an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf die irrtümlich begrabenen Menschen aufmerksam gemacht und die ständischen Beerdigungspraktiken kritisiert hatten. Zudem waren aus den mittelalterlichen Totengeistern und Wiedergängern Scheintote geworden. Der Nachzehrer war nun eine der »Geschichten von Scheintoten, die man mit zerfleischten Gesichtern und Händen gefunden« hatte.151 Eine weitere Geschichte, die nun dem Volksglauben zugeschlagen wurde, war »die Wöchnerin, die man noch lebend ausgegraben, die aber noch ein paar Jahre gelebt, aber weiße Haare gehabt« habe.152 So entstand die volkskundliche Kategorie »Scheintod« als Mischung aus mittelalterlichen Wiedergängern und den Kasuistiken der Aufklärung. Die geglückte Rettung war auch in diesem Lemma Charakteristikum des Scheintodes und Moral ihrer Geschichten, womit die Sicherung des irdischen Lebens – das Anliegen der aufklärerischen Bestrebungen – inhaltliche Grundlage dieser Kategorie bildete. Weitere vermeintliche Charakteristika der Scheintoten waren jedoch dem Glauben an Toten148 »Scheintod«, in: Brockhaus’ Conversations-Lexikon, 10. Aufl., Bd. 13, S. 485-486, S. 485. 149 »Scheintot«, in: HWDA, Bd. 7, Sp. 1027-1028, Sp. 1027. 150 Vgl. Felix Liebrecht: Zur Volkskunde. Alte und neue Aufsätze, Heilbronn: Henninger 1879, S. 60-63 und S. 284-296; Bolte: »Die Sage von der erweckten Scheintoten«, S. 354. 151 »Scheintot«, in: HWDA, Bd. 7, Sp. 1097. 152 Ebd. 256
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geister verhaftet. Eine Quelle aus dem HWDA sagt diesbezüglich aus, dass wiederkehrende Scheintote nicht lachten, und legte dieser Aussage einen Beleg aus der römischen Antike zugrunde, nach dem ein Lebendiger, der »einmal in die finsteren Bezirke hineingeraten ist und dann wieder zur Welt der Sonne zurückkehrt, […] das Lachen verlernt habe.«153 »Einige Beispiele über Volksmeinungen (Volksglauben) will ich auch anführen« heißt es in einem Beitrag aus der österreichischen Volkskunde: »Einen beerdigten Scheintodten darf man nicht ausgraben, da, soweit er schauen möchte, die Felder unfruchtbar würden«.154 Die dem Eintrag des HWDA zugrundeliegenden Quellen machen deutlich, dass das Handwörterbuch die seit der Aufklärung entscheidende Unterscheidung zwischen der aus einer Ohnmacht erwachten rettungswürdigen Person und den aus dem Jenseits wiederkehrenden mittelalterlichen Totengeistern, den sogenannten Wiedergängern, nicht gezogen hatte. Zum Aberglauben zählten nun sämtliche Geschichten, die in der Aufklärung noch als Beweise gegolten hatten, dass Menschen irrtümlich begraben wurden. Das HWDA zitierte in seinem Beitrag beispielsweise die Oeconomisch-technologische Encyklopädie von Krünitz, einem Lexikon der Aufklärung also, das »Geschichten von Scheintoten, die man mit zerfleischten Gesichtern und Händen gefunden« deshalb anführte, um deutlich zu machen, dass es sich um lebendige Menschen handelte, nicht, weil sie als Wiedergänger gebannt werden mussten. Krünitz führte dieses Beispiel – ganz im Sinne von Bruhier – als Beleg an, um die neue Anthropologie öffentlich zu machen und um auf die Gefahr hinzuweisen, die mit dem neuen Verständnis von Leben und Tod verbunden war. Im HWDA wurden die beiden Kategorien »Wiedergänger« und »aus einer Ohnmacht erwachte Person« gleichgesetzt; der Eintrag manifestierte so eine Gleichsetzung von Wiedergängern und Scheintoten. Die Unterscheidung zwischen »erwachter Toter und Scheintoter« sei »für unsere Auseinandersetzung gleichgültig«, vermerkte entsprechend der Volkskundler Paul Sartori.155 Die Verlegung des Scheintodes in die Vorstellungswelt des ungebildeten Volkes wurde Ende des 19. Jahrhunderts Gegenstand von Theaterstücken. 1891 wurde im Berliner Ostend-Theater eine Posse mit dem Titel »Berlin im Jahre 2000« aufgeführt, in der ein Landmann in die Großstadt Berlin kommt und dort die Hilfe eines Wunderheilers auf153 Paul Sartori: »Das Lachen und der Tod«, in: Zeitschrift des Vereins für rheinische und westfälische Volkskunde 23 (1926), S. 127-136, S. 132. 154 Benjamin Kroboth: »Die kroatischen Bewohner von Themenau in Niederösterreich«, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 3 (1897), S. 193-217, S. 216. 155 Sartori: »Das Lachen und der Tod«, S. 135. 257
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sucht.156 Er leidet unter Schlafstörungen, die er mithilfe des Magnetismus kurieren will. Gehörte der »animalische Magnetismus«, auch bekannt als Mesmerismus, zu einem gängigen Verfahren der romantischen Medizin, die Heilung durch Übertragung magnetischer Energie versprach, spielte der Mesmerismus in der naturwissenschaftlichen Medizin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Rolle mehr. Diese Form der Therapie hatte im naturwissenschaftlichen Zeitalter 1891 nichts mehr verloren. Kein Wunder also, dass der Autor der Figur des Landmanns zuschreibt, sich von solchen Mitteln Heilung zu versprechen. Von Quadfasel, so der Name des Patienten vom Lande, wurde jedoch der Mesmerismus mit einem Heilverfahren der Moderne gleichgesetzt, denn er reist eigens in die Stadt, um sich magnetisieren zu lassen. Hätte es sich um eine Form des traditionellen Aberglaubens oder Heilens gehandelt, hätte Quadfasel seine Heimat gar nicht verlassen müssen. Nun jedoch befindet er sich in Berlin und erkundet das Nachtleben. Als er nach einer durchzechten Nacht aufwacht, machen ihm seine neuen Berliner Freunde weis, er habe sich in einem 109 Jahre dauernden Scheintod befunden. Quadfasel befinde sich nicht im Jahre 1891, einen Tag später, sondern sei im Jahr 2000 aufgewacht. Erst nach zahlreichen Irrungen und Wirrungen erkennt der Landmann, dass man ihm einen Streich gespielt hat und er sich nach wie vor im Jahr 1891 befindet. Der Zustand des Scheintodes war zu einem märchenhaften Zauberschlaf geworden, den es nur in der Phantasie oder in der Vorstellungswelt von Menschen gab, die nicht im verzeitlichten Hier und Jetzt verhaftet waren. Die Umdeutung des Scheintodes als Volksglauben basierte auf der Trennung zwischen Volk und gesellschaftlichen Eliten entlang von Kategorien der Entwicklung und ihrer Abstufungen. Die Volkskunde konstruierte ihren Untersuchungsgegenstand entlang der Terminologie von Ursprung und Fortschritt, was sich in der Differenz von Volk und bürgerlicher Gesellschaft niederschlug. Diesen Entwicklungsgedanken und die damit verbundenen Zuschreibungen von Naturzustand (Volk) und höherer Entwicklung (Kunst) machte bereits Jacob Grimm in seinem Briefwechsel mit Achim von Arnim deutlich: Er grenzte das »Volksmärchen« – für ihn Inbegriff und Urgestalt von Poesie schlechthin – vom romantischen »Kunstmärchen« ab. Beim Volksmärchen handle es sich um »Naturpoesie«, die aus einem irrationalen Schöpfungsakt der kollektiven Volksseele entstanden sei. Das romantische Kunstmärchen dagegen sei bloße »Kunstpoesie«, ein Produkt subjektiv156 Vgl. dazu die an der Universität Bielefeld entstehende Dissertation von Tobias Wüstenbecker: »Die Stadt als Bühne – die Bühne als Stadt. Berlin 1848-1890« (Arbeitstitel). 258
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persönlichen »Zubereitens«; so übe die Poesie des Volksmärchens »schon Rechte, wonach die spätere nur in Zeugnissen strebt«.157 Eine andere Ausprägung dieses Denkens bestand darin, Aufgeklärtsein als eine Entwicklungsstufe in Abgrenzung zu Nichtaufgeklärtsein zu verstehen, wobei sich die gebildeten Schichten in diesem Prozess entsprechend auf einer höheren Stufe als das Volk befanden. Indem die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Kategorie wurde, die die bürgerlichen Wissenschaftler, die Volkskundler, dem Volksglauben zuwiesen, geriet sie zu einer Art vormodernem Relikt. Den Zustand eines Scheintodes zu fürchten, war einer mangelhaften Aufklärung geschuldet, denn, wie der vorige Abschnitt gezeigt hat, hatte sich die bürgerliche Gesellschaft ein Werkzeug zur Überwindung dieser Angst geschaffen: die Wissenschaft. Das so konzipierte unaufgeklärte Volk konnte jedoch aufgeklärt werden – ein bürgerlicher Arzt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war sich sicher, dass »das Bedürfnis« im Volk selbst vorliege, weil es »mit jedem Jahre durch Vermehrung und vollkommnere Einrichtung der Elementar- und Realschulen besser belehrt« würde.158 Die Differenz zwischen akademischer und Laienmedizin konnte nach Ansicht dieses Rostocker Arztes Georg Friedrich Most so überbrückt werden, dass das Volk bei der Rettung aus Lebensgefahr, der Ersten Hilfe und bei Maßnahmen zur Verlängerung des Lebens eingebunden wurde. Seine »mehr durch Zufall und Instinkt« erworbenen Kenntnisse könnten zwar keine Krankheiten heilen – diese Tätigkeit bliebe dem akademisch ausgebildeten Arzt vorbehalten – das Volk könne aber prophylaktisch mitwirkend tätig sein.159 Mosts Kompendium zur Volksmedizin enthielt deshalb im Anhang Anleitungen zur Ersten Hilfe bei Unfällen, Vergiftungen und ähnlichen Unglücksfällen. So wie bei den Brüdern Grimm Märchen als Geschichten des Volkes aufgewertet wurden, weil sie als das Nicht- oder Vorindividuelle auf den Ursprung von Kultur verwiesen und nur unterschiedliche Punkte auf der gerichteten Entwicklungsgeraden darstellten, war, wie Georg Friedrich Most darstellte, auch die Nichtaufklärung ein überwindbarer Zustand. Dass sich im 19. Jahrhundert ein solcher Blick auf die sozialen Unterschichten entwickeln konnte und die Gesellschaft etwa Kapitalverbrechen nicht mehr mit ihren härtesten Mitteln, der Todesstrafe, ahnden 157 Zit. nach »Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen«, in: Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 6, S. 914-917, S. 914. 158 Vgl. Georg Friedrich Most: Encyklopädie der gesammten Volksmedicin, hg. von Karl Frick und Hans Biedermann, Graz: Akademische Druckund Verlagsanstalt 1973 [zuerst Leipzig: Brockhaus 1843], S. XVII. 159 Vgl. ebd., S. XV. 259
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musste, hing mit dem Denken in Kategorien wie Universalismus und Entwicklung zusammen. Ein Beispiel für einen veränderten Umgang mit solchen Verbrechen sei anhand einer Geschichte über Kindsmord vorgestellt. Lebendig begraben zu werden gehörte, wie im zweiten Kapitel bereits angemerkt wurde, zu den seit dem Spätmittelalter bekannten Todesstrafen. Sie wurde insbesondere für die Bestrafung von Kindsmörderinnen angewendet. In einer Erzählung mit dem Titel »Das lebendig begrabene Kind«, die 1856 in der bürgerlichen Familienzeitschrift Die Gartenlaube abgedruckt wurde, schlug der Autor einen anderen Umgang mit dieser Form der Delinquenz vor. Der Autor, der sich als Richter vorstellte, erzählte die Geschichte der 23jährigen Mare Müller, einer aus dem östlichen Europa stammenden Magd, die ungewollt schwanger wurde und angesichts ihrer Situation – unverheiratet und mittellos – keinen anderen Ausweg sah, als ihr Kind umzubringen. Sie wird verhaftet, nachdem Besucher des Jahrmarktes das vergrabene Kind entdecken und die Tat anzeigen. Die Magd wird vor Gericht gestellt und trifft auf einen Richter, der durchaus Verständnis für ihre Situation aufbringen kann: Mare Müller sei eines »jener unglücklichen Menschengeschöpfe«, die »durch ihre Schwäche zu einem großen Verbrechen sich hinreißen ließen, durch das sie ihr ganzes Dasein zu einem verfehlten machten« und »ihr Lebensglück völlig und für immer vernichteten«.160 Das Gericht sah deshalb von der Todesstrafe ab und verhängte eine zwölfjährige Zuchthausstrafe über sie. Das Urteil fiel vergleichsweise milde aus, weil der Richter die Kindsmörderin für »unbeschreiblich beschränkt und unwissend« hielt.161 Sie »hatte sich aber stets gut betragen und ein stilles Leben geführt; sie [war] gutmüthig und sanften Charakters«.162 Geistig beschränkt zu sein und aus Schwäche zur Verbrecherin zu werden, spiegelte »nicht grundsätzlich die Schlechtigkeit« eines Menschen.163 Kindsmord musste bestraft werden, aber der Blick auf das Wesen von sozialer Delinquenz hatte sich durch den Gedanken der Entwicklungsfähigkeit gewandelt. In der Trivialliteratur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hatten die Scheintoten dann wie in der Kategorie der Volkskundler sowohl einen Bezug zum mittelalterlichen Geisterglauben wie auch zum postaufklärerischen Aberglauben. Sie waren Vorboten des Todes im modernen Sinne: Sie bewirkten, dass die erschrockenen 160 Anon.: »Das lebendig begrabene Kind«, in: Die Gartenlaube 3 (1856), S. 125-128 und S. 141-147, S. 126. 161 Ebd., S. 146. 162 Ebd. 163 Ebd., S. 126. 260
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Hinterbliebenen Fehlgeburten erlitten und die werdende Mutter starb. So wird die Wendung des mittelalterlichen Geisterglaubens bei dem österreichischen Schriftsteller Friedrich von Gagern (1882-1847), Verfasser von Jagd-, Tier- und Abenteuergeschichten, sehr deutlich.164 Bei von Gagern führte das Erscheinen des Scheintoten zu weiteren Toten. Der Scheintote war zum unheilvollen Wiedergänger geworden, der wie im Mittelalter und im Volksglauben sein Unwesen trieb und die Lebenden ins Reich der Toten holen wollte. Von Gagern berichtete von dem Tod des angesehenen Anwalts und Notars Doktor D., der an einer Krankheit scheinbar verstorben, seinen Hinterbliebenen jedoch am Vorabend der Beerdigung erschien. Er verließ die im Haus aufgestellte Totenbahre und bewegte sich ins Wohnzimmer. Die Ehefrau war die Erste, die ihren verstorbenen Mann wiederkehren sah und fiel selbst in Ohnmacht. Während sich Gäste des Hauses um sie kümmerten, trat der vermeintlich Tote ins Zimmer: »[S]chwere Schritte schleppen und schlurfen […] und herein […] tritt in Spinnweb und Staub, bleich im Bahrgewand, hohl und verschattet der Tote«.165 Der Wiederkehrer forderte seinen Tribut in Form von zwei Toten ein: Die schwangere Tochter erschrak so sehr, dass sie eine Fehlgeburt erlitt und wenige Tage später an den Folgen starb. Eine ähnliche Moral zog der Erfinder von Winnetou und Old Shatterhand, der sächsische Schriftsteller Karl May, aus seiner Scheintodgeschichte. In seiner Autobiographie beschrieb May eine Scheintodepisode aus der Kinderzeit seines Vaters, die in die erste oder zweite Dekade des 19. Jahrhunderts fiel. Mays Memoiren vermischten nachweislich Fiktion und Realität,166 sodass auch die Art und Weise, in der May über seine ehemals scheintote Großmutter berichtete, nahe legt, dass der Autor mit der Scheintodliteratur des 19. Jahrhunderts vertraut war. Seine Großmutter wurde scheintot begraben, nachdem sie eines Tages, während des Mittagessens, einen Herzschlag erlitt, und vom rasch herbeigerufenen Arzt für tot erklärt wurde. Mays Erzählung weist alle Elemente der Kasuistiken aus der Aufklärung auf: Die Großmutter lebte, doch konnte sie sich nicht bewegen. Sie sah und hörte alles, konnte jedoch nicht auf sich aufmerksam machen: »Man denke sich deren Qual!«167 May erzählt, dass die Großmutter in ihrem Stupor die Beerdigungsvorberei-
164 Vgl. Friedrich von Gagern: Geister, Gänger, Gesichte, Gewalten. Der Zwölfnächte erster Band, Leipzig: Staackmann 1932, S. 105-108. 165 Ebd., S. 106. 166 Vgl. Karl May: Mein Leben und Streben. Vorwort, Anmerkungen, Nachwort, Sach-, Personen- und geographisches Namenregister v. Hainer Plaul, Hildesheim: Olms 1975 [zuerst Freiburg: Fehsenfeld 1910], S. 499. Vgl. Koch: Lebendig Begraben, S. 207. 167 Vgl. May: Mein Leben und Streben, S. 25-26. 261
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tungen beobachten konnte und »in ihrer fürchterlichen Todesangst«,168 so erzählte sie der Familie nach ihrer Rettung, versucht habe, doch einen Finger zu bewegen und ein Lebenszeichen von sich zu geben. Dies gelingt ihr, als die Trauernden nacheinander an ihrer Bahre Abschied nehmen und sie die Hand eines kleinen Mädchens ergreift. Es erschreckt sich prompt und hält die scheintote Frau für einen Wiedergänger: »Sie hat meine Hand angegriffen, sie will mich festhalten«.169 Es werden andere Ärzte geholt und die scheintote Großmutter kann gerettet werden. Karl May kommentierte diesen Vorfall mit einer pathetischen Lobpreisung des Lebens. Die Großmutter reflektierte ihr Nahtoderlebnis so, dass »von da an ihre Lebensführung noch ernster und erhabener war als vorher«.170 Der Enkel Karl May zog den Schluss, »daß ich überhaupt nur an das Leben glaube, aber nicht an den Tod«.171 Die Volkskunde hatte damit eine Vorstellung von Scheintod konstruiert, in die sowohl die mittelalterlichen Wiedergänger als auch die Fälle der Aufklärung, in denen die geglückte, beinah missglückte oder tatsächlich missglückte Rettung im Mittelpunkt stand, Eingang fanden. Scheintote konnten mithilfe dieser Umdeutung entsprechend auch nachträglich gefunden oder ex post konstruiert werden. So führt Jan Bondeson einen medizinischen Aufsatz aus den 1990er Jahren an, in dem beansprucht wurde, den historischen Ursprung der Angst vor dem Scheintod gefunden und ihn belegen zu können: Bei archäologischen Grabungen wurden Massengräber aus den Zeiten der Pest gefunden, in denen den Opfern Nägel unter die Zehnägel gesteckt worden waren. Weil auch Winslow und Bruhier dies als Methode anführten, um Tod von Leben zu unterscheiden, wurden diese Grabfunde als historische Vorläufer des Scheintodes gewertet.172 1943, um ein weiteres Beispiel für diese Form der Ex-Post-Konstruktion und des realhistorischen Beweisversuches zu liefern, fanden Archäologen auf dem dänischen Klosterfriedhof Æbelholt ein Skelett, dessen Position im Grab darauf schließen ließ, dass er Anstalten gemacht habe, dem Grab zu entkommen. Gerichtsmedizinische Untersuchungen schienen die These zu bestätigen. Der Mann hatte eine Hirnhautentzündung gehabt, die die mittelalterliche Medizin nur mit starken Drogen zu lindern wusste. Er fiel in eine Ohnmacht, so die These der Archäologen, wurde für tot ge-
168 169 170 171 172 262
Ebd., S. 26. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Bondeson: Buried Alive, S. 33.
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halten und begraben, wachte wieder auf und musste im Grab qualvoll ersticken.173
Taphophobie. Lebendigbegrabenwerden in der Psychoanalyse Bezeichnenderweise trat die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden am Ende des 19. Jahrhunderts in der ersten psychotherapeutischen Behandlungstechnik, der Psychoanalyse, auf. Während die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden als Krankheitsbild in anderen Psychotherapieformen keinen Eingang fand, wurde sie von der Psychoanalyse als psychische Störung identifiziert. Die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden geriet in der Psychoanalyse zu einer Phobie und wurde als Anzeichen einer neurotischen Zwangsstörung gedeutet, hinter der sich die Angst vollständiger Isolation und Alleinseins in der Welt verbarg. Die Psychoanalyse erwies sich hier als eine Kulturtheorie und Anthropologie der Moderne, die vor der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung überhaupt nicht zu denken wäre und die ihr eindeutig Rechnung trug. Bezeichnend ist der Eingang des Lebendigbegrabenwerdens als Phobie in die Lehre der Psychoanalyse deshalb, weil es eine konzeptionelle Ähnlichkeit zwischen der Zurechnung des Scheintodes als Volksaberglauben und der Neurosenlehre der Psychoanalyse gibt. Die Ähnlichkeit zwischen der Psychoanalyse und der modern-bürgerlichen Konstruktion eines Volksglaubens im 19. Jahrhundert besteht darin, dass beide das Denken in Kategorien moderner Geschichtlichkeit als Grundlage benötigen. Ähnlich wie der Scheintod zum Volksaberglauben wurde, also etwas Rückwärtsgewandtes und Unbewältigtes war, sind Phobien in der Psychoanalyse auch (unverarbeitete) Relikte aus der Kindheit, Verdrängung von ursprünglichen, am Anfang liegenden Erlebnissen. Ähnlich wie dem Volk das Ursprüngliche, die Natur als ursprünglicher Zustand, 173 Vgl. Christoph Daxelmüller: »Leben, Tod, Vergänglichkeit. Zur Entstehung mittelalterlicher Glaubensformen«, in: Thomas Platz/Toni Eckert (Hg.): Ritter, Burgen und Dörfer. Mittelalterliches Leben in Franken, Forchheim: Gebietsausschuss Fränkische Schweiz 1998, S. 135-155, S. 149-150. Das gleiche Motiv findet sich im Jahr 1829 in einer Mitteilung aus der Schweiz. Im Kanton Glarus öffnete ein Küster das Grab eines jungen Mannes, der »das Angesicht und den Vorderleib gegen den Boden gekehrt, und den Rücken und Hinterleib in die Höhe gerichtet« hatte. Er musste im Grab erwacht sein, so der Verfasser der Notiz. Rudolph Zacharias Becker: »Gesundheits-Polizey«, in: NationalMagazin der Deutschen 33 (1829), S. 191-192, S: 192. 263
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das noch weniger Entwickelte und das Unaufgeklärte zugeordnet wurde, drückten die Phobien der Psychoanalyse sich in Bildern aus dem kollektiven Unbewussten aus, das aus einem quasi archaischen Fundus schöpfte. In der Psychoanalyse sind Phobien unbewusste Konflikte.174 Sie sind verdrängte (sexuelle) Wünsche und Phantasien, die auf neutrale Gegenstände projiziert werden. Das Unbewusste in der Psychoanalyse ist zweigeteilt, in das Vorbewusste und in das eigentliche Unbewusste. Das Unbewusste ist eine der drei Instanzen der Psyche (Vorbewusstes, Unbewusstes und Bewusstes), die wiederum nach drei unterschiedlichen Prinzipien funktionieren.175 Das ES gehört im Wesentlichen dem Unbewussten an und ist das System der primitiven Triebe, alles, was ererbt oder konstitutionell festgelegt ist. Es ist zugleich die älteste dieser Instanzen.176 Phobien sind demnach also quasi Impulse aus dem ES. So konnte die psychoanalytische Phobie des Lebendigbegrabenwerdens als regressive Form, also als entwicklungsgeschichtlich ältere Erlebnis- und Handlungsweise, ähnlich dem Aberglauben, konzipiert werden. Die »Thanatophobie«, die gesteigerte Angst vor dem Tod und dem Sterben, war die neurotische Verdrängung und Verschlüsselung der Todesangst. Kernstück dieser psychischen Störung war die Verwandlung von Todesangst in Pseudo-Realängste. Dazu zählte entsprechend die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden: »Glaube und Aberglaube, Ängste und Wünsche, die sich an das Leben nach dem Tode […] knüpfen, sind in tieferen Bewusstseinsschichten des Menschen zwischen Hoffen und Bangen schwankende Gefühle, die im Traum in schattenhaften Umrissen vordringen und in früheren Zeiten in Legende und Dichtung nekotropher Färbung, in Religion, Kultus und Aberglaube die Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten intensiver gestaltet haben als heute.«177
Der Psychoanalytiker Wilhelm Stekel, ein Weggefährte Freuds, konnte Parallelen des Denkens zwischen Neurotikern und den sogenannten Pri-
174 Vgl. »Angsthysterie«, in: Das Vokabular der Psychoanalyse, hg. v. J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 151999, S: 65-66. 175 Vgl. »Unbewusst, das Unbewusste«, in: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 562-565. 176 Vgl. Sigmund Freud: Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt am Main: Fischer 1972, S. 9. 177 Heinz Dietrich: »Über Taphophobie und Auferstehungswahn«, in: Schweizer Archiv für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 120 (1977), S. 195-203, S. 198. 264
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mitiven erkennen, die die Konzeption des Unbewussten als etwas Vorgeschichtlichem und Ursprünglichen noch einmal deutlich macht: »The thought processes of compulsion neurotics are similar to those of primitive man. The primitive thinks alogically, or, as Levy-Bruhl states in his Primitive Mentality, prelogically. Equally apparent is the analogy to mystical thinking. The compulsion neurotic, like the primitive, thinks mystically. He joins the primitive in animism. And like primitive man, he thinks in the peculiar manner which Levy-Bruhl refers to as collectivistic thought.«178
Insgesamt konnten drei Beiträge von Psychoanalytikern identifiziert werden, die von Fällen einer Phobie vor dem Lebendigbegrabenwerden berichten. In der Klinik gehört diese Phobie nicht zu den oft auftauchenden Störungen und ist an Häufigkeit nicht mit der Angst vor Spinnen oder der Klaustrophobie vergleichbar, jedoch hat die Psychoanalyse diese Krankheit mit einem eigenen Fachterminus belegt, Taphophobie. 1891 beschrieb der italienische Psychiater Enrico Morselli (1852-1929) die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden erstmals als eine psychische Krankheit, die er den Angst- und Zwangsstörungen zuordnete.179 Morselli beschrieb es als Kennzeichen des Taphophobikers, obsessiv damit beschäftigt zu sein, lebendig begraben zu werden. Er habe gelesen oder gehört, dass Menschen scheintot begraben worden seien, und befürchtete nun, dass ihm dieses auch passieren könnte. Der Phobiker lasse nichts unversucht, durch testamentarische Verfügungen und Versicherungen bei Angehörigen, im Falle seines Todes ein Lebendigbegrabenwerden auszuschließen. Er wolle, dass man ihm im Falle seines Begräbnisses Kerzen, Nahrungsmittel und Wasser neben seine Bahre stelle, Luftzirkulation ermögliche und er vor der Bestattung mit einem Stich durch das Herz vor der Gefahr der Erstickung im Grab bewahrt werde. Der Zwangscharakter dieser Phobie äußere sich darin, dass dieses Testament nie fertig geschrieben sei, sondern wieder und wieder umgeschrie-
178 Wilhelm Stekel: Compulsion and Doubt, Bd. 1, New York: Liveright 1949, S. 41-42. 179 Vgl. Enrico Morselli: Sulla dismorfobia e sulla tafefobia, due forme nun per anco descritte di pazzia del dubio (Paranoia rudementaria), Genf: 1891. Der Text ist in englischer Übersetzung abgedruckt: Enrico Morselli: »Dysmorphobia and Taphephobia. Two Hitherto Undescribed Forms of Insanity with Fixed Ideas«, in: History of Psychiatry 12 (2001), S. 107-114. Morselli bezog sich in seiner Beschreibung der Taphophobie auf die Definition der Paranoia, wie sie Richard von Krafft-Ebbing in seinem Werk »Psychopathia sexualis« von 1886, das grundlegende Forschungen auf dem Gebiet der Kriminalpsychologie und Sexualpathologie beinhaltete, vorgenommen hatte. 265
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ben, im Haus verteilt und an Freunde und Angehörige weitergegeben werde.180 Einige Kennzeichen des Taphophobikers hätten am Ende des 18. Jahrhunderts in allen moralischen Wochenschriften und Intelligenzblättern als ernstzunehmende Maßnahmen für eine Wiederbelebung gegolten. Ausreichende Luftzirkulation und Schutz gegen Durst und Hunger gehörten auch zu den Schutzverkehrungen gegen das Lebendigbegrabenwerden in der Aufklärung. Der Stich durch das Herz erinnert hingegen sehr an das Pfählen, eine Methode, Wiedergänger unwiederbringlich ins Jenseits zu befördern. Was sich dort als kulturelles Bild festgesetzt hatte, war also eine Mischung aus modernen Rettungsverfahren und vormodernen Todesvorstellungen, eine Mischung aus Geisterglauben und modernem Todesverständnis. Der Psychiater Leopold Löwenfeld beschrieb einige Jahre nach Morselli, im Jahr 1904, einen Patienten, der viele Jahre unter der Phobie des Lebendigbegrabenwerdens litt. Sie äußerte sich dadurch, dass er bei verschiedener Gelegenheit darauf hinwies, es möchten ihm vor der Beerdigung die Pulsadern durchtrennt werden.181 Morselli beschrieb die Taphophobie gemeinsam mit einer weiteren neurotischen Störung, der Dysmorphophobie. Damit war die Wahrnehmung gemeint, einen körperlichen Defekt zu haben oder hässlicher als andere Menschen zu sein, obwohl diese Einschätzung objektiv oder im Abgleich mit der Umwelt nicht stimmte. Diese beiden Phobien standen insofern in einem Zusammenhang, als dass sie beide Ausdruck des Gefühls persönlicher Unzulänglichkeit waren. Patienten hätten den Anspruch, perfekt zu sein, weil sie sich nicht wahrgenommen fühlten. Sie versuchten also, ihre vermeintlichen optischen Defekte auszubessern oder zu verstecken. Der Psychoanalytiker Sandor Feldman definierte die Vorstellung, lebendig begraben zu werden ebenfalls als Zwangsstörung, die aus dem Gefühl des Ungeliebtseins resultierte. Bei Kindern führe sie zu Depressionen und behindere die mentale und physische Entwicklung. Feldmans Beschreibung der Symptome ähnelte Poes Geschichte The Premature Burial: »Subjective consciousness is lost, muscular activity is arrested, but one is still alive. […] He is […] unable to give any sign of life; or he is conscious of everything that is going on, but is not capable of preventing his burial.«182 Feldman bezog sich sogar auf den Scheintodfall in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift aus dem Jahr 1919, hielt 180 Vgl. Morselli: »Dysmorphobia and Taphephobia«, S. 109. 181 Vgl. Leopold Löwenfeld: Die psychischen Zwangserscheinungen, Wiesbaden: J.F. Bergmann 1904, S. 121. 182 Sandor Feldman: »On the Fear of Being Buried Alive«, in: Psychiatric Quarterly 15 (1942), S. 642-645, S. 643. 266
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ihn aber für ein so einzigartiges Vorkommnis, dass die Fälle aus seiner Praxis einen Beweis darstellten, dass »the fear is neurotic«.183 Zur Veranschaulichung beschrieb Feldman einen Patienten, der bereits in seiner Kindheit die Phantasie hatte, völlig allein auf der Welt zu sein und großen Mangel zu leiden. Später wandelte sich diese Phantasie in die Vorstellung, lebendig begraben zu werden. Der Patient zeigte sich unfähig, Beziehungen einzugehen und empfand das Gefühl des Verliebtseins nur als Schmerz. Ursache dieser Phobie war die Mutter des Patienten. Sie war emotional unzugänglich für ihren Sohn, was Ursache seines Traums war, seine Mutter sei tot. Deshalb verbrachte er Tag und Nacht an ihrem Grab. Feldman beschrieb weiter den Fall eines kleinen wohlhabenden Mädchens, das von seinen Eltern alle Formen der materiellen Aufmerksamkeit erhielt (Spielzeug, hübsche Kleidung und Betreuung durch ein Kindermädchen), jedoch nur selten Zeit mit den Eltern verbrachte und entsprechend wenig Zuneigung erfuhr. Der Vater war durch seine Geschäftsreisen viel unterwegs, die Mutter kümmerte sich um Dinnerpartys und andere gesellschaftliche Verpflichtungen. Beide Eltern entwickelten keine Beziehung zu ihrer Tochter und das Kind lernte umgekehrt nie, Liebe zu geben. Als Folge entwickelte das Kind die Idee, lebendig begraben zu werden. Feldman deutete diese Angst als »a fear of not being loved and of being incapable of returning love«.184 In der Phantasie wurde Feldmans Patientin lebendig begraben, gerettet und wieder mit ihren Eltern vereint. Psychoanalytisch gehe diese Vorstellung auf die Erfahrung des Mutterleibs zurück, eingeschlossen zu sein und doch mit der Mutter als Teil der Welt verbunden zu sein. 1977 behandelte der Münchener Psychiater Heinz Dietrich eine Mutter und deren Tochter, die nicht voneinander wussten, dass sie beide an Taphophobie litten.185 Die 52jährige Frau litt seit ihrem zwölften Lebensjahr unter dieser Krankheit. Die Phobie entwickelte sich, nachdem sie ihren verstorbenen Großvater zu Hause aufgebahrt und bei der Totenwache Blut aus dem Mund des Verstorbenen tropfen gesehen hatte. Sie schloss daraus, dass der alte Mann nur scheintot war. Das Kind hatte daraufhin die Einstellung entwickelt, dass »gute Menschen« zu Hause aufgebahrt würden, während »böse Menschen« in die Leichenhalle gebracht und dort möglicherweise als Scheintote im Glaskasten eingesperrt würden. Sie ging häufig auf den Friedhof und in die Leichenhalle, um nachzusehen, ob die Toten auch wirklich tot waren. Die Tochter hatte als Fünfjährige geträumt, zu Hause im Sarg aufgebahrt 183 Ebd. 184 Ebd., S. 643. 185 Vgl. Dietrich: »Über Taphophobie und Auferstehungswahn«, S. 196. 267
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zu werden, ohne tot zu sein. Im Traum war sie unfähig zu sprechen und hatte Angst, dass der Deckel zufiele. Über diesen Traum sprach sie mit niemandem, er blieb aber in ihrem Gedächtnis. Als ihr Großvater starb, war sie acht. Auch er wurde zu Hause aufgebahrt und sie meinte gesehen zu haben, dass sich seine Hand bewegt habe. Auch sie schloss daraus, dass er nur scheintot gewesen war. Als ihr Onkel kurze Zeit später starb, befürchtete die Tochter, er könne scheintot begraben werden, aufwachen, gegen den Sargdeckel klopfen und ersticken. Daran musste sie mehrere Jahre denken. Später klang die Taphophobie ab, zumal sie unter keinen religiösen Zwängen litt wie ihre Mutter. Die Taphophobie äußerte sich bei der Mutter als Angstpsychose mit »ratlosem Stupor«, das heißt völliger körperlicher und geistiger Regungslosigkeit. Die Angstpsychose der Tochter bestand in Weltuntergangsphantasien, bei denen auch sie zugrunde ging. Der Analytiker deutete die Angstpsychose der Mutter als Projektion, wieder mit ihren toten Eltern zusammen zu sein, weil sie von ihrem Ehemann nicht in dem Maß Zuwendung erhielt, wie sie sie als einziges Kind von ihren Eltern erhalten hatte.
Nur noch ein Problem von Einzelnen Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden dann nur noch Einzelfälle kolportiert. Von einzelnen berühmten Persönlichkeiten, Künstlern und Literaten wurde bekannt, dass sie zeitlebens mit der Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden lebten oder aus Angst vor einem unerkannten Scheintod testamentarisch Vorkehrungen trafen. An diesen Fällen wird abschließend zweierlei deutlich. In der Bearbeitung dieser Fälle, in Biographien oder in der Presse, wird die Angst vor dem Scheintod zum Ersten als eine ungewöhnliche, sehr individuelle Persönlichkeitseigenschaft herausgestellt. Gleichzeitig erhielt damit zum Zweiten die Gefahr, das irdische Leben vorzeitig aufgeben zu müssen, jedoch auch prominente Fürsprecher. Sie standen quasi stellvertretend für die Sorge der gesamten Gesellschaft. So ist es zunächst an sich nicht so bemerkenswert, dass auch berühmte Persönlichkeiten vor einem unerkannten Scheintod, also auf eine qualvolle Art und Weise das diesseitige Leben aufgeben zu müssen, Angst hatten. Ganz im Gegenteil sogar, wenn man davon ausgeht, dass die Künstler und Literaten als aufmerksame Zeitgenossen besonders sensibel auf gesellschaftliche Umbrüche reagierten. Möglicherweise war ihnen die Unhintergehbarkeit des modernen Todes, der Verlust von Jenseitshoffnung und heilsgeschichtlicher Erschütterung in besonders schmerzhafter Weise bewusst. In der Betrachtung berühmter 268
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Einzelfälle jedenfalls vermischen sich individuelle Ängste, die auf einen spezifischen Umgang mit dem modernen Tod hinweisen und die Bearbeitung durch Biographen und andere Medien, die diese individuellen Ängste damit gesellschaftlich aufwerten. Diese Einzelfälle können als sehr eigentümlicher Ausdruck der Individualisierung des Todes interpretiert werden. Der Schriftsteller Arthur Schopenhauer beispielsweise verfügte testamentarisch, nicht vor dem fünften Tage nach seinem Ableben bestattet zu werden.186 Zu dem Pessimisten, Misanthropen und nicht zuletzt Frauenfeind Schopenhauer passte es, dass er auch der ärztlichen Kunst misstraute. Schopenhauer stand der Philosophie des 19. Jahrhunderts – also der Philosophie, die sich mit der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung auseinandersetzen musste und den Handlungsspielraum des vernunftgeleiteten Individuums neu vermaß, feindlich gegenüber.187 Seine nachweisliche Skepsis gegenüber allem Fortschritt und Optimismus legt eine Abneigung gegen das moderne Todesverständnis fast nahe. Bei dem nüchternen, rationalen Schriftsteller Bertolt Brecht hingegen mag es zunächst verwundern, dass auch ihn die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden umtrieb. Brecht wollte, dass seine Herzschlagader zur Sicherheit geöffnet würde.188 Brechts Verfügung befindet sich in der Dauerausstellung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden, einer Einrichtung, die im Jahr ihrer Entstehung 1911 für moderne Lebensweise und Gesundheitsbewusstsein stand.189 Brechts Biograph Werner Mittenzwei interpretiert Brechts Angst vor dem Scheintod als abergläubischen Überhang, den Brecht seit seiner Augsburger Kindheit in sich getragen hätte. Eine Schicht des Geheimnisvollen, Irrationalen habe es auch in dem berühmten Schriftsteller gegeben.190 Eine weitere Person, der nachgesagt wurde, sie habe Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden, war der österreichische Volkstheaterautor und Schauspieler Johann Nepomuk Nestroy. Er hielt die »medizinische Wissenschaft« nicht dazu im Stande, »dass die Doctoren – selbst wenn 186 Vgl. Walter Abendroth: Arthur Schopenhauer mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1967, S. 125; das Beispiel zitiert auch Vogl: Der Scheintod, S. 21. 187 Vgl. Rüdiger Safranski: Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie, München: Hanser 1988. 188 Vgl. Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln, Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 664. 189 Vgl. Heike Weichler: »Die gläserne Welt des Dresdner Hygiene-Museums« (http://www.wams.de/data/2005/02/13/461437.html [Zugriff: 23.03.2006]). 190 Vgl. Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht, S. 656 und S. 664. 269
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sie einen umgebracht haben – nicht einmal gewiß wissen, ob er todt ist«191 und verfügte, zwei volle Tage mit offenem Sargdeckel aufgebahrt zu werden. Nestroy sei sein ganzes Leben von Todesangst geplagt gewesen, der Gedanke an sein Ende und das Nichts hätten tiefe Depressionen bei ihm verursacht. Entsprechend habe er, so es ging, versucht, den Tod zu verdrängen. Nestroys letzter Wille bezüglich des Aufbahrens sei eine Mischung aus »sachlichem Ernst und makabrer Ironie« gewesen.192 Von dem dänischen Märchendichter Hans Christian Andersen wird berichtet, er habe stets einen kleinen Zettel auf dem Nachttisch liegen gehabt, auf dem »Ich bin nur scheintot« stand. Zwei Tage vor seinem Tod am 4. August 1875 bat er noch auf dem Sterbebett, dass ihm im Falle seines Todes die Pulsadern geöffnet würden.193 Diese Anekdote über Andersen, der Zettel auf dem Nachttisch, wurde in zahlreichen Beiträgen anlässlich seines 200. Geburtstages erzählt.194 Die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden wurde zu einer der vielen skurrilen Eigenschaften des dänischen Schriftstellers. Einer seiner Biographen schildert ihn als ungewöhnlichen Menschen, der seine eigenen Geschichte als »Märchen meines Lebens« erzählte: So hatte sich Andersen der Kopenhagener Gesellschaft als jugendliche Waise vorgestellt, der seinen Heimatort bei Odense verlassen hatte, um in der Stadt sein Glück zu suchen und seiner wahren Bestimmung, dem Künstlersein, nachzugehen. Während seiner Kindheit auf dem Lande sei er häufig gehänselt und verhöhnt worden, »weil er anders war«.195 Extrem emotional und schwierig sei der berühmte Dichter gewesen, der zeitlebens unter Todesangst gelitten, aber gleichzeitig fest an ein Leben nach dem Tod geglaubt habe. Andersen selber empfand sich als einzigartiges, empfindsames Genie, dessen Ansprüche andere Menschen kaum genügen konnten und er in der Welt entsprechend wenig Geborgenheit finden konnte. Zeitgenossen und Biographen hingegen charakterisierten den 191 Zit. nach Otto Basil: Johann Nestroy in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1967, S. 153 und S. 156. 192 Ebd., S: 156. 193 Vgl. Jens Andersen: Hans Christian Andersen, Frankfurt am Main/Leipzig: Insel 2005, S. 714; diesen Fall kennt auch Stoessel: Scheintod und Todesangst, S. 117. 194 Vgl. beispielsweise »Andersens Leben. ›Vom hässlichen Entlein zum schillernden Schwan‹« (http://www.radiobremen.de/magazin/kultur/literatur/andersen/lebensgeschichte.html [Zugriff: 5.3.2006]); Hans Christian Andersen. Märchen (http://www.br-online.de/kultur/literatur/lesezeichen/20050605/20050605_4.html [Zugriff: 5.3.2006]); Hans Christian Andersen. Vom Schusterjungen zum Märchendichter (http://www. stern.de/unterhaltung/buecher/:Hans-Christian-Andersen-Vom-Schusterjungen M%E4rchendichter/538085.html [Zugriff: 5.3.2006]). 195 Andersen: Hans Christian Andersen, S. 19. 270
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Persönlichkeitszustand des Dichters in Begriffen wie »Größenwahn, Schizophrenie oder Narzissmus«.196 Auch von dem russischen Schriftsteller Nikolaj Gogol wird berichtet, er habe Angst davor gehabt, lebendig begraben zu werden. Einer seiner Biographen weiß, dass man ihn bei seiner Exhumierung in scheintodtypisch verdrehter Körperlage gefunden habe, ähnlich den Skeletten im dänischen Æbelholt.197 Der österreichische Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler verlangte testamentarisch nach einem Herzstich.198 In Deutschland gehörte die Schriftstellerin Friederike Kempner, der »schlesische Schwan«, zu den Figuren, die für ihren Einsatz gegen den Scheintod zweifelhafte Berühmtheit erlangten, in Frankreich machte ein weiterer französischer Adeliger, der Marquis d’Ourches, durch die Ausschreibung zweier Preise von sich reden. Die Autorin Friederike Kempner, von den Kritikern als »Genie der unfreiwilligen Komik« verspottet, hatte sich nicht nur in den Kopf gesetzt, eine berühmte Schriftstellerin zu werden, sie setzte sich auch für die Errichtung von Leichenhallen ein.199 Im Selbstverlag begann Kempner zunächst ihre Gedichte herauszugeben, als sie gleichermaßen von der Trivialliteratur und von der satirisch-bissigen Intelligenz entdeckt wurde. Mit steigendem Bekanntheitsgrad verfasste Friederike Kempner auch eine Gedenkschrift über Leichenhäuser, die in mehreren Auflagen erschien.200 Die Tochter eines jüdischen Rittergutsbesitzers hatte schon als 17-jährige ein Buch geschrieben, in dem sie alle Scheintodfälle aus den einschlägigen Publikationen von Bruhier bis Schmidt zusammentrug und an verschiedene deutsche Landesherren schickte. Kempner ließ ein Leichenhaus auf dem Anwesen der Familie errichten. Sie schrieb es sich zudem als Verdienst zu, Wilhelm I. dazu bewegt zu haben, die Beerdigungsfristen auf fünf Tage zwischen Tod und Bestattung zu erhöhen.201
196 Ebd., S. 233. 197 Vgl. Stoessel: Scheintod und Todesangst, S. 118. 198 Vgl. Hans-Ulrich Lindken: Arthur Schnitzler. Aspekte und Akzente. Materialien zu Leben und Werk (= Europäische Hochschulschriften Bd. 754); Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris: Lang 1987, S. 420. 199 Vgl. Gerhart H. Mostar: Friederike Kempner, der schlesische Schwan, München: Dtv 61974, S. 5. 200 Vgl. Friederike Kempner: Denkschrift über die Nothwendigkeit einer gesetzlichen Einführung von Leichenhäusern, Breslau: Korn 61867. 201 Vgl. Mostar: Friederike Kempner, S. 22-23. 271
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Wissenschaftliche Umorientierungen und Marginalisierung des Scheintodes. Zusammenfassung Der in diesem Kapitel unternommene Ausblick ins 19. Jahrhundert diente dazu, das Argument der Epochenschwelle und die Umbrüche, die damit für das moderne Verständnis des Todes verbunden waren, aus dem weiteren Verlauf der Geschichte des Scheintodes im 19. Jahrhundert zu stärken. Das bedeutet, dass es die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung und der Einzug der Historizität waren, die für die Geschichte des Scheintodes im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts entscheidend waren. Die Umbrüche an der Epochenschwelle brachten mit dem Scheintod ein neues Todesverständnis zum Ausdruck, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts – mit welchen Ungleichzeitigkeiten auch immer – quasi nur noch gesellschaftlich etablieren und festigen musste. Mit der Betonung des mentalitätsgeschichtlichen Umbruchs der Aufklärung wurde die These aus der Sekundärliteratur kritisiert und relativiert, dass die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden durch die fortgeschrittene Medizin und die ärztlichen Diagnosefähigkeiten eingedämmt und behoben werden konnte. Die Wissenschaft, so die These, die diesem Kapitel zugrunde liegt, trug zur Einübung des Todesverständnisses bei und sicherte diese mithilfe von Instrumenten und medizinischer Technik ab. Diese gesellschaftliche Selbstverständigung über das moderne Todesverständnis kann jedoch nicht im Sinne einer linearen Rationalisierung irrational verstandener Ängste begriffen werden. Die Argumente der Relativierung des medizinischen Könnens, dass also die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens durch sicherere Techniken der Todesfeststellung eingedämmt wurde, und der Diskontinuität der Todesvorstellungen in der Aufklärung wurden an drei Aspekten herausgestellt. Die Gründung, der Fall und Wiederaufstieg der Leichenhäuser zeigte exemplarisch die mit Ungleichzeitigkeiten verbundene Durchsetzung der neuen Anthropologie und die zunehmende Ablösung von den alten Seelenvorstellungen. Das medizinische und wissenschaftliche Wissen des 19. Jahrhunderts befestigte diese neue Anthropologie. Der Scheintod wurde von den Spezialdisziplinen der Medizin aufgefangen. Die Gerichtsmedizin, die Pharmakologie oder die Erste Hilfe mussten sich der unklaren Todesursachen und schwieriger Vergiftungsfälle annehmen sowie ausgefeilte Techniken der Wiederbelebung entwickeln. Schließlich wies die Umdeutung des Scheintodes als Volksaberglauben auf die Durchsetzung des neuen Todesverständnisses aus einer weiteren Perspektive hin. Der Einzug der Geschichte trennte die gesellschaftlichen Schichten entlang der Linie von Entwicklung. Während 272
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nach der Selbstdarstellung die Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft über Mittel und Wege verfügte, Tod von Leben sicher zu unterscheiden, konnte die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden dem Unaufgeklärten und Irrationalen zugeordnet werden. Übrig blieben dann Einzelpersonen. Einzelne, die mit dem wissenschaftlichen Wissen nicht beruhigt werden konnten und die die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden zu ihrem persönlichen Anliegen machten. Sie arrangierten sich auf ihre Weise mit der veränderten Sinnstiftung des Todes. Indem sie sich für den Bau von Leichenhäusern einsetzten oder eigene Sicherheitsvorkehrungen erfanden, galten sie einerseits als Exzentriker, auf der anderen Seite dieser Individualisierung stand die Aufwertung der Angst vor dem Scheintod. Die Einzelpersonen, die berühmte Persönlichkeiten waren, verliehen der Aufregung um das Lebendigbegrabenwerden als Ausdruck des modernen Verständnisses des Todes Nachdruck und lang anhaltende Präsenz. Die moderne Gesellschaft, die das unverwechselbare, einzigartige Individuum zu ihrem Träger gemacht und die Individualisierung des Todes hervorgebracht hatte, gab damit auch der Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden eine eigentümliche Form, mit der zukünftige Generationen die Angst vor dem Scheintod assoziieren konnten.
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ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK. SCHEINTOD UND VERZEITLICHTE GESELLSCHAFT
Diese Arbeit ging von zwei miteinander verschränkten Fragestellungen aus. Erstens stellte sie die Frage nach der Verwissenschaftlichung des Todes und zweitens fragte sie nach dem Wandel in der Sinnstiftung des Todes. Die Frage nach der Verwissenschaftlichung des Todes stellte sich dadurch, dass Ärzte des 18. Jahrhunderts die Diskussion um »sichere« und »unsichere« Todeszeichen sowie die Frage der Todesfeststellung führten und dabei weitreichende gesellschaftliche Ansprüche stellten. Die Mediziner steckten den Umgang mit dem sterbenden und toten Körper als ein Feld medizinischer Zuständigkeit ab und traten zur Festsetzung dieser Alleinvertreteransprüche an andere gesellschaftliche Eliten heran. Die Mediziner wandten sich an den Gesetzgeber und beanspruchten lokale Funktionsträger wie den Pastor, Bürgermeister oder Dorfschulzen. Sie arbeiteten darauf hin, ein von der Bevölkerung akzeptiertes Monopol für Fragen zu errichten, die Tod und Sterben betrafen. Die Neuformulierung von Handlungsanweisungen im Umgang mit dem (scheinbar) toten Körper, die Neugründung von Institutionen wie dem Leichenhaus und der Erlass von Gesetzen, die die Frage der Todesfeststellung dem Kompetenzbereich der Ärzte zuordneten, zeigten, dass die Geschichte des Scheintodes Teil der Professionalisierungsbestrebungen seitens der Ärzte und der Bemühungen um Medikalisierung zu Beginn der modernen Gesellschaft war. Der Ansatz der Verwissenschaftlichung erklärte jedoch noch nicht, weshalb der Scheintod als gesellschaftliches Problem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auftauchte: Was veränderte sich in der Wahrnehmung des Todes, dass im 18. Jahrhundert neue Maßnahmen im 275
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Umgang mit dem toten Körper formuliert wurden? Weshalb waren es die Ärzte, die ein Monopol auf die Feststellung des Todes erhoben? Dieser zweiten, übergeordneten Frage konnte sich erst durch die Betrachtung der gesellschaftsstrukturellen Veränderungen im Zuge der Aufklärung genähert werden. Denn es war das »Hineinziehen des Menschen vom Jenseits ins Diesseits, von der Ewigkeit in die Geschichte« (Hölscher), das die Aufregung um Scheintote, um die Frage der Todesfeststellung und den Wandel des Umgangs mit dem toten Körper motivierte. Die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung und der Verlust der prinzipiellen Unsterblichkeit des Menschen stellten den Scheintod als ein dramatisches Sinnbild des Mentalitätsumbruchs im 18. Jahrhundert heraus: An der Schwelle des Todes und dennoch im Leben standen Scheintote für das Bestreben, das irdische Leben doch noch retten zu können, es wiederzubeleben und den Tod hinauszuzögern. Nicht die Hoffnung auf das Jenseits, sondern das irdische Leben war zum neuen Heil des menschlichen Daseins geworden. Dieser Wandel in der Sinnstiftung des Todes, hervorgebracht durch die Aufklärung, wurde an den Veränderungen des gesellschaftlichen Verhaltens, der Neuformulierung kultureller Praktiken und der Um- und Neustrukturierung gesellschaftlicher Institutionen untersucht und belegt. Weil sie einen Wandel dessen bedeuteten, was der Gesellschaft sinnvoll erschien, konnten diese Veränderungen im Hinblick auf die Entstehung der modernen Gesellschaft analysiert werden. Mithilfe dieser Rahmung ist es gelungen, den Gegenstand dieser Arbeit, Scheintod, nicht nur in Bezug auf die Verwissenschaftlichung, sondern zudem in Zusammenhang mit den allgemeinen gesellschaftsstrukturellen Veränderungen des 18. Jahrhunderts zu betrachten. Dieses Vorgehen hat zu folgenden Ergebnissen geführt: Die im 18. Jahrhundert in der Öffentlichkeit auftauchende Angst vor dem Scheintod ist als »primal fear« (Bondeson) bezeichnet oder als Gefühlslage einer Gesellschaft gewertet worden, deren schon immer schwelende Ängste im 18. Jahrhundert noch nicht rationalisiert werden konnten und die im Verlauf des 18. und 19. Jahrhundert weiter Wege fanden, ans Licht der Öffentlichkeit zu gelangen (Stoessel). Demgegenüber hat die vorliegende Arbeit gezeigt, dass die Diskussion um »unsichere« und »sichere« Todeszeichen und die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens erst durch den Kenntnisstand der Aufklärung selbst entstanden ist. So besteht ein wichtiges Ergebnis dieser Arbeit darin, dass erst die wissenschaftlichen Kenntnisse seit der Frühen Neuzeit einen Wissensstand hervorbrachten, der im 18. Jahrhundert mithilfe der entsprechenden Fürsprecher – insbesondere der Ärzte – ein gesellschaftliche Problem namens Scheintod überhaupt aufwarf. Die wissenschaftlichen 276
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Erkenntnisse seit der Frühen Neuzeit brachten eine anthropologische Transformation und damit verbunden, ein neues Verständnis von Leben und Tod, hervor. Diese Betrachtung der Grenze zwischen Leben und Tod unterschied sich vom Augenmerk früherer Zeiten auf dieses Grenzphänomen. Die Schwelle zwischen Leben und Tod im Mittelalter geriet nämlich bis dahin dann in den Blick, wenn die Gefahr von Wiedergängern oder anderen Totengeistern lauerte. Wiedergänger und Totengeister waren jedoch Bestandteil »einer Kultur, die zutiefst religiös (religiös in dem Sinne, daß jeder Mensch von der Existenz und der Macht übernatürlicher Wesen überzeugt war, [… und in der] der ›Geisterglaube‹ etwas allgemein Akzeptiertes darstellte« (Schmitt). Mit den Scheintoten des 18. Jahrhunderts – obwohl auch sie sich an der Schwelle zwischen Leben und Tod befanden – waren nicht die mittelalterlichen Totengeister oder Wiedergänger gemeint. Scheintote waren (noch) lebende Menschen des Diesseits. Um das neu entstandene Problem – ein neues Verständnis von Leben und Tod und die damit verbundenen gesellschaftlichen Implikationen – in der Öffentlichkeit anschlussfähig zu machen, verknüpften Ärzte vermeintlich latente Volksängste und die als Irrationalitäten und Missstände angeprangerten lokalen Bestattungspraktiken mit dem neuen Phänomen Scheintod. Die Mediziner griffen zur Veröffentlichung ihres Anliegens auf Fälle aller Art zurück, sie verwendeten Geschichten aus der Antike, dem Mittelalter und ihnen eigens zugetragene Erzählungen gleichermaßen. Dadurch suggerierte die Quellenlage, dass es das Problem Scheintod schon immer gegeben habe und es zu den Urängsten (Bondeson) zähle. Es entstand jedoch erst vor dem Hintergrund eines historisch neuen Wissensstandes: In der Debatte um den Scheintod am Ende des 18. Jahrhunderts erhielt das seit der Frühen Neuzeit produzierte empirische Wissen über den Körper Gewicht – die Erklärung der Bewegung des Körpers aus seiner physiologischen und anatomischen Beschaffenheit –, welches Definitionen dessen, was Leben und was Tod bis dahin war, radikal unterminierte. Das Leben war nicht mehr die von Gott gegebene Seele, die, »geistig, aber dennoch erfahrbar« (Schmitt), sich wie ein kleiner Doppelkörper vorgestellt wurde und sich im Tod vom leiblichen Körper trennte. Nicht sie war mehr ursächliches Prinzip des Lebens. Das Leben lag innerhalb des Körpers, war von Anatomie und Physiologie, durch Entdeckungen wie dem Blutkreislauf, sichtbar gemacht worden und wurde der Wirkung dem Körper innewohnender Kräfte zugerechnet. Diese wissenschaftlichen Veränderungen bezeichnen eine anthropologische Transformation, die den Übergang vom Seelenwesen Mensch zum Körperwesen Mensch meint. Diese neuzeitliche Anthropologie, die seit dem 16. Jahrhundert in der Entstehung begriffen war, zeichnete sich da277
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durch aus, dass der europäische Mensch aus dem theologisch-heilsgeschichtlichen Zusammenhang herausgelöst und als Teil der Natur, im Verhältnis zu Tieren, außereuropäischen Menschen und als autonom handelndes Subjekt der Geschichte neu positioniert wurde. Zur Disposition standen dadurch die Auflösung der alten Seelenvorstellungen und weiterhin der Glaube an die prinzipielle Unsterblichkeit des Menschen. Es gab keine Seele mehr, die nach dem Tod in den Himmel auffuhr, die Unsterblichkeit des Menschen sicherte und die christliche Heilsgeschichte vollendete. An die Stelle des Todesverständnisses als einer Durchgangsstation auf dem Weg zum ewigen Heil oder der ewigen Verdammnis war zudem die Erkenntnis getreten, dass der Tod das absolute Ende des Daseins bedeuten könnte. Das Wissen um die Existenz einer Seele und ihr Leben im Jenseits waren damit unwiederbringlich erschüttert worden. Der Tod war nun nicht mehr der Moment, in dem die unteilbare, gottgegebene Seele aus dem Körper fuhr und den vormals lebenden Körper zu einem toten machte, der Tod wurde zu einem sich in die Zeit erstreckenden Prozess, in dessen Verlauf die körperlichen Funktionen nach und nach versagten. Es war der Verlust der Unsterblichkeit und die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung, die der anthropologischen Transformation zugrunde lagen und auf die mit Rettungsmaßnahmen, mit Wiederbelebung und mit der Verlängerung der Bestattungsfristen reagiert wurde. Sie erklären das hohe Maß an Aufregung und Angst, die in der Debatte um den Scheintod artikuliert wurden. Es war diese gesellschaftliche Erschütterung oder Kontingenzerfahrung, die mittels der Diskussion über Todeszeichen, der Institutionalisierung von Rettungsgesellschaften und in den Kasuistiken verhandelt wurde. Dass der Tod an der Epochenschwelle als ein sich in die Zeit erstreckender Prozess beschrieben wurde, verweist auf einen weiteren gesellschaftlichen Umbruch, der nicht nur in dem Wandel der Todesvorstellungen reflektiert wurde, sondern weit über ihn hinaus reichte: die gesellschaftliche Erfahrung der Verzeitlichung. Die wissenschaftlichen Veränderungen, die zur Auflösung der alten Seelenvorstellungen und der Entstehung einer neuen Anthropologie beigetragen hatten, veränderten nämlich auch das Wissen über die Beschaffenheit der Welt selbst. Nicht nur der Mensch wurde zu einem Teil der empirisch zu untersuchenden, vergänglichen Natur, auch die Welt wurde erklär- und analysierbar als Teil einer wissenschaftlich ergründbaren und allgemeinen Gesetzmäßigkeiten unterliegenden Natur. Mit diesem Wissen wurden christlich-mittelalterliche Zeit- und Raumkonzepte ins Wanken und letztlich die christliche Heilsgeschichte zum Einsturz gebracht. Mit der Erkenntnis, dass die Seele sterblich war, zerfielen auch die Prämissen der christlichen Heilsgeschichte. So unterliegt der Entstehung des Be278
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griffs »Scheintod« nicht nur die anthropologische Transformation und eine neue Definition von Leben und Tod, sondern der Neologismus des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts macht zudem deutlich – und dies ist ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser Arbeit –, dass die Frage nach den Veränderungen der Sinnstiftung des Todes auf die gesellschaftliche Erfahrung der Verzeitlichung bezogen werden muss: Mit dem Einbruch der Historizität ins Bewusstsein der Menschen bestimmten nicht mehr die Hoffnung auf Auferstehung und die Erwartung des christlichen Endgerichts den Blick auf Leben und Sterben. Die gesellschaftliche Erfahrung der Verzeitlichung eröffnete die Perspektive einer prinzipiell unendlichen Zukunft, in der der Mensch begann, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Er denkt und plant seither sein Leben in Kategorien der modernen Zeitvorstellung. So gehört zu einem Denken in Begriffen der Verzeitlichung der Glaube an oder die Ablehnung von Fortschritt. Auch die Vorstellung, dass vergangene Zeit nicht wieder eingeholt werden könne oder dass der Mensch gehalten sei, sein Leben zwischen den Polen von Beschleunigung und Verlangsamung gestalten zu müssen, basiert auf dem Einzug der Geschichte ins gesellschaftliche Bewusstsein. Diese neuartige kulturhistorische Situa tion hängt mit dem Verlust der Unsterblichkeit unmittelbar zusammen. Denn mit der Öffnung der Zukunft als eines unendlichen Prozesses fiel die Beschränkung der Zeit durch das Ende der Welt, das Gottesgericht, fort. So markiert die Scheintoddebatte den Beginn des modernen Todesverständnisses, denn in ihr kam eine verzeitlichte Vorstellung des Todes zum Ausdruck: Der Tod war nicht länger der Moment der Trennung von Körper und Seele, der Tod wurde zu einem sich in die Zeit erstreckenden Prozess. Die Eindrücklichkeit des Scheintodes wird auf eine andere Weise deutlich, wenn sie nämlich mit einer weiteren gesellschaftlichen Katastrophe, dem Erdbeben von Lissabon 1755, verglichen wird. Dabei sind die beiden Katastrophenwahrnehmungen unterschiedlich. Ein Erdbeben stellt ein singuläres Ereignis dar, das auf einmal das Leben eines gesamten Kollektivs unwiederbringlich verändert. Die Gefahr eines unerkannten Scheintodes bezieht sich hingegen auf den Tod in seiner alltäglichen Präsenz und betrifft den einzelnen Menschen. Die Katastrophe ist hier also viel individueller und trifft nicht mit einer solchen äußeren Wucht. 1755, zufälligerweise fast zeitgleich mit dem Erscheinen von Bruhiers Dissertation, wurde die portugiesische Hauptstadt Lissabon von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht, bei dem mindestens 30 000 Menschen starben. 85 Prozent aller Gebäude in Lissabon wurden zerstört, darunter fast alle Kirchen und so symbolträchtige Bauten wie der Palast
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und die gerade erst errichtete Oper.1 Das Erdbeben von Lissabon gilt als das heftigste und zerstörerischste der neueren Geschichte Europas. Naturkatastrophen sind Ereignisse, an denen Historiker Mentalitäten prüfen können. Die von außen einwirkenden Ereignisse zwangen die Zeitgenossen zu Stellungnahmen. Das Erdbeben von Lissabon war eine solche Katastrophe. Sie bereitete dem Optimismus der Aufklärung quasi von außen ein jähes Ende und bewegte die Zeitgenossen zum Innehalten. In den Reflexionen über das Erdbeben von Lissabon haben Historiker daher die Geburtsstunde der modernen Geschichtsphilosophie ausmachen können: »Gott hat das Schaffen bleiben lassen, denn nicht Gott ist der Schöpfer der Welt, sondern – als Schöpfer des Menschenwerks Geschichte – der Mensch«.2 Vor die Herausforderung gestellt, dem Ausmaß der Katastrophe Sinn zu verleihen und Gottes Wirken philosophisch zu verteidigen, kam die Philosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu diesem Schluss. Das Erdbeben wurde nicht mehr als Strafe Gottes oder als Ereignis betrachtet, in dem sich das Wirken Gottes unmittelbar offenbarte. Es geschahen offensichtlich furchtbare Dinge innerhalb der nach mechanischen Gesetzen funktionierenden Welt, die Gott zuließ. Diese Einsicht jedoch, dass der Mensch zwar sich Katastrophen nicht einfach als Strafen oder Sühne sinnhaft machen konnte, aber Gott (offensichtlich) auch nicht gerecht und gütig handelte, hinterließ ein Interpretationsvakuum, das die moderne Geschichtsphilosophie hervorbrachte.3 Der Mensch wurde auf sich selbst zurückgeworfen, jedoch konnten sich einige Menschen leichter mit der Selbstermächtigung arrangieren als andere. So wurde der König von Portugal nach dem Erdbeben klaustrophobisch und melancholisch, sein Ministerpräsident hingegen bewährte sich als Vertreter und Anwender der praktischen Vernunft. »Begrabt die Toten und ernährt die Lebenden«, ist von ihm als Maxime überliefert, mit den Aufräumarbeiten anzufangen und die Stadt wieder aufzubauen. Pragmatismus stellte eine Möglichkeit dar, der Katastrophe Herr zu werden, innerweltliche Flucht eine andere.
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Vgl. Ulrich Löffler: Lissabons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts, Berlin/New York: de Gruyter 1999, S. 127-142; Manfred Jakubowski-Tiessen/Hartmut Lehmann (Hg.): Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. Odo Marquard: »Die Krise des Optimismus und die Geburt der Geschichtsphilosophie. Über die geistesgeschichtlichen Folgen des Erdbebens von Lissabon«, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 253, 29./30.10.2005, S. 63-64, S. 63. Ebd.
SCHEINTOD UND VERZEITLICHTE GESELLSCHAFT
Um die Eindrücklichkeit des Einzugs der Historizität zu ermessen – die gesellschaftliche Bedeutung des Verlusts der Unsterblichkeit und der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung –, bedarf es nicht einmal eines äußeren Ereignisses wie einer Naturkatastrophe. So jedenfalls legt es diese Arbeit nahe. Der Scheintod, eine gewissermaßen selbstgemachte Katastrophe, hat sich als genauso eindrücklich erwiesen, um die Ausmaße des Mentalitätsumbruchs im Zuge der Aufklärung vor Augen zu führen. Dass dabei das Erdbeben von Lissabon, das von Voltaire bis Goethe von zahlreichen namhaften und weniger prominenten Zeitgenossen kommentiert wurde, auch als »das erste globale Medienereignis«4 gewertet worden ist, hing mit der äußeren Realität des Ereignisses zusammen. Der Scheintod war von eigener Realität. Er besaß in der Öffentlichkeit ebenfalls eine sehr große Präsenz. Die Diskussion um irrtümlich begrabene Menschen erfasste jedes Land, in dem die Aufklärung debattiert wurde. Kasuistiken und Fälle von lebendig begrabenen Menschen wurden international in den moralischen Wochenschriften abgedruckt. Es war jedoch die äußere Wucht des Erdbebens, die der großen Anzahl an Reaktionen und Anteilnehmern eine quasi selbstevidente Berechtigung verschaffte. Demgegenüber schufen die Scheintodfälle, deren Inhalte sich wiederholten und die typisiert werden konnten, eine Art selbstbezügliche Realität, die nicht minder eindrücklich war, die aber nicht auf diese äußere Objektivität bezogen werden konnte. Die Arbeit spürte dem Scheintod in dem Zeitraum zwischen 1750 und 1850 nach. Um 1750 erreichte die Sorge, dass Menschen lebendig begraben werden könnten, die deutsche Öffentlichkeit der Aufklärung. Die Geschichte des Scheintodes begann mit der Bildung des Begriffs in der Medizin der Aufklärung. Der Scheintod fand seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Öffentlichkeit der Aufklärung Verbreitung, wobei es vor allem die Ärzte waren, die für Öffentlichkeit sorgten, indem sie Kasuistiken zusammenstellten und in den moralischen Wochenschriften Fälle kolportierten. Der Scheintod umfasste nach dem medizinischen Verständnis die Gesamtheit aller Zustände von Bewusstlosigkeit, dabei vor allem uneindeutige Formen der Bewusstlosigkeit. Gemeinsames Merkmal dieser heterogenen Personen- und Zustandsgruppe bestand erstens darin, dass der vermeintliche Eintritt des Todes nicht von Angehörigen, Nachbarn oder anderen Zeugen überprüft werden konnte. Dadurch standen sie, wenn auch nur kurzzeitig, außerhalb der sozialen Ordnung. Zum Zweiten war die Frage der Ursächlichkeit oder Kausalität des Todes schwierig zu klären. Dies traf insbesondere 4
Martin Halter: »Begrabt die Toten, ernährt die Lebenden. Vor 250 Jahren erschütterte das Erdbeben von Lissabon den Optimismus der Aufklärung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 249, 26.10.2005, S. N3. 281
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auf die Unglücksfälle und die Todesfälle durch Gewalteinwirkung zu. Die Wissenschaft schuf sich ihre Untersuchungsobjekte damit über Ambivalenz, welche in Eindeutigkeit überführt werden sollte, und nahm sich derjenigen an, die zeitweilig außerhalb der sozialen Ordnung standen und kontrolliert werden mussten. Die propagierte Scheintodproblematik hatte den Zweck, zur Lebensrettung, Wiederbelebung und Verlängerung der Bestattungsfristen aufzurufen. Damit ist eine vor allem sozial- und gesellschaftsgeschichtlich wirksame Reaktion auf die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung und den Verlust der Unsterblichkeit dargestellt: Sie bestand in der Sicherung des irdischen Lebens, die sich in der Gründung von Rettungsanstalten und Leichenhäusern materialisierte und in Gesetzen zur Verlängerung der Bestattungsfristen Anwendung fand. Ein wichtiges Medium der Veröffentlichung waren die Kasuistiken, in denen die gesammelten Fälle irrtümlich begrabener Menschen verbreitet wurden. Diesen Kasuistiken haftet unweigerlich die Frage an, ob es eine Häufung übereilter Bestattungen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert gab oder ob es sich nur um einen Medienhype handelte, um ein diskursives Hochschaukeln in den moralischen Wochenschriften der Aufklärung. Die Frage nach dem Realitätsgehalt der Kasuistiken wird nun aufgegriffen, um an ihnen zwei Bedeutungsdimensionen für die Diskussion um den Scheintod aufzuzeigen. Über die Zeitschriften und Bücher der Spätaufklärung ist die Angst vor dem Lebendigbegraberwerden verbreitet worden, angestoßen durch das Buch des französischen Arztes Jean-Jacques Bruhier. Diese Fallgeschichten waren gültiges Wissen der Zeit. Die antiken und mittelalterlichen Geschichten über das Lebendigbegrabenwerden aus den Kasuistiken machte Bruhier dann zum ersten Mal zu Scheintodfällen. Dass er sie in dieser Debatte glaubwürdig verwenden kann, weist darauf hin, dass Autorität und Tradierung – die ja Kriterien für vormoderne Wissenschaft sind – weiterhin gültig waren. Die Ärzte des 18. Jahrhunderts verwendeten darin das Wissen der Alten, welches noch nicht historisiert wurde. So waren Geschichten aus der Antike genauso glaubwürdig wie Fälle aus der eigenen Gegenwart der Gelehrten. Dieser Befund stellt eine Aussage über die Beschaffenheit wissenschaftlichen Wissens im 18. Jahrhundert dar. Dass diese Kasuistiken heute dem Bereich der Märchen und Sagen zugeordnet und ihre Glaubwürdigkeit kritisch hinterfragt wird, hängt damit zusammen, dass sich historische Textinterpretationen eingebürgert haben und, damit zusammenhängend, das Verständnis von Autorität stark verändert hat. Das Kriterium der Tradition reicht nicht mehr aus, um Glaubwürdigkeit zu rechtfertigen. Experimentelle Beweisführung und die Erfahrung der Praxis des Experten garantieren Autori282
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tät, nicht die bloße Übernahme überlieferten Wissens. Boccaccios Dekameron ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Autorität der Alten von den Ärzten funktionalisiert wurde. Als Geschichten über Moral und tugendhafte Liebe thematisierte Boccaccio unter anderem Frauen, die ihre Männer oder Geliebten vergifteten und die damit genau dieses Ideal verletzten. Boccaccios Dekameron enthält jedoch keine Scheintodgeschichten im Sinne des 18. Jahrhunderts, weil sie nicht auf den frühzeitigen Verlust des irdischen Lebens hinweisen. Die Geschichten stehen in einem ganz anderen Zusammenhang, sie problematisieren moralische Verwerfungen. So ist die Scheintoddiskussion ein interessanter Fall für ein wissenschaftliches Schwellenphänomen und für die Spannungen innerhalb der Wissenschaft selber. Die Kasuistiken mit ihren antiken und mittelalterlichen Geschichten konzipieren gemeinsam mit experimentellen Erkenntnissen wie der Entdeckung des Blutkreislaufs und physikalisch verstandenen Körperkräften das Konzept Scheintod. Dass diese Geschichten – wie auch die Beispiele aus der Antike oder anderen Überlieferungen – dennoch strategisch von den Ärzten in großer Zahl platziert und eingesetzt wurden – die Mediziner also ein Medienereignis provozierten – ist auf die Größenordnung des Scheintodes als Signum für die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung zurückzuführen. Die Ärzte warben engagiert und hartnäckig für die Verlängerung der Bestattungsfristen, für Lebensrettung und Wiederbelebung, um dem Verdiesseitigungsprozess eine Stimme zu geben und um sich selbst darin als Verantwortliche in Bezug auf die Todesfeststellung und als Instanzen der Entscheidung über Leben und Tod zu präsentieren. In diesem Zusammenhang sind auch die in den moralischen Wochenschriften abgedruckten Gesetzestexte, die regionalen Verordnungen und ihre Wiederholungen zu betrachten. Sie machten einen nicht unerheblichen Anteil der Veröffentlichungen über die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens aus. Diese Gesetze bildeten ab, dass die gesellschaftlichen Eliten (die akademisch ausgebildeten Ärzte, die Medizinalbeamten, die an der Gesetzgebung beteiligten Juristen und auch Theologen) aus dem neuen Verständnis von Leben und Tod Konsequenzen zu ziehen bereit waren. Die Bedeutung der Inhalte, die in den Kasuistiken ausgebreitet wurden, entfaltet sich damit vor dem Hintergrund der gesellschaftsstrukturellen Veränderungen der Aufklärung, der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung. Zusammengefasst stellten Fallgeschichten damit erstens das diskursive Mittel dar, mit dem die Ärzte üblicherweise wissenschaftlich kommunizierten und sich verständigten. Diese Fälle unterlagen noch nicht den Anforderungen historischer Quellenkritik. Zweitens stellten die Fälle strategische Mittel dar, die die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zur Verfügung hatte, um einem Anliegen an283
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gemessen öffentlich Gehör zu verschaffen. Es ging also nicht um die Fälle in ihrer wörtlichen Bedeutung, sondern um ihre Funktion innerhalb der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts und um ihre Funktion innerhalb der Verarbeitungsmodi der Kontingenzerfahrung an der Epochenschwelle. Dass mit den Kasuistiken also eine strategisch-praktische Absicht verbunden war, deren Bedeutung jedoch nicht durch die Beurteilung des wörtlichen Gehalts der Fälle klar wird, ließ sich zusätzlich anhand der Bestattungspraktiken illustrieren. Bei der Verlängerung der Beerdigungsfristen stießen nämlich unterschiedliche Anthropologien und die damit einhergehenden unterschiedlichen Todesverständnisse aufeinander. Gegen diese alte Anthropologie richteten sich die Aufklärer. Beide Anthropologien waren einerseits unvereinbar, weil sie auf unterschiedlichen Wissensbeständen basierten: Die kleine körperhafte Seele, die im Moment des Todes dem Körper entfuhr, stand dem prozesshaften Todesverständnis gegenüber, das von einem sukzessiven Versagen aller körperlichen Funktionen ausging und die Vorstellung einer Seele obsolet gemacht hatte. In der Praxis hielt sich der kulturelle Identitätsverlust in Grenzen. Zwar sperrte sich der katholische Priester vehement gegen eine Verlängerung der Bestattungsfristen, das »Religionssystem der Catholiken«, so der Verwaltungsbeamte Nieberding, lasse eine Verlängerung der Beerdigungsfristen jedoch durchaus zu. Hohe Affinität zum neuen Todesverständnis bewiesen hingegen die aufgeklärten Protestanten und die aufgeklärten Juden. Sie machten sich innerhalb ihrer Konfession bereitwillig zu Fürsprechern für die Verlängerung der Beerdigungsfristen und trugen so zur »Auflösung der alten Welt und der Entstehung der neuen« (Koselleck) bei. Damit hatte die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden am Ende des 18. Jahrhunderts auch einen durchaus praktischen Bezug. Sie stand ganz konkret in Zusammenhang mit den bestehenden Bestattungspraktiken. Angesichts der üblichen Praxis in der ständischen Gesellschaft, Menschen unabhängig von den Konfessionen innerhalb von 24 Stunden zu beerdigen, wurden mit der Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden gängige gesellschaftliche Praktiken kritisiert. Dies reflektierten auch die zahlreichen Gesetzesnovellen, die in den unterschiedlichen Territorien erlassen wurden. Vor dem Hintergrund, dass insbesondere Arme und Kinder oftmals innerhalb weniger Stunden nach ihrem Ableben, ohne aufgebahrt zu werden, beerdigt wurden, kann man sich vorstellen, dass es auf dieser praktischen Ebene durchaus eine reale Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens gegeben hat. Diese Bestattungspraktiken wurden jedoch erst im 18. Jahrhundert von den Aufklärern als problematisch wahrgenommen. Ihre Untersuchung war für diese Arbeit
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entsprechend deshalb so aufschlussreich, weil sie die unterschiedlichen, in Konflikt stehenden Vorstellungen des Todes offenbarten. Auf die Frage, wie die Popularisierer und Trägergruppen in der entstehenden modernen Gesellschaft mit dieser Kontingenzerfahrung umgingen, dem Verlust des Glaubens an die Unsterblichkeit und die Fortexistenz in einem Jenseits, gibt es entsprechend noch weitere Antworten. Die Scheintoddiskussion in der Spätaufklärung wurde von Ärzten bestimmt, die sich aus ordnungspolitischen Gründen an staatliche Stellen wandten und Instrumente wie die Gesetzgebung für ihr Anliegen in Anspruch nahmen. Die Analyse der beiden Bestandteile des Wortes »Schein-Tod« zeigte jedoch darüber hinaus, dass Teile der gesellschaftlichen Eliten um 1800 eine Wahlverwandtschaft zwischen dem Scheintod und pantheistischen Vorstellungen herstellten und so ihre eigene Antwort auf die Erschütterung der heilgeschichtlichen Erwartung fanden. So verwies »Schein« zunächst auf einen erkenntnistheoretischen Zusammenhang, auf den Anspruch des sogenannten Deutschen Idealismus nämlich, die Metaphysik auf neue Grundlagen zu stellen. Da die Philosophie das »Absolute« mit den Mitteln des menschlichen Verstandes und der Vernunft (als eines spezifischen Erkenntnisvermögens) neu konzeptualisieren wollte, stellte sie das menschliche Bewusstsein und die Subjektivität in den Mittelpunkt ihres Interesses. Dadurch richtete sich das Erkenntnisinteresse auf die Frage nach dem prinzipiellen Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Absoluten, dem Subjekt und dem Weltganzen. So gingen in die lexikalische Definition von »Schein« Anfang des 19. Jahrhunderts Kants Überlegungen aus seiner Kritik der reinen Vernunft ein. »Schein« meinte dabei eine Täuschung an der Erscheinung eines Gegenstandes oder Zustandes, wobei die Auflösung des Irrtums subjektabhängig war. Denn es gab laut Kant keine von der eigenen Wahrnehmung unabhängige Realität. Die Literaten des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert, die das Motiv des Lebendigbegrabenwerdens ästhetisch bearbeiteten, stellten entsprechend das Individuum in den Mittelpunkt ihrer Geschichten – das sich als unteilbar verstehendes, unverwechselbares und unwiederholbares Selbst. In der ästhetischen Bearbeitung diente der Scheintod, der zwischen Jenseits und Diesseits hin und her changierte, motivisch als Moment der Reflexion über das eigene Leben. Er fungierte als Steigerungselement der eigenen Individualität und er diente der dramatischen Steigerung der Beziehung zwischen dem Ich und dem Du. Das »Absolute« im Verhältnis zum Individuum trat in der Vorstellung des Todes hervor, für die die Philosophie Spinozas Postulat einer Identität von Gott und Natur rezipiert und weiter entwickelt hatte. Für 285
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sie gab es in einer prinzipiell belebten Welt keinen endgültigen Tod, sondern nur ein »Wechseln der Form«. Die Spannung für den Einzelnen, die auch die Philosophie als solche nur feststellen und aushalten konnte, bestand darin, dass er zwar nach seinem Tod in einen größeren Organismus, in ein größeres Ganzes, aufging, aber trotzdem als Individuum verschwand. Diese pantheistisch-naturphilosophischen Vorstellungen prägten sowohl Philosophen als auch protestantische Theologen und Literaten um 1800. An der neutestamentarischen Geschichte von der Auferweckung des Lazarus konnte entsprechend diskutiert werden, ob dieser auch scheintot hätte sein können: Wenn man davon ausging, dass jeder Mensch eine ewige, nie vergehende Substanz in sich hat, die nach dem Tod in der Natur oder in einem größeren Organismus aufging, hätte Lazarus nicht in einem materialistischen Sinne tot sein müssen. Indem in den Offenbarungsglauben naturphilosophische Vorstellungen eingingen, kann diese Form des Pantheismus für den Zeitraum um 1800 als eine Sinnstiftung des Todes nach der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung gelesen werden. Sie bestätigt, dass es »opposed Enlightenments« (Shapin) und »conflicting Enlightenment languages of nature« (Reill) gab, die in ihrer Heterogenität von mechanistischen bis vitalistischen Ansätzen auch ein differenziertes Bild dessen abgaben, was »die Aufklärung« war. So besteht eine Bedeutung des Scheintodes darin, dass ihm eine kleine elitäre gesellschaftliche Gruppe, die sich, ausgestattet mit dem gleichen intellektuellen Rüstzeug, mit den gleichen Ideen identifizierte, Relevanz für sich selbst beimaß. In ihrer Selbstbezüglichkeit stand diese Gruppe von Theologen, Literaten und Philosophen neben oder sogar außerhalb der alltagspraktischen Bedeutung, die der Scheintod für Bestattungspraktiken oder den medizinischen Umgang mit dem toten Körper hatte. Als kulturelle Praxis und Lebenswirklichkeit einer Elite besaß diese Selbstbezüglichkeit aber eine eigene gesellschaftliche Realität. In seiner berühmten Studie Die Geburt der Klinik hat Michel Foucault der Epochenschwelle und ihrem Stellenwert für die Entstehung des modernen Individuums ebenfalls eine große Bedeutung zugemessen. Foucault sagt diesbezüglich: »Es ist von entscheidender und bleibender Bedeutung für unsere Kultur, dass ihr erster wissenschaftlicher Diskurs über das Individuum seinen Weg über den Tod nehmen musste. […] [A]us der Einfügung des Todes in das medizinische Denken ist eine Medizin geboren worden, die sich als Wissenschaft vom Individuum präsentiert.«5
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Foucault: Geburt der Klinik, S. 207.
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Die »Einfügung des Todes in das medizinische Denken« bezieht sich auf die scheinbar paradoxe Begründung der Pathologie, die, indem sie tote Körper untersuchte, als erste Disziplin erstmals die Vorgänge des Lebens erforschte. Durch das Aufschneiden toter Körper gewannen die pathologischen Anatomen Wissen über den Körper im Leben. Foucault erweist sich dabei als Vertreter eines genuin modernen Todesverständnisses, indem sich ihm der Tod als eine rigorose und endgültige Grenze präsentiert. Die modernen Wissenschaften und die Geburt des Individuums, die moderne Subjektwerdung, stehen auch für ihn in einem engen Zusammenhang. Die Auflösung der alten Seelenvorstellungen durch das physiologische Wissen vom Körper hat die moderne Anthropologie hervorgebracht: Pointiert gesagt, lief die Entsubstanzialisierung der mittelalterlichen Seelenvorstellungen auf den Tod des Menschen, wie er bis dahin bekannt war, hinaus.6 Die modernen Wissenschaften haben den Menschen dann, aus der Notwendigkeit heraus, die unhaltbar gewordenen alten Vorstellungen zu ersetzen, neu als Individuum hervorgebracht und seine Unverwechselbarkeit in Kategorien von beispielsweise normal und pathologisch erleben lassen. Die Individualisierungsthese, die unten nochmals als soziologische These von der Individualisierung des Todes diskutiert wird, hat damit auch in Foucault einen Fürsprecher gefunden. Das moderne Individuum wurde in der – von ihm so bezeichneten – »klassischen Periode« geboren. Es musste seither Leben und Tod selbst deuten und sich damit auseinandersetzen, dass es nach der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung nur noch sich und die Beziehung zu den anderen Individuen gab. Der Sinn des Lebens muss selbst geschaffen werden. Die Angst vor dem Scheintod, lanciert und kolportiert durch die Mediziner des 18. Jahrhunderts, trieb weite Teile der bürgerlichen Intelligenz gleichermaßen um. Diese Furcht produzierte zahlreiche medizinische Schriften, Gesetzestexte, Schauergeschichten und Gedichte und veranlasste die Zeitgenossen institutionelle und materielle Vorkehrungen gegen die Gefahr des Lebendigbegrabenwerdens zu schaffen. Es wurden Kriterien festgesetzt, den wahren Tod vom scheinbaren Tod zu unterscheiden, Weckapparate wurden erfunden, Institutionen wie das Leichenhaus gebaut, um dieser Sorge einen Ort der Beobachtung und Kontrolle zu geben und es wurden Gesetze verabschiedet, die ein zu frühes Begraben verhindern sollten. Um 1850 begann der Duktus dieser Debatte sich zu ändern. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Scheintod dem Aberglauben zugeschlagen. Die Ärzte deuteten um, was sie 50 Jah-
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Vgl. auch Luhmann: »Individuum, Individualität, Individualismus«, S. 158. 287
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re zuvor noch aufgescheucht hatte. Der Volksaberglaube nahm auch die wissenschaftlichen Inhalte und Mentalitäten der Spätaufklärung und Frühromantik wieder auf. Nur wurden von da an Vorgänge, von denen Menschen glaubten, sie könnten 100 Jahre in einen Zustand des Scheintodes versetzt werden, der Ignoranz und Unbildung zugeschrieben. Die Angst vor dem Scheintod, ehemals lanciert und kolportiert durch Angehörige der bürgerlichen Stände, wurde umgedeutet, indem sie dem Volksaberglauben zugeschrieben und mit dem Verweis auf die Wirkungsmächtigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse, gesetzlicher Maßnahmen und einer verbesserten Technik für überwunden erklärt. Diese Umdeutung wurde in dieser Arbeit als Beleg dafür gewertet, dass der in der Aufklärung eingeleitete Mentalitätsumbruch in den gesellschaftlichen Eliten angekommen war. Das verzeitlichte Todesverständnis hatte sich etabliert und es war den Ärzten gelungen, sich in der Frage der Todesfeststellung erfolgreich zu professionalisieren. Dieser Bereich war unwiederbringlich in den Zuständigkeitsbereich der Medizin eingegangen, wodurch der Scheintod als Profilierungsfeld von den Ärzten nicht mehr benötigt wurde. Er konnte als behoben erklärt werden (obwohl die gesellschaftliche Kontingenzerfahrung nie mehr behoben werden konnte). Diese Ergebnisse stehen im Widerspruch zur These aus der Sekundärliteratur, dass die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden durch die fortgeschrittene Medizin und die ärztlichen Diagnosefähigkeiten eingedämmt und behoben werden konnte. Vielmehr muss man sagen, dass die Bedeutung des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts als Argument für das Verschwinden des Scheintodes aus der Öffentlichkeit relativiert werden muss. Die Wissenschaft, so die These, die dieser Arbeit zugrunde lag, trug vielmehr zur Einübung des neuen Todesverständnisses bei und sicherte diese mithilfe von Instrumenten und medizinischer Technik, die zugleich für neue Objektivitätskriterien standen, ab. Diese gesellschaftliche Selbstverständigung über das moderne Todesverständnis kann jedoch nicht im Sinne einer linearen Rationalisierung irrational verstandener Ängste begriffen werden. Dies machten neben der Umdeutung als Volksaberglauben auch die Einzelpersonen deutlich, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts weiter mit dem Scheintod beschäftigten. Einzelne, die mit dem wissenschaftlichen Wissen nicht beruhigt werden konnten und die die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden zu ihrem persönlichen Anliegen machten. Von daher hat sich auch die Frage nach Verwissenschaftlichung als sinnvoll erwiesen. Verwissenschaftlichung nicht einfach als Rationalisierung zu begreifen, sondern als Bestimmung des »Charakters der neuzeitlichen Wissenschaft« und seinen »Veränderungen im Verhältnis zur Gesellschaft« (Weingart), brachte wechselseitige Bezüge zwischen 288
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Wissenschaft und Gesellschaft zum Vorschein, die für diese Arbeit wichtig waren. Denn zunächst war es die neuzeitliche Wissenschaft, die die anthropologische Transformation und die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung hervorgebracht hat. Das wissenschaftliche Wissen untergrub die Plausibilität der biblischen Zeitvorstellung und bewirkte die Auflösung der alten Seelenvorstellungen mit. Im Licht dieser Befunde konnten die zahlreichen Gesetze in den verschiedenen deutschen Territorien als mehr als ein Ausdruck des Regulierungseifers des frühneuzeitlichen Staates interpretiert werden. Sie waren eine Folge der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung und reagierten auf das neue Verständnis von Leben und Tod. Auch in Bezug auf die Bemessung der Durchdringungstiefe der Wissenschaft hat sich für den Untersuchungszeitraum Weingarts Phasenmodell hilfreich gezeigt. An der Epochenschwelle war das »theoretische Wissen« den »Praktikern noch unterlegen« (Weingart), der Grad an Verwissenschaftlichung also noch gering. Das wissenschaftliche Wissen zirkulierte innerhalb der gesellschaftlichen Eliten. Die neue Anthropologie, verbunden mit dem prozessualen Verständnis des Todes brachte Gesetzesinitiativen auf den Weg, ließ Ärzte zur Gründung von Leichenhäusern aufrufen, die sich zwar anfangs nicht durchsetzten, auf die als Institution am Ende des 19. Jahrhunderts aber doch zurückgegriffen wurde. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Leichenhäuser gesamtgesellschaftlich verankert und das Rettungswesen breit institutionalisiert. In Bezug auf die Feststellung des Todes waren Techniken wie die Feder oder der beschlagene Spiegel noch bis weit ins 19. Jahrhundert auch von Ärzten gebräuchliche Mittel, den Tod festzustellen. In dieser Frage griffen die Ärzte also auf alltagsübliche Praktiken und die eigene Erfahrung zurück: Die eigene Sinneswahrnehmung und das erfahrungsbasierte Gelehrtenurteil garantierten Wahrheit und genügten den Anforderungen auf Objektivität. Sich auf die eigene Sinneswahrnehmung zu verlassen, war nicht nur in der Medizin ausschlaggebend. Die Faktizität der Auferstehung des Lazarus diskutierten die Theologen um 1800 auch daran, wie glaubwürdig die Augenzeugen gewesen waren. Ob Lazarus tatsächlich von den Toten auferstanden war oder ob die biblische Erzählung anders gedeutet werden müsste, bemaß sich für die Theologie an den Aussagen der Anwesenden und ihrer sozialen Stellung. Die Ärzte konnten in Bezug auf den Umgang mit dem scheintoten Körper ihren Alleinvertreteranspruch um 1800 noch nicht durchsetzen. Zur Verhinderung des zu frühen Begrabens musste auf lokale Funktionsträger zurückgegriffen werden, also auf Pastoren beispielsweise, die die Gesetze gegen das Lebendigbegrabenwerden von ihren Kanzeln verlasen. Auch die Einführung, der Fall und Wiederauf289
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stieg der Leichenhäuser sind exemplarisch. Nachdem sie auf Initiative einzelner Ärzte wie Christoph Wilhelm Hufeland Ende des 18. Jahrhunderts erbaut wurden, um dem neuen Todesverständnis einen Ort der Überwachung zu geben, verfielen die Stätten bald wieder. Leichenhäuser erwiesen sich letztlich jedoch als gutes Beispiel für die Verschiebung von Deutungshoheit: Sie wurden am Ende des 19. Jahrhunderts wieder aufgegriffen und zeigten so, dass die medizinisch-wissenschaftliche Deutung des Todes das Handeln des Staates und der gesellschaftlich Verantwortlichen bestimmte. Verwissenschaftlichung bedeutet nicht Rationalisierung in dem Sinn, dass alte Wissensbestände durch Berechnung »entzaubert« werden und dadurch im Gegenzug Irrationalitäten, Emotionen und altes Wissen zunichtemachen – im Sinne einer Verlustgeschichte. Wenn wissenschaftliches Wissen Leben und Tod als wissenschaftliche Prozesse definiert und die Angst vor dem Geisterglauben abnimmt, weil Scheintote nicht mit mehr Wiedergängern verwechselt werden können, bedeutet es nicht, dass alle Ängste, die mit dem Sterben verbunden sind, verschwinden. Es entstehen im Gegenteil neue. Psychoanalytische Phobien wie die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden ist eine und das Motiv des Lebendigbegrabenwerdens taucht in der Populärkultur ja auch weiter auf. Dass die Geschichte des Scheintods nicht nur in ihren Anfängen keine Rationalisierungsgeschichte war, sondern auch nicht in ihrem weiteren Verlauf nicht durch Rationalisierung gelöst wird, ist ein weiteres Ergebnis dieser Arbeit. Wissenschaftsgeschichtliche Ansätze, die die Wissenschaft selber historisieren, halfen verstehen, dass der Scheintod aus der Öffentlichkeit verschwand, weil die Ärzte sich neuen Problemlagen wie Sozialmedizin und Bakteriologie zuwandten und der Scheintod ein Randphänomen blieb, das sich in neuen Gesichtern zeigte. Die Gefahr eines einzelnen Scheintodes blieb in Form von Berufsunfällen (bei elektrischen Schlägen beispielsweise) ein Belang der industrialisierten Gesellschaft, die Feststellung des Todeszeitpunkts blieb für die forensische Pathologie ein Thema, scheintote Neugeborene standen weiterhin auf der Agenda der Geburtshilfe und Ertrunkene und Erstickte waren zu Fällen geworden, die in den Zuständigkeitsbereich der Ersten Hilfe fielen. Die unterschiedlichen Bedeutungen, die der Scheintod in dem Zeitraum zwischen 1750 und 1850 entwickelte, haben auch für die gegenwärtige Gesellschaft noch Bedeutung. An sie soll im Folgenden angeschlossen werden, um einen Ausblick auf die Bedeutung der Kontingenzerfahrung Scheintod in der modernen Gesellschaft zu geben: Wie geht der moderne Mensch mit dem Wissen um die eigene Sterblichkeit nach der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung um? Welche 290
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Ressourcen hat die Gesellschaft und welche Angebote macht sie, um dem »Schrecklichen« einen Sinn zu verleihen und die Angst vor dem Tod zu beseitigen oder zumindest abzuschwächen (Hahn)? Der Einbruch der Historizität ins Bewusstsein der Menschen hat dazu geführt, dass alle letzten Gewissheiten hintergehbar geworden sind und die Gesellschaft »Wissen [auch über den Tod] doppelgleisig produziert: nämlich einerseits als Wissen über die historische Variabilität der Formen – daß alles relativ ist – und andererseits als trotzdem gewolltes Ausgangs- oder Orientierungswissen, an das man anknüpfen muss, um dem eigenen Leben Sinn und Richtung zu verleihen.«7 Die Zeitgenossen haben den Einbruch der Historizität von Anfang an als Problem wahrgenommen. In der Scheintoddebatte wurde dieses Orientierungswissen produziert, indem Mediziner, Verwaltungsbeamte und andere Angehörige der gesellschaftlichen Eliten dazu aufriefen, das irdische Leben nicht frühzeitig aufzugeben, sondern es so lange wie möglich zu erhalten: Der Gesundheitsdiskurs der Aufklärung über »Makrobiotik«, Pockenimpfung oder Wiederbelebung reflektierte die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung mit der Sicherung des irdischen Lebens. Diese Ausprägung der Verdiesseitigung bildete den Ausgangspunkt einer Entwicklung, die unsere Gesellschaft bis heute prägt: Im Namen der Gesundheitserhaltung weist die Gesellschaft den betreffenden Institutionen und Professionen beinahe unbeschränkte Befugnisse zu. Die Aufwertung des irdischen Lebens und der gesellschaftliche Wert »Gesundheit« wird an einem aktuelleren Beispiel als der Scheintoddebatte deutlich, das an der Grenze von Leben und Tod angesiedelt ist und diese Grenze verschoben hat: die Transplantationsmedizin. So haben die Möglichkeiten und Ansprüche der Transplantationsmedizin in den letzten Jahrzehnten den Hirntod, auch biologischer Tod genannt, zu einer neuen Grenze des Todes gemacht. Die Todesgrenze ist zeitlich nach vorne verlegt worden, denn die Organentnahme muss vor dem Eintritt der gängigen Todeszeichen, Herzstillstand, Totenflecken und Totenstarre eintreten.8 Die Kriterien des Todes bleiben also umkämpft. Wann jemand tot ist, bleibt ein kulturelles Konstrukt, denn es wird normativ festgelegt. Trotzdem bleibt es auch dabei, dass die gegenwärtige Gesellschaft sich darauf geeinigt hat, die Definition dieses kulturellen Konstrukts in die Hände der modernen Wissenschaft zu legen. Und die Definition ist so angelegt, dass sie hilft – im weiteren Sinne – Leben zu erhalten, Leben zu retten und Leben zu verlängern. 7 8
Luhmann: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, S. 9. Vgl. Johannes Hoff/Jürgen in der Schmitten (Hg.): Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und »Hirntod«-Kriterium, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995. 291
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Der Zusammenbruch der heilsgeschichtlichen Erwartung ist als Beginn der Verdiesseitigung beschrieben worden, als die »fortschreitende Übertragung religiös-metaphysischer Konzepte in soziale Erfahrungskonzepte« (Hölscher). Nachdem es kein Heil für den Menschen im Jenseits mehr zu erwarten gab, mussten Sinnstiftungskonzepte ins Diesseits verlegt werden. Eine Richtung der Kulturkritik hat darin die Materialisierung der Gesellschaft gesehen. Der Sinn des Lebens bestehe darin, viel Geld anzusammeln, Energie in das Andenken im Diesseits zu investieren, möglichst lange zu leben und den Tod so weit wie möglich hinauszuzögern. Wenn die soziologische Forschung argumentiert, dass die Gesellschaft im Namen der Gesundheit und der Verlängerung des Lebens nahezu alle (wissenschaftlichen) Anstrengungen gutheißt, so ist dies sicher eine Ausprägung dieser Haltung. Für die andere Seite dieses kulturhistorischen Dilemmas gibt es jedoch auch Beispiele. In Lissabon verkörperten König José I. und sein Ministerpräsident das Dilemma des modernen Umgangs mit dem Tod. Pragmatismus kann ebenso wie innerweltliche Flucht als verständliche Reaktion auf die Naturkatastrophe verstanden werden. Beide Reaktionen kompensieren die Erschütterung jedoch nicht oder machen das Geschehene wieder gut. Auch die Verdrängungsthese ist eine Umgangsform mit dem kulturhistorischen Dilemma eines »guten Todes«. Diese langlebige These in der Literatur über Tod und Sterben in der modernen Gesellschaft wird zwar seit ihrem Auftreten von Kritik begleitet, sie hält sich in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung jedoch nach wie vor und hat bis in die Feuilletons nicht an Präsenz verloren. Sie greift genau auf die Reflexion an der Epochenschwelle zu, dass nämlich der moderne Umgang mit Tod und Sterben einen Bruch mit traditionalen Mustern bedeutet und dass wir – wie auch immer dies dann formuliert wird – unter diesem Umgang leiden. Die Psychoanalyse griff die Denkfigur des geschichtlichen Denkens über den Bezug auf den Entwicklungsbegriff auf. Sie begreift Biographie als Geschichte und trennt zwischen unbewusst und bewusst wie zwischen vorgeschichtlich und diesseitig. Indem die Psychoanalyse den Scheintod als Phobie verstand, wurde er einerseits in das Reich des Pathologischen abgeschoben. Andererseits, weil die Psychoanalyse nach wie vor ein wichtiges Deutungsinstrument zum Verständnis unserer Kultur darstellt, ist der Scheintod dort aber auch gut aufgehoben und wird als Bestandteil unserer Kultur so gewissermaßen kultiviert. Die andere Umgangsweise, die direkt mit der Denkbewegung der modernen Geschichte zusammenhängt, ist die Umdeutung des Scheintodes als Volksaberglauben. Einerseits ist der Scheintod damit in das Reich des Irrationalen, Vorgeschichtlichen abgeschoben worden, andererseits ist er dort aber auch ebenfalls als kollektives Gut aufgeho292
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ben und darf seine Präsenz behalten. Die moderne Gesellschaft hat sich damit zwei alternative Formen zum Umgang mit dem Scheintod zur Verfügung gestellt, die außerdem sowohl kollektiv als auch individuell greifen: Der Glaube an den Scheintod ist eine persönliche Marotte oder etwas Pathologisches, mit dem jeder Einzelne zu kämpfen hat. Es weiß aber auch jeder darum, dass diese Formen des Glaubens von der Gesellschaft als Volksglauben oder Phobien gewertet werden. Der Einzug des historischen Denkens hat eine Form der Wissensproduktion in Gang gesetzt, die sich aus der Dynamik von Kritik und Gegenkritik speist. Abstrakter formuliert hat der Einzug des historischen Denkens eine Ausdifferenzierung des Wissens in Gang gesetzt, die zu einer Relativität des Wissens geführt hat und die es schwer macht, etwas Einheitliches oder Allgemeinverbindliches über den Tod zu sagen. Dies ist eine direkte Folge der Transformationen an der Epochenschwelle. Eine weitere Folge der Umstellung vom Diesseits aufs Jenseits, von der Ewigkeit in die Geschichte, ist die Individualisierung des Todes. Die ersten Belege für eine Individualisierung des Todes fallen bezeichnenderweise mit der Epochenschwelle zusammen. Der Soziologe Alois Hahn misst die Individualisierung anhand der Angst vor dem Selbstverlust, wobei eine öffentlich kundgegebene Angst vor dem Tod als gesteigerte Angst vor dem Selbstverlust gilt und auf einen Individualisierungsschub verweist. Die Angst vor dem Scheintod markiert eine Steigerung der Individualisierung: Vor 1800 wurde die Angst vor Selbstverlust vom individualisierten Jenseitsschicksal aufgefangen, nach 1800 wurde die Angst vor Selbstverlust durch die Hoffnung auf die Verlängerung des individuellen, irdischen Lebens beruhigt. Individualisierung ist auch ein Ergebnis von Ausdifferenzierung und Uneinheitlichkeit, denn die zunehmende Auflösung verbindlicher Normen und Werte wirft das Individuum in zunehmendem Maße auf sich selbst zurück. Die Individualisierung des Todes ist ein Strukturmerkmal unserer Gesellschaft, das bis heute Gültigkeit besitzt. Nahtoderlebnisse beispielsweise, eine quasi aktuelle Version, die Grenze zwischen Leben und Tod zu betrachten, können nur als »Visionen vor dem kulturellen und biografischen Hintergrund des zeitweise Entschwebten gedeutet werden«.9 So führen New Yorker im yellow cab gen Himmel, der Inder hingegen benutze die Kuh als Transportmittel. Die Individualisierung ist im Grunde eine Form der Verdiesseitigung, denn individuelle Erinnerung kann es nur noch in Form von diesseitiger Erinnerung geben (Hahn). Indem die moderne Gesellschaft den Tod als den »Tod des anderen« erlebt, hat sich letztlich
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Vgl. Urs Willmann: »Einmal Hölle und zurück«, in: Die ZEIT Nr. 29, 14.07.1999, S. 35-36. 293
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der Analyserahmen von Philippe Ariès als weiterhin aktuell und fruchtbar erwiesen. Ariès ging davon aus, dass »eine Beziehung zwischen der Einstellung des Menschen zum Tode und seinem Selbstbewusstsein, seiner Selbsterkenntnis oder einfach seiner Individualität bestehen muß«10 und dass diese untersucht werden müsse, um die jeweilige gesellschaftliche Bedeutung des Todes zu ermessen. Es gibt keinen homogenen und gesellschaftlich verbindlichen Umgang mit dem Tod mehr. Die Formen sind individuell und uneinheitlich geworden.11 Auch Bestattungsunternehmer reagieren darauf. Sie nehmen wahr, dass es dabei zweierlei Tendenzen gibt: die sehr persönliche Form und Wertschätzung des Abschieds und die schnelle Entsorgung. Die Bestattungsunternehmer veranlassen Feuerbestattungen und sorgen für ein anonymes Grab. Sie arbeiten aber auch mit Hospizen zusammen, für die die Kultivierung von Sterben und Abschied besonders wichtig ist. AIDS-Patienten sind und waren hier Vorreiter, weil die Toten oft vergleichsweise jung sind. Aber auch andere, persönliche Bestattungsformen werden nachgefragt. Bestatter bieten je nach weltanschaulicher Ausrichtung schadstoffarme Öko-Särge oder den klassischen Eichensarg an.12 Ein Frankfurter Bestatter setzt sich in seinem »Haus der menschlichen Begleitung« dafür ein, dass Angehörige am offenen Sarg sitzen und Schulkinder einen Leichnam berühren. Auch Trauerbewältigungskurse bietet er an.13 Jeder Fünfte lege nach Angaben des deutschen Bestattungsgewerbes fest, welche Musik auf seiner Beerdigung gespielt werden solle. Neben den klassischen Stücken wie Schuberts »Ave Maria« oder Händels »Largo« seien auch »Yesterday« von den Beatles und insbesondere nach dem Tod 1997 der englischen Princess of Wales, Diana, das Lied von Elton John »Candle in the Wind« zu oft gewünschten Trauerliedern avanciert.14 In einer Umfrage des evangelischen Ma10 11 12
13 14
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Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, S. 773. Vgl. Feldmann, Sterben und Tod, besonders: S. 41 ff. Vgl. Michael Winter: »Service für den letzten Weg. Vom Leichenentsorger zum Berater. Berlins ältestes Bestattungsunternehmen sucht neue Wege für den Umgang mit dem Tod«, in: Die ZEIT Nr. 49, 29.11.1991, S. 83; Anne Lorenç: »Das Tabu ums Sterben ist noch nicht gebrochen. Immer mehr wollen sich anonym bestatten lassen«, in: Frankfurter Rundschau Nr. 275, 25.11.2000, S. 29; Max Rauner: »Der Tote ist König. Bestatter bieten heute zahlreiche neue Dienste rund ums Sterben – und fordern nun auch einen eigenen Ausbildungsberuf«, in: Die ZEIT Nr. 49, 29.11.2001, S. 87. Vgl. Petra Mies: »Leben mit dem Tod«, in: Frankfurter Rundschau Nr. 261, 11.11.2000, Magazin, S. 3. Vgl. »Die aktuellen Todes-Charts« (http://www.BerlinOnline.de/wissen/ berliner_zeitung/ archiv / 1997/12/ feuilleton/0066/ index. html [Zugriff: 24.07.2007]).
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gazins CHRISMON, was man sich unter der »Auferstehung von den Toten« vorstelle, gaben immerhin 30 Prozent der Befragten die christlichtraditionelle Vorstellung »Der Körper stirbt, und die Seele lebt weiter« an.15 In einer anderen Umfrage des gleichen Magazins gaben 42 Prozent der Befragten an, an ein Leben nach dem Tod zu glauben, wobei der Jenseitsglaube in der Altergruppe der 30-39-jährigen erstaunlicherweise am stärksten verhaftet war.16 Individualisierung heißt nicht nur Ausdifferenzierung der Umgangsformen mit Tod und Sterben, sondern auch die Bindung gesellschaftsrelevanter Entscheidungsprozesse an das Individuum. Diese Form der Individualisierung bestimmt auch ethisch heikle Bereiche des modernen Umgangs mit Tod und Sterben wie die Sterbehilfe oder den Suizid. In einer Gesellschaft, die das Individuum zum Entscheidungsträger gemacht hat, besteht das ethische Problem diesbezüglich darin, wie weit der Mensch über sein Leben bestimmen darf. Dass diese Problemstellung genuin modern ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Selbstbestimmung über Leben und Tod in einer Gesellschaft, die ihre Geschicke von göttlichem Willen und einem Heilsplan bestimmt sieht, gar nicht diskutiert werden müsste.17 Der Einzelne muss in einer Gesellschaft, die nicht auf Individualrechten basiert, über das Ende seines Lebens keine Bestimmungen treffen. Das Leben unterliegt nämlich nicht der Selbstbestimmung, sondern einem göttlichen Willen oder dem Schicksal. Dieses ethische Dilemma wurde zuletzt an dem Fall Terry Schiavo deutlich, der besonders eindrücklich deshalb war, weil die Bedeutung des Lebens dieser Palliativpatientin zu einer juristischen Frage von Zuständigkeiten und individuellen Rechten, in diesem Fall des Ehemanns, wurde.18 Der Tod dieses Menschen wurde in der Medienberichterstattung fast ausschließlich über diese Fragen verhandelt. Es ging kaum um Trauer, Abschied oder Verlust. Es sind Fragen offengeblieben. In dieser Arbeit ist das aus Frankreich kommende Buch von Bruhier als Auslöser für ein Medienereignis der Aufklärung interpretiert worden. Es war in den verschiedenen Ländern, in die die Wellen der Aufklärung schwappten, übersetzt worden und wurde deshalb als Medium der Aufklärung eingeordnet. Dabei ist 15 16 17 18
Vgl. »Auferstehung von den Toten – Wunschvorstellung oder Realität? Was meinen Sie?«, in: CHRISMON 2 (03/2002), S. 10. Vgl. »Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?«, in: CHRISMON 1 (10/2000), S. 6. Vgl. Richard Herzinger: »Wem gehört das Menschenbild? Die Kritik an den Niederlanden ist illegal«, in: Die ZEIT Nr. 18, 26.04.2001, S. 6. Vgl. Torsten Krauel: »Terry Schiavo wird sterben«, in: Die WELT online (http://www.welt.de/print-welt/article561890/Terry_Schiavo_wird_ sterben.html [Zugriff: 22.10.2007]). 295
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unbeantwortet geblieben, warum das Buch, das die Scheintoddebatte lostrat, aus Frankreich kam? Denn auch wenn die Auflösung der Seelenvorstellungen den wissenschaftlichen Erkenntnissen geschuldet war, die nicht national gebunden waren, bleibt es eine offene Frage, weshalb der Auslöser ausgerechnet in Frankreich entstand. Wenn man davon ausgeht, dass es nicht die eine Aufklärung gab, sondern sie eine komplexe Erscheinung darstellt, muss Bruhiers Dissertation stärker auf ihren Entstehungskontext in Frankreich befragt werden. Die verschiedenen Ausprägungen der Aufklärung, das Geflecht aus Empirismus, Antimetaphysik (England), die Konsequenzen in Form einer starken Religionskritik und politischem Radikalismus (Frankreich) und die Beibehaltung metaphysischer und transzendentaler Elemente in Deutschland, wurden in den beteiligten Nationen unterschiedlich gewichtet. Möglicherweise hat die Entstehung der Dissertation von Bruhier damit zu tun, dass die materialistischen Ausrichtungen in Frankreich stärker waren und das Bedürfnis, das Leben vor dem Tod zu schützen, eine größere mentale Dringlichkeit hatte. Dafür müsste der Kontext, in dem Bruhier sein Buch schrieb, seine Netzwerke und sein ideengeschichtlicher Hintergrund, genauer untersucht werden. Auch für die Geschichte des Scheintodes nach der Aufklärung ergeben sich solche Fragen. Der Begriff »Scheintod« hat im deutschen Sprachgebrauch eine viel größere Bedeutung als die Äquivalente in anderen Sprachen. Zwar gab es in England, Frankreich und den deutschen Landen gleichermaßen eine Debatte über »unsichere« und »sichere« Todeszeichen und der dahinter steckende Aufklärungsdiskurs war den gleichen Erkenntnissen über die erschütterte heilsgeschichtliche Erwartung geschuldet, »Scheintod« hat als Wort jedoch stärker Eingang in die Sprache gefunden als »la mort apparente«, »premature burials« oder »apparent death«. Es ist die Frage, ob dieser Befund damit zu tun hat, dass die Romantik in Deutschland einen ungleich höheren Stellenwert besaß als in anderen Ländern und ob die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung anders als in den anderen europäischen Ländern verarbeitet wurde. Die Plausibilität der Frage nach der Andersartigkeit wird dabei auch dadurch deutlich, dass in beispielsweise England die »gothic novels« als literaturgeschichtliche Gattung erfunden wurden und Mary Shelleys Frankenstein ja eindeutig in Zusammenhang mit der Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung gebracht werden konnte. Niklas Luhmann stellte in diesem Zusammenhang die Frage, ob »die Deutschen zu sehr auf Ästhetik, Ganzheit, Leben gesetzt hatten, während im Westen die Nutzen- und Profitorientierung den Ausschlag
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gab?«19 Die Ästhetik und Ganzheit jedenfalls in Bezug auf die Formierung des Individuums spiegelt sich in den Geschichten über das Lebendigbegrabenwerden wider. Die Tatsache, dass der Scheintod ästhetisiert wurde und den modernen Umgang mit Tod und Sterben als Individualisierung des Todes reflektierte, wirft die Frage auf, wie sich in anderen Ländern, die auch von der Aufklärung ergriffen wurden, die Individualisierungsprozesse gestalteten, die im Umgang mit Tod und Sterben zutage traten. Noch ein Wort zum Abschluss zu den heutigen Geschichten über den Scheintod. Der Münsteraner Rechtsmediziner Alfred DuChesne schätzt, dass ungefähr zehnmal im Jahr fälschlicherweise ein Tod festgestellt wird. Damit liege die Bundesrepublik im internationalen Vergleich noch an der unteren Grenze. Diese Fälle, so DuChesne, seien lediglich Beispiele für eine nachlässig durchgeführte Leichenschau. Eine genaue Zahlenangabe sei jedoch nicht zu machen, weil man natürlich nicht weiß, wie viele Menschen, für die schon der Totenschein ausgestellt wurde, tatsächlich noch lebten.20 Wenn solche Fälle bekannt werden, geistern sie als Meldungen durch die Gazetten und sind in Zeitungen in den Rubriken »Aus aller Welt« oder »Vermischtes« zu lesen.21 Damit verrät der Ort dieser Geschichten, ihre Art der Präsentation in einem Medium wie der Zeitung, womit die gegenwärtige Gesellschaft beschäftigt ist. Denn Geschichten über das Lebendigbegrabenwerden, nicht nur über falsche Todesfeststellungen, gibt es nach wie vor. Sie stehen nur mittlerweile in einem völlig anderen Zusammenhang. Wenn Menschen wie im polnischen Kattowitz unter einem von Schnee eingedrückten Dach lebendig begraben werden, wirbt die Zeitung nicht für Lebensrettung oder Wiederbelebung. Diese Handlungsimperative gehören längst zum gesellschaftlichen Standard. Solche Nachrichten sind nicht aktuell, weil sie auf die Verbreitung eines neuen Todesverständnisses abzielen. Im Jahr 2006 sorgt man sich um Sicherheitsstandards oder Normierungsdefizite in einem zusammenwachsenden Europa. Gleichwohl kann man sich vorstellen, dass die Aufklärer eine solche Geschichte gern als eindrückliches Beispiel benutzt hätten, um auf die Ge19 20
21
Luhmann: »Individuum, Individualität, Individualismus«, S. 216. »Nur auf dem Schein tot«, (http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,18886 10,00.html [Zugriff: 27.06.2002]); vgl. Bernd Brinkmann/Sybille Banaschak/Hansjürgen Bratzke: »Fehlleistungen bei der Leichenschau in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse einer multizentrischen Studie (I-II)«, in: Archiv für Kriminologie 199 (1997), S. 1-12. Vgl. zusätzlich zu den Belegen aus der Einleitung: »Untoter versetzt indisches Dorf in Panik«, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 13, 17.01.2006, S. 12; »72-jährige stirbt zweimal« (http://www.spiegel.de/panorama/0,151 8,186 695,00.html [Zugriff: 12.03.2002]). 297
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fahr des Lebendigbegrabenwerdens aufmerksam zu machen. Die Medien zeigen durch die Art und Weise, wie sie die Geschichten über das Lebendigbegrabenwerden präsentieren, wie die Moderne in der Gesellschaft angekommen ist. Denn Scheintodgeschichten auf den hinteren Seiten der Zeitung stammen aus katholischen Ländern, aus fernen Ländern, gerne sind Frauen betroffen. So hält man eher die Bevölkerung katholischer Länder für geneigt, an Geister zu glauben. Ferner macht die gegenwärtige mediale Repräsentation des Scheintodes glauben, dass exotische Länder in einem weniger hohen Maß von Wissenschaft und Technik berührt sind und deshalb in diesen Gegenden Menschen leichter irrtümlich für tot erklärt werden. Und auch an scheintote Frauen kann spätestens seit Schneewittchen und der binären Codierung der Geschlechterdifferenz angeschlossen werden. Auf sie greift das kollektive Gedächtnis auch in Bezug auf den Scheintod gerne zurück.
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DANK
Eine erste Fassung des Manuskripts wurde im Sommersemester 2006 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Das Promotionsvorhaben wurde im Rahmen des Graduiertenkollegs »Genese, Strukturen und Folgen von Wissenschaft und Technik« am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (IWT) der Universität Bielefeld gefördert. Von der konstruktiven, offenen und freundlichen Atmosphäre im Kolleg und im Institut hat diese Arbeit sehr profitiert. Für Rat und Kritik danke ich der Erstgutachterin Ute Frevert und dem Zweitgutachter der Arbeit, Heinz-Gerhard Haupt. Wolfgang Mager hat sich im Laufe der Jahre immer wieder als Gesprächspartner zur Verfügung gestellt, wertvolle Hinweise gegeben, noch unfertige Thesen diskutiert und bei Argumentationsschwierigkeiten geholfen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Sybilla Nikolow hat sich Zeit genommen, einzelne Kapitel zu lesen und zu kommentieren. Sie hat die Werdung dieser Arbeit mit kontinuierlichem und immer gleich großem Interesse begleitet. Für diese Unterstützung danke ich ihr sehr. Andrea Westermann hat die Arbeit von ihrer Entstehung bis zur Abgabe des Druckmanuskripts am ausdauerndsten und unermüdlichsten unterstützt. Für die zahlreichen Gespräche, Telefonate und Textkommentare bin ich ihr zu großem Dank verpflichtet. Viele Gedanken konkretisierten sich erst durch die Auseinandersetzung mit ihr und gewannen an Gestalt. Einzelne Kolleginnen haben Teile der Arbeit mit mir diskutiert, sie lektoriert und hilfreiche Rückmeldungen gegeben: Ich danke Daniela Saxer und Swantje Lahm. Freundinnen, Freunde und Familie haben die Arbeit Korrektur gelesen und mich durch ihre Hilfsbereitschaft und ihren Rückhalt großzügig unterstützt: Herzlichen Dank an Uli, Kerstin, 299
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Stefanie, Stefan, Susanne, Maren, Tobi und Annelie. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern. Sie haben mich nie daran zweifeln lassen, dass die Arbeit zu einem guten Ende kommen wird und mich emotional, moralisch und nicht zuletzt finanziell stets gestärkt und bestärkt.
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ABKÜRZUNGEN
ALR BAM EM GG HessStAMr HRG HWDA HWP LexMA LThK RGG StAOl StadtABi StadtAPb TRE ZRGG
Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten Bistumsarchiv Münster Enzyklopädie des Märchens Geschichte und Gesellschaft Hessisches Staatsarchiv Marburg Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Historisches Wörterbuch der Philosophie Lexikon des Mittelalters Lexikon für Theologie und Kirche Religion in Geschichte und Gegenwart Niedersächsisches Staatsarchiv Oldenburg Stadtarchiv Bielefeld Stadtarchiv Paderborn Theologische Realenzyklopädie Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte
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LITERATURVERZEICHNIS
Quellen Bistumsarchiv Münster Bestand A 5 Lohne
Niedersächsisches Staatsarchiv Oldenburg Bestände 31-6-16, Nr. 21 31-6-34, Nr. 30 6-D, Nr. 315
Stadtarchiv Bielefeld Bestände Ältere Akten 370 Ältere Akten 1455a
Stadtarchiv Paderborn Bestand A 1379
Hessisches Staatsarchiv Marburg Bestand 319 Marburg A, Nr. 291
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Wörterbücher und Lexika Conversations-Lexikon oder Hand-Wörterbuch für die gebildeten Stände oder die in der geselligen Unterhaltung und bei der Lectüre vorkommenden Gegenstände, Namen und Begriffe […], 10 Bde., Leipzig: Brockhaus 21812-1819. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexicon), 12 Bde., Leipzig: Brockhaus 71830. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, 12 Bde., Leipzig: Brockhaus 81833-1837/39. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, 15 Bde., Leipzig: Brockhaus 91843-1848. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, 15 Bde., Leipzig: Brockhaus 101851-1855. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon), 15 Bde, Leipzig: Brockhaus 111864-1868. Dornblüth. Klinisches Wörterbuch, bearb. v. Pschyrembel, W., Berlin: de Gruyter 23-261936. Klinisches Wörterbuch. Die Kunstausdrücke der Medizin, erläutert v. Otto Dornblüth, Berlin/Leipzig: de Gruyter 121926. Lexikon des Kirchenrechts und der römisch-katholischen Liturgie. In Beziehung auf Ersteres mit steter Rücksicht auf die neuesten Concordate, päbstlichen Umschreibungs-Bullen, und die besonderen Verhältnisse der katholischen Kirche in den verschiedenen deutschen Staaten, hg. v. Müller, Andreas, 5 Bde., Würzburg: E. Etlinger’sche Buchhandlung 21838-1839. Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des Wissens, 16 Bde., 1 Erg.-Bd., 2 Suppl.-Bde, Leipzig: Bibliographisches Institut 41890-1892. Oeconomisch-technologische Encyklopädie oder allgemeines System der Land-, Haus- und StaatsWirthschaft. In alphabetischer Ordnung, hg. v. Krünitz, Johann Georg, 242 Bde., Brünn: Trassler Pauli 17731858. Teilweise unter dem Titel »Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- u. Landwirthschaft«, »Encyclopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Hausu. Landwirthschaft«, ab 1785 unter dem Titel »Ökonomischtechnologische Encyclopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft u. d. Kunstgeschichte«. Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. In Verbindung mit vielen protestantischen Theologen und Gelehrten, hg. v. Herzog, J.J., 21 Bde., Hamburg: Besser 1854-1866.
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QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, begr. v. Herzog, J.J., hg. v. Hauck, Albert, 24 Bde, Leipzig: Hinrichs 318961913. Real-Encyklopädie der gesamten Heilkunde. Medizinisch-chirurgisches Handwörterbuch für praktische Ärzte, hg. v. Eulenburg, Albert, 15 Bde., Berlin/Wien: Urban & Schwarzenberg 41907-1914. Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, hg. v. Pierer, H.A., 34. Bde., Altenburg: Pierer 21840-1854. Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften, hg. v. Hergenröther, Joseph Cardinal und Kaulen, Franz, 12 Bde. u. 1 Erg. Bd., Freiburg im Breisgau: Herder 21882-1903. Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde., 4 Suppl.-Bde., Halle/Leipzig: Johann Heinrich Zedler 1732-1750 [ND Graz 1961-1964].
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331
SCHEINTOD
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REGISTER
Achim, bei Bremen 182 Andersen, H. Chr. 270 Ariès, P. 7, 31, 107, 294 Arnim, A. v. 37, 90, 121, 258 Auferstehung 10, 72, 74, 85 ff Augener, M. 30 Augenzeugen 61, 72, 78, 84 Ausdifferenzierung 15, 25, 236 ff, 293 Auskultation 241, 252 Bahrdt, C. F. 77 Baur, F. Chr. 80, 82 Becker, R. Z. 61, 120, 124, 161 Beerdigungszeremonien 175177, 180 f, 182 f, 229 ff Berlin 137, 149, 213, 215, 228, 234, 253, 257 Bielefeld 177, 189, 233 Boccaccio, G. 117 f, 283 Bondeson, J. 30, 112, 122, 236, 276 Böttiger, K. A. 70, 187 f, 226 Bouchut, E. 251 Braunschweig 143, 188 Brecht, B. 269 Brentano, C. 37, 90, 247 Breslau 142, 213, 228, 252 Brinckmann, J. P. 108, 132
Bruhier, J.-J. 36, 101-103, 104 f, 110, 282 Corbin, A. 18, 143 Daston, L. 21 Descartes, R. 41, 57 ff, 195 Dülmen, R. v. 59, 127 Elias, N. 25 Emden, J. 193 f England 32, 104, 138, 225, 296 Epilepsie 7, 126, 127 Erste Hilfe 249, 272, Siehe auch Lebensrettung Fallgeschichten Siehe Kasuistik Fischer, N. 28, 231 Foucault, M. 19, 286 Frank, J. P. 132, 161 Frankreich 138, 225, 252 Friedhof 18, 143, 161, 219 Gabler, J. Ph. 76, 81 Geburt im Sarg 94, 121, 247 Gerichtsmedizin 136, 246, 255 Geruch 131, 144, 170, 171, 203 f, 216, 253 Gfrörer, A. F. 83 Goethe, J. W. v. 49, 69 f, 80, 81, 281 Goff, J. Le 54, 168 Grimm, Brüder 37, 90 f, 258 f Hahn, A. 24, 88, 291, 293 333
SCHEINTOD
Haller, A. v. 63, 67, 101 Hamburg 105, 106, 136, 137, 138, 139, 149 Hannover 54, 60, 84, 140, 149, 201 Heilsgeschichte, christl. 11, 23, 62 Heine, H. 93-95 Herz, M. 195-199 Hölscher, L. 62, 276 Hufeland, C. W. 19, 64, 65, 66, 69, 114, 124, 195, 215, 222, 224 Individualisierung 24, 91, 236, 269, 273, 293, 295 Jardine, N. 42, 217, 242 Jena 64, 76, 81 Jesus 71, 77, 86 Kant, I. 46, 72, 95, 285 Kassel 234 Kasuistik 109-124 Kempner, F. 271 f Kessel, M. 32, 109, 122, 211 Kinder, neugeborene 66, 158, 183, 203, 238, 290 Kirchenbücher 151 Klopfgeister 55, 112, Siehe auch Wiedergänger Koch, T. 29, 109 Köhler-Zülch, I. 111 Koselleck, R. 9, 27, 62 Krochmalnik, D. 191, 198 Krünitz, J. G. 49, 106, 107, 126 Labouvie, E. 183 Lazarus 73-85, 203 Lebenskraft 41, 50, 51, 64, 66, 67, 69, 84 Lebensrettung 65, 137-142, 149 f, 259 Lecouteux, C. 53, 55 Leichenhaus 68, 142, 161, 212 f, 214, 215, 221, 222-229, 231-236 Leichenhaus, Benutzung 228 Leichenschau 135-137, 250, 297, Siehe auch Gerichtsmedizin Lenoir, T. 67 334
Lepenies, W. 9, Siehe auch Verzeitlichung Lohne, Herzogtum Oldenburg 157, 189 Lücke, F. 84 Luhmann, N. 9, 27, 39, 296 Mainz 213 Marburg 226 Mayr, B. 78, 87 McManners, J. 30 Mendelssohn, M. 49, 191 Mikrogeschichte 22 Milanesi, C. 33, 100 Münster, Collegium Medicum 202-206 Nachzehrer Siehe Wiedergänger Nahtoderlebnis 8 Neander, A. 84 Nestroy, J. N. 269 Neumann, P. N. 93 Nieberding, C. H. 157, 160, 161, 162, 284 Ohnmacht 56, 65, 67, 77, 126, 143, 204, 252, 257 Paderborn 212, 219, 228, 229, 240 Pantheismus Siehe Unsterblichkeit Paris Siehe Frankreich Parusie 63 Patak, M. 31, 109, 110 Paul, J. 92 f Paulus, H. E. G. 37, 79, 81, 85 Peter Friedrich Ludwig, Herzog v. Oldenburg 161, 199, 206 Pettenkofer, M. 234 Pfarrer, protest. 151, 163, 186, 188 f, 204, 226, 227 Planck, G. J. 37, 72, 84 Poe, E. A. 123 Priester, kath. 158, 170, 189, 220, 228 Quinlan, S. 32, 104, 225 Rationalisierung, Kritik an 15, 31, 71, 272, 288, 290 Rehwinkel, K. 33 Reill, P. H. 41, 70 Sarg Siehe Geburt im Sarg
REGISTER
Schelling, F. W. 48, 81, 217 Schlaganfall 67, 92, 126, 127, 205 Schleiermacher, F. 80 Schlumbohm, J. 145 Schmitt, J.-C. 53, 155 Schneewittchen 90, 298 Schnorr, H. Th. 187 Schopenhauer, A. 269 Schwager, J. M. 188 Seele Siehe Transformation, anthropologische Shaffer, S. 59, 78 Shapin, S. 21, 78, 286 Sickler, J. V. 162, 170, 227 Sinn Siehe Sinnstiftung des Todes, Wandel Sinnstiftung des Todes, Wandel 10, 23, 26, 63, 65, 96, 287 Spinoza, B. de Siehe Spinozismus Spinozismus 47, 48, 83, 95 Stethoskop 239, 245 Stoessel, I. 30 Strauß, D. F. 82, 85 Taphophobie 263-268 Thanatometer 243, 246 Tholuck, F. A. G. 83 Todesfeststellung, Techniken der 101, 125-132, 244 f
Totenglocke 175 Totenschein 135-137, 149-151 Transformation, anthropologische 59 ff Treitschke, H. v. 37 Unfall 137-142, 238, 248 Unsterblichkeit 49, 69, 93, 97, Siehe Pantheismus Unzer, J. A. 106 Vampir 60 Vechta, Herzogtum Oldenburg 170, 200 »Verdrängung des Todes« 24, 26 Veronal 254 Verwissenschaftlichung, Theorie 12, 21, 25 Verzeitlichung 9, 63 f, 87, 218, 291 Vovelle, M. 28, 143 Weber, M. 15 Weimar 69, 81, 138, 187, 213, 222, 226, 229 Weingart, P. 13, 20, 288 Wiedergänger 56, 174, 186, 209, 256, 261, 266 Winslow, J.-B. 100, 102, 103, 104
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ScienceStudies Andrea D. Bührmann, Werner Schneider Vom Diskurs zum Dispositiv Eine Einführung in die Dispositivanalyse Juni 2008, ca. 140 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN: 978-3-89942-818-6
Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Mai 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-703-5
Kay Junge, Daniel Suber, Gerold Gerber (Hg.) Erleben, Erleiden, Erfahren Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft Mai 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-829-2
René John Die Modernität der Gemeinschaft Soziologische Beobachtungen zur Oderflut 1997 April 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-886-5
Patricia Purtschert, Katrin Meyer, Yves Winter (Hg.) Gouvernementalität und Sicherheit Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault April 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-631-1
Janine Böckelmann, Frank Meier, Claas Morgenroth (Hg.) Politik der Gemeinschaft Zur Konstitution des Subjekts in der politischen Philosophie der Gegenwart April 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-787-5
Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Spatial Turn Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften März 2008, 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-683-0
Manfred Füllsack (Hg.) Verwerfungen moderner Arbeit Zum Formwandel des Produktiven März 2008, 180 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-874-2
Daniel Hechler, Axel Philipps (Hg.) Widerstand denken Michel Foucault und die Grenzen der Macht März 2008, 280 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-830-8
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Andreas Pott Orte des Tourismus Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung 2007, 328 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-763-9
Tanja Bogusz Institution und Utopie Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne 2007, 354 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-782-0
Johannes Angermüller Nach dem Strukturalismus Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich 2007, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-810-0
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Susanne Krasmann, Jürgen Martschukat (Hg.) Rationalitäten der Gewalt Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert 2007, 294 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-680-9
Markus Holzinger Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie 2007, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-543-7
Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen 2007, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5
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ScienceStudies Sandra Petermann Rituale machen Räume Zum kollektiven Gedenken der Schlacht von Verdun und der Landung in der Normandie
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2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-750-9
2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-636-6
Benjamin Jörissen Beobachtungen der Realität Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien
Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman
2007, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-586-4
Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge 2007, 314 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-488-1
Hans-Joachim Lincke Doing Time Die zeitliche Ästhetik von Essen, Trinken und Lebensstilen 2007, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-685-4
Nina Oelkers Aktivierung von Elternverantwortung Zur Aufgabenwahrnehmung in Jugendämtern nach dem neuen Kindschaftsrecht
2007, 410 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-571-0
Christine Matter »New World Horizon« Religion, Moderne und amerikanische Individualität 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-625-0
Petra Jacoby Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe 2007, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-627-4
2007, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-632-8
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