Das Alte Testament als deutsche Kolonie: Die Neuerfindung des Alten Testaments um 1800 9783170333475, 9783170333482

In der kurzen Zeitspanne zwischen 1785 und 1810 vollzog die Exegese des Alten Testaments in Deutschland einen enormen In

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German Pages 262 [263] Year 2018

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Table of contents :
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung: Das Alte Testament als deutsche Kolonie
1.1 Zur Textgattung des Meta-Kommentars
1.2 Postkoloniale Rezepte: Ein Vorgeschmack
1.3 Zur Geschichte des deutschen Kolonialismus
1.4 Zum Stümpern als Methode: Hegel und Haiti
1.5 Zur geschichtlichen Verortung um 1800
1.6 Die Debatte um Rassismus: Inhaltliche Beschränkung der Studie
1.7 Der Aufriss der Untersuchung
2. Auf dem Weg zu einer postkolonialen Wissenschaftsgeschichte der Erforschung des Alten Testaments: Ein Forschungsüberblick
2.1 Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments
2.1.1 Forschungsgeschichte in Theologenporträts: Von Ludwig Diestels Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche (1869) zu Henning Graf Reventlows Epochen der Bibelauslegung (2001)
2.1.2 Stärker kulturwissenschaftlich geprägte Arbeiten: Zur Bedeutung der Aufklärung und Moderne
2.1.3 State of the Art: Magne Sæbøs Hebrew Bible / Old Testament
2.2 Orientalismus und Postkolonialismus – Religionswissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Zugänge
2.2.1 Orientalismus und Religion: Religionsproduktive Diskurse der entstehenden Religionswissenschaft
2.2.2 Facettenreich und dynamisch: Zur Struktur des deutschen Orientalismus
2.2.3 Auf dem Weg zu einer postkolonialen Religionswissenschaft
2.3 Zwischenfazit
3. Elemente einer selbstreflexiven Ethnologie des Abendlandes: Hinweise zur Methodik dieser Arbeit
3.1 Orientalismuskritik als Analyse der praktischen Arbeitsweise: Im Gespräch mit der historischen Diskursanalyse
3.2 Begriffsgeschichtliche Analyse des kolonialen Archivs und eine Epistemologie des Ortes
3.3 Frontier Comparative Religion: Auf den Spuren des kolonialen Emplotments der Religionsgeschichte
3.4 Prä-Emergenz und Nachleben: Zum methodischen Umgang mit dem conceptual lock
4. Provincialising Europe in Action. Über die Herausbildung der Formationsregeln alttestamentlicher Wissenschaft im Grenzgebiet
4.1 Macht und Methode: Die historisch-kritische Methode als Problem
4.1.1 Wissenschaft in der Kontaktzone: Über das Genre der Reisebeschreibung
4.1.2 Intellektuelle Autorität über den Orient. Die Philologie als deutsche Wissenschaft par excellence und der Vorrang der Mündlichkeit
4.1.3 Kann die Subalterne dichten? Über Weltliteratur und die Taxonomie der Einbildungskraft
4.2 ‚Deutschland? Aber wo liegt es?’ Über Identitäten und Wissenslandschaften
4.3 Deutschland und das koloniale Phantasma
5. Die Erfindung des Alten Testaments – Neue Perspektiven
5.1 Der reisende Deutsche: Die Reise nach Felix Arabia als Reise in die Vergangenheit
5.1.1 Exkursion ins „Glückliche Arabien“
5.1.2 „So ehrlich und unverdächtig (...) als ein gerichtliches Protocoll“. Der literarische Niederschlag der Reise
5.1.3 Haftpunkt für das koloniale Phantasma: Entdeckungsreisen und der Südseemythos in der deutschsprachigen Literatur
5.1.4 Im Tropenfieber: Wissenschaftliche Entdeckungs-reisen im ausgehenden 19. Jahrhundert
5.2 Von Authentizität und intellektueller Autorität: Das Mosaische Gesetzbuch, die Judenemanzipation und das Aufkommen der Einleitung in das Alte Testament
5.2.1 Vom Reisebericht zur Gesellschaftsbeschreibung: Der Niederschlag der Reiseberichte in den Schriften Johann David Michaelis
5.2.2 Das Mosaische Gesetz und das Verschwinden des einheimischen Informanten: Die Idee von Mose als antikem Montesquieu
5.2.3 Johann David Michaelis und die Debatte um die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781)
5.2.4 Die Neuerfindung der Einleitungswissenschaft bei Johann Gottfried Eichhorn, Georg Lorenz Bauer und Wilhelm Martin Leberecht De Wette
5.3 Die Suche nach den Ursprüngen: Die biblische Genesis und das Kindheitsalter der Welt
5.3.1 Die Erzeugung kultureller Differenz: Johann Gottfried Herder, der ‚Edle Wilde’ und die ‚Ordnung der Kulturen’ um 1800
5.3.2 Der Geist des Orients als Ariadnefaden: Zur mythischen Deutung der Schöpfungsberichte
5.3.3 Johann Gottfried Eichhorns Urgeschichte: Die Genesis als Urkunde des Kindheitsalters der Menschheit
5.3.4 Die Schöpfungshieroglyphe Johann Gottfried Herders
5.4 Streit um die Gattungen des Alten Testaments und die Entwicklung einer Literaturgeschichte Israels
5.4.1 Zum Zusammenhang von Despotismus und Dichtkunst
5.4.2 Die Gattungen des Alten Testaments als ‚Nationalgesänge roher Völker’ und Produkt der Einbildungskraft
5.4.3 Die Sage und die Seele des Volks
5.4.4 Zum Abschluss: Der deutsche Sammler und die Figur des alttestamentlichen Sammlers
6. Fazit: Das Alte Testament als deutsche Kolonie
7. Literaturverzeichnis
7.1 Verzeichnis der genutzten Originalquellen
7.2 Verzeichnis der Sekundärliteratur
7.3 Internetquellen
8. Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen
9. Namensregister
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Das Alte Testament als deutsche Kolonie: Die Neuerfindung des Alten Testaments um 1800
 9783170333475, 9783170333482

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22.03.2018 09:13:31

Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Band 214

Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Heft 14 der elften Folge

033347-5_Simon Wiesgickl_2018.indd 2

22.03.2018 09:13:31

Simon Wiesgickl

Das Alte Testament als deutsche Kolonie Die Neuerfindung des Alten Testaments um 1800

Verlag W. Kohlhammer

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Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel „Das Alte Testament als deutsche Kolonie. Ein postkolonialer Metakommentar zur Neuerfindung des Alten Testamentes um 1800“ vom Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. 1. Auflage 2018 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-033347-5 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-033348-2 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

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Inhaltsverzeichnis Vorwort ..................................................................................................

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1. Einleitung: Das Alte Testament als deutsche Kolonie ... 11 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

Zur Textgattung des Metakommentars ............................................ Postkoloniale Rezepte: Ein Vorgeschmack .................................... Zur Geschichte des deutschen Kolonialismus ................................ Zum Stümpern als Methode: Hegel und Haiti ................................ Zur geschichtlichen Verortung um 1800 ......................................... Die Debatte um Rassismus: Inhaltliche Beschränkung der Studie Der Aufriss der Untersuchung .........................................................

16 20 24 26 30 34 36

2. Auf dem Weg zu einer postkolonialen Wissenschaftsgeschichte der Erforschung des Alten Testaments: Ein Forschungsüberblick .......................................................... 39 2.1 Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments ............................. 2.1.1 Forschungsgeschichte in Theologenporträts: Von Ludwig Diestels Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche (1869) zu Henning Graf Reventlows Epochen der Bibelauslegung (2001) ....................................... 2.1.2 Stärker kulturwissenschaftlich geprägte Arbeiten: Zur Bedeutung von Aufklärung und Moderne ........................ 2.1.3 State of The Art: Magne Sæbøs Hebrew Bible/Old Testament ........................... 2.2 Orientalismus und Postkolonialismus – Religionswissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Zugänge .......................... 2.2.1 Orientalismus und Religion: Religionsproduktive Diskurse der entstehenden Religionswissenschaft .................. 2.2.2 Facettenreich und dynamisch: Zur Struktur des deutschen Orientalismus .......................................................... 2.2.3 Auf dem Weg zu einer postkolonialen Religionswissenschaft ............................................................. 2.3 Zwischenfazit ....................................................................................

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41 47 52 56 56 61 65 69

6

Inhaltsverzeichnis

3. Elemente einer selbstreflexiven Ethnologie des Abendlandes: Hinweise zur Methodik dieser Arbeit ...... 71 3.1 Orientalismuskritik als Analyse der praktischen Arbeitsweise: Im Gespräch mit der historischen Diskursanalyse.......................... 3.2 Begriffsgeschichtliche Analyse des kolonialen Archivs und eine Epistemologie des Ortes ........................................................... 3.3 Frontier Comparative Religion: Auf den Spuren des kolonialen Emplotments der Religionsgeschichte ................... 3.4 Prä-Emergenz und Nachleben: Zum methodischen Umgang mit dem conceptual lock...................................................................

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4. Provincialising Europe in Action. Über die Herausbildung der Formationsregeln alttestamentlicher Wissenschaft im Grenzgebiet ............. 91 4.1 Macht und Methode: Die historisch-kritische Methode als Problem ................................ 4.1.1 Wissenschaft in der Kontaktzone: Über das Genre der Reisebeschreibung ............................................................. 4.1.2 Intellektuelle Autorität über den Orient. Die Philologie als deutsche Wissenschaft par excellence und der Vorrang der Mündlichkeit ....................................................... 4.1.3 Kann die Subalterne dichten? Über Weltliteratur und die Taxonomie der Einbildungskraft ................................ 4.2 ‚Deutschland? Aber wo liegt es?’ Über Identitäten und Wissenslandschaften ..................................... 4.3 Deutschland und das koloniale Phantasma .....................................

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5. Die Erfindung des Alten Testaments: Neue Perspektiven....................................................................... 121 5.1 Der reisende Deutsche: Die Reise nach Felix Arabia als Reise in die Vergangenheit ......................................................... 125 5.1.1 Exkursion ins „Glückliche Arabien“ ....................................... 129 5.1.2 „So ehrlich und unverdächtig (...) als ein gerichtliches Protocoll“: Der literarische Niederschlag der Reise ................ 134

Inhaltsverzeichnis 5.1.3 Haftpunkt für das koloniale Phantasma: Entdeckungsreisen und der Südseemythos in der deutschsprachigen Literatur ..... 5.1.4 Im Tropenfieber: Wissenschaftliche Entdeckungsreisen im ausgehenden 19. Jahrhundert ............................................. 5.2 Von Authentizität und intellektueller Autorität: Das Mosaische Gesetzbuch, die Judenemanzipation und das Aufkommen der Einleitung in das Alte Testament .............................................. 5.2.1 Vom Reisebericht zur Gesellschaftsbeschreibung: Der Niederschlag der Reiseberichte in den Schriften Johann David Michaelis .......................................................... 5.2.2 Das Mosaische Gesetz und das Verschwinden des einheimischen Informanten: Die Idee von Mose als antikem Montesquieu ......................................................... 5.2.3 Johann David Michaelis und die Debatte um die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) ............................ 5.2.4 Die Neuerfindung der Einleitungswissenschaft bei Johann Gottfried Eichhorn, Georg Lorenz Bauer und Wilhelm Martin Leberecht De Wette ...................................... 5.3 Die Suche nach den Ursprüngen: Die biblische Genesis und das Kindheitsalter der Welt .............................................................. 5.3.1 Die Erzeugung kultureller Differenz: Johann Gottfried Herder, der ‚Edle Wilde’ und die ‚Ordnung der Kulturen’ um 1800 ...................................... 5.3.2 Der Geist des Orients als Ariadnefaden: Zur mythischen Deutung der Schöpfungsberichte............................................. 5.3.3 Johann Gottfried Eichhorns Urgeschichte: Die Genesis als Urkunde des Kindheitsalters der Menschheit..................... 5.3.4 Die Schöpfungshieroglyphe Johann Gottfried Herders ........... 5.4 Streit um die Gattungen des Alten Testaments und die Entwicklung einer Literaturgeschichte Israels .......................... 5.4.1 Zum Zusammenhang von Despotismus und Dichtkunst ......... 5.4.2 Die Gattungen des Alten Testaments als ‚Nationalgesänge roher Völker’ und Produkt der Einbildungskraft ..................... 5.4.3 Die Sage und die Seele des Volks ........................................... 5.4.4 Zum Abschluss: Der deutsche Sammler und die Figur des alttestamentlichen Sammlers .............................................

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180 189 195 201 206 208 210 214 217

6. Fazit: Das Alte Testament als deutsche Kolonie .............. 227

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Inhaltsverzeichnis

7. Literaturverzeichnis .................................................................... 233 7.1 Verzeichnis der genutzten Originalquellen ................................... 233 7.2 Verzeichnis der Sekundärliteratur ................................................. 238 7.3 Internetquellen ............................................................................... 257

8. Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen ............................. 258 9. Namensregister ............................................................................... 259

Vorwort Mein erster und aufrichtigster Dank richtet sich an meine beiden Betreuer Andreas Nehring und Jürgen van Oorschot, die inspirierend, herausfordernd und anregend die Entstehung der Dissertation begleitet haben. Für Korrekturen und stilistische Hinweise danke ich Stefanie Burkhardt, Paul Schock, Michael Brugger, Manuel Kunze und Sigi Hecker. Für Gespräche über den Jemen und Literaturhinweise danke ich Marianus Hundhammer. Jürgen Paul Schwindt danke ich für freundliche Hinweise zur deutschen Altertumswissenschaft. Christian Meyer danke ich für Gespräche über die Austauschbeziehungen zwischen China und Deutschland. Die Dissertation wäre nicht entstanden ohne das produktive und unterstützende Umfeld in Erlangen, zu dem ich die Mitarbeiter*innen des Lehrstuhls für Religions- und Missionswissenschaft Rüdiger Braun, Vadim Zhdanov, Christine Pöhnl, Mila Zheltonog, Roger Thiel und Claudia Jahnel zählen darf. Besondere Motivation erfuhr ich immer wieder aus dem Kreis des Forschungsseminars Altes Testament unter Leitung von Jürgen van Oorschot und Lars Allolio-Näcke, bei deren Teilnehmer*innen ich mich für die anregenden Gespräche der letzten Jahre bedanken möchte. Erste Überlegungen im Rahmen meiner Forschungsarbeit durfte ich bei einem Treffen des Heidelberger Arbeitskreises 2014 in Kassel vorstellen. Daraus ist die Veröffentlichung: Simon Wiesgickl, Die kolonialen Anfänge der historisch-kritischen Methode. Über blinde Passagiere beim (Be)kennen der Schrift, in: Carsten Jochum-Bortfeld/ Rainer Kessler (Hg.), Schriftgemäß. Die Bibel in Konflikten der Zeit, Gütersloh 2015, 249—268.

entstanden, die den frühen Stand meiner Forschung widerspiegelt. Wo es zu textlichen Überschneidungen kommt, habe ich diese in der vorliegenden Arbeit deutlich gemacht. Ruth Scoralick und Walter Dietrich danke ich für die Aufnahme in die Reihe BWANT und die professionelle Betreuung als Herausgeberin und Herausgeber, inklusive hilfreicher Kürzungsvorschläge. Ich bedanke mich auch bei den Lektoren des Kohlhammer-Verlags für die gute Zusammenarbeit. Dank der umfangreichen Digitalisierungsarbeiten der letzten Jahre war es mir möglich, auf eine Vielzahl an Quellen direkt zuzugreifen. Sowohl den beteiligten Bibliotheken und Institutionen, als auch denjenigen, die in mühsamer Arbeit all die Texte zugänglich gemacht haben, gebührt mein umfänglicher Dank. Schließlich danke ich meinen Eltern, Freunden und Familie, vor allem aber meiner Frau Ulrike Wiesgickl, für ihre Unterstützung und Aufmunterung.

1.

Einleitung: Das Alte Testament als deutsche Kolonie „Vergleichende Wissenschaftler in Grenzgebieten haben alle Religionen der Welt neu erfunden.“1 David Chidester

Das Alte Testament als deutsche Kolonie ist ein bewusst provozierender Titel, der zum Nachdenken anregen will. Gibt es doch verschiedene Möglichkeiten, dieses Bild zu deuten: Ist damit gemeint, dass Deutschland sich einen Teil der Bibel als Kolonie einverleibte? Ist der Titel eher metaphorisch gemeint und handelt von der Bibelauslegung zu Zeiten des deutschen Kolonialismus? Wie kann eine Sammlung religiöser Texte überhaupt mit einem materiellen Gebilde wie einer Kolonie verglichen werden? Oder geht es gar nicht um konkrete Fakten, sondern um die Phantasmen des kolonialen Geistes? Und warum verwende ich das Reizwort des ‚Alten Testaments’, ein Begriff, der zumindest international durch die Bezeichnung ‚Hebräische Bibel’ zunehmend abgelöst wird? In seinem epochemachenden Werk Orientalism (1978) scheint Edward Said Deutschland keinen besonderen Rang einzuräumen: Neben britischen und französischen Protagonisten, die im Fokus seiner Studie stehen, werden deutsche Literaten, Wissenschaftler und Forscher nur am Rande erwähnt.2 Dies räumt Said auf der einen Seite freimütig ein und gibt doch andererseits erste Hinweise auf „maßgebliche Beiträge in der Orientalistik“ und die „Revolution in der Bibelforschung“, die von deutschen Wissenschaftlern vorangetrieben und mitgestaltet wurden und zugleich als Motor des Orientalismus

1

2

Soweit nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen von mir. Das fremdsprachige Original wird in einer entsprechenden Fußnote angeführt. In diesem Fall: „frontier comparativists effectively reinvented all the religions of the world.“ Siehe DAVID CHIDESTER, Savage Systems. Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa. Charlottesville/London 1996, 19. Im Hinblick auf historische Begebenheiten werde ich mich bemühen, möglichst wenig Anachronismen in die Debatte einzutragen und eng an den Diskursen meiner Quellen zu bleiben. Dies beinhaltet eine Orientierung an Begrifflichkeiten, die im 18. und 19. Jahrhundert gängig waren und heutigen berechtigten emanzipativen Namen und Konzepten zuwider laufen, wenn ich z.B. von ‚Feuerländern’ statt ‚Mapuche’ spreche. Auch im Hinblick auf männliche und weibliche Bezeichnungen habe ich mich für eine Darstellungsweise entschieden, die die patriarchalen Muster der Wissenschaften im Untersuchungszeitraum nicht verschleiert. Wo heutige Verhältnisse berührt werden, habe ich mich um eine geschlechtersensible Darstellungsweise bemüht. Auch der Begriff ‚Altes Testament’ wird hier stets als dem historischen Untersuchungsgegenstand entlehnter Ausdruck, nicht als normative Setzung gebraucht.

12

Einleitung

fungierten.3 Was hat es mit dieser Revolution auf sich, und welche Zusammenhänge lassen sich zwischen methodischen Weiterentwicklungen im Bereich der Theologie und der Diskussion um den sogenannten Orientalismus herstellen? Der Ursprung einer Fragestellung, die schließlich zu einer Forschungsarbeit führt oder das augenfällig Neue einer Situation, die mit gängigen Erklärungsmustern zu brechen scheint und deshalb eine Infragestellung des Gewohnten und Gelernten zur Folge hat, können selten im Nachhinein präzise benannt werden. Eine kurze persönliche Anekdote mag einen Hinweis auf den Kontext geben, der den Anstoß zu dieser Studie gegeben hat4. Ich antworte also auf das Bündel an Fragen erst einmal mit einer kleinen Geschichte: Eine staubige und auch verstaubte Bibliothek in einem kleinen Bibel-Seminar irgendwo in Nordindien. Der Ventilator an der Decke summt, einige wenige Studierende beugen sich über die Bücher und ich schlendere durch die Bibliothek, einen Finger am Regal für den Bereich des Alten Testaments. Neben vielen englischen Büchern von vor allem nord-amerikanischen und britischen Autoren stehen dort auch nicht gerade wenige deutsche Bücher, bzw. Bücher von deutschsprachigen Autoren, sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch. Die Rede von verstaubten Büchern ist hier mehr als eine Metapher, denn keines der Bücher ist neueren Datums. Es sind weniger die neuesten Veröffentlichungen als vielmehr die großen, klassischen Namen der alttestamentlichen Wissenschaft wie Julius Wellhausen, Gerhard Von Rad oder Martin Noth, aber auch Hermann Gunkel und Albrecht Alt, die hier auftauchen. Doch zeigen die abgegriffenen Ecken, dass die Bücher durchaus in Gebrauch sind. Im Gespräch mit den Studierenden erfahre ich später, dass das Erlernen der deutschen Sprache zwingend notwendig sei für die Erlangung eines Masters im Alten Testament.

So zufällig diese kleine persönliche Episode zu sein scheint, so belegt sie doch ein Faktum, dass man sich auch anders hätte erschließen können und das auf den ersten Blick nicht selbst erklärend ist: Die deutsche alttestamentliche Wissenschaft genießt weltweit einen unerwartet guten Ruf. Nicht wenige Fachausdrücke haben sich aus dem Deutschen im Kanon der Wissenschaft durchgesetzt. So finden sich in englischsprachigen Aufsätzen nicht selten Fachtermini wie ‚Fortschreibung’, ‚Formgeschichte’, ‚Sitz im Leben’ oder ‚Redaktionskritik’. Es gibt wohl kaum eine Fachrichtung, in der das Deutsche als eine Wissenschaftssprache noch so präsent ist, wie die Alttestamentliche Wissenschaft. Die deutsche alttestamentliche Wissenschaft steht dabei jedoch nicht nur für eine bestimmte Sprache, sondern auch für eine Wissenschaftstradition und eine bestimmte Art und Weise an die Bibel heran zu gehen. Eine

                                                             3 4

Siehe EDWARD SAID, Orientalismus. Aus dem Englischen von Hans Günther Holl, Frankfurt a. M. 42014, 27. Zugleich dient diese kleine Episode auch dazu, die persönliche Dimension dieser Arbeit darzustellen. Zu Beginn seiner Studie zum Orientalismus verweist Edward Said auf Antonio Gramsci und dessen Gefängnistagebücher und stellt heraus, dass es am Anfang jeglicher kritischer Aufarbeitung darum gehen müsse, ein persönliches Inventar zu erstellen. Siehe EDWARD SAID, Orientalismus, 36.

Einleitung

13

Anekdote des Marburger Alttestamentlers Erhard S. Gerstenberger untermauert das eindrücklich. In Bezug auf seinen Aufenthalt in den USA in den 1960er Jahren schreibt er: „Schwierig war die geheime Erwartung amerikanischer Studierender und zum Teil der Kollegen (jedenfalls des liberalen Flügels), ein deutscher Exeget müsse die endgültigen Antworten in Sachen historisch-kritischer und formgeschichtlicher Forschung haben.“5

Zwar mag sich seit den 1960er Jahren einiges geändert haben, gerade auch in der alttestamentlichen Wissenschaft, doch zeigt der Blick in neuere Werke zu methodischen Fragen der alttestamentlichen Wissenschaft, dass es vielleicht eine Abschwächung dieser Sichtweise gegeben haben mag, die Assoziationen jedoch noch vorhanden zu sein scheinen. So schreibt Juha Pakkala in seinem Buch God’s Word Omitted (2013) von „’hard core’ German introduction to the methodology of Literarkritik“6 und man weiß nicht so recht, wie viel ironischer Seitenblick und wie viel echte Bewunderung dabei mitschwingt. Ein Befund, der auch noch dadurch gestärkt wird, dass fast alle Einleitungen in die Methodik der alttestamentlichen Wissenschaften, an denen sich Pakkala abarbeitet, von deutschen Wissenschaftlern geschrieben wurden.7 Diesen Ruf hat sich die deutsche alttestamentliche Wissenschaft jedoch nicht erst zu Zeiten Gerstenbergers erworben, sondern dieses Ansehen geht zurück auf einen unaufhaltsamen Siegeszug durch das 19. Jahrhundert.8 Während die Beiträge deutschsprachiger Bibelwissenschaftler zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch keineswegs überragend waren, so ändert sich das spätestens mit den 1780er Jahren, und bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert erwirbt sich die deutsche alttestamentliche Wissenschaft jene Reputation und Diskursmacht, von der sie heute noch zu zehren scheint. Herausgebildet und entscheidend weiterentwickelt hat sich diese Disziplin also in jenem 19. Jahrhundert, das als Hochzeit des Imperialismus anzusehen ist und für die meisten Länder und Gesellschaften außerhalb Europas mit der Dominanz westlicher Kultur und Gesellschaftsformen, sowie ganz allgemein

                                                             5 6 7 8

ERHARD S. GERSTENBERGER, Erhard S. Gerstenberger, in: Sebastian Grätz u.a. (Hrsg.), Alttestamentliche Wissenschaft in Selbstdarstellungen, Göttingen 2007, 140–152, hier: 146. JUHA PAKKALA, God’s Word Omitted. Omissions in the Transmission of the Hebrew Bible, Göttingen 2013, 70. Siehe EBD., 70 und generell in seinem Überblick zur bisherigen Forschungsgeschichte. Vergleiche dazu auch JUHA PAKKALA, Textual Development within Paradigms and Paradigm Shifts, in: HeBAI 3 (2014), 327–342. Siehe JOHN W. ROGERSON, Protestant Biblical Scholarship on the European Continent and in Great Britain and Ireland, in: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation, Volume III. From Modernism to Postmodernism (The Nineteenth and Twentieth Centuries). Part 1, The Nineteenth Century- a Century of Modernism and Historicism, Göttingen 2013, 203–222, hier: 205.

14

Einleitung

mit Beherrschung und Unterdrückung verbunden war.9 Trotz der sozio-ökonomischen, gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Auswirkungen des Kolonialismus im Bereich biblischer Wissenschaften steht eine Auseinandersetzung jedoch noch weitestgehend aus. R.S. Sugirtharajah, der als einer der wichtigsten Protagonisten einer sich entwickelnden postkolonialen Theologie gilt10, bringt diesen Sachverhalt wie folgt auf den Punkt: „Bibelwissenschaftler*innen, oder für diesen Fall, Wissenschaftler*innen, die sich mit dem Feld theologischer Studien beschäftigen, müssen die Fragestellung der Verhältnisbestimmung zwischen dem europäischen Expansionismus und dem Aufkommen ihrer eigenen Disziplin erst noch bearbeiten.“11

Dies liegt nun nicht alleine daran, dass sich Wissenschaftler*innen bisher in Deutschland eher schwer getan haben, die Folgen und Implikationen des Kolonialismus und sein Weiterwirken umfassend aufzuarbeiten12, sondern an einer weiteren Besonderheit alttestamentlicher Wissenschaftsgeschichte: Arbeiten zur Wechselwirkung zwischen Paradigmenwechseln innerhalb der wissenschaftlichen Untersuchung des Alten Testaments und den sozialen, politischen und gesellschaftlichen Hintergründen sind bislang eher rar.13 Stattdessen überwiegen Ansätze, die vor allem eine geistesgeschichtliche Entwicklung aufzeigen und die Entstehung der kritischen Erforschung des Alten Testaments in Auseinandersetzung mit konservativen Kräften bzw. als eine Reaktion auf die Religionskritik der Zeit darstellen.14 Die Beobachtung, die Edward Said im Hinblick auf die amerikanische Literaturwissenschaft gemacht hat, scheint demnach übertragbar auf die deutsche biblische Wissenschaft:

                                                             9 10 11

12 13

14

Vergleiche dazu PANKAJ MISHRA, Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, Frankfurt a. M. 2013. Siehe dazu den Forschungsüberblick bei RALPH BROADBENT, Postcolonial Biblical Studies in Action: Origins and Trajections, in: R.S. Sugirtharajah (Hg.), Exploring Postcolonial Biblical Criticism. History, Method, Practice, Malden 2012, 57–93. „Scholars of biblical studies, or, for that matter, scholars working in the field of theological studies have yet to adress the relation between European expansionism and the rise of their own discipline.“ Siehe R.S. SUGIRTHARAJAH, Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation, Oxford 2002, 26. Siehe dazu die Einführung von MARIÁ DO MAR VARELA/ NIKITA DHAWAN, Postkoloniale Theorien. Eine kritische Einführung, Bielefeld 22015. Eine positive Ausnahme bietet etwa HENNING GRAF REVENTLOW/ WILLIAM R. FARMER (HG.), Biblical Studies and the Shifting of Paradigms. 1850–1914, Sheffield 1995. In diesem Band wird ausdrücklich nach den Verbindungslinien von Ideengeschichte und sozialer Geschichte gefragt. Siehe etwa die Untersuchung über den Deismus bei HENNING GRAF REVENTLOW, Bibelautorität und Geist der Moderne. Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung, Göttingen 1980; sowie die ideengeschichtliche Untersuchung CHRISTOPH BULTMANN, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung: Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik, Tübingen 1999.

Einleitung

15

„Wenn unsere Studenten in den ‚Geisteswissenschaften’ unterrichtet werden, dann lernen sie fast immer, daß die Texte der großen Klassiker das Beste verkörpern, ausdrücken und darstellen, was es in unserer, das heißt: der einzigen Tradition gibt. Weiter lernen sie, daß ein solches Gebiet wie die Geisteswissenschaften und solche Untergebiete wie ‚Literatur’ in einem politisch relativ neutralen Element existieren, daß sie gewürdigt und mit Ehrfurcht betrachtet werden müssen und daß sie die Grenzen dessen bestimmen, was kulturell akzeptabel, angemessen und gerechtfertigt ist.“15

Seit Saids Orientalismus hat sich eine eigene Wissenschaftstradition gebildet, die die Aussagen westlicher Wissenschaftler über „den Orient“ kritisch auf deren Machtposition in Diskursen und die physischen Auswirkungen ganzer Fachdiskurse hinterfragt. Diese Forschungsrichtung ist inzwischen so weit gediehen, dass die Schwachpunkte Saids ausführlich diskutiert wurden16 und zudem zum Bereich des deutschen Orientalismus, den Said ausgeklammert hatte, erste Forschungsergebnisse vorliegen.17 Im englischsprachigen Raum und insbesondere im Bereich der ‚German Studies’, sind Arbeiten zum deutschen Orientalismus ein aktuelles und kontrovers diskutiertes Thema und werden häufiger bearbeitet als in Deutschland.18 Eine Übertragung auf den Bereich der Theologie und hierbei insbesondere auf die Alttestamentliche Wissenschaft steht jedoch erst am Anfang.19 Dabei gibt es enge personelle, methodische und strukturelle Parallelen, die zwischen dem Fachgebiet der Orientalistik und der Erforschung des Alten Testaments bestanden haben.20

                                                             15 EDWARD SAID, Die Welt, der Text und der Kritiker. Aus dem Englischen von Brigitte Flickinger, Frankfurt a. M. 1997, 34. 16 Vergleiche dazu die Diskussion bei ANDREA POLASCHEGG, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2005, 4149; sowie den Überblicksartikel FELIX WIEDEMANN, Orientalismus, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 19.4.2012, URL: http://docupedia.de/zg/ Orientalismus?oldid=106462 [08.01.2016]. 17 Siehe dazu die Beiträge in dem Sammelband BURKHARD SCHNEPEL / GUNNAR BRANDS / HANNE SCHÖNIG (HG.), Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011. Umfassend auch die Verweise in der Sammelrezension von Felix Wiedemann. Siehe FELIX WIEDEMANN, Deutscher Orientalismus. Wissenschaft zwischen Romantik und Imperialismus, in: ZRGG 64 (4,2012), 400– 406. 18 Siehe SUZANNE L. MARCHAND, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009. 19 Es gibt eine Reihe von Untersuchungen zum deutschen Orientalismus. Neben dem oben genannten Buch von Suzanne L. Marchand, sei hier weiter genannt: ANDREA POLASCHEGG, Der andere Orientalismus; URS APP, The Birth of Orientalism, Philadelphia 2010; SABINE MANGOLD, Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004. Eine ausführlichere Besprechung der genannten Literatur findet sich im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit. 20 Der beste Beweis hierfür ist das Exempel Julius Wellhausens, der seine Professur für Altes Testament niederlegte, als er einsah, dass er sich nicht dazu berufen fühlte, Pfarrer heranzuziehen und zu einer gewichtigen Figur innerhalb der deutschen Orientalistik, als auch der Erforschung des Alten Testaments zählt.

16

Einleitung

Ein Unterfeld des Alten Testaments, das sich in den letzten Jahren als besonders produktiv für diese Fragestellung erwiesen hat, ist die Geschichte Israels. Dies zeigt ein Blick auf neuere Literatur, die sich mit der Erfindung von Geschichte beschäftigt und einen Bezug herstellt zwischen dem geografischen Gebiet Israels und Palästinas und der Erforschung der Geschichte Israels.21

1.1

Zur Textgattung des Meta-Kommentars

Die vorliegende Arbeit ordnet sich ihrem Charakter nach in eine Literaturgattung ein, die Roland Boer als „metacommentary“22 bezeichnet hat: Eine Geschichte und kritische Diskussion nicht der biblischen Texte, sondern ihrer Kommentare. In seinem Buch, aus dem diese Definition stammt, arbeitet er sich an einem der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts ab. Die Rede ist von Martin Noths Deuteronomistischen Geschichtswerk (DtrG) das in seinem Einfluss auf die Forschungsgeschichte zu den Büchern Deuteronomium bis 2. Könige schwerlich überschätzt werden kann23 und von ihm systematisch in den Überlieferungsgeschichtlichen Studien (1943) und der Überlieferungsgeschichte des Pentateuch (1948) entfaltet wird.24 Roland Boer vergleicht nun die sozio-ökonomische und politische Situation, die Martin Noth bei der Abfassung des Buches erlebt hat mit der von Martin Noth für den Verfasser des

                                                             21 Siehe vor allem den Sammelband von MITRI RAHEB (Hg.), The Invention of History. A Century of Interplay between Theology and Politics in Palestine, Bethlehem 2011; einen Überblick über Literatur speziell zu dieser Frage gibt darin ULRIKE BECHMANN, Old Testament Hermeneutical Shifts vis-à-vis Palestine in the Twentieth Century, in: Mitri Raheb (Hg.), The Invention of History. A Century of Interplay between Theology and Politics in Palestine, Bethlehem 2011, 59-86; von der dort genannten Literatur seien nur besonders aufgeführt: MARKUS KIRCHHOFF, Text zu Land. Palästina im wissenschaftlichen Diskurs 1865–1920, Göttingen 2005; DIANA V. EDELMAN (HG.), The Fabric of History. Text, Artefact and Israel’s Past, Sheffield 1991; KEITH W. WHITELAM, Between History and Literature. The Social Production of Israel’s Tradition of Origin, in: Scandinavian Journal of the Old Testament 5 (1991), 60–74; KEITH W. WHITELAM, The Invention of Ancient Israel. The Silencing of Palestinian History, London 1996. 22 ROLAND BOER, Novel Histories. The Fiction of Biblical Criticism, Sheffield 1997, 11. 23 Eine Einschätzung der Forschungspositionen Martin Noths und ein Rückblick auf seine überlieferungsgeschichtlichen Arbeiten zum Alten Testament findet sich bei CHRISTOPH LEVIN, Nach siebzig Jahren. Martin Noths Überlieferungsgeschichtliche Studien, in: ZAW 125 (1,2013), 72–92. 24 Im Folgenden werde ich mich jedoch auf die dritte Auflage beziehen. Siehe MARTIN NOTH, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament, Tübingen 31967. Einen Überblick über Martin Noth und seine Bedeutung für die alttestamentliche Wissenschaft gibt RUDOLF SMEND, Martin Noth, in: Ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 255–275.

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DtrG angenommenen Situation und weist auf die zahlreichen Parallelen hin, die sich im Erfahren einer „Stunde Null“ und dem Zusammenbruch der bisher gültigen Werte manifestieren.25 Für die Abfassung des Hauptteils dieser systematischen Studien bemüht Rudolf Smend ein einprägsames Bild: „Im grimmig kalten Winter 1946/47, als in der winzigen Wohnung nur die Küche halbwegs warm war, brachte er dort den größten Teil der ‚Überlieferungsgeschichte des Pentateuch’ an dem Tisch zu Papier, unter dem gleichzeitig die beiden jüngeren Kinder Kasperletheater spielten.“26

Die Szene vor Augen sei hier das Bild des Deuteronomisten eingespielt, den Noth als einen Mann vorstellt „in dem die geschichtlichen Katastrophen, die er miterlebt hatte, die Frage nach dem Sinn dieses Geschehens geweckt hatten und der nun an der Hand der ihm verfügbaren Überlieferungen zur Geschichte seines Volkes in einer umfassenden und geschlossenen Geschichtsdarstellung eine Antwort auf diese Fragen zu geben suchte.“27

Schon bei diesem Zitat fällt auf, wie stark die Vorstellungen eines Historikers des 20. Jahrhunderts in die Vergangenheit zurück projiziert wurden. Roland Boer geht nun noch einen Schritt weiter als diesen Gemeinplatz der Forschung zu benennen.28 Anhand Martin Noths Rede von einer „geschichtstheologischen Systematisierung“29 und dem „Interesse von Dtr an der Darstellung ei-

25 Die deutschsprachige Forschung widmet sich dieser sozialen Verortung der These jedoch kaum. Beispielhaft seien hier die Beiträge in dem Sammelband von Udo Rüterswörden genannt. Rudolf Smend spielt noch mit dieser Spiegelung allerdings eher um seinen Aufsatz rhetorisch zu krönen als aus Erkenntnisinteresse: RUDOLF SMEND, Martin Noth (1902–1968). Person und Werk, in: Udo Rütherswörden (Hg.), Martin Noth – aus der Sicht der heutigen Forschung, Neukirchen-Vluyn 2004, 1–20, hier: 20. Christian Frevel ist die Tatsache gar nur einen lapidaren Satz wert: „Ausgearbeitet hat Martin Noth das Buch in Königsberg zwischen den Perioden, in denen er als Soldat der Wehrmacht eingezogen war“. Siehe CHRISTIAN FREVEL, Deuteronomistisches Geschichtswerk oder Geschichtswerke? Die These Martin Noths zwischen Tetrateuch, Hexateuch und Enneateuch, in: Udo Rütherswörden (Hg.), Martin Noth – aus der Sicht der heutigen Forschung, Neukirchen-Vluyn 2004, 60–95, hier: hier: 62f. 26 RUDOLF SMEND, Martin Noth (1902–1968), 5. 27 MARTIN NOTH, Überlieferungsgeschichtliche Studien, 110. 28 Siehe dazu etwa auch KURT L. NOLL, A Portrait of the Deuteronomistic Historian at Work?, in: Ders. / Brooks Schramm (Hg.), Raising Up a Faithful Exegete. Essays in Honor of Richard D. Nelson, Winona Lake 2010, 73–86, hier: 81. Noll beendet seine kritische Untersuchung des Bildes, des „ehrlichen Maklers“ den Martin Noth seinen Lesern als Modell des Dtr anempfiehlt mit dem Vergleich der hebräischen Schreiber mit den Gebrüdern Grimm. Nur wer die Gebrüder Grimm richtig verstehe und die Art und Weise, wie sie Volkssagen sammelten und ordneten und herausgaben, komme dem Geheimnis der Textentstehung durch die hebräischen Schreiber näher. In meinem fünften Kapitel werde ich mich ausführlicher mit den Gebrüdern Grimm, den hebräischen Schreibern und der Gattung des Märchens auseinandersetzen. 29 MARTIN NOTH, Überlieferungsgeschichtliche Studien, 33.

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nes klaren und einsichtigen Geschichtsverlaufs“30 zeigt Boer auf, wie sich Dtr als Alter Ego Martin Noths als Lacansches Ich-Ideal31 verstehen lässt. Dabei wird der simple Gedanke, dass der Autor eines kritischen Kommentars sich im biblischen Autor ein anderes Ich erschafft, dahingehend präzisiert und verkompliziert, dass diese Beziehung als eine dialektische wahrgenommen wird. Das Ego des biblischen Autors markiert einen Punkt innerhalb der symbolischen Ebene, der keine Beziehung zum Realen aufweist und als Ausgangspunkt einer Betrachtung des Ichs des Autors dient. Roland Boer appliziert diesen Gedanken wie folgt auf Martin Noth und seinen Deuteronomistischen Geschichtsschreiber: „Um dies auf Noth und den Deuteronomisten zu übertragen, ist der vorgestellte Autor des biblischen Textes nicht vorwiegend ein Spiegelbild Noths, sondern vielmehr ist der Deuteronomist der Punkt, von dem aus Noth seinen eigenen Platz im Deutschland zu Zeiten des 2. Weltkriegs imaginieren kann als Ausgangslage, die ein entschiedenes ethisches Urteilen erfordert.“ 32

Die eingezogene zweite Ebene ist von entscheidender Bedeutung, um nicht bei Trivialitäten stehen zu bleiben. Dass sich in Werken der Vergangenheit aus heutiger Warte Spuren dieser geschichtlichen Realität aufdecken lassen ist keiner größeren Erwähnung wert. 33 Dass es Verknüpfungen zwischen der Ebene der symbolischen Repräsentation und einem kollektiven Phantasma zur Bearbeitung fragiler Identitäten gibt34, weitet diese Einzelbeobachtung zu einem möglichen Ansatz der Forschungsgeschichte aus.35

                                                             30 Ebd., 32. 31 Vergleiche hierzu die Einführung von Žižek auf dessen Lacan-Deutung sich wiederum Boer bezieht: SLAVOJ ŽIŽEK, Lacan. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 22008, 107. 32 „to put it in terms of Noth and the Deuteronomist, the proposed author of the biblical text is not merely an inverted image of Noth himself, but rather the Deuteronomist is the point from which Noth can see his own place in World War II Germany as an inverted existence, as something that requires stern ethical judgement.“ Siehe ROLAND BOER, Novel histories, 36. 33 Dass eine Ahnung dieser Verknüpfungen durchaus vorhanden ist, jedoch unter der Oberfläche des Gesagten bleibt, lässt sich an Otto Eissfeldts Bemerkung erkennen, der von Martin Noth als dem „eigentlichen Vater des deuteronomistischen Geschichtswerks“ spricht. Siehe OTTO EISSFELDT, Einleitung in das Alte Testament, Tübingen 31964, 323. Eine sprachlich mehrdeutige Aussage, die von Christian Frevel jedoch gleich wieder in die Bahnen der „Orthodoxie“ gelenkt wird: Es sei in dem Sinne eines Entdeckers einer literarischen Größe zu verstehen. Vergleiche CHRISTIAN FREVEL, Deuteronomistisches Geschichtswerk oder Geschichtswerke?, 69. 34 Mit diesem Themenkomplex werde ich mich im vierten Kapitel meiner Arbeit ausführlicher beschäftigen. Für den Moment verweise ich auf die Untersuchung von Suzanne M. Zantop zu Kolonialphantasien. Siehe SUZANNE M. ZANTOP, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870), Berlin 1999. 35 Den theoretischen Rahmen der Arbeit werde ich im dritten Kapitel genauer entfalten. Zu der hier angerissenen Rede von kollektiven Identitäten vergleiche MARKUS FAUSER, Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt 42008, 134ff.

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Unter Zuhilfenahme des analytischen Rahmens, den Georg Lukács mit seiner Rede vom historischen Roman aufspannt, reflektiert Roland Boer grundsätzlich die Wechselwirkungen moderner und postmoderner Hermeneutik. Dies führt meines Erachtens einerseits zu weit, reicht aber andererseits nicht tief genug. Nicht um ein theoretisches Gespräch über die Weiten und Möglichkeiten postmoderner Bibellektüre soll es im Folgenden gehen, sondern es soll die Momentaufnahme, die Roland Boer an dem faszinierenden Beispiel Martin Noths, präsentiert, weiter in die Tiefe geführt werden. Ich möchte im Sinne eines Metakommentars zeigen, dass der Faden, den uns Boer an die Hand gibt, bis in das 18. Jahrhundert reicht und in vielfältiger Weise verstrickt ist. Denn am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Umbruchsituationen, die die alttestamentliche Wissenschaft in Deutschland, aber auch im weltweiten Kontext, bis heute prägen. Der Begriff des Metakommentars wird auch in religionswissenschaftlichen Studien benutzt: Gavin Flood hatte in seiner einflußreichen Studie Beyond Phenomenology (1999) einen metatheoretischen Diskurs innerhalb der Religionswissenschaft eingefordert um den teilweise theoriefeindlichen Anwandlungen des Fachs zu begegnen.36 Er wehrt sich gegen jeden Versuch, ‚Religion(en)’ außerhalb ihrer historischen, sozialen und kulturellen Kontexte verstehen zu wollen. Stattdessen müssten religiöse Texte gemeinsam mit politischen Dokumenten gelesen werden und die Frage von Komplizenschaft und Widerstand im Hinblick auf die Machtverhältnisse der Zeit beantwortet werden. Sein Fazit im Hinblick auf ‚Weltreligionen’37 liest sich wie eine Handlungsanweisung für einen postkolonialen Metakommentar. So fordert er: „Innerhalb der Grenzen ihres eigenen Fachs muss Religionswissenschaft sowohl jene fraglichen Vorannahmen, als auch die Weise, wie ihre Kategorien sich entwickelt haben und ihr Wissen konstruiert worden ist, kritisch hinterfragen.“38

Eine solche Infragestellung der Methoden und der Art der Wissensproduktion steht meines Erachtens für den skizzierten Bereich der Erforschung des Alten Testaments und seiner Paradigmenwechsel im langen 19. Jahrhundert erst am

                                                             36 Siehe GAVIN FLOOD, Beyond Phenomenology. Rethinking the Study of Religion, New York 1999, 3. 37 Zur kritischen Diskussion um die Kategorie der Weltreligion siehe TOMOKO MASUZAWA, The Invention of World Religions: Or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago 2005; CHRISTOPH AUFFARTH, ‘Weltreligion’ als ein Leitbegriff der Religionswissenschaft im Imperialismus, in: Ulrich van der Heyden/ Ulrich Stoecker (Hg.), Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945, Wiesbaden 2005, 17–36. 38 „Within the borders of its own field, religious studies needs to examine these kinds of questionable assumptions and to look at the ways in which its categories have been formed and its knowledges constructed.“ Siehe GAVIN FLOOD, Beyond Phenomenology, 3.

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Anfang. Das Desiderat, die akademische Religionswissenschaft als eine solche Art von Metatheorie zu gestalten und die Herausbildung von Bedeutung zu untersuchen, ist zumindest mehr als einmal bekräftigt worden.39 Dies mag als erste Ausführung zum Begriff des Metakommentars genügen. Ich werde mich ausführlicher mit der theoretischen Fundierung der Arbeit im dritten Kapitel beschäftigen.

1.2

Postkoloniale Rezepte: Ein Vorgeschmack

Aus den vorgestellten Überlegungen zur Textgattung des Metakommentars lässt sich bereits eine Aufforderung an die Religionswissenschaft ableiten. Diese sei hier noch einmal expliziert: Eine postkoloniale Religionswissenschaft steht vor der Aufgabe, die Geschichte ihrer Deutungsmacht offen zu legen und damit das ihr zugrunde liegende Herrschafts- und Wahrheitssystem aufzuarbeiten.40 Dabei kann mit dem Ethnologen Paul Rabinow aus der Krise der Repräsentation - und im Anschluss an seine Lektüre Foucaults und Rortys - gefordert werden, einen Schwerpunkt der Kritik auf jene Bereiche zu legen, die unhinterfragt als universell angesehen werden, und zu zeigen, wie sie soziale Praxis mit einem Wahrheitsanspruch verbinden: „Wir bedürfen keiner [...] neuen Theorie der Erkenntnis der Anderen. Wir sollten auf unsere historische Praxis achten, nämlich die Praxis, unsere kulturellen Praktiken auf die anderen zu projizieren; bestenfalls gilt es zu zeigen, wie, wann, und mit welchen kulturellen und institutionellen Mitteln andere Menschen es unternommen haben, Epistemologie für sich in Anspruch zu nehmen. Wir müssen den Westen anthropologisieren: deutlich machen, wie exotisch seine Konstitution der Wirklichkeit gewesen ist; Nachdruck auf die Bereiche legen, deren Universalität am meisten als selbstverständlich erachtet wurde (dazu gehören Epistemologie und Ökonomie); sie soweit wie möglich als historische Besonderheit erscheinen lassen; darlegen, wie ihre Wahrheitsansprüche mit sozialen Praktiken verknüpft und dadurch zu wirksamen Kräften in der sozialen Welt geworden sind.“41

39 Siehe hierzu auch KOCKU VON STUCKRAD, Discursive Study of Religion: From States of the Mind to Communication and Action, in: Method &Theory in the Study of Religion 15 (2003), 255–271, hier: 262. Siehe auch für den Bereich der Bibelwissenschaft BERNHARD M. LEVINSON, Der kreative Kanon. Innerbiblische Schriftauslegung und religionsgeschichtlicher Wandel im alten Israel, Tübingen 2012, 13. 40 Siehe ANDREAS NEHRING, Postkoloniale Religionswissenschaft: Geschichte – Diskurse – Alteritäten, in: Julia Reuter / Alexandra Karentzos (Hg.), Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012, 327–341, hier: 334. 41 PAUL RABINOW, Repräsentationen sind soziale Tatsachen. Moderne und Postmoderne in der Anthropologie, in: Eberhard Berg/ Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a. M. 1993, 158–199, hier: 168.

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Das Programm einer kulturwissenschaftlich geprägten Religionswissenschaft, die die eigene historische Praxis als Feld und Material ihrer Untersuchungen begreift, ist verschiedentlich durchgeführt worden.42 Trotz der eindeutigen Bestimmung der Aufgabe einer postkolonialen Religionswissenschaft gibt es bisher wenige Entwürfe in diese Richtung. Es lassen sich mehrere Gründe anführen, die einer Annäherung von Religion und Postkolonialismus bisher im Wege standen: Generelle Vorbehalte gegenüber Religion in der Kulturwissenschaft und das fatale Verständnis von Religion als eigener Denk- und Handlungswelt, das durch Kulturwissenschaftler*innen und Religionswissenschaftler*innen gleichermaßen bestärkt wurde, sowie die Assoziierung von Religion mit Rückständigkeit verhinderten bisher eine tiefere Auseinandersetzung in diesem Feld.43 Blickt man auf das benachbarte Feld der Theologie, so ergibt sich ein ähnliches Bild: Postkoloniale Theorien haben bisher wenig Anwendung auf das Feld der Theologie im deutschsprachigen Raum gefunden.44 So findet sich etwa in dem Sammelband Schlüsselwerke der Postcolonial Studies (2012), der den Anspruch erhebt, die wichtigsten theoretischen Werke, sowie Einschätzungen aus den unterschiedlichsten akademischen Fächern zu bieten, kein eigener Beitrag zu postkolonialen Theologien. 45 Eine erste Antwort von theologischer Warte liefert dagegen die Ausgabe der Zeitschrift „concilium“, die der postkolonialen Theologie ein eigenes Sonderheft gewidmet hat.46 Dies ist sehr begrüßenswert, doch lässt der Titel – ‚Postkoloniale Theologie’ – des Sonderheftes stutzen. Denn es könnte der Eindruck entstehen, als gäbe es die eine postkoloniale Theologie. Dabei kann es postkoloniale Theologien und

                                                             42 Vergleiche dazu die Einführungen HANS G. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997; HANS G. KIPPENBERG/ KOCKU VON STUCKRAD, Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003; sowie MICHAEL BERGUNDER, Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, in: ZfR 2011, 19 (1/2), 3–55. 43 Siehe ANDREAS NEHRING, Postkoloniale Religionswissenschaft, 336f. 44 Bisher existieren Übersetzungsbände, Einleitungen zu internationalen Tagungen und wenige systematisierende Ansätze. Siehe ANDREAS NEHRING / SIMON TIELESCH (HG.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013; ULRIKE AUGA, Resistance and the Radical Social Imaginary: A Genealogy from “Eastern European” Dissidence to New Social Movements: Connecting the Debates between Activism and Postcolonial, Post-secular and Queer Epistemology and Theology, in: Dies. et al.(Hg.), Resistance and Visions - Postcolonial, Post-secular and Queer Contributions to Theology and the Study of Religions, Journal of the ESWTR, 22 (2014), 5–30; MICHAEL NAUSNER, Wagnis an der Grenze. Reflexionen zur Mission im postkolonialen Kontext, in: Theologisches Gespräch 39 (3,2015), 107–125; MICHAEL NAUSNER, Koloniales Erbe und Theologie. Postkoloniale Theorie als Ressource für deutschsprachige Theologie, in: Salzburger Theologische Zeitschrift 17 (1,2013), 65–83. 45 JULIA REUTER/ ALEXANDRA KARENTZOS (HG.), Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012. 46 Siehe CONCILIUM 49 (2,2013).

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erst recht postkoloniale Theorien niemals im Singular sondern stets nur im Plural geben. Eine Definition dessen, was eigentlich postkolonial genau heißt und insbesondere, was sich durch diese erkenntnistheoretische Wende methodisch ändert, gestaltet sich nicht einfach. Eine Arbeitsdefinition liefert R.S. Sugirtharajah: „Postkolonialismus ist ein kritisches Unterfangen, das darauf abzielt, den Zusammenhang zwischen Geist und Macht zu entlarven, der der westlichen Theoriebildung und ihrem Lehrbetrieb inhärent ist. So verstanden ist Postkolonialismus diskursiver Widerstand gegen Imperialismus, imperiale Ideologien und imperiale Einstellungen, sowie deren fortdauernden Inkarnationen in solch disparaten Feldern wie Politik, Ökonomie, Geschichte, Theologie und biblischen Studien.“47

Mit diesem Zitat werden einige Punkte deutlicher: 1. Postkolonialismus ist nicht zeitlich zu verstehen als Zeitalter nach der Ära der Dekolonisierung, sondern versteht sich als ein theoretisches Unterfangen; 2. Postkolonialismus greift unterschiedliche philosophische Strömungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts auf. Zu denken ist hier etwa an die Diskursanalyse und der Bezug auf das Werk von Michel Foucault, das mit dem engen Konnex von Macht und Ideen aufgerufen wird48; 3. Postkolonialismus ist nur als ein transdisziplinäres Unterfangen denkbar, das verschiedene Fächer miteinander vernetzt und durch die Kombination unterschiedlicher Ansätze und Forschungsfragen neue Erkenntnisse befördert; 4. Postkoloniale Theologien machen mit der Einsicht ernst, dass Theologie als eine Wissenschaft nicht den Anspruch von Neutralität erheben kann, sondern stets schon in einem Feld agiert, das durch die Machtstrukturen bestimmt ist, die nicht nur unsere Lebensverhältnisse beeinflussen, sondern auch unsere Art zu denken und zu forschen. Für die Aufgabe eines postkolonialen Metakommentars zur Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments bedeutet das, Postkolonialismus als theoretisches Werkzeug zu verstehen, das hilft, verflochtene Geschichten im ausgehenden 18. und dem 19. Jahrhundert in ihrer Bedeutung für die Gegenwart

47 „It is a critical enterprise aimed at unmasking the link between idea and power, which lies behind western theories and learning. It is a discoursive resistance to imperialism, imperial ideologies, imperial attitudes and their continued incarnations in such wideranging fields as politics, economics, history and theological and biblical studies.“ Siehe R.S. SUGIRTHARAJAH, Postcolonial Reconfigurations. An Alternative Way of Reading the Bible and Doing Theology, London 2005, 15. 48 Für eine erste Absteckung des „Diskurses“ siehe MICHEL FOUCAULT, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, 46. Eine Annäherung an das Werk Foucaults und dessen Einfluss auf die postkoloniale Theoriebildung findet sich bei MICHAEL C. FRANK, Diskurs, Diskontinuität und historisches Apriori, in: Julia Reuter/ Alexandra Karentzos (Hg.), Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012, 39–50.

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wahrzunehmen und zu verstehen. Ich unterziehe also in diesem Sinne Klassiker und einige weniger bekannten Werke der deutschsprachigen Alttestamentlichen Wissenschaft einer Relektüre. Dabei konzentriere ich mich auf die bahnbrechenden Weiterentwicklungen im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des kolonialen Phantasmas bzw. des kolonialen Diskurses im deutschsprachigen Raum. Dieses Unterfangen dient auch der Klärung gewichtiger religionswissenschaftlicher Fragestellungen, hat doch vor einiger Zeit Michael Bergunder das Programm einer Religionswissenschaft nachgezeichnet, die zur Klärung ihres Gegenstandes auf „eine ‚mit erbitterter Konsequenz’ (Foucault) betriebene Religionsgeschichte angewiesen“49 sei. Eine derart konsequent betriebene Religionsgeschichte soll hier in einem klar abgesteckten Geviert betrieben werden. Dabei werden der Nutzen und die Zielrichtung postkolonialer Theologien für den Fokus dieser Arbeit anders verstanden als dies für den Mainstream der damit beschäftigten Forscher und Forscherinnen zutreffend ist. Die Entfaltung des Postkolonialismus kann noch einmal mit einem Zitat von R.S. Sugirtharajah derart aufgefasst werden: ...zu viel theoretisieren und zu viel Theorie-Verliebtheit, verbunden mit der Hoffnung, dass moderne Theorie über den Mangel an kreativer Hermeneutik hinweg helfen wird, ist nicht weiterführend. Der spezielle Nutzen der Theorie liegt eher in ihrer Fähigkeit, Unterdrückung aufzudecken, Miss-Repräsentationen herauszustellen und eine gerechtere Welt voranzubringen, als in ihrer sophistischen Präzision und ihrer gelehrten Qualität als kritisches Werkzeug zu dienen.“ 50

Neben der oben zitierten „erbitterten Konsequenz“ geht es vor allem genau auch um diese hier negativ gebrauchte „gelehrsame Kritik“, die verhindern mag, dass postkoloniale Theologien und wissenschaftliche Entwürfe, die sich auf postkoloniale Theorien beziehen, einzig als verwirrende Stimmen in einem zunehmend unübersichtlichen Sprachengemisch innerhalb der Bibelwissenschaften wahrgenommen werden.51

                                                             49 MICHAEL BERGUNDER, Was ist Religion, 47. 50 „...too much theory-chasing and too much enchantment with it, and a hope that modern theory will make up for the lack of imaginative hermeneutics, will not take us far. Its specific usefulness lies in its capacity to detect oppression, expose misrepresentation, and to promote a fairer world rather than in its sophistry, precision, and its erudite qualities as a critical tool.“ Siehe R.S. SUGIRTHARAJAH, Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation, 40. 51 Siehe zu dieser Beschreibung des aktuellen Diskurses und der differenzierten Problemanzeige vor allem JOHN J. COLLINS, The Bible after Babel. Historical Criticism in a Postmodern Age, Grand Rapids 2005.

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1.3

Zur Geschichte des deutschen Kolonialismus

Das lange 19. Jahrhundert wird in neueren Monographien der Geschichtswissenschaft wahlweise als „Die Geburt der modernen Welt“, das Zeitalter der „Verwandlung der Welt“ oder schlicht das „Imperiale Zeitalter“ bezeichnet.52 Die Spuren des Imperialismus und der europäischen Dominanz haben sich tief in die Geschichte und Begriffsgeschichte der unterschiedlichsten Völker und geographischen Gebiete eingegraben. Die Beobachtung von Dipesh Chakrabarty spricht hierfür Bände: „Im akademischen Diskurs über Geschichte – das heißt ‚Geschichte’ als Diskurs, der in der institutionellen Arena der Universität produziert wird – ist ‚Europa’ immer noch das souveräne, theoretische Subjekt aller Geschichten einschließlich derjenigen, die wir als ‚indisch’, ‚chinesisch’ oder ‚kenianisch’ bezeichnen. In eigentümlicher Weise haben alle diese anderen Geschichten die Tendenz, sich in Variationen einer Meistererzählung zu verwandeln, die man die ‚Geschichte Europas’ nennen könnte.“53

Seine Forderung Europa zu provinzialisieren kann so gedeutet werden, dass diese Meistererzählung kritisch hinterfragt werden soll, nach Möglichkeit dekonstruiert und damit der Weg frei gemacht werden soll für alternative Wege zur Moderne.54 Es kann auch so verstanden werden, dass postkoloniale Theorien dabei helfen können, statt des Rekurses vieler Geschichten auf eine Meistererzählung, alternative Geschichten freizulegen, die als vernetzte Geschichten zu denken sind.

52 Vergleiche dazu: CHRISTOPHER A. BAYLY, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt a. M. 2008; JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; ERIC HOBSBAWM, Das imperiale Zeitalter. 1875–1914, Frankfurt a. M. 2004. 53 DIPESH CHAKRABARTY, Europa provinzialisieren: Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Ders., Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt / New York 2010, 41–65, hier: 41. 54 Dass diese Forderung nach einer Provinzialisierung Europas an die Rede von einer ‚Verzwergung Europas’ gemahnt kann ihre Brillanz nicht trüben. Der Verweis auf das Werk An Introduction to Contemporary History (1964) von George Barraclough in dem die Rede von der Verzwergung Europas ist, mag zumindest auf eine Tradition der Geschichtsschreibung aufmerksam machen, die etwa mit dem Namen von Urs Bitterli verbunden ist, der wiederum von Barraclough beeinflusst wurde. Siehe URS BITTERLI / ANNEROSE MENNINGER : „Das Eigene und das Fremde“: Interkulturgeschichte als Selbsterfahrung. Annerose Menninger im Gespräch mit Urs Bitterli, in: zeitenblicke 8, Nr. 3, [23.12.2009], URL: http://www.zeitenblicke.de/2009/3/interview/index_ html, URN: urn:nbn:de:0009-9-21267 [10.04.2014]. Für die theoretischen Diskussionen innerhalb der Geschichts- und Kulturwissenschaften vergleiche die Einführung SEBASTIAN CONRAD, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013 mit den entsprechenden Stichworten der Debatte.

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Ein Wesensmerkmal postkolonialer Forschungen ist ihre starke interdisziplinäre Ausrichtung. Einige Neuaufbrüche und neue Verhältnisbestimmungen innerhalb der Geschichtswissenschaften können einen Anstoß geben, auch die Wissenschaftsgeschichte alttestamentlicher Forschung neu zu bestimmen. Der hartnäckige Eindruck, dass die Verflechtung der Welt einzig ein modernes Phänomen sei, täuscht. Es gibt zum Beispiel eine Vielzahl historischer Verflechtungen des indischen Subkontinents mit Europa in der frühen Neuzeit, wie Sanjay Subrahmanyam nachgewiesen hat55. Europa war nie eine eigenständige Einheit oder geschichtliche Insel, doch haben Imperialismus und die universalistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass das koloniale Europa aus seinem Weg in die Moderne eine Meistererzählung machen konnte. Im deutschsprachigen Raum gibt es erst in den letzten Jahren Neuaufbrüche, die diese Standortbestimmung wahrnehmen und unter dem Stichwort einer Abkehr vom Eurozentrismus nach alternativen Modi der Geschichtsschreibung forschen.56 Der Begriff der geteilten Geschichten ist von Shalini Randeria ausformuliert und detailliert beschrieben worden und stellt stärker die Gemeinsamkeiten und Austauschbeziehungen in den Mittelpunkt der Geschichtsschreibung, anstatt ein Modell aufzumachen, in dem der Westen gegen den Rest ausgespielt wird, oder wie beschrieben Gegenentwürfe zum Westen stark gemacht werden.57 Ansätze einer entangled history fragen nicht nur nach den Auswirkungen, die sich aus den europäischen Expansionen in außereuropäische Gebiete ergeben haben, sondern auch nach Rückwirkungen auf Europa selbst.58 Die dahinter liegende These lässt sich derart zuspitzen, dass Europa von seinen Kolonien her konstruiert und geschaffen wurde.59 Während eine solche Art der Geschichtsschreibung für Großbritannien bereits in vollem Gange ist, so scheint sie für weite Teile der deutschen Geschichtsschreibung

                                                             55 Siehe SANJAY SUBRAHMANYAM, Connected Histories. Notes Towards a Reconfiguration of Early Modern Eurasia, in: Modern Asian Studies 31 (1997), 735–762. 56 Eine erste Sammlung von Aufsätzen bieten SEBASTIAN CONRAD / SHALINI RANDERIA (HG.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt / New York 2002. Vergleiche zudem auch das umfangreiche Projekt einer Globalgeschichte, die von Peter Feldbauer, Bernd Hausberger und Jean-Paul Lehners im Mandelbaum Verlag herausgegeben wird. Ein Sammelband für den Bereich der Geschichtswissenschaften ist REBEKKA HABERMAS/ ALEXANDRA PRZYREMBEL (HG.), Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen 2013. Für den deutschen Kolonialismus siehe auch JÜRGEN ZIMMERER (HG.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Bonn 2013. 57 Siehe SHALINI RANDERIA, Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in: Jörn Rüsen (Hg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt a. M. 1999, 87–96. 58 Siehe SEBASTIAN CONRAD / SHALINI RANDERIA, Einleitung, in: Dies., Jenseits des Eurozentrismus, 9–49, a.a.O., hier: 39. 59 Vergleiche dazu FREDERICK COOPER, Kolonialismus denken, 19.

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noch ein Desiderat der Forschung zu bleiben.60 Der behandelte Untersuchungszeitraum gerät damit nicht nur als Zeitraum der Europäisierung der Welt in den Blick, sondern die Interaktion der unterschiedlichen Gegenden der Erde trägt dazu bei, den Universalismusanspruch der europäischen Geschichte aufzubrechen.61 Auch für den untersuchten Zeitraum kann ein spannungsreiches Wechselspiel innerhalb geschichtlicher Deutungen aufgezeigt werden. Johann Gottfried Eichhorn sprach von einer „historische [n] Sensation“ und einer wissenschaftlichen „Revolution“, die durch den Blickwechsel „von der Reichs- und Staten-Geschichte zur Universal-Historie“ sich in den Jahren nach der Veröffentlichung der Allgemeinen Welthistorie (1744) durch Baumgarten in der deutschen Geschichtswissenschaft vollzogen habe.62 Gleichzeitig können mit Jürgen Osterhammel eine Schließung des lebhaften asiatischen Diskurses und ein nachlassendes Interesse an Asien für das Ende des 18. Jahrhunderts konstatiert werden.63 Dies lässt sich mit dem Tod Georg Forsters 1794 zeitlich gut verorten. So beklagt Herder bereits 1796, dass sich Deutschland immer mehr isoliere und auf „eignen Grunde metaphysicire[...]“.64

1.4

Zum Stümpern als Methode: Hegel und Haiti

In ihrem Aufsatz Hegel und Haiti (2000), der als „eine Art intellektuelles Ereignis“65 wahrgenommen worden ist, nimmt sich Susan Buck-Morss nicht weniger vor, als einen neuen Begriff der Universalgeschichte vorzuschlagen. Da60 Siehe dagegen den instruktiven Band SEBASTIAN CONRAD/ JÜRGEN OSTERHAMMEL (HG.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004. 61 Siehe dazu PETER FELDBAUER/ BERND HAUSBERGER/ JEAN-PAUL LEHNERS, Globalgeschichte. Die Welt 1000-2000, in: Bernd Hausberger / Jean-Paul Lehners (Hg.), Die Welt im 18. Jahrhundert, Wien 2011, 7–11, hier: 9. 62 Siehe JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Eichhorns Bemerkungen über J.D. Michaelis Litterarischen Character, in: Johann David Michaelis, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt, mit Anmerkungen von Hassencamp. Nebst Bemerkungen über dessen litterarischen Character von Eichhorn, Schulz und dem Elogium von Heyne, Rinteln/ Leipzig 1793, 145–226, hier: 157. 63 Siehe JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 2010. 64 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Humanitätsbriefe, in: Ders., Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Band 13, Berlin 1883, 132. Vergleiche LUDWIG UHLIG, Georg Forsters Horizont: Hindernis und Herausforderung für seine Rezeption, in: Claus-Volker Klenke (Hg.), Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive, Berlin 1994, 3–14, hier: 9. 65 SUSAN BUCK-MORSS, Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte, Berlin 2011, 7.

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rin zeichnet die Autorin nach, wie Hegel als ein scharfsinniger Beobachter der Moderne sich vor allem auch für die wirtschaftlichen Umbrüche und die Entstehung der modernen Arbeitsteilung interessierte. Hegel sei der „erste[...] Philosoph“, der den „deterritorialisierte[n] Weltmarkt des europäischen Kolonialsystems“66 ausführlich beschreibe. Im Zusammenhang der Jenaer Vorlesungen Hegels aus den Jahren 1805/1806 tauchte zum ersten Mal das Verhältnis von „Herr“ und „Knecht“ auf. Diese Metapher bezieht Susan Buck-Morss in einem faszinierenden Gedankengang auf die Auseinandersetzungen um den Sklavenaufstand von Haiti im Jahr 1793, der zu einem von allen führenden europäischen Intellektuellen diskutierten Ereignis geworden war und über den in der Zeitschrift „Minerva“ ausführlich berichtet wurde.67 Einzig die Strukturierung der Philosophiegeschichte, die „koloniale Erfahrung in den Narrativen aus[blendet] [...], die das westliche Denken über sich selbst erzählt“68, sei dafür verantwortlich, dass diese Zusammenhänge nicht zusammen gedacht werden können. Die bittere Ironie an dem Beispiel Hegels sei, dass es gerade auch dessen eigene Auffassung gewesen sei, dass die Philosophie der Neuzeit von historischen Zusammenhängen geprägt sei.69 Susan Buck-Morss vermittelt weitere Einblicke in die Dialektik der Aufklärung, indem sie aufzeigt, wie „Freiheit“ und „Sklaverei“ zu zentralen Metaphern der Philosophiegeschichte der Neuzeit wurden, ohne, dass die faktische Existenz der Sklaverei von den gleichen Philosophen in Frage gestellt worden wäre. Der Bedeutung, die in diesem Wechsel der Blickrichtung liegt, möchte ich mich über ein etwas längeres Zitat nähern: „Im Zuge der vielleicht politischsten Stellungnahme seiner Karriere machte er die sensationellen Ereignisse in Haiti zum Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation in der Phänomenologie des Geistes. Der reale und erfolgreiche Aufstand der Sklaven in der Karibik gegen ihre Herren war der Augenblick, in dem die dialektische Logik der Anerkennung als Thema der Weltgeschichte sichtbar wurde, als Moment in der Geschichte der universellen Verwirklichung der Freiheit. Selbst wenn Archenholz, der Redakteur der Minerva, der über die Geschichte berichtete, während sie gemacht wurde, das so auf den Seiten seines Journals nicht geschrieben haben mag, war Hegel, sein langjähriger Leser, doch in der Lage, dies zu erkennen. In diesem historischen Moment berührten sich Theorie und Realität. In der Sprache Hegels ausgedrückt: Das Vernünftigte – die Freiheit – wurde Wirk-

                                                             66 EBD., 21. 67 Die „Minerva“ war zu dieser Zeit das auflagenstärkste zeithistorische Blatt mit einer Auflage von 6000 Exemplaren und konzentrierte sich vor allem auf den Raum Hamburg/Altona. Siehe dazu IWAN-MICHELANGELO D’APRILE, Die Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz, Berlin 2013, 37. 68 SUSAN BUCK-MORSS, Hegel und Haiti, 32. 69 Siehe EBD., 33.

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Einleitung lichkeit. Das ist der springende Punkt, wenn man die Originalität von Hegels Argument verstehen will, mit dem die Philosophie die Grenzen der akademischen Theorie sprengte und zu einem Kommentar zur Geschichte der Welt wurde.“70

Das Beispiel der Verknüpfung von Hegel und Haiti erscheint mir auch für die Erforschung der Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert von einiger Bedeutung. Schließlich ist gerade das Beispiel Haitis sehr gut geeignet, um aufzuzeigen, wie die emanzipatorischen Diskurse Europas stets Teil von Debatten und Kämpfen waren, die über den engen europäischen Raum hinausgingen und sich als komplexe und vernetzte Phänomene darstellen lassen.71 Die Berührungspunkte zwischen Hegel und der Theologiegeschichte sind hinreichend bekannt und bedürfen wohl keiner weiteren Erläuterungen. Doch auch das Phänomen, dass bestimmte Sachverhalte aufgrund der Trennung der Fachgrenzen nicht zusammen gedacht werden können, scheint übertragbar zu sein: Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie wenig der deutsche Kolonialismus erforscht worden ist und wie wenig vorangetrieben insbesondere die Fragestellung nach Rückwirkungen aus den Kolonien auf die deutsche Wissenschaft erscheint. Die vorliegende Arbeit wird aus diesen Gründen zwangsläufig mit einem breiten Bündel interdisziplinärer Fragestellungen und Literatur aus unterschiedlichen Fächern arbeiten. In den einleitenden Sätzen seiner Urgeschichte (1790) bemüht Johann Gottfried Eichhorn das Bild einer „Wanderung zum heiligen Tempel der Offenbahrungen Gottes“, die er angetreten habe und seine Urgeschichte empfiehlt er den Leserinnen und Lesern als „Reisebuch und Charte“, die gleichwohl von anderen deutlich abzuweichen pflegten.72 Auch die Wanderung durch die Wissenschaftsgeschichte, die von mir vorgeschlagen wird, kommt nicht ohne eine solche Karte aus. Doch erhebe ich beileibe nicht den Anspruch auf Originalität der in Eichhorns Worten angeklungen ist. Vielmehr bewegt sich die Untersuchung auf den Pfaden, die von anderen Denkerinnen und Denkern bereits beschritten worden sind. Für die postkoloniale Theorie hat vor allem Gayatri Chakravorty Spivak neue Wege gangbar gemacht und breite Schneisen in den intellektuellen Dschungel der (westlichen) Geisteswissenschaft und Philosophiegeschichte geschlagen. In ihrer Kritik der postkolonialen Vernunft (1999) begibt sie sich auf die Suche nach „der Spur eines unterschwelligen und sporadischen Auftauchens des ‚einheimischen Informanten’“73, einer Figur, die für die geschilderten Veränderungen, die mit dem 19.

                                                             70 EBD., 89. 71 Vergleiche FREDERICK COOPER, Kolonialismus denken. Konzepte und Theorien in kritischer Perspektive, Frankfurt a.M. 2012, 50. 72 JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Urgeschichte, herausgegeben mit Einleitung und Anmerkungen von D. Johann Philipp Gabler, Erster Theil, Altdorf und Nürnberg, 1790, 141. 73 GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK, Kritik der postkolonialen Vernunft. Hin zu einer Geschichte der verrinnenden Gegenwart, hg. von Andreas Nehring und Doris Feldmann, Stuttgart 2014, 23.

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Jahrhundert verbunden sind, von entscheidender Bedeutung ist, obgleich sich ihre Spuren nur schwerlich aufdecken lassen. Mit den Mitteln der Lacanschen Psychoanalyse wird der ‚einheimische Informant’ als „ein Name für diese Markierung der Ausstoßung aus dem Namen MENSCH – eine Markierung, welche die Unmöglichkeit der ethischen Beziehung durchstreicht“74 eingeführt. Dieser ethnographische Begriff wird von ihr als eine wichtige Leerstelle innerhalb der westlichen Kultur und Philosophie wahrgenommen, da der einheimische Informant/die einheimische Informantin Texte hervorbringe, die in den Kanon der Geistesgeschichte eingespeist würden, der Informant/ die Informantin jedoch stumm und ohne Namen bleibe. Diese Figur, ihre Bedeutung und Unterdrückung in den herrschenden Archiven und Metanarrativen aufzudecken ist also der Anspruch postkolonialer Intervention und damit auch ein Fokus der vorliegenden Arbeit. Den Gegenstand der Untersuchung liefert Spivak Theolog*innen und Religionswissenschaftler*innen, die sich mit dem Christentum und seinen weltweiten Spielarten beschäftigen gleich mit an die Hand indem sie einfordert, „das zu sabotieren, was man unausweichlich zur Hand hat, anstatt ein Werkzeug zu erfinden, das niemand ausprobieren wird, während man Spielarten des liberalen Pluralismus nach dem Mund redet.“75

‚Unausweichlich zur Hand’ liegen oft die unhinterfragten Methoden der historisch-kritischen Wissenschaft, die von Johann Philipp Gabler als einem der ersten in der Vorrede der bereits erwähnten Urgeschichte Eichhorns eingespielt werden.76 Nachdem Reisebuch und Karte mit ersten groben Pinselstrichen veranschaulicht worden sind, soll nun mit Hilfe Spivaks ein wichtiger methodischer Vorbehalt formuliert werden. In dem bereits erwähnten Zusammenhang ihrer Spurensuche nach dem einheimischen Informanten führt sie Kant, Hegel und Marx als philosophische Gewährsmänner und gleichermaßen Gegenstand ihrer ausführlichen Kritik ein. Von Immanuel Kant und seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten stammt denn auch ihr Anspruch eine „Narrativierung der Geschichte“ als Stümperin vorzunehmen: „Wenn ‚die Verbindung [dieser Talente] (unter ihnen ‚die Verbindung d[e]s Empirische[n] mit dem Rationalen’) in einer Person nur Stümper hervorbringt’, dann sollten wir uns daran erinnern, dass ‚Stümpern’ ein Synonym für Intervention sein kann.“77

Der Anspruch der vorliegenden Arbeit kann, betrachtet man die Weite und Tiefe des historischen Zeitraums und gewählten Themengebiets wenig mehr

                                                             74 EBD., 29. 75 EBD., 32. 76 Siehe JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Urgeschichte, ix. 77 GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK, Kritik der postkolonialen Vernunft, 32.

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als ein ‚Stümpern’ sein. Ein Stümpern jedoch, das sich mit den kritischen Einsichten postkolonialer Theorien verbunden als ein fruchtbares erweisen könnte.

1.5

Zur geschichtlichen Verortung um 1800

Die Fokussierung auf die Zeit um 1800 soll deutlich machen, dass viele koloniale Diskurse nicht erst mit dem tatsächlichen Erwerb deutscher Kolonien entstanden sind, sondern eine längere Vorgeschichte aufweisen.78 Gerade die Auseinandersetzung mit dem Fremden und dessen Irritationen führt zu einer unglaublichen Produktivität in dieser Phase.79 Denn um 1800 ist die Frage, was unter Literatur, Geschichte und Ästhetik zu verstehen sei, eine offene und heiß debattierte.80 Und gerade die jüngsten Entdeckungsreisen und außereuropäischen Kulturkontakte sind es, die in ihrer Befremdung völlig neue Diskurse angestoßen haben.81 Die einschneidende Neuerung in vielen Disziplinen im Urteil der Zeitgenossen drückt auch Friedrich Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung aus: „Die Entdeckungen, welche unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein ebenso lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen Völkerstämme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in unsrer eignen Kultur weit genug fortgeschritten sein, um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu machen und den verlornen Anfang unsers Geschlechts aus diesem Spiegel wiederherzustellen.“82

In diesem Zitat scheinen schon einige der Themen auf, die an der Wende zum 19. Jahrhundert entstehen und auch im Bereich der Bibelwissenschaften breiten Anklang finden. Es sind dies die Sehnsucht nach den (reinen) Ursprüngen, die Vorstellung einer Stufenentwicklung des Menschengeschlechts, die Idee 78 Siehe hierzu ALEXANDRA BÖHM/ MONIKA SPROLL, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg 2008, 7–26, hier: 8. 79 Siehe EBD., 10. 80 Siehe DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, München 2011, 12. 81 Siehe hierzu auch BERNHARD WALDENFELS, Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M. 1990. 82 FRIEDRICH SCHILLER, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine Akademische Antrittsrede bey Eröffnung seiner Vorlesungen gehalten von Friedrich Schiller, Professor der Geschichte in Jena, Jena 1989, 11.

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einer Allochronie der Zeiten, die unterschiedliche Weltalter und Entwicklungsstufen auf der Weltkugel nebeneinander gestellt sieht und vieles mehr. Besonders das Gefühl des Verlusts ist jedoch eines, das sich auch in der Theologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts beobachten lässt. So schreibt Johann Gottfried Herder in seinen Briefe an Theophron (1781) an einen jungen Theologen, der sich darüber beklagt, dass ihm die kindliche Einfalt seiner Bibellektüre verloren gegangen sei: „Ich gebe Ihnen einige Rathschläge an die Hand, die ich bewährt gefunden habe, da ich auch an dieser Krankheit lag und mir das Wort Gottes, wie Sie sich stark und wahr ausdrückten, in der Hand der Critic vorkam, wie eine ausgedrückte Citrone; Gottlob! Es ist mir jetzt wieder eine Frucht, die auf ihrem Lebensbaum blühet.“83

Der von Herder beschriebene Umschwung innerhalb der Theologie hatte auch mit einem erneuerten Blick auf den Orient zu tun.84 Die Protagonisten einer Sichtweise auf die Bibel, die sie menschlich verstand und historisch einordnete waren neben Johann Gottfried Herder (1744-1803) unter anderem der bereits erwähnte Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) und Karl David Ilgen (17631824). Während sich für das ausgehende 18. Jahrhundert generell ein nachlassendes Interesse an den Kulturen Asiens konstatieren lässt85, so gilt das für die Theologie nur in eingeschränktem Maße. Denn jener Eichhorn war auch Herausgeber einer mehrbändigen Weltgeschichte, die die Völker Asiens, Afrikas und Amerikas umfasste.86 Er schrieb sich damit in die neu entstehende Ethnographie, bzw. Völkerkunde ein, die seit der ersten Nennung von ethnographia 1767 sich zu einem rasch wachsenden Feld mit zahlreichen Zeitschriften (alleine 12 Titel mit „Völkerkunde“ im Titel zwischen 1781-1790) entwickeln sollte.87 Diese Ambivalenz lässt sich auf vielen Feldern beobachten, sodass die These vom Zeitalter der Aufklärung als einem zutiefst widersprüchlichen und uns in vielfacher Hinsicht fremden Abschnitt der Geschichte Einiges für sich hat.88 Schon allein die innerhalb der postkolonialen Wissenschaften umstrittene Bewertung des Zusammenhangs von Moderne und Kolonialismus                                                              83 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Briefe an Theophron (1781), in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1877ff, Band 11, 155–212, hier: 166. Vergleiche DANIEL WEIDNER, Bibel, 13. 84 Vergleiche STEFAN HEIDEMANN, Der Paradigmenwechsel in der Jenaer Orientalistik in der Zeit der literarischen Klassik, in: Charis Goer/Michael Hofmann (Hg.), Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850, München 2008, 243–257, hier: 245. 85 Vergleiche JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 2010. 86 Siehe JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Weltgeschichte. 4 Bände, Göttingen 1814. 87 Siehe HAN F. VERMEULEN, Before Boas. The Genesis of Ethnography and Ethnology in the German Enlightenment, Lincoln/London 2015, 276. 334. 88 Siehe dazu ANDREAS PEČAR/ DAMIEN TRICOIRE, Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?, Frankfurt/ New York 2015.

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spricht hierfür Bände: Ist die Moderne nur in ihrem Zusammenhang von epistemischer Gewalt und Kolonialisierung der Welt beschreibbar89, oder finden sich gerade in der Aufklärung Elemente eines Widerstands gegen hegemoniale Deutungen der Wirklichkeit90? Es kann nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit sein, diese Ambivalenzen auflösen zu wollen, oder Eindeutigkeiten herzustellen, die sich nur schwerlich verifizieren lassen. Stattdessen erwächst aus der Beschäftigung mit der alttestamentlichen Wissenschaftsgeschichte ein Panoptikum vielfältiger Möglichkeitsräume in die eine Geschichtsdarstellung eingezeichnet werden kann. Anhand der vielfältigen methodischen Neuaufbrüche, die bis heute die Wissenschaftspraxis präfigurieren, scheidet jedoch ein rein historisierender Zugang zu jener Epoche aus91: 1781 sprach August Ludwig Schlözer zum ersten Mal von semitischen Sprachen und prägte damit eine grundlegende Zuordnung innerhalb der Sprachfamilien, die bis heute Bestand hat92. Ab den 1770er Jahren entstanden zahlreiche neue Wissenschaftsformen, die sich in der ein oder anderen Weise auf die Wurzel εθνοῖ bezogen und als Vorläufer der modernen Ethnologie gelten können und auch die Wurzeln der Religionswissenschaft können hier verortet werden. Geradezu revolutionär sind jedoch die Umbrüche, die in der alttestamentlichen Wissenschaft vonstatten gingen und ein Innovationspotenzial aufwiesen, das bis heute gültige Methoden, Gattungen und Wissenschaftsformen geschaffen hat. Einige dieser Umbrüche werde ich anhand eines Abrisses der Forschungsgeschichte im nächsten Kapitel genauer ausführen. Als Ende des Untersuchungszeitraums käme die Wende zum 20. Jahrhundert, insbesondere aber der Beginn des ersten Weltkriegs im Jahr 1914 als ein schlüssiges Datum in Betracht. Denn ab ungefähr dieser Zeit lässt sich ein Niedergang des deutschen Einflusses feststellen und ein Erstarken der englischsprachigen Beiträge festhalten, wie Ruth Conrad unter Zuhilfenahme der Verlagsprogramme dieser Zeit aufgezeigt hat.93 Ein derart weit gesteckter Untersuchungszeitraum würde jedoch den Rahmen der hier vorliegenden Arbeit 89 Siehe hierfür schon MAX HORKHEIMER/ THEODOR W. ADORNO, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 182009; insbesondere jedoch die neueren Arbeiten von Walter Mignolo: WALTER D. MIGNOLO, The Darker Side of the Renaissance. Literacy, Territoriality, Colonization, Ann Arbor 1995; WALTER D. MIGNOLO, The Idea of Latin America, Oxford 2005; WALTER D. MIGNOLO, Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Aus dem Spanischen übersetzt und eingeleitet von Jens Kastner und Tom Waibel, Wien/Berlin 2012. 90 So vor allem SANKAR MUTHU, Enlightenment against Empire, Princeton/Oxford 2003. 91 Gegen ANDREAS PEČAR/ DAMIEN TRICOIRE, Falsche Freunde, passim. 92 Siehe HAN F. VERMEULEN, Before Boas, 282. 93 Siehe RUTH CONRAD, „Damit werden die Angelsachsen, die bisher so vielfach sich auf deutsche theologische Arbeiten stützten, sich von uns losgelöst, ja uns überholt haben“ (Max Christlieb). Beobachtungen zur Internationalisierung theologischer Verlagsprogramme im 19. und 20. Jahrhundert, in: Claus Arnold / Johannes Wischmeyer (Hg.), Transnationale Dimensionen wissenschaftlicher Theologie, Göttingen 2013, 125–152.

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sprengen. Zudem zeigt sich, dass es insbesondere für den zweiten Teil des 19. Jahrhunderts und die Wende zum 20. Jahrhundert bereits einige Arbeiten gibt, die in ähnlicher Weise, wie das von mir skizziert ist, Religions- und Wissenschaftsgeschichte unter diskurskritischen Gesichtspunkten untersuchen.94 Für den Bereich der alttestamentlichen Wissenschaft lässt sich deutscher Einfluss auch noch länger nachweisen als bis zum Ende des langen 19. Jahrhunderts. Namen, wie Martin Noth oder Gerhard von Rad stehen beispielhaft für eine weitere Generation äußerst einflussreicher Wissenschaftler nach Wellhausen95 und auch am Beispiel der Zeitschriften und hier an der Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft (ZAW) lässt sich deutschsprachige Diskursmacht noch deutlich länger als nur bis zur Wende zum 20. Jahrhundert feststellen.96 Diese langfristigen Linien wenigstens erwähnt zu haben, scheint mir wichtig. Als konkreter zeitlicher Abschluss und jüngstes Quellenmaterial mit dem ich mich beschäftigen werde, bietet sich Heinrich Ewalds Editorial seiner Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes (1837)97 in mehrfacher Hinsicht an: Zum einen kommt damit das Zeitalter der engen personellen und inhaltlichen Verschränkung von Theologie und Orientalistik zu einem vorläufigen Abschluss.98 Zum anderen hat sich ein bestimmter Stil der Wissenschaftlichkeit, der Habitus, Methoden und Zugänge umfasst, soweit konsolidiert, dass die wichtigste Phase des Umbruchs und der Neugestaltung einer Zeit der Konsolidierung weicht.99

                                                             94 In kleiner Auswahl seien hierzu nur genannt: HANS G. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte; HANS G. KIPPENBERG / JÖRG RÜPKE / KOCKU VON STUCKRAD (HG.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Band 1, Göttingen 2009; KOCKU VON STUCKRAD, The Scientification of Religion. An Historical Study of Discursive Change, 1800–2000, Berlin/ Boston 2014; FRANS WIJSEN/ KOCKU VON STUCKRAD (HG.), Making Religion. Theory and Practice in the Discursive Study of Religion, Leiden/Boston 2016. 95 Vergleiche hierzu allein für den Teilbereich der Biblischen Theologie die Nennung der wichtigsten Namen bei MAGNE SÆBØ, Der Weg der Biblischen Theologie von Gabler zu von Rad, in: Paul Hanson/ Bernd Janowski/ Michael Welker (Hg.), Biblische Theologie. Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971), Münster 2005, 1–25. 96 Zur Geschichte der ZAW vergleiche drei Aufsätze, die einen guten Querschnitt durch die prägenden Jahrzehnte der Zeitschrift geben: LIC. DR. AUG. FRHR. VON GALL, Bernhard Stade. Ein Nachruf, in: ZAW 27 (1907), I–XIX; KARL MARTI, Zum hundertsten Heft der Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft, in: ZAW 39 (1921), 100– 107; CORNELIA WEBER, Die ‚Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft’ unter ihrem Herausgeber Johannes Hempel von 1927–1959, in: ZNThG/JHMTh, 5. Bd., 193– 227. 97 Siehe HEINRICH EWALD, Plan dieser Zeitschrift, in: Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes, Band 1 (1837). 98 Siehe dazu SABINE MANGOLD, Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“; LUDMILLA HANISCH, Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003. 99 Siehe SUZANNE L. MARCHAND, German Orientalism, 101ff.

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1.6

Die Debatte um Rassismus: Inhaltliche Beschränkung der Studie

Neben der erwähnten zeitlichen Begrenzung der Studie soll noch eine inhaltliche Einschränkung vorgenommen werden. Dies geschieht wieder mit Blick auf eine benachbarte Disziplin. So gibt es in der Altertumswissenschaft seit Bernals Schwarze[r] Athene (1992) eine Diskussion um Umfang und Art des institutionalisierten Rassismus innerhalb der eigenen Wissenschaftsdisziplin.100 Im Anschluss an die klassischen Werke von Maurice Olender101, Tzvetan Todorov102 und Edward Said103 wird auch über den Zusammenhang von Philologie und Rassismus im 19. Jahrhundert intensiv debattiert.104 Dass es seit der Aufklärung einen Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Forschung und Rassismus gibt, steht außer Frage105, strittig ist jedoch der Umfang dieser Forschungen, die Verbindung zu anderen Zweigen der Wissenschaft und die Verknüpfung mit dem rassistischen Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Exemplarisch kann dies an den Brüdern Humboldt aufgezeigt werden: Alexander diskutiert zwar den Zusammenhang von Abstammung und Sprache und geht auch ausdrücklich auf die Fragestellung ein, ob es etwa „höhere[...] und niedere[...] Menschenracen“106 gebe, jedoch nur um dann ausdrücklich festzustellen, „[...] alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt.“107

Sein Bruder Wilhelm von Humboldt spricht analog von der Idee,

100 Siehe MARTIN BERNAL, Schwarze Athene. Die afroasiatischen Wurzeln der griechischen Antike. Wie das klassische Griechenland ‚erfunden’ wurde, übersetzt von Joachim Rehork, München 1992. 101 Siehe MAURICE OLENDER, Die Sprachen des Paradieses. Religion, Philologie und Rassentheorie, Frankfurt a.M. 1995. 102 Siehe TZVETAN TODOROV, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Aus dem Französischen von Wilfried Böhringer, Frankfurt a. M. 1985. 103 Neben den bereits erwähnten Arbeiten ist hier noch EDWARD SAID, Covering Islam: How the Media and the Experts Determine How We See the Rest of the World, New York 1981, zu nennen. 104 Siehe dazu vor allem PHILIPP KRÄMER/ MARKUS A. LENZ/ MARKUS MESSLING (HG.), Rassedenken in der Sprach- und Textreflexion. Kommentierte Grundlagentexte des langen 19. Jahrhunderts, Paderborn 2015. 105 Siehe dazu SUSAN ARNDT, Die 101 wichtigsten Fragen: Rassismus, München 2012. 106 ALEXANDER VON HUMBOLDT, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, hg. von Ottmar Ette und Oliver Lubrich, Frankfurt a.M. 2004, 384. Vergleiche JÜRGEN TRABANT, Alexander von Humboldt über Erdgewalt und Geisteskraft in der Sprache, in: hier: Markus Messling/ Ottmar Ette (Hg.), Wort. Macht. Stamm. Rassismus und Determinismus in der Philologie (18./19. Jh.), 139–151, hier: 140. 107 ALEXANDER VON HUMBOLDT, Kosmos, 84.

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„ [...]der Menschlichkeit, das Bestreben, die Gränzen, welche Vorurtheile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen stellen, aufzuheben, und die gesammte Menschheit, ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe, als Einen grossen, nahe verbrüderten Stamm, als Eine zur Erreichung Eines Zweckes, der freien Entwicklung innerlicher Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln.“108

Während in der deutschsprachigen Forschung ein Konsens darüber besteht, diese Fragestellungen in präziser Kleinstarbeit und im Kontext der Möglichkeitsräume und historischen Verortungen zu diskutieren109, so bevorzugen englischsprachige Veröffentlichungen die Schwerpunktsetzung auf große Zusammenhänge. So möchte Shawn Kelley in Racializing Jesus (2002) zeigen, wie die Ideologie des Rassismus die Geschichte der historisch-kritischen Bibelwissenschaft seit ihren Anfängen bis zu heutigen Vertreter*innen bestimmt hat110 und Colin Kidd widmet sich in The Forging of Races (2006) rassistischen Einschreibungen in Bezug auf die Erzählungen der Genesis über den Zeitraum von 1600–2000.111 Dass solche großformatigen Thesen ihren eigenen Charme haben zu einer Zeit, da der Mut, Neues zu denken und die eigenen Fundamente kritisch in Frage zu stellen, zu schwinden scheinen, sei zugestanden. Dennoch leuchtet unmittelbar ein, dass der Preis solch lange Entwicklungslinien nachzuzeichnen, die mangelnde Genauigkeit im Detail ist. In meiner Arbeit will ich mich auf umfangreiche Textanalysen und eine sorgsame Einzelarbeit konzentrieren und dabei dennoch aussagekräftige und paradigmatische Ergebnisse aufweisen können. Ein Nachschlagewerk drückt diesen Gedanken mit dem Titel (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache (2011) aus.112 Ein Bild, das mir auch für meine Arbeit nicht als unpassend erscheint: Im Folgenden werde ich weder das Dickicht des deutschen Kolonialismus lichten, noch eine neue Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments für den deutschsprachigen Raum vorlegen. Stattdessen sollen dort paradigmatische Schneisen geschlagen werden, wo Kolonialismus, Wissen-

                                                             108 WILHELM VON HUMBOLDT, Gesammelte Schriften, 17 Bände, hg. von Albert Leitzmann u.a., Berlin 1903–1936, Band VI, 38. Vergleiche JÜRGEN TRABANT, Alexander von Humboldt über Erdgewalt und Geisteskraft in der Sprache, 140. 109 Siehe dazu auch MARKUS MESSLING, Pariser Orientlektüren. Zu Wilhelm von Humboldts Theorie der Schrift, Paderborn 2008; MARKUS MESSLING, L’Homme? Destruktion des Menschen in der Humboldt-Rezeption bei Gobineau, in: Ute Tintenmann/Jürgen Trabant (Hg.), Wilhelm von Humboldt: Universalität und Individualität, München 2012, 183–208. 110 Siehe SHAWN KELLEY, Racializing Jesus. Race, Ideology and the formation of modern biblical scholarship, New York 2002. 111 Siehe COLIN KIDD, The Forging of Races. Race and Scripture in the Protestant Atlantic World, 1600–2000, Cambridge 2006. 112 Siehe SUSAN ARNDT/ NADJA UFUATEY-ALAZARD (HG.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2011.

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schaftlichkeit und nationale Identität um 1800 aufs Engste miteinander verwoben sind. Dass dies auch Konzepte menschlicher Entwicklung mit beinhaltet113 und die Frage gestellt werden muss, warum sich der deutsche Sprachraum als besonders fruchtbar für die Entwicklung der Ethnologie und die ersten wissenschaftlichen Diskussionen zur Frage der Rasse erwies114, versteht sich von selbst. Erst nach Ende meiner Studien bin ich auf Forschungen gestoßen, die in Israel zum gleichen Thema bereits vorgelegt wurden. Insbesondere nennen möchte ich die Arbeiten von Ofri Ilany von der Universität Tel Aviv. Seine Doktorarbeit mit dem Titel In Search of The Hebrew People: Bible Research in the German Enlightenment 1752–1810 (2012) erscheint 2018 auf englisch. Wie der Titel schon verrät, weist die Arbeit einige inhaltliche Überschneidungen mit meinem Forschungsgegenstand aus und sind auch die Protagonisten ähnliche. Weiteren Studien wird es vorbehalten sein, die unterschiedlichen Perspektiven auf diese Zeit miteinander ins Gespräch zu bringen.

1.7

Der Aufriss der Untersuchung

Meine Einleitung möchte ich mit einigen Bemerkungen zum Aufbau und der Struktur der vorliegenden Arbeit abschließen. Das zweite Kapitel wird meine These untermauern, dass die bisherigen Entwürfe einer Wissenschaftsgeschichte der Erforschung des Alten Testaments neuere Diskussionen, wie ich sie anhand der Stichworte des Postkolonialismus und der entangled history vorgestellt habe, nicht berücksichtigen und stattdessen einseitig auf eine bestimmte ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit der Aufklärung fokussieren. Die exemplarische Vorstellung einiger Arbeiten aus dem Bereich der Religionswissenschaft, die versuchen, eine solche Vorstellungsweise zu erweitern und eurozentrische Perspektiven hinter sich zu lassen, dient dazu, den Rahmen einer postkolonialen Wissenschaftsgeschichte aufzuspannen. Tiefendimensionen des deutschen Kolonialismus und des kolonialen emplotments deutscher Wissenschaft geraten in der Sichtweise einschlägiger Monographien ebenfalls in den Blick. Zum Abschluss dieses Kapitels werde ich aus dem Forschungsüberblick Fragestellungen für meine eigene Arbeit ableiten und deutlich machen, welche Phänomene und Elemente des Wissensregimes von besonderem Interesse für meine Fragestellung sein werden.

                                                             113 Vergleiche dazu THOMAS MCCARTHY, Rassismus, Imperialismus und die Idee menschlicher Entwicklung. Aus dem Englischen von Michael Müller, Berlin 2015. 114 Vergleiche hierzu die Diskussionen bei SARA EIGEN/MARK LARRIMORE (HG.), The German Invention of Race, Albany 2006.

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Das dritte Kapitel dient dazu, den methodischen Rahmen der Arbeit deutlich herauszuarbeiten und Herangehensweisen und Begriffe zu klären. In diesem Kapitel werde ich erläutern, warum sich mir ein methodischer Mix als besonders hilfreich für die Erstellung eines Metakommentars erweist. Es werden Elemente dieser Methodik herausgearbeitet und sowohl in ihrem Entstehungskontext, als auch im Hinblick auf eine Übertragung auf meinen Anwendungsbereich diskutiert werden, nämlich historische Diskursanalyse, Begriffsgeschichte, emplotment, sowie Präemergenz und Nachleben. Die Übertragung auf die Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments um 1800 erfolgt dann in meinem vierten Kapitel. Das theoretische Ziel einer Provinzialisierung Europas, das bereits in Grundzügen vorgestellt worden ist, wird hier am Untersuchungsgegenstand konkret durchgeführt. In einem ersten Zugriff wird die historisch-kritische Methode der alttestamentlichen Wissenschaft, wie sie zum Untersuchungszeitraum entstanden ist, problematisiert und als besonders geeignet für eine solche Diskussion um die wissenschaftlichen Grundannahmen und epistemologischen Voraussetzungen einer Wissenschaftsdisziplin charakterisiert. In einem weiteren Schritt widme ich mich Zugangsweisen und Praktiken, die für einen Paradigmenwechsel innerhalb der Wissenschaft stehen und an denen sich meine These eines kolonialen Zuschnitts dieser Wissenschaftsparadigmen untermauern lassen. Diese beinhalten (1) eine Darstellung der Wissenschaft in der Kontaktzone und des Durchbruchs der wissenschaftlichen und literarischen Reisebeschreibung; (2) Wissenschaftsformen und -techniken, die dazu beitrugen wissenschaftliche Autorität über den Orient zu erlangen, wie sich beispielhaft an der Philologie aufzeigen lässt; (3) Wissenschaftszentren und -institutionen, die zu einer neuen Bedeutung gelangten und gleichsam die hardware bereitstellten; (4) Das Aufkommen des Historismus, der Ethnologie und das Zusammenspiel beider in der Entstehung einer Religionsgeschichte innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft, die stark mit entwicklungsgeschichtlichen Modellen wie der Vorstellung eines Kindheitsalters der Menschheit operierte; (5) die Zuwendung zu gattungskritischen Fragestellungen innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatte um Weltliteratur und der Dichotomie von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Der zweite Teil dieses Kapitels wird sich noch einmal ausführlicher mit dem deutschen Kolonialismus beschäftigen und die Zusammenhänge zwischen nationaler Identität, Entwicklung einer bestimmten diversifizierten Wissenschaftspraxis und dem kolonialen Phantasma aufzeigen. Den Schwerpunkt meiner Arbeit wird das sich daran anschließende fünfte Kapitel bilden. In ihm werden paradigmatische Beispiele für die unter viertens entwickelten Einsichten und Thesen präsentiert und in ausführlicher Quellenarbeit neue Perspektiven auf die Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments entwickelt. In der Zusammenschau unterschiedlicher Entwicklungsschritte wird deutlich, wie das Alte Testament um 1800 neu erfunden worden ist. Dazu werde ich auf die Bedeutung der Reisebeschreibungen eingehen und

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Einleitung

an einer Reisebeschreibung deutlich machen in welchem Kontext und mit welchen Folgen die wissenschaftliche Expedition in den Orient durchgeführt worden ist. Ich werde Elemente des kolonialen Phantasmas darstellen, das eng mit dem zweiten Zeitalter der Entdeckungen verknüpft ist und die methodischen Erneuerungen vor diesem Hintergrund analysieren. Über die Suche nach dem Authentischen innerhalb der Fülle der Reiseberichte werde ich die zeitgenössische Quellendiskussion innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft einspielen. Die politischen Auswirkungen der wissenschaftlichen Neuinterpretation des Orients werden anhand der Debatte um die rechtliche Gleichstellung der Juden thematisiert werden und schließlich die neu entstehenden Einleitungen ins Alte Testament als Mittel zur Erlangung intellektueller Autorität herausgestellt werden. Ich möchte die Ordnung der Kulturen um 1800 darstellen und in dichter Lektüre der Forschung zur Genesis von Johann Gottfried Eichhorn und Johann Gottfried Herder zeigen, wie das Denkbild vom Kindheitsalter der Welt die Lektüre der Hebräischen Bibel transformiert. Neben diesen neuen Techniken, Methoden und Ordnungen, die ich darstellen werde, wende ich mich auch der Frage nach dem Charakter der hebräischen Literatur zu und insbesondere der Frage, welche Gattungen sich in der Bibel finden lassen und wie die Zuordnung zu bestimmten Gattungen in ein koloniales Setting eingeordnet werden kann. Ich werde einerseits Neuerungen präsentieren, die bereits von den Zeitgenossen als Einschnitte charakterisiert worden sind und andererseits auch jene Verschiebungen herausarbeiten, die erst im Nachhinein deutlich geworden sind. Anhand ausgewählter Topoi werde ich dabei auch das Nachleben solcher Neukonzeptionen darstellen, ohne dass dies einen Schwerpunkt meiner Arbeit bilden würde. Die Zusammenschau der in jenem Kapitel entfalteten Elemente wird schließlich darüber entscheiden, ob die These vom Alten Testament als deutscher Kolonie zu überzeugen weiß – oder nicht. In einem abschließenden sechsten Kapitel werde ich die Ergebnisse meiner Untersuchungen noch einmal kurz bündeln und thesenartig zusammenfassen.

2.

Auf dem Weg zu einer postkolonialen Wissenschaftsgeschichte der Erforschung des Alten Testaments: Ein Forschungsüberblick „Fast immer waren die Männer, denen die fundamentale Erfindung eines neuen Paradigmas gelang, entweder sehr jung, oder auf dem Gebiet, dessen Paradigma sie änderten, sehr neu.“ Thomas S. Kuhn „Viele solcher Studien leiden indes an einer repetitiven Monotonie des Verfahrens, die zu wenig überraschenden Resultaten führt, an einem grimmigen Gestus des Überführens, Aburteilens, manchmal sogar Denunzierens von Autoren der Vergangenheit und an Unkenntnis über kulturelle Grenzen hinweg – Grenzen, die selbst wiederum alles andere als vorgegeben sind, sondern sich in Praxis wie Diskurs immer wieder neu bilden.“ Jürgen Osterhammel

Die oben angeführte Beobachtung Thomas S. Kuhns aus seinem Werk zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, stellt Martin Bernal seinem Buch Schwarze Athene (1992) voraus.1 Gerade als Außenseiter innerhalb der Altertumswissenschaften sieht sich Bernal prädestiniert dafür, an grundlegenden Einsichten des Faches zu rütteln. Als Chinaspezialist schreibt er zu Themen des klassischen Altertums und wirft einer bestimmten Forschungstradition vor, in der Linie von positivistischen und rassistischen Grundannahmen zu stehen. Der „intellektuelle[n] Urknall“2 als der Kuhns Veröffentlichung auch charakterisiert worden ist, hat die Sinne dafür geschärft, Wissenschaftsgeschichte nicht bloß in der Form einer Selbstvergewisserung der Gegenwart in der Vergangenheit zu betreiben, sondern wissenschaftliche Entwicklungen als kontingent und kontextuell zu verstehen. Der Fokus rückte somit stärker auf die historischen Möglichkeitsräume der Wissenschaftsgeschichte, die Praxis der Grenzziehung und den Wechsel dominanter Paradigmen innerhalb der scientific community. Der kritische Blick von außen, das hat sich an der Debatte um die Schwarze Athene gezeigt, hilft dabei, die Grenzen des Diskurses aufzuzeigen und auszuloten und neue Forschungsfragen zu generieren. Gleichzeitig wohnt solchen engagierten forschungsgeschichtlichen Fragestellungen die Gefahr inne, dass sie in einen Modus des Misstrauens geraten, der 1 2

Siehe MARTIN BERNAL, Schwarze Athene, 31. UTE DANIEL, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 52006, 363.

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von Jürgen Osterhammel in seinem Vorwort zur Neuauflage von Die Entzauberung Asiens (2010) treffend charakterisiert wurde und diesem Kapitel ebenfalls voraus gestellt ist.3 Forschungsgeschichte muss meines Erachtens genau jenen Spagat vollziehen: Neue Fragen, die durch die Gegenwart aufgeworfen wurden, an alte Texte und Forschungstraditionen zu stellen und dabei nicht in falsch verstandener Ehrerbietung zu erstarren, aber auch nicht Figuren der Vergangenheit vorzuwerfen, dass sie nicht unsere Zeitgenossen sind. Ziel dieses Kapitels kann es nicht sein, einen Überblick über die gesamte Literatur zu geben, höchstens einen Einblick in Teile des Diskurses, den Edward Said im Hinblick auf den Orientalismus als ein reichhaltiges Gewebe bezeichnet hat, bei dem es ausreichend sei, einzelne Elemente zu betonen, um den Blick auf den dahinterliegenden Reichtum zu lenken.4 Die These, dass die Bezüge zwischen einer außereuropäischen Geschichte und der Forschungsgeschichte des Alten Testaments wenig prominent untersucht sind, soll noch einmal am Material der Forschungsüberblicke erhärtet werden. Dies geschieht sowohl an Arbeiten, die stärker an Forscherpersönlichkeiten ausgerichtet sind, als auch an solchen Arbeiten, die sich übergreifenden Problemfeldern widmen. Da diese Arbeit keine alttestamentliche ist, sondern sich als eine dezidiert religionswissenschaftliche Perspektive auf das Sujet der Paradigmen innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft und deren Genese versteht, so werden einige wegweisende Arbeiten zu den Begriffen und Diskursfeldern des Orientalismus und der postkolonialen Religionswissenschaft dargestellt. Bevor in einem Zwischenfazit die Forschungsfragen und -anliegen noch einmal gebündelt und benannt werden, sollen erste Verbindungslinien nachvollziehbar gemacht werden, die innerhalb des skizzierten Forschungsfeldes bereits bestehen.

2.1

Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments

Die Wissenschaftsgeschichte erfreut sich seit einiger Zeit einer großen Beliebtheit.5 Dies drückt sich unter anderem in der Gründung des Max-PlanckInstituts für Wissenschaftsgeschichte mit Sitz in Berlin im Jahr 1994 aus.6 Dies trifft aber auch für die Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments zu.7 3 4 5

6 7

Siehe JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Entzauberung Asiens, 411. Siehe EDWARD SAID, Orientalismus, 35. Vergleiche dazu auch die Einleitung bei PETER BURKE, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Aus dem Englischen von Matthias Wolf, Berlin 2014; sowie den entsprechenden Abschnitt bei UTE DANIEL Kompendium Kulturgeschichte, 361–379. Siehe https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/de [13.01.2016]. Siehe den Überblick MAGNE SÆBØ, Historiographical Problems and Challenges. A Prolegomenon, in: Ders. (Hg.), Hebrew Bible/ Old Testament. The History of Its

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Schrieb Bodo Seidel Anfang der 1990er Jahre noch gegen den Ruf an, Forschungsgeschichte sei etwas für verregnete Sonntagnachmittage, so hat sich dieses Bild inzwischen verflüchtigt.8 Für den hier vorliegenden Forschungsüberblick habe ich aus der Fülle der Literatur drei Vertreter eines personalisierten Zugangs zur Geschichte des Alten Testaments gewählt. Dabei habe ich mich für deutschsprachige Monographien entschieden, die jeweils einen spezifischen Zugang, bzw. wissenschaftsgeschichtlich eine bestimmte Epoche repräsentieren. Dieser Zugang über Theologenporträts wird inzwischen als problematisch angesehen und in neueren Arbeiten selten gewählt.9 Eine „Errungenschaftsgeschichtsschreibung“10 entspricht darüber hinaus nicht den Anforderungen einer modernen Disziplingeschichte, die vor allem nach Wissensnetzwerken und den Produktionsbedingungen und Entstehungsfaktoren wissenschaftlicher Erkenntnis fragt.11 Deshalb werde ich in einem zweiten Schritt Arbeiten besprechen, die einen Zugang über Einzelthemen wählen. Hierbei habe ich mich für zwei englischsprachige Bücher entschieden, die andere Themen stärker in den Vordergrund stellen. Abgerundet wird dieser erste Durchgang mit dem derzeitigen Standardwerk, das sich nicht mehr der Arbeit einzelner Forscher*innen verdankt, sondern als Gemeinschaftswerk konzipiert ist, und zudem konsequent jüdische Stimmen und Zugänge als gleichberechtigte Forschungstraditionen mitberücksichtigt.

2.1.1 Forschungsgeschichte in Theologenporträts: Von Ludwig Diestels Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche (1869) zu Henning Graf Reventlows Epochen der Bibelauslegung (2001) Im Jahr 1869 erschien Ludwig Diestels Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche (1869), das für eine lange Zeit zur beherrschenden Übersicht über die Entwicklung der alttestamentlichen Wissenschaft und die Anfänge der historisch-kritischen Methode werden sollte.12 Auch noch 100 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen dieses Buches beginnt Hans-Joachim

Interpretation. Volume 1 From the Beginnings to the Middle Ages (Until 1300), Part 1 Antiquity, Göttingen 1996, 19–30. 8 Vergleiche BODO SEIDEL, Karl David Ilgen und die Pentateuchforschung im Umkreis der sogenannten Älteren Urkundenhypothese, Berlin/ New York 1993, 1. 9 Zur Kritik an diesen Ansätzen siehe MAGNE SÆBØ, Historiographical Problems and Challenges, 30. 10 UTE DANIEL, Kompendium Kulturgeschichte, 363. 11 Vergleiche SABINE MANGOLD, Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, 16. 12 Siehe hierzu auch das Nachwort von Siegfried Wagner im Reprint der Originalausgabe von 1981.

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Kraus in der Einführung zu seiner zweiten Auflage der Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments (21969) seine eigenen Darstellungen mit dem Hinweis auf dieses nicht nur von ihm hochgeschätzte Lehrwerk zur Forschungsgeschichte.13 Selbst das derzeitige von Magne Sæbø herausgegebene Grundlagenwerk eröffnet seine Darstellungen mit einer Verbeugung vor diesem Klassiker und Pionier der Wissenschaftsgeschichte.14 In Diestels umfangreichen Werk werden nicht nur die Hauptströmungen und Grundideen eines erneuerten Verständnisses der Hebräischen Bibel zu Lebzeiten des Verfassers dargestellt, sondern auch ein Abriss der Geschichte Israels und einige dogmatische Erkenntnisse, die sich aus dem Alten Testament erfassen lassen, dargeboten. Als eine Hauptrichtung wird dabei der deutsche Rationalismus genannt, der auf englischen Deismus und Naturalismus reagiert habe und sich in Vertretern wie Johann David Michaelis und Johann Gottfried Herder gegen eine dogmatische Lesart der Bibel gesperrt und im Diktum, dass die Bibel menschlich verstanden werden müsse, einem ‚thetischen Rationalismus’ Raum geschaffen habe.15 Kennzeichnend für ihr Verständnis der Texte seien deren konsequente Einordnung in ein Kindheitsalter der Menschheit und der Gedanke von der Erziehung der mit mangelhaftem Verständnisvermögen vorzustellenden Kinder gewesen.16 Diestel beobachtet einen Umschwung innerhalb der Betrachtungsweise dieses Kindheitsalters von einer Sonderstellung Israels innerhalb der Völker (Michaelis) über ein verklärendes Bild (Herder) bis zu einem schonungslos die Rohheit betonenden Fazit (Lessing).17 Im Vergleich mit den Urkunden anderer Völker, die auf dem gleichen Entwicklungsstand gewähnt wurden, wurde der produktive Geist des Altertums als Erklärung für die anstößigen Wundergeschichten betont – eine Erklärungsart, die für Diestel eine historische Sackgasse darstellt. Als eine Lösungsmöglichkeit zeichnet er anschließend den historischen Realismus und die im Anschluss an Hegel entstehende Religionsgeschichte nach, deren besten Vertreter er in Vatke entdeckt haben will.18 Als methodischen Hauptgewinn der philosophischen Untersuchung des Alten Testaments sieht Diestel die Unterscheidung zwischen einem Volksglauben und der geläuterten religiösen Idee und die Sonderstellung des Hebraismus vor dem restlichen „Heidentum“.19 Gerade der Kontakt mit anderen religiösen Traditionen, die bei Diestel unter dem Schlagwort Heidentum firmieren, habe zu einigen Innovationen in

                                                             13 Siehe HANS-JOACHIM KRAUS, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 21969, 1. 14 Siehe MAGNE SÆBØ, Preface, a.a.O., 17. 15 LUDWIG DIESTEL, Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche, Jena 1869, 672f. 16 Siehe EBD., 679. 17 Siehe EBD., 680. 18 Siehe EBD., 685692. 19 Siehe EBD., 694.

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der Betrachtungsweise der biblischen Texte geführt. Diestel nennt die Religionsurkunden, die von William Jones gehoben worden sind, und den Streit um die Deutung und Interpretation der Symbolik und Mythologie (Creuzer). Als eine letzte Hauptströmung werden die biblische Theosophie und der neue Orthodoxismus genannt mit Vertretern von Oetinger bis Hengstenberg. Als Wegbereiter einer biblischen Theologie werden von ihm Johann Philipp Gabler, Georg Lorenz Bauer und Wilhelm Martin Leberecht de Wette genannt, die als erste eine konsequent historisierende Herangehensweise an das Alte Testament eingeübt hätten.20 Eine klassische Darstellung der Entwicklung der historisch-kritischen Methode für den deutschsprachigen Raum stellt die Geschichte der historischkritischen Erforschung des Alten Testaments (1956) von Hans-Joachim Kraus dar. Das Werk ist seit seiner Erstveröffentlichung in mehreren Auflagen erschienen und kann als ein Standardwerk der Wissenschaftsgeschichte gelten.21 In kritischer Würdigung von Ludwig Diestels Geschichte des Alten Testaments (1869) legt der Autor ein größeres Gewicht auf die „geistes-geschichtlichen und theologie-geschichtlichen Zusammenhänge“22, die er bei Diestel zu wenig beachtet findet. Hans-Joachim Kraus bezieht sich darin ausführlich auf die Rolle der Aufklärung und stellt dar, wie „die Ideen der Aufklärung in die alttestamentliche Bibelforschung hineingreifen und sie von Grund auf verändern.“23

Aufklärung wird bei ihm weniger als ein Ensemble neuerer wissenschaftlicher Werkzeuge und Prinzipien, sondern dezidiert als eine anti-theologische Strömung begriffen.24 Den speziellen Standpunkt der biblischen Wissenschaftler kennzeichnet Kraus mit Karl Barth als einen „gefährlichen Friedensschluss“, der daraus resultiere, dass keiner der Forscher seine Rechtgläubigkeit aufs Spiel habe setze wollen und woraus so etwas wie eine „vernünftige Orthodoxie“ entstanden sei.25 Eine weitere wichtige Strömung stelle der englische Deismus dar, der Begriffe, wie „Natur“ und „Religion“ als bestimmende Gesichtspunkte der alttestamentlichen Debatte eingeführt habe. Über die Entdeckungen im Pentateuch, angefangen bei Johann David Michaelis, steuert

                                                             20 Siehe Ebd., 708712. 21 So ist zu beobachten, dass sich Nicht-Theolog*innen bei Fragen zur Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments stets auf Kraus beziehen und diesem zugestehen „noch immer grundlegend“, bzw. „immer noch lesenswert“ zu sein. Vergleiche etwa DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 19; ANDREA POLASCHEGG, Wir (alle) sind Babylon (gewesen). Eine deutsch-babylonische Genealogie der Moderne, in: Barbara Vinken (Hg.), Translatio Babylonis. Unsere orientalische Moderne, Paderborn 2015, 63–90, hier: 68. 22 HANS-JOACHIM KRAUS, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, 1. 23 EBD., 93. 24 Siehe EBD., 78. 25 Siehe EBD., 78.

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Hans-Joachim Kraus dann mit Schwerpunkten bei Eichhorn und De Wette auf einen Wendepunkt und Paradigmenwechsel in der alttestamentlichen Wissenschaft, namentlich bei Julius Wellhausen, zu. Die Bedeutung Julius Wellhausens für die alttestamentliche Wissenschaft unterstreicht er wie folgt: „Man könnte auch hier fragen: Wer wäre imstande, die Namen der vielen ausländischen Gelehrten zu zählen, die sich Wellhausen angeschlossen haben? Versuche, Wellhausens Theorien als ‚revelations from dreamland’ zu diskreditieren und den Vormarsch der neuen Ideen zu hemmen, scheitern. Wir werden auf den folgenden Seiten sehen, daß die neuere alttestamentliche Forschung sich mit allen ihren Fragestellungen zur Geschichte der alttestamentlichen Religion beständig um das große Werk Wellhausens herum bewegt.“26

Neben der besonderen Bedeutung, die Julius Wellhausen beizumessen sei27 gebe es einen weiteren Faktor, der von entscheidender Bedeutung für eine veränderte Fragestellung in der Erforschung des Alten Testaments sei: die Archäologie. Hierzu heißt es: „Zwischen 1850 und 1900 vollzog sich langsam, aber unaufhaltbar in der alttestamentlichen Wissenschaft eine umstürzende Wende. Durch die Entdeckung der altorientalischen Quellen trat die Umwelt des alten Israels ins Licht. Zusammenhänge, die man nie zuvor erahnte, taten sich plötzlich auf. Insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in denen historische und religiöse Dokumente aus Ägypten und Mesopotamien bekannt wurden, mußte die alttestamentliche Forschung eine völlige Neuorientierung suchen. Die bisher bewährten Fundamente einer romantischen und idealistischen Geschichtsbetrachtung des Alten Testaments zerbrachen. Die Vorstellung vom primitiven heidnisch-natürlichen Lebensstand des alten Israels wurde zerschlagen. Auch die Konzeption Wellhausens konnte angesichts der neuen Funde nicht mehr bestehen [...] nun galt es, die Quellen aus der Umwelt des alten Israel zur Kenntnis zu nehmen. Diese Neuorientierung vollzog sich unter schweren Erschütterungen, die in Theologie und Kirche überall nachwirkten.“28

Entdeckungen und Ausgrabungen scheinen, dieser Darstellung folgend, gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine völlig neue Note in die alttestamentliche Wissenschaft zu bringen. Zudem scheinen sie eine Konstruktion der Geschichte zu ermöglichen, die auch einiges von Wellhausens Funden, der sich vor allem auf das Arabische konzentrierte, in ein kritisches Licht tauchten. Eine Verknüpfung der von Kraus genannten Bereiche im Lichte postkolonialer Debatten erscheint reizvoll: Ist es nicht möglich, sowohl die Anfänge der historischkritischen Methode, als auch die Entwicklung bei Wellhausen und die Phase der Neubewertung vor archäologischen Entdeckungen als eine stete Konstruktionsarbeit zu sehen, die vor allem von den Peripherien und der Auseinandersetzung mit dem „Anderen“ bestimmt ist? In meiner Arbeit soll es um eine

26 EBD. 275. 27 Vergleiche dazu auch die unübertroffen lebhafte und prägnante Darstellung von RUDOLF SMEND, Julius Wellhausen. Ein Bahnbrecher in drei Disziplinen, München 2006. 28 HANS-JOACHIM KRAUS, Geschichte, 298.

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solche neue Perspektive auf die alttestamentliche Wissenschaftsgeschichte gehen, die im Sinne einer entangled history Bereiche, die in den bisherigen Darstellungen wenig miteinander verbunden scheinen, zu einander in Beziehung setzt. Dies sind Fragestellungen, die bei Hans-Joachim Kraus allerdings überhaupt nicht in den Blick geraten, da sein Werk vielfach hagiographische Züge trägt29 und wenig in die Problem- und Diskursgeschichte um seinen Forschungsgegenstand einsteigt. Deutlich profilierter verknüpft Henning Graf Reventlow mit seinen Epochen der Bibelauslegung (2001) sozial- und ideengeschichtliche Fragestellungen.30 Auch das Verhältnis von Zentrum und Peripherie klingt an: So verweist er zum Beispiel in einem ausführlichen Abschnitt zu Johann Gottfried Herder darauf, dass dieser seinen Forschungsaufenthalt in Nantes 1769 nicht nur dazu nutzte, sich ausführlich mit den Philosophen der französischen Aufklärung zu beschäftigen, sondern er auch eine fragmentarische „Archäologie des Morgenlandes“ herausgab.31 Seine Ideen zur Geschichte der Menschheit, die er von 1784–1791 herausgegeben hat, figurierten eine Frühzeit, die mit der „Kindheit der Menschheit“ gleichgesetzt werden könne. Bei Herder ist nicht nur wie bei den Kirchenvätern das Hebräische „Ursprache der Menschheit“, sondern dies wird erweitert um die Sprachen der „Morgenländer“.32 Auch wenn die Stellung Herders innerhalb der Theologie umstritten bleibt und eine direkte Auseinandersetzung mit seinen Werken meist unterblieb, so gilt er doch als ein Wegbereiter der historischen Bibelkritik im 19. Jahrhundert.33 Interessant für die alttestamentliche Wissenschaft werden die Ergebnisse Herders und insbesondere seine Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774) vor allem durch die Vermittlung Johann Gottfried Eichhorns, der einige zentrale Gedanken Herders aufnahm und weiter entwickelte. So formulierte Eichhorn in seiner Einleitung in das Alte Testament, dass es darum ginge, das Wissen über das Jugendalter der Welt zu erweitern. Dieses Wissen sei durch Kenntnis „des frühesten Griechenlands und der ungebildeten Nationen neuerer Zeiten erworben“34

                                                             29 Diese Tendenz setzt sich bis in die Rezensionen des Werkes fort. Bei Brevard S. Childs ist etwa die Rede von „the great scholars of the 18th century“. Siehe BREVARD S. CHILDS, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, in: JBL 89 (1, 1970), 96.98–99, hier: 96. 30 HENNING GRAF REVENTLOW, Epochen der Bibelauslegung. Band IV. Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001. 31 Siehe EBD., 191. 32 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Fragmente zu einer Archäologie des Morgenlandes, in: Ders., Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphahn, Berlin 1877–1913, Band 6, 1– 129, hier: 4. Vergleiche HENNING GRAF REVENTLOW, Epochen, 195. 33 Siehe HENNING GRAF REVENTLOW, Epochen, 199. 34 JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Einleitung in das Alte Testament, Band 3, Göttingen 41824, 174. Vergleiche HENNING GRAF REVENTLOW, Epochen, 213.

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Henning Graf Reventlow hebt die Bedeutung der „frisch erworbenen Bekanntschaft mit noch lebenden Naturvölkern“ als gleichwertige Urteilsquelle neben der klassischen Bildung ausdrücklich heraus.35 Ganz im Sinne Herders beziehe sich Eichhorn immer wieder auf die „Blüten des morgenländischen Geistes“ 36 , die er seinen Zeitgenossen vor Augen stellen möchte. Deutlich wird, dass Reventlow schon den engen Konnex zwischen außereuropäischen Ländern und deren Entdeckungen und wissenschaftliche Erschließung sowie der Konstruktion wissenschaftlich plausibler Befunde über das Alte Testament im Blick hat. Jedoch ist es wiederum vor allem die Aufklärung, die ihm als Erklärungsfolie dient, wenn er etwa mit Blick auf die Darstellung der Prophetengestalten festhält: „Die Ideale einer aufklärerischen Religiosität werden auf die alttestamentlichen Propheten projiziert.“37

Konstruktion und Projektionen werden von Reventlow eindeutig benannt und in ihre historischen Kontexte eingeordnet, die Frage nach spezifisch imperialistischen und kolonialistischen Machtstrukturen wird von Reventlow jedoch nicht aufgeworfen. Was von Rudolf Smend in einer Rezension als großes Plus der Studie von Reventlow gewürdigt wird38, nämlich der individualistische Zugang anhand einzelner Persönlichkeiten, lässt sich methodisch auch als eine Schwäche deuten, die Fragen nach Hegemonie und der Genealogie von Wissensdiskursen weniger in den Blick kommen lässt.39 Der grundsätzliche Ansatz der vorgestellten Werke kann denn auch als eine „textbook-history“ betrachtet werden, der es eher darum geht, den vorliegenden Wissensstand und Methodenkanon in seiner historischen Entwicklung darzustellen, als darüber hinaus kritische Fragen nach einzelnen Theoremen explizit zu machen und Neubewertungen vorzunehmen.40 Der Zugang über wichtige Einzelpersonen, wie er an den drei besprochenen Büchern dargestellt worden ist, hat seine Berechtigung und auch in meiner kritischen Rekonstruktion der Forschungsgeschichte des Alten Testaments werden die Namen der vorgestellten Wissenschaftler gehäuft auftauchen. Doch hat sich anhand dieses Zugangs auch gezeigt, dass darüber hinaus stärker nach übergreifenden

                                                             35 Siehe HENNING GRAF REVENTLOW, Epochen, 213. 36 JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Einleitung in das Alte Testament, Band 1, 16f. Vergleiche HENNING GRAF REVENTLOW, Epochen, 220. 37 HENNING GRAF REVENTLOW, Epochen, 223. 38 Siehe RUDOLF SMEND, Epochen der Bibelauslegung, in: ThLZ 127 (9,2002), 895–897. 39 Siehe hierzu auch noch einmal die grundsätzliche Kritik an dem Zugang über Einzelpersonen, Leben und Werk bei ULRICH H. J. KÖRTNER, Literatur zur theologischen Hermeneutik 2000–2014. Teil II, in: ThR 79 (2014), 5. Bibelhermeneutik, 442–469, hier: 443. 40 Vergleiche hierzu die von Daniel Weidner geäußerte Kritik an bisherigen forschungsgeschichtlichen Aufrissen der alttestamentlichen Wissenschaftsgeschichte bei DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 19.

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Ansätzen und methodischen Neuanfängen und somit nach Strukturen der Wissenslandschaft gefragt werden muss.

2.1.2 Stärker kulturwissenschaftlich geprägte Arbeiten: Zur Bedeutung der Aufklärung und Moderne Neben vorwiegend an Persönlichkeiten der Wissenschaftsgeschichte ausgerichteten Beiträgen, lassen sich auch Bücher finden, die stärker diskursanalytisch argumentieren. Der Schwerpunkt wird dabei vor allem auf soziale Verflechtungen und Institutionen, sowie Wahrnehmungsweisen und Interpretationsmuster der Wirklichkeit und wissenschaftliche Praktiken gelegt.41 Aus der Fülle der Literatur habe ich mich wiederum für einige wenige Werke entschieden, die ich beispielhaft besprechen werde um an ihnen erste Hinweise für meine eigene Fragestellung zu gewinnen. Für das Verständnis der Bibel als wichtiger Bestandteil der westlichen Kultur und der Umformungsprozesse, die im ausgehenden 18. Jahrhundert stattgefunden haben, ist das Buch The Enlightenment Bible (2005) von Jonathan Sheehan ein wichtiger Startpunkt. Darin bildet er die historische Genese der Bibel als „kulturelles Erbe“ ab und zeigt auf, wie sehr seit dem 19. Jahrhundert die moralische und intellektuelle Geschichte des Westens mit der Bibel verknüpft sei.42 Dabei streicht er die Bedeutung der Aufklärung heraus, in deren Folge die Autorität der Bibel neu formuliert und mit einer Wertung versehen worden sei, die sich bis zum heutigen Tage fortschreibe. ‚Die Aufklärung’ wird dabei von ihm als eine dreifache Neuerung verstanden und untersucht, nämlich in Form neuer Praktiken und Institutionen, neuer Kommunikationsmittel und neuer Möglichkeiten der Datenverarbeitung und -konservierung.43 Damit weitet Sheehan den Blick über die einseitige Sichtweise einer bibel- und kirchenfeindlichen Aufklärung hinaus und landet folgerichtig bei einer besonders intensiven Studie der Diskussion in England und Deutschland als den wichtigsten protestantischen Ländern und bei einem Schwerpunkt auf Übersetzungen.44 Dabei könne das Verhältnis zwischen England und Deutschland als ein auf Austausch beruhendes und produktives Miteinander förderndes dargestellt werden. Als Werkraum und Laboratorium dessen, was er mit ‚Enlightenment Bible’ bezeichnet, stellt Sheehan Deutschland dar, während 41 Vergleiche für diesen Wechsel innerhalb der Wissenschaftsgeschichte und die Abgrenzung verschiedener Paradigmen voneinander auch UTE DANIEL, Kompendium Kulturgeschichte, 372. 42 Siehe JONATHAN SHEEHAN, The Enlightenment Bible. Translation, Scholarship, Culture, Princeton / Oxford 2005, X. 43 Siehe EBD., xif. 44 Siehe EBD., xii. Vergleiche hierzu auch die Rezension CHRISTOPH BULTMANN, The Enlightenment Bible: Translation, Scholarship, Culture, in: Biblical Interpretation 16 (2008), 504–508, hier: 504.

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die Werkzeuge, die zur Konstruktion dieses Gebildes vonnöten waren, von den Engländern gestellt worden seien.45 Eine Arbeitsteilung, die jedoch nicht sehr lange Bestand gehabt habe, da bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts Deutschland zum Zentrum der wichtigsten Debatten geworden und von allen anderen protestantischen Ländern bereits um seine herausragende Bibelauslegung beneidet worden sei.46 Diese Beobachtung ist für den weiteren Verlauf der Geschichte, insbesondere aber auch für die These der vorliegenden Arbeit von einiger Bedeutung und soll später noch einmal ausführlich beleuchtet werden. Als besonders wichtige geistige Strömung charakterisiert Sheehan den Pietismus. Nicht die Frontstellung zwischen Kirchenkritikern und religiöser Orthodoxie, wie im zeitgenössischen England, sondern der religiöse Streit um die richtige Bibel und die Verbindung von erneuerter Wissenschaftlichkeit und religiösem Eifer hätten den Boden für die ‚Enlightenment Bible’ bereitet.47 Diese These wird illustriert an der Biblia Pentapla (1710) und der Berleburger Bibel (1726-1742). Beide Werke verbinde der Gedanke, der auch August Hermann Francke umgetrieben habe, nämlich die wissenschaftliche Diskussion um die Bibel und deren Ergebnisse einem möglichst breiten, auch theologisch ungebildeten Publikum zugänglich zu machen.48 Dabei habe das Gewicht auf einer enzyklopädischen Umschau gelegen, einer philologischen Exaktheit und dem theologischen Gedanken, dass der Heilige Geist durch den ‚echten Text’ wirke und sich diese Wirkung auch beim Leser einstellen könne. Sheehan stellt als Grundparadigma pietistischer Bibelübersetzungen heraus: Eine gelungene Übersetzung sei daran zu erkennen, dass der geschriebene Text sich selbst transzendiere und Raum geschaffen werde für das Wirken des Heiligen Geistes.49 Der religiöse Eifer des Pietismus habe die Bibel der Hegemonie der Theologie entrissen und paradoxerweise das Entstehen eines kleinen Universums an möglichen Bibelübersetzungen mitvorbereitet, so Sheehan.50 Diese Grundthese wird von Sheehan im Folgenden dann an Philologie, Pädagogik, Geschichte und weiteren Kategorien exemplarisch aufgezeigt. Für die Philologie zeigt er, wie bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts die englischsprachige und niederländische Forschung führend war, dann aber deutschsprachige Bibelwissenschaftler einen Vorrang erlangt haben. Ihr Ziel sei dabei nicht gewesen, die Lutherbibel zu ersetzen, sondern stattdessen eine Vielzahl an möglichen Übersetzungen vorzulegen, die sie denn auch stets bescheiden als ‚Probe’ oder ‚Versuch’ charakterisiert hätten.51 So unterschiedliche Figu-

                                                             45 46 47 48 49 50 51

Siehe JONATHAN SHEEHAN, Bible, xiii. Siehe EBD., 30. Siehe EBD., 57. Siehe EBD., 61. Siehe EBD., 84. Siehe EBD., 85. Siehe EBD., 112ff.

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ren wie der Graf Zinzendorf und Johann Albrecht Bengel einte dieser Gedanke, nicht die eine Bibel zu schaffen, sondern variae lectionae anzubieten – mit Sheehan ein entscheidender Weg auf dem Schritt zur ‚Enlightenment Bible’.52 Den Abschluss dieses rasanten Wegs zu einer deutschen Dominanz bei philologischen Fragen sieht Sheehan dann bei Johann Gottfried Eichhorn am Ende des 18. Jahrhunderts gegeben. Jonathan Sheehan weist mit dieser exemplarischen Untersuchung auf neue Praktiken und Institutionen, neue Kommunikationsmittel, sowie die besondere Rolle der Philologie und der Bedeutung der Geschichtswissenschaften hin. Es lässt sich jedoch bei der Behandlung Johann Albrecht Bengels und seiner Erforschung des Neuen Testaments feststellen, dass Sheehan den eingangs formulierten Anspruch R.S. Sugirtharajahs, nach Auswirkungen des Imperialismus zu suchen, außen vor lässt. Auch der Anspruch einer globalen Christentumsgeschichte findet sich nicht in dessen Darstellung. Der deutsche Diskurs wird, wenn überhaupt, in den Zusammenhang der europäischen Diskussion gestellt und der Zugang ist vor allem ideengeschichtlich angelegt. So hat beispielsweise Sugirtharajah in seinem Aufsatz „Eine postkoloniale Untersuchung von Kollusion und Konstruktion in biblischer Interpretation“ (2013) das ‚Missionsmuster’ der Apostelgeschichte untersucht und darauf hingewiesen, dass die Idee mehrerer Missionsreisen mit einem Hauptquartier in Jerusalem zum ersten Mal in Bengels Gnomon Novi Testamenti (1742) auftaucht, einem Text, dem sich auch Sheehan intensiv gewidmet hat.53 Just zu dem Zeitpunkt, als in Europa neue Ideen der Mission reiften, die von einem gedachten Zentrum aus in die gesamte Welt gebracht werden sollten, wurde ein solches Modell der Mission auch im Neuen Testament ‚entdeckt’. Der Beitrag, den der deutschsprachige Pietismus auch zur Propagierung von Mission geleistet hat, kommt bei Sheehan jedoch nicht in den Blick.54 Aus der Beschäftigung mit Sheehans Beitrag wird ersichtlich, dass das Wechselspiel von Mission und alttestamentlicher Forschungsgeschichte ein weiterer wichtiger Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein sollte. Der kritische Fokus verschiedener Rezensionen des Buches lenkt den Blick auf einige methodische Fragen, die zudem mitbedacht werden sollten: So weist Christoph Bultmann auf das Problem der „funkelnden Rhetorik, die auf einem nachlässigen Lesen der Quellen gründet“55 hin, das er bei Sheehan

                                                             52 Siehe EBD., 112. 53 Siehe R.S. SUGIRTHARAJAH, Eine postkoloniale Untersuchung von Kollusion und Konstruktion in biblischer Interpretation, in: Andreas Nehring / Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013, 123–144, hier: 132f. 54 Auf die Unterbestimmung des Phänomens des Pietismus weist auch Henning Graf Reventlow in seiner Rezension hin: HENNING GRAF REVENTLOW, The Enlightenment Bible: Translation, Scholarship, Culture, in: ThLZ 132 (2007,1), 31–33, hier: 31. 55 “sparkling rhetoric based on a careless reading of the sources“: Siehe CHRISTOPH BULTMANN, The Enlightenment Bible, 506f.

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vorzufinden meint. Daraus ist als Desiderat eine umfangreiche und sorgfältige Textarbeit abzuleiten, die in der vorliegenden Arbeit ein weiterer Schwerpunkt sein sollte. Die Schwäche einer „methodische[n] Ausklammerung der geistesgeschichtlich-ideologischen Hintergründe“56, die Reventlow konstatiert, verweist darauf, dass auch bei einer Arbeit, die mit einem großen Fragebündel an unterschiedlichen Herangehensweisen operiert, eine konsequente Verflechtung von Texten und Kontexten nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann. Neben einer konsequenten und sorgfältigen Textarbeit nehme ich mir also des Weiteren vor, die angesprochenen Einzelkontexte auch entsprechend zu würdigen. Zudem zeigt sich an der Diskussion dieses Buches, dass ein spezifisches Verständnis des deutschen Orientalismus und der Wechselbeziehungen von biblischer Interpretation, Erforschung des Orients und kulturellem Nationalbewusstsein der wissenschaftlichen Analyse bedarf. Eine weitere Zusammenstellung der wichtigsten Stationen historisch-kritischer Wissenschaft stellt das Buch What Have They Done to the Bible? A History of Modern Biblical Interpretation (2005) von John Sandys-Wunsch dar. Der Autor versucht darin vor allem, den kulturellen Wandel nachzuzeichnen, den die Interpretation der Bibel in der modernen westlichen Welt vollzogen hat.57 Zu Beginn seines Buches, das sich einer Sprache verpflichtet weiß, die auch von nicht-akademischen Leser*innen verstanden werden will, macht er einige bedenkenswerte Vorannahmen. So will er einen starken Akzent auf den Kontext der biblischen Interpretation legen und nennt dafür einige Kriterien, die in die Darstellung der Ideengeschichte einzufließen hätten: Die Gesellschaftsstruktur der zu untersuchenden Zeit und Trägergruppe, die Institutionengeschichte und vorhandenen Kommunikationsmittel, das intellektuelle und religiöse Leben, die wissenschaftliche Untersuchung der Bibel sowie der Einfluss anderer Bereiche der Wissenschaft.58 Dem Problem der sozialen Konstruktion vermeintlich objektiver wissenschaftlicher Fakten nähert er sich leichtfüßig und versucht, dieses Anliegen mit einem Zitat aus Alexander Popes Essay on Man (1734) zu entkräften.59 Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da gerade dieser Essay für ein bestimmtes, kontextualisierbares anthropologisches Verständnis steht, welches als Paradebeispiel für die Konstruktion anthropologischer Aussagen im 18. Jahrhundert und der philosophischen Aufklärung angesehen werden kann: So geht Pope von einem wenig dynamischen sozialen System aus und sieht im Absolutismus die gottgewollte und menschengemäße Regierungsform.60

                                                             56 HENNING GRAF REVENTLOW, The Enlightenment Bible, 33. 57 Siehe JOHN SANDYS-WUNSCH, What Have They Done to the Bible? A History of Modern Biblical Interpretation, Collegeville 2005, ix. 58 Siehe EBD., xi. 59 Siehe EBD., xii. 60 Vergleiche URS BITTERLI, Die ‚Wilden’ und die ‚Zivilisierten’. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1976, 339.

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Als einen wichtigen Wendepunkt innerhalb der Geschichte der biblischen Interpretation identifiziert Sandys-Wunsch die Betonung der Geschichtlichkeit61, die er an Werken wie Moses mit aufgedecktem Angesicht (1740) von Johann Christoph Edelmann oder Gottlieb Stölles Anleitung zur Historie der Theologischen Gelahrtheit (1739) festmacht.62 Die Begegnung mit anderen religiösen Traditionen und deren Texten und Wahrheitsansprüchen wird als ein weiteres wichtiges Vehikel genannt, das die Forschung vorantreiben und diversifizieren sollte. Während Samuel Bochart in seiner Geographia sacra seu Phaleg e Chanaan (1646) in der Mythologie heidnischer Völker noch einen Abglanz der biblischen Geschichten entdecken wollte, so habe Anthony van Dale in seinem De oraculis veterum ethnicorum (1683) bereits konzedieren müssen, dass sich diese Darstellungen autochthonen Quellen zu verdanken hätten.63 Für das 18. Jahrhundert bemerkt Sandys-Wunsch, dass sich das Gravitationszentrum der theologischen Diskussion langsam nach Deutschland verlagere.64 Als Grund hierfür nennt er das Universitätswesen und zieht einen amüsanten Vergleich zwischen der Universität in Oxford und derjenigen in Halle anhand der Studienhandbücher für Theologie, die in England eine höchstens zweistellige Zahl an Seiten, in Deutschland jedoch nicht unter 1000 Seiten umfasst hätten.65 Die Aussagekraft dieses Vergleiches darf jedoch angezweifelt werden und wie Thomas Albert Howard in einer Studie nachgewiesen hat, so gilt diese Hochschätzung des deutschen Universitätswesens erst für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts.66 Für diese Zeit werden Johann Salomo Semler und Johann David Michaelis als herausragende Gestalten genannt. Der bleibende Einfluss Michaelis´ wird dabei mit drei Punkten ausgeführt, nämlich zuvorderst dem Verständnis des Mosaischen Gesetzes als zu seiner Zeit vernünftig, aber der heutigen nicht mehr angemessen. Zweitens wird seine Zusammenfassung der Argumente verschiedener Wissenschaftler im Sinne einer ‚Einleitung in das Alte Testament’ gewürdigt; und schließlich auf die Exkursion ins glückliche Arabien abgehoben.67 Als erster moderner biblischer Wissenschaftler wird schließlich jedoch Johann Gottfried Eichhorn gewürdigt, der kein dogmatisches, sondern vorrangig ein historisches Interesse an den Texten gehabt habe.68                                                              61 Dies ist auch für Adam Stewart in seiner Rezension die zentrale These des Autors. Siehe ADAM STEWART, What Have They Done to the Bible? A History of Modern Biblical Interpretation, in: Studies in Religion/Sciences Religieuses 38 (1,2009), 196– 197, hier: 196. 62 Siehe JOHN SANDYS-WUNSCH, Bible, 127f. 63 Siehe EBD., 130. 64 Siehe EBD., 172. 65 Siehe EBD., 173f. 66 Siehe THOMAS ALBERT HOWARD, Protestant Theology and the Making of the Modern German University, Oxford 2005. 67 Siehe EBD., 236f. 68 Siehe EBD., 247.

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Für das 19. Jahrhundert nennt Sandys-Wunsch den Nationalismus, die Säkularisierung, die Ausbreitung der Wissenschaften sowie den sozialen Wandel als bedeutende externe Faktoren. Im Hinblick auf die Erforschung des Nahen Ostens spannt er den Bogen von Napoleons Eroberung Ägyptens mitsamt des Rosetta-Steins bis zur deutschen Bibel-Babel-Debatte um 1900, um die zentrale Bedeutung der außerbiblischen Quellen aufzuzeigen.69 In diesem Kapitel findet sich dann auch ein Hinweis auf die Bedeutung der Religionsgeschichte und die Hinwendung sowohl zu Hochkulturen, als auch zu ‚primitiven Kulturen’.70 Als wichtige Namen nennt Sandys-Wunsch Christoph Meiners, der einen Grundriss der Geschichte aller Religionen (1785) lieferte und Gottlieb Philipp Christian Kaiser, der in Die Biblische Theologie (1813) den Versuch einer Einordnung der christlichen und jüdischen Religion in eine Universalgeschichte der Religionen unternahm.71 Damit weist Sandys-Wunsch auf wichtige Quellentexte und Institutionen, sowie die überragende Bedeutung des Historismus als Kontext für die Neugestaltung der alttestamentlichen Wissenschaft hin. Allerdings scheint die Fragestellung inwieweit die alttestamentlichen Wissenschaftler diese Diskurse nicht nur aufnahmen, sondern auch mitprägten, deutlich unterentwickelt und sollte als eine wichtige Leitfrage mit aufgenommen werden.

2.1.3 State of the Art: Magne Sæbøs Hebrew Bible / Old Testament Die bisher vorgestellten Bücher waren vor allem Lehrwerke für Studierende oder Einführungen für interessierte Laien. Der Verständigungsprozess innerhalb der scientific community wird in einem anderen umfangreichen Werk abgebildet, das abschließend ebenfalls kommentiert werden soll. Das wichtigste Referenzwerk für die Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments stellt im internationalen Zusammenhang der von Magne Sæbø herausgegebene Sammelband Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation (1996–2013) dar. Von besonderem Interesse für die vorliegende Untersuchung sind dabei vor allem der zweite Band, der sich mit dem Zeitraum von der Renaissance bis zur Aufklärung beschäftigt72 und der erste Teil des dritten Bandes, der das 19. Jahrhundert beleuchtet.73 Die Aufklärung als Zielpunkt des

                                                             69 70 71 72

Siehe EBD., 292ff. Siehe EBD., 295f. Siehe EBD., 296. Siehe MAGNE SÆBØ (HG.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation, Bd. 2. From the Renaissance to Enlightenment, Göttingen 2008. 73 Siehe MAGNE SÆBØ (HG.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation, Bd. 3/1, From Modernism to Postmodernism, Göttingen 2013.

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zweiten Bandes und Ausgangspunkt des dritten Bandes wird dabei nicht eindeutig definiert, sondern es wird vielmehr versucht sie in ihrer Komplexität nicht einfach auf ein einheitliches Phänomen herunter zu brechen.74 Stattdessen soll Aufklärung als ein mehrdimensionales Unterfangen verstanden werden, das sich jedoch vor allem durch seinen Bezug auf die Vergangenheit, hier vor allem den Humanismus und seinen Individualismus auszeichne.75 Interessanterweise ist es wiederum ein deutscher Denker, der herangezogen wird, um einen wesensmäßigen Zug der Aufklärung in seiner Bedeutung für die Bibelwissenschaft zu illustrieren. Die Rede ist von Johann Gottfried Herder, der als Brücke zur Romantik und Kronzeuge einer Aufnahme humanistischer Ideale in Philologie und Ästhetik fungiert.76 Mit ihm kommt die Frage nach der natürlichen Religion, die bereits von Blaise Pascal literarisch ansprechend formuliert worden war: „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs/ nicht jener, der Philosophen und Wissenschaftler“77 – und damit ein Kernproblem der Aufklärung, pointiert aufs Tableau. Als Subjekte der Etablierung der historisch-kritischen Methode und Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Arten der Kritik werden wieder Johann Philipp Gabler und Johann Gottfried Eichhorn genannt.78 In seinem Überblicksartikel zu kontinentalen Bibelwissenschaftlern nennt John Sandys-Wunsch Campegius Vitringa (1659–1722), Johann August Ernesti (1707–1781) und Johann David Michaelis (1717–1791) als zentrale Gestalten, an denen sich aufzeigen lasse, wie die neuen Ideen der Aufklärung an Wissenschaftlern wirkten, die sich zwar selbst als orthodox bezeichneten, jedoch dies nicht mit einem Gebot des Verzichts auf wissenschaftliche Neugier verbanden.79 Von größtem Interesse ist dabei Johann David Michaelis, der es sich nicht nehmen ließ, stets ein Augenmerk auf den Geschmack des Publikums zu haben und sich daher selbst als ein ‚Professor von der Weltweisheit’ bezeichnete.80 Von daher verwundert es auch nicht weiter, dass sein Werk von Herbert Marsh ins Englische übersetzt eine starke Ausstrahlung hatte.81 Dass sich die weitere Auseinandersetzung mit Michaelis lohnt, erhellt auch die abschließende Bemerkung von John Sandys-Wunsch: „Insgesamt war Michaelis eine maßgebliche Figur für die Entwicklung der biblischen Exegese im 18. Jahrhundert. Bedeutend sowohl wegen seines Bewusstseins

                                                             74 Siehe MAGNE SÆBØ, From the Renaissance to the Enlightenment – Aspects of the Cultural and Ideological Framework of Scriptural Interpretation, a.a.O., 21–45, hier: 39. 75 Siehe EBD., 39. 76 Siehe EBD., 43. 77 „Dieu d’Abraham, Dieu d’Isaac, Dieu de Jacob / non des philosophes et savants“ Vergleiche MAGNE SÆBØ, From the Renaissance to the Enlightenment, 43. 78 Siehe EBD., 44. 79 Siehe JOHN SANDYS-WUNSCH, Early Old Testament Critics on the Continent, a.a.O., 971–984, hier: 971. 80 Siehe EBD., 972. 81 Siehe EBD., 984.

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Forschungsüberblick für das allgemeine Publikum jenseits der akademischen Schranken als auch seiner seriösen exegetischen Arbeit. Seine erstaunliche Energie und sein umfassendes Interesse trugen dazu bei dem zeitgenössischen gebildeten Publikum die Entwicklungen innerhalb der biblischen Exegese und der Religionswissenschaft zu vermitteln.“82

Weitere Hinweise, die von einigem Interesse für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit sind, lassen sich dem Beitrag über die Entwicklung des Kanons entnehmen, in dem Johann Salomo Semler eine besonders prominente Rolle einnimmt.83 Semler erscheint dabei nicht nur als ein Wissenschaftler, der in einem Zeitalter rascher Internationalisierung lebte, sondern er wird auch als der Autor mehrerer Beiträge zur Algemeine[n] Welthistorie (1747–1766) dargestellt.84 Neben die bereits häufiger erwähnten Michaelis und Eichhorn sind also auch der Name Semlers, sowie seine Arbeiten an dem Projekt der Welthistorie zu stellen. Der wichtigste Beitrag in diesem voluminösen Sammelband für unseren Diskussionszusammenhang stammt jedoch aus der Feder von Henning Graf Reventlow und beleuchtet den Übergang vom Verständnis der Bibel als Heiliger Schrift hin zu einer Sichtweise, die stattdessen von literarischen Dokumenten und Zeugnissen von der Religion des antiken Israels spreche.85 Dabei beleuchtet er zuerst die Französische Revolution als ein wichtiges ideelles und real-politisches Ereignis, das die Geisteskraft und deren Imaginationen, die Geistesgeschichte und auch den Fortgang der Wissenschaften nachhaltig beeinflusst habe, obgleich eine Ambiguität dieser Auswirkungen nicht zu leugnen sei.86 Als weiteres gewichtiges Ereignis wertet Reventlow die philosophische Auseinandersetzung Kants mit der Bibel, die dieser in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) und Der Streit der Fakultäten (1798) entwickelte und die ihn zu einer Höherbewertung der moralischen und allegorischen Deutung gegenüber dem Schriftsinn bewegt habe.87 Dabei ziehe Immanuel Kant ausdrücklich zur Stützung dieser Argumentation nicht nur einschlägige Bibelstellen, wie etwa 2 Tim 3,16, sondern auch das Wissen über

                                                             82

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„All in all Michaelis was a major figure in the development of biblical exegesis in the eighteenth century, important as much for his awareness of a general public beyond the confines of the academy as for his serious exegetical work. In his own time his prodigious energy and wide interests helped to make the educated public aware of developments within biblical exegesis and the study of religion.“ Siehe: JOHN SANDYSWUNSCH, Early Old Testament Critics on the Continent, 984. Siehe JOHN H. HAYES, Historical Criticism of the Old Textament Canon, a.a.O., 985– 1005. Siehe EBD., 999f. Siehe HENNING GRAF REVENTLOW, Towards the End of the ‚Century of Enlightenment’:Established Shift from Sacra Scriptura to Literary Documents and Religion of the People of Israel, a.a.O., 1024–1063. Siehe EBD., 1034. Siehe EBD., 1037.

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andere Religionen der Welt und deren Schriftauslegung heran.88 Einer seiner wortgewaltigsten Kritiker war der Alttestamentler Johann Gottfried Eichhorn, der Kants Ansinnen entschieden zurückwies und damit auch Anteil daran hatte, dass Kants Ideen keinen weiteren Einfluss auf die historisch-kritische Exegese nahmen.89 Ganz anders verhielt es sich mit den Ideen Johann Gottfried Herders, der vor allem über die Sprache einen Zugang zum Alten Testament fand und dabei in Wiederaufnahme einer alten These der Kirchenväter das Hebräische als Ursprungssprache der Menschheit ansah.90 Auf die Spur dieser alten Texte könne man nur über einen Zugang über die Einfachheit und Unverfälschtheit der Morgenländer, um die Herder die Ursprungsthese erweitert hatte, gelangen. In Rückgriff auf den Aufklärungsgedanken einer Erziehung des Menschengeschlechts sehe Herder in der urwüchsigen Poesie der Genesis die Erziehung Gottes im Kindheitsalter der Menschheit am Werke.91 Diese These verknüpfe er nicht nur mit sprachlichen Beobachtungen und philologischen Schlüssen, sondern entwickle in seiner Aelteste[n] Urkunde des Menschengeschlechts (1774) zudem eine essentialistische Unterscheidung zwischen der Weltauffassung des Morgenländers und einem westlichen Zugang. Die Vorliebe Herders für den Ursprung, den er denn auch als „Goldenes Zeitalter der Menschheit“ charakterisiere, untersucht Reventlow jedoch nicht unter dem Vorzeichen eines aufzuzeigenden ‚Orientalismus’ oder mit postkolonialen Fragestellungen, sondern widmet sich vielmehr der Frage, ob Herder der ‚Vater des Historismus’ gewesen sei.92 Leopold von Ranke und ein Zitat aus seiner Idee der Universalhistorie (1831) stehen nicht umsonst ganz am Anfang des ersten Teils des dritten Bandes des Werks von Magne Sæbø. Denn dieses widmet sich mit dem 19. Jahrhundert einem Zeitalter, das vor allem vom Historismus und einem neuen Verständnis von Geschichte geprägt worden sei.93 An diesen Aufsätzen lässt sich meine These noch einmal stark machen, dass zwar die einzelnen Elemente, die für die umfassenden Paradigmenwechsel um 1800 benannt werden, stets auch die Entdeckung neuer Völker, Austausch und wissenschaftliche Reflexion über diese Kontaktzone beinhalten, dass jedoch eine tiefergehende theoretische Durchdringung dieses Sachverhalts noch aussteht. Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass entsprechende Überlegungen innerhalb der Religionswissenschaften erst in den letzten Jahr-

                                                             88 Siehe EBD., 1037. 89 Und das obwohl der Herausgeber der Urgeschichte Eichhorns Johann Gottfried Gabler sich durchaus anerkennend über Kant und sein Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) geäußert hatte. Siehe HENNING GRAF REVENTLOW, End, 1039. 90 Siehe EBD., 1044. 91 Siebe EBD., 1046. 92 Siehe EBD., 1049f. 93 Siehe MAGNE SÆBØ, Fascination with ‚History’ – Biblical Interpretation in a Century of Modernism and Historicism, a.a.O., 17–28, hier: 21.

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zehnten angestellt worden sind. Die Wende zu postkolonialen Fragestellungen, die sich hier jedoch beobachten lässt, ermöglicht es, einen neuen Blick auf das Material der alttestamentlichen Forschungsgeschichte zu werfen. Im Folgenden möchte ich nun einige der neueren Arbeiten innerhalb der Religionswissenschaft vorstellen, um an ihnen exemplarisch diesen Perspektivwechsel aufzuzeigen.

2.2

Orientalismus und Postkolonialismus – Religionswissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Zugänge

Kwok Pui-Lan hat in ihrer Rede zur Eröffnung der Jahrestagung der American Academy of Religion 2011 darauf hingewiesen, dass ab den 1990er Jahren eine selbst-reflexive Forschungsrichtung innerhalb der Religionswissenschaft grundlegende Konzepte des Faches in Frage gestellt habe.94 Zudem habe die intensive Auseinandersetzung mit Edward Said und seinem Kultur und Imperialismus (1994) zu einer postkolonialen Untersuchung der Darstellung nichtchristlicher religiöser Traditionen geführt. Als ein drittes Feld, das sich in den zurückliegenden Jahren als produktiv im Hinblick auf neue Forschungsfragen erwiesen habe, bezeichnet sie den Bereich der Intersektionalität.95 Richard King spricht sogar von einer kopernikanischen Wende innerhalb der wissenschaftlichen Untersuchung von Religion, die sich in der Verlagerung von einer Beschäftigung mit einem wie auch immer zu definierenden Objekt ‚Religion’ hin zu der Untersuchung der Diskurse, die dieses Objekt überhaupt erst konstruieren, festmachen lasse.96 Diese drei Elemente eines wissenschaftlichen Paradigmenwechsels sollen kurz an einflussreichen Monographien aufgezeigt werden.

2.2.1 Orientalismus und Religion: Religionsproduktive Diskurse der entstehenden Religionswissenschaft Eine zentrale These Edward Saids in Orientalism (1978) betrifft die konstruktive und produktive Kraft westlicher literarischer und wissenschaftlicher Beschreibungen. Westliche Religionswissenschaft als religionsproduktiv zu                                                              94 Siehe KWOK PUI-LAN, 2011 Presidential Adress: Empire and the Study of Religion, in: Journal of the American Academy of Religion 80 (2,2012), 285–303, hier: 286. 95 Siehe EBD., 286. 96 Siehe RICHARD KING, The Copernican Turn in the Study of Religion, in: Method and Theory in the Study of Religion 25 (2013) 137–159.

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erforschen und zu beschreiben, hat sich seitdem zu einem eigenständigen Forschungsfeld entwickelt.97 In seiner breit angelegten Studie Orientalism and Religion (1999) beleuchtet Richard King die Genealogie des Begriffs des „Mystischen“ in der europäischen Religionsgeschichte und der Konstruktion des „mystischen religiösen Ostens“.98 Typisch für ein Wissenschaftsverständnis, das sich auf die Aufklärung beruft, sind für ihn unter anderem die Unterscheidung von mündlichen und schriftlichen Quellen, die sich in einer Privilegierung schriftlicher Aufzeichnungen Bahn bricht, das wissenschaftliche Selbstverständnis eines bewussten Bruchs mit einer als unwissenschaftlich empfundenen Epoche sowie die willkürliche Ausrufung von „Weltreligionen“.99 Er zeigt auf, wie diese impliziten Mechanismen entscheidend bei der Strukturierung eines Verständnisses von Hinduismus mitgewirkt haben, sodass es nicht falsch scheint, von einer „Erfindung des Hinduismus“ zu sprechen.100 Noch einen Schritt weiter geht Urs App in seinem The Birth of Orientalism (2010), der nicht nur auf das ausgehende 18. und 19. Jahrhundert als formative Phase für das Entstehen des ‚Hinduismus’ blickt, sondern sogar einen genauen Zeitpunkt nennt. Als eine Religion im Sinne des populären Gebrauchs des Wortes sei der Hinduismus 1766 erfunden worden: „Sein Erfinder, meiner Meinung nach, ist John Zephania Holwell als er im Jahr 1776 die zweite Auflage seines Buches schrieb. Dies war in der Tat ein kreativer Akt und nicht nur eine Entdeckung von etwas, das allen klar vor Augen stand. In diesem Sinne – und für Holwell – ist es deshalb angemessen von der ‚Geburt’ oder ‚Erfindung’ des Hinduismus zu sprechen. Es war nur eine weitaus kreativere Geburt, als sich selbst Konstruktivisten hätten vorstellen können.“ 101

Anhand des wenig erforschten und in den Diskurs mit einbezogenen Textes von John Holwell zeigt Urs App, wie dieser mit seinem Shasta einen Text                                                              97 Siehe zu den Thesen Saids und dem Forschungsdiskurs auch ISOLDE KURZ, Vom Umgang mit dem Anderen. Die Orientalismusdebatte zwischen Alteritätsdiskurs und interkultureller Kommunikation, Würzburg 2000; FELIX WIEDEMANN, Orientalismus, Version: 1.0. 98 Siehe RICHARD KING, Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and ‚The Mystic East’, New York 1999. 99 Darin folgen ihm in eigenständigen Monographien DANIEL DUBUISSON, The Western Construction of Religion. Myths, Knowledge and Ideology, Baltimore 2003; TOMOKO MASUZAWA, The Invention of World Religions. 100 Eine These, die in der Religionswissenschaft breit aufgegriffen worden ist. Vergleiche dazu BRIAN K. PENNINGTON, Was Hinduism Invented? Britons, Indians, and the Colonial Construction of Religion, Oxford 2005; WILL SWEETMAN, Mapping Hinduism: ‚Hinduism’ and the Study of Indian Religions, 1600–1776, Halle 2003. 101 „It’s inventor, I propose, is Mr. John Zephania Holwell, and the year of this invention is 1766, when Holwell wrote his second volume. This was indeed a creative act and not just a discovery of something that was there for all to see and understand. In this sense – and for Holwell – it is therefore appropriate to speak of a ‚creation’ or ‚invention’ of Hinduism. It was only a far more creative creation than even constructivists could have dreamed.“ Siehe: URS APP, The Birth of Orientalism, 360.

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etablierte, der alle Erfordernisse an die Religion der Hindus zu erfüllen schien. Der Shasta galt als extrem alt (3100 v. C.) und mit ihm ließ sich eine lange, gültige Chronologie etablieren sowie Fragen der Kultpraxis Indiens, der Unterschiede zwischen Nord und Süd und anthropologische Grundfragen bestens beantworten.102 Hier ist nicht der Ort, um in die Abhängigkeiten und kreativen Erfindungen Holwells en détail einzusteigen, doch ist es lohnend ihn zu erwähnen, da sein Hinduismus genuin europäisch war, wie App überzeugend aufzeigt.103 Der Hinduismus als eine alte und traditionsreiche Religion, wie er von Holwell propagiert wurde, diente nicht dem Interesse an dieser fremden Religion an sich, sondern war mit einem spezifischen europäischen Reformanliegen verbunden. Die Übersetzungen des Shasta ins Französische durch Voltaire (1768) und später ins Deutsche (1778) hatten einen regen Anteil an der Entstehung einer Hinwendung zu Indien, insbesondere der deutschen Romantiker.104In zahlreichen detaillierten Einzelstudien zeigt App die Verknüpfung von (christlichen) religiösen Vorstellungen und orientalistischer Forschung auf. Selbst wenn christliche Religiosität vor allem als Feindbild auftauchte wie bei Voltaire (1694–1778), dessen Name vor allem mit dem wachsenden Einfluss Indiens auf Europa verbunden ist, so spielte diese jedoch eine wichtige Rolle als Folie der Abgrenzung.105 Scharf wehrt sich App gegen die Vorstellung, dass der Orientalismus ein mit dem 19. Jahrhundert gestartetes Projekt sei und plädiert stattdessen dafür, die langen Entwicklungslinien durch die Jahrhunderte hindurch genau wahrzunehmen. Seine zentrale These ist jedoch, dass es die europäische Entdeckung der asiatischen Religionen sei, die einen Wechsel innerhalb des Orientalismus bewirkt habe und schließlich zur Emanzipation von den biblischen Fächern und der Geburt des modernen Orientalismus geführt habe.106 Dabei geht er jedoch von einem weiteren Paradigmenwechsel gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus. Für die vorliegende Studie ist diese Beobachtung von einigem Interesse: Damit bestätigt sich eine bereits ausgesprochene Vermutung, dass der Startpunkt bereits im 18. Jahrhundert zu suchen ist und die vermuteten Paradigmenwechsel, die schließlich in den modernen Orientalismus münden, auch innerhalb der biblischen Wissenschaften aufzusuchen und genauestens zu kartographieren sein werden. Eine weitere Gemeinsamkeit der in Apps Buch beschriebenen an der Erfindung und Entwicklung des Orientalismus beteiligten Personen ist die Suche nach und das Interesse an Ursprüngen. Außerdem nimmt App für sich das Privileg in Anspruch, teilweise zum ersten Mal über eine zu wenig beachteten religiösen Kontaktzone zu berichten. Dabei zeigt er an scheinbar nebensächlichen Details und eher unbekannten Personen die Ge-

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Siehe EBD., 361. Siehe EBD., 362. Siehe EBD., 362. Siehe EBD., xii. Siehe EBD., xiii.

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schichte wirkmächtiger und bis heute nachwirkender Gedanken und forschungsgeschichtlicher Positionen auf. Die Idee, dass Buddhismus und Brahmanismus zwei Sekten einer einzigen Religion seien, verfolgt er zu den Tagebuchnotizen eines jesuitischen Missionars in China zurück, was ihn zu der Aussage bringt: „Folglich fand eine Idee eines obskuren Missionars in der chinesischen Provinz ihren Weg in Bayles Dictionnaire historique et critique und erreichte damit ein enormes Publikum in ganz Europa. “107

Nicht nur das sachliche Detail dieser Forschungsarbeit ist von weitreichender Konsequenz für die hier verhandelten Themen, sondern auch die dahinterliegende Pointe, dass nämlich zahlreiche Forschungspositionen, die in den Rang enzyklopädischen Wissens ihrer Zeit erhoben unantastbar scheinen, sich bei genauerem Hinsehen dubiosen Quellen und fragwürdiger Machtpositionen verdanken. Darüber hinaus spricht App im Hinblick auf das 18. Jahrhundert von einem Zeitalter der Erosion althergebrachter Gewissheiten und betont in diesem Prozess die Rolle der asiatischen Religionen: „Sicherlich war die Entdeckung der asiatischen Religionen bei Weitem nicht der einzige Faktor in diesem Erosionsprozess. Aber der Einfluss dieser Entdeckung auf die Weltsicht der Meinungsführer des 18. Jahrhunderts wie Pierre Bayle, Giambattista Vico, David Hume, Voltaire, Dennis Diderot, Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder ist gut dokumentiert. Nichtsdestotrotz bleibt er wenig erforscht.“108

Aus der Diskrepanz der gut dokumentierten Austauschprozesse und dem bis dato geringen Studieninteresse an diesen Phänomenen formuliert App seinen eigenen Arbeitsauftrag. Dies geschieht im Rahmen von acht Einzelporträts und Fallstudien, die einen langen geschichtlichen Zeitraum abdecken und jeweils Objekt der europäischen Suche, religiöses Material in seinem Kontext und Wirkungsgeschichte des ‚Fundes’ dokumentieren und teilweise gängige Vorannahmen dekonstruieren. Diese Studie verstehe ich als methodischen Fingerzeig, wie ich mit meinem eigenen Material umgehen kann und wie sich Materialien aus den von App geschilderten Kontaktzonen und die Auswirkungen des Orientalismus auf Europa entsprechend aufbereiten lassen. Um noch einmal zu einem Beispiel Apps zurückzukommen: Bei der Rezeption des Shasta durch Herder und dessen Bewunderung der Brahmanen als Traditionsträger des Ursprungs bricht Urs App seine Darstellung ab. Meine

                                                             107 „Thus, an idea uttered by an obscure missionary in the Chinese boondocks found its way into Bayle’s dictionary and reached an enormous public all over Europe.” Siehe: URS APP, The Birth of Orientalism, xvi. 108 „Of course, the discovery of Asian religions was far from the only factor in this process of erosion. But the influence of this discovery on the view of eighteenth-century opinion leaders and innovators such as Pierre Bayle, Giambattista Vico, David Hume, Voltaire, Denis Diderot, Immanuel Kant, and Johann Gottfried Herder is well documented. Nevertheless it remains little studied.“ Siehe: URS APP, The Birth of Orientalism, 4.

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Arbeit soll an die Forschungen Apps anschließen und diesen Rezeptionsvorgang im deutschsprachigen Kontext und die Übertragung auf die Konstruktionsarbeit am Alten Testament umfänglich untersuchen. Mit ähnlichen historischen Größen und Diskursen, jedoch im Hinblick auf eine ganz andere Religion, argumentiert Leora Batnitzky in How Judaism Became A Religion (2011). Darin zeigt sie auf, wie das moderne Judentum in Auseinandersetzung mit der deutschen Aufklärung und dem protestantischen Diskurs der Zeit entstanden ist.109 Batnitzky argumentiert, dass die jüdische Religion, wie sie heute verstanden wird, eine Kategorie sei, die vor allem von protestantischen Theologen eingeführt worden sei und das Judentum dieser Kategorie eigentlich nie entsprochen habe.110 Als Vater des modernen Judentums wird Moses Mendelssohn breit referiert und in diesem Zusammenhang weist die Autorin auch auf die Kontroverse um Christian Wilhelm Dohms Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) hin. In diesem Buch hatte sich der preußische Regierungsrat, durch Mendelssohn veranlasst, für eine rechtliche Besserstellung der Juden eingesetzt.111 Eine der entschiedensten Kritiken dieses Buches und des grundsätzlichen Anliegens Dohms kam dabei von dem christlichen Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis, der schon mit einer kritischen Rezension des Lustspiels Die Juden (1747) von Gotthold Ephraim Lessing aufgefallen war. In diesem Stück hatte Lessing die Figur eines edlen und gebildeten Juden eingeführt – und Michaelis ihm beschieden, dass ein solcher Charakter schlichtweg unglaubwürdig, da nicht existent sei.112 Die Zusammenschau dieser Kontroverse wird im Rahmen der kritischen Rekonstruktion der alttestamentlichen Wissenschaftsgeschichte im fünften Kapitel erfolgen. Hier reicht es festzuhalten, dass die Herausbildung des Judentums als einer Religion im modernen Sinn untrennbar mit der protestantischen Theologie zusammenhängt und sich die Jahrzehnte vor 1800 als äußerst religionsproduktiv erweisen.113 Auch wenn Immanuel Kant dem in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) widersprach, so lässt sich Mendelssohns Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum (1783) als Gründungsurkunde eines erneuerten Judentums als Religion lesen.114Die Fragestellungen, die innerhalb der Religionswissenschaft unter den Stichworten von Fiktionalität und historischer Sinnbildung verhandelt werden115, spielen nicht nur für die Entstehung des Judentums, wie es Batnitzky

                                                             109 Siehe LEORA BATNITZKY, How Judaism Became A Religion. An Introduction to Modern Jewish Thought, Princeton / Oxford 2011. 110 Siehe EBD., 13. 111 Siehe EBD., 19. 112 Siehe EBD., 15.18. 113 Siehe hierzu auch JONATHAN M. HESS, Germans, Jews, and the Claims of Modernity, New Haven 2002. 114 Vergleiche LEORA BATNITZKY, How Judaism Became A Religion, 24. 115 Siehe HANS G. KIPPENBERG/ KOCKU VON STUCKRAD, Einführung in die Religionswissenschaft, 38.

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beschreibt, eine gewichtige Rolle, sondern müssen auch für die ‚Gegenseite’ protestantischer Rekonstruktion des antiken Judentums mitbedacht werden. Konkret werde ich also in meinen Ausführungen auch danach fragen, welche Rolle alttestamentliche Wissenschaftler dem Judentum zugestanden haben und welche wirkmächtigen Fiktionen des Judentums sie mitgestaltet haben.

2.2.2 Facettenreich und dynamisch: Zur Struktur des deutschen Orientalismus Ein entscheidendes Werk für den Zusammenhang von Orientalismus und Altem Testament insbesondere für den deutschen Kontext ist das Buch German Orientalism in the Age of Empire (2009) von Suzanne Marchand. Sie untersucht darin die Bedeutung und die Besonderheiten des deutschen Orientalismus durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch und sieht als einen entscheidenden Ausgangspunkt dabei auch die Entstehung eines bestimmten Verständnisses des Alten Testaments, wie es durch Herder und Michaelis grundgelegt wurde.116 Bereits in ihrem einleitenden Zitat macht Marchand auf den Zusammenhang zwischen Bibel und Orientalismus aufmerksam, in dem sie Hermann Brunnhofer zitiert, der 1907 davon sprach, dass der Westen durch die Bibel untrennbar mit dem Osten verbunden sei.117 Als nächstes räumt sie gründlich mit dem von Edward Said kolportierten Vorurteil auf, die Deutschen seien in ihrem Orientalismus gegenüber anderen Nationen zu vernachlässigen.118 In einem weiteren Schritt warnt sie jedoch davor, in ein anderes Extrem zu verfallen und von einem singulären und allgemein geteilten ‚Orientalismus’-Diskurs auszugehen. Stattdessen sei der deutsche Diskurs voller Facetten gewesen und alles andere als einheitlich.119 Dass der Diskurs über den Orient meistens mehr mit den Befindlichkeiten und Auseinandersetzungen innerhalb Europas als dem Orient selber zu tun hatte, diese Einschätzung wird von Marchand geteilt, nicht ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass eben dies auch beinhaltet, dass es oftmals gegen-hegemoniale Ideen waren, die sich der Projektion auf den Orient bedienten.120 Beginnend mit der Verknüpfung von kultureller Politik, biblischer Exegese und dem Anfang eigenständiger orientalistischer Forschung um das Jahr 1780 wird in dem Buch ein großer Bogen über koloniale Politik und Wissenschaft im Kaiserreich bis hin zum Nachwirken orientalistischer Diskurse in der Erforschung und Rezeption des Neuen Testaments zu Beginn des Ersten

                                                             116 117 118 119 120

Siehe SUZANNE L. MARCHAND, German Orientalism in the Age of Empire. Siehe EBD., xvii. Siehe EBD., xix. Siehe EBD., xxi. Siehe EBD., xxvii.

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Weltkriegs geschlagen. Wie schon an dieser Aufzählung der wichtigsten Stationen deutlich wird, sind die Verbindungslinien zur Theologie stets reichlich vorhanden. Dass die Theologie und Orientalistik wiederum nicht losgelöst von realpolitischen Debatten betrachtet werden könnten, erhellt Marchand an der Hinwendung zu den Arabern gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Diese erscheinen als Edle Wilde und nächste Verwandte der antiken Hebräer bei Johann David Michaelis, Johann Gottfried Herder und Robert Wood und als deutliches Gegenbild zu dem degenerierten und despotischen Osmanischen Reich.121 Was die Personalia angeht, die bei Marchand verhandelt werden, so nennt sie zwar die Bedeutung Semlers für das kritische Studium des Alten Testaments, widmet sich anschließend aber zwei anderen Gestalten, die von ihr als entscheidend für den deutschen Orientalismus in seiner frühen Phase angesehen werden. Diese sind wieder einmal Johann David Michaelis und Johann Gottfried Herder.122 Johann David Michaelis wird als einflussreicher Gelehrter dargestellt, der entscheidenden Anteil daran hatte, die Hebräische Bibel zu einem bloßen historischen Artefakt zu machen. Zudem unterstützte er die Tendenzen, die nach-christliche Geschichte des Orients als eine Geschichte des Verfalls zu lesen sowie Texte den lebenden Personen vorzuziehen.123 Johann Gottfried Herders ‚Verdienst’ ist in ihrer Darstellung darin zu sehen, dass er einen ontologischen Vorrang des Ostens gegenüber dem Westen behauptete, die Anrede Gottes zu verstehen, da der ‚Geist des Orients’ kindlicher und mythischer veranlagt und damit in diesem Belang dem westlichen rationalen Geist überlegen sei.124 Wieder bleibt nur festzuhalten, dass der Zusammenhang zwischen biblischer Hermeneutik, der Herausbildung der Orientalistik sowie der Etablierung des methodischen Fortschritts in der Phase des ausgehenden 18. Jahrhunderts nach einer genaueren Untersuchung verlangt. Der weite Blick auf unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft zeichnet auch Andrea Polascheggs Monographie zum deutschen Orientalismus im 19. Jahrhundert aus. Unter dem Titel Der andere Orientalismus. Regeln deutschmorgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert (2005) bietet sie eine dichte Beschreibung des spezifisch deutschen Orientalismus. Für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beobachtet sie einen signifikanten Wandel innerhalb des deutschsprachigen Orientalismus, den sie anachronistisch als linguistic turn beschreibt.125 Dieser Wandel sei das Ergebnis verschiedener Faktoren, von denen sie vier besonders herausstellt, nämlich: „1. das sich institutionalisierende Wissen über den Orient unter den Vorzeichen von Philologie und Hermeneutik sowie die Ausbildung einer historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft,

                                                             121 122 123 124 125

Siehe EBD., 26. Siehe EBD., 38. Siehe EBD., 41. Siehe EBD., 45. Siehe ANDREA POLASCHEGG, Der andere Orientalismus, 143.

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2. die einsetzende generelle Historisierung sowohl der Lebenswelt als auch der ‚Erfahrungswissenschaft vom Menschen’, 3. die (Wieder-)Entdeckung des Mythos als Gegenstand und Formprinzip von Literatur und Wissenschaft und schließlich 4. die Entwicklung von Theorien und Poetologien einer Performativität (vulgo: Selbstreferenzialität) der Sprache“126

Diese neue sprachliche Verfasstheit des Orients drückte sich demnach unter anderem in Übersetzungen aus. Hier fallen die Namen von Johann Gottfried Herder, Josef von Hammer-Purgstall, aber auch von Georg Forster, der die Sakontala aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte.127 Der Orient erstreckte sich nunmehr nicht allein auf ein Ensemble von Figuren und Motiven, sondern drückte sich im Verständnis der Zeitgenossen in einer spezifischen literarischen Form aus, der deutsche Literaten nacheiferten.128 Von besonderem Interesse ist die Zentralstellung der Bibelwissenschaft, die Polaschegg mit Sabine Mangold konstatiert.129 Diese sei aus dem natürlichen Interesse der Bibelwissenschaften am Hebräischen sowie zahlreichen anderen semitischen Sprachen nur folgerichtig. Das protestantische Interesse an den Ursprachen habe den Protestantismus innerhalb der Theologie gegenüber katholischen Vertretern für eine Beschäftigung mit dem Orient privilegiert. Für die Überschneidungen von protestantischer Theologie und Orientalismus, die dementsprechend zahlreich ausfallen, bemerkt Polaschegg jedoch trocken: „Eine Theologiegeschichte, welche die Genese und Transformation des orientalistischen Wissens in den Blick nimmt, existiert nicht.“130

Dabei waren es vor allem die in der Theologie geschulten und der Theologie auch fachlich verbundenen Wissenschaftler, die dazu beitrugen, dass der Orient als eine textuelle und historische Größe ins allgemeine Bewusstsein trat.131 Diese Feststellung mag noch einmal das Desiderat, auf das die hier vorliegenden Forschungsarbeit reagiert, unterstreichen.

                                                             126 EBD., 144f. 127 Unter dem Namen Kalidas: Sakontala oder der entscheidende Ring. Ein indisches Schauspiel (1792) erschien Georg Forsters Übersetzung des englischen Textes von William Jones, die unter anderem von Herder begeistert aufgenommen wurde. Siehe Ebd., 149. 128 Siehe EBD., 152. 129 Siehe dazu das ebenfalls umfangreiche und für den weiteren Zusammenhang der vorliegenden Arbeit wichtige Buch: SABINE MANGOLD, Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“. Allerdings wird hier auf eine umfangreiche Besprechung desselben verzichtet, da Mangold sich darum bemüht, „die Geschichte der deutschen Orientalistik als eine Oppositionsgeschichte gegen die Theologie zu entwerfen.“ ANDREA POLASCHEGG, Der andere Orientalismus, 161. Außerdem bietet Mangold vor allem eine Disziplingeschichte der deutschen Orientalistik und bewegt sich damit auf einem etwas anderen Feld, als demjenigen, das hier beschritten werden soll. 130 ANDREA POLASCHEGG, Der andere Orientalismus, 159. 131 Siehe Ebd., 162.

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Die Namen von Robert Lowth (1710-1787) und Johann Gottfried Herder stehen für eine weitere Ausprägung und einen entscheidenden Beitrag der Bibelwissenschaften zum linguistic turn innerhalb der Orientalistik, nämlich die Wahrnehmung des Alten Testaments als eine Sammlung orientalischer Poesie.132 Die hebräische Bibel erfahre damit in den Worten Polascheggs eine dreifache Wandlung: „eine poetische, eine historische und eine orientalische.“133 Dies führte einerseits dazu, dass die Bibel in der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits eine „orientalische Provinz“ geworden sei134, andererseits hatte es jedoch auch zur Folge, dass nun die Möglichkeit bestand, auch deutsche Juden orientalisch zu zeichnen.135 Der neuere orientkundliche Wissenszweig, der über wenig Verknüpfungen mit der protestantischen Theologie verfügte, zeichnete sich vor allem durch ein Interesse an Indien und dem Topos von Asien als Wiege der Kultur und der Menschheit aus.136 Schließlich beschäftigt sich Polaschegg mit Möglichkeitsräumen des Orientalismus und stellt dar, wie Auseinandersetzungen, die sich scheinbar auf den Orient beziehen, bei Heine oder Schlegel als Medium des Streits über weltanschauliche Topoi und kulturelle und ästhetische Identität illustriert wurden.137 Aufgrund ihres „semantische[n] Überschuß[es]“ eigneten sich Sprache und Mythen der orientalischen Völker bestens zur Austragung von „Stellvertreterkriegen“.138 Auch in meiner Arbeit werde ich danach fragen, welche Möglichkeitsräume des Orientalismus sich in der Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments ergeben und welche diskursiven Konfliktstellungen damit verbunden waren. Methodisch wendet sich Polaschegg in ihrer Studie stark gegen die Rede von einer ‚Konstruktion’ des Orients, da sie den Begriff für zu stark von Intentionalität geprägt erachtet und die wissenschaftliche Sinnstiftung des Orients nicht besonders gegenüber anderen Arten der Gestaltungsmöglichkeiten des Orients privilegieren will.139 Hierin folge ich Polaschegg insofern, als ich neben wissenschaftlichen Texten auch literarische Texte mit berücksichtigen werde. Ihre Anfragen an die Orientalismus-Forschung nehme ich auf und werde ich in meinem dritten Kapitel, das sich den theoretischen Perspektiven widmet, diskutieren und für meine spezifische Forschungsfrage fruchtbar zu machen versuchen.

                                                             132 133 134 135 136 137 138 139

Siehe EBD., 165. EBD., 166. Siehe EBD., 167. Siehe EBD., 168. Siehe EBD., 179. Siehe EBD., 203. Siehe EBD., 204. Siehe EBD., 286.

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2.2.3 Auf dem Weg zu einer postkolonialen Religionswissenschaft Wenngleich die vorgestellten Werke Fragestellungen und Themen postkolonialer Theorie aufgreifen und bearbeiten, so ist (vor allem im deutschsprachigen Raum) bisher wenig explizit zu postkolonialer Religionswissenschaft veröffentlicht worden.140 Eine der wenigen Ausnahmen stellt der Aufsatz Postkoloniale Religionswissenschaft: Geschichte-Diskurse-Alteritäten (2012) von Andreas Nehring dar. Darin wendet er zum einen die anthropologische Einsicht, dass Repräsentationen soziale Fakten sind, dergestalt auf die Religionswissenschaft an, dass deren hegemonialer Anspruch deutlich wird. Zum anderen zeigt er anhand der Begriffsgeschichte von ‚Religion’, wie dessen Bestimmung mit kolonialer Ausbeutung zusammenhängt.141 Als Umgang mit der grundsätzlichen Aporie der Religionswissenschaft, allgemeine Begriffe gebrauchen zu müssen, die stets die Gefahr des Essentialismus in sich tragen, schlägt Nehring nun vor, ihr „Herrschaftssystem der Wahrheit“ in Frage zu stellen142 und plädiert für eine Genealogie des Religionsbegriffs. In Wiederaufnahme einer Forderung von Joachim Matthes nach einer stärker kulturwissenschaftlich ausgerichteten Religionswissenschaft solle sie vor allem auch ihrer eigenen geschichtlichen und kulturellen Prägung nachspüren.143 Dabei beschränke sich postkoloniale Religionswissenschaft nicht nur darauf, den Marginalisierten Gehör zu verschaffen, sondern sie setze sich bewusst der Gefahr aus, dass ihre Theorien in der öffentlichen Debatte als kulturell gebunden erscheinen und damit nicht den Anspruch einer allgemeinen Theorie erheben könnten.144 Auf das konkrete Projekt einer postkolonialen Lektüre alttestamentlicher Wissenschaftsgeschichte in religionswissenschaftlicher Perspektive übertragen heißt das, mit der Fragilität und Positionalität des eigenen Entwurfs als Bedingung seiner Möglichkeit zu rechnen. Ein weiterer wichtiger Aufsatz im Spannungsfeld von Kolonialismus und Religionswissenschaft in kritischer Perspektive ist Religion und Kolonialis-

                                                             140 Vergleiche jedoch erste Arbeiten, die sich der Abkehr von einem Eurozentrismus widmen. Etwa GREGOR AHN, Eurozentrismen als Erkenntnisbarrieren in der Religionswissenschaft, ZfR 5 (1997), 41–58; ANGELIKA ROHRBACHER, Eurozentrische Religionswissenschaft? Diskursanalytische Methodik an den Grenzen von Ost und West, Marburg 2009. Eine weitere, hier jedoch nicht ausführlich besprochene Ausnahme bietet auch YAN SUARSANA, Pandita Ramabai und die Erfindung der Pfingstbewegung. Postkoloniale Religionsgeschichtsschreibung am Beispiel des „Mukti Revival“, Wiesbaden 2013. 141 Siehe ANDREAS NEHRING, Postkoloniale Religionswissenschaft, 328f. 142 Siehe EBD., 334. 143 Siehe EBD., 339. 144 Siehe HANS G. KIPPENBERG/ KOCKU VON STUCKRAD, Einführung, 69.

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mus (2009) von Ulrike Brunotte. Darin zeigt sie den Einfluss auf, den die Entdeckung außereuropäischer Länder und Religionen für die Entwicklung des modernen und neuzeitlichen Europas hatte.145 Gleichzeitig referiert sie die kritische Forschung in Bezug auf Gender-Perspektiven im Zusammenhang mit der ‚Entdeckung der Neuen Welt’, die den Typus des ‚sehenden Mannes’ als identitätsstiftende Figur gegenüber dem ‚vergeschlechtlichten subalternen Subjekt’ herausgearbeitet habe.146 Dem Naturwissenschaftler, der sich mit der Flora und Fauna der Neuen Welt auseinandersetzte, würde ein unschuldiger Blick unterstellt, der den „Prozess der Naturalisierung“ der indigenen Bevölkerung ausblende.147 Eine Religionswissenschaft, die diese Einsichten kritisch aufnehmen möchte, müsse demnach ihren Blick zuvorderst auf die „Rhetorik der Kontrolle“, Versuche, Eingeborenen das Menschsein abzusprechen und die Etablierung eines scharfen Gegensatzes von ‚Schriftlichkeit’ und ‚Mündlichkeit’ richten.148 Als heuristische Mittel empfiehlt sie des Weiteren die Analyse der Figur des ‚Edlen Wilden’ sowie die imaginäre Geschlechtermetaphorik, die um die Verknüpfung von „der Frau als nahe Fremde und der Wilden als ferne Fremde“149 kreise. Auch für die vorliegende Arbeit werden die Metaphern, Begriffe und Konzepte, die Brunotte anbietet, extrem hilfreich sein, indem sie ein Instrumentarium und eine Lesehilfe bieten, die es ermöglichen, einen kritischen Blick auf die Forschungsgeschichte des Alten Testaments zu werfen. In expliziter Weise nimmt Brunotte sogar auf die Geschichte der Erforschung des Alten Testaments Bezug, wenn sie die Debatte um die ‚Entdeckung des Rituals’ referiert. Mit Friedrich Tenbruck und Jonathan Z. Smith könne von einer „kreativen[n] kulturpolitische[n] Präskription“150 gesprochen werden im Blick auf das, was dann als ‚Religion’ und ‚Ritual’ beschrieben worden sei. Betrachtet man die Debatte im späten 19. Jahrhundert, die das Ritual als eine grundlegende Form der Religion würdigte und sich sowohl bei dem Alttestamentler William Robertson Smith, als auch bei Emile Durkheim und verschiedenen Anthropologen wiederfindet, so lässt sich dort zeigen, wie die ‚primitiven Gesellschaften’ als ein „Experimentierraum der Moderne“151 fungierten. So gewannen soziologische Erklärungsmuster der Religion um 1900 mit ihrer Zentralstellung des Rituals und seiner Privilegierung als soziale Tatsache gegenüber einem individualistischen Glauben ihre Relevanz und Bedeutung für die europäische Gesellschaft auch aus der Totemismus- und Opfertheorie William Robertson

                                                             145 Siehe ULRIKE BRUNOTTE, Religion und Kolonialismus, in: Hans G. Kippenberg / Jörg Rüpke / Kocku von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Band 1, Göttingen 2009, 339–369, hier: 339. 146 Siehe EBD., 342. 147 Siehe EBD., 342. 148 Siehe EBD., 343. 149 EBD., 344. 150 EBD., 354. 151 EBD., 355.

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Smiths.152 Lévi Strauss hat diese Ritual-Debatte in seinem Buch Das Ende des Totemismus (1962) überzeugend als ein ‚Othering’ und Ausdruck des europäischen Evolutionismus am Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben.153 Die religionswissenschaftliche Konstruktion des Anderen wird hierbei als Medium der Selbstreflexion deutlich und erlaubt, einen besonderen Fokus auf die Kontaktzone und die sich überschneidenden Orte unterschiedlicher Kulturen sowie die Konstruktion kultureller Grenzen zu legen. Für die theoretische Selbstreflexion der Religionswissenschaft und ihrer Auswirkungen ist nach wie vor der Aufsatz Friedrich Tenbrucks Die Religion im Maelstrom der Reflexion (1993) von großer Bedeutung, da hier die Aufgabe der Religionswissenschaft, ihren eigenen Einfluss auf die moderne Entwicklung von Religion zu erforschen, prägnant benannt wird.154 Zudem zeigt Tenbruck, dass die europäische Religionsgeschichte als Begriffsgeschichte nicht der Regelfall, sondern, durch die religiös homogene Struktur mitbedingt, der absolute Sonderfall sei.155 Das Sonderheft zu „Religion und Kultur“ der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, aus dem dieser Aufsatz stammt, gilt bei allen Schwächen, die sich auch in Tenbrucks Aufsatz benennen lassen, als Wegbereiter einer diskursiven Religionsforschung.156 Die besondere Verknüpfung zwischen westlicher Moderne und Religionswissenschaft hat Hans Georg Kippenberg untersucht und in seinem Buch Die Entdeckung der Religionsgeschichte (1997) thematisiert. Darin möchte er die Geschichte westlicher akademischer Religionsforschung aufzeigen157 und nachweisen, inwiefern die Religionsgeschichtsschreibung selbst wiederum als Religionsphilosophie gelten kann.158 Eine wichtige Station legt er dabei bei Johann Gottfried Herder ein, der ihm als Vertreter einer Aufwertung der historischen Religionen gilt.159 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) dagegen führte gegen Schleiermacher eine Trennung von Geist und Natur, von Gefühl und Religion ein, die einen weiteren wichtigen Einschnitt darstellte und es erlaubte, die Religionsgeschichte als eine Geschichte der Entwicklung von Subjektivität zu verstehen.160 In seiner Darstellung der unterschiedlichen Konflikte um die Interpretation der Religionsgeschichte weist Kippenberg auch auf eine Kontroverse hin, die für das Thema der vorliegenden Arbeit von

                                                             152 Siehe EBD., 355. 153 Siehe EBD., 355. 154 Siehe FRIEDRICH TENBRUCK, Die Religion im Maelstrom der Reflexion, Religion und Kultur. Sonderheft der Kölner Zeitung für Soziologie und Sozialpsychologie 33, Opladen 1993, 31–67, hier: 36. 155 Siehe EBD., 55. 156 Siehe FRANK NEUBERT, Diskursforschung in der Religionswissenschaft, in: Johannes Angermuller u.a. (Hg.), Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Band 1: Theorien, Methodologien und Kontroversen, Bielefeld 2014, 261–275, hier: 265f. 157 Siehe HANS G. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 10. 158 Siehe EBD., 13. 159 Siehe EBD., 28. 160 Siehe EBD., 35.38.

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großem Interesse ist: In den 1860er Jahren begann E.B. Tylor, sich gegen die vorherrschende Degenerationsthese zu wenden, die besagte, dass die ‚primitiven Völker’ Ergebnis eines Rückschritts vormaliger Hochkulturen seien.161 Tylor dagegen sah in den ‚primitiven Kulturen‘, nicht in einem pejorativen Sinne, den Anfang der menschlichen Kultur repräsentiert. Ihre Religiosität beschrieb er in seinen Werken The Religion of the Savages (1866) und Primitive Culture (1871) als Animismus. Tylor ging es bei alldem jedoch nie um die alleinige Erklärung fremder Religionen und Gesellschaften, sondern vor allem um das Aufdecken von Überresten, „survivals“, und die Beschreibung von Irrationalitäten und Aberglauben innerhalb der zwischen Materialismus und Animismus sich bewegenden englischen Gesellschaft, sprich, um die „Gegenwart des Anfangs in der modernen Zivilisation“162. Eine Vorstellung, die sich auch bei Robertson Smith fand. In seinem Aufsatz Animal Worship and Animal Tribes among the Arabs and in the Old Testament (1880) stellte Robertson Smith eine Verbindung her zwischen der Vergesellschaftung primitiver Völker und derjenigen des antiken Israels. Als ein Bindeglied diente ihm dabei die neu entstandene Theorie des Totemismus, der als soziologische Wendung des Fetischismus verstanden werden kann.163 Nun lässt sich mit einigem zeitlichen Abstand bei vielen Theorien Robertson Smiths deutlich zeigen, wie ethnologische Fragestellungen und biblische Befunde auf unsachgemäße Art und Weise verknüpft wurden. Dies hat jedoch seine Rezeption keineswegs geschmälert und so nahmen sowohl James George Frazer in seinem The Golden Bough (1890) als auch Sigmund Freud in Totem und Tabu (1912) ausdrücklich Bezug auf seine Forschungen.164 Sichtbar wird an Kippenbergs Beispiel, in welch vielfältiger Weise die wissenschaftlichen Rekonstruktionen biblischer Bücher mit ethnologischer und religionswissenschaftlicher Forschung im Wechselspiel standen. Im Aufzeigen dieser Rezeptionsvorgänge und Hybridisierungen lässt sich ein ganzer Zweig der Forschung in seiner Genese nachzeichnen. Für die vorliegende Untersuchung soll die Fragestellung Kippenbergs übernommen werden und auf die Zeit der erstmaligen starken Verknüpfung dieser beiden Felder um 1800 angewendet werden.

                                                             161 162 163 164

Siehe EBD., 81ff. EBD., 98. Siehe EBD., 109. Siehe EBD., 119.

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2.3

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Zwischenfazit

Die vorgestellten Arbeiten betonen alle auf die eine oder andere Art die gestiegene Bedeutung und besondere Rolle und Wertschätzung der deutschsprachigen protestantischen Theologie ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Als wichtigste Akteure eines veränderten Zugangs zur Bibel werden wiederholt Johann David Michaelis, Johann Gottfried Eichhorn und Johann Gottfried Herder genannt. Auf diese verweist auch Edward Said explizit, wenn er von einer „Revolution in der Bibelforschung“165 spricht. Sie nehmen bei Said jedoch nur eine Nebenrolle ein, weshalb durchaus sachgerecht davon gesprochen werden kann, dass Edward Said die Bedeutung der deutschen Orientwissenschaften und ihren Führungsanspruch in Europa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu gering schätzte.166 Demgegenüber soll also in der vorliegenden Studie insbesondere dieser bisher vernachlässigte Aspekt der deutschsprachigen Bibelwissenschaft betont werden. Dabei schließe ich mit meinem Forschungsvorhaben eine doppelte Lücke: Für die Forschungsgeschichte des Alten Testaments greife ich eine Fragestellung auf, die in der fach-spezifischen Wissenschaftsgeschichte bisher kaum eine Rolle gespielt hat. Für die religionswissenschaftliche Forschung wende ich eine Fragerichtung, die sich in den letzten Jahren etabliert hat, für ein Feld an, das bisher eher am Rande eine Rolle gespielt hat. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive lässt sich das ausgehende 18. Jahrhundert als besonders produktiv in der Umformung religiöser Traditionen auf dem Weg zu den heutigen modernen Religionen beschreiben. Viele Einzelstudien haben Verknüpfungen mit der protestantischen Theologie aufgezeigt und zudem die Auseinandersetzungen über fremde Religionen als Stellvertreterkriege europäischer Identitäts- und Machtfragen charakterisiert. Eine konsequente Beleuchtung der alttestamentlichen Wissenschaftsgeschichte vor dem Hintergrund neuerer Forschung zum Orientalismus wurde jedoch wiederholt als ein Desideratum markiert. Für die Ritual-Debatte um 1900 konnte bereits überzeugend nachgewiesen werden, wie sich alttestamentliche Forschung und anthropologische und ethnologische Forschungen gegenseitig in einem hohen Maße durchdrungen haben. Dies führte dazu, dass die entsprechenden Forschungsergebnisse in der Rückschau weitestgehend verworfen wurden, da hier unzulässige Projektionen und nicht haltbare Analogien gebraucht wurden. Die Vermischung mit evolutionistischen und rassistischen Konzepten hat diese Forschungsrichtung weitestgehend desavouiert. Doch auch schon in der Debatte um das jüdische Recht in den 1780er Jahren lassen sich Formen eines othering beachten, die aus den Hebräern ein

                                                             165 EDWARD SAID, Orientalismus, 27. 166 Siehe FELIX WIEDEMANN, Deutscher Orientalismus, 401.

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fremdes Volk machen, was im Umkehrschluss die Orientalisierung der europäischen Juden zur Folge hatte. Der Rolle der alttestamentlichen Wissenschaft in diesem Feld der Konstruktion von Bedeutung und sozialer Wertung nachzuspüren, wird eine weitere Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein. Meine Arbeit kann an Forschungsergebnisse aus der Religionswissenschaft anschließen und gleichzeitig Lücken schließen, die bisher wenig beachtet worden sind. Mit Urs App umfangreicher Studie zum Orientalismus wurden Ergebnisse einer Forschung in der Kontaktzone vorgestellt und aufgezeigt, inwiefern die vorliegende Arbeit hieran anschließen kann, indem die Integration des neu entstandenen Wissens über fremde Religionssysteme in der alttestamentlichen Wissenschaft eine Rezeption erfahren hat. Hans Georg Kippenberg hat in einem weiteren vorgestellten Buch die Zusammenhänge zwischen Religionsgeschichte und alttestamentlicher Forschung vor allem für den englischsprachigen Raum und die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert deutlich gemacht. Diese Frageperspektive lässt sich auf die Zeit um 1800 und den deutschsprachigen Raum übertragen.

3.

Elemente einer selbstreflexiven Ethnologie des Abendlandes: Hinweise zur Methodik dieser Arbeit

Als Fazit des letzten Kapitels wurde formuliert, dass eine stringente Methodik entwickelt werden soll, um diese dann auf den Materialbereich der Forschungsgeschichte des Alten Testaments anzuwenden. Dabei wurden einige Debatten und methodische Konzepte bereits aufgerufen, ohne dabei in die Tiefe zu gehen. Dieser Schritt soll nun erfolgen und die theoretische Fundierung der vorliegenden Arbeit entwickelt und vorgestellt werden. Für Hans G. Kippenberg und Kocku von Stuckrad bildet der Leitbegriff der Bescheidenheit das Zentrum ihrer Argumentation für eine Religionswissenschaft, die mit einer Vielzahl von Perspektiven und Beschreibungen arbeitet.1 Theorien eigneten sich demnach nicht als „Generalschlüssel zur Analyse unterschiedlicher Gegenstände2, stattdessen gelte es in einer kritischen Reflexion deren Zustandekommen und die historischen Narrative, die Theorien bedingen und von ihnen hervorgebracht werden, zu analysieren. Auch die vorliegende Arbeit wird sich nicht auf eine einzige Theorie stützen, sondern auf ein Bündel theoretischer Zugänge zum Thema setzen. Ziel dabei soll es sein, mit Foucault gesprochen, Elemente einer „selbstreflexiven[n] Ethnologie des Abendlandes“3 zu entwickeln, die sich dazu eignen, Wissensregime und Wirklichkeitskonstruktionen der alttestamentlichen Methoden und ihrer Paradigmen vor dem Hintergrund kolonialer Denkmuster darzustellen. Die Herkunft der unterschiedlichen theoretischen Konzepte ist somit auch zwangsläufig divers und die Herangehensweise interdisziplinär, da das kulturelle Wissen einer bestimmten Zeit nicht anders zu erfassen ist.4

                                                             1

2 3 4

Siehe HANS G. KIPPENBERG/ KOCKU VON STUCKRAD, Einführung in die Religionswissenschaft, 93. Vergleiche für die theoretische Diskussion auch PATRICK HART, Theory, Method, and Madness in Religious Studies, in: Method and Theory in the Study of Religion 28 (2016), 3–25. HANS G. KIPPENBERG/ KOCKU VON STUCKRAD, Einführung in die Religionswissenschaft, 92. MICHEL FOUCAULT, Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Bd.1, 1954–1969, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a.M. 2001, 766f. Vergleiche ACHIM LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, Frankfurt a. M. / New York 22009, 97. Siehe hierzu auch: HARALD NEUMEYER, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (Diskursanalyse, New Historicism, „Poetologien des Wissens“). Oder: Wie aufgeklärt ist die Romantik?, in: Ansgar Nünning/ Roy Sommer (Hg.), Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektiven, Tübingen 2004, 177–194, hier: 178; ERIKA FISCHER-LICHTE, Paradigmenwechsel oder ‚turns’? Zur Theorieentwicklung in den Geisteswissenschaften

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Methodik der Arbeit

3.1

Orientalismuskritik als Analyse der praktischen Arbeitsweise: Im Gespräch mit der historischen Diskursanalyse

Die vorliegende Arbeit verortet sich im Rahmen der Diskursforschung, insofern, als die Diskursanalyse als „breites, interdisziplinäres Feld von Methoden, die die Produktion von Sinn als eine sozial gerahmte und situierte Praxis erforschen“5 verstanden werden kann. Zwar haben sich Diskursanalysen auch auf dem Feld der Religionswissenschaften in den letzten Jahren stärker etabliert6, doch stoßen sie auch immer wieder auf Kritik: Als besonders provokant markiert Suzanne Marchand in dem im letzten Kapitel vorgestellten Buch German Orientalism in the Age of Empire (2009) ihre Infragestellung der Diskursanalyse zur Untersuchung des europäischen Orientalismus.7 Ihr Vorwurf lautet, dass eine solche Analyse viel zu oft bei der belanglosen Feststellung stehen bleibe, dass Forscherinnen und Forscher Repräsentationen des Anderen zu ihrem eigenen Vorteil entwürfen. So würde vielmals in der Anwendung der historischen Diskursanalyse auf das Feld des Orientalismus eine Bricolage unterschiedlichster Texte und einzelner Metaphern entstehen, die jedoch wiederum heutigen Fragestellungen und nicht dem tatsächlichen historischen Diskurs geschuldet sei.8 Dies resultiere aus einer falschen Bezugnahme auf Foucault. Dessen eigentliches Interesse sei nämlich gewesen, „eine philosophische Dekonstruktion derjenigen Identitäten vorzunehmen, die wir unreflektiert vorausgesetzt haben und sein Werk hilft uns einen kritischen Zugriff auf die Institutionen, Wissenschaften und Gedanken-Zusammenhänge sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart zu gewinnen. Die Wiederaufnahme seiner philosophischen Kritik als historische Methodologie führt jedoch regelmäßig zu einer tendenziösen Bricolage [...].“9

Die unscharfe Verwendung des Diskursbegriffs und die damit wenig hilfreiche pauschale Bezugnahme auf eine wie auch immer geartete Diskursanalyse stellt

                                                             5

6 7 8 9

seit den 1960er Jahren, in: Andrea Sakoparnig u.a. (Hg.), Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften, Berlin u.a. 2014, 87–102. JOHANNES ANGERMULLER, Einleitung. Diskursforschung als Theorie und Analyse. Umrisse eines interdisziplinären und internationalen Feldes, in: Ders. (Hg.), Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Band 1: Theorien, Methodologien und Kontroversen, Bielefeld 2014, 16–36, hier: 24. Siehe dazu FRANK NEUBERT, Diskursforschung in der Religionswissenschaft, passim. Siehe SUZANNE L. MARCHAND, Orientalism, xxi. Siehe EBD., xxi. „to offer a philosophical deconstruction of the identities we have unreflectively assumed, and his work has helped us to gain critical purchase on the institutions, sciences, and Thought-structures of both present and past. But the re-elaboration of his philosophical critiques as historical methodology regularly results in tendentious bricolage [...]“ Siehe: SUZANNE L. MARCHAND, Orientalism, xxi.

Methodik der Arbeit

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auch Achim Landwehr in seiner Einführung in die Historische Diskursanalyse als Problem heraus.10 Er schlägt vor, den Diskursbegriff und seine Verwendung genauer zu spezifizieren. Eine Ausprägung, die von Bedeutung ist, ist die Critical Discourse Analysis bei der nicht nur die Texte im Fokus der Analyse stehen, sondern vor allem auch ihre Produktion und Rezeption, sowie die gesellschaftlichen Umstände ihrer Entstehung berücksichtigt werden.11 Zudem sei darauf zu achten, dass der Diskurs nicht als einheitlich, ahistorisch und zentral gesteuert verstanden wird, sondern „Risse und Lücken“12 mit berücksichtigt werden und nicht nur der Bereich der Wissenschaften untersucht wird, sondern das Dispositiv der Wissensproduktion. Darunter versteht Michel Foucault „...ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“13

Auf den orientalistischen Diskurs angewandt bedeutet das, dass stets die Vielzahl von Identitäten der an dem Prozess zur Ausformung des Orientalismus Beteiligten berücksichtigt werden und insbesondere auch die Verbindungslinien zwischen dem ‚Osten’ und dem ‚Westen’, die auch in den Augen der Forscherinnen und Forscher des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle spielten, nicht unterschätzt werden dürfen.14 Als eine Art dritten Weg zwischen Ideologiekritik à la Said und einer Apologie der eigenen wissenschaftlichen Arbeitsweise und Fachdisziplin schlägt Marchand eine Analyse der praktischen Arbeitsweise anstelle einer Untersuchung der imaginären Bilderwelt vor. Im Rahmen dieser Abgrenzung betont Marchand dann wieder die Verortung des deutschen Orientalismus als ein Set von Praktiken in den theologischen Fragen seiner Zeit.15 Diese Einschätzung und die Parteinahme für eine bestimmte Art des Zugangs zu unserem Material soll als Ausgangspunkt für die intensive Frage nach der Methodik der Arbeit genutzt werden. Als eine erste Grundsatzentscheidung für mein eigenes methodisches Vorangehen kann dabei, anschließend an Marchand, eine Konzentration auf die Methoden der wissenschaftlichen Arbeit und des Zuganges zum Alten Testament festgehalten werden.

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Siehe ACHIM LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, 60ff. Vergleiche NORMAN FAIRCLOUGH, Language and Power, New York 1989, 23ff. ACHIM LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, 76. MICHEL FOUCAULT, Schriften in vier Bänden, Dits et Ecris, Band 3: 1976–1979, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a.M. 2003, 392f. Vergleiche ACHIM LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, 77. 14 Siehe SUZANNE L. MARCHAND, Orientalism, xxii. 15 Siehe EBD., 24.

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Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Diskursbegriff damit als wenig hilfreich verabschiedet, keine Rolle für meine Arbeit spielen würde. Vielmehr möchte ich die bereits angedeuteten Vorbehalte noch einmal aufnehmen, um zu einem qualifizierten Diskursbegriff zu gelangen. Denn der Diskursbegriff an sich dient den meisten Forschenden, wie Landwehr herausarbeitet, auch eher als „ein Mittel zum Zweck, nämlich bestimmte Gegenstände klarer und anders zu sehen, als dies mit anderen begrifflich-theoretischen Instrumentarien möglich ist.“16

Zudem ist bei einer Rede von Diskursen darauf hinzuweisen, dass Diskurse kein fest umrissenes Objekt darstellen, sondern einen „hypothetisch unterstellten Strukturierungszusammenhang“17. Damit ist gleichermaßen ausgesagt, dass die eigene Perspektive nicht mehr und nicht weniger bieten kann, als einen solchen Strukturierungszusammenhang anzubieten und als plausible wissenschaftliche Hypothese stark zu machen. Diskurse bilden - ob explizit oder implizit - Realitäten nicht nur ab, sondern generieren gleichzeitig neue Realitäten.18 Kocku von Stuckrad definiert die Diskursanalyse in Bezug auf religionswissenschaftliche Fragestellungen wie folgt: „Diskursanalyse zielt aus der Perspektive der Wissenssoziologie auf die Restrukturierung der Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivierung und Legitimierung von Bedeutungsschemata ab. Was als legitimes Wissen in einer Gesellschaft angesehen wird, wird auf der Ebene der Institutionen, Organisationen oder kollektiven Akteure erzeugt.“19

Für die Aufarbeitung dieser Diskurse geht es jedoch nicht nur um das offen legitimierte Wissen, sondern auch um eine Art von Wissen, das als implizites Wissen zu benennen ist und auf die unausgesprochenen Vorannahmen und den kulturellen common sense verweist.20 Der Diskurs lässt sich als ein Bedeutungsfeld verstehen, das über den Bereich des Sprechens und Schreibens hinausgeht und die gesamte symbolische Ordnung umfasst.21 Dies ist die zentrale

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ACHIM LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, 85. EBD., 21. Siehe ACHIM LANDWEHR, Diskursanalyse, 92. „Discourse analysis, from the perspective of the sociology of knowledge, aims at reconstructing the processes of social construction, objectification, communication, and legitimization of meaning structures. What is regarded as legitimate knowledge in a given society is generated on the level of institutions, organizations, or collective actors.” Siehe: KOCKU VON STUCKRAD, Discursive Study of Religion, 9. 20 Siehe hierzu grundlegend MICHAEL POLANYI, The Tacit Dimension, Chicago 1966. 21 Siehe hierfür unter anderem ERNESTO LACLAU, On Populist Reason, London / New York 2005, 68.

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Einsicht aus den Arbeiten von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die jegliches soziales Geschehen als Sinngeschehen analysieren.22 Für die vorliegende Studie bedeutet das, dass neben einer Sichtung von schriftlichen Quellen und Diskursen stets auch ein Akzent auf dem sozialem Interaktionsgeschehen liegen soll. Beispielhaft untersucht werden kann das an der Darstellung fremder Körper als Geschichte „sozial vorgeprägte[r] Zeichenträger“23. Der bereits erwähnte Blick auf das Scheitern und die Instabilität von Diskursen ermöglicht ein Bild, das nicht nur die Perspektive der sich durchsetzenden Diskurse beinhaltet, sondern zudem Raum schafft für Dekonstruktionen, Gegengeschichten und Blickwechsel.24 Nicht die Frage nach der Wahrheit von Theorien25 soll im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, sondern die Frage profiliert werden, wie diese Wahrheiten jeweils zustande gekommen sind.26 Wolfgang Bonß und Heinz Hartmann sprechen für soziologische Beschreibungen in diesem Zusammenhang vom „Aushandlungscharakter der Wirklichkeit“27Da die zu untersuchenden Diskurse vielfach kulturgenerierend sind, so ist der „methodisch konkretisierte (...) Vorbehalt“28 gegen die je eigene europäische Kultur, wie er nun weiter formuliert werden soll, unhintergehbar. Yan Suarsana verweist in seiner postkolonialen Religionsgeschichtsschreibung zu Pandita Ramabai nicht ohne Grund am Ende statt eines Fazits auf die Rolle des Hofnarrens als Foucaultsche Parabel und role model für diskursgeschichtlich argumentierende Historiker*innen29: Auch meine Arbeit wird keine Antwort auf die Frage liefern, wie die Geschichte der Erforschung des Alten Testaments denn nun eigentlich zu schreiben sei, sondern vielmehr Geschichten aufdecken, die es wert sind, geschrieben zu werden.

                                                             22 Siehe hierzu URS STÄHELI, Die politische Theorie der Hegemonie: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, in: André Brodocz / Gary S. Schaal (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart, Opladen 1999, 143–166, hier: 147. 23 GERD MATTENKLOT, Vorwort, in: Kerstin Gernig (Hg.), Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin 2001, 7–14, hier: 7. 24 Zu den Unterschieden im Diskursverständnis und die entscheidende Differenz innerhalb der politischen Theorie Laclaus und Mouffes gegenüber konstruktivistischen Theorien siehe URS STÄHELI, Theorie, 150. 25 Vergleiche zu der kritischen Infragestellung einer ‚Reinheit’ der Theorie auch ERIKA FISCHER-LICHTE, Paradigmenwechsel oder ‚turns’?, 102. 26 Siehe auch KOCKU VON STUCKRAD, Discursive Study of Religion, 258. Zur Negativität als Voraussetzung von Wissen vergleiche insbesondere auch noch einmal JOHANNES FABIAN, Time and the Work of Anthropology. Critical Essays 1971–1991, Philadelphia 1991. 27 WOLFGANG BONß/ HEINZ HARTMANN, Konstruierte Gesellschaft, rationale Deutung. Zum Wirklichkeitscharakter soziologischer Diskurse, in: Dies (Hg.), Entzauberte Wissenschaft. Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung, Göttingen 1985, 9– 46, hier: 21. 28 WALTER SPARN, Einleitung, in: Christoph Ernst/Walter Sparn/Hedwig Wagner (Hg.), Kulturhermeneutik. Interdisziplinäre Beiträge zum Umgang mit kultureller Differenz, München 2008, 11–22, hier: 13. 29 Siehe YAN SUARSANA, Pandita Ramabai und die Erfindung der Pfingstbewegung, 379.

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3.2

Methodik der Arbeit

Begriffsgeschichtliche Analyse des kolonialen Archivs und eine Epistemologie des Ortes

In meiner Arbeit werde ich versuchen, eine Begriffsgeschichte des Kolonialismus in Bezug auf Methoden und Paradigmen, die im Rahmen der Entstehung der alttestamentlichen Wissenschaft aufkamen, zu entwickeln. Jürgen Osterhammel, der im deutschsprachigen Raum die gängigste Definition von Kolonialismus vorgelegt hat30, spricht von Welten des Kolonialismus im Zeitalter der Aufklärung (2006) und verschränkt in seinem gleichnamigen Aufsatz also eine Epochenbezeichnung mit dem Gebot der Multiperspektivität.31 Um eine europäische Selbstbezogenheit hinter sich zu lassen, schreibt er den Historiker*innen ins Stammbuch, Sichtweisen der Anderen aufzudecken und deren Quellen zu berücksichtigen. Beispielhaft ist für ihn die Geschichte Ägyptens von Abd-al-Rahman al-Jabarti (1754–1825), die kritisch neben die europäischen Geschichtsschreibungen über Ägypten zu legen sei.32 Dieses Wechselspiel und In-Beziehung-Setzen verschiedener Perspektiven aus dem Zentrum und den vermeintlichen Nebenschauplätzen der Geschichte deckt sich mit der Forderung Edward Saids nach einem kontrapunktischen Lesen, wie es beispielhaft von R.S. Sugirtharajah auf den Korpus der exegetischen Literatur übertragen worden ist.33 Am Beispiel Engelbert Kaempfers stellt Osterhammel weiterhin heraus, dass darauf eingegangen werden sollte, wo es tatsächlich zu einem Wissenstransfer komme, das heißt, wo von „angeeignetem Wissen in eigene Weltdeutungs- oder Anwendungsstrukturen“34 die Rede sein könne. Diese Forderungen Osterhammels leuchten unmittelbar ein. Wenn im Folgenden die Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments untersucht werden wird und bisher wenig beschriebene Nebengeschichten und Verknüpfungen mit außereuropäischen Sichtweisen und Haltungen genauer untersucht werden, so soll es nicht um eine bloße Faktensammlung gehen, sondern kritisch gefragt werden, wo es zu einem echten Wissenstransfer gekommen ist.                                                              30 Er definiert Kolonialismus folgendermaßen: „Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.“ JÜRGEN OSTERHAMMEL, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 62009, 21. 31 Siehe JÜRGEN OSTERHAMMEL, Welten des Kolonialismus im Zeitalter der Aufklärung, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006, 19–36. 32 Siehe EBD., 24. 33 Siehe R.S. SUGIRTHARAJAH, Postcolonial Reconfigurations, 16. 34 JÜRGEN OSTERHAMMEL, Welten des Kolonialismus, 26.

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Allerdings erfordert der ideologie- und machtkritische Zugang, der gewählt werden soll, eine genauere Auseinandersetzung mit dem Begriff des ‚Kolonialismus’ bei Osterhammel. Bei Jürgen Osterhammel wird ein „organisiertes und einigermaßen stabilisiertes Herrschaftsverhältnis“35 zur Vorbedingung jeglicher Rede von Kolonialismus gemacht. Dies führt dann auch dazu, dass Osterhammel leicht polemisch einfordern kann, dass die Kritiker William Jones’ diesem erst nachweisen müssten, wie er Indien geschadet habe.36 Das bloße Sammeln von Daten, philologische Arbeiten und Übersetzungstätigkeiten seien als solche erst einmal unverdächtig, so das Argument. Die Frage drängt sich auf, ob Osterhammel mit dieser Definition von Kolonialismus nicht hinter der kritischen Forschung zum Thema der ‚Hegemonie’ im Anschluss an Antonio Gramsci zurück zu bleiben droht. Zwar kann auch im Hinblick auf den postkolonialen Gebrauch der Schriften und Konzepte Gramscis von einer ‚Erfindung’ gesprochen werden,37 doch lohnt es sich an dieser Stelle, das Konzept der Hegemonie, wie es für die postkoloniale Kritik leitend wurde, noch einmal auszuführen. Antonio Gramscis zentrale Erkenntnis beruht darauf, dass keine Herrschaft möglich sei ohne die Erlangung einer kulturellen Hegemonie.38 Eine Einsicht, die noch einmal durch eine (eingeforderte) japanische (Gegen-)Stimme gedeckt werden kann. Der japanische Journalist Tokutomi Sohō stellte 1887 mit Blick auf Europas Hegemonie über Japan fest, dass sich dessen Einfluss „auf alle Winkel der Gesellschaft“ erstrecke und „[d]er Geist der militärischen Organisation […] nicht beim Militär“39 ende. Diese allumfassende Kontrolle der Gesellschaft ist dabei nicht nur ein Zwangsinstrument der Herrschenden, sondern wird von den Unterdrückten mitgetragen und hat eine Totalisierung der Gesellschaft zur Folge: Wer diese Hegemonie erlangt habe, der definiere die Situation und die angemessene Wirklichkeit, sowie ihr richtiges Verständnis und trage dadurch letztendlich zu einer Selbstlegitimierung bei.40 Stuart Hall hat aufgezeigt, inwiefern diese

                                                             35 EBD., 25. 36 Siehe EBD., 33. Zur kritischen Debatte um William Jones und die Rolle der Philologie im Kontext der Religionsproduktivität des 19. Jahrhunderts vergleiche HANS G. KIPPENBERG/ KOCKU VON STUCKRAD, Einführung in die Religionswissenschaft, 25ff. Für den Kontext der Debatte um die Rolle der Philologie und implizite Rassismen vergleiche auch die Beiträge bei MARKUS MESSLING/ OTMAR ETTE (HG.), Wort, Macht, Stamm. Rassismus und Determinus in der Philologie, München 2013. 37 Für die theoretische Bedingtheit und die epistemologischen Grenzen der postkolonialen Lektüre Gramscis siehe NEELAM SRIVASTAVA / BAIDIK BHATTACHARYA, Introduction: The Postcolonial Gramsci, in: Dies. (Hg.), The Postcolonial Gramsci, New York 2012, 1–14, hier: 7ff. 38 Siehe FRIEDERIKE HABERMANN, Mehrwert, Fetischismus, Hegemonie: Karl Marx’ ‚Kapital’ und Antonio Gramscis ‚Gefängnishefte’, in: Julia Reuter/ Alexandra Karentzos (Hg.), Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012, 17–26, hier: 22. 39 JOHN D. PIERSON, Tokutomi Sohō, 1863–1956. A Journalist for Modern Japan, Princeton 1980, 130. Vergleiche PANKAJ MISHRA, Aus den Ruinen des Empires, 53. 40 Siehe FRIEDERIKE HABERMANN, Mehrwert, 22.

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Hegemonie nicht ein für allemal festgelegt sei, sondern ständig erneuert und aufs Neue ausgekämpft werden müsse.41 Mit Ian Chambers erscheint Sprache als der Ort gesellschaftlicher Konflikte um die Herstellung und Festlegung von Sinn. Da sich alle Konfliktparteien und gesellschaftlichen Gruppen einer bereits bestehenden langue zu bedienen haben, so entstehe ein Deutungswettstreit im Bereich der Sprache, dessen Siegerkranz die Erlangung von Hegemonie darstelle.42 Dort, wo nun gesellschaftlich Objektivität und Macht zusammenfallen, ist mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe von Hegemonie im Sinne Gramscis zu sprechen.43 Führen wir das Beispiel Osterhammels und dessen Differenzierungen noch etwas weiter aus: „Eroberungen im Namen aufklärerischer Prinzipien wurden nicht gemacht, wissenschaftliche Kolonisierung durch messende Kartographen, sammelnde Botaniker und notierende Ethnologen ist nicht dasselbe wie militärische Unterwerfung.“44

Hier wird scheinbar Selbstverständliches ausgesagt, das auf den ersten Blick wenig zum Widerspruch reizt. Denn dass der messende Kartograph anders einzuschätzen ist als der säbelschwingende Eroberer, leuchtet unmittelbar ein. Doch wird damit in Binaritäten gedacht, die durch die zitierten postkolonialen Studien erschüttert worden sind. Gerade der Kartograph und Landvermesser wird uns im Folgenden noch beschäftigen und sich als eine ambivalentere Figur erweisen, als Jürgen Osterhammel uns glauben machen will. Ein anderer Hinweis Osterhammels soll dagegen aufgenommen werden. In Die Entzauberung Asiens (2010) spricht dieser von einem Generalproblem vieler Studien im Gefolge Saids: „Viele solcher Studien leiden indes an einer repetitiven Monotonie des Verfahrens, die zu wenig überraschenden Resultaten führt, an einem grimmigen Gestus des Überführens, Aburteilens, manchmal sogar Denunzierens von Autoren der Vergangenheit und an Unkenntnis über kulturelle Grenzen hinweg – Grenzen, die selbst wiederum alles andere als vorgegeben sind, sondern sich in Praxis wie Diskurs immer wieder neu bilden.“45

Als ein Mittel, wie dieses theoretische Problem angemessen aufgenommen und gelöst werden kann, erscheint die Begriffsgeschichte, die stark mit dem Namen von Reinhard Koselleck verbunden ist und es sich zur Aufgabe gemacht hat, „Leitbegriffe der geschichtlichen Bewegung, die, in der Folge der

                                                             41 Siehe EBD., 23. 42 Siehe IAN CHAMBERS, The ‚Unseen Order’: Religion, Secularism and Hegemony, in: Neelam Srivastava / Baidik Bhattacharya, (Hg.), The Postcolonial Gramsci, New York 2012, 101–118. 43 Siehe hierzu auch ACHIM LANDWEHR, Diskursanalyse, 86. 44 JÜRGEN OSTERHAMMEL, Welten des Kolonialismus, 35. 45 JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Entzauberung Asiens, 411.

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Zeiten, den Gegenstand der historischen Forschung“46 ausgemacht haben, zu identifizieren und diese in ihre Zusammenhänge einzuordnen. In der großangelegten Lexikonarbeit, die sich mit dieser Herangehensweise verknüpft, spielen nicht nur Leitbegriffe einer Zeit, sondern auch die dahinter stehenden Ideologien eine entscheidende Rolle.47 Allerdings ist kritisch zu fragen, inwiefern der Bezug zur Sozialgeschichte, der immer wieder betont worden ist,48 von den Arbeiten zur Begriffsgeschichte auch tatsächlich eingelöst worden ist.49 Zudem ist die Frage von Macht und Gewalt sowie den konkreten Kommunikationssituationen bestimmter Begriffe unbedingt mit zu berücksichtigen.50 Um das Phänomen der ‚wissenschaftlichen Kolonisierung’ aufzunehmen und die soeben kurz geschilderten Einsichten der postkolonialen Kritik in die Bedeutung von Begriffen und Kategorien für die Ausübung indirekter Herrschaft brauchbar zu machen, soll ein weiterer methodischer Schwerpunkt darauf gelegt werden, Begriffe, die sich im 19. Jahrhundert durchgesetzt haben, daraufhin zu untersuchen, wie sie (1) effektiv in eigene Weltdeutungsstrukturen integriert worden sind und (2) welche politischen Implikationen sich mit diesen Begriffen verbunden haben. Die Begriffsgeschichte erscheint dabei als ein methodischer Mittelweg zwischen einem ‚materialistischen’ und einem ‚idealistischen’ Zugang zur Geschichte und lässt Sprache als einen Anhaltspunkt vorgefundener Realität und als Element der Realitätsfindung gleichermaßen deutlich werden.51 Die Begriffsgeschichte fokussiert gleichermaßen auf Herausforderungen im konkreten Wortgebrauch, wie auch auf die semantische Prägekraft alter Erfahrungen.52 Die Begriffsgeschichte ist stets als ein interdisziplinäres Anliegen und als Vermittlung von Sach- und Sprachgeschichte zu deuten und zu betreiben.53

                                                             46 REINHARD KOSELLECK, Einleitung, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bände, Stuttgart 1972–1997, XIII-XXVIII, hier: XIII. Vergleiche ACHIM LANDWEHR, Diskursanalyse, 31. 47 Siehe ACHIM LANDWEHR, Diskursanalyse, 32. 48 Siehe dazu beispielhaft REINHART KOSELLECK, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: Ders. (Hg.), Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, 9–31. 49 Siehe ACHIM LANDWEHR, Diskursanalyse, 33. 50 Siehe EBD., 34f. 51 Siehe hierzu REINHART KOSELLECK, Stichwort: Begriffsgeschichte, in: Ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M. 2006, 99–102, hier: 99. 52 Siehe EBD., 100. 53 Damit lässt sie sich auch im Streit um writing history als eine Mittlerin zwischen Konstruktivismus und Positivismus deuten, die die Erkenntnisse und Vermittlungsversuche, wie sie etwa von Paul Ricoeur vorgetragen worden sind, mit berücksichtigt. Siehe dazu PAUL RICOEUR, Geschichte und Rhetorik, in: Herta Nagl-Docekal(Hg.), Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, Berlin 1996, 107–125. Vergleiche HANS G. KIPPENBERG/ KOCKU VON STUCKRAD, Einführung in die Religionswissenschaft, 40f.

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Neben einem Schwerpunkt auf Begriffen lässt sich mit kritischen Stimmen aus der Anthropologie auch noch einmal die besondere Bedeutung des Ortes herausheben. Arjun Appadurai hat in einem Aufsatz zur Theoriediskussion in der Anthropologie auf die häufig unterschätzte Rolle des Ortes für bestimmte anthropologische Begründungsmuster hingewiesen.54 Er spricht von einer diskursbestimmenden Tendenz, bestimmte Plätze zu paradigmatischen ‚showcases’ für bestimmte Themen zu erklären.55 So stehe Indien in der weltweiten anthropologischen Debatte stets für soziale Hierarchien und das Kastensystem, während anthropologische und geschichtliche Studien vor Ort diese Aspekte kaum beachteten.56 Die relative Hegemonie spezifischer Orte für die Beschreibung einzelner Sachverhalte und die fast schon standardisierte Verortung von Topoi oder Tropen in bestimmte Gegenden der Welt, die Teil einer immer wieder kritisierten globalen Arbeitsteilung innerhalb der Wissenschaften ist57, soll Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein.

3.3

Frontier Comparative Religion: Auf den Spuren des kolonialen Emplotments der Religionsgeschichte

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat Wilhelm Dilthey die „sehr unsichere Wissenschaft“58 der Ethnologie als Quelle gesehen, um die Philosophie aus „den Labyrinthen eigener Meditationen“59 zu führen.60 Eine Sichtweise, die auch heute noch Einiges für sich hat: Denn eine Hinterfragung der eigenen Wissenschaftsformen und ihrer grundlegenden Paradigmen, wie sie mit dem von mir gewählten Titel einer ‚selbstreflexiven Ethnologie’ verbunden sind, kann theoretisch von Debatten profitieren, die in der Ethnologie unter dem

                                                             54 Siehe ARJUN APPADURAI, Theory in Anthropology: Center and Periphery, in: Comparative Studies in Society and History 28 (2,1986), 356–361. 55 Siehe EBD., 358. 56 Siehe EBD., 360. 57 Siehe dazu MARÍA DO MAR CASTRO VARELA/ NIKITA DHAWAN, Mission Impossible: Postkoloniale Theorie im deutschsprachigen Raum, in: Julia Reuter/ Paula-Irene Villa (Hg.), Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Interventionen, Bielefeld 2010, 303–329, hier: 312ff. 58 WILHELM DILTHEY, 2. Literaturbrief (1876), in: Gesammelte Schriften, Bd. XVII, herausgegeben von Ulrich Herrmann, Göttingen 1974, 8–13, hier: 9. 59 WILHELM DILTHEY, Adolf Bastian, ein Anthropologog und Ethnolog als Reisender (1867), in: Gesammelte Schriften, Bd. XI, herausgegeben von Erich Weniger, Stuttgart 1972, 204–212, hier: 212. 60 Siehe IRIS DÄMANN, Statt einer Einleitung. Plädoyer für eine Ethnologisierung der Kulturwissenschaft(en), in: Dies./ Christoph Jamme (Hg.), Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, München 2007, 7–33, hier: 13.

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Schlagwort der ‚Krise der Repräsentation’ geführt worden sind61, da für die „wissenschaftliche Beobachtung der Wissenschaftspraxis“62 die gleichen Bedingungen gelten „wie für fremde Sozialpraktiken“63. Die Fragestellung, inwieweit sich die Etablierung der europäischen Kultur „den fremdkulturellen Entdeckungen, Konfrontationen, Erfindungen und kritischen Infragestellungen durch solche Kulturen, die nicht europäisch sind und vielleicht niemals europäisch sein werden64

zu verdanken hat, soll hier im Hinblick auf die Religionswissenschaft dargestellt werden. Im Jahr 1986 gab James Clifford die ethnologische Anthropologie Writing Culture mit heraus, die eine Debatte anstieß, die sich nicht nur auf die Ethnologie beschränkte, sondern zu methodischen Diskussionen auch in anderen geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern führte.65 In seinem Beitrag Partial Truth rückte er den Wissenschaftler in die Nähe eines Schriftstellers, da der Ethnograph Wirklichkeit fingiere und somit eine Fiktion schaffe. Auch wahre Aussagen bedürften der rhetorischen Konstruktion um überzeugend zu sein.66 Damit hat Clifford eine Debatte, der Geschichtswissenschaften auf die Kulturwissenschaften übertragen. Hayden White nutzt in seiner Metahistory (1973) den Begriff des emplotments und bezeichnet darin die Beschreibung von Wirklichkeit als eine literarische Konstruktion.67 Anhand verschiedener Geschichtsdarstellungen des 19. Jahrhunderts beschreibt er, wie unterschiedliche Stile und Tropen verwendet wurden, um die untersuchte Historie zu strukturieren. Das Mittel dazu ist ihm die Untersuchung der Narrativität dieser Geschichtsdarstellungen. Der Historiker rückt damit in die Nähe eines Schriftstellers und der poetische Akt, den er vollzieht, rückt ins Bewusstsein.68 Die

                                                             61 Vergleiche dazu den Sammelband EBERHARD BERG/ MARTIN FUCHS (HG.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M. 1993. 62 MARTIN FUCHS/ EBERHARD BERG, Phänomenologie der ethnographischen Repräsentation. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation, a.a.O., 11–108, hier: 21. 63 EBD., 22. 64 IRIS DÄMANN, Statt einer Einleitung, 17. 65 Siehe VOLKER GOTTOWIK, James Clifford. Ethnographie als allegorische Beschreibung des Fremden, in: Stephan Moebius/ Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2011, 178–186, hier: 179; Vergleiche dazu auch die Zusammenfassung der Debatte bei DORIS BACHMANN, „Writing Culture“- ein Diskurs zwischen Ethnologie und Kulturwissenschaft, in: kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 4 (1992), 1–20. 66 Siehe VOLKER GOTTOWIK, James Clifford., 179. 67 Vergleiche zum Begriff des emplotments auch LAURENZ VOLKMANN, Art. Emplotment, in: Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, herausgegeben von Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar 32004, 145–146. 68 Siehe HAYDEN WHITE, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991, 11.

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Historiker, so White, bedienten sich eines „vorkritisch bereiteten Sprachduktus“69, der im Bewusstsein ihres Publikums existiere und ihnen so eine gewisse Resonanz beschere. In die Kritik der Geschichtsphilosophien gelangten die Historiker schließlich, da sie sich nicht auf einen bestimmten Sprachstil hätten einigen können und so ein Bedarf gesehen wurde, mit Hilfe einer technischen Sprache das Sprachprotokoll auf einen Diskurstypus zuzuspitzen.70 Geschichtswissenschaftler*innen können somit gleichzeitig als Künstler*innen der Narration angesehen werden.71 Diese Schwerpunktsetzung auf die Narrativität, seitdem umstritten in der Geschichtswissenschaft, erfuhr neben der geschilderten Übertragung auf die Kulturwissenschaften durch James Clifford, durch Gavin Flood mit seinem Buch Beyond Phenomenology (1999) auch eine Anwendung auf die Religionswissenschaft. Von einer kritischen Religionswissenschaft fordert er eine Berücksichtigung der Narrative innerhalb derer die eigene Wissenschaft fingiert wird: „Religionen finden statt innerhalb von Narrativen, die aus bestimmten Perspektiven konstruiert und rekonstruiert werden, aus bestimmten Positionen der Macht, die eine kritische Religionswissenschaft dekodieren kann.“72

Dabei ist jedoch gerade mit Hayden White darauf zu bestehen, dass diese Art der Dekodierung, so sie verschriftlicht wird, selbst wieder ein Abbild der Wirklichkeit entwirft, das denselben Beschränkungen unterworfen ist.73 Dieses Instrument, das er auch als eine kritische Anfrage an das Beharren marxistischer Theoretiker*innen auf ihrer vermeintlichen Objektivität verstanden haben möchte,74 lässt sich in einer veränderten politischen und wissenschaftsgeschichtlichen Situation heute nutzen, um die geschichtlich geronnenen Objektivitätsansprüche (deutscher) alttestamentlicher Wissenschaft zu hinterfragen. Allerdings ist aus den vielfältigen Auseinandersetzungen mit Hayden White der berechtigte Einspruch mit zu reflektieren, dass die Gefahr, sich einem theoretischen Formalismus hinzugeben, mitberücksichtigt und nach Möglichkeit vermieden werden sollte.75

                                                             69 70 71 72

EBD., 557. Siehe EBD., 557f. Siehe hierzu ACHIM LANDWEHR, Diskursanalyse, 44. GAVIN FLOOD, Phenomenology, 235; Vergleiche HANS G. KIPPENBERG / KOCKU VON STUCKRAD, Einführung, 59. 73 Hayden White zieht hier das Beispiel Erich Auerbachs heran, der in seiner Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1971) die Veränderungen des Begriffs des ‚Realen’ innerhalb der Literatur nachzeichnet. Siehe HAYDEN WHITE, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986, 9. 74 Siehe HAYDEN WHITE, Auch Klio dichtet, 34. 75 Siehe zur ausführlichen Kritik auch die Belegstellen bei ACHIM LANDWEHR, Diskursanalyse, 46.

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Das Anliegen, Repräsentationsmechanismen literarischer Produktionen aufzudecken, ist auch eine Motivation des sogenannten New Historicism, dem es darum geht, literarische Werke als Kraftfelder zu verstehen und damit als Orte unterschiedlichster Interessen zu kennzeichnen.76 Für die Beschäftigung mit der Epoche des Kolonialismus und der kritischen Untersuchung von Texten, die Wissen produziert und sanktioniert haben, ist auf die enge Verflechtung von Wissenssystemen mit Fragen der Herrschaft hinzuweisen.77 Zudem bietet der von Stephen Greenblatt bereitgestellte Begriff der ‚Zirkulation’ die Möglichkeit, die Dichotomien, die sich vereinfachten Lektüren der Debatte um writing history verdanken, aufzulösen und ein Geschehen der gegenseitigen Beeinflussung und eben Zirkulation von Gedanken und Sprachbildern darzulegen.78 Für die Religionswissenschaft ist das koloniale emplotment ihrer Ursprünge bereits vielfältig untersucht: Charles H. Long79 hat die Geschichte der Religionswissenschaft in seinem Buch Significations: Signs, Symbols, and Images in the Interpretation of Religion (1986) nicht von ungefähr in dem Spannungsfeld von epistemologischem Fortschritt und Eroberung der nichtwestlichen Welt beschrieben: „Es gibt eine komplexe Beziehung zwischen der Bedeutung und dem Wesen der Religion als Gegenstand akademischer Wissenschaften und der Realität der zur selben Zeit eroberten und kolonisierten Völker und Kulturen.“80

Diese Erkenntnis macht sich David Chidester in Savage Systems. Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa (1996) zu Eigen und versucht sich an der Geschichte der Religionswissenschaft aus der Perspektive der Peripherie. Die koloniale Peripherie, so seine Leitthese, war dabei ebenfalls eine „arena of theory“81 in dem Sinne, dass nicht nur die Peripherie einen Akt des Kolonialismus erlebte, sondern auch die kolonialen Zentren selbst durch den vermittelten Kontakt über Missionar*innen, Reisende und koloniale Admi-

                                                             76 Siehe EBD., 55. 77 Siehe v.a. MICHEL FOUCAULT, Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt a.M. 21997, 111. 78 Siehe HARALD NEUMEYER, Literaturwissenschaft, 182. 79 Charles Long sei hier nur als ein Beispiel für vielfältige Versuche in diese Richtung genannt, da er zum einen sich bereits in den 1980er Jahren mit diesen Themen beschäftigt hat, zum anderen als Part der sogenannten Chicago School of Religion vom Generalverdacht freigesprochen werden kann, diese betrachte Religion im Sinne Mircea Eliades stets als Kategorie sui generis. Siehe zur entsprechenden Debatte auch CLAYTON CROCKETT, Long Time Coming: Theology, Methodology, Cultural Theory, in: Journal for Cultural and Religious Theory 5.2 (April 2004), 5–9. 80 „There is a complex relationship between the meaning and nature of religion as a subject of academic study and the reality of peoples and cultures who were conquered and colonized during this same period.” Siehe: CHARLES H. LONG, Significations. Signs, Symbols, and Images in the Interpretation of Religion, Philadelphia 1986, 4. 81 DAVID CHIDESTER, Savage Systems, xiv.

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Methodik der Arbeit

nistrator*innen kolonisiert wurden. Aus dieser These leitet er eine Einsicht und Forderung ab: „An der südlichen afrikanischen Peripherie entstand eine vergleichende Religion der Grenze, die eine zentrale Rolle für die Entwicklung der akademischen Religionswissenschaft spielte. Wenn also die Geschichte der vergleichenden Religionswissenschaft wahrlich historisch sein soll, so muss sie eine Erzählung sein, die die praktischen Implikationen der historisch bedingten Diskurse und Vergleichspraktiken mit berücksichtigt. Die Religionswissenschaft muss sich selbst wieder an die Grenze begeben.“82

Diese praktische Forderung nach einer Erforschung der Grenzregion beschränkt Chidester nicht nur auf sein eigenes Fach, die Religionswissenschaft, sondern sieht einen Nutzen für jegliche postkoloniale wissenschaftliche Betätigung.83 Der Ort der Grenzuntersuchung ist in der vorliegenden Arbeit nun in die entstehenden Zentren des Diskurses verlegt: Was Chidester für die religionswissenschaftliche Arbeit einfordert, soll nun am spezifischen Diskurs der alttestamentlichen Wissenschaft in Deutschland eingelöst werden und die entstehenden Zentren der Gelehrsamkeit als Grenzregionen und Orte der Kolonisierung betrachtet werden. Neben dieser lokalen Zuweisung bietet der vorgestellte Ansatz Chidesters jedoch auch noch ein brauchbares Instrument der zeitlichen Einordnung unterschiedlicher Diskurse. Ausgehend von Michel Foucault und seinen Forschungen zur Archäologie des Wissens unterscheidet er mit Bezug auf seinen spezifischen Kontext zwischen drei Phasen bzw. Epistemen innerhalb der Geschichte der vergleichenden Religionswissenschaft. Diese seien die „frontier, imperial, and apartheid comparative religion“84. „Frontier comparative religion“ wird von ihm als umstritten, nur regional dominant, aber nichtsdestoweniger in lokale koloniale Situationen eingebettet verstanden.85 Im Gegensatz dazu kann die imperiale Religionswissenschaft, die sich in den europäischen Zentren ab etwa 1850 entwickelte, dadurch gekennzeichnet werden, dass sie die Herkunft ihrer Daten und ihre Wurzeln in kolonialen Kontexten verschleiert, dabei einen Anspruch auf universelles Wissen erhebt und mit einem starken Denken in Differenzen andere religiöse und kulturelle Systeme als primitiv abstuft.86 Übertragen wir diese zeitliche Kategorisierung auf die Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments, so ergibt sich ein interessantes Bild: Die Jahr                                                             82 „On the southern African periphery, a frontier comparative religion emerged that was crucial to the development of the academic study of religion. Therefore, if the history of comparative religion is truly to be a history, it must be a narrative of historically situated discourses and practices of comparison that is sensitive to their practical implications in the world. The study of religion must find itself, once again, on the frontier.“ Siehe DAVID CHIDESTER, Savage Systems, xivf. 83 Siehe EBD., xv. 84 EBD., 2. 85 Siehe EBD., 3. 86 Unter diese primitiven Anderen wurden dann nicht nur die kolonial Anderen subsumiert, sondern auch Kinder, Tiere, Kriminelle, Frauen, Arbeiter und Behinderte. Siehe EBD., 4.

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zehnte um 1800 können hier auch als eine ‚Wissenschaft auf der Grenze’87 betrachtet werden, in denen koloniale Kontexte zwar nachgewiesen werden können, sich eine „Rhetorik der Kontrolle“88, um einen anderen Begriff Chidesters aufzunehmen, jedoch nur andeutungsweise und als vielfältig ambig aufzeigen lässt. Ab den 1850er Jahren dagegen setzt sich auch in der Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments eine Tendenz durch, die sich als deutlich imperial kennzeichnen lässt und einen Höhepunkt um 1900 erlebt. Für die konkrete Aufgabe einer Offenlegung des kolonialen emplotments der Wissenschaftsgeschichte ergibt sich daraus zweierlei: Zum einen lässt sich leicht einsehen, dass der wissenschaftlich interessantere und herausforderungsreichere Abschnitt der Geschichte sich in den Jahren zwischen 1750 und 1850 befindet, dass jedoch Ergebnisse, die hier aufgezeigt werden können, zwangsläufig umstritten und ‚grenzwertig’ sein müssen. Für die imperiale Zeit der Wissenschaftsgeschichte ist dagegen mit eindeutigeren Befunden zu rechnen, der Moment der epistemologisch bedeutsamen Grenzziehungen verliert sich jedoch bereits in koloniale Dichotomien. Methodisch bedeutet dies eine Konzentration auf die Zeit der ‚Grenzverhandlungen’, die sich jedoch immer wieder Bezüge auf die weitere Entwicklung ‚imperialer’ Episteme erlauben muss.

3.4

Prä-Emergenz und Nachleben: Zum methodischen Umgang mit dem conceptual lock „Was wäre das 19. Jahrhundert uns, wenn Tradition uns mit ihm verbände? Wie sähe es als Religion oder Mythologie aus?“ Walter Benjamin89

In einem Überblicksartikel zur Geschichte Israels stellt Keith W. Whitelam fest, dass trotz aller revolutionärer Rhetorik sich fast alle Darstellungen zur Geschichte Israels in einem Kontext und Problemfeld befinden, das dem des 19. Jahrhunderts sehr ähnelt.90 Dafür prägt er den Begriff eines ‚conceptual

                                                             87 Bereits hier wird die Schwierigkeit einer Übertragung des Konzeptes und seiner Begrifflichkeiten ins Deutsche augenfällig: Zu beachten ist dabei, dass wo im Folgenden von ‚Grenze’ die Rede ist, die Definition Chidesters zu beachten ist: „I define frontier as a zone of contact, rather than a line, a border, or a boundary.“ EBD., 20. 88 EBD., 2. 89 WALTER BENJAMIN, Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 5 Das Passagenwerk, Frankfurt a. M. 1982, 998. 90 Siehe KEITH W. WHITELAM, Setting the Scene: A Response to John Rogerson, in: H.G.M. Williamson (Hg.), Understanding the History of Ancient Israel, Oxford 2007, 15–23.

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Methodik der Arbeit

lock’91. Auch im Hinblick auf neuere Darstellungen zur Prophetie in der alttestamentlichen Wissenschaft ist auffällig, wie sehr die Debatten, sei es affirmativ oder in vielfältigen Abwehrbewegungen stets von den Diskussionen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts geprägt sind. Für den Bereich von Kirche und Öffentlichkeit sieht Konrad Schmid eine fast ungebrochene Rezeption des „Wesens der alttestamentlichen Prophetie, wie es die historisch-kritische Forschung seit dem 19. Jahrhundert beschrieben hat“92. Zwar werde dieses Bild innerhalb der Wissenschaft des Alten Testaments inzwischen stark hinterfragt, dennoch könne davon gesprochen werden, dass diese konzeptuelle Figuration des Propheten und des ‚Prophetischen’ „außerhalb der Grenzen der alttestamentlichen Wissenschaft weitgehend unvermittelt weiterlebt [von mir kursiv gesetzt; SW].“93 Es scheint also, als ob für die Fragen der Hermeneutik der Hebräischen Bibel die Frage, die diesem Kapitel vorangestellt ist und die Walter Benjamin in seinem Passagenwerk en passant streift, keine bloß rhetorische bleibt, sondern vielfach mit Material gefüllt werden kann.94 Im Bereich der Literaturwissenschaften wird in einigen neueren Werken zum Verhältnis von Literatur und Bibel der von Walter Benjamin und Aby Warburg entlehnte Begriff des Nachlebens stark gemacht, um darauf aufmerksam zu machen, dass die biblischen Texte im Bereich der Literatur auf großen Nachklang stoßen.95 Auch in denjenigen Texten, in denen sich die alttestamentliche Forschung auf kritische Weise mit den Machtfunktionen ihrer Methodik beschäftigt, ist häufig von Walter Benjamin die Rede.96

                                                             91 EBD., 15. 92 KONRAD SCHMID, Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentlichen Prophetie, in: ZNThG/JHMTh, (3,1996), 225–250, hier: 225. 93 Ebd., 228. 94 Für ausführlichere Hinweise zu Walter Benjamin und der Bibel siehe: BRIAN BRITT, Walter Benjamin and the Bible, New York 1996; ROLAND BOER, Criticism of Heaven. On Marxism and Theology, Chicago 2009, 57–101. Zur Aktualität Walter Benjamins auch im Hinblick auf seinen anschlussfähigen Erfahrungsbegriff siehe DANIEL WEIDNER, Walter Benjamins Erfahrungen. Zum religious turn in der gegenwärtigen Literatur- und Kulturwissenschaft, in: Andreas Nehring/ Joachim Valentin (Hg.), Religious Turns – Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse – neue religiöse Wissensformen, Stuttgart 2008, 32–44, hier: 33. 95 Siehe programmatisch dazu MARTIN TREML/DANIEL WEIDNER (HG.), Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dialektik der Säkularisierung, München 2007. Die Herausgeber des angesprochenen Tagungsbandes gehen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie die Bedeutung der Religion für die Kulturwissenschaft nicht nur als einen Gegenstand unter vielen kennzeichnen, sondern der Religion sogar die Rolle eines Paradigmas für methodische und epistemologische Fragen zugestehen. 96 So gibt es einige Arbeiten von Jürgen Ebach aus den 1980er Jahren, in denen er sich sogar explizit mit der ‚Dialektik der Aufklärung’ beschäftigt und sich Gedanken um eine ‚Kolonialisierung der Lebenswelt’ macht. Dort erscheint die Rede von einer solchen Kolonialisierung jedoch eher als eine Metapher, als dass sie auf antikoloniale

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Doch wie genau ist dieses Nachleben nun inhaltlich bestimmt und welche methodischen Ziele verbinden sich mit der Aufnahme dieser Denkfigur? Das Nachleben „schwankt zwischen Überleben und Hinterlassen [kursiv im Original; SW], es ist weder ungebrochenes Fortleben, noch auch ein klar bestimmter Abbruch.“97

Damit eignet es sich als methodischer Zugang besonders, um die bisher unbestimmte Größe des Fortbestehens bestimmter diskursiver Traditionen, Elemente des Wissensregimes und ihre Verknüpfung mit den Texten der Hebräischen Bibel, die dahinterstehen, in den Blick zu nehmen.98 Das Denkbild des Nachlebens macht aufmerksam auf die Hybridisierungen der hier beschriebenen deutschen alttestamentlichen Forschungsgeschichte und der textlichen Basis der Hebräischen Bibel. Es eignet sich, um aufmerksam zu machen auf die „komplizierte Topographie, in der sich Ungleichzeitiges im Gleichzeitigen und Getrenntes in Konstellationen berühren kann.“99 Damit wird auch dem methodischen Einspruch aus der Hermeneutik-Debatte Rechnung getragen, nicht einseitig die Rolle der Konstruktion innerhalb der Geschichtsschreibung und wissenschaftlicher Narrative stark zu machen, sondern auch empfänglich zu bleiben für Elemente des Realen.100 Zugleich ist der Bezug auf ein Nachleben selbst mit einem historischen Index zu kennzeichnen, da er aus der Zeit der Entstehung der ‚ersten Kulturwissenschaft’ stammt und vor diesem Hintergrund gedeutet und verstanden werden muss.101 Der Blick von 1900 aus eignet sich jedoch gut als eine gebrochene Durchgangsstation, da die Trennli-

                                                            

97 98

99 100 101

philosophische Gedanken Bezug nehmen würde und die Befreiungstheologie wird weniger in ihrem methodischen Anspruch als in Bezug auf die Neubestimmung des Verhältnisses von Theologie und Politik wahrgenommen. Siehe JÜRGEN EBACH, Leviathan und Behemoth. Eine biblische Erinnerung wider die Kolonisierung der Lebenswelt durch das Prinzip der Zweckrationalität, Paderborn 1984; JÜRGEN EBACH, Der Blick des Engels. Für eine ‚Benjaminische’ Lektüre der hebräischen Bibel, in: Norbert W. Bolz/ Richard Faber (Hg.), Walter Benjamin. Profane Erleuchtung und rettende Kritik, Würzburg 21985, 67–101. MARTIN TREML/DANIEL WEIDNER, Aktualität, 11. Es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, dass Ludmila Hanisch in ihrem Überblick über die deutsche Orientalistik im 20. Jahrhundert in einem Überblick über die Vorläufer in unterschiedlichen Fächern in großen Teilen, die auch in dieser Studie versammelten Namen nennt. Insofern wäre auch die Rede von einem Nachleben der Exegeten eine angemessene Formulierung: Siehe LUDMILA HANISCH, Nachfolge, 10–20. DANIEL WEIDNER, Einleitung: Walter Benjamin, die Religion und die Gegenwart, in: Ders. (Hg.), Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung, Berlin 2010, 7–35, hier: 26. Siehe PAUL RICOEUR, Geschichte und Rhetorik, passim. MARTIN TREML/DANIEL WEIDNER, Aktualität, 12. Für die Vorstellung einer ersten Kulturwissenschaft siehe auch HEINRICH RICKERT, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Freiburg 1899. Vergleiche ERIKA FISCHER-LICHTE, Paradigmenwechsel oder ‚turns’?, 87.

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Methodik der Arbeit

nien und Paradigmen der Wissensordnung um 1800 kritisch hinterfragt werden102, diesen aber gleichzeitig eine unheimliche Präsenz eignet.103 Eine erneuerte Kulturwissenschaft vor dem Hintergrund der angedeuteten postkolonialen Verschiebungen ist in Abgrenzung von großen Erzählungen und Dichotomien an ‚heißen Zonen’ interessiert.104 Diese heißen Zonen sind diejenigen des Kulturkontakts, der Ambiguitäten und der Vermischungen. Walter Benjamin spricht in seinem Vorwort zur Baudelaire-Übersetzung mit dem Titel Die Aufgabe des Übersetzers (1923) vom ‚Leben und Fortleben der Kunstwerke’ und greift diesen Gedanken im Trauerspielbuch (1928) und im Passagenwerk (1928-1940) wieder auf.105 Abzugrenzen von anderen Konzepten der Wirkungsgeschichte und der Fortdauer ist die Denkfigur des Nachlebens durch den Bezug auf die Lebensphilosophie und ihre Struktur als ‚textuelle Operation’, die sich nicht einfach auf einen Begriff bringen lässt, sondern die metonymische Kette von ‚Fortleben’ und ‚Überleben’ in sich trägt.106 Das Verständnis von Heiligen Texten, das Walter Benjamin entwickelt, drückt sich auch darin aus, dass „Kommentar und Übersetzung das Original nicht ablösen, sondern immer schon mit ihm zusammengehören, jedenfalls solange der Text noch ‚lebendig’ ist.“107

In seinem Briefwechsel mit Gershom Scholem zu Kafka wird zudem deutlich, dass die Figur des Nachlebens durch eine Unentscheidbarkeit gekennzeichnet ist, die sie gegen eine genaue Einordnung immunisiert und somit auch dazu führt, dass Fragen wie jene, ob eine Tradition nach ihrem Abbruch verschwindet oder noch weiter wirksam bleibt, zwar nicht eindeutig beantwortet werden können, jedoch das Denken in Bewegung halten.108 Aus den genannten Gründen schlussfolgert Daniel Weidner, dass die Denkfigur des Nachlebens als wertvoller Impuls bei der Suche nach den „eigenen historischen und epistemologischen Grundlagen“109 dienen kann. Mit all diesen Schwierigkeiten und Ambiguitäten versehen, soll die Figur des Nachlebens als eine mögliche Form

                                                             102 Siehe MARTIN TREML/DANIEL WEIDNER, Aktualität, 14. 103 Siehe dazu den Fortgang des aufgegriffenen Fragments von Walter Benjamin, worin er das 19. Jahrhundert wie folgt kennzeichnet: „Das neunzehnte Jahrhundert, um mit den Surrealisten zu sprechen: sind die Geräusche, die in unsern Traum eingreifen, die wir im Erwachen deuten.“ WALTER BENJAMIN, Werke, 998. 104 Siehe MARTIN TREML/DANIEL WEIDNER, Aktualität, 14. 105 Siehe DANIEL WEIDNER, Fort-, Über-, Nachleben. Zu einer Denkfigur bei Benjamin, in: Daniel Weidner/ Sigrid Weigel (Hg.), Benjamin-Studien Bd. 2, München 2011, 161–178, hier: 161. 106 Siehe EBD., 171f. 107 EBD., 175. 108 Siehe EBD., 175. 109 EBD., 178.

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angedeutet werden, um über eine Dekonstruktion und einen religionswissenschaftlichen Historismus hinauszugehen.110 Bereits in der Einleitung ist darauf hingewiesen worden, dass eine Schwierigkeit der vorliegenden Arbeit mit darin bestehen wird, eine Diskursformation und ein Beziehungsgefüge plausibel zu machen, die zu einem bestimmten zeitlichen Punkt nur als bloße Ahnung gefasst werden können. Wird für Deutschland um 1800 von kolonialistischen Tropen gesprochen, so liegt damit ein zweifacher Anachronismus vor. Weder lässt sich von Deutschland in einem staatlichen Sinne sprechen, noch scheint die Rede von Kolonialismus in einem strengen Sinn als angemessen. Vor dieses Problem gestellt, entwickelt Gayatri Spivak den Gedanken: „Kant, Hegel und Marx als entfernte diskursive Vorfahren zu lesen, statt als durchsichtige und motivierte Sammellager von ‚Ideen’.“111

Als methodische Leitlinie dient ihr mit der ‚Prä-Emergenz’ ein Begriff von Raymond Williams, den er in Marxism and Literature (1977) entwickelt hat. Bereits Edward Said hat sich auf Raymond Williams bezogen112, der in The Long Revolution (1961) die literarische Produktivität des Imperiums beschreibt und aufzeigt, wie es Schriftstellerinnen und Schriftsteller in den 1840er Jahren bereits vor der Phase des Hochimperialismus inspirierte und für neue Themen und einen neuen Umgang mit ethischen Fragestellungen stand.113 Raymond Williams gilt allgemein als einer der Gründungsväter der ‚cultural studies’ und insbesondere sein Culture and Society (1958) als eine neben anderen Gründungsdokumenten.114 In einer dichten Beschreibung des Mythos von Narziss und Echo und deren Rezeption plädiert Spivak dafür, die Figur von Echo als eine Möglichkeit zu interpretieren, eine Wahrheit auszusprechen, ohne dies zu beabsichtigen.115 Echo würde damit zu einer Figur der vorauslaufenden Zukunft, die noch nicht geschriebene Geschichte ist.116 Im Sinne des Untersuchungsgegenstandes, um den es hier gehen soll, heißt das, dass es auch eine ethische Verantwortung

                                                             110 Siehe zu dieser Anforderung an die Religionswissenschaft auch VOLKHARD KRECH, Wohin mit der Religionswissenschaft? Skizze zur Lage der Religionsforschung und zu Möglichkeiten ihrer Entwicklung, in: ZRGG 58 (2,2006), 97–113, hier: 112f. 111 GAYATRI SPIVAK, Kritik, 27. 112 Siehe EDWARD SAID, Orientalismus, 24. 113 Siehe RAYMOND WILLIAMS, The Long Revolution, London 1961, 66–71. 114 Siehe hierzu ROMAN HORAK/ MONIKA SEIDL, Raymond Williams – towards cultural materialism: an introduction, in: Monika Seidl/ Roman Horak/ Lawrence Grossberg (Hg.), About Raymond Williams, New York 2010, 1–17. 115 Siehe GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK, Echo (1993), in: Donna Landry/ Gerald MacLean (Hg.), The Spivak Reader. Selected Works of Gayatri Chakravorty Spivak, New York/ London 1996, 175–202, hier: 183. 116 Siehe EBD., 184.

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gibt, scheinbar harmlose Texte zu lesen und auf koloniale und imperiale Ermöglichungsfiguren hin zu untersuchen.117 Auf der anderen Seite kann jedoch der Begriff der Prä-Emergenz dazu dienen, in den Texten Potenziale zu entdecken, die auf einen möglichen neuen Umgang mit Fragen der Alterität und der Krise der Repräsentation im 21. Jahrhundert verweisen und ebenfalls als in diesen Texten angelegt erscheinen.118 Konkret soll nun in einem weiteren Schritt deutlich gemacht werden, inwiefern die historisch-kritische Methode, die innerhalb der deutschen alttestamentlichen Wissenschaft um 1800 entstanden ist, sich der Dynamik jener heißen Zonen des Kontakts zu verdanken hat. Es soll gezeigt werden, dass die hier beschriebenen theoretischen Zugänge zur Geschichtsschreibung sowohl dem geschilderten conceptual lock der alttestamentlichen Forschung gerecht werden, als auch dabei helfen, bisher kaum berücksichtigte Fragestellungen zu Wesen, Umfang und diskursiver Verortung des deutschen Kolonialismus in die Forschungsgeschichte der historisch-kritischen Methode und ihres Nachlebens einzutragen.

                                                             117 Für die ethische Verantwortung siehe auch GAYATRI SPIVAK, Kritik, 27. 118 In diesem Sinne spricht Raymond Williams auch von Prä-Emergenz, wenn er versucht, Ahnungen von sich abzeichnenden Gegenkulturen vor dem Hintergrund einer umfassenden Hegemonie des Kapitalismus aufzuzeigen. Siehe RAYMOND WILLIAMS, Marxism and Literature, Oxford 1977, 126.

4.

Provincialising Europe in Action. Über die Herausbildung der Formationsregeln alttestamentlicher Wissenschaft im Grenzgebiet

Der Titel des Kapitels verdankt sich einem bekannten Diktum des postkolonialen Geschichtswissenschaftlers Dipesh Chakrabarty, der in mehreren Aufsätzen vehement eine Provinzialisierung Europas eingefordert hat.1 Nicht länger als unhinterfragtes Subjekt aller partiellen Geschichten, sei es in Abgrenzung oder Affirmation, sondern als provinziell, historisch kontingent und kontextuell gebunden solle die Geschichte Europas geschrieben werden. Eine Forderung, die so oder so ähnlich nicht nur aus Indien, sondern auch von afrikanischen Intellektuellen erhoben wird.2 Doch wie genau schreibt sich nun eine postkoloniale Geschichte? Rochona Majumdar verweist in ihrem Buch mit dem sprechenden Titel Writing Postcolonial History (2010) auf den französischen Philosophen Etienne Balibar.3 Dieser hat in Europa den postkolonialen Kontinent par excellence entdeckt und macht die Grenze als jenen Ort stark, an dem sich politisch-ökonomische und symbolische Fragen verdichten und als Ausdruckspunkt des kollektiven Imaginären fungieren.4 Auch der brasilianische postkoloniale Theologe Vítor Westhelle deutet Grenzen als Fenster zur Welt.5 Seit Homi Bhabhas theoretischen Untersuchungen zum Begriff der Hybridität in Die Verortung der Kultur (2002) hat sich ein Verständnis der Grenze als Ausgangspunkt für Hybridität etabliert.6 In diesem Kapitel wird es also um Grenzgänge gehen.                                                              1 2

3 4 5 6

Siehe dazu DIPESH CHAKRABARTY, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. Siehe hierzu etwa ACHILLE MBEMBE, On the Postcolony, Berkeley u.a. 2001; Den angesprochenen Sachverhalt formuliert Mbembe prägnant wie folgt: „Dieses Buch hätte ich gerne in der Art eines Stroms mit zahlreichen Zuflüssen geschrieben, während die Geschichte und die Dinge sich uns zuwenden und Europa nicht mehr das Gravitationszentrum der Welt bildet. Das ist in der Tat das Geschehen oder die Grunderfahrung unseres Zeitalters.“ (ACHILLE MBEMBE, Kritik der schwarzen Vernunft. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Berlin 2014, 11); KUAN-HSING CHEN, Asia as Method: Toward Deimperialization, Durham 2010. Siehe ROCHONA MAJUMDAR, Writing Postcolonial History, London 2010, 14. Siehe ETIENNE BALIBAR, Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Bonn 2005, 21. Siehe VÍTOR WESTHELLE, After Heresy. Colonial Practice and Post-Colonial Theologies, Eugene 2010, 12f. Homi Bhabha stellt seinem Buch ein Zitat von Martin Heidegger voraus: „Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.“ (MARTIN HEIDEGGER, Bauen-Wohnen-Denken, in: Ders., Vorträge und Aufsätze. Teil II, Pfullingen 1967, 29.) Siehe

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An einem der berühmtesten Grenzgänger innerhalb der neueren deutschen Gegenwartsliteratur lässt sich die Ambivalenz des 19. Jahrhunderts noch einmal exemplarisch aufzeigen: Die Rede ist von Sir Richard Francis Burton, dem Protagonisten des Romans Der Weltensammler (2006) Ilija Trojanows. Der Titel des Romans macht auf die Ambivalenz des westeuropäischen Umgangs mit anderen Traditionen und Kulturen aufmerksam: Dem Sammeln und Katalogisieren wohnt ein Moment der Herrschaft inne, es steht aber auch für eine Neugierde und Bereitschaft, sich auf das Unbekannte einzulassen. In einer Art Quellentext zu seinem Roman äußert sich Trojanow über das bleibende Erbe des 19. Jahrhunderts wie folgt: Das 19. Jahrhundert ist in hohem Maße gegenwärtig. Viele unserer Vorstellungen von Differenz - bezogen auf fremde Länder und Kulturen - wurden damals geformt. Wenn wir heute über Bräuche oder Stämme oder Kasten sprechen, denken wir innerhalb von Paradigmen – oder widersetzen uns ihnen –, die zu Lebzeiten von Richard Francis Burton geprägt wurden. Wenn wir über Universalismus oder Relativismus diskutieren, führen wir einen der dominanten Dispute des 19. Jahrhunderts fort. Wir sind weiterhin konditioniert von der Weltsicht des imperialen Zeitalters (wie selbst ein kursorischer Blick in die Medien und ihre Berichterstattung über Indien, Arabien und Afrika aufzeigt), weil wir sie nie umgeworfen, sondern nur korrigiert haben. Und heute, da imperiale Positionen mit einer frischen Frechheit bezogen werden und manch ein Intellektueller sich beeilt, sie mit seiner Bildung abzufüttern, ist es lehrreich, nachzuvollziehen, wie das ‚viktorianische Archiv’ gefüllt wurde, von Männern – und einigen wenigen Frauen – wie Richard Burton.7

Nicht nur Meinungen lassen sich recht einfach auf ihre Entstehungskontexte im 19. Jahrhundert zurückführen, wie in dem Zitat deutlich ausgesagt wird, auch die Etablierung bestimmter wissenschaftlicher Praktiken und Wissensordnungen lässt sich entsprechend einordnen. Jürgen Osterhammel moniert in der Debatte um Postkolonialismus, dass es nicht ausreiche, Beziehungen und Austauschprozesse zu konstatieren, sondern es darum gehen müsse, aufzuzeigen, wo sich echte Wissenstransfers im Sinne des „Einbau(s) von angeeignetem Wissen in eigene Weltdeutungs- oder Anwendungsstrukturen“ nachweisen ließen.8 Der Weltensammler eignet sich deshalb vorzüglich als eine Chiffre für die intellektuellen Fähigkeiten und Leistungen der von mir untersuchten Epoche, in dem Sinne, dass das Set aus Reisen, Berichten über Reisen, Philologie und Übersetzungen, das Burton meisterhaft beherrschte, sich im Deutschland um 1800 zu voller Blüte entwickelte. Dies ist nun keine neue Einsicht, sondern die Suche nach der Struktur innerhalb des Raums des Wissens und dem

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HOMI BHABHA, Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen 2000, 1. ILIJA TROJANOW, Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton, München 2008, 16. Siehe JÜRGEN OSTERHAMMEL, Welten des Kolonialismus im Zeitalter der Aufklärung, 26.

Provincialising Europe in Action

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„positive[n] Unbewußte[n] (kursiv im Original, S.W.) des Wissens“9 findet sich schon bei Michel Foucault in seiner Untersuchung Die Ordnung der Dinge (1974) oder den wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten Wolf Lepenies. Der Begriff des ‚Unbewußten des Wissens’, das Foucault zu enthüllen trachtet, verweist auf „eine Ebene, die dem Bewußtsein des Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschaftlichen Diskurses ist“10. Nicht die „Furchen auf dem hellen Antlitz des Wissens“11 nachzuzeichnen, um eine weitere Metapher Foucaults zu bemühen, soll im Folgenden geleistet werden, sondern vielmehr soll eine Tiefenstruktur des Wissens gehoben werden. Dazu bedarf es nicht der bloßen Aufzählung dessen, was an Neuem innerhalb einer Epoche hinzugekommen ist, oder einer Schilderung von gegenseitigen Beeinflussungen, sondern es geht um „Bedingungen und in der Zeit gebildete[...] Apriori“12. Ein solches Apriori kann definiert werden als: „[...]das, was in einer bestimmten Epoche in der Erfahrung ein mögliches Wissensfeld abtrennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erscheinen, definiert, den alltäglichen Blick mit theoretischen Kräften ausstattet und die Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird.“13

Wie Foucault über die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Wissenschaftszweigen zu einer Beschreibung der Perspektivwechsel und der erwähnten Tiefenstruktur gelangen kann, so lässt sich die Fragerichtung auch für eine kritische Untersuchung der Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments fruchtbar machen. Als besonders weiterführend bietet sich der Begriff der Taxinomia universalis an, die Foucault bei Linné ihren Ausgangspunkt nehmen lässt und die auf das umfassende System des Ordnens und Kategorisierens zurückverweist, das bereits in den Anmerkungen zu Richard Burton angeklungen war.14 Die von Glenn Most für die Altertumswissenschaften in mehreren Kolloquien zwischen 1995 und 1999 in Heidelberg bearbeiteten klassischen Grundtätigkeiten, namentlich Sammeln von Fragmenten, Edition von Texten, Verfassen von Kommentaren, Historisierung und Lehre, weisen in einem der alttestamentlichen Forschung benachbarten Fachgebiet auf eben jene Praktiken hin, die nun genauer untersucht werden sollen. Die „Rückkehr zu den Traditionen einer verehrungswürdigen Vergangenheit“15 sollte in jenem Fall, in den Wor-

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MICHEL FOUCAULT, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 222012, 11. EBD., 11f. EBD., 294. EBD., 261. EBD., 204. Siehe EBD., 113. Edward Said spricht für den Orientalismus von einem „Fundus von theoretischen und praktischen Regeln“. Siehe EDWARD SAID, Orientalismus, 15. HANS ULRICH GUMBRECHT, Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt a. M. 2003, 14.

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Provincialising Europe in Action

ten des zum Fachkongress hinzu gerufenen Literaturwissenschaftlers Hans Ulrich Gumbrecht, „Anregungen und Orientierungen“16 für das weitere Gedeihen des Faches bieten, eignet sich jedoch in unserem Fall auch vorzüglich zu einer kritischen Reflexion auf die Metatheorie der Herausformung von Kategorien und Wissensformen. Oder um eine andere verwandte Wissenschaft zu bemühen, spricht Johannes Fabian in einer kritischen Untersuchung zahlreicher ethnologischer Reiseberichte davon, dass „eine Disziplin, um sich zu sich selbst kritisch zu verhalten, eine Geschichte nicht nur ihrer Ergebnisse, sondern auch ihrer Suchverfahren, das heißt ihrer Praktiken der Wissensproduktion und -präsentation, braucht.“17

Um noch ein letztes Mal den Zusammenhang zu Foucault herzustellen, soll im nun Folgenden die historisch-kritische Forschung zum Alten Testament als eine Herausbildung von ‚Formationsregeln’ deutlich gemacht werden.18

4.1

Macht und Methode: Die historisch-kritische Methode als Problem „Kritischer müßten mir die Historisch-Kritischen sein.“ Karl Barth 19

Das berühmte Diktum Karl Barths richtet sich deutlich gegen eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Römerbrief, die meint, eine standortunabhängige Auslegung, meist philologischer Art, bieten zu können. Bereits im Vorwort zur ersten Auflage seines Römerbriefkommentars hatte Karl Barth deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich lieber den Vorwurf des Biblizismus einfangen möge, als an der Aufgabe des Verstehens zu scheitern.20 Karl Barth ging es wohl mit seiner Einlassung um „die Sache selbst“, wie er wenig später auch formuliert. Nichtsdestotrotz ist der Faden, der von Barth mit seinem Hinweis auf den Standort der Forscher*in gesponnen worden ist, vielfach aufgenommen worden.21 Kommen wir zurück zur Metapher der „Grenze“, die sich als wissenschaftsgeschichtlich besonders produktiv erwiesen hat22, so zeigt sich,

                                                             16 EBD., 14. 17 JOHANNES FABIAN, Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München 2001, 27. 18 Siehe hierzu v.a. MICHEL FOUCAULT, Archäologie des Wissens, 61–103. 19 KARL BARTH, Der Römerbrief (2), Zürich 1922, XII. 20 Siehe EBD., V. 21 Die historisch-kritische Methode wird in ihrer Bedeutung und Hermeneutik besonders ab den 1960er Jahren zum Thema kritischer Reflexion. Siehe z.B. schon GERHARD EBELING, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, in: Ders., Wort und Glaube, Tübingen 1960, 149. 22 Vergleiche hierzu die Darstellung bei UTE DANIEL, Kompendium Kulturgeschichte, 361.

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dass es für Barth vor allem um die Grenze zwischen dem Menschen und Gott geht, die unter allen Umständen gewahrt bleiben müsse. Ein Blick auf neuere exegetische Arbeiten zeigt, dass mehr und mehr die kulturellen Grenzen in den Blick kommen, die sich der Wirkungsweise der Imperien verdanken.23 Greifen wir die emphatische Forderung Gavin Floods, die im ersten Kapitel bereits angeklungen ist, noch einmal auf, so steht Religionswissenschaft vor der Aufgabe, eine Infragestellung ihrer zentralen Vorannahmen, der Herausbildung der Kategorien und dem Modus des Wissenserwerbs zu bieten. Metatheorie ist demnach insbesondere dort gefragt, wo ein Praxisbezug hergestellt wird. So wendet sich Gavin Flood der Vermittlung des Wissens über die ‚Weltreligionen’ zu und kritisiert einen phänomenologischen Zugang, wie ihn Mircea Eliade populär gemacht hat.24 Die Analogie zur historisch-kritischen Methode innerhalb der Wissenschaft des Alten Testaments ist hoffentlich deutlich geworden. Zwar wird sie in Einführungswerken als „wichtigste[r] Schlüssel zur Erschließung der ‚Architektur’ und der Bedeutung der biblischen Texte“25 gewürdigt, doch steht sie mit einer ähnlichen Metaphorik genauso im Zentrum kritischer Diskussionen wie die Religionsphänomenologie. So fragen Caroline Van der Stichele und Todd Penner mit den Worten der feministischen Aktivistin Audre Lorde, ob die historisch-kritische Methode als ein „master tool“ hilfreich dabei sein kann, das Haus des „Masters“ einzureißen.26 An den Figuren Adolf von Harnacks und Ernst Troeltschs versuchen sie aufzuzeigen, wie sich im Rekurs auf eine historisch-kritische Betrachtungsweise eine Universalisierung der eigenen Partikularität entdecken lässt, die der Reifizierung intersektionaler Machtansprüche diene.27 Von Lazare S. Rukundwa wird das Unbehagen an der historisch-kritischen Methode so auf den Punkt gebracht, dass dahinter eine fragwürdige Arbeitsteilung zu stehen scheine, die sich darin ausdrücke, dass die Bibel den Text bereit stelle, der Westen die Hermeneutik und die Methoden und für den Rest der Welt das Lesen bleibe.28 Jon D. Levenson schließlich hat

                                                             23 Siehe zum Beispiel den Beitrag ROBERT P. CARROLL, Removing an Ancient Landmark: Reading the Bible as Cultural Production, in: Martin O’ Kane (Hg.), Borders, Boundaries and the Bible, Sheffield 2002, 614. 24 Siehe GAVIN FLOOD, Beyond Phenomenology, 6. 25 UWE BECKER, Exegese des Alten Testaments. Ein Methoden- und Arbeitsbuch, Tübingen 2005, 2. 26 Siehe CAROLINE VAN DER STICHELE / TODD PENNER, Mastering the Tools or Retooling the Masters? The Legacy of Historical-Critical Discourse, in: Dies. (Hg.), Her Master’s Tools? Feminist and Postcolonial Engagements of Historical-Critical Discourse, Atlanta 2005, 129. 27 Siehe EBD., 9. Der gleiche Vorwurf in Bezug auf Troeltsch und seine Verteidigung der historisch-kritischen Methode findet sich auch bei PAUL S. CHUNG, Hermeneutical Theology and the Imperative of Public Ethics. Confessing Christ in Post-Colonial World Christianity, Eugene 2013, 170. 28 Siehe LAZARE S. RUKUNDWA, Postcolonial Theory as a hermeneutical tool for Biblical reading, in: HTS 64 (1,2008), 339351, hier: 344.

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in einem umfangreichen Werk im Spannungsfeld von jüdischen und christlichen Ansprüchen innerhalb der Exegese der Hebräischen Bibel die historischkritische Methode auf die ihr zugrundeliegende „community of interpretation“ verwiesen, die sich in einem zunehmenden Pluralismus mit anderen Auslegungsgemeinschaften und deren Traditionen verständigen müsse.29 Doch seit den 1970er Jahren gibt es einige Bewegung im Streit um die Interpretation der Bibel und lassen sich neben der historisch-kritischen Methode der Textexegese noch zahlreiche andere Herangehensweisen sichtbar machen. Dies lässt manche bereits von einer „unüberschaubaren Pluralität“ sprechen.30 Ausgelöst wurde diese Pluralität und Interdisziplinarität auch dadurch, dass mehr und mehr Stimmen von den sogenannten Rändern des Diskurses nicht nur eingefordert haben, ihre eigene Sicht zu Gehör bringen zu dürfen, sondern darüber hinaus grundsätzliche Anfragen an die Struktur des wissenschaftlichen Diskurses, aber auch dessen Methoden gestellt haben.31 Der methodische Wettstreit, der sich daraus entwickelt hat, wird von den einen als Prozess der Dekolonisierung und Befreiung aus der Klammer des Eurozentrismus gefeiert32, von anderen dagegen als eine Zunahme der Kakophonie in Frage gestellt33. Innerhalb seines Modells dreier unterschiedlicher Leitmodelle34, innerhalb derer sich der geschilderte Wettstreit um die Deutungshoheit abspielt, tritt bei

                                                             29 Siehe JON D. LEVENSON, The Hebrew Bible, the Old Testament, and Historical Criticism. Jews and Christians in Biblical Studies, Louisville 1993, 123. 30 Siehe FERNANDO F. SEGOVIA, Decolonizing Biblical Studies. A View from the Margins, New York 2000, 3. 31 Siehe EBD., 6. Darüber hinaus eine Vielzahl an Veröffentlichungen aus dem Bereich der postkolonialen Theologien. Beispielhaft seien nur genannt: R.S. SUGIRTHARAJAH, The Bible and Empire. Postcolonial Explorations, Cambridge 2005; R.S. SUGIRTHARAJAH, Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation; LAURA E. DONALDSON / KWOK PUILAN (HG.), Postcolonialism, Feminism & Religious Discourse, New York / London 2002; STEPHEN D. MOORE / FERNANDO F. SEGOVIA (HG.), Postcolonial Biblical Criticism. Interdisciplinary Intersections, New York / London 2005; CATHERINE KELLER/ MICHAEL NAUSNER/ MAYRA RIVERA (HG.), Postcolonial Theologies. Divinity and Empire, St. Louis 2004; FERNANDO F. SEGOVIA, Interpreting Beyond Borders (Hg.), Sheffield 2000. Ein Überblick über exegetische Strömungen innerhalb der postkolonialen Bibelwissenschaften im Hinblick auf die hebräische Bibel findet sich bei ROLAND BOER (Hg.), Postcolonialism and the Hebrew Bibel. The Next Step, Atlanta 2013. Eine deutliche Abgrenzung soll hier jedoch gegen die Stimmen vorgenommen werden, die ebenfalls eine Kritik an den Methoden der historisch-kritischen Methode einüben, dabei jedoch völlig unkritisch mit den weltweiten Machtverhältnissen umgehen und in das Schema derer zu passen scheinen, die in den USA als „angry white men“ bezeichnet werden: Vergleiche dazu beispielhaft: GERHARD MAIER, Das Ende der historischkritischen Methode, Wuppertal 51984; KLAUS BERGER, Die Bibelfälscher. Wie wir um die Wahrheit betrogen werden, München 2013. 32 Siehe FERNANDO F. SEGOVIA, Decolonizing Biblical Studies, 7. 33 Siehe etwa JOHN J. COLLINS, The Bible after Babel, passim. 34 Hier nicht zu verstehen als eine kanonische Aufsplitterung, sondern als eine Übertra-

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Fernando F. Segovia die historisch-kritische Methode neben „literary criticism“ und „cultural criticism“.35 Unter die historisch-kritische Methode werden dann Formkritik, Literarkritik, Redaktionskritik und religionsgeschichtlicher Vergleich subsummiert. Ungeachtet der Unterform der Kritik, die eingeübt werde, ließe sich Segovia zufolge die Grundtendenz beobachten, dass der Text eine radikale Kontextualisierung erfahre, während der Leser als universell und objektiv angesehen werde. „Literary criticism“ lasse sich dann als eine modernistische Verschiebung innerhalb des Spannungsgefüges von Text, Autor und Leser verstehen. Genauer gesagt als eine Akzentverlagerung weg vom Autor, der hinter den biblischen Texten steht und hin zu einer stärkeren Betonung des Textes bei gleicher Befangenheit gegenüber dem Leser, wie sie für die historisch-kritische Methode angenommen worden war. Für das dritte ‚Fächer-Modell’, den „cultural criticism“, arbeitet Segovia heraus, dass hier der Text als eine Brücke funktioniere, unter Zuhilfenahme von soziologischen und anthropologischen Theorien, zur Welt des Autors. Dass Segovia bei dieser Unterteilung der verschiedenen Interpretationsmodi nicht mit dem feinsten Werkzeug des Vergleichs ans Werk geht, räumt er freimütig selbst ein, dies soll uns hier auch nicht weiter beschäftigen. Vielmehr soll es über diese erste flächige Problemanzeige hinaus nun darum gehen, den Verstrickungen in die einzelnen Schwierigkeiten der historisch-kritischen Methode en détail nachzugehen. Was bereits in der Einleitung angeklungen war, taucht hier wieder auf im Hinblick auf die historisch-kritische Methode, dass sie nämlich weniger als eine zu hinterfragende und auf ihre Vorannahmen kritisch zu untersuchende Wissenschaft angelegt scheint, als vielmehr als eine praktische Wissenschaft fungiere.36 Die wichtigsten Schlagwörter der historisch-kritischen Methode scheinen die Objektivität, das Verhindern eines Hineinlesens in den Text und die vergleichbare und nachvollziehbare Methodik der Untersuchung zu sein. Als ‚Kabinettstück’ einer solchen Hochschätzung der historisch-kritischen Methode lässt sich, um das bisher theoretisch entfaltete zu illustrieren, der Forschungsbericht des Neutestamentlers Helmut Merkel über die Jesusforschung nach 1985 lesen.37 So wird eine Arbeit ausdrücklich gelobt, da es sich „um eine streng historisch-kritische Arbeit [handelt], die keinem Trend anhängt“38, eine andere getadelt, da sie ein „Musterbeispiel für Eisegese“39 sei. Die kritischen Anmerkungen zu allen Arbeiten, die sich auf Theorien von Intertextualität beziehen und den Anschein eines sozialwissenschaftlichen Zugangs zu den Tex-

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gung der englischen Metapher von „umbrella model of interpretation“, um die Auffächerung innerhalb der einzelnen Modelle angemessen berücksichtigen zu können. Vergleiche FERNANDO F. SEGOVIA, Decolonizing Biblical Studies, 8ff. Siehe EBD., 11. Siehe HELMUTH MERKEL, Zwei Jahrzehnte Jesusforschung nach 1985 (Teil I), in: ThR (2013), 125154.265307.397430. EBD., 294. EBD., 406.

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ten erwecken, illustrieren die Ausführungen Segovias über unterschiedliche Interpretationsmodi aufs Vorzüglichste. Als Grund für den Zusammenbruch der Hegemonie der historisch-kritischen Methode in den 70er Jahren führt Segovia neben den sich wandelnden Fragestellungen und Anforderungen der Gesellschaft an die biblische Wissenschaft auch den inner-diskursiven Wandel von der Redaktionsgeschichte zur Kompositionskritik an.40 Als positives Gegenüber zu diesen drei verschiedenen Interpretationsmodi entwickelt Segovia eine postkoloniale Bibellektüre, die sich auf die Ergebnisse der „cultural studies“ stützt.41 Allerdings erscheinen die impliziten und expliziten Schlüsse Segovias, dass bestimmte Leseweisen, nämlich die von kleinen christlichen Gemeinschaften, sogenannten Basisgemeinden, als gleichberechtigt neben die Auslegung durch gebildete Leserinnen und Leser treten müssen, als etwas vereinfachend und für die weitere kritische Diskussion der historisch-kritischen Methode wenig zielführend. In das grob skizzierte Gefüge klar abgegrenzter großflächiger Interpretationsmodi bringt Frederick William Dobbs-Allsopp mehr Dynamik hinein, in dem er auf die ursprüngliche Intention der historisch-kritischen Methode verweist, nicht nur eine Religionsgeschichte zu konstruieren, sondern über literarische Texte zu informieren.42 In Auseinandersetzung mit der amerikanischen Diskussion um einen „New Historicism“43 plädiert er nicht für eine Abkehr von der historisch-kritischen Untersuchung, sondern stattdessen dafür, sich ihr in ideologiekritischer und theoretisch durchdachter Weise stärker zuzuwenden.44 Was der zentrale Unterschied zwischen einem ‚alten’ Historismus und einem neueren Zuschnitts ausmacht, ist jedoch vor allem die grundlegende Einsicht in die politische Dimension jeglicher Aussage über die Vergangenheit. Dem Mythos von einem bloß antiquarischen Erschließen der Vergangenheit durch das Studium alter Texte wird entgegengehalten, dass es stets auch um die Fragen von Macht, Unterdrückung und Dominanz gehe, sowie dass die Rekonstruktion und Darstellung der Vergangenheit, ob gewollt oder nicht, Gegenstand kulturpolitischer Debatten sei.45 Es gehe also nur um den Grad der Aufmerksamkeit für den politischen Aspekt der historisch-kritischen Diskussion, nicht um den Fakt an sich, wie Dobbs-Allsopp unter Rekurs auf Lee Patterson und dessen Beiträge zu einer kritischen Rekonstruktion der Vergangenheit herausarbeitet.46

                                                             40 Siehe FERNANDO F. SEGOVIA, Decolonizing Biblical Studies, 16. 41 Siehe EBD., 34ff. 42 Siehe F.W. DOBBS-ALLSOPP, Rethinking Historical Criticism, in: BibInt 7,3 (1999), 235271, hier: 236. 43 Siehe dazu STEPHEN D. MOORE, History after Theory? Biblical Studies and the New Historicism, in: BibInt 5,4 (1997), 288298. 44 Siehe F.W. DOBBS-ALLSOPP, Rethinking, 245. 45 Siehe EBD., 254. 46 Siehe EBD., 257.

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Martti Nissinen setzt sich als Alttestamentler mit den angebrachten Vorbehalten gegenüber dem Methodenkanon der historisch-kritischen Methode auseinander und argumentiert dafür, dass es zahlreiche Gründe für einen historischen Zugang zum Alten Testament gebe, jedoch einige Desiderata auf dem Weg zu einem kritischen historischen Zugang bestünden.47 Als solche greift er noch einmal die Konstruktion jeglicher geschichtlicher Darstellung und die Notwendigkeit der Interpretation heraus, die dennoch manche Annahmen als historisch plausibler, andere wiederum als höchst spekulativ herausstellen könne. An der hier nur angerissenen Diskussion wird deutlich, dass gerade die historisch-kritische Methode selbst historisiert werden muss und sie sich weniger als Shibboleth politisch motivierten Lagerdenkens innerhalb der Disziplin des Alten Testaments, denn vielmehr als faszinierender Untersuchungsgegenstand für eine religionswissenschaftliche Studie deutscher Wissenschaftskultur um 1800 vor dem Hintergrund kolonialer Kontaktzonen eignet. Deshalb möchte ich nun einige Elemente der Wissensproduktion um 1800, die eng mit der Entstehung der historisch-kritischen Methode verbunden sind, vorstellen und in einen postkolonialen Analyserahmen setzen.

4.1.1 Wissenschaft in der Kontaktzone: Über das Genre der Reisebeschreibung Im Jahr 1908 entdeckte Richard Pietschmann in den Dänisch Königlichen Archiven in Kopenhagen eine bemerkenswerte Schrift. Es handelte sich um ein zweisprachiges Konvolut von über 1200 Seiten und weist den Inka Felipe Guaman Poma de Ayala als Autor aus. Der auf Spanisch und Quechua verfasste Brief an den König Philipp den III. von Spanien datiert aus dem Jahr 1613. Dies ist einer der wenigen Nachweise einer Gegengeschichte und alternativen Zeitbeschreibung aus der Feder Einheimischer im Kontext dessen, was die Anthropologin Mary Pratt mit dem Begriff der ‚contact zone’ bezeichnet.48 Die Zahl der europäischen Reiseberichte über jene Begegnung dürfte um ein Vielfältiges höher liegen, kam es doch seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts zu einem großen Interesse an fremden Welten, das sich als Genre in verschiedenen Gattungen wie Reiseromane, wissenschaftliche Reiseberichte, Korrespondenzen und Magazine niedergeschlagen hat. Besonders zur Zeit um 1800, die denn auch als „zweite[s] Entdeckungszeitalter“ bezeichnet werden kann, führte das Interesse an fremden Kulturen zu zahlreichen neu entstehenden aka-

                                                             47 Siehe MARTTI NISSINEN, Reflections on the „Historical Critical“ Method: Historical Criticism and Critical Historicism, in: Joel M. LeMon/ Kent Harold Richards (Hg.), Method Matters. Essays on the interpretation of the Hebrew Bible, Leiden/ Boston 2010, 479-504. 48 Siehe hierzu MARY PRATT, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London / New York 1992.

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demischen Disziplinen und literarischen Werken, die sich mit Alterität auseinandersetzten.49 An diese asymmetrische Begegnung in der Kontaktzone lassen sich vielfältige Fragen stellen: „Wie haben Reise- und Entdeckungsbeschreibungen den ‚Rest der Welt’ für eine europäische Leser*innenschaft zu bestimmten Zeiten innerhalb Europas Expansionsbestreben konstruiert? Wie wurde dadurch Europas komplexes Selbstbild in Abgrenzung zu einem Anderen, das als ‚Rest der Welt’ beschrieben werden konnte, konstruiert? Und wie kodieren und legitimieren solche Beschreibungssysteme das Streben nach ökonomischer Ausbeutung und imperialer Verwirklichung? Wie untergraben sie diese?“50

Die konstruktive Rolle von Reisebeschreibungen wird in diesem Zitat deutlich herausgehoben. Die Einsicht, dass Reisebeschreibungen als zentral bei der Konstruktion eines europäischen Selbstverständnisses im Rahmen des Imperialismus anzusehen sind, bildet eine der Grundannahmen postkolonialer Studien.51 Doch gibt es innerhalb des Feldes der Reisebeschreibung auch vielfache Ambivalenzen, Paradigmenwechsel und Abbrüche bestimmter Traditionen des Austauschs.52 Dies streicht auch Russel A. Berman heraus, der sein Buch Enlightenment or Empire (1998) mit einer kurzen Beschreibung verschiedener Reisebeschreibungen einleitet. Er wendet sich zwei unterschiedlichen Beschreibungen der zweiten Südseereise des britischen Kapitäns James Cook zu, nämlich dessen eigener und derjenigen des jungen Georg Forster53, der zusammen mit seinem                                                              49 Siehe dazu STEFAN HERMES/SEBASTIAN KAUFMANN, Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800. Zur Einführung, in: Dies.(Hg.), Der ganze Mensch – Die ganze Menschheit. Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800, Berlin/Boston 2014, 1-16, hier: 1f. 50 „How has travel and exploration writing produced ‚the rest of the world’ for European readership at particular points in Europe’s expansionist trajectory? How has it produced Europe’s differentiated conceptions of itself in relation to something it became possible to call ‚the rest of the world’? How do such signifying practices encode and legitimate the aspirations of economic expansion and empire? How do they betray them?“ Siehe: MARY PRATT, Imperial Eyes, 5. 51 Siehe hierzu auch schon EDWARD SAID, Orientalismus, 141. 52 Siehe hierzu beispielhaft JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Entzauberung Asiens. Bereits Urs Bitterli hat auf zahlreiche Verschiebungen hingewiesen. Siehe URS BITTERLI, Die ‚Wilden’ und die ‚Zivilisierten’.; URS BITTERLI (HG.), Die Entdeckung und Eroberung der Welt. Dokumente und Berichte, 2 Bände, München 1980-1981. 53 Bereits als 15jähriger hatte Georg Forster einen beträchtlichen Teil des Familieneinkommens mit der Übersetzung von Reisebeschreibungen verdient und dabei unter anderem die nordamerikanische Reisebeschreibung Peter Kalms und die Beschreibung der Chinareise von Peter Osbeck ins Englische übertragen. Stark beeindruckte ihn jedoch vor allem ein anderes Buch, das er übersetzte, nämlich die Reisebeschreibung Louis-Antoine de Bougainvilles, die als die erste wissenschaftliche Reiseexkursion gesehen werden kann und einem gänzlich anderen wissenschaftlichen Anspruch zu genügen hatte. Siehe ALOIS PRINZ, Die Lebensgeschichte des Georg Forster, Frankfurt a. M. und Leipzig 2008, 47; Siehe WOLFGANG GRIEP, Annäherungen. Über Reisen und Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Claus-Volker Klenke (Hg.),

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Vater den berühmten Kapitän begleitete. Anhand der Differenzen innerhalb der Beschreibungen des gleichen Erlebnisses, gelingt es Berman einen grundsätzlichen Unterschied in der Deutung kultureller Alterität herauszuarbeiten, den er als Eigenart eines deutschen Kolonialismus identifiziert.54 Reiseberichte erfreuten sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts einer wachsenden Beliebtheit, nicht nur die romanhaften Aufarbeitungen ferner Länder, wie sich am Erfolg von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) oder Johann Gottfried Schnabels Felsenburg (1731) zeigen lässt.55 Eine umfangreiche Sammlung der unterschiedlichsten Reiseberichte, sowohl fremder, als auch eigener, legte Johann Joachim Schwabe mit seiner Allgemeine Historie aller merckwürdigen Reisen (1747–1774) vor. Nicht bloß Zusammenstellungen der interessantesten Reiseberichte, sondern auch praktische Hinweise für alle, die selbst zu Reisen aufbrechen wollten, bot das Hamburger Wochenblatt Der Reisende (1782). Im Verlauf des 18. Jahrhunderts schwoll der Zustrom an Neuigkeiten aus anderen Weltteilen so sehr an, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts an William Jones und seine Asiatick Researches angelegte Magazine gab, die das allerneueste Material und bisher unveröffentlichte Informationen einem bildungshungrigen Publikum servierten. Hierfür ist für den deutschsprachigen Raum zu nennen: Das Asiatische Magazin (1806–1811), das Magazin für die Kunde und neueste Geschichte der Außer-europäischen Länder und Völker (1817–1818), sowie das von Johann Reinhold Forster gegründete Magazin von merkwürdigen neuen Reisebeschreibungen (1790–1828).56 Die gesellschaftliche Bedeutung der Reisebeschreibung und das Interesse an Nachrichten aus aller Welt lassen sich auch noch einmal an der Person Georg Forsters illustrieren: So werden Alexander von Humboldt und Georg Forster auf einer Europareise aufs vorzüglichste umsorgt und bewirtet – dank des aufregenden Namens Georg Forsters. Noch Jahre nach seiner Südseereise zehrte er von diesem Ruhm.57 Denn seine Reise um die Welt (1778) sorgte in Deutschland für eine wahre Pazifik-Begeisterung, die sich in zeitgenössischen Briefen, der Verkleidung von gutbürgerlichen Mädchen als Tahiterinnen und Ähnlichem beobachten lässt.58 Neben den Reiseberichten zählte auch die wissenschaftliche Korrespondenz zu den Wegen, über die Wissen über weiter entfernt liegende Weltteile nach Europa gelangen konnte. Die Wege der Korrespondenz lassen sich vielfach als ‚Kontaktnetze’ mit einzelnen Knotenpunkten

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Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Beiträge des internationalen Georg Forster-Symposiums in Kassel 1. bis 4. April 1993, Berlin 1994, 103-112, hier: 109f. Siehe RUSSEL A. BERMAN, Enlightenment or Empire. Colonial Discourse in German Culture, Nebraska 1998, 10. Siehe ALOIS PRINZ, Lebensgeschichte, 81. Siehe EBD., 191. Siehe EBD., 178. Siehe ANJA HALL, Paradies auf Erden? Mythenbildung als Form von Fremdwahrnehmung - der Südsee-Mythos in Schlüsselphasen der deutschen Literatur, Würzburg 2008, 107f.

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nachzeichnen.59 Für Deutschland lassen sich als wichtige Knotenpunkte die Gelehrten Schlözer und Michaelis in Göttingen, sowie zu Beginn des 19. Jahrhunderts Carl Ritter in Berlin nennen.60 Die breite gesellschaftliche Verankerung und die Dynamik der Neuerung, die mit der wissenschaftlichen Reisebeschreibung einhergeht, so wie der Fakt, dass sich Reiseberichte besonders als Haftpunkt für das koloniale Phantasma eigneten61, prädestinieren diese für eine genauere Untersuchung. Den letzten Punkt möchte ich noch einmal an einem kleinen Beispiel illustrieren: Der Vergleich von Bougainvilles Logbuch und seinem im Anschluss formulierten Reisebericht offenbart, dass eine prägnante Person, ein älterer, den Europäern skeptisch gegenüber stehender Tahitier, keine reale Person ist, der Bougainville je begegnet wäre, sondern ein fiktiver Charakter, der sich erst der späteren Reflexion in den veröffentlichten Reisetagebüchern verdankt. Die Vermutung liegt nahe, dass Bougainville seine eigene zivilisationskritische Selbstwahrnehmung einer als ‚Edler Wilder’ konstruierten Person in den Mund zu legen scheint. Und gerade diese fiktive Figur wird von Diderot als Vorbild für sein Supplément au voyage de Bougainville (1772) genutzt.62 Mehr noch, am Ende des 18. Jahrhunderts ist die Figur des weisen Ältesten, bereits so sehr kanonisiert, dass Schelling ausführt: „Der Gedanke von alten Vätern, welche die Erfahrungen ihres Lebens und die Sagen der Vorzeit in Versammlungen des Volkes, im Kreise der Jüngern oft wiederholen, ist nicht bloß ein dichterischer Gedanke (mit Verweis auf Homer, SW). Unter allen einfältigen Völkern finden wir Spuren dieser ehrwürdigen Sitte, überall sind es abgelebte Greise, die in den Versammlungen des Volks den ersten Sitz und die erste Stimme haben, und so oft wir ihre Stimme hören, so oft erinnern sie an Begebenheiten der vergangnen Zeit, lenken durch ihre Reden die Herzen des Volks und erfüllen alle mit Ehrfurcht und Achtung.“63

Tzvetan Todorov, der die Entdeckung Amerikas durch Colón als Parabel der Entdeckung des Anderen durch das Ich erzählt, arbeitet an dessen Reiseberichten heraus, dass diese sich nicht als ein Nebenprodukt, sondern fast schon als eigentlicher Zweck der Reise auffassen lassen können.64 Der Reisebericht rückt in seiner Darstellung in die Rolle eines perpetuum mobile insofern er aus sich heraus als Inspiration für weitere Reisen dient.

                                                             59 Siehe hierzu die Beschreibungen bei JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Entzauberung Asiens, 176-179. 60 Siehe EBD., 178. Vergleiche zur Wissenschaftsgeschichte auch PETER BURKE, Papier und Marktgeschrei, passim. 61 Siehe dazu SUZANNE M. ZANTOP, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland, 13ff. 62 Siehe ANJA HALL, Paradies, 88. 63 FRIEDRICH WILHELM JOSEPH von Schelling, Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt, in: Ders., Sämmtliche Werke. 1792-1797, hg. von K.F.A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856, 44-83, hier: 79. 64 Siehe TZVETAN TODOROV, Die Eroberung Amerikas, 22.

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Im Hinblick auf die Erforschung des Alten Testaments werde ich (1) die theoretischen Vorüberlegungen, Reisetaktik und Ertrag der ersten und einzigen deutschen Orientexpedition untersuchen, die in den Jahren 1763–1767 vor allem in den Jemen führte und von bereits erwähntem Johann David Michaelis angestoßen und vorbereitet wurde. (2) Das Ineinander von antiker Welt und außereuropäischen Völkern, Fremd- und Eigenkonstruktionen an Georg Forsters Bericht seiner Weltumseglung mit James Cook deutlich machen und (3) an Carsten Niebuhrs Bericht über seine Erlebnisse und Erfahrungen herausarbeiten, wie sich sein Astrolabium als Paradigma einer neuen Weltsicht und Etappe auf dem Weg zu hegemonialen Perspektiven auf den Orient deuten lässt.

4.1.2 Intellektuelle Autorität über den Orient. Die Philologie als deutsche Wissenschaft par excellence und der Vorrang der Mündlichkeit Neben den zahlreichen Reiseberichten waren es vor allem die vergleichenden Wissenschaften der Philologie, Religionswissenschaft, Anatomie und Jurisprudenz, die in den Worten Edward Saids zum „methodischen Stolz des 19. Jahrhunderts“ werden sollten und gleichzeitig die Grundlage des entstehenden Orientalismus bildeten.65 Nicht umsonst spricht Ernest Renan von der Philologie als der „exakten[n] Wissenschaft der Geistesgegenstände“ und vergleicht ihre Bedeutung mit derjenigen naturwissenschaftlicher Grundwissenschaften.66 Für Edward Said bildet die Philologie einen gewichtigen Teil jener tradierten und erneuerten Strukturen innerhalb der Orientalistik, die eine „Disziplin der systematischen Akkumulation [kursiv im Original; SW]“ entwickelte an deren Ende „eine tote oder verlorene orientalische Sprache zu rekonstruieren, letzten Endes nicht nur Teile des Orients selbst zu bergen, sondern auch mit Hilfe der wissenschaftlichen Planung den Boden für Armeen, Verwaltungen und Bürokratien zu ebnen“ 67

bedeutete. Dabei ist die Philologie untrennbar mit der modernen europäischen Universität und insbesondere der deutschsprachigen Wissenschaft verbunden.68 Die Entwicklung innerhalb der deutschsprachigen Philologie muss dabei im Wechselspiel und in Konkurrenz mit anderen ‚Nationalsprachen’ gesehen werden. Gerade an der Philologie lässt sich der Bedeutungszuwachs deutscher Wissenschaftler um 1800 aufzeigen und die Auswirkungen nationalen Denkens                                                              65 Siehe EDWARD SAID, Orientalismus, 142. 66 Siehe ERNEST RENAN, L’Avenir de la science. Pensée de 1848, Paris 41890, 141ff. Vergleiche EDWARD SAID, Orientalismus, 158. 67 EDWARD SAID, Orientalismus, 148. 68 Siehe MICHAEL C. LEGASPI, The Death of Scripture and the rise of biblical studies, Oxford 2010, 79.

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illustrieren. Den Ausdruck dieser Konkurrenz als auch die Wertschätzung der kreativen Leistung aller Übersetzung findet sich in einem Zitat aus einem Brief Novalis an A.W. Schlegel vom 30. November 1797. Darin heißt es: „Am Ende ist alle Poesie Übersetzung. Ich bin überzeugt, dass der deutsche Shakespeare jetzt besser als der englische ist.“69

Noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts musste sich die deutschsprachige Philologie im Konzert der Wissenschaftssprachen und -leistungen ganz eindeutig der englischsprachigen unterordnen.70 Und als einer der wichtigsten Lehrmeister der Philologie kann zur Mitte des Jahrhunderts der Niederländer Albert Schultens gelten, dem das Privileg zukommt, mit seiner Abhandlung Clavis mutationis elementorum, qua dialecti linguae hebraeae ac praesertim arabica dalectus aliquando ab hebraea deflectunt (1733) das Hebräische als eine semitische Sprache eingeordnet und um ihren Rang einer lingua sacra gebracht zu haben.71 Doch am Ende des 18. Jahrhunderts kann Johann Gottfried Eichhorn stolz zurückblicken und eine konsistente Geschichte deutschsprachiger Philologen und Bibelwissenschaftler aufzeigen, die mit Johann Albrecht Bengel, Johann Semler und Johann Jakob Griesbach ihren Anfang genommen hat.72 Eine zentrale Rolle spielten dabei zwei Gestalten, die sehr widersprüchlich agierten, sich teilweise auch als Antipoden verstanden und dennoch einiges gemeinsam hatten. Die Rede ist von Johann David Michaelis und Johann Gottfried Herder, die beide zu Beginn ihrer Karriere einen Wettbewerb mit einem Aufsatz über den Ursprung der Sprachen gewannen und sich bei der Suche danach vor allem den neueren ‚primitiven Kulturen’ zuwandten.73 Beide waren dabei weniger an den aktuellen asiatischen Kulturen interessiert, sondern sie begeisterten sich für das alte und ursprüngliche Asien: „[...] Herder, da er einfache und unverdorbene Kulturen bevorzugte und Michaelis weil er jene – und insbesondere die modernen Juden – als degeneriert und reformbedürftig wahrnahm. Beide waren fleißige Konsumenten der neuen orientalischen und orientalistischen Texte und stark beeinflusst von neuen Tendenzen innerhalb der Erforschung der klassischen Antike. Sie nahmen Französische und Englische Aufklärungsgedanken aktiv wahr, obwohl keiner der beiden die Deutschen als rückständig in der Produktion kritischen Wissens ansah.“74

                                                             69 NOVALIS, 109. Novalis an August Wilhelm Schlegel in Jena, in: Schriften, die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänze, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Band 4: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse, Stuttgart 21975, 237-238, hier: 237. 70 Siehe dazu JONATHAN SHEEHAN, Bible, 93-117. 71 Siehe HANS-JOACHIM KRAUS, Geschichte, 81f. 72 Siehe JONATHAN SHEEHAN, Bible, 114. 73 Siehe SUZANNE L. MARCHAND, German Orientalism in the Age of Empire, 38. 74 „ [...]Herder, because he preferred simple, unspoiled cultures, and Michaelis, because he thought them – and especially the modern Jews- fallen and in need of reform. Both were avid consumers of the new oriental and orientalists texts and were powerfully

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Beide Vorstellungen und die wissenschaftlichen Werke, die sich daraus ergaben, führten dazu, dass es zu einer folgenreichen Verschiebung innerhalb der Wahrnehmung des Orients kam: Die Idee, dass der Orient hauptsächlich philologisch zu erschließen sei, war geboren.75 Diese Einsicht führte zu fundamentalen Veränderungen innerhalb der Wissenschaft des Alten Testaments und beeinflusst die Disziplin bis heute. Deshalb möchte ich diese Veränderungen anhand der Wissenschaftsgeschichte schon einmal kurz anreißen. Johann David Michaelis ging es mit seinem Neuaufbruch innerhalb der Philologie vor allem darum, eine alte und tote Sprache aufs Neue zu beleben.76 Ein Aufbruch, der von Johann Gottfried Eichhorn als eine Revolution innerhalb der biblischen Wissenschaften gefeiert worden ist und der den Weg zu jenem Methodenset geebnet hat, welches als ‚Higher Criticism’ einen globalen Siegeszug antreten sollte.77 So mag es denn auch die Leistungen der deutschen Wissenschaftler nicht schmälern, dass eine erste umfassende Zusammenstellung, die sich auf die ausführlichen textkritischen Vorarbeiten stützte, die im 17. und 18. Jahrhundert vonstatten gingen, von Benjamin Kennicott herausgegeben wurde. Sein Vetus Testamentum Hebraicum cum variis lectionibus (1776-1780) wurde erst durch die Entdeckung der Qumran-Texte im 20. Jahrhundert erschüttert.78 Die Faustregeln für einen Umgang mit den Textzeugen und deren unterschiedliche Bewertung, die sich im 18. Jahrhundert heraus kristallisiert hatten, blieben jedoch weiterhin und eigentlich bis zum heutigen Tag in Geltung. Diese lauten prägnant zusammen gefasst: 1. Manuscripta ponderantur non numerantur; 2. Lectio difficilior probabilior, sowie 3. Lectio brevior potior.79Johann Albrecht Bengel stand explizit Pate zumindest für einen Teil der Ausformulierung dieser Regeln und wohl implizit den gesamten Geist dieser text-kritischen Hilfsmittel, indem er formuliert hatte, dass nur vier Wörter ausreichen würden um echte Lesarten von falschen zu unterscheiden: proclivi scriptioni praestat ardua.80 Damit setzte er sich in einem folgenreichen Streit gegen die Verfechter der alten Regel vom sensus clarior durch.81

                                                            

75 76 77 78 79 80 81

influenced by new tendencies in classical scholarship. They were actively aware of Frensh and English enlightened ideas, though neither liked to think the Germans behind in the production of critical thought.“ Siehe: SUZANNE L. MARCHAND, German Orientalism in the Age of Empire. 38. Siehe DANIEL WEIDNER, Einleitung: Lektüren im Geist der Ebräischen Poesie, in: Ders. (Hg.), Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie, Berlin 2008, 9-21, hier: 17. Siehe SUZANNE L. MARCHAND, German Orientalism in the Age of Empire, 39. Siehe EBD., 42. Siehe UWE BECKER, Exegese, 27. Siehe EBD., 36. Zu deutsch: Die schwierige Lesart ist der einfachen vorzuziehen. Siehe JONATHAN SHEEHAN, The Enlightenment Bible, 98. Zu deutsch: Der Lehre vom einleuchtenderen Sinn. Siehe JONATHAN SHEEHAN, The Enlightenment Bible, 99.

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Die Frage nach dem Authentischen und Ursprünglichen, die bei diesen textkritischen Fragen im Hintergrund steht, wurde vor allem auch in ethnologischen und orientalistischen Zusammenhängen behandelt. In seinem Traité de l’origine des romans (1670) schreibt der katholische Apologet Pierre Daniel Huet vom „poetischen Geist der Orientalen“82, den er als fabulös und bildlich bezeichnet, was auf die Vorliebe der Orientalen „angenehm zu lügen“83 zurückführen sei.84 In seiner Demonstratio Evangelica (1679) wird dieser Gedankengang dann insofern weitergeführt, als dass antik-orientalische Mythen und Religionen als verkürzte, verfälschte und verdrehte Versionen der christlichen Wahrheit gedeutet werden. Dieser Interpretation liegt der Grundsatz des Vorrangs des Älteren zu Grunde, der sich auch in der beschriebenen Auseinandersetzung um die Textkritik niederschlägt und von Samuel Bochart auf Tertullian zurückgeführt wird: „Das Wahre ist das, was zuerst ist, Verfälschung ist das, was folgt.“85

Wie Jan Loop herausarbeitet, lassen sich Unterschiede in der philologischen Ausrichtung etwa zwischen Johann David Michaelis und Johann Gottfried Herder als eine differente Aufnahme der Gedanken Huets begreifen. 86 Debatten um die intellektuelle Autorität über den Orient, wie hier zwischen Herder und Michaelis beispielhaft angedeutet, spielten sich auf mehreren Ebenen ab: (1) Eine bereits erwähnte Ebene ist die starke Rolle der Philologie, die mit einem neuen Zugang und einer starken Historisierung des Orients einherging. (2) Eine weitere wichtige Rolle spielte die diskursive Abwertung der Juden, die sich aus der neuen Bedeutung der Philologie und dem entstehenden Expertentum protestantischer Bibelwissenschaftler ergab. Ein ausführliches Fallbeispiel werde ich anhand von Johann David Michaelis und der Debatte um die bürgerliche Verbesserung der Juden in den 1780er Jahren diskutieren. (3) Schließlich ist noch ein neuer Zugang zur Frage nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu erwähnen, der sich ebenfalls in starkem Maße auf Konstruktionen des Orients bezog. Diesen Zusammenhang will ich nun in Kürze entfalten. Die bereits erwähnte Suche nach dem Ursprünglichen und Unverfälschten führte auch zu einer Privilegierung des Mündlichen über das Schriftliche. Galt die mündliche Rede noch bei Lowth als Quelle der Verderbtheit eines Textes, so ändert sich das im ausgehenden 18. Jahrhundert fulminant. Bei Herder ist                                                              82 „esprit orientale poétique“ 83 „de mentir agréablement“ 84 Siehe JAN LOOP, „Von dem Geschmack der morgenländischen Dichtkunst“. Orientalistik und Bibelexegese bei Huet, Michaelis und Herder, in: Daniel Weidner (Hg.), Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie, Berlin 2008, 155-183, hier: 156f. 85 SAMUEL BOCHARTUS, Geographia Sacra, seu Phaleg et Canaan cui accedunt variae Dissertationes Philologicae, Geographicae, Theologicae & c.[...], Editio tertia. Lugd. Bat. 1692, Lib. Primus, 2. Vergleiche JAN LOOP, „Von dem Geschmack der morgenländischen Dichtkunst“, 157. 86 JAN LOOP, „Von dem Geschmack der morgenländischen Dichtkunst“, 161.

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das Orale gerade das Echte und Ursprüngliche.87 Christina von Braun und Bettina Mathes machen nun auf den Zusammenhang aufmerksam, dass sich mit der allgemeinen Alphabetisierung und dem Siegeszug der Rotationspresse um 1800 eine Verstärkung der Schriftlichkeit ereignete, die von Künstlern und Dichtern als „Lähmung der Imagination“ erfahren wurde und die Suche nach Alternativen bedingte.88 Vor diesem Hintergrund übte der Orient als das Reich einer ungebändigten Mündlichkeit und Quelle vermeintlich ursprünglicher Oralität einen großen Reiz auf die intellektuelle Diskussion in Europa aus, die sich durch das ganze 19. Jahrhundert ziehen sollte. Gleichzeitig wurde in der Debatte der Aufklärung ein altes anti-jüdisches Vorurteil, das sich in der Dichotomie von jüdischer Buchstabentreue vs. christlicher geistiger Interpretation ausdrückte, in der vernunft-geleiteten Kritik an ‚Heiliger Schrift’ und ‚sinnlichen Zeichen’ noch einmal radikalisiert.89 Gerade in Deutschland konnte sich dieser Diskurs mit der Hinwendung des Sturm und Drang zur mündlichen Rede vermischen. In seinem Von deutscher Art und Kunst (1773) lässt sich bei Herder eine vierfache Dichotomisierung beobachten. So war Herder (1) für das Primitive und gegen das Moderne, (2) für das Mündliche gegen das Schriftliche, (3) für Gefühl statt Form und (4) Natur statt Kunst.90 Er spricht von den schottischen Gedichten Ossians als „Lieder eines ungebildeten sinnlichen Volks (...), die sich so lange im Munde der väterlichen Tradition haben fortsingen können“91. Herder ist es denn auch, der den grundsätzlichen Vorrang des Mündlichen vor dem Schriftlichen auf den Begriff bringt: „Wie schwer und was es für ein spätes Kunstwerk gewesen, willkührliche Zeichen, willkührliche Sprachlaute zu erfinden, den Hauch, den unsichtbaren Hauch des Mundes zu fesseln und sichtbar zu machen [...], ihre Götterstimme tönen zu lassen dem Auge.“92

                                                             87 Siehe WERNER MICHLER, Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, Göttingen 2015, 204. 88 CHRISTINA VON BRAUN/ BETTINA MATHES, Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin 22007, 265. 89 Siehe dazu etwa FRIEDRICH SCHILLER, Die Sendung Moses, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke, Bd.17: Historische Schriften, Erster Teil, Weimar 1970, 377–397, hier: 391ff. Vergleiche für diesen Zusammenhang CHRISTIANE FREY, Gramma, Hieroglyphe und jüdisch-hebräische Kultur (Herder, Dohm, Mendelssohn), in: Hansjörg Bay/ Kai Merten (Hg.), Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750–1850, Würzburg 2006, 149–172, hier: 156ff. 90 Siehe TODD KONTJE, German Orientalisms, 66. 91 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker, in: Ders. (Hg.), Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter, Hamburg 1773, 3–70, hier: 5. 92 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts, in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. VI, hg. von Bernhard Suphan, Hildesheim 1967, 289. Vergleiche CHRISTIANE FREY, Gramma, Hieroglyphe und jüdisch-hebräische Kultur, 158.

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Dieser Vorrang, den Herder dem Wort einräumt, hat sich als extrem wirkmächtig erwiesen und findet sich zum Beispiel ungebrochen in Walter Ongs Orality and Literacy (1982) oder seinem The Presence of the Word (1967).93 In seiner auf das Schlagwort des Logo(phono-)zentrismus gebrachten Kritik an dieser Verabsolutierung des Mündlichen arbeitet sich Jacques Derrida vor allem an Rousseaus Essai sur l’origine des langues (1763) ab.94 Die Höherwertung des Mündlichen und der ursprünglichen Stimme führe zu einem ambivalenten Umgang mit der Buchstabenschrift und einer Abwertung anderer Schrift- oder Zeichensysteme.95 Dass der Phonozentrismus Herders auch mit einem Ethnozentrismus einhergeht96 lässt sich an der Bewertung des hebräischen Alphabets in seiner Schrift Abhandlungen über den Ursprung der Sprache (1772) aufzeigen. Darin wirft er den jüdischen Schriftgelehrten vor, durch die Fixierung auf die Materialität und den Konsonantenbestand der Schrift das Eigentliche, nämlich die Vokale, die er als „Thürangeln der Sprache“, gekennzeichnet durch ihren „Hauch so geistig und ätherisch“, beschreibt, verfehlt zu haben.97 Die Debatte um einen möglichen Antijudaismus Herders ist sehr komplex und soll hier nicht ausgeführt werden98, doch kann die hier angeführte Argumentation Herders zumindest als eine Aneignung bei gleichzeitiger Diskreditierung eines jüdischen Verständnisses der eigenen Quellen gedeutet werden.99

                                                             93 Siehe beispielhaft WALTER ONG, The Presence of the Word. Some Prolegomena for Cultural and Religious History, New Haven and London 1967, 188–191. 94 Siehe JACQUES DERRIDA, Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1974, 173–541. Zur neueren Kritik an dieser Interpretation Derridas vergleiche ALBRECHT KOSCHORKE, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2003, 323–346. 95 Jacques Derrida bezieht sich dabei auch auf eine Stelle aus der Enzyklopädie Hegels: „Es folgt [...], daß Lesen- und Schreibenlernen einer Buchstabenschrift für ein nicht genug geschätztes, unendliches Bildungsmittel zu achten ist, indem es den Geist von dem sinnlich Concreten zu der Aufmerksamkeit auf das Formellere, - das tönende Wort und dessen abstracte Elemente, - bringt, und den Boden der Innerlichkeit im Subjecte zu begründen und rein zu machen ein Wesentliches thut.“ GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: Ders., Werke, Bd. VII, 2, hg. von Ludwig Boumann, Berlin 1845, 345. Vergleiche DAVID MARTYN, Der Geist, der Buchstabe und der Löwe. Zur Medialität des Lesens bei Paulus und Mendelssohn, in: Ludwig Jäger/ Georg Stanitzek (Hg.), Transkribieren. Medien/Lektüre, München 2002, 43–71, hier: 45. 96 Vergleiche für diesen Zusammenhang bei Derrida auch HEINZ KIMMERLE, Jacques Derrida zur Einführung, Hamburg 2000, 34ff. 97 Siehe JOHANN GOTTFRIED HERDER, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesezten Preis erhalten hat. Berlin 1772, 17. 98 Vergleiche dazu CHRISTIANE FREY, Gramma, Hieroglyphe und jüdisch-hebräische Kultur, 161f. 99 Siehe EBD., 163. Vergleiche dazu auch die Diskussion bei DAVID MARTYN, Der Geist, der Buchstabe und der Löwe, 59, der für diesen Zusammenhang von ‚Enteignungsgesten’ spricht.

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Die von Herder mit eingeleitete Konzentration auf Mythen und Sagen, als mündliche Vorstufen schriftlich fixierter Quellen, verbindet sich mit einem generellen Interesse am Sammeln von altem Erzählgut. Um 1800 lässt sich eine Sammelleidenschaft und ein neues Interesse an vermeintlich mündlichem Traditionsgut, wie alten Sagen und Märchen – man denke nur an die berühmteste Sammlung der Brüder Grimm - beobachten. Auch in der Philosophie und akademischen Debatten spielt das Thema eine gewichtige Rolle, so schreibt Schelling über die mündliche Philosophie, sie sei „feuriger, reicher, lebendiger, da hingegen schon der Gebrauch der Schrift den Menschen an eine kältere, beharrlichere, eindringlichere Untersuchung gewöhnt“100

In diesen eigentlich wertschätzenden Worten für die mündliche Rede drückt sich jedoch gleichermaßen auch eine Abwertung mündlicher Tradition aus, die sie als weniger verlässlich, partikular und sinnlich im Vergleich zu schriftlicher Überlieferung erscheinen lässt. Schelling drückt das im Anschluss an Mendelssohn wie folgt aus: „jene (=mündliche Philosophie, SW) ist mehr ergötzend, diese (=schriftliche Philosophie) mehr belehrend, jene ist mehr für die Einbildungskraft, diese mehr für den Verstand berechnet.“101

Die Textfixierung, die sich aus dem hier geschilderten literary bias in der religionswissenschaftlichen Forschung des 19. Jahrhunderts herausbildete, wurde in neueren Arbeiten zur Geschichte der Religionswissenschaft wiederholt problematisiert.102 Auch in der alttestamentlichen Wissenschaft lässt sich dieser Dualismus durch das komplette 19. Jahrhundert hindurch beobachten.103

4.1.3 Kann die Subalterne dichten? Über Weltliteratur und die Taxonomie der Einbildungskraft Im Jahr 1773 veröffentlichte die ehemalige Sklavin Phillis Wheatley ihre Gedichtsammlung Poems on Various Subjects – Religious and Moral, die lange als die erste schwarze Selbstäußerung galt. Sie entfachte damit eine Diskussion über den Wert der literarischen Produktion der Kolonisierten in der der

                                                             100 FRIEDRICH WILHELM JOSEPH VON SCHELLING, Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt, 64. 101 EBD., 64. 102 Vergleiche dazu RICHARD KING, Orientalism and Religion, 62-81; ANGELIKA ROHRBACHER, Eurozentrische Religionswissenschaft, 118–122. 103 Siehe zur Rezeptionsgeschichte EBERHARD RUPRECHT, Die Frage nach den vorliterarischen Überlieferungen in der Genesisforschung des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: ZAW 84 (1,1972), 293–314, hier: 311f.

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französische Abt Henri Grégoire mit seinem De La Littérature des Nègres (1808) auf Seiten der Fürsprecher zu nennen ist und Thomas Jefferson als erbitterter Verächter fungierte.104 Thomas Jefferson schreibt: „Niemals aber konnte ich bisher einen Schwarzen finden, der einen Gedanken geäußert hätte, der mehr ist als bloße Narration [...| Unter den Schwarzen gibt es wahrlich genug Elend, aber keine Dichtung.“105

Diese harschen Worte Jeffersons deuten auf die Intensität der Auseinandersetzung über jene Inhalte, die als literarisch wertvoll gelten können, hin. Jeffersons Zitat verweist hier nicht nur auf eine rein formale Unterscheidung zwischen Erzählung und Poesie, sondern sanktioniert schwarze Literatur in Gänze. Doch steht hinter dieser Differenz, die sich hier offenbart noch eine weitere Unterscheidung, die um 1800 von erheblicher Bedeutung war. Die im letzten Kapitel beschriebene Entdeckung der Religionsgeschichte und die Vorstellung einer stufenweisen Entwicklung der Menschheit verbunden mit der neu entwickelten Erkenntnis, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen dem Denken und der Sprache der Völker führte auch zur Frage nach spezifischen Ausdrucksweisen und Gattungen. So verhandelt Friedrich Schelling in seinem Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt (1793) unter anderem die Frage, ob es einen Unterschied in den sprachlichen Möglichkeiten zwischen dem „Sohn der Natur“ und dem „Buchstabenmenschen“ gebe.106 Für die ältesten Völker der Welt kommt er schließlich zum Schluss: „Für den kindlichen Geist der ältesten Welt aber scheint mir eine urächte, einfache Sage ohne Schmuck und Verzierung angemessener, als eine mit dichterischem Schwung dargestellte Erzählung.“107

Schelling systematisiert in dieser Schrift die Überlegungen Heynes und Eichhorns zum Mythos und greift auch auf Gedanken Herders zurück.108 Zudem lässt sich eine Argumentationsstruktur erkennen, die an bereits vorgestellte Überlegungen von einem Höherrang der lebendigen mündlichen Rede über die

                                                             104 Siehe HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK, Von der Faszination zur Wissenssystematisierung: die koloniale Welt im Diskurs der europäischen Aufklärung, in: Ders (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006, 9–18, hier: 14f. 105 „But never yet could I find a black that had uttered a thought above the level of plain narration [...] Among the blacks is misery enough, God knows, but no poetry.“ Siehe: THOMAS JEFFERSON, Notes on Virginia (1782), 4th American Edition, New York 1801, 207–208. Vergleiche HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK, Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, 15f. 106 Siehe FRIEDRICH WILHELM JOSEPH von Schelling, Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt, 45. 107 EBD., 83. 108 Vergleiche dazu EBERHARD RUPRECHT, Die Frage nach den vorliterarischen Überlieferungen in der Genesisforschung des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: ZAW 84 (1,1972), 293–314, hier: 301.

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„todte, kalte Sprache der Schrift“109 anknüpft. Als wichtigstes und universales Merkmal für die behandelte älteste Welt analysiert Schelling einen Geist der Kindheit, den er wie folgt charakterisiert: „Der Geist der Kindheit ist tiefe Einfalt, und diese weht uns auch aus den ältesten Sagen der Völker entgegen[...] Unter jedem in der Kindheit lebenden Volke ist die Einbildungskraft das wirksamste Seelenvermögen, nur wirkt sie bei dem einen reicher und mannigfaltiger, während daß ein anderes sich in einem engern Kreise von Bildern umhertreibt. [...] In Rücksicht auf die Form der ältesten Sagen äußert sich jene Einfalt durch eine Sprache voll lebendiger Bildung, voll malender Darstellung, voll sinnlicher und uneigentlicher Bezeichnungen.[...] Die Darstellungsart eines jeden noch ungebildeten Volkes wird von einer wilden, regellosen Phantasie geleitet, die Gegenstände werden nicht nur alle vergenwärtigt, sondern auch mit den sinnlichsten, am meisten in die Augen springenden Farben geschildert.“110

Das Schlagwort der Einbildungskraft, die hier bevorzugt den kindlichen Völkern zugesprochen wird, erscheint als ein Leitbegriff, der die verschiedenen Diskurse ordnet und zusammenhält. Daran heften sich Vorstellungen unterschiedlich ausgeprägter Seelenvermögen und damit auch Nationalcharaktere. Der Begriff eignet sich um bestimmte Gattungen, wie etwa die Sage, menschlichen Entwicklungsstufen zuzuordnen und dient schließlich auch dazu literarische Formen und Stile, die als phantasievoll und sinnlich beschrieben werden, diesen Gattungen und Zeitaltern beizustellen. Der Wunsch nach Unterscheidungen anhand von anthropologischen, ethnischen und sprachlichen Merkmalen und die Etablierung eines „taxinomische(n) Systems(s) kultureller respektive auch rassischer Hierarchiestufen“ 111 kennzeichnet Kolonialherrschaft als ein ideologisches Konstrukt. Im Rahmen einer neu entstehenden „Ordnung der Kulturen“ um 1800 lassen sich zahlreiche ineinander greifende Diskurse beobachten, die sich mit Fragen der kulturellen Differenz in einer offenen Art und Weise auseinandersetzen, die sich erst innerhalb des 19. Jahrhunderts zu hegemonialen Positionen verengen wird.112 Doch findet sich eine allochrone In-Eins-Setzung der „Philosophie der ältesten Welt“ und der „Philosophie aller noch im Kindesalter stehenden Völker“ bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert.113

                                                             109 FRIEDRICH WILHELM JOSEPH VON SCHELLING, Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt, 49. 110 EBD., 51f. 111 Siehe ALEXANDER HONOLD, Poetik des Fremden? Zur Verschränkung interkultureller und postkolonialer Literatur-Dynamiken, in: Gabriele Dürbeck/ Axel Dunker (Hg.): Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren, Bielefeld 2014, 71–103, hier: 77. 112 Siehe HANSJÖRG BAY/ KAI MERTEN, Einleitung, in: Dies.(Hg.), Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750– 1850, Würzburg 2006, 7–29, hier: 14. 113 Siehe FRIEDRICH WILHELM JOSEPH von Schelling, Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt, 69.

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An der hier eingespielten Kontroverse zeigt sich in besonderer Weise auch die ab dem 18. Jahrhundert rasant einsetzende Globalisierung der Literatur, die schließlich dazu führte, dass Johann Wolfgang von Goethe den Begriff der ‚Weltliteratur’ 1827 prägte. Dabei ging es ihm mit diesem Begriff um zweierlei: Zum einen die Kommunikation „aller zugleich Lebenden“ untereinander, zum anderen jedoch auch die Rückgebundenheit in steter „Rücksicht auf das was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist“.114 Dieser Verweis auf die Tradition kann als Brücke zu den biblischen Studien seiner Zeit dienen: Goethe erinnert sich in seiner Autobiographie der ersten Begegnungen mit Herder in Straßburg und des bleibenden Eindrucks, den dieser auf ihn machte und dem er wichtige Erkenntnisse für seinen Zugang zur Weltliteratur verdankt: „Die hebräische Dichtkunst, welche er nach seinem Vorgänger Lowth geistreich behandelte, die Volkspoesie, deren Überlieferungen im Elsaß aufzusuchen er uns antrieb, die ältesten Urkunden als Poesie, gaben das Zeußniß, daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privat-Erbteil einiger feinen gebildeten Männer.“115

Auch hier ist die demokratisch anmutende Zueignung der Poesie zu allen Völkern und Weltgegenden zum einen mit der biblischen Überlieferung verknüpft, zum anderen jedoch in Bezug gesetzt zu den neu entdeckten Naturvölkern in geographischer und historischer Hinsicht. So notiert Goethe zum Schlagwort der Volks- und Nationalpoesie: „eigentlich gibt es nur eine Dichtung, die echte, sie gehört weder dem Volke noch dem Adel, weder dem König noch dem Bauer; wer sich als wahrer Mensch fühlt, wird sie ausüben; sie tritt unter einem einfachen, ja rohen Volke unwiderstehlich hervor, ist aber auch gebildeten, ja hochgebildeten Nationen nicht versagt“116

Dies entbindet Goethe nicht davon innerhalb der unterschiedlichen Nationaldichtungen Abgrenzungen und Werturteile vorzunehmen. Die griechische und römische Klassik gilt ihm um Einiges mehr als die indische Dichtkunst oder chinesische und ägyptische Altertümer, die er in den Rang bloßer „Curiositäten“ verweist.117

                                                             114 JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, Flüchtige Übersicht über die Kunst in Deutschland, in: WA I, 48, 20–25, hier: 23. Vergleiche hierzu auch HENDRIK BIRUS, Goethes Annäherung an das Ghasel und ihre Folgen, in: Klaus-Michael Bogdal (Hg.), Orientdiskurse in der deutschen Literatur, Bielefeld 2007, 125–140, hier: 125. 115 JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, Aus meinem Leben: Dichtung und Wahrheit II, Zehntes Buch, in: WA I, 27, 293–374, hier: 313. Vergleiche HENDRIK BIRUS, Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung, in: Manfred Schmeling (Hg.), Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, Würzburg 1995, 5–28, hier: 6. 116 JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, Nationalpoesie und Menschheitsdichtung, WA, I, 42.2, 217f.. Vergleiche HENDRIK BIRUS, Goethes Idee der Weltliteratur, 7. 117 Siehe HENDRIK BIRUS, Goethes Idee der Weltliteratur, 9. Vergleiche dazu auch den klassizistischen Vorbehalt bei FRIEDRICH WILHELM JOSEPH von Schelling, Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt, 74.

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Einen besonders profilierten Ort, der Überlieferung aus der Vergangenheit, stellte um 1800 die Bibel dar. Bei der brennenden Frage nach dem Wesen von Literatur, Geschichte und Ästhetik, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln bereits in Ansätzen entfaltet wurde, bedienten sich die Proponenten zu einem großen Teil biblischer Figuren oder nutzen das Tableau biblischer Überlieferung als Schauplatz und Kampfplatz ihrer Kontroversen.118 Ein besonders umstrittener Ort war seit den Thesen Astrucs und der Affäre um Lessing und Reimarus auch der Pentateuch geworden. Für Wilhelm Martin Leberecht De Wette stand fest, dass die Sammlung der ersten fünf Bücher Mose „als Geschichtsquelle unbrauchbar oder vielmehr als solche(...) gar nicht da ist“119. Dies sei jedoch nicht als ein Wertverlust zu betrachten, sondern „er (der Pentateuch, SW) gewinnt vielmehr einen höhern. Als Poesie und Mythe betrachtet, erscheint er nun als das wichtigste und reichhaltigste Objekt der wichtigsten und fruchtbarsten Betrachtungen“120.

Damit greift De Wette einen Gedanken auf, der sich bereits bei Robert Lowth und Herder gefunden hatte und sich auch in der berühmten Formulierung des letzteren widerspiegelt, dass die Bibel menschlich zu lesen sei – und damit auch als Literatur in den Blick kommt.121 Diese von Herder stark gemachte Idee des Morgenlandes als Ursprung der Poesie und Religion spielte für den deutschen Orientalismus um 1800 eine eminent wichtige Rolle.122 Gerade die Frage nach dem literarischen Charakter des Alten Testaments führte dazu, dass die hier angedeuteten Kontroversen um die unterschiedliche Ausprägung der Einbildungskraft auch für die neu entstehende Literargeschichte des Alten Testaments von Bedeutung werden konnten. In der Einleitung zu seiner Litterärgeschichte (1799) benennt Johann Gottfried Eichhorn dementsprechend als zentrale These seiner Untersuchungen: „Die Veränderungen der Litteratur sind mit den Veränderungen des gesellschaftlichen Zustandes, oder mit der Cultur eines jeden Zeitalters so innig verbunden, daß jene ohne Kenntniß von diesen nicht begriffen und erklärt werden können.“123

Diesem Wechselspiel werde ich in meinen weiteren Ausführungen nachgehen und aufzeigen, wie (1) ein enger Zusammenhang zwischen orientalischer Poesie und Despotismus um 1800 konstruiert worden ist, (2) der Wechsel vom

                                                             118 Vergleiche DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 12. 119 WILHELM MARTIN LEBERECHT DE WETTE, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament, 398. Vergleiche HENNING GRAF REVENTLOW, Epochen der Bibelauslegung, 232. 120 WILHELM MARTIN LEBERECHT DE WETTE, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament, 398. 121 Siehe JOHANN GOTTFRIED HERDER, Briefe, das Studium der Theologie betreffend, in: Ders., Werke, Bd. 9/1, 139–608, hier: 145. Vergleiche DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 11. 122 Siehe ANDREA POLASCHEGG, Die Regeln der Imagination, 34. 123 JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Aus der Vorrede zur ersten Auflage, in: Ders., Litterärgeschichte, Erste Hälfte, Neue Auflage, Göttingen 1812, V–VIII, hier: VIII.

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Witz zum Geist in der gelehrten Debatte sich auch den Diskursen um eine deutsche Wissenschaftlichkeit verdankt und mit der Diskussion um die Dichotomie zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit verbunden werden kann, sowie (3) die Beschäftigung mit Sagen und Märchen im Alten Testament auch mit dem angesprochenen Phänomen der Einbildungskraft in Verbindung zu bringen ist.

4.2

‚Deutschland? Aber wo liegt es?’ Über Identitäten und Wissenslandschaften „Jetzt, in meinen späteren und reiferen Tagen, wo das religiöse Gefühl wieder überwältigend in mir aufwogt, [...] jetzt würdige ich den Protestantismus ganz absonderlich ob der Verdienste, die er sich durch die Auffindung und Verbreitung des heiligen Buches erworben. Ich sage die Auffindung, denn die Juden, die dasselbe aus dem großen Brande des zweiten Tempels gerettet, und es im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten, das ganze Mittelalter hindurch, sie hielten diesen Schatz sorgsam verborgen in ihrem Ghetto, wo die deutschen Gelehrten, Vorgänger und Beginner der Reformation hinschlichen um Hebräisch zu lernen, um den Schlüssel zu der Truhe zu gewinnen, welche den Schatz barg.“ Heinrich Heine124 „Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden“ Friedrich Schiller125

Das glückliche Zitat, das Heinrich Heine mit seiner Formulierung vom ‚portativen Vaterland’ geprägt hat, ist häufig im Sinne einer Erklärung der jüdischen Situation nach dem Verlust des Tempels und als ein Leitmotiv aller Diaspora-Studien verwendet worden. Bernhard Levinson zeigt jedoch auf, dass es weniger über einen spezifisch jüdischen Umgang mit Schriften verrät                                                              124 HEINRICH HEINE, Geständnisse. Geschrieben im Winter 1854, in: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, Band 6,1, München 1975, 443–514, 483f. 125 FRIEDRICH SCHILLER, Das deutsche Reich. Xenien 95, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen und Friedrich Beißner, Band 1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776–1799, Weimar 1943, 321. Vergleiche HANS PETER HERRMANN, Einleitung, in: Ders. / Hans-Martin Blitz/ Susanna Moßmann (Hg.), Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1996, 7– 31, hier: 19.

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und sehr viel über den Wunsch Heinrich Heines seiner Außenseiterrolle zu entkommen und sich in den Kanon der deutschen Literatur hinein zu schreiben.126 Anhand der Person Heinrich Heines gelingt es Levinson auch die Rede von dem „Land der Dichter und Denker“ in der Art und Weise zu exemplifizieren, dass die Einheit Deutschlands in Kultur und Literatur der tatsächlichen Staatsgründung 1871 weit vorauslief. Eine Einsicht, die sich seit den 1980er Jahren in der Nationalismusforschung durchsetzte und zu einem erneuerten Interesse an Fragen des Nationalismus unter der Prämisse, dass der Nationalismus der Nation vorausgehe - und nicht umgekehrt – führte.127 Als Grundeinsichten der Nationalismusforschung gelten der Bezug auf eine sozialgeschichtliche Forschungsmethode sowie die Verortung des Nationalismus vor dem Hintergrund der vielfältigen Modernisierungsprozesse des ausgehenden 18. Jahrhunderts.128 Schwieriger scheint es, den patriotischen Diskurs ab den 1770er Jahren eindeutig zu bestimmen: Dieser erscheint als ein „versuchsweise[s] Spiel mit Worten, Begriffen, Gefühlen und Bildern, die eine relativ große Breite an inhaltlichen Bedeutungen, aber einen relativ festen Kern an emotionalen Besetzungen aufweisen.“ Die vorangestellte Distichonzeile Friedrich Schillers illustriert diesen Sachverhalt aufs Beste. Im Folgenden soll ausgehend von dieser Beobachtung die bisher vorausgesetzte Rede von einer spezifisch deutschen Kultur bzw. einem deutschen Diskurs aufgenommen und kritisch diskutiert werden. Die Grundthese, die diesen Überlegungen vorausgeht, ist die bereits verhandelte von Deutschland als dem Geburtsland der historisch-kritischen Methode zur Erforschung des Alten Testaments.129 Zudem ist der Zusammenhang zwischen einem veränderten öffentlichen Stellenwert und Umgang mit Religion und dem gleichzeitig im 18. Jahrhundert entstandenen Nationalismus vielfach untersucht und miteinander in Verbindung gebracht worden.130 Gleichzeitig verweist das Heine-Zitat aber auch auf die Rolle der deutschen Gelehrten und ihr Bemühen darum, diesen ‚Schatz’ zu heben: Die deutsche Orientwissenschaft erlangte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts rasch eine dominante Stellung, weshalb der Versuch Edward Saids, deren Be-

                                                             126 Siehe BERNHARD M. LEVINSON, Der kreative Kanon, 10f. 127 Siehe den Forschungsüberblick und aktuellen Stand der Debatte bei HANS PETER HERRMANN, Einleitung. 128 Siehe EBD., 11. 129 Siehe dazu JAMES PASTO, Islam’s ‚Strange Secret Sharer’: Orientalism, Judaism, and the Jewish Question, Comparative Studies in Society and History 40 (1998), 437–474, hier: 441. 130 Vergleiche dazu etwa BENEDICT ANDERSON, Kulturelle Wurzeln, in: Elisabeth Bronfen/ Benjamin Marius/ Therese Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, 31–59, hier: 33.

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deutung eher als gering im Vergleich zu britischen und französischen Wissenschaftlern anzunehmen, nicht überzeugend ist.131 Nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob die Auslassung deutscher Orientwissenschaften, aber auch des Beitrags der Missionare und Missionsgesellschaften132, nicht grundlegend für Saids Homogenisierung des orientalistischen Diskurses ist.133 Für die Jahre vor 1840 kann dabei jedoch noch nicht von einem entwickelten Kolonialismus gesprochen werden, sondern bestenfalls davon, dass sich die kolonialen Themen und Phantasien subkutan in unterschiedlichen Diskursen aufzeigen lassen.134 Das Interesse an einer Beschäftigung mit kolonialen Spuren der deutschen Geschichte und den kulturell geronnenen Erinnerungsorten ist seit der Wende zum 21. Jahrhundert spürbar gewachsen und hat zu einem zunehmenden Korpus an Schriften und einer Ausweitung des Diskurses geführt.135 Dabei ist auch bei aktuellen Kontroversen und Auseinandersetzungen wie etwa um den Gebrauch des Begriffs ‚Neger’ in Kinderbüchern der Bezug auf die Debatten um 1800 virulent. Jürgen Zimmerer zieht gerade Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte heran, um deutlich zu machen, dass der Begriff niemals nur in einem rein deskriptiven und wertfreien Kontext gebraucht wurde, sondern stets schon pejorativ verwendet wurde.136 Auch Zimmerer hebt auf die ‚Lehnstuhl-Entdecker’ ab und so scheint es besonders lohnend, einige Diskurse der Zeit um 1800 nachzuzeichnen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche intellektuelle Debatten, Identitätsfestschreibungen und wissenschaftliche Auseinandersetzungen sich um das „Deutsch-Sein“ zur bezeichneten Zeit ranken und wie unterschiedliche

                                                             131 Vergleiche hierzu auch den Überblick über einige neuere Monographien und Sammelbände zum deutschen Orientalismus bei FELIX WIEDEMANN, Deutscher Orientalismus, passim. 132 Siehe dazu ANDREAS NEHRING, Orientalismus und Mission. Die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare 1840–1940, Wiesbaden 2003. 133 Vergleiche dazu die Debatte und die Literaturverweise bei ACHIM ROHDE, Der innere Orient. Orientalismus, Antisemitismus und Geschlecht im Deutschland des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Die Welt des Islams 45 (2,2005), 371–410, hier: 376. 134 Die Textsammlung von Horst Gründer bezieht sich dagegen vor allem auf die offensichtlichen Bemühungen um ein deutsches Kolonialreich und weist deshalb vor den neuralgischen 1840er Jahren nur sehr spärliches Material auf. Siehe hierzu vor allem HORST GRÜNDER (HG.), „...da und dort ein junges Deutschland gründen“. Rassismus, Kolonien und kolonialer Gedanke vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, München 32006, 13. 135 Vergleiche hierzu beispielhaft vor allem den Sammelband JÜRGEN ZIMMERER (HG.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Bonn 2013. 136 Siehe JÜRGEN ZIMMERER, Kolonialismus und kollektive Identität: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, in: Ders. (Hg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Bonn 2013, 9–38, hier: 24f.

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Diskurse sich gegenseitig bedingt und wechselseitig hervorgerufen haben.137 Denn es zählt zu einer interessanten Beobachtung, dass gerade im Zeitalter der Aufklärung mit ihrer Betonung von ‚Fortschritt’ und ‚Entwicklung’ als „universalhistorische Kategorien“ nicht nur Nationalstereotypen eine Selbstverständlichkeit zu sein scheinen, sondern einige dieser kollektiven Zuschreibungen sich in der Vorstellung von Völkern als „Kollektiv-Individuen“ überhaupt erst ausgebildet haben.138

4.3

Deutschland und das koloniale Phantasma

Zwar verfügte Deutschland erst seit dem 24. April 1884, als Bismarck die Gebiete, die der Kaufmann Lüderitz in Südwest-Afrika erworben hatte, zu deutschem Schutzgebiet erklärte, offiziell über Kolonien, doch ging dieser Phase des amtlichen deutschen Kolonialismus eine längere Vorgeschichte voraus. Seit dem 16. Jahrhundert kann davon gesprochen werden, dass das kollektive Bewusstsein von Kolonialphantasien bevölkert war.139 Zantop legt dar, wie ein „latentes, diffuses Kolonialstreben“ sich um 1770 ausbreitete und dabei teilweise auch in „antikolonialistischer Tarnung“ auftrat, d.h. nicht so sehr darauf ausgelegt war, eine Eroberung und Verfügungsgewalt fremder Länder zu imaginieren, sondern stattdessen eher von einem familiären und freundlichen Rahmen bestimmt war.140 Nichtsdestotrotz ist diese koloniale Phantasie, die sich in zahlreichen literarischen Werken, aber auch wissenschaftlichen Aufsätzen und politischen Traktaten finden lässt, nicht zu unterschätzen: Deutsche Kolonialherrschaftsphantasien schrieben die Kolonialgeschichten anderer Länder um und erschufen so eine fiktive Kolonialgeschichte in der Imagination ihrer Leserinnen und Leser.141 Deutsche koloniale Phantasien drehten sich weniger um sexuelle Eroberungen und mehr um den Gewinn kolonialen Rau-

                                                             137 Einen alltagsgeschichtlichen Zugang legt Bruno Preisendörfer vor: BRUNO PREISENDÖRFER, Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit, Berlin 2015; Einen Überblick über Versuche, die postkoloniale Theoriebildung und Debatte auf den deutschen Kontext anzuwenden bieten HITO STEYERL/ENCARNACIÓN GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ (HG.), Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2003. 138 Siehe dazu auch die umfangreiche Stoffsammlung bei RUTH FLORACK, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart/ Weimar 2001, hier: 6. 24. 139 SUSANNE M. ZANTOP, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland, 9. 140 EBD., 10. 141 Siehe EBD., 11.

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mes, sie dienten als „Handlungsersatz, als imaginärer Testort für koloniale Unternehmungen“142. Gerade die Kritik an den kolonialen Gewalt- und Machtexzessen anderer Mächte in Aufnahme, Revision und auch Weiterentwicklung der theoretischen Fundierungen bot die Möglichkeit literarische Repräsentationen kolonialen Zuschnitts zu schaffen.143 Dabei ist jedoch zu beachten, dass insbesondere der literarischen Produktion ein Element der Heteroglossie innewohnt, das die eindeutige Zuordnung in bestimmte diskursive Phänomene schwierig macht und eine notwendige Ambivalenz innerhalb des Diskurses einträgt.144 Wie im vorangegangenen Abschnitt aufgezeigt worden ist, diente die Auseinandersetzung mit kolonialer Attitüde anderer westeuropäischer Mächte und den „Eingeborenen“ auch der Zuschreibung, Herausbildung und Profilierung spezifischer Nationaleigenschaften: „Die Kolonie wurde so zur Projektionsfläche für einen nationalen Neuanfang, zum Phantasieraum, in dem das Vaterland frei von Geschichte und Konventionen bei Null beginnen und sich selbst erschaffen konnte, um dann der Welt zu zeigen, wozu es fähig ist.“145

An Georg Forsters Reise um die Welt (1778) lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie ein klassen- und geschlechtsspezifisches europäisches Selbst entsteht, das zudem deutlich national geprägt ist.146 Auch die Überlegungen zur Ästhetik um 1800 und die zahlreichen Beiträge deutschsprachiger Orientalisten zeichnen sich durch eine eurozentrische Blickweise aus.147 Dies untermauert die These, dass es wenig Sinn macht, zwischen wissenschaftlichen Texten und literarischen Texten zu unterscheiden bei der Untersuchung des phantastischen Potenzials des deutschen Kolonialismus. So untersucht Susanne M. Zantop unter anderem die Philosophische[n] Untersuchungen (1768/69) von Corneille de Pauw, als auch die Nachdichtung des Robinson Crusoe für Kinder von Joachim Friedrich Campe mit dem Titel Robinson der Jüngere: Ein Lesebuch für Kinder (1779/80). 148 Die These von Zantop ist, dass „koloniale Be-

                                                             142 143 144 145 146

EBD., 16. Siehe EBD., 16. Vergleiche dazu ANDREAS NEHRING, Orientalismus, 42.46. SUSANNE M. ZANTOP, Kolonialphantasien, 17. Siehe HERBERT UERLINGS, Geschlecht und Fortschritt. Zu Georg Forsters Reise um die Welt und dem Diskurs der Universalgeschichten des weiblichen Geschlechts, in: Karl Hölz u.a. (Hg.), Beschreiben und Erfinden. Figuren des Fremden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2000, 13–44; HELMUT PEITSCH, Deutsche ‚Antheilnahme’ an der europäischen Expansion. Georg Forster über die Bedeutung der Reisen der „Seemächte“ für das deutsche „Publikum“, in: Iwan-Michelangelo D’Aprile/ Ricardo K.S. Mak (Hg.), Aufklärung – Evolution – Globalgeschichte, Saarbrücken 2010, 257– 308, hier: 273. 147 Siehe hierzu auch NINA BERMAN, Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, Stuttgart 1997, 31. 148 Siehe SUSANNE M. ZANTOP, Kolonialphantasien, 25.

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gegnungen als kulturübergreifende, rassenschrankenüberschreitende heterosexuelle Romanzen“149 dargestellt werden und so trotz vermeintlich anders lautender Botschaften auf der Wortebene ein koloniales Begehren hervorrufen, das nach einer Realisierung in der Tat verlangte: Die Eroberung des Geistes bereitete so die tatsächliche Eroberung vor, sodass es Sinn macht, von einer Präemergenz kolonialer Wirklichkeit in den Lehnstuhlträumen der Eroberer des Geistes zu sprechen.150 Indem deutsche Leser ab den 1780er Jahren mehr Reiseliteratur konsumierten als andere Europäer151 wurde es den „LehnstuhlReisenden“ möglich, intellektuelle Hegemonialansprüche zu verwirklichen und sich so gleichsam andere Länder und Objekte anzueignen.152 Allein Georg Forster hat 165 Reisebeschreibungen rezensiert, übersetzt und herausgegeben und damit die deutsche „Antheilnahme“ an der europäischen Entdeckung fremder Welten eindrucksvoll unterstrichen.153 Die geistige Eroberung der Welt unterschied sich nun in Deutschland in signifikanter Weise von anderen Ländern, weshalb von einem imitativen Sekundär-Kolonialismus gesprochen werden kann.154 Auf den Bereich der Literatur und Berichten aus aller Welt angewendet zeigt sich auch ein anderes Erkenntnisinteresse: Gerade weil sie keine eigenen Kolonialinteressen verfolgten, nahmen deutsche Schriftsteller eine Mittler-Position ein und versuchten sich in der Rolle eines unbeteiligten Beobachters, dem die Rolle zufällt, das vorhandene und von anderen gesammelte Material zu bewerten, kritisch zu sichten und dessen Authentizität zu beurteilen.155 Hier ist die Verbindung zwischen der neu gewonnenen und national eingefärbten Wissenschaftlichkeit, wie sie dargestellt worden ist, und der kolonialen Situation mit Händen zu greifen: Als vermeintlich interesselose Beobachter prüften die deutschen Editoren Berichte, verglichen mit Originaltexten und kommentierten und kategorisierten das Material. Dies äußert sich auch in der Fülle der Quellen, die herangezogen wurden, wenn etwa Christoph Meiners nicht weniger als 396 Werke und Quellen für seinen Grundriß der Geschichte der Menschheit

                                                             149 EBD., 25. 150 Vergleiche zum Begriff und dem Konzept der Präemergenz die Ausführungen im theoretischen Kapitel der Arbeit. 151 Siehe SUSANNE M. ZANTOP, Kolonialphantasien, 50. 152 Siehe hierzu auch die ethnologischen Arbeiten zum Fetischismus, die einen besonderen Schwerpunkt auf die Entstehung des Fetischs als spezifisch europäisches Produkt unterschiedlicher und miteinander verknüpfter Diskurse legen: KARL-HEINZ KOHL, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003; HARTMUT BÖHME, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006. 153 Siehe HELMUT PEITSCH, Deutsche ‚Antheilnahme’ an der europäischen Expansion, 265. 154 Siehe hierzu RUSSEL A. BERMAN, Der ewige Zweite. Deutschlands Sekundärkolonialismus, in: Birthe Kundrus (Hg.), Phantasiereiche zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt/ New York 2003. 155 Siehe SUSANNE M. ZANTOP, Kolonialphantasien, 55.

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(1786) heranzieht.156 Beispielhaft lässt sich eine solche abstrahierende und ins Grundsätzliche gewendete Debattenführung an der Diskussion um die schwarzen Sklaven aufzeigen. Zwar schreibt zum Beispiel Herder seine Neger-Idyllen und es gibt eine große Welle der Sympathie mit dem Anliegen der Abolitionisten, doch wird die Debatte schnell aufgrund einer fehlenden eigenen Verstricktheit auf Grundsatzfragen um die Vorteile, Nachteile und die Legitimität der Sklaverei begrenzt und schließlich als Metapher für Kritik an politischen und ökonomischen Verhältnissen in Deutschland umgemünzt.157 Selbst die vielfach geschilderte und beklagte deutsche Schwäche und politische Unbedeutendheit, wie sie auch in Herders Epistel Der deutsche Nationalruhm (1812) treffend zum Ausdruck kommt, wird in der Phantasie schnell mit einem kolonialen Interesse verknüpft, wie Susanne Zantop an Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) deutlich macht.158 Dort heißt es über den Deutschen: „Er ist dabei doch der Mann von allen Ländern und Klimaten, wandert leicht aus und ist an sein Vaterland nicht leidenschaftlich gefesselt; wo er aber in fremde Länder als Colonist hinkommt, da schließt er bald mit seinen Landsgenossen eine Art von bürgerlichem Verein, der durch Einheit der Sprache, zum Theil auch der Religion, ihn zu einem Völkchen ansiedelt, was unter der höheren Obrigkeit in seiner ruhigen sittlichen Verfassung durch Fleiss, Reinlichkeit und Sparsamkeit vor den Ansitzungen anderer Völker sich vorzüglich auszeichnet.“159

Im folgenden Kapitel soll nun der Versuch unternommen werden, zu schauen, was mit den biblischen Texten und der Wissenschaft des Alten Testaments geschah, als sich deutsche Wissenschaftler zum Ende des 18. Jahrhunderts aufmachten und mit „Fleiss, Reinlichkeit und Sparsamkeit“ neue Methoden und Zugangsweisen zur Hebräischen Bibel entwickelten.

                                                             156 Siehe EBD., 56. 157 Siehe RAINER KOCH, Liberalismus, Konservativismus und das Problem der Negersklaverei. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 222 (3, 1976), 529–577, hier: 533. 158 Siehe SUSANNE M. ZANTOP, Kolonialphantasien, 122. 159 IMMANUEL KANT, „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798), in: Gesammelte Schriften. Hg. von Ernst Cassirer, Berlin 1907, Band VII, 117–335, hier: 317. Vergleiche SUSANNE M. ZANTOP, Kolonialphantasien, 122.

5.

Die Erfindung des Alten Testaments – Neue Perspektiven „Es ist, als wenn die Hebräer eine ganz andre Nation geworden wären, so verändert ist die Vorstellung, die man sich nun von ihrer Denkart, ihren Sitten und Gewohnheiten, ihren Gesetzen und Rechten macht.“1 Johann Gottfried Eichhorn

Die Rede von Erfindungen erfreut sich in der Wissenschaft gerade einer ungemeinen Beliebtheit. Es gibt wenige Themen, zu denen nicht in den letzten Jahren Bücher erschienen sind, die von einer Erfindung ihres Gegenstands berichten oder eine Erfindung einer bestimmten Anschauung zu einer spezifischen Zeit proklamieren.2 Ist es also eine bloße Modeerscheinung, wenn im nun Folgenden von der „Erfindung des Alten Testaments“ die Rede sein wird? Dazu ist erst einmal die Frage zu klären, was genau mit der Rede von einer Erfindung des Alten Testaments gesagt werden soll. Iwan Michelangelo D’Aprile schreibt in Bezug auf die Erfindung der Zeitgeschichte um 1800 davon, dass diese nicht komplett neu erfunden worden sei, sondern „sie gewinnt als eine spezifische historische Reflexionsform der eigenen Gegenwart eine grundlegend veränderte Qualität.“3

Dies macht er an mehreren Neuerungen fest: Es gibt (1) einen neuen Berufsstand, nämlich den des professionellen Zeitgeschichtsjournalisten, (2) eine Fülle neu gegründeter Zeitschriften, Journale und Tageszeitungen, sowie (3) einen erneuerten Umgang mit geschichtlichen Ereignissen. Wie sieht es analog dazu mit dem Alten Testament aus? Für das Alte Testament und die im Titel formulierte Erfindung desselben scheinen diese Kriterien kaum zutreffend zu sein. Im 19. Jahrhundert wurde das Alte Testament nicht neu entdeckt, es gab keinen Berufsstand, der sich herausformieren würde, noch geriet das Alte Testament zu einem zeitgeschichtlichen Ereignis. Und dennoch lässt sich eingedenk der im letzten Kapitel bereits angesprochenen Paradigmenwechsel von einer grundlegenden Neubestimmung sprechen: Es entwickelt sich im An-

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JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, ABL 6 (1794), 529. In Auswahl wurden ‚erfunden’: CORNELIA KLINGER, Die Erfindung des Subjekts, Frankfurt a. M. 2013; ULRICH JOHANNES SCHNEIDER, Die Erfindung des allgemeinen Wissens. Enzyklopädisches Schreiben im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2013; IWAN-MICHELANGELO D’APRILE, Die Erfindung der Zeitgeschichte; FRANK LESTRINGANT, Die Erfindung des Raums. Kartographie, Fiktion und Alterität in der Literatur der Renaissance, Bielefeld 2012; ANDREAS RECKWITZ, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012. IWAN-MICHAELANGELO D’APRILE, Erfindung, 7.

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schluss an Schleiermacher der Fächerkanon der Theologie und das Fach Altes Testament löst sich aus dem Fach der Dogmatik heraus. Aus der Theologie heraus wachsen die altorientalischen Wissenschaften zu eigenständiger Blüte. Eine Vielzahl an neuen Entdeckungen und Funden in Bezug auf Schriften, Realienkunde und alttestamentliche Umwelt unterstreicht das fundamental Neue, das in der Erforschung des Alten Testaments Einzug hält. Mit der Rede von der „Erfindung des Alten Testaments“ verbindet sich zudem ein kritischer Gedanke, der den Anspruch auf Objektivität des für seinen Historismus bekannten 19. Jahrhunderts in Frage stellt und auf den machtförmigen und imaginativen Prozess abhebt, welcher der Produktion von Wissen innewohnt.4 Im nun Folgenden möchte ich zeigen, wie sich die Entwicklung neuer Methoden und die Herausbildung neuer Paradigmen innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft als Folge eines verstärkten Kontaktes mit den neu entdeckten Ländern verstehen lassen. Ich möchte außerdem die These stark machen, dass dieser Innovationsschub mit einem klaren Machtgefälle einherging und sich ethnologische und postkoloniale Zugänge besonders eignen, um diese Wechsel angemessen zu beschreiben. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auch auf die zeitgleich stattfindende Ausprägung eines neuen Nationalbewusstseins in Deutschland gelegt werden und Schnittpunkte und sich wechselseitig beeinflussende Diskurse aufgezeigt werden.5 Zudem werde ich argumentieren, dass alttestamentliche Wissenschaftler an einem spezifisch deutschen kolonialen Phantasma partizipierten und dieses auch in ihrer                                                              4

5

Als Gründungsdokument einer solchen Art von Studien kann das Werk Inventing Traditions (1983) von Eric Hobsbawm und Terence Ranger gelten. Darin wird gleich zu Beginn zwischen zwei grundlegenden Arten von Erfindung, nämlich ‚echten’ Erfindungen und sich innerhalb kurzer Zeit verfestigender Traditionen unterschieden. Beide stehen gleichermaßen im Fokus ihres Buches, da es den Autoren erklärtermaßen um das Auftauchen und die Verfestigung von bestimmten Traditionen geht. Als Kurzdefinition für die Erfindung von Traditionen wird angeführt: „In short, they are responses to novel situations which take the form of reference to old situations, or which establish their own past by quasi-obligatory repetition.“ Die Spannung zwischen einer Moderne mit dem ihr inhärenten Zwang zu stetiger Veränderung und die Suche nach überdauernden oder vermeintlich stetigen Ritualen und sozialen Interaktionen kann als produktiver Motor der Erfindung von Traditionen verstanden werden. Besonders privilegiert erscheint aus der Sicht der Autoren die industrielle Revolution mit der Initiierung zahlreicher Änderungsprozesse innerhalb verschiedener Gesellschaften. Was sich Hobsbawm und Ranger von einer Untersuchung der erfundenen Traditionen als Historiker versprechen ist, dass diese als Indikatoren für gesellschaftliche Wandlungsprozesse und Epochegrenzen besonders geeignet erscheinen. Als Beispiel führen sie dabei den Farbwechsel innerhalb deutscher Turnergruppen von schwarz-rot-gold zu schwarz-weiß-rot um das Jahr 1890 an, der den Transformationsprozess des deutschen Nationalismus hin zu einem Nationalismus imperialer Prägung bestens veranschaulicht. Siehe ERIC J. HOBSBAWM, The Invention of Tradition, Cambridge 172009. Vergleiche allgemein zur Herausbildung des Nationalismus im 19. Jahrhundert BENEDICT ANDERSON, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M. 22005. Für die spezifisch deutschen Momente vergleiche unter anderem NEIL MACGREGOR, Deutschland: Erinnerungen einer Nation, München 2015.

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Forschung am Alten Testament entwickelten und perpetuierten. Kurz gesagt: An ausgewählten Beispielen soll nun verdeutlicht werden, wie das Alte Testament um 1800 zu einer deutschen Kolonie wurde. Der Eindruck eines einschneidenden Wechsels in der Beschäftigung mit dem Alten Testament wurde bereits von den Zeitgenossen im ausgehenden 18. Jahrhundert formuliert. In seiner Schrift Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774) setzt sich Johann Gottfried Herder in polemischer Art und Weise mit Johann David Michaelis und dessen neu vorgelegter Bibelübersetzung und Erläuterung auseinander. Dabei steigt Herder polemisch in seinen Text ein: „Bibelübersetzung! siehe da das neueste Studium der Mode. [...] Neue Religion haben wir uns schon halb ausgemacht und erfunden, warum nicht auch eine neue Bibel dieser neuen Wasser-Religion gemäß?“6

Dass er sich dabei ausdrücklich auf Johann David Michaelis und dessen mehrbändige Bibelübersetzung bezieht ist eine Vermutung, die sich schon recht bald durch direkte Anwürfe und die mehrfache Nennung dessen Werks in den Fußnoten bestätigt. Der Vorwurf ist so deutlich wie klar: Hier wird eine Neuübersetzung vorgelegt, die sich durch ein Höchstmaß an Kreativität und Eigenleistung auszeichnet und dabei dem eigentlichen Wortsinn, wie ihn Herder zu entdecken glaubt, nicht gerecht wird. Ersichtlich ist dies aus mehreren pathetischen Weherufen gegen die „Anmerkungen aller weißen Männer“ – mit einer Fußnote zu Michaelis7; und schließlich einer expliziten Nennung des „phantastischen Charakters“ biblischer Wissenschaft: „Aber der Erfinder dieser neuen Auslegung hat zu viel erfunden, diesen neuen Fund auch mit zu viel Wichtigkeit und Umfange vorgetragen – der Nachfolger zu geschweigen – daß mans so mit zwei Worten abfinden könnte.“8

Dass dies kein Ausnahmefall eines einzelnen Autors bzw. biblischen Wissenschaftlers ist, räumt auch Herder freimütig ein, indem er den konstruktiven Part der Philosophie der Moderne von Descartes an mit den Worten beschreibt, dass es seit dessen Zeiten jedem Philosophen darum gegangen sei, eine „neue Welt zu schaffen“9. Auch Johann Gottfried Eichhorn spricht in dem Zitat, das ich diesem Kapitel vorausgestellt habe, davon, dass die Hebräer eine ganz andere Nation geworden seien. Im letzten Kapitel wurden diese paradigmatischen Wenden bereits benannt und kurz entfaltet.10 Anhand der nun folgenden fünf Unterkapitel

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JOHANN GOTTFRIED HERDER, Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts, 1. Siehe EBD., 26. EBD., 41f. EBD., 3. Giorgio Agamben hat in seinem Aufsatz Was ist ein Paradigma (2009) den unterschiedlichen Gebrauch und die verschiedenen Funktionen des Paradigmas bei Thomas S. Kuhn und Michel Foucault herausgearbeitet. Für Kuhn steht das Paradigma einerseits für eine „Gesamtheit von Techniken, Modellen und Werten, denen sie sich mehr

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soll die Neuerfindung des Alten Testaments verdeutlicht werden: In einem ersten Schritt (1) werde ich auf die Bedeutung der Reisebeschreibungen eingehen und die erste deutsche wissenschaftliche Expedition in den Orient im Hinblick auf die Erforschung des Alten Testaments untersuchen, sowie Verbindungslinien zur Südsee als Ort realer und fiktionaler Entdeckungsreisen und als gewichtiger Haftpunkt des deutschen kolonialen Phantasmas aufzeigen. Im Spiegel der wissenschaftlichen Expeditionen nach Afrika des ausgehenden 19. Jahrhunderts will ich den kolonialen Gestus dieser ersten Orientreise stark machen. Die wissenschaftsgeschichtlichen Auswirkungen und der literarische Niederschlag der Orientexpedition stehen im Fokus des nächsten Unterkapitels. (2) Darin werde ich den Kontext der Suche nach dem Authentischen und den echten Quellen einspielen, der eng mit der Etablierung der Reiseberichte als Literatur- und Wissenschaftsform verbunden ist. Anhand der Debatte um die rechtliche Gleichstellung der Juden sollen politische Auswirkungen der wissenschaftlichen Neuinterpretation des Orients deutlich werden und schließlich die neu entstehenden Einleitungen ins Alte Testament als Mittel zur Erlangung intellektueller Autorität herausgestellt werden. Die Vorstellung von den Israeliten als einem sinnlichen, natürlichen und im Kindheitsstadium der menschlichen Natur befindlichen Volk soll im dritten Kapitel (3) entfaltet werden. Anhand von Johann Gottfried Herder möchte ich die Ordnung der Kulturen um 1800 untersuchen und schließlich zeigen, wie ein neues Paradigma in der Mythos-Forschung dazu führt, dass das Kindheitsalter der Welt als Schlüssel für die Lektüre und das Verständnis der biblischen

                                                             oder weniger bewußt zugehörig wissen.“ Gleichzeitig jedoch auch für ein einzelnes Element aus dieser Gesamtheit, das „als gemeinschaftliches Beispiel dienend, an die Stelle ausdrücklicher Regeln tritt und so eine bestimmte, in sich geschlossene Forschungstradition definiert.“ Michel Foucault dagegen gebrauche den Begriff des ‚Paradigmas’ immer wieder in seinen Schriften, jedoch ohne diesen genauer zu bestimmen. Als Leitbegriff fungiert bei Foucault der Begriff des ‚Wissens’. Die enge Verknüpfung von Wissen und Macht zeige sich daran, dass jenes Wissen stets konform zu gehen habe mit einer „Gesamtheit von Regeln und Imperativen“. Giorgio Agamben arbeitet nun die Gemeinsamkeit der beiden Ansätze von Foucault und Kuhn heraus und verweist auf die Abkehr einer Orientierung an universalistischen Normen und Regeln zugunsten der Wertschätzung des einzelnen Beispiels im Sinne des Paradigmas (Kuhn), bzw. der konkreten Dispositive (Foucault). Genauso macht er jedoch auch auf die Unterschiede aufmerksam, die von Foucault immer wieder deutlich akzentuiert wurden und vor allem die „Verlegung des Paradigmas aus der Epistemologie in die Politik“ betrafen. In Überwachen und Strafen (1976) führt Foucault die berühmte Figur des Panoptikums als „verallgemeinerungsfähiges Funktionsmodell“ ein. Sieht man sich die Erklärungsweise dieses Funktionsmodells genauer an, so ähnelt es dem, was Kuhn als ein Paradigma definiert hat. Unter Bezugnahme auf Aristoteles wird der „Paradigmatische Gestus“ von Agamben nicht als eine Bewegung vom Ganzen zum Besonderen oder vom Besonderen zum Ganzen gedeutet, sondern als eine Bewegung „vom Einzelnen zum Einzelnen“. Siehe GIORGIO AGAMBEN, Was ist ein Paradigma?, in: Ders., Signatura Rerum. Zur Methode, Frankfurt a. M. 2009, 11–39.

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Bücher implementiert wird. Dazu dient mir auch der von Johann Philipp Gabler herausgegebene Genesiskommentar von Johann Gottfried Eichhorn. Am Ende des Kapitels komme ich noch einmal auf Herder zurück und stelle die Figur der Schöpfungshierogylphe dar, in der sich die beschriebenen Vorstellungen vom Orient als Ursprung der Menschheit und die kulturspezifischen Implikationen und Vorannahmen der Echtheitsdiskussion bündeln lassen. Zudem wird an diesem Beispiel deutlich, inwiefern ein Eurozentrismus auch als Erkenntnisbarriere fungieren kann. In einem vierten Schritt (4) werde ich mich mit der Frage nach der Ordnung der Kulturen um 1800 in Bezug auf den Streit um die Gattungen des Alten Testaments beschäftigen. Dazu werde ich den Diskurs des Despotismus und dessen zeitgenössische Deutung, sowie die Verbindung mit genuin orientalischer Poesie, untersuchen. Anhand von Ausschnitten aus dem Spannungsfeld der entstehenden Literarkritik soll die Zuordnung zu ethnologischen Grundannahmen herausgearbeitet werden und anschließend die Verbindung zu orientalistischen und nationalen Diskursen aufgezeigt werden. Der Blick auf Phantasmen in der Literatur spannt den romantischen Resonanzraum auf, in den die Suche nach der Seele des Volkes eingeschrieben werden kann, bevor ich schließlich anhand der Figur des Sammlers noch einmal die eingangs gestellten Fragen aufnehmen und meine Untersuchungen bündeln werde.

5.1

Der reisende Deutsche: Die Reise nach Felix Arabia als Reise in die Vergangenheit „Hätten wir diese Sitten der Araber nicht, so würden wir die Geseze Mosis sehr selten aus einem ältern Herkommen erläutern können. Allein bey diesem abgesondert lebenden, und selten unter ein fremdes Joch gebrachten, Volke haben sich die alten Sitten so erhalten, daß man glaubt, in der Hütte Abrahams zu seyn, wenn man eine Beschreibung der herumziehenden Araber lieset.“11 Johann David Michaelis

Am 10. April 1782 erschien das Wochenblatt mit dem Titel „Der Reisende“ zum ersten Mal in Hamburg. In einem Vorwort an die geneigte Leser*innenschaft werden „Hamburgs Töchter und Söhne“ gerühmt, dass sie nicht als „Heimchen“ bekannt seien12, oder in ihrer Neugierde jemals stehen

                                                             11 JOHANN DAVID MICHAELIS, Mosaisches Recht, Bd. 1, Reutlingen 21785, 10. 12 ANONYMUS, Anrede an die Leser, in: Der Reisende. Ein Wochenblatt zur Ausbreitung gemeinnüzziger Kenntnisse, 1. Blatt, Hamburg 1782, 1–5, hier: 1.

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blieben, sondern zu loben wären „stündlich weiter zu streben“13. Diesem vorzüglichen Publikum wollen die Verfasser aktuelle Reiseberichte „der neuesten Beobachter jedes Landes und Volks, in zusammengedrängten Auszügen“14 darbieten. Nicht von ungefähr richtet sich das Wochenblatt gerade an die Deutschen, denn „Ausser den Juden, reiset wol kein Volk mehr, als Teutsche.“15

Trotz dieser regen Reisetätigkeit der Deutschen, sehen die Autoren noch einigen Verbesserungsbedarf und geben einige Ratschläge, die vor allem „Sprachen= und Sachen=Kenntnisse aus Büchern“, sowie Kenntnis „[der] vollständigsten und genauesten Landesbeschreibungen, und [der] scharfsinnigsten Bemerkungen über Sitten und Gebräuche der Völker, zu denen man reisen will“ beinhalten16. Der deutsche Orientalismus kann als ein Orientalismus aus zweiter Hand bezeichnet werden. Er schlägt sich vor allem in Reiseberichten, literarischen Werken und wissenschaftlicher Detailarbeit nieder. Eine wichtige Rolle spielten nicht Ethnographen oder Politiker, sondern protestantische Theologen.17 In diesem Kapitel werde ich an der Person Johann David Michaelis herausarbeiten, wie die im letzten Kapitel geschilderte Expedition in den Orient nun als Methode in die alttestamentliche Wissenschaft Einzug gehalten hat, welche Vorannahmen damit verbunden waren und welche weiteren Überschneidungen sich zwischen „dem reisenden Deutschen“ und Umbrüchen innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaftsgeschichte auftun. Als „Orientalisten am Rande der Theologie“ werden Johann David Michaelis und Johann Gottfried Eichhorn in einem Aufriss von Rudolf Smend bezeichnet.18 Damit ist zum einen auf die bleibende Außenseiterrolle der beiden Göttinger Wissenschaftler innerhalb der Theologie abgehoben, zum anderen aber auch der Ablösungsprozess der Altorientalistik aus dem Gesamtgefüge der Theologie eingespielt. In großer Unzufriedenheit mit dem Stand der Altorientalistik, die aus maschinenhaften Professoren bestehe, die den Liebhabern der Geisteswissenschaften ein Gräuel seien, zielte Michaelis mit seiner orientalistischen Arbeit weniger auf die Altorientalistik als solche, sondern stets mehr auf die Welt des Alten Testaments ab.19 Doch noch etwas ist mit der Rede von den Rändern und der Rolle des Orients stets mitgedacht. So hat                                                              13 14 15 16 17

EBD., 2. EBD., 3. ANONYMUS, Ueber das Reisen der Teutschen, a.a.O., 6–11, hier: 6. EBD., 8. Siehe DANIEL WEIDNER, Hieroglyphen und heilige Buchstaben: Herders orientalische Semiotik, in: Wulf Köpke/ Karl Menges (Hg.), Herder Jahrbuch VII/2004. Studien zum 18. Jahrhundert, Heidelberg 2004, 45–68, hier: 45. 18 Siehe RUDOLF SMEND, Johann David Michaelis und Johann Gottfried Eichhorn- Zwei Orientalisten am Rande der Theologie, in: Bernd Moeller (Hg.), Theologie in Göttingen: Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, 58–81. 19 Siehe MARCHAND, German Orientalism, 38f.

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Ulrike Brunotte mit Verweis auf Edward Said herausgearbeitet, dass es bei der Beschreibung und wissenschaftlichen Erschließung des Orients keineswegs um eine exotische Auseinandersetzung mit einer irgendwie gearteten „Randzone“ europäischer Vergewisserung und Selbstvergewisserung gehe: Hierbei werden vielmehr die wissenschaftlichen Zentren in den Blick genommen und es wird durchsichtig, wie die Generierung und Etablierung von Herrschaftswissen funktioniert.20 Johann David Michaelis eignet sich als Ausgangspunkt der Betrachtung, da er nicht nur als einflussreiche Persönlichkeit die Erforschung des Alten Testaments hinreichend geprägt hat, sondern auch für die Etablierung der Reisebeschreibung als Methode in der alttestamentlichen Wissenschaft eine Schlüsselrolle gespielt hat.21 Geboren im Jahr 1717 in Halle an der Saale, wirkte Michaelis von 1745 bis zu seinem Lebensende in Göttingen, einer der wichtigsten Aufklärungsuniversitäten in Deutschland. Dabei können seine Überzeugungskraft, sein wissenschaftliches Prestige und sein Wirkungsfeld beileibe nicht auf die Orientalistik oder etwa die Wissenschaft des Alten Testaments eingeschränkt werden. Rudolf Smend zählt seinen Namen zu den bedeutendsten, nicht nur in der Theologie, sondern „in der gesamten Wissenschaft“22 – ein Urteil, dem sich weitere Stimmen angeschlossen haben.23 Schon sein Schüler Eichhorn spricht in seinem Nekrolog davon, dass er ein „Gelehrter, auf den die Augen einer halben Welt gerichtet waren“ gewesen sei.24 Den größten Nutzen zur Erhellung dunkler Seiten der Bibel maß Michaelis der Philologie bei, die er selbst lebenslang betrieb. Dabei gelangte er auch durch die Auseinandersetzung mit Albert Schultens zu der Einsicht, dass die Hebräische Sprache nicht göttlichen Ursprungs sei und zudem längst nicht so alt wie gedacht und von zahlreichen Veränderungen geprägt worden sei.25

                                                             20 Siehe ULRIKE BRUNOTTE, Religion und Kolonialismus, 345. 21 Hier und im Folgenden gibt es Überschneidungen zu meinem Aufsatz SIMON WIESGICKL, Die kolonialen Anfänge der historisch-kritischen Methode. Über blinde Passagiere beim (Be)kennen der Schrift, in: Carsten Jochum-Bortfeld/ Rainer Kessler (Hg.), Schriftgemäß. Die Bibel in Konflikten der Zeit, Gütersloh 2015, 249–268. Der angezeigte Aufsatz spiegelt einen vorläufigen Stand meiner Forschungen wider. In der vorliegenden Arbeit habe ich das Argument und die Darstellung noch einmal gründlich überarbeitet, dennoch kommt es zu einzelnen wörtlichen Parallelen. 22 RUDOLF SMEND, Johann David Michaelis. Festrede im Namen der Georg-AugustsUniversität zur akad. Preisvertheilung am VIII. Juni, Göttingen 1898, 5. 23 Siehe etwa, MICHAEL C. LEGASPI, The Death of Scripture, 80f.; HANS-JOACHIM KRAUS, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, 97. 24 JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Eichhorns Bemerkungen über J.D. Michaelis Litterarischen Character, in: Johann David Michaelis, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt, mit Anmerkungen von Hassencamp. Nebst Bemerkungen über dessen litterarischen Character von Eichhorn, Schulz und dem Elogium von Heyne, Rinteln/ Leipzig 1793, 145–226, hier:156. 25 Siehe ANNA-RUTH LÖWENBRÜCK, Johann David Michaelis’ Verdienst um die philologisch-historische Bibelkritik, in: Henning G. Reventlow et al. (Hg.), Historische Kritik

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Schultens hatte er während seines Aufenthalts in Leyden, zum damaligen Zeitpunkt das Zentrum der europäischen Orientalistik, im Jahr 1741 kennen gelernt.26 Dieser hatte insbesondere die Bedeutung des Arabischen herausgestellt und dessen Nützlichkeit für die im Hebräischen unklar bleibenden Textstellen.27 Die philologischen Forschungen bündelte Johann David Michaelis in der Schrift Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene hebräische Sprache zu verstehen von 1757.28 Darüber hinaus war Michaelis einer der ersten biblischen Wissenschaftler innerhalb Deutschlands, der sich ausgiebig auf Reiseliteratur, ethnographische Studien und das vorhandene Wissen über orientalische Kulturen, Gesellschaften und Länder stützte.29 Dies begründete er damit, dass er über das Alte Testament urteilte: „Allein über das ist das alte Testament ein Buch, welches uns gleichsam zwinget in die ganze Naturgeschichte und Sitten der Morgenländer hineinzugehen, wenn wir es verstehen wollen.“30

Damit folgte er seinem Kollegen Samuel Bochartus, übertraf diesen jedoch in Bezug auf die Wirksamkeit. Denn seine Leserschaft beschränkte sich nicht nur auf seine Studenten, sondern er gewann durch die Popularisierung der Bibelwissenschaften ein breites Publikum aus fast der gesamten damaligen (nordeuropäischen) gelehrten Welt sowie zahlreiche Fürsten und Könige als Leser.31 Die Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen, die Michaelis ab 1753 herausgab wie auch die Zeitschrift Orientalische und Exegetische Bibliothek, die er nach der Niederlegung seines Amts bei den Göttingischen An-

                                                             26

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und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung, Wiesbaden 1988, 157–170, hier: 162. Vergleiche auch ANNA-RUTH LÖWENBRÜCK, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung. Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitismus am Beispiel des Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717-1791), Frankfurt a. M. u.a. 1995, 86. Für die Bedeutung Michaelis in der Veränderung der Hebräischen Philologie zu Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts vergleiche auch HOLGER GZELLA, Expansion of the Linguistic Context of the Hebrew Bible/Old Testament: Hebrew among the Languages of the Ancient Near East, in: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation, Volume III. From Modernism to Postmodernism (The Nineteenth and Twentieth Centuries). Part 1, The Nineteenth Century - a Century of Modernism and Historicism, Göttingen 2013, 134–167. JOHANN DAVID MICHAELIS, Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene hebräische Sprache zu verstehen, Göttingen 1757. Siehe MICHAEL C. LEGASPI, The Death of Scripture, 164f. JOHANN DAVID MICHAELIS, Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, die auf Befehl Ihro Majestät des Königs von Dänemark nach Arabien reiset, Frankfurt a. M. 1762, Vorrede, b5f. Siehe, MICHAEL C. LEGASPI, The Death of Scripture, 8f.

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zeigen 1770 begründete und bis 1789 allein verantwortete, waren mit die ersten Fachzeitschriften, die sowohl der öffentlichen Debatte als auch der Schaffung eines Diskursraumes dienten.32

5.1.1 Exkursion ins „Glückliche Arabien“ Die größte Öffentlichkeit erregte er jedoch mit der Vorbereitung der ArabienExkursion, die unter Teilnahme des gelehrten europäischen Publikums über die Bühne ging und von Michaelis sowohl mit der Ausarbeitung verschiedener Fragen vorbereitet wurde als auch in Aufsätzen theoretisch begründet und gerechtfertigt wurde.33 Diese Reise kann als die „erste moderne Forschungsreise der europäischen Geschichte“34 und „einzige ‚deutsche’ Orientexpedition“35 gelten. In der Vorrede zu seinen gelehrten Fragen spricht Michaelis von zwei grundsätzlichen Mängeln, die bei den meisten Reisen eine Beeinträchtigung der Ergebnisse mit sich führten: Zum einen der Mangel an sprachlichen Kenntnissen, zum anderen das Fehlen einer von Gelehrten, die eine Bibliothek zur Hand haben, ausgearbeiteten Fragenliste. Sowohl mit seiner sorgfältigen Auswahl der Gelehrten, die die Reise antraten, als auch mit der Ausarbeitung einer Liste von 100 Fragen an dieselben hat Michaelis hier Abhilfe geschaffen. Die Fragen hat er dabei einem ausgewählten Kreis an Freunden, die sich des Abends bei ihm versammelten, sozusagen probehalber vorgetragen und deren Reaktionen, Zweifel und Anregungen mit eingebracht.36 Nur die Fragen, die vor diesem ausgewählten Publikum standhielten und nicht schon ad hoc beantwortet werden konnten, wurden in die Frageliste übernommen. In seiner Vorrede geht Michaelis nicht nur auf die genannten Missstände bisheriger Exkursionen ein, sondern äußert sich auch über den finanziellen Nutzen und den Ertrag der Reise indem er anführt, dass auch bei der Entdeckung Amerikas nicht mit einem solchen Fund im Vornherein zu rechnen war und dies doch niemanden abgehalten hätte. Nun da es keine neuen Erdteile mehr zu entdecken gebe, sei es jedoch immer noch möglich, wichtige und lohnende Entdeckungen zu machen, wenn auch nur nebenbei. Den Reisenden gibt er auf den                                                              32 Vergleiche für die Bedeutung der Zeitschriften und deren Leserschaft auch SUZANNE MARCHAND, German Orientalism, 41. 33 Siehe dazu die Schriften von Michaelis: JOHANN DAVID MICHAELIS, Von einer nützlichen Reise nach Palästina und Arabien, in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1753, 1241–1244; JOHANN DAVID MICHAELIS, Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, passim. 34 Siehe DIETER LOHMEIER, Carsten Niebuhr. Ein Leben im Zeichen der arabischen Reise, in: Josef Wiesehöfer / Stephan Conermann (Hg.), Carsten Niebuhr (1733–1815) und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.-10. Oktober 1999 in Eutin, Stuttgart 2002, 17–41, hier: 24. 35 DANIEL WEIDNER, Hieroglyphen und heilige Buchstaben, 45. 36 Siehe JOHANN DAVID MICHAELIS, Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, Vorrede b5.

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Weg: „Sie mögen ihren Fleiß bloß den Wissenschaften widmen. Das nützliche wird sich mitten darunter von selbst einmengen.“37 Die Reise dient dabei nicht dem selbstlosen Zweck einer wissenschaftlichen Aufarbeitung eines dunklen Fleckens der Landkarte, sondern Michaelis verspricht sich einige Ergebnisse im Hinblick auf ungeklärte exegetische, philologische und mentalitätstheoretische Fragestellungen. Die Begründung für das „glückliche Arabien“ als Zielort der gelehrten Exkursion und nicht etwa Palästina lautet bei Michaelis selbst folgendermaßen: „Ich muß noch hinzusetzen, daß ein Land vernachläßiget zu seyn scheinet, welches am vorzüglichsten eine Untersuchung verdiente. Wie viel Reisebeschreibungen von Palästina und Ägypten haben wir? wie viele Wiederholungen stehen darinne? wie viel unnützes von fabelhaften heiligen Oertern? (...) Allein das darf ich doch wohl fragen: wie wenige Reisebeschreibungen vom glücklichen Arabien haben wir? Dieß Land ist noch an uns unbekannten Geschenken der Natur reich; seine Geschichte steiget bis in die allerältesten Zeiten hinauf; seine (sic!) Dialekt ist von dem uns bekannten westlichen Arabischen noch verschieden, und da dieß Arabische, welches wir kennen, bisher das sicherste Hülfsmittel zur Erklärung des Hebräischen gewesen ist, was für Licht müßten wir denn billig für das allerwichtigste Buch des Alterthums, für die Bibel, erwarten, wenn wir die östliche Dialect Arabiens so gut kennen lernten, als die westliche? was in der einen Mundart untergegangen ist, wird vielleicht in der andern übrig seyn, z.B. die Namen von manchen Pflanzen oder Edelgesteinen.“38

Doch nicht nur in philologischer Hinsicht verspricht sich Michaelis Gewaltiges von der Reise. In systematischer Weise wird sein Gedankengang erkennbar aus der Mitteilung in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen, warum gerade Arabien ein so lohnendes Ziel sei: „...und doch müßten in diesem Lande, so nicht durch fremde Herrschaft oder Handel ausländische Sitten bekommen hat, die alten Sitten aus dem Hause Abrahams, so fast alle Reisenden auch an den Arabern in fremden Ländern erkennen, viel kenntlicher seyn, als bey ihren in Palästina oder gar in der Barbarey herumschweifenden Horden.“39

In diesem Gedankengang wird ein orientalistisches Klischee deutlich, dass nämlich die orientalischen Völker durch einen Mangel an Geschichte ausgezeichnet seien und sich demnach die „alten Sitten aus dem Hause Abraham“ dort unverfälscht erhalten haben könnten. Zumindest eben dort, wo nicht durch andere Völker und Länder eine Überformung und Beeinflussung der ursprünglichen Kulturen stattgefunden haben könnte. Dass Michaelis hier vor allem an europäische Eroberungen denkt, scheint mir deutlich zu sein und ebenfalls in das Setting des orientalistischen Klischees zu passen. Bereits John Webb (1611–1672) hatte in Auseinandersetzung mit Berichten der Jesuiten über ihre

                                                             37 JOHANN DAVID MICHAELIS, Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, Vorrede c2. 38 EBD., a5f. 39 JOHANN DAVID MICHAELIS, Von einer nützlichen Reise nach Palästina und Arabien, 1242.

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Missionstätigkeit und Kulturkontakte in China in seinem Aufsatz The Antiquity of Chin: Or an Historical Essay (1678) die These entwickelt, dass sich Überreste einer Urreligion bei direkten Nachkommen Noahs erhalten haben müssten. Das Alter und die Unzugänglichkeit der sprachlichen Zeugnisse hatten ihn in der Meinung bekräftigt, in China die ursprüngliche Landung der Arche Noah lokalisieren zu können, statt auf dem Berge Ararat in Mesopotamien.40 Das Argument, mit dem hantiert wird, weist erstaunliche Parallelen zum Gedankengang Michaelis auf: Auch er führt an, dass die Chinesen niemals durch einen Verkehr mit Fremden hätten korrumpiert werden können.41 Die Parallelität geht sogar so weit, dass Webb die Bemerkung Tertullians, er habe die Aufzeichnungen Henochs in Felix Arabia gelesen, dahingehend kommentiert und fortführt, dass die in China gefundenen Dokumente und Hieroglyphen aus der Feder eines Zeitgenossen Henochs stammen müssten, wenn sie nicht sogar älter seien. Diese kurze Einblendung einer älteren Forschungstradition ist nicht gedacht, die Leistung und Originalität des Denkens Michaelis zu schmälern, sondern stattdessen auf die bemerkenswerte Analogie des Arguments aufmerksam zu machen und eine metahistorische Bemerkung daran anzuschließen. Diese Vorstellung, dass nur der Westen eine Geschichte und eine fortschreitende Entwicklung habe, während der Osten immer gleich und auf einem primitiven Stand bleibe, ist nämlich neben der These vom Verfall einst blühender Kulturen, ein beliebtes Narrativ, das in theoretischer Weise von Johannes Fabian umfassend analysiert worden ist.42 Bei Michaelis finden sich in den Fragen weitere solcher Konstruktionen, die sich mit einer heutigen Brille als orientalistische Klischees aufdecken lassen. Dies bedeutet nicht, dass damit der Charakter dieser ernsthaften und wissenschaftlichen, teils sehr naturalistischen Ausarbeitung an Fragen in Zweifel gezogen werden soll. Vielmehr soll gezeigt werden, dass sich durch diese so objektive und den gelehrten Stand der Zeit repräsentierende Fragenreihe orientalistische Klischees hindurchziehen. Diese lassen sich nicht mit der Beschränktheit oder dem Charakter des Verfassers erklären, sondern verweisen auf strukturelle und dem Diskurs und der wissenschaftlichen Methode eingeschriebene Repräsentationsmodelle. Die Konstruktion eines allochronen Raumes des Orients, der die Welt der Bibel, Projektionen von Michaelis und das

                                                             40 Siehe hierzu URS APP, The Birth of Orientalism, 274. 41 Siehe JOHN A. WEBB, The Antiquity of China or an historical Essay endeavoring a probability that the Language of the Empire of China is the primitive Language spoken through the whole world before the Confusion of Babel, London 1678, 48. Vergleiche dazu URS APP, The Birth of Orientalism, 275. 42 In seiner Kritik der westlichen Anthropologie und ihres Umgangs mit der Zeit zeigt Johannes Fabian auf, wie Forschungsreisen Teil wissenschaftlicher Praxis wurden und die Forschungsreise mit einer Reise in die Vergangenheit gleichgesetzt wurde. Siehe JOHANNES FABIAN, Time and the Other. How Anthropology makes its Object, New York 22002, hier: 6f.

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zeitgenössische Felix Arabia miteinander verschränkt, soll an einigen Beispielen vorgeführt werden. In der Frage 10 seines Katalogs verknüpft Michaelis eines der gängigsten Klischees über den Orient und dessen besondere Promiskuität mit einer Frage, die auf die Klärung exegetischer Details abzielt. So gibt er den Gelehrten auf: „Die Hausgeschichte mancher berühmten Araber, selbst die von dem Leben des Muhammeds, lehret, daß sie eine sonderbare Lust zum Beyschlaf in der Zeit der monathlichen Reinigung haben: Ein desto wunderlicherer Eigensinn ihrer Wollust, weil bey der Vielweiberey der Antrieb dazu wegfällt, der in Europa einige Ehemänner fast zu dieser Unreinlichkeit zwinget. Moses hat diesen Beyschlaf nicht nur als bürgerlicher Gesetzgeber untersaget, sondern auch die Strafe des Todes daraufgesetzt. 3. Buch Moses 20,18. Dies läßt uns vermuthen, daß er sehr schädliche Folgen, wenigstens von dessen öftern Wiederholung, dazu die morgenländische Wollust trieb, besorget haben müsste.“43

Michaelis spielt im Verlauf der Frage den Stand der exegetischen Forschung zu diesem Thema ein und verweist noch auf einige medizinische Vermutungen, die das Krankheitsbild der „geilen Seuche“ betreffen, die daraus entstehen soll. Wie in diesen wenigen Zeilen, die sowohl durch den mehrmaligen Verweis auf den Wissensstand der Zeit, als auch durch scheinbar naturwissenschaftliche Beobachtungen zu einem objektiven Bild einladen, vor allem Identitäten konstruiert und Repräsentationen entworfen werden, lässt sich am Abschluss der Frage gut sehen, die Michaelis wie folgt beendet: „Allein bey Aussätzigen, und bey solchen, die in der Polygamie leben, und unter einem sehr eifersüchtigen Volk, ist vielleicht die Frage etwas leichter als bei uns.“44

Aus dieser Zusammenstellung wird zweierlei deutlich, nämlich zum einen die Folie, von der sich der europäische Universalgelehrte, der die Fragen in seinem Kabinett formuliert, abzugrenzen versucht, und zum anderen, wie die Personen des imaginierten und klischeegeschwängerten Morgenlandes gleichsam mit den Personen der Bibel und dem Volk des Moses hybridisiert werden. In der 24. Frage beschäftigt sich Michaelis eingehend mit einem Samum genannten Wüstenwind und kommt über die Reihung ins Detail gehender Fragen schließlich zu der grundsätzlichen Bemerkung: „Da die Orientaler keine Naturkundigen sind, so sind ihre Nennungen zu Beantwortung der letzten Frage eine bloße Nebensache. Ich nehme mir die Freyheit ein Experiment vorzuschlagen, und zugleich eine Vermuthung, die mir entstanden ist, der nähern Prüfung der Reisegesellschaft anzuempfehlen.“45

                                                             43 JOHANN DAVID MICHAELIS, Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, 18f. 44 EBD., 19. 45 EBD., 46f.

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Die Bewohner des Landes werden bei Michaelis damit zu bloßen Informanten abgestempelt, die nach dem Grad ihrer Zuverlässigkeit beurteilt werden können, aber nie in die Nähe ernsthafter Gelehrter oder „Naturkundiger“ nach Art und Vorbild der europäischen Entdecker rücken können. Mit David Chidester kann eine solche Charakterisierung als koloniales Wissen gekennzeichnet werden. Chidester arbeitet am Beispiel Henry Callaways und der Zulu heraus, dass dieser das Gefühl hatte, selbst deren Religion weit mehr zu durchdringen als es jene jemals schaffen könnten.46 Was bereits mit Blick auf die Gleichzeitigkeit der biblischen Gestalten mit den Arabern zu Michaelis’ Zeit angeführt wurde, lässt sich im Hinblick auf die Zuverlässigkeit noch einmal herauspräparieren: Bei der Frage 29, die sich dem Weihrauch widmet, wird vermutet, dass die Araber nur widerwillig zu einem solchen ökonomischen Gut Auskunft geben werden, da sie fürchten müssten, dass jede Auskunft ihre Handelsinteressen schmälern könnte. In die Linie dieser verschlagenen Araber zeichnet Michaelis in einem beachtenswerten Vorgang auch die Figur des biblischen Salomo als einheimischen Informanten ein. Zwar behaupten eben die Araber die Gebirge, auf denen der Weihrauch wächst, seien gesundheitsschädlich, doch lässt sich dies als eine ökonomische Lüge entlarven, „Wenigstens scheint Salomon, den ich hier wohl als einen einheimischen Zeugen betrachten kann, Hohelied 4,6, keine Ungesundheit der Weyhrauchsgebirge zu kennen.“47

Der Orient wird so nicht als Raum der Begegnung unterschiedlicher Wissenstraditionen und gelehrten Austauschs definiert, sondern dient dem europäischen Gelehrten als eine Art leere Projektionsfläche, die sich wunderbar zum Abgleichen der eigenen Vorannahmen eignet oder eben um Experimente durchzuführen, die sich nicht der Pragmatik des Austausches vor Ort, sondern der Vorüberlegungen des Lehnstuhlgelehrten verdanken. Dass Michaelis selbst nicht an der Reise teilnahm, sondern nur die Mitglieder vorschlug, berief und instruierte, ergibt sich aus dieser Logik dann fast zwangsläufig.

                                                             46 Siehe DAVID CHIDESTER, Primitive Texts, Savage Contexts: Contextualising the Study of Religion in Colonial Situations, in: Method and Theory of the Study of Religion 15 (2003), 272–283, hier: 277. 47 JOHANN DAVID MICHAELIS, Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, 72.

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5.1.2 „So ehrlich und unverdächtig (...) als ein gerichtliches Protocoll“48: Der literarische Niederschlag der Reise Es ist nun eine ironische Volte der Geschichte, dass mit Carsten Niebuhr gerade einer der Reisenden überlebte, der nicht einmal Hebräisch konnte49 und der als Geograph zwar einige neue Karten mitbrachte, aber auf die Kernfragen von Michaelis, die in obigem Abschnitt deutlich werden, nicht eingehen konnte. Auch mit dem Arabischen tat sich Carsten Niebuhr schwer und brach den Unterricht nach mehreren Monaten, in denen er nicht über die Einleitungskapitel hinaus gekommen war, schließlich ab.50 Als Arabist und Kenner der verschiedenen „morgenländischen Sprachen“ war Herr von Haven ausersehen, der in Göttingen und Rom eine Art Vorstudium für die Reise absolvierte und sich insgesamt fünf Jahre auf die Expedition vorbereitete. Allerdings war er für Michaelis eigentlich nur zweite Wahl, setzte sich dann aber gegen seinen Konkurrenten durch.51 Für die Zielrichtung der Reise war es ein großer Rückschlag, dass er als der erste der Gelehrten am 25. Mai 1763 in Mokka an den Folgen der Malaria verstarb. Allerdings hatte sich da schon herauskristallisiert, dass die sprachlichen Aufgaben, die ihm zugedacht waren und insbesondere die philologischen Fragestellungen, die Michaelis seiner wissenschaftlichen Expertise anvertraut hatte, für Von Haven eine Nummer zu groß gewesen waren.52 Carsten Niebuhr, der als einziger Reisender die Strapazen und vor allem die Krankheiten der Reise überstand, kann als ein begnadeter Autodidakt gelten, vor allem aber als bescheidener Landvermesser. Er wusste um seine beschränkten Fähigkeiten und Kenntnisse, vor allem da er in seinen Berichten im Anschluss an die Reise eine Ansammlung von hochrangigen Wissenschaftlern alleine vertreten musste.53 Eine weitere Schwierigkeit, die von Michaelis gestellten Fragen gänzlich zu beantworten, lag auch darin begründet, dass sie Niebuhr erst erreichten, als er schon in Bombay war, also das „Glückliche

                                                             48 JOHANN DAVID MICHAELIS, Rezension der Beschreibung von Arabien, in: Orientalische und exegetische Bibliothek 4 (1773), 64–127, hier: 76. 49 Siehe hierzu auch DANIEL WEIDNER, Strategien des Wissens, Taktiken des Reisens – Carsten Niebuhrs Reisen im Orient, in: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart / Weimar 2005, 100– 125, hier: 101. 50 Siehe die amüsante und kurzweilige Erzählung in dem Roman: THORKILD HANSEN, Reise nach Arabien. Die Geschichte der Königlich Dänischen Jemen-Expedition 1761–1767, Hamburg 1965, 36f. 51 Siehe EBD., 15. 52 Vergleiche EBD., 277ff. 53 Siehe DIETER LOHMEIER, Carsten Niebuhr. Ein Leben im Zeichen der arabischen Reise, 21.

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Arabien“ bereits hinter sich gelassen hatte.54 Dennoch arbeitet sich Niebuhr im Anschluss an die Expedition unter Zuhilfenahme der Aufzeichnungen von Peter Forsskål und unterstützt von J.J. Reiske (1716–1774) an den Fragen Michaelis ab und erwähnt immerhin 89 der 100 Fragen.55 Der schwedische Biologe Peter Forsskål verdient besondere Erwähnung als einer der begabtesten Schüler des großen Naturforschers Carl von Linné, der im Jahr 1735 sein epochemachendes Werk Systema Naturae vorgelegt hatte, das als erstes ein umfassendes Kategorisierungsprinzip entwickelt, das alle bekannten und unbekannten Pflanzen erfassen sollte. Damit und mit der im selben Jahr startenden Forschungsreise zur Bestimmung der Gestalt der Erde ist Europa in ein neues Zeitalter eingetreten, nämlich das eines planetarischen Bewusstseins „gekennzeichnet durch eine Orientierung an innerer Erkundung und der Konstruktion einer weltweiten Beschreibungsebene mit Hilfe des deskriptiven Apparats der Naturgeschichte.“56

Dieses neue Verständnis sieht Mary Luise Pratt als grundlegend für den Eurozentrismus an, der im folgenden Jahrhundert zu so etwas wie der zweiten Haut der Europäer werden sollte.57 Ungeachtet dieser Vorwürfe zeigt sich Niebuhr als selbst-reflexiver Erzähler und Reisender, der kritisch die eigenen Fehler offen anspricht: „Wir hatten beschwerliche Wege, und manchen Verdruß mit den Einwohnern, vielleicht aber zuweilen nur deswegen, weil wir dieses Land und seine Einwohner nicht genug kannten, und oft mit Unrecht Ursache zu haben glaubten uns zu beschweren, ohne uns zu erinnern, daß man selbst in Europa nicht immer mit Vergnügen reiset.“58

Niebuhr geht sogar so weit zu sagen, dass die Europäer meist zu früh über andere Nationen urteilten, ohne diese recht zu kennen.59 Die allgemeine

                                                             54 Siehe LUCIAN REINFANDT, Vierzig Jahrhunderte mit dem Astrolabium auf den Kopf gestellt. Carsten Niebuhr in Ägypten, in: Josef Wiesehöfer / Stephan Conermann (Hg.), Carsten Niebuhr (1733–1815) und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.–10. Oktober 1999 in Eutin, Stuttgart 2002, 105–119, hier: 113. 55 Siehe FRIEDHELM HARTWIG, Carsten Niebuhrs Darstellung von Jemen in seiner „Beschreibung von Arabien“ (1772) und dem ersten Band seiner „Reisebeschreibung nach Arabien“ (1774), in: Josef Wiesehöfer / Stephan Conermann (Hg.), Carsten Niebuhr (1733-1815) und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.–10. Oktober 1999 in Eutin, Stuttgart 2002, 155–202, hier: 160. 56 „[…] marked by an orientation toward interior exploration and the construction of global-scale meaning through the descriptive apparatuses of natural history“: MARY LUISE PRATT, Imperial Eyes, 15. 57 Siehe EBD., 15. 58 CARSTEN NIEBUHR, Beschreibung von Arabien. Aus eigenen Beobachtungen und im Lande selbst gesammleten Nachrichten abgefasset von Carsten Niebuhr, Copenhagen 1772, IX. 59 Siehe EBD., X.

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Schwierigkeit, brauchbare Antworten zu erhalten, schildert Niebuhr folgendermaßen: „Es ist für einen Reisenden, welcher nur eine kurze Zeit in einer Stadt bleiben kann, oft schwer mit Leuten in Bekanntschaft zu kommen, die von den Einwohnern für gelehrt gehalten werden, und wenn man auch würklich einigemal Zutritt bey ihnen erhält, so macht es ihnen doch gar kein Vergnügen, von einem Fremden mit Fragen überhäuft zu werden. Man muß deswegen nach allem, was man zu wissen verlangt, nur beyläufig fragen. Hierzu gehört nicht nur viele Geduld und Zeit, sondern man muß auch sehr aufmerksam und mißtrauisch auf die Antworten sein, weil man auch in den Morgenländern Leute findet, die mit Fleiß, oder aus Unwissenheit Unwahrheiten sagen, um einen Fremden nicht gleich von allem zu unterrichten, oder um das Ansehen zu haben als wüßten sie alles.“60

Mit diesem Mangel musste Niebuhr zurecht kommen. Dem Ethos und Selbstanspruch Carsten Niebuhrs wollen wir mit einem abschließenden Zitat aus der Vorrede auf die Spur kommen: „Ich habe also meine Beschreibung von Arabien bloß aus eigenen Beobachtungen, und von den Einwohnern dieses Landes mündlich eingezogenen Nachrichten zusammen getragen. Sie ist freylich nicht vollständig, welches schon daraus erhellt, daß man die Namen vieler Städte und Dörfer welche man bey dem Scherif Edris und Abulseda antrift, hier nicht wieder findet, ob ich gleich nicht zweifle, daß viele davon noch jetzt übrig sind. Hingegen habe ich von vielen merkwürdigen alten Städten, und kleinen Herrschaften dieses Landes, Nachrichten erhalten, welche bisher in Europa ganz unbekannt waren. Und weil man von einem Reisenden vornehmlich Beobachtungen verlangt, so wird man es gewiß lieber sehen, daß ich die Örter, wovon ich selbst in Arabien keine Nachricht erhalten habe, gar nicht erwähne, als wenn ich meine Beschreibung aus schon bekannten Büchern hätte vollständiger machen wollen.“61

Genau diese vermeintlich objektive Beschreibung und bloße Aufzählung von nackten Tatsachen ist von Stephan Conermann kritisch hinterfragt worden.62 Hans-Jürgen Lüsebrink geht sogar so weit zu konstatieren: „Wissen über die koloniale Welt war im 18. Jahrhundert immer auch Herrschaftswissen“63.

Aufgrund interner Streitigkeiten verbrachte die Gesellschaft deutlich mehr Zeit in Ägypten als eigentlich geplant. Und so ergab sich bereits vor der Bereisung des eigentlichen Expeditionsziels die Möglichkeit, wissenschaftliche Forschungen anzustellen, unauffällige Vermessungstechniken zu entwickeln und „die Orientalen“ im Grundsätzlichen zu charakterisieren.                                                              60 EBD., XVIII. 61 EBD., XXf. 62 Siehe STEPHAN CONERMANN, Carsten Niebuhr und das orientalistische Potential des Aufklärungsdiskurses – oder: Ist das Sammeln von Daten unverdächtig?, in: Josef Wiesehöfer / Ders. (Hg.), Carsten Niebuhr (1733–1815) und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.–10. Oktober 1999 in Eutin, Stuttgart 2002, 403–432. 63 HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK, Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, 16.

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Carsten Niebuhr erlebte ein Ägypten, das unter dem expansiv agierenden Mamluken Alī Bey al-Kabīr eine Phase der islamischen Modernisierung durchlief.64 Zugleich wurde er Zeuge der starken Machtkonflikte zwischen den lokalen Herrschern und Zentralisierungstendenzen, die er fälschlicherweise als Ausdruck einer republikanischen Gesinnung deutet. Dabei spiegelt die Macht der Ratsversammlung in Kairo genauso den Widerstand gegen übergeordnete Instanzen wider, wie auch die Aufstände und Überfälle der Beduinenstämme auf dem Land, die sich in einem jahrhundertelangen Kampf gegen Unterwerfungen durch die Zentralregierung zur Wehr setzten.65 Der Bericht Carsten Niebuhrs ist jedoch fern davon, geschichtliche und politische Ereignisse im Zusammenhang darzustellen; vielmehr vermisst er Ägypten nach Art der Landvermesser auch dort, wo er ethnographische Untersuchungen anstellt und etwa Land und Leute nach ihrer Kleidung und ihren ausgeübten Ämtern schildert.66 In die Schilderung sozialer Unterscheidung anhand der Haartracht mischt sich unversehens der Topos von der „Wollust der Morgenländer“67. Wenn es um die Musik der Ägypter geht, so verallgemeinert Niebuhr, dass die Morgenländer eben die Tonkunst geringer schätzten als die Europäer, keine Experten seien und er niemals jemanden gesehen habe, der Noten zu Papier gebracht hätte.68 Es schließen sich despektierliche Werturteile über die Musik an. Die Melodien werden immerhin als „ernsthaft und simpel“69 beurteilt, nur um anschließend festzuhalten, dass sich Niebuhr mit Musik leider nicht auskenne und das Einzige, was er leisten könne auf diesem Gebiet, darin bestehe, die gesehenen Instrumente abzuzeichnen.70 So entsteht eine Skizze der Gesellschaft, die sich in wissenschaftlichen und technischen Beschreibungen erschöpft und doch immer wieder in Anekdoten und Urteilen Stereotype aufblitzen lässt. Dabei tauchen diese auch in vergifteten Lobeshymnen auf, wie der von der überraschenden Höflichkeit, die immer wieder Thema ist und mehr über die Befindlichkeit und Vorurteile Niebuhrs verrät, als über das Verhalten der Araber.71 Wie verhält es sich nun mit den von Michaelis gestellten Fragen und den Bezügen zum Alten Testament? Sofern Niebuhr hierauf eingeht, sind es viel-

                                                             64 Siehe REINFANDT, Vierzig Jahrhunderte mit dem Astrolabium auf den Kopf gestellt, 107. 65 Vergleiche EBD., 108. 66 Für diese Beobachtung, siehe EBD., 119. 67 Siehe CARSTEN NIEBUHR, Carsten Niebuhrs Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern, Erster Band, Kopenhagen 1774, 160. 68 Siehe EBD., 175. 69 EBD., 176. 70 Siehe EBD., 176ff. 71 Siehe hierfür exemplarisch EBD., 297 und in Bezug auf die vermeintlich primitiven Bewohner der Wüste EBD., 292.

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fach nur Randbemerkungen, die jedoch für den weiteren Fortgang der wissenschaftlichen Diskussion aufschlussreich sein können. Bei der Schilderung einer Wassermaschine schreibt Niebuhr: „II. ist die Abbildung einer andern Maschine, vermittelst welcher die Egypter das Land wässern, und vermuthlich eben dieselbe wovon Moses Deut. XI, 10 redet (...) Ich habe davon in Egypten nur eine einzige, und zwar in Birket el jusbekie zu Kahira angetroffen, indessen sah ich sie nachher auch in Indien.“72

Und wenige Seiten später heißt es: „Die Egypter brauchen noch jetzt Ochsen zum dreschen so wie schon die Israeliten zu Moses Zeiten (5 Buch XXV.4), aber ihre Dreschmaschine ist kein Stein wie der Araber ihre, sie besteht auch nicht aus Brettern, unter welche scharfe Feuersteine befestigt sind, wie die Dreschmaschine der Syrer (Beschreibung von Arabien S. 158), sondern sie ist ein Schlitten von der Figur wie ich ihn bey E auf der Tabelle XVII. im Grundriß und von der Seite abgebildet habe.“73

Zwar nennt Niebuhr im Anschluss noch den Namen der Dreschmaschine, doch zielt seine Beschreibung vor allem auf die Skizze der Maschine ab. Darin unterscheidet sich sein Interesse deutlich von dem Michaelis, doch in der Grundannahme stimmen sie überein: Dass nämlich sowohl Ägypten als auch Arabien bestens dazu geeignet scheinen, Analogien zur Zeit des Mose aufzutun und die Reise in den Osten gleichsam eine Reise in die Vergangenheit darstellt. Auf dieser Zeitreise kommt es auch bei Niebuhr zu Konstruktionen des Orients als einheitlichen Raumes, in dem sich die Dreschmaschinen einzig in der Art ihrer archaischen Konstruktion, nicht aber ihrem Faktum nach unterscheiden. Die Vorstellung von den abgeschiedenen und wenig Austausch pflegenden Arabern, die ja eine Motivationsquelle Michaelis für die Reise in den Jemen war, finden wir in einer Perikope der Reise auf die Sinaihalbinsel vom 6.–25. September 1762 bei Niebuhr bestätigt.74 Er führt aus, dass sowohl die Inder als auch die Türken die Ruder am Schiff den Vorstellungen und technischen Errungenschaften der Europäer angepasst hätten, nicht so jedoch die Araber.75 Stattdessen zeichneten sich die Araber durch ihren Übermut76; ihre Raffgier und Phantasterei77, sowie Erpressungen und Plünderungen78 aus. Niebuhr schildert des Weiteren seine Angst, von den Reisebegleitern übers Ohr

                                                             72 EBD., 149. 73 EBD., 151. 74 Siehe die Zusammenfassung der Einträge und Zusammenschau mit späteren Funden in diesem Gebiet bei DETLEV KRAACK, Der Abstecher von Suez auf die Sinaihalbinsel (6.–25. September 1762), in : Josef Wiesehöfer / Stephan Conermann (Hg.), Carsten Niebuhr (1733–1815) und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.–10. Oktober 1999 in Eutin, Stuttgart 2002, 121–153. 75 Siehe CARSTEN NIEBUHR, Reisebeschreibung nach Arabien, 219. 76 EBD., 221. 77 Siehe Ebd., 222. 78 Siehe Ebd., 223.

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gehauen zu werden79 und beschwert sich über die Unaufrichtigkeit von Seiten der Araber80. Trotz dieser Klischees, die sich bei Niebuhr auch beobachten lassen, finden sich immer wieder Elemente einer Selbstrelativierung und differenzierten Grundhaltung. Ob sich die Rede von einer „dialogische[n] Haltung zum Anderen“, die Jürgen Osterhammel für Niebuhr veranschlagt81, jedoch halten lässt, kann bezweifelt werden. Bevor die Reisebeschreibung in einem weiteren Schritt als methodisches Werkzeug postkolonial betrachtet wird, soll die Verknüpfung zwischen (wissenschaftlichen) Entdeckungsreisen und kolonialem Phantasma beleuchtet werden.

5.1.3 Haftpunkt für das koloniale Phantasma: Entdeckungsreisen und der Südseemythos in der deutschsprachigen Literatur Mit einigen Merkwürdigkeiten und Überraschungen hatte die Crew der Fregatte Nadeshda bestimmt gerechnet, als sie im Mai 1804 vor der Insel Nukahiwa vor Anker ging. Doch wohl eher nicht damit, einen verwilderten Franzosen zu treffen, der als desertierter Seemann nach abenteuerlicher Reise auf dieser Südseeinsel in polynesischem Schmuck und am ganzen Körper mit Tatoos verziert, der ersten russischen Weltumseglung mit Auskünften über die Einheimischen und ihre Bräuche zur Verfügung stand.82 Doch stand er nicht nur für Informationen zur Verfügung, sondern auch für die wissenschaftliche Begleitung der Reise bereitwillig Modell. So findet sich ein Kupferstich mit dem Titel Bildniß des auf der Insel Nukahiwa gefundenen und verwilderten Franzosen Jean Baptiste Cabri in der von Heinrich von Langsdorf 1812 veröffentlichten Reisebeschreibung.83 Cabri posiert auf diesem Stich nach dem Vorbild antiker Heldenabbildungen in der Rolle eines furchteinflößenden

                                                             79 Siehe EBD., 246. 80 Vgl. auch die Episode mit dem Gebet an Maria und Jesus, das als bloße Gefälligkeit interpretiert wird, EBD., 247. Interessanterweise ist die Beschreibung der Strapazen und der Mühen einer Erkundungs- und Entdeckungsreise ein literarischer Topos mit dem Niebuhr nicht alleine steht. In seinem Abridged Relation of a Voyage to Peru (1744) schildert der französische Mathematiker Pierre Bouguer nach einer sehr nüchternen und naturwissenschaftlichen Beschreibung nun die Härten der Reise und die berechnende Art der ihn begleitenden Indigenen. Siehe MARY LOUISE PRATT, Imperial Eyes, 18f. 81 Siehe JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Entzauberung Asiens, 84. 82 Siehe KARL-HEINZ KOHL, Antike in der Südsee. Körperdarstellungen in den Illustrationen von Reiseberichten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: Kerstin Gernig (Hg.), Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin 2001, 147–175, hier: 147. 83 Siehe EBD., 148.

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Steinschleuderers. Vergleicht man nun diese positive Stilisierung mit den Tagebucheinträgen zum Charakter dieses Seemanns, die eindeutig negativ ausfallen, so kann man sich der Frage Karl-Heinz Kohls nur anschließen, wie es zu einer solchen Verortung von „Antike in der Südsee“ kommen konnte. Kohl zeigt auf, dass der Topos der Verbindung von Antike und neu entdeckten Völkern älter ist und zum Beispiel von Joseph François Lafitau bereits 1724 ausführlich dargelegt wurde84, jedoch erst im Zeitalter der wissenschaftlichen Erkundungen und groß angelegten Entdeckungen zum Durchbruch gelangte.85 Auch in der Mythendeutung lässt sich eine verstärkte Suche nach Ursprüngen und die Verknüpfung von Naturkulten des Altertums und neu entdeckten ‚Fetischkulten’ aufzeigen. So versuchte Charles Brosse in Du Culte des Dieux Fétiches (1760) primitive Elemente innerhalb der griechischen Religion aufzuzeigen.86 Der Fetischismus gehört ihm zufolge einer barbarischen Kindheitsstufe an, die auch die aufgeklärten Völker durchlebt haben.87 Schon Georg Forster hatte eine ähnliche psychologisierende Einsicht gewonnen und davon gesprochen, dass die Menschen auf Tahiti für eine Kindheitsstufe stehen, die jedoch nicht ewig währen kann und jeglicher Wunsch nach Verschmelzung wie er sich in der Meuterei auf der Bounty 1789 etwa ausdrückt, von daher als illusionär zurückzuweisen sei.88 Georg Forster wurde ja bereits im letzten Kapitel kurz vorgestellt mit seiner Reise um die Welt (1778). Von ihm ist bekannt, dass ihn die Tahiti-Berichte von Bougainville nachhaltig begeistert haben. Dieser sprach angesichts seiner Eindrücke und Erfahrungen vom Goldenen Zeitalter der antiken Sage und vergleicht die Frauen mit Nymphen während die Männer als Mars und Herakles fungieren.89 Auch für Georg Forster spielt die Verbindung zur Antike eine prägende Rolle, bildet doch Vergils Äneis das literarische Vorbild und einen steten Bezugspunkt seiner eigenen Reisebeschreibungen.90 Als Georg Forster jedoch Zeuge der Arbeitsweise des Cookschen Malers William Hodges wird, kommt er nicht umhin diesem das folgende Arbeitszeugnis auszustellen: „Der Vorwurf, welchen man denen zu Capitain Cooks voriger Reise in Kupfer gestochenen Platten mit Recht gemacht hat, daß sie nemlich, statt indianischer Gestalten, nur schöne Figuren vorstellten, die sowohl der Form als auch der

                                                             84 Die deutsche Übersetzung dieser Schrift erschien 1752 in Halle unter dem Titel Die Sitten der amerikanischen Wilden im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit. Siehe hierfür CHRISTOPH JAMME, Einführung in die Philosophie des Mythos. Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt 1991, 20. 85 Siehe KARL-HEINZ KOHL, Antike in der Südsee, 151. 86 Siehe CHRISTOPH JAMME, Einführung in die Philosophie des Mythos, 22. 87 Eine Beschäftigung mit der Rezeption des Fetischs in der alttestamentlichen Wissenschaft um 1800 erscheint spannend, muss jedoch einer kommenden Publikation vorbehalten bleiben. 88 Siehe ALOIS PRINZ, Lebensgeschichte, 91. 89 Siehe KARL-HEINZ KOHL, Antike in der Südsee, 152. 90 Siehe hierzu STEFAN GOLDMANN, Georg Forsters Rezeption, 332.

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Drapperie nach, im Geschmack der Antike gezeichnet wären; eben dieser Vorwurf trifft auch auf die vorgedachte Kupfertafel ‚dieses’ Werks. Ja man sollte fast glauben, daß Herr Hodges seine zu diesem Stück nach der Natur gemachte Original-Skizze verloren und bey der Entdeckung dieses Verlusts, aus eleganter mahlerischer Fantasie eine neue Zeichnung nur idealistisch entworfen habe. Kenner finden in dieser Platte griechische Conture und Bildungen, dergleichen es in der Südsee nie gegeben hat; und sie bewundern ein schönes fließendes Gewand, das Kopf und Cörper bedeckt, da doch in dieser Insel, die Frauensleute Schulter und Brust fast nie bedecken. Die Figur des alten ehrwürdigen Mannes mit einem langen Weißen Barthe ist vortreflich; allein die Leute auf Ea-Uhwe lassen den Bart nicht wachsen, sondern wißen ihn mit Muschelschalen kurz zu scheeren.“91

Zweierlei lässt sich an diesem Zitat aufzeigen. (1) Zum einen kann die These von Russell A. Berman noch einmal stark gemacht werden. Dieser hat die Reiseberichte von Cook und Forster miteinander verglichen und daran paradigmatische Unterschiede aufgezeigt, die auf eine deutsche Sonderstellung gegenüber den Kolonialreichen Frankreich und England verweisen.92 Typisch für einen deutschen Kolonialismus sei, dass es ein gebrochener Kolonialismus sei, der sich in der Kritik an den realen Kolonialmächten ausdrücke und vor allem deren Anspruch auf Universalismus kritisch hinterfrage und mit anderen Blickwinkeln auf Alterität konfrontiere.93 Diese Kritik schwingt auch bei Forster mit. Verbunden mit dem Anspruch, es anders und wohl auch besser machen zu können. (2) Zum zweiten zeigt sich aber auch der phantastische Überschwang, der den Topos der ‚Südsee’ zu einem solch produktiven wissenschaftlichen und literarischen Bezugs- und Ausgangspunkt werden ließ. Tahiti erlangte eine derartige Bedeutung für das deutsche Phantasma um 1800, dass Franz Grillparzer in seinen Jugenderinnerungen festhalten konnte, dass er in „Otaheiti mehr zu Hause war als in unserer eigenen Wohnung“94

und einige Schriftsteller davon träumten, eine arkadisch-deutsche Dichterkolonie zu gründen.95 Dieser produktive Übertrag der Phantasie soll nun erst exemplarisch an einem literarischen Werk, das eng an einen Reisebericht angelehnt ist, aufgezeigt werden, um dann anschließend auch auf die wissenschaftliche Praxis gespiegelt zu werden. Als eines der ersten deutschsprachigen literarischen Werke, das sich ausführlich mit der Südsee beschäftigt, ist Friedrich Wilhelm Zachariaes Tayti

                                                             91 GEORG FORSTER, Reise um die Welt, Werke in vier Bänden, hg. von Gerhard Steiner, Bd. 1, Leipzig o. J., 376f. 92 Siehe RUSSELL A. BERMAN, Enlightenment or Empire, 10. 93 EBD., 10. 94 FRANZ GRILLPARZER, Sämmtliche Werke, hg. von S. Hock, Band 14, Berlin 1911, 25. Vergleiche DIRK SANGMEISTER, Das Feenland der Phantasie. Die Südsee in der deutschen Literatur zwischen 1780 und 1820, in: Horst Dippel/ Helmut Scheuer (Hg.), Georg Forster Studien II, Berlin 1998, 135–176, hier: 135f. 95 Siehe EBD.

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oder die glückliche Insel (1777) anzusehen.96 Dieses letzte zu Lebzeiten Zachariaes erschienene Gedicht wurde mit einer Auflage von 2000 veröffentlicht.97 In seinem Vorwort spricht Zachariae von seiner Motivation, das ‚kleine Gedicht’, das er bereits kurz nach der Wiederankunft Bougainvilles nach Europa begonnen hatte, zu vollenden: „Wer nicht einen solchen unwiderstehlichen Hang hat, wie ich, Reisebeschreibungen zu lesen, der muß wenig Geschmack daran finden. Zum Glück indess gibt es einige wenige Leser, die eben so gern, wie ich, von ihrem Zimmer aus, vermöge guter Reisebeschreibungen und Charten, mit um die Welt fahren, und noch bequemer, als ein Banks und Solander mit auf Entdeckungen neuer Länder ausgehen. Nicht etwa, um sich auf eine kindische Art an den verschiedenen Moden und Kleider=Trachten der neuen Wilden zu belustigen; sondern, wo möglich, durch die Vergleichung so vieler neu entdeckten Völkerschaften, und ihre von den unsrigen oft ganz abweichenden Sitten und Denkungsarten untereinander in der wahren Geschichte der Menschheit etwas mehr Licht heraus zu schlagen (...)“98

Um dieses Bildungsideal auch umzusetzen bezieht er sich in seiner Darstellung seitenweise auf Bougainville und zitiert diesen sogar wörtlich.99 Daran wird deutlich, wie sehr Reiseberichte auch schon in den Augen der Zeitgenossen als literarisch anschlussfähig erscheinen – wenn nicht sogar als Literatur selbst.100 Dabei taucht der Topos des edlen Wilden im Zusammenspiel mit einer harschen Zivilisationskritik auf, da das Oberhaupt der Insel, der Ereti, die „blutdürstge Brut der mörderischen Europa“101 anklagt als „Barbaren“ zu fungieren und das Gastrecht zu missbrauchen.102 Am Ende des kurzen Stücks agiert der Schutzgeist Tahitis und formuliert seine Klage: „O einst so seelig Volk! das die Natur Vor Europäischer Erobrungssucht Und der Verheerer heißen Durst nach Gold Zu ferner unbekannten Meere Schooß So mütterlich verbarg! Wie heiter floß Dein Leben hin! (...)“103

                                                             96 Siehe ANJA HALL, Paradies, 114. 97 Siehe EBD., 120. 98 JUSTUS FRIEDRICH WILHEM ZACHARIAE, Tayti oder Die glückliche Insel, Braunschweig 1777, 1f. 99 Siehe ANJA HALL, Paradies, 120. 100 Ein Beispiel, das diese These besonders schön illustrieren mag ist der fiktive Reisebericht Johann Gottlob Benjamin Pfeils Die glückliche Insel oder Beytrag zu des Capitain Cook neuesten Entdeckungen in der Südsee aus dem verlorenen Tagebuch eines Reisenden (1781) das sich auf die bloße Nennung der Weltreisenden beschränkt, ansonsten jedoch reine Fiktion darstellt und somit auch ein Beleg für die publizistische Wertschätzung der Reiseberichte und ihre gute ‚Vermarktbarkeit’ im ausgehenden 18. Jahrhundert. Siehe ANJA HALL, Paradies, 122. 101 JUSTUS FRIEDRICH WILHEM ZACHARIAE, Tayti, 21. 102 Siehe auch ANJA HALL, Paradies, 116. 103 JUSTUS FRIEDRICH WILHELM ZACHARIAE, Tayti, 25f.

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Nach dem Lob der natürlichen Schönheit der Insel, ihrem ursprünglichen Charme und der Heiterkeit ihrer Bewohner bar jeglicher Sorgen, folgt dann der rasche Umschwung, der sich mit der Ankunft der Europäer verbindet und ja bereits in den ersten Zeilen angekündigt wird. Als Charakteristikum der Inselbewohner, das zerstört werden wird, werden Gleichheit, Freiheit und die Abwesenheit von Privateigentum genannt – klassische Insignien der Edlen Wilden! Stattdessen wird gewarnt vor der Tyrannei der Europäer, die nun herrschen werden: „(...) Bald wird der Segelflug Der Europäer wiederkehren! Trug und Mord Wird unverhohlen wüthen! Thränend wird Schuldlose Freyheit fliehen, und mit ihr Der Sitten Gleichheit, und des Eigenthums Erquickende Gemeinschaft! Tyranney Wird dich beherrschen! Eine finstre Schaar Von Vorurtheilen schwärmt dann über dir, Und Priesterfurcht und Aberglaube wird Die Freuden dir vergiften, so die Gunst Des Schicksals über dich so reichlich goß!“104

Diese Weissagung kommentiert Zachariae in einer Anmerkung lapidar mit den Worten: „Diese Weissagung vom Schutzgeiste Taytis ist, wie hernach der Erfolg gezeigt, leider! nur zu sehr zum Unglück der Insulaner eingetroffen.“105 Die Anmerkungen dienen Zachariae dabei auch stets dazu, den Bezug zum Reisebericht Bougainvilles herzustellen und wie er selbst sagt „eines und das andere meiner Absicht gemäß auszuwählen, und meine Anmerkungen mit einzustreuen.“106 Interessant ist nun, an welchen Stellen Zachariae entscheidend über das Original hinausgeht. Dies ist zum einen der Fall bei der Darstellung der Tahitierinnen, die von ihm deutlich erotisierter dargestellt werden, als das in der Vorlage Bougainvilles der Fall ist.107 Die Tendenz, die darin hervortritt, lässt sich im gesamten Werk Zachariaes beobachten: „Die (tahitischen) Frauen werden ausnahmslos als jung, schön und verführerisch beschrieben, die europäischen Männer dagegen als ‚heldenhafte’ Entdecker und Eroberer charakterisiert.“108

                                                             104 105 106 107

EBD., 27. EBD., 25. EBD., 2. Siehe ANJA HALL, Paradies auf Erden?, 118. Wobei schon Bougainville als erste Begegnung mit Bewohnern Tahitis schildert, wie eine junge Insulanerin auf das Schiff klettert und sich vor den fassungslosen Matrosen und der Besatzung des Schiffes auszieht. Siehe DIRK SANGMEISTER, Das Feenland der Phantasie, 146. 108 ANJA HALL, Paradies auf Erden?, 119.

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Damit folgt Zachariae einer Tendenz des Südseemythos und des Orientalismus im Allgemeinen, nämlich die orientalische Frau auf ihre Sexualität zu beschränken und ihr eine erhöhte sexuelle Fruchtbarkeit und Sinnlichkeit zuzuschreiben.109 Besonders Tahiti, das im astronomischen Zeichen der Venus entdeckt wurde, stand in Deutschland bald als Metapher für eine ungezügelte Sexualität und eine weibliche Frivolität.110 Der andere Punkt an dem Zachariae deutlich über das Vorbild Bougainvilles hinausgeht, ist die dargestellte Kritik an der Gewaltanwendung und der Brutalität der Europäer.111 Dieses Muster der deutlichen Kritik an den Europäern findet sich auch bei Georg Forster und in einem weiteren literarischen Werk aus dieser Zeit, der satirischen Geschichte Peter Clausens (1783) von Adolph Freiherr von Knigge.112 Wie stark diese Muster der Südseerezeption nach wenigen Jahren zum kulturellen Kanon gehören zeigt sich daran, dass recht bald Parodien auf Reiseberichte und die Entdecker entstehen. So setzt sich E. T. A. Hoffmann in seiner Haimatochare (1819) satirisch mit dem naturverliebten Forscher und Entdeckungsreisenden auseinander.113 Bei Hoffmann drückt sich Alterität jedoch nicht in stereotypen Darstellungen aus, sondern die Erzählung von der Haimatochare arbeitet mit der Fremdheit der Figur gleichsam als Trope um die Ambivalenz von Verlangen und Abwehr aufzuzeigen.114 Der zeitliche Abstand bedingt eine nüchternere Sicht auf die Gesellschaften der Südsee, die Inselbewohner dienen Hoffmann eher als Staffage für den Konflikt zwischen zwei Naturforschern. Es ist zu erkennen, dass der Aspekt der wissenschaftlichen und ökonomischen Verwertung an die Stelle der idealistischen Bewunderung getreten ist.115 Doch steckt in der Geschichte vom Streit der beiden Naturforscher um eine Südseebewohnerin, die sich erst am Ende der Geschichte als ein besonders ausgefallenes Insekt entpuppt, gerade in der naturwissenschaftlichen Inbesitznahme und Namensgebung eine „imperialistische Geste des Kolonialismus“116. Dieses Schlaglicht auf die enge Verbindung von

                                                             109 Edward Said hat das klassisch an mehreren Beispielen gezeigt, von denen hier nur das der Salammbô Flauberts genannt sein möge. Siehe EDWARD SAID, Orientalismus, 214221. Gegen Said ist jedoch einzuwenden, dass es sich beim Orientalismus keineswegs um einen männlichen Diskurs gehandelt hat. Siehe FELIX WIEDEMANN, Orientalismus, 11. 110 Siehe DIRK SANGMEISTER, Das Feenland der Phantasie, 145ff. 111 Siehe ANJA HALL, Paradies auf Erden?, 120. 112 Siehe EBD., 125. 113 Siehe EBD., 132ff. 114 Siehe GABRIELE DÜRBECK, Ambivalente Figuren und Doppelgänger. Funktionen des Exotismus in E.T.A. Hoffmanns Haimatochare und A.v. Chamissos Reise um die Welt, in: Alexandra Böhm/ Monika Sproll (Hg.), Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg 2008, 157–181, hier: 158. 115 Siehe EBD., 140. 116 AXEL DUNCKER, Die schöne Insulanerin. Kolonialismus in E.T.A. Hoffmanns Südseeerzählung Haimatochare, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft

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Kolonialismus und naturwissenschaftlicher Welterkundung lässt sich auch an einem Zitat Adelbert von Chamissos aufzeigen, der durchaus selbstkritisch im Rückblick auf seine Reise mit dem Kapitän Kotzebue festhält: „Wahrlich, es hätte durch die Romanzoffische Expedition Preiswürdiges für die Wissenschaft gewonnen werden können, wenn sie einem geradsinnigen, eifrigen Forscher einen Aufenthalt von einem Jahre auf diesen Inseln gegönnt hätte. Aber man fährt wie eine abgeschossene Kanonenkugel über die Erde dahin, und wenn man heimkommt, soll man rings ihre Höhen und Tiefen erkundet haben.“117

Auf der sprachlichen Ebene wird hier die Nähe der wissenschaftlichen Entdeckung und Eroberung der Welt zu einer militärischen Inbesitznahme unter dem Druckmittel der Kanonenkugeln hergestellt. Die erwähnte Ambivalenz von Abwehr und Verlangen in der Erzählung Hoffmanns hängt mit einem erneuerten Bild der Fremden zusammen, das neben den edlen Wilden tritt: Der feindliche, außerhalb der Kultur stehende, tendenziell kannibalische Fremde. Als einen solchen stellt Lessing in seinem Laokoon (1766) einen Hottentotten dar.118 Karl-Heinz Kohl konstatiert in seinen Untersuchungen den Wechsel von Darstellungen des ‚Edlen Wilden’ hin zum ‚Primitiven’, der als zeitgenössischer Repräsentant eines überwundenen Urzustands, ab 1800 mehr und mehr Raum in den Darstellungen gewinnt119. Ausdruck findet diese veränderte Sicht auf den ‚Wilden’ auch im Brockhaus Conversations-Lexicon von 1817, wo es heißt: „Denn da die Erhebung des Menschen über die Natur die natürliche Bestimmung des Menschen in sich faßt, so ist es eine irrige und der Menschheit unwürdige Behauptung, daß der Mensch um seine Bestimmung zu erreichen, die erworbene Kultur aufgeben und zum Naturstande zurückkehren müsse.“120

Und wieder kann dieser Wechsel in der Motivgeschichte, der solch allgemeine Leitfragen wie das Verhältnis von Kultur und Natur berührt, auf Einflüsse außerhalb Europas zurückgeführt werden. Denn es war vor allem der Kontakt mit den Feuerländern und deren vermeintlicher Rückständigkeit, der das Bild

                                                            

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118 119 120

und Geistesgeschichte 76 (3,2002), 386–402, hier: 397. Zu dieser wissenschaftskritischen Tendenz der Erzählung, siehe auch GABRIELE DÜRBECK, Ambivalente Figuren, 181. ADELBERT VON CHAMISSO, Reise um die Welt mit der Romanzoffischen Entdekkungs=Expedition in den Jahren 1815–1818 auf der Brigg Rurik, Kapitän Otto v. Kotzebue. Erster Teil: Tagebuch, in: Chamissos Werke. Vierter Teil: Reise um die Welt I, herausgegeben von Max Sydow, Berlin u.a. o.J., 140. Siehe GABRIELE DÜRBECK, Ambivalente Figuren, 167. Siehe KARL-HEINZ KOHL, Antike in der Südsee, 167ff. BROCKHAUS CONVERSATIONS-LEXICON, Band 6, Leipzig 41817, 761. Vergleiche THOMAS THEYE, Gesucht: Die Adresse des Schneemenschen, in: Ders. (Hg.), Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek bei Hamburg 1985, 7–17, hier: 13.

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des ‚Edlen Wilden’, das das 18. Jahrhundert geprägt hatte, umschlagen ließ.121 Dass sich hier im Blick auf die außereuropäischen Völker wohl nicht nur Einzelmeinungen wiederfinden lassen, sondern ein Rezeptionsmuster mit immanentem Machtverhältnis angesprochen ist, lässt sich an Georg Forster zeigen, der trotz seiner Kritik an Hodges selbst über die Männer Tahitis schreibt: „Sie sind alle wohlgestaltet und von so schönem Wuchs, daß Phidias und Praxiteles manchen zum Modell männlicher Schönheit würden gewählt haben.“122

Das anstößige erotische Potenzial der Südsee wird in eine tradierte Form gegossen und so dem zeitgenössischen Publikum vermittelbar. Die Darstellung von Wilden als Kinder wiederum bedient ein asymmetrisches Machtgefüge und hebt im pädagogischen Zeitalter der Aufklärung auf die Erziehbarkeit des Menschengeschlechts ab.123 So schreibt auch Kant im Hinblick auf die Kindererziehung: „Ohne jene Behandlung sind Kinder, besonders reicher Eltern, und Fürstensöhne, so wie die Bewohner von Otaheite, das ganze Leben hindurch, Kinder.“124

Dies ist dabei nur eines zahlreicher Beispiele, wie ein Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Kindheitsalter und dem Stand der Südseeinsulaner hergestellt wurde, indem etwa deren Sprache als Kindersprache verballhornt wurde.125 Bougainville charakterisiert die Insulaner in seiner Reisebeschreibung als besonders „treuherzig“126, lobt die körperlichen Vorzüge der Frauen und hebt generell auf die (sexuelle) „Freyheit des ersten Weltalters“127 ab. Hierfür mag gelten, was Bitterli allgemein konstatiert für den Umgang mit den fremden Südseebewohnern: „Man siedelte die exotischen Erdenbürger in den imaginären Raum persönlicher Traumvorstellungen um und stattete sie mit Wesenszügen und Tugenden aus, die ein unvoreingenommener Reisender nie an ihnen entdeckt haben würde [...] selbst nüchterne Naturen mit guter naturwissenschaftlicher Ausbildung fanden bei ihren

                                                             121 Siehe THOMAS THEYE, Optische Trophäen. Vom Holzschnitt zum Foto-Album: Eine Bildgeschichte der Wilden, in: Ders. (Hg.), Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek bei Hamburg 1985, 18–95, hier: 20. 122 GEORG FORSTER, Reise um die Welt, 598. Vergleiche STEFAN GOLDMANN, Die Südsee als Spiegel Europas. Reisen in die versunkene Kindheit, in: Thomas Theye (Hg.), Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek bei Hamburg 1985, 208–242, hier: 214. 123 Siehe STEFAN GOLDMANN, Die Südsee als Spiegel Europas, 215f. 124 IMMANUEL KANT, Über Pädagogik, Königsberg 1803, 28. Vergleiche STEFAN GOLDMANN, Die Südsee als Spiegel Europas, 217. 125 Siehe STEFAN GOLDMANN, Die Südsee als Spiegel Europas, 217. 126 COMTE LOUIS ANTOINE DE BOUGAINVILLE, Reise um die Welt, welche mit der Fregatte la Boudeuse in den Jahren 1766,1767,1768 und 1769 gemacht worden, Leipzig 1772, 154. 127 EBD., 156.

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Fahrten nach Westindien, Afrika oder in die Südsee vielfach nichts anderes vor, als was sie sich zuvor erträumt hatten.“128

Dieses Wunschdenken lässt sich mit Blick auf die vorgestellten Topoi auch als ein imperiales Wunschdenken kennzeichnen.129 Denn die „Entdeckung und Eroberung eines fremden Gebiets, seine wissenschaftliche Erschließung und die Abspaltung phantastischer Vorstellungen und Mytheme“130 wie sie in den Reiseberichten und der sich daran anschließenden Literatur sichtbar wird, dient, wie mehrfach hervorgehoben, vor allem der Festigung der eigenen Identität. Das Beispiel des angesprochenen Romans von Knigge ist dabei besonders einleuchtend, denn der Freiherr, der seinen Adelstitel ablegte, zeichnet sich durch ein besonders sittsames und unschuldiges Porträt der ‚Südseefrau’ aus und überträgt damit bürgerliche Werte und Wunschvorstellungen auf das weit entfernte Tahiti.131 Das besondere deutscher kolonialer Phantasien ist jedoch, dass sie nicht der Rechtfertigung eigener imperialer Aktivitäten dienen, sondern gerade auch in ihrer spezifischen Kritik dieser Tätigkeiten imaginäre Handlungsräume zum Beispiel als bessere Kolonisatoren schaffen.132 Die doppelte Eigenschaft deutscher kolonialer Vorstellungen, nämlich einerseits reale koloniale Zustände zu kritisieren und andererseits als Haftpunkt ungebändigter Phantasie zu fungieren, lässt sich auch an wissenschaftlichen Auseinandersetzungen nachzeichnen: Dass Johann Gottfried Herder mit seinen Quellen ähnlich umging wie William Hodges, hat Anne Löchte beispielhaft herausgearbeitet. So kann sie an der Irokesische [n] Anstalt – einer Schrift Herders gegen die Kantsche Zum Ewigen Frieden (1795) gerichtet – aufzeigen, wie Herder seine Quelle im Sinne seiner Intention schönte.133 Im 118. Brief zur Beförderung der Humanität (1797) beschreibt Herder die Friedensvereinbarungen zwischen zwei Indianerstämmen in Nordamerika mit dem Ziel aufzuzeigen, wie diese ohne eine disziplinierende Gewalt von außen zu wahrem Frieden fähig seien.134 Die Parteinahme für die Indigenen in Nordamerika und ihre Darstellung als ein exzeptionelles Beispiel dienen dabei neben philosophischen Streitigkeiten auch der Kritik an der französischen, vor allem aber der englischen Kolonialmacht. Eingeleitet wird denn auch die Erzählung mit den Worten:                                                              128 URS BITTERLI, Der ‚Edle Wilde’, in: Thomas Theye (Hg.), Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek bei Hamburg 1985, 270–287, hier: 272. 129 Siehe ANJA HALL, Paradies auf Erden?, 143. 130 EBD., 144. 131 Siehe EBD., 144. 132 Siehe EBD., 145. Dabei bezieht sich Anja Hall vor allem auf die Forschungsarbeiten von Susanne Zantop. 133 Siehe ANNE LÖCHTE, Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea, Würzburg 2005, 124f. 134 Siehe KARIN V. WELCK, ‚Unsere’ nordamerikanischen Indianer. Streifzüge durch die Literatur, in: Thomas Theye (Hg.), Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek bei Hamburg 1985,177–207, hier: 189.

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Die Erfindung des Alten Testaments „Da jetzt im unseligsten Kriege, in dem ein zeitiger Friede so schwer wird, von Entwürfen zum ewigen Frieden viel gesprochen wird, so theile ich Ihnen einen zu diesem Zweck gemachten wirklichen Versuch in den Worten dessen mit, der ihn berichtet.“135

Zwar bezieht er sich hier ausdrücklich auf eine Quelle, doch seine Auslassungen aus der Geschichte der Mission der Evangelischen Brüder unter den Indianern in Nordamerika (1789) von Georg Heinrich Loskiel verklären den Friedensschluss zwischen den Irokesen und den Delawaren dahingehend, dass der Eindruck entsteht, die eigentlichen Sieger hätten aus edlen Motiven auf ihre Vorherrschaft verzichtet und die Waffen niedergelegt.136 Eine schöne Vision, doch die Wirklichkeit sah anders aus, denn stattdessen drohten die Sieger den Unterlegenen mit dem Tod, sollten sie nicht sofort von einem Grundstück abziehen, das als Tributleistung von den Irokesen eingefordert worden war137 eine Tatsache, die schlecht in Herders Bild vom ‚Edlen Wilden’ gepasst hätte. Und kein Argument mit dem er die These Kants, dass es unter den Wilden keinen wahrhaften und dauerhaften Frieden geben könne, hätte entkräften können. Das Bild der objektiv verfahrenden Wissenschaften, das in der Selbstbeschreibung einer Forschungsreise als gerichtliches Protokoll zum Ausdruck kommt, erfährt hier erste Eintrübungen. Diese Anfragen sollen nun mit Hilfe eines Blicks auf die Theoriediskussion innerhalb der Ethnologie systematisiert werden.

5.1.4 Im Tropenfieber: Wissenschaftliche Entdeckungsreisen im ausgehenden 19. Jahrhundert Um diese Spur des literarischen und kolonialen Phantasmas weiter zu verfolgen und in ihrer Hochphase aufzeigen zu können, bedarf es eines kleinen Schwenks in die Ethnologie138: Auf der Spur der Ambivalenz des Swahili als einer sowohl kolonial genutzten Sprache als auch antikolonialem Widerstandswerkzeug hat sich Johannes Fabian umfänglich mit Reiseberichten beschäftigt. Dabei stieß er auch auf den Reisebericht von Jérôme Becker mit dem

                                                             135 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Briefe zu Beförderung der Humanität, Zehnte Sammlung, Riga 1797, 111. 136 Siehe ANNE LÖCHTE, Johann Gottfried Herder, 125. 137 Siehe GEORG HEINRICH LOSKIEL, Geschichte der Mission der Evangelischen Brüder unter den Indianern in Nordamerika, Barby 1789, 162. 138 Auch Georg Forster kann als ein erster Ethnologe mit einem eigenen ethnologischen Methodenkanon aufgefasst werden. Siehe hierzu WOLFDIETRICH SCHMIED-KOWARZIK, Vom Verstehen fremder Kulturen. Philosophische Reflexionen zur Ethnologie als Kulturwissenschaft, in: Horst Dippel/Helmut Scheuer (Hg.), Georg-Forster-Studien II, Berlin 1998, 1–24.

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Titel La Vie en Afrique (1887).139 Je mehr er sich mit diesem Reisebericht beschäftigte, umso mehr wuchs bei ihm die Einsicht, dass Becker, den er sehr schätzte, bei seinen Reisen „außer Sinnen“ gewesen sein muss.140 Diese erste Beobachtung führte dazu, dass er eine Vielzahl an Reiseberichten über Afrika kritisch analysierte und auf ein wiederkehrendes Muster dieser Entdeckungsreisen stieß. Dieses Muster soll im Folgenden auf die von Michaelis vorbereitete Expedition ins glückliche Arabien angewandt werden. (1) Zuerst beobachtet Fabian, dass selbst bei als erfolgreich deklarierten Reisen Logik und Rationalität der Operation nur selten gewahrt bleiben. Anhand solcher ‚Grundfehler’ lässt sich vom „ersten Bruch im Mythos der wissenschaftlichen Forschungsreisen“141 sprechen. Auch die Forschungsreise Niebuhrs kann trotz umfangreicher wissenschaftlicher Vorbereitung von Seiten Michaelis unter dieses Diktum gestellt werden, wenn man sich ihren Verlauf noch einmal genauer anschaut: Von Haven, der für die arabischen Handschriften zuständig war, starb bereits am 25. Mai 1763, vor Erreichen des eigentlichen Ziels der Expedition, in Mokka. Die Fragen, die Michaelis formuliert hatte, erreichten Niebuhr erst, als er den Jemen bereits verlassen hatte und in Bombay eingetroffen war; und die ganze Reisegruppe war eigentlich schon heillos zerstritten noch ehe sie ihre eigentliche Expedition antreten konnte.142 (2) Als wissenschaftliches Paradigma für die Reisebeschreibung lässt sich laut Fabian der Ansatz herauskristallisieren, Wissenschaft als Naturgeschichte darzustellen. Gerade bei Niebuhr wird diese Neigung offensichtlich, wenn er die Kultur und Tradition Ägyptens etwa in Bezug auf die Musik nicht der Sache nach entwickelt, sondern stattdessen zu abfälligen Werturteilen kommt und die Instrumente der Künstler abzeichnet. Er geht hier streng analog zu den Regeln vor, die auch für die Beobachtung der Natur maßgeblich sind. Diese Darstellungsweise gerät jedoch zwangsläufig in den Konflikt zwischen dem Anspruch an eine universell verstandene Wissenschaft und den Beschränkungen des individuellen Wissenschaftlers und kann so leicht als eine „Ideologie (...) voller Widersprüche und Ungereimtheiten“143 enttarnt werden. (3) Leitend für diese Art der Beobachtung ist vor allem das Sehen. Auch für Niebuhr lässt sich festhalten, dass er sich vorwiegend auf eine empirische Erfahrung durch die Sinne stützt, also vor allem auf das, was er sehen kann.144

                                                             139 Siehe JOHANNES FABIAN, Im Tropenfieber, 15. Für eine Geschichte der Kontaktzone zwischen europäischen Entdeckern und Kolonialisierten und das Spiel der Projektionen in Bezug auf die Sinneswahrnehmungen, siehe MICHAEL TAUSSIG, Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne. Aus dem Amerikanischen von Regina Mundel und Christoph Schirmer, Hamburg 1997. 140 Siehe JOHANNES FABIAN, Im Tropenfieber, 17. 141 EBD., 44. 142 Siehe dazu REINFANDT, Vierzig Jahrhunderte, 107. 143 JOHANNES FABIAN, Im Tropenfieber, 245. 144 Siehe REINFANDT, Vierzig Jahrhunderte, 116.

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Als paradigmatisch für Niebuhrs Forschungen kann deshalb gerade das Astrolabium gelten, das für seine Methodik zentral ist. Lucian Reinfandt charakterisiert die Forschungsweise Niebuhrs anhand des Astrolabiums wie folgt: „Einerseits muß man durch das Gerät hindurch die Objekte betrachten, wodurch eine physische Distanz entsteht. Andererseits aber dreht das Gerät die betrachteten Gegenstände kurioserweise auch optisch auf den Kopf. Jede Verbindung mit dem Objekt erscheint nun vollkommen unmöglich, ja sinnlos. Die Messung aber wird erst jetzt richtig genau. Niebuhr taucht nicht in den Orient ein, nimmt ihn nicht auf, erhebt sich aber auch nicht über ihn, möchte ihn nicht verändern. Vielmehr tritt er ihm gegenüber und mißt – die Höhe der Pyramiden und die Richtungen der Straßen in den Städten, den Verlauf des Nils und die Lage von Dörfern. Ebenso aber ‚vermißt’ er auch Gesellschaft und Kultur des Landes. Die Menschen sind auf ihre sozialen Funktionen reduziert (Ämter, Kopfbedeckungen). Das Land setzt sich aus seinen Teilen zusammen. Dadurch bekommt der Reisebericht einen statischen, überzeitlichen Charakter.“145

Gerade diese Konstruktion eines objektiven und scheinbar unparteiischen Gesichtssinns mit dem Vorrang des Sehens, der hier durch die Apparatur des Astrolabiums in wissenschaftlicher Perfektion erscheint, deutet Fabian als eine kultur-spezifische und ideologische Vorstellung.146 Das 18. Jahrhundert steht für einen Umbruch der Weltwahrnehmung, die sich auch in den Reiseberichten ausdrückt.147 Wenn Edward Said das Tableau historique (1802) von Silvestre de Sacy als ‚Benthamsches Panoptikum’ bezeichnet148 so macht er auch darauf aufmerksam, inwiefern die wissenschaftliche Methodik als eine spezielle Machttechnik gedeutet werden kann. Denn dieses Tableau ist dazu gedacht, den Zustand und den Fortschritt der Künste und der Wissenschaften aufzuzeigen und für die Studierenden aufzubereiten. Auch der Reisebericht Niebuhrs mit dem Paradigma des Astrolabiums und dem statischen und überzeitlichen Charakter dient dazu, Autorität über den Orient zu erlangen. Allerdings führen die Zwischenfälle und Unwägbarkeiten der Reise und die geschilderten Missgeschicke die Paradoxien einer solchen Methodik klar vor Augen. In seiner Geschichte der Neugier (2002) vergleicht Justin Stagl das Frontispiz des Buches Der reisende Deutsche (1745) mit einer ähnlichen barocken Darstellung und beschreibt die frappierenden Wechsel in der Darstellungsform: Ein Sekretär mit Federkiel und Papier, der die Gespräche von vier Figuren, die für die Erdteile stehen, niederschreibt, ist die prominenteste Figur der Darstellung. Er ist umgeben von wissenschaftlichen Utensilien des Sammelns, Wertens und Katalogisierens, wie Winkelmaß, Teleskop und Himmels-

                                                             145 EBD., 119. 146 Siehe JOHANNES FABIAN, Im Tropenfieber, 250. 147 Siehe HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK, Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, 11. 148 Siehe EDWARD SAID, Orientalismus, 152.

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globus. Im älteren Kupferstich waren noch Reminiszenzen an die Heilsgeschichte erkennbar, hier hingegen scheint die Heilsgeschichte abgelöst von der Zivilisationsgeschichte und den Utensilien des Zeitalters der zweiten Entdeckungsreisen.149 Der jüngere Kupferstich ist keineswegs friedfertig, wenngleich ein erster Eindruck darauf hindeuten könnte. Denn zwischen den bereits beschriebenen Instrumenten der Weltvermessung und -kartographierung finden sich verstreute Rüstungsteile und gestapelte Kanonenkugeln, sodass Stagl von einem beabsichtigten „Durch- und Ineinander von Wissen und Waffen“150 spricht. Dieser Gleichklang von Wissen und Waffen bildet auch den Hintergrund für die These Edward Saids, wonach Reiseberichte mehr noch als Unternehmen und Gesellschaften dazu beigetragen hätten, „Kolonien zu schaffen und ethnozentrische Perspektiven zu festigen“151. Für den einzelnen Reisebericht, insbesondere, wenn dieser so vielschichtig zu beurteilen ist wie Niebuhrs Reisebericht, scheint ein solches Fazit überspitzt zu sein. Doch besieht man sich die Summe der Reiseberichte und auch die literarischen und wissenschaftlichen Fiktionen, die sich daraus ergaben, so scheint diese Einschätzung weitaus gerechtfertigter.

5.2

Von Authentizität und intellektueller Autorität: Das Mosaische Gesetzbuch, die Judenemanzipation und das Aufkommen der Einleitung in das Alte Testament

Der berühmte Sprachwissenschaftler und Begründer der modernen Religionswissenschaft Friedrich Max Müller genoss allerhöchstes Ansehen in Indien und wurde zu seinen Lebzeiten mehrmals eingeladen, doch in das Land, dem er sich in seinen Forschungen so umfangreich widmete, zu reisen.152 Stets lehnte er jedoch diese Angebote mit einer sehr erhellenden Begründung ab: Zum einen sei er ein typischer ‚Stubengelehrter’153, zum anderen jedoch habe

                                                             149 Siehe JUSTIN STAGL, Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800, Wien 2002, 202. 150 EBD., 204. 151 EDWARD SAID, Orientalismus, 142. 152 Siehe NIRAD C. CHAUDHURI, Friedrich Max Müller. Ein außergewöhnliches Gelehrtenleben im 19. Jahrhundert. Aus dem Englischen übersetzt von Georg Lechner, Heidelberg 2008, 15. 153 Siehe EBD., 17.

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er wenig Interesse an einer Reise nach Indien, da sein Indien nicht an der Oberfläche liege, sondern „viele Jahrhunderte darunter.“154 Den im Ausgang des 18. Jahrhunderts neu gefundenen Texten aus Indien galt dagegen sein großes Interesse und er bediente sich Theorien über den Ursprung und die Bedeutung von Sprache, die ebenfalls schon zu Beginn der vergleichenden Sprachwissenschaft geboren wurden. Max Müller knüpfte damit an die Wissenschaftstraditionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts und den Beginn der Philologie als einer Leitdisziplin an. Aus der gleichen Zeit stammen auch wichtige Grundaxiome der alttestamentlichen Textkritik: In seinem Forschungsüberblick des Buches God’s Word Omitted (2013), in dem sich Juha Pakkala mit der Frage nach Auslassungen im Rahmen der Textentstehung der Hebräischen Bibel beschäftigt, verweist er auf die Entstehung der bis heute gültigen Paradigmen bei dieser Fragestellung in der Zeit um 1800.155 Von der Reisebeschreibung an sich möchte ich nun also einen Schritt weiter gehen zu der Frage, wie sich diese Reisebeschreibungen auf die alttestamentliche Wissenschaft ausgewirkt haben. Diese Frage verbinde ich mit zwei weiteren Diskursen, die für den Ausgang des 18. Jahrhunderts zentral waren, nämlich der Suche nach Authentizität und Ursprünglichkeit, sowie der Debatte um die Emanzipation und die Stellung der Juden. Anhand des großen Werks Johann David Michaelis zum Mosaischen Gesetz möchte ich die in der postkolonialen Theorie häufig behandelte Frage nach dem Verschwinden der einheimischen Informant*in behandeln um anschließend das Tableau alttestamentlicher Wissenschaften, namentlich die neu entstehende Einleitungswissenschaft, zu untersuchen. In seinem bereits zitierten Buch Die Geschichte der Neugier (2004) behandelt Justin Stagl unter dem Stichwort des Authentizitätsproblems in der Ethnographie auch die Biographie von George Psalmanazar.156 Sein Beispiel von unverdientem Ruhm durch seine Historical and Geographical Description of Formosa (1704) und seine Selbstinszenierung als Bewohner dieser fernen Insel mit der er nicht nur die englischen Gesellschaften, sondern auch große Teile Europas zum Narren hielt, und der heftigen Reaktionen bei der Aufdeckung des Betrugs zeigen den hohen Stellenwert der Quellenkritik im 18. Jahrhundert.157 Neben der sprunghaften Zunahme an Reiseliteratur, die im vorherigen Kapitel illustriert worden ist, wuchs auch die Frage nach der Zuverlässigkeit dieser Quellen so stark an, dass etwa Cornelis De Pauw von 100 Reiseberichten allein zehn als vertrauenswürdig ansah.158 Um 1800 veröffentlichte der Buchdruckergeselle Christian Friedrich Damberger eine kompilierte

                                                             154 FRIEDRICH MAX MÜLLER, Alte Zeiten – Alte Freunde. Lebenserinnerungen, Gotha 1901, 254. Vergleiche HANS G. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionswissenschaft, 65. 155 Siehe JUHA PAKKALA, God’s Word Omitted, 25ff. 156 Siehe JUSTIN STAGL, Eine Geschichte der Neugier, 215–251. 157 Siehe JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Entzauberung Asiens, 204. 158 Siehe EBD., 203.

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Weltreise unter dem Titel Beschreibung einiger See- und Landreisen nach Asien, Afrika und Amerika, in der er verschiedene Quellen geschickt zusammengestellt und diese als seine eigene Reise ausgegeben hatte. Der Schwindel war so gut, dass der Wittenberger Geographie-Professor Johann Jakob Ebert eine lobende Vorrede dazu schrieb.159 Die Diskussion um die Echtheit der Reiseberichte und die Frage, welche Quellen als echt und welche als unecht angesehen werden können, war also eine, die die Diskussionen der Gelehrtenrepublik bewegte. Als Strategien, um Kriterien der Glaubwürdigkeit zu ermitteln, werden von Jürgen Osterhammel genannt: (1) Die Kenntnis der älteren Literatur, die unabdingbar sei für das Aufspüren von Plagiaten; (2) der soziale Status des Reisenden und sein Ansehen als ‚Gentleman’ innerhalb der Gelehrtenkreise; (3) die Suche nach Widerspruchsfreiheit, die sich allerdings im beschriebenen Fall George Psalmanazars als wenig hilfreich erwies, und schließlich (4) der kritische Vergleich zwischen Texten.160 Bereits an der Person Psalmanazars lässt sich zeigen, wie die Frage nach der Authentizität der Reiseberichte und der damit verbundenen Quellen auch für die Exegese des Alten Testaments zu einem entscheidenden Faktor wurde. Schließlich gerierte sich Psalmanazar mit etwa 40 Jahren als reuiger Sünder und wandte sich dem Studium des Hebräischen und des Alten Testaments zu und wurde zu einer geschätzten Autorität und einem wichtigen Beiträger zur monumentalen Universal History (1736–1765), die als erste Global- und Weltgeschichte gelten kann.161 An Psalmanazar lässt sich die Suche nach dem Authentischen und Unverfälschten bis ins Skurrile gesteigert erkennen, das über die zu dieser Zeit populären Parodien und offensichtlichen Fiktionen wie Robinson Crusoe (1719) und Gullivers Reisen (1725) noch einmal hinausgeht. Für den deutschsprachigen Raum ist ein Beitrag von Johann Friedrich Blumenbach im Göttingische[n] Magazin der Wissenschaften und Litteratur von einigem Interesse, da sich hier die Quellenproblematik der Reiseberichte eindrücklich aufzeigen lässt. In seinem Beitrag mit dem Titel Einige zerstreute Bemerkungen über die Fähigkeiten und Sitten der Wilden (1782) greift Blumenbach zahlreiche Vorurteile seiner Zeit auf und geht den genauen Quellenbelegen dieser Behauptungen nach, um schließlich zu zeigen, wie vermeintlich sichere Gewährsleute „einander nachgeschrieben, oder nur wie vom Hörensagen ganz unbestimmt das Vorgeben berührt“162

                                                             159 160 161 162

Siehe WOLFGANG GRIEP, Annäherungen, 109. Siehe JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Entzauberung Asiens, 203–205. Siehe JUSTIN STAGL, Eine Geschichte der Neugier, 231. JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, Einige zerstreute Bemerkungen über die Fähigkeiten und Sitten der Wilden, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, herausgegeben von Georg Christoph Lichtenberg und Georg Forster, 2 (5,1782), 409–425, hier: 415.

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hätten. Sein Verfahren der genauen Quellenprüfung führte auch dazu, dass er Belege, die über mehrere Jahrhunderte hinweg tradiert worden waren, als falsch und „sicher erdichtet“163 nachweisen konnte. Im Folgenden soll nun anhand einzelner Stationen nachgezeichnet werden, wie dieses Verfahren auf die Wissenschaft des Alten Testaments Anwendung fand.

5.2.1 Vom Reisebericht zur Gesellschaftsbeschreibung: Der Niederschlag der Reiseberichte in den Schriften Johann David Michaelis Weil sich die Expedition stark auf den Fragenkatalog der französischen Akademie stützte und Niebuhr eng mit dem von ihm wenig geschätzten Reiske zusammen arbeitete, hat sich Johann David Michaelis aus der Veröffentlichung und Diskussion der Forschungsergebnisse der Expedition ins „Glückliche Arabien“ teilweise zurückgezogen.164 Falls dadurch der Eindruck entstehen könnte, dass Michaelis sich in seinem weiteren Arbeiten nicht auf die Ergebnisse Niebuhrs sowie die zu Grunde liegenden theoretischen Vorüberlegungen stützte, so ist dies falsch, wie mit Blick auf seine Schriften gezeigt werden kann. Zwischen 1769 und 1785 gab Michaelis eine voluminöse Einleitung ins Alte Testament heraus, die Deutsche Übersetzung des Alten Testamentes mit Anmerkungen für Ungelehrte, die sich auch intensiv auf die Erkenntnisse und Ergebnisse von Niebuhr stützte. Deren Schlagseite lässt sich bei allem gelehrten Interesse am Orient und dem Alten Testament und einer nicht abzusprechenden Hochachtung für die alten Israeliten so fassen: „Selbst wenn Michaelis selbst davon überzeugt blieb, dass die antiken Israeliten über umfassende natürliche Weisheit und universelle religiöse Bedeutsamkeit verfügten, so war doch der Ertrag seiner biblischen Studien derjenige, dass er die Hebräischen Schriften zu rein historischen Artefakten machte.“165

Michaelis steht damit für eine Darstellung des Orients, die geprägt ist von einer klaren Präferenz von Texten über die reale Begegnung mit Menschen und außerdem stets vor der Versuchung steht, in die Rede von einem Verfall des

                                                             163 EBD., 416. 164 Diese Deutung wird zumindest von FRIEDHELM HARTWIG, Carsten Niebuhrs Darstellung, 160f., nahegelegt. Gegen eine persönliche Beleidigung Michaelis aufgrund des Mitwirkens Reiskes spricht jedoch dessen Selbstdarstellung in der Rezension der Schriften Niebuhrs. Siehe JOHANN DAVID MICHAELIS, Rezension der Beschreibung von Arabien, 102. 165 „If Michaelis himself remained convinced that the ancient Israelites possessed a comprehensive sort of natural wisdom and universal religious significance, the upshot of his biblical scholarship was precisely to render the Hebrew scriptures a purely historical artifact.“ Siehe: MARCHAND, German Orientalism, 40.

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Orients einzustimmen.166 Dass es durchaus andere Möglichkeiten der Darstellung und der Auseinandersetzung gegeben hatte, hat Jürgen Osterhammel in einer breiten Darstellung über das 18. Jahrhundert und dessen Kulturkontakte herausgearbeitet.167 Ob allerdings für die Reise nach Ägypten und in den Jemen und die anschließende literarische Aufnahme des Reiseberichts durch Michaelis zutreffend ist, was Osterhammel für das 18. Jahrhundert präfiguriert, dass nämlich ein „prekäre(s) machtpolitische(s) Gleichgewicht“168, herrschte, ist zu überdenken. Die Reisenden werden zwar immer wieder mit einheimischem Widerstand konfrontiert und aufgrund falscher Empfehlungsschreiben dürfen sie das Kloster auf dem Sinai nicht besuchen169, doch waren dies Widerstände, die keine Überraschung darstellten, sondern schon in den Instruktionen zur Reise vorhergesehen worden sind170. Dass die Gelehrten, in diesem Fall Niebuhr und Von Haven nicht das Glück hatten, die außergewöhnliche Bibliothek des Sinai-Klosters zu sehen, die ihre Reise deutlich aufgewertet hätte, liegt einzig an der Unfähigkeit Von Havens: Dieser hatte es verpasst, sich die entsprechenden Empfehlungsschreiben zu besorgen, was ein Leichtes gewesen wäre und er hatte außerdem die einheimischen Führer mit großer Arroganz und wenig Geschick gegen sich aufgebracht, obwohl diese mit großem Respekt auf die Forscher sahen.171 Die Begründungen und Gegenstrategien deuten auf ein Superioritätsgefühl hin, das den Bericht Niebuhrs noch einmal in einem besonderen Licht erscheinen lässt, da hier Episoden vorkommen „in denen der Europäer nicht durch die fremdkulturelle Umwelt betrachtet, studiert und nach eigenen Maßstäben aburteilt, sondern sich der Tatsache bewußt ist

                                                             166 167 168 169 170

Siehe EBD., 41. Siehe JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Entzauberung Asiens. EBD., 22. Siehe hierfür auch WEIDNER, Strategien des Wissens, 108f. So heißt es unter dem zehnten Punkt der Instruktion: „Die sämmtlichen Reisenden haben sich gegen die Einwohner Arabiens der größten Höflichkeit zu befleißigen. Sie sollen ihrer Religion nicht widersprechen, noch weniger sie auch nur implicite verächtlich machen, sie sollen sich dessen enthalten, was jenen verdrießlich ist: Auch solche Theile ihrer Beschäftigung, die bey den unwissenden Mahumedanern den Verdacht erwecken, als wollte man Schätze ausgraben, Zauberey treiben, oder etwas zum Schaden des Landes auskundschaften, auf die unmerklichste Art vornehmen, und so gefällig einkleiden als möglich ist...“ JOHANN DAVID MICHAELIS, Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, Instruktion 10. Diese Ermahnung verbindet unterschiedliche koloniale Expeditionen mit einander. So ähneln sich diese Ratschläge und jene, die Francis Bacon 1597 in Bezug auf die ‚Wilden’ in den Kolonien gibt in verblüffender Weise. Siehe FRANCIS BACON, Über Kolonien, in: Levin L. Schücking (Hg.), Francis Bacon. Essays oder praktische und moralische Ratschläge, Stuttgart 2005, 116–119, hier: 116. 171 Siehe hierzu auch die umfängliche Darstellung bei HANSEN, Reise nach Arabien, 188214; der die Reise nach dem Kloster Sinai und dem Djebel el-Mokateb ausführlich nach den Tagebucheinträgen Von Havens rekonstruiert.

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Die Erfindung des Alten Testaments oder bewußt wird, daß er selbst ein Fremdling ist und mit Recht von den Einheimischen als solcher betrachtet wird.“172

Gegenüber diesem Perspektivenwechsel ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Niebuhr einer Taktik des Entdeckens folgt und vor allem mit seinen Instrumenten Sicherheit gegenüber dem ausgesetzten Blick findet.173 Während Niebuhr also für einen „Orientalismus im Übergang“174 steht und sich seine Reiseberichte als hybride Konstruktionen kenntlich machen lassen, die immer wieder Platz für Perspektivwechsel bieten, so bereitet Michaelis den „monolithischen, hegemonial beherrschten Orient des 19. Jahrhunderts“175 vor. Dies entspricht der verbreiteten Sichtweise des 18. Jahrhunderts als einem Zeitalter des Umbruchs, in dem die politischen und epistemologischen Weichen neu gestellt werden.176 Die sich wandelnde Ordnung des Diskurses ist in Deutschland in einer anderen Weise verlaufen als etwa in Frankreich oder England. Der Wandel hängt dabei vor allem mit der Ausbildung einer historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft und der Historisierung der Lebenswelt zusammen, wie Andrea Polaschegg herausgearbeitet hat.177 Die neue Lust am Übersetzen, die für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als charakteristisch angesehen werden kann, lässt sich auch an der Figur Michaelis beobachten, der vor seiner „eigenen Orientexpedition“ bereits die Beschreibung Ägyptens durch Abulseda (1273–1331) ins Lateinische übersetzt hatte178. Wie bereits an der Begründung der Fragen herausgearbeitet, reiht sich Michaelis nicht nur in eine Tradition ein, die Juden und jüdische Auslegungen der Hebräischen Bibel an den Rand gedrängt hat, sondern verschärft diesen Diskurs noch einmal und verlagert ihn auf eine andere Ebene.179 So kritisiert er Niebuhr scharf für sein mehrmaliges Befragen von Juden, die doch eine unzuverlässige Quelle seien.180 Noch deutlicher wird er in der Vorrede der

                                                             172 OSTERHAMMEL, Entzauberung, 81f. An anderer Stelle ist die Rede von „Beobachtungen zu dem feinen und geradezu tastenden Spiel mit Grenzen und Distanzen“, das Niebuhr im Gegensatz zu anderen Expeditionsteilnehmern beherrsche. Siehe KRAACK, Der Abstecher von Suez auf die Sinaihalbinsel, 140. 173 Dies arbeitet Weidner mit einem Seitenblick auf Michel de Certeau heraus. Siehe WEIDNER, Strategien des Wissens, 111. 174 EBD., 125. 175 EBD., 125. 176 Siehe HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK, Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, 9. 177 Siehe ANDREA POLASCHEGG, Der andere Orientalismus, 144. 178 Siehe LÖWENBRÜCK, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, 90. 179 Den Diskurs der Marginalisierung jüdischer Stimmen hat mit besonderem Gewicht auf die Reformation Andrew Colin Gow umfangreich beschrieben. Vergleiche hierzu ANDREW COLIN GOW, Christian Colonialism: Luther’s Exegesis of Hebrew Scriptures, in: Ders./ Robert J. Bast (Hg.), Continuity and Change. The Harvest of Late Medieval and Reformation History (FS Heiko Oberman), Leiden u.a. 2000, 229–252. 180 Siehe JOHANN DAVID MICHAELIS, Rezension der Beschreibung von Arabien, 77f.

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ersten Ausgabe der erwähnten Deutsche(n) Übersetzung des Alten Testamentes mit Anmerkungen für Ungelehrte, in der er Schultens für seinen guten Geschmack lobt, der ihn vor der „Einmischung der Hebräischen Etymologie in die Uebersetzung“181 (wohlgemerkt des Alten Testamentes) bewahrt habe. Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Herder ist für Michaelis das Judentum seiner Tage streng von der ursprünglichen Religion zu unterscheiden und die Kompetenz der Rekonstruktion der Ursprünge nicht bei den Rabbinen, sondern bei protestantischen Wissenschaftlern zu suchen.182 Diese Differenz innerhalb der deutschsprachigen Wissenschaft entgeht James Pasto, der pauschal urteilt, dass im Gegensatz zu englischen Deisten und französischen Philosophen, protestantische Bibelwissenschaftler in Deutschland eine scharfe Trennung von früherer prophetischer und späterer rabbinischer Religion behaupteten.183 Dass Michaelis hierbei eine besondere Figur ist, beobachtet er zu Recht und deshalb blicken wir nun auf die Schriften Michaelis, die eine solche Trennung des Judentums förderten.

5.2.2 Das Mosaische Gesetz und das Verschwinden des einheimischen Informanten: Die Idee von Mose als antikem Montesquieu Die Schriften zum Mosaischen Gesetz bilden einen Höhepunkt der Schaffenskraft Michaelis und können mit als sein Hauptwerk gelten. Er hat bereits vor diesem sechsbändigen Werk verstreut zu diesem Thema publiziert und stellt sich damit nicht außerhalb seiner Familienlinie, da schon sein Vater das Traktat De judiciis poenisque capitalibus in sacra scriptura commemoratis, ac Hebraeorum imprimis (1730, 21749) herausgegeben hatte.184 Der äußere Anlass des Werks ist eine Reihe von Vorträgen, die Michaelis dem schwedischen Juristen Olaus Rabenius vorstellt, der mit der Abfassung eines schwedischen Gesetzbuches beauftragt war. Von daher ist das Interesse nicht nur rein sprach-

                                                             181 JOHANN DAVID MICHAELIS, Vorrede der ersten Ausgabe, im Jahr 1769, in: Ders., Deutsche Übersetzung des Alten Testamentes mit Anmerkungen für Ungelehrte. Der erste Theil welcher das Buch Hiob enthält. Zweite verbesserte und vermehrte Ausgabe, Göttingen und Gotha 1773, 23. 182 Siehe JONATHAN HESS, Johann David Michaelis and the Colonial Imaginary: Orientalism and the Emergence of Racial Antisemitism in Eighteenth-Century Germany, in: Jewish Social Studies 6 (2,2000), 56–101, hier: 73. 183 Siehe JAMES PASTO, Islam’s ‚Strange Secret Sharer’, 441. 184 Siehe für diesen Zusammenhang auch RUDOLF SMEND, Aufgeklärte Bemühung um das Gesetz. Johann David Michaelis’ „Mosaisches Recht“, in: Hans-Georg Geyer u.a. (Hg.), „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ (FS Hans-Joachim Kraus), Neukirchen-Vluyn 1983, 129–139, hier: 129.

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licher Art, sondern Michaelis wendet sich an jeden, der „über die gesezgebende Klugheit philosophiret“185. Die Wirkungsgeschichte seiner Auslegung der Gesetze Moses beschränkt sich auch nicht nur auf schwedische Juristen und die gelehrte Fachwelt, sondern wird mit den höchsten Weihen der klassischen Literatur geadelt. Friedrich Schiller greift in Die Sendung des Mose (1790) den Gedanken auf, dass sich die Aufklärung zu einem Gutteil dem Erbe der rationalistischen Religion Moses verdanke.186 Auch Johann Wolfgang Goethe hat seinem Westöstlichen Diwan eine Schrift mit dem Titel Israel in der Wüste (1797) nachgestellt, die sich ausdrücklich auf die Erkenntnisse von Eichhorn und Michaelis bezieht.187 Für den Zugang Michaelis zu Mose und vor allem sein Mosesbild ist ein Gedicht von entscheidender Bedeutung, das er der zweiten Auflage seines Buchs zu Salomo mit dem Titel Poetischer Entwurf der Gedanken des Prediger-Buch Salomons (1762) programmatisch als „Moses, der Anfang eines Gedichtes“ voranstellt.188 Dort wird Mose als ein klassisch ausgebildeter Führer seines Volkes, ein weiser Staatsmann und Visionär auf Augenhöhe mit den Herrschern seiner Zeit und den Großen der Geschichte wie Homer, Solon und Cicero dargestellt. Michaelis verortet sich mit seinem „Mosaischen Gesetz“ innerhalb der spezifischen Wende des 18. Jahrhunderts, die den Diskurs zu Mose, der von Machiavelli und Baruch de Spinoza lange Zeit geprägt war, auf die Rolle Ägyptens und die Frage nach einer doppelten Religion zuspitzte.189 Michaelis erdet diesen Diskurs nun philologisch und weist Mose seinen Platz innerhalb der Hebräischen Altertümer zu.190 Dabei muss er sich auch kritisch mit einer anonymen, nachträglich Jean Astruc (1684–1766) zugeordneten Schrift auseinandersetzen, die 1753 erschienen war und als erster Meilenstein auf dem Weg zur Quellenscheidung des 19. Jahrhunderts gilt.

                                                             185 JOHANN DAVID MICHAELIS, Mosaisches Recht, 1. 186 Siehe JAN ROHLS, Historical, Cultural and Philosophical Aspects of the Nineteenth Century with Special Regard to Biblical Interpretation, in: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation, Volume III. From Modernism to Postmodernism (The Nineteenth and Twentieth Centuries). Part 1, The Nineteenth Century - a Century of Modernism and Historicism, Göttingen 2013, 31–63, hier: 32. 187 Die entsprechenden Zitate und Querbezüge hat Rudolf Smend erfrischend herausgearbeitet. Siehe RUDOLF SMEND, Johann David Michaelis und Johann Gottfried Eichhorn, 58ff. 188 Den Hinweis darauf verdanke ich LEGASPI, The Death of Scripture, 129. 189 Siehe zu der religionswissenschaftlichen Frage nach den Anfängen der Suche nach der doppelten Religion JAN ASSMANN, Das Geheimnis der Wahrheit. Das Konzept der „doppelten Religion“ und die Erfindung der Religionsgeschichte, in: Archiv für Religionsgeschichte 3 (2001), 108–134. Als quer zu dem esoterischen ägyptischen Monotheismus stehend weist dagegen Legaspi Michaelis aus. Siehe LEGASPI, The Death of Scripture, 142. 190 Siehe EBD., 135. Im Gegensatz zu seinen jüngeren Zeitgenossen Herder und Schiller, die die Partikularität der einzelnen Traditionen stark machen, bringt er die Weite und den Universalismus der mosaischen Klassizität zum Ausdruck und Scheinen. Siehe EBD., 152.

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Mose erscheint, wie die Überschrift schon verrät, als ein antiker Montesquieu, der mit Klugheit und Vernunft, dem „allergemeinsten Menschenverstande“191 und eben nicht als „Verführer“ oder „Blödsinniger“192 agiert. Das Gesetz des Mose kann als das „älteste Recht der Kindheit der Völker“193 gelten und zeichnet sich vor allem dadurch aus, „daß der Gesezgeber, der die Sitten anderer klugen und durch Wissenschaften erleuchteten Völker kannte, den ganz neuen Staat eines Volks, das Gott gleichsam erschuf, einzurichten hatte.“194

Doch fand diese Neuschöpfung nicht auf dem Boden einer tabula rasa statt, vielmehr setzte Moses bei seiner Rechtsprechung öfters ein älteres Gesetz voraus, das er teils aufhob, teils verbesserte oder bestätigte. Dieses als Jus consuetudinarium eingeführte Recht sei kein schriftliches Gesetz, sondern gründe sich auf die Macht der Gewohnheit, oder wie Michaelis schreibt auf „morgenländische Gewohnheit“195. Dessen Herkunft wird von Michaelis wie folgt erläutert: „Das alte ungeschriebene Herkommen, welches Moses bald befolgte, bald verbesserte, finde ich meistentheils Nomadisch, das ist, als ein Herkommen und Sitte der frey herumziehenden Hirten, dergleichen die Vorfahren der Israeliten, Abraham, Isaak und Jacob, gewesen sind. Eben deshalb bekommt es auch so viel Licht aus den Sitten der von Abraham abstammenden herumziehenden Araber: und vielleicht würden wir noch neue Entdeckungen machen, wenn wir von den alten Sitten der Länder am Euphrat und Tiger, aus denen Abraham ausgegangen ist, mehr wüßten.“196

Die Quelle der mosaischen Gesetzgebung ist nun eine ganz andere: „Ohne seiner göttlichen Sendung Eintrag zu thun, darf ich wol vermuthen, daß er auch hier von andern Völkern das Gute geborget habe, so er bey ihnen fand.“197

Mose und sein Gesetz werden in einem vorsichtigen Tasten nun nicht als unmittelbar göttlich angesehen, vielmehr geschieht diese göttliche Vermittlung über die Ägypter, die hinter diesen anderen Völkern stehen, wie Michaelis ausdrücklich betont. Das nimmt solche Züge an, dass auch die Beschneidung als ein den Ägyptern nicht fremdes Gut von Michaelis eingeführt wird, mit der Logik, dass auch die ägyptischen Priester, die dem einen Gott dienten, sich hätten beschneiden lassen.198 Michaelis erstarrt fast in Ehrfurcht vor diesem in Wissenschaft und Politik gelehrten Volk, das dabei nicht auf Eroberung fremder Länder abzielte, sondern auf die effektive Nutzung des eigenen Landes.

                                                             191 192 193 194 195 196 197 198

JOHANN DAVID MICHAELIS, Mosaisches Recht, 84. EBD., 87. EBD., 3. EBD., 3. Ebd., 8. EBD., 11. EBD., 12. Siehe EBD., 161.

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Eine Polemik gegen die zerstörerischen Römer schließt den Paragraphen zum Lobe der Ägypter ab. Der cantus firmus dieses Paragraphen wird auch von Michaelis als Aktualisierung und Einlassung zu der Politik seiner Tage vorgegeben als Abwertung der auf Eroberungen abzielenden Briten und Franzosen und verstärkt sich dann im 19. Jahrhundert als ostinato deutscher Kolonialismuskritik.199 Es sei nun der „Herzenshärtigkeit“ des Volkes zu verdanken, dass Mose einige Gesetze und Sitten dulden muss, die er sonst nie hätte billigen können. Oder in den Worten Michaelis: „Denn die Geseze laufen Gefahr, Ansehen und Gehorsam zu verlieren, wenn sie gewisse gar zu eingewurzelte Gewohnheiten verbieten, und dem Volk hergebrachte Rechte rauben wollen, die es zu lieb hat. Will der Gesezgeber eine seinem Volk zu strenge Tugend einführen, so erhält er nichts, weil er zu viel erhalten will, und lehrt sein Volk, in den einzelnen Fällen das Gesez frey zu übertreten; was es bey einem Gebot gelernt hat, wird es bald bey mehreren üben.“200

Moses wird also nicht nur als ein antiker Montesquieu eingeführt, was in die Argumentation passen würde, dass Michaelis hier nur eine rationalistische Interpretation der Gesetze Mose den Weg ebnet. Sondern darüber hinaus erscheint er als ein Lehrer, der sein ihm geistig unterlegenes und zugestandenermaßen auch etwas primitives Volk an die Höhen anderer Zivilisationen heranzuführen versucht. Dies beinhaltet die Mission, das Volk der Hirten und Nomaden nun zu sesshaften Ackerbauern zu machen.201 Zu diesem Zwecke werden die neuen Gesetze auf die älteren Gesetze aufgepfropft.202 Diese Art der Herangehensweise des Mose, wie sie von Michaelis geschildert wird, erinnert auf atemberaubende Weise an kolonialistische Grundmuster und Vorstellungsweisen. Die Argumentation, dass ein zurückgebliebenes Volk nicht von heute auf morgen an eine höhere Zivilisationsstufe herangeführt werden kann, und Rücksicht auf lokale Gesetze und Riten genommen

                                                             199 Diese Kritik an der Errichtung von Kolonien zieht sich durch das Werk durch. Vergleiche dazu auch EBD., 83; sowie insbesondere den gesamten §39, der sich mit dem Handel beschäftigt und argumentativ ausführt, warum der Handel mit ausländischen Partnern nachteilig gewesen wäre; Ebd., 183–189. Siehe dazu auch die Argumentation bei JONATHAN HESS, Johann David Michaelis and the Colonial Imaginary, 71: „In this sense Michaelis’ apparent critique of imperialism actually fuels his attempt to establish intellectual hegemony over the Orient, putting forth an argument for national self-suffiency at the same time as it legitimates the intellectual hegemony of Egypt over Israel - and of the European Orientalist over the ancient Israelites and contemporary Arabs he studies.“ 200 JOHANN DAVID MICHAELIS, Mosaisches Recht, 13. 201 Siehe EBD., 85. 202 Siehe EBD., 9.

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werden muss, hatte sich bereits in dem berühmten Ritenstreit des 16. Jahrhunderts geäußert und durchzieht die weitere Missionsgeschichte.203 Dass diese Assoziation nun keine von außen an den Text herangetragene ist, sondern sich auch bei Michaelis eingestellt haben mag, bestätigt seine Anfangsbegründung der Größe des mosaischen Werkes: „Es ist wahr, die Geschichte zeiget uns auch sonst Colonien, die ihre Gesezgeber gehabt haben: allein sie sind, gegen die Israeliten zu rechnen, in ihrem Anfang nur große Familien...“204

Mose rückt in diesem Bild in die Rolle der einheimischen Elite, die eine wichtige Brückenfunktion im Rahmen der Modernisierung, Erziehung und Staatsgründung einnimmt.205 Dass Michaelis hier zu einem guten Teil einen Mose nach seinem Geschmack modelliert, blieb auch den kundigen Zeitgenossen nicht verborgen, so etwa wenn Herder das Israel des Michaelis eine „fliegende, dichterische Republik“206 nennt. Doch wie verhält sich nun im Einzelnen die Rekonstruktion des historischen Mose, wie sie uns von Michaelis geboten wird, zu dem Reisebericht Niebuhrs und den Vorannahmen Michaelis? Wo genau lässt sich die Erlangung von Hegemonie über den Orient greifbar machen? Wie genau sind Macht und Wissen bei Johann David Michaelis miteinander verschränkt? Um dieses Bündel an Fragen zu beantworten, schauen wir uns ein Beispiel genauer an, das sowohl von Niebuhr erwähnt, als auch von Michaelis aufgenommen wird: Die Frage nach dem Bluträcher in §131. In Bezug auf die Blutrache spricht Michaelis davon, dass Mose sich nicht so verhalte, als ob er ein unbekanntes Gesetz zur Blutrache einsetzen wolle, sondern „er setzt Person, und Recht der Person, als bekannt voraus, und sorget nur davor, daß dies Recht nicht gemisbrauchet werden, sondern der unschuldige Todschläger durch die Heiligkeit einer Freystadt sicher seyn könne. Wenn ich nun bey den Völkern, die mit den Israeliten am nächsten verwandt sind, ohne Mosis Geseze angenommen zu haben, eben dies ungeschriebene alte Recht finde, wenn ich bey den Arabern den Bluträcher, (Tåir) und zwar mit allen seinen schädlichen Folgen

                                                             203 R.S. Sugirtharajah legt z.B. eine dichte Lektüre des Buches Caesar the beloved Enemy (1955) des britischen Missiologen M.A.C. Warren vor, indem dieser auf die Verquickung von Mission und Kolonialismus eingeht und den Imperialismus als zivilisatorisches Werkzeug Gottes preist. Siehe R.S. SUGIRTHARAJAH, Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation, 27. 204 JOHANN DAVID MICHAELIS, Mosaisches Recht, 3; Die Rede von den Kolonien auch in Bezug auf Israel zieht sich durch das Werk wie bereits oben angedeutet. Vergleiche EBD., 196. 205 Vergleiche für diese Funktion des Mittlers auch die Überlegungen bei DANIEL WEIDNER, Politik und Ästhetik. Lektüre der Bibel bei Michaelis, Herder und de Wette, in: Christoph Schulte (Hg.), Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas, Hildesheim u.a. 2003, 35–65, hier: 45. 206 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Rezension J.D. Michaelis Mosaisches Recht, in: Frankfurter Gelehrte Anzeigen 34 (1772), 265–269, hier: 266.

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Die Erfindung des Alten Testaments antreffe: wenn sie an gewissen heiligen Oertern ihre Rache ruhen lassen müssen: so ist mir durch ihre Sitten das alte Recht erläutert, auf welches Mosis Geseze zielen.“207

Der Vergleich mit den Arabern ermöglicht den ungetrübten Blick in die Vergangenheit des Volkes Israel. Die Reise Niebuhrs und seine Beschreibungen, die als Verwissenschaftlichung oftmals zufälliger Beobachtungen beschrieben worden waren, werden als starres Archiv genutzt. Die oftmals überraschenden und dynamischen Perspektivwechsel - bei aller Kritik der diskursiven Taktiken Niebuhrs - werden von Michaelis zugunsten eines zeitlosen intellektuellen Steinbruchs aufgegeben. Die Beschreibung Niebuhrs wird als der „Blick in Abrahams Hütte“ von einer naturwissenschaftlichen Reisebeschreibung zu einem diskursiven Machtinstrument in den Händen Michaelis. In seiner Darstellung dieses sonderbaren Rechtes konstruiert er einen essentialisierten und homogenisierten Orient zu dem er durch allgemeine Forschungen und Reiseberichte von Aleppo bis zu den Malabaren Zutritt erhält.208 Interessanterweise befindet er sich damit auf einer Linie mit Niebuhrs Berichten zu diesem sonderbaren Brauch.209 Michaelis nutzt diese rechtliche Frage jedoch auch zu einer Gegenüberstellung des „heutigen Luxus“ mit „jenen alten Zeiten der Einfalt“210, denen er über die Beschreibung der Gebräuche und Sitten der Morgenländer nahe zu kommen glaubt. Michaelis lobt ausführlich die gesetzgebende Klugheit Moses211, führt über einen wortstatistischen Vergleich die Veränderung zwischen den Arabern und den Israeliten vor Augen, die durch die Gesetze Moses entstanden sei212 und begründet anschließend die primitive und vorbürgerliche Natur dieses Gesetzes213. Spannend wird es nun, wenn es darum geht, die Blutrache so zu beschreiben, wie sie „wirklich bey den Arabern üblich war, und es noch ist.“214

Hierbei erwähnt Michaelis nämlich den Bericht Niebuhrs, der mit seiner Beschreibung der Blutrache mehr übereinstimme, als er das gedacht hatte.215 Auch hier treffen wir wieder auf die bekannte Unterscheidung zwischen den kolonisierten Arabern und jenen, bei denen sich die uralten Gebräuche weitestgehend unverändert erhalten hätten. Von den Beduinen und „im Stande der Natur“ lebenden Arabern ausgehend erläutert Michaelis die Blutrache als mo-

                                                             207 208 209 210 211 212 213 214 215

JOHANN DAVID MICHAELIS, Mosaisches Recht, 10. Siehe JOHANN DAVID MICHAELIS, Mosaische Recht, Bd. 2, Reutlingen 21785, 302. Siehe CARSTEN NIEBUHR, Reisebeschreibung nach Arabien, 151. JOHANN DAVID MICHAELIS, Mosaische Recht (2), 304. Siehe EBD., 306. Siehe EBD., 308. Siehe EBD., 309f. EBD., 314. Siehe EBD., 314.

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ralisches Amalgam der ganzen Nation und darin der Point d’honneur der Duelle vergleichbar.216 Der Tadel an Muhammed, der als Antipode der gesetzgebenden Klugheit Mose eingeführt wird, dient ebenso als Kontrastfolie, wie der ausführliche Vergleich mit den europäischen Duellen.217 Mose vermittle nun auf genialische Weise zwischen dem Schutz des Unschuldigen, der in den bloßen Verdacht gerät und dem alten archaischen Ehrbegriff, der sich nicht durch Gesetze ausrotten lasse. Seine Lösung sind die Freistädte, wie sie sich in Num 35,12; Dtn 19,6 und an weiteren Stellen findet. Er lässt also dem Goël, dem Bluträcher, seine Rechte, die er ihm wie beschrieben auch nur schwerlich hätte nehmen können, insbesondere „da die Rachgier einen Hauptzug in der Gemüthsbildung der südlichen Völker ausmachet.“218

Michaelis ist offensichtlich schnell zur Hand mit grobem Pinsel Grundzüge des morgenländischen Charakters und zeitlose Gesetzmäßigkeiten der Vergesellschaftung der Beduinen aufzuzeigen. Obwohl auch Niebuhr, wie aufgezeigt werden konnte, mit seinem Astrolabium nur einen geringen Ausschnitt der Gesellschaft zu sehen bekommen hat, so lässt seine Darstellung auch Grautöne zu. Da ist zum einen die Rede von einer Geschichte grausamer Blutrache, die ihm nur vom Hörensagen zugetragen worden ist und deshalb in Niebuhrs eigener Klassifikation als wenig vertrauenerweckend erscheinen muss.219 Zum anderen der Grundtenor der Darstellung, der sich gegen Generalisierungen jeder Art in dieser Hinsicht wendet: „Der Todschlag wird nicht einmal in dem kleinen Gebiete des Imams von Jemen, geschweige in ganz Arabien, auf einerley Art bestraft.“220

Auch wird der Ehrbegriff der Araber nicht pauschal verurteilt, sondern auf die Verhältnismäßigkeit der Rache abgehoben221 und deren soziale Situierung betont222. Michaelis vereinfacht also eine komplexe Studie, die Niebuhr vorgelegt hat, sodass sie in sein Vorverständnis passt, das uns bereits in den Fragen entgegengetreten war. Wo schon bei Niebuhr zu kritisieren war, dass die Einheimischen nicht als Gelehrte, sondern Informanten wahrgenommen wurden, ist dieser Befund für Michaelis dahingehend zuzuspitzen, dass sie nur noch als

                                                             216 Siehe EBD., 315. 217 Das Fazit des Vergleichs beläuft sich darauf, dass das europäische Recht der Duelle als „edler“ erscheint. Siehe EBD., 326. 218 EBD., 331. 219 Siehe CARSTEN NIEBUHR, Beschreibung von Arabien aus eigenen Beobachtungen und im Lande selbst gesammleten Nachrichten, 31. 220 EBD., 32. 221 Siehe EBD., 32. 222 So ist es wohl nur wenigen Familien erlaubt, die Blutrache wahrzunehmen. Siehe EBD., 34f.

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wissenschaftliche Diskursmasse und Argument gegen die Autorität der Rabbinen und europäischen Juden fungieren. Von einem Orientalismus des 19. Jahrhunderts lässt sich so allenfalls eine Ahnung gewinnen. Die Distanz zu ihm wird deutlich, wenn noch einmal Herder zu Wort kommen darf. Seine Vorwürfe gegenüber Michaelis gehen über leise Kritik weit hinaus und illustrieren Orientalismus als Essentialisierung des Orients par excellence: „denn nichts ist eigentlich aus dem orientalischen Geist der Zeit, des Volks, der Sitte erklärt, sondern nur überall Blumen eines halb Orientalischen, gut Europäischen common sense herüber gestreuet, die weder den tiefen Forscher, noch den wahren Zweifler, und den Morgenländer, der Ader seines Stammes fühlet, am wenigsten befriedigen werden.“223

Und in Bezug auf die exemplarische Stelle der Blutrache legt Herder noch einmal nach: „So bald aber wieder, z.B. bei der Blutrache und Gefühl der Ehre der Morgenländer, die Frage den Geist der Nation, das wahre Gefühl einer Zeit, eines Clima, eines Volks, die wahre Philosophie eines Gesezgebers im Großen betrifft – so ist alles verzogen.“224

Diese Einordnungen und die harsche Kritik beweist nun meines Erachtens keineswegs, dass die bisherigen Ausführungen zu Michaelis reine Phantasiegeburten übertriebener political correctness wären, sondern dass sich Michaelis hier ausdrücklich auf das Gebiet der „Erklärer“ im Gegensatz zu den „Beschreibern“ begeben hat. Mit diesem Begriffspaar schafft Herder einen Unterschied zwischen Carsten Niebuhr und anderen, die einzig beschreiben, während ihm selbst und anderen Gelehrten die vornehmere Tätigkeit des „Erklärens“ obliege.225 Was Herder hier mit der Rolle des gelehrten Erklärers der fremden Sitten und Gebräuche beschreibt, ist genau die Funktion, die Said als „intellektuelle Autorität“ über den Orient beschrieben hat. 226 Ähnlich wie im vorangegangenen Kapitel mit dem Beispiel der Irokesen und Delawaren ist es auch hier so, dass der philosophische Streit um die Hegemonie bei der Erklärung fremder Völker schließlich dazu führt, dass diese in ihren konkreten Kontexten nicht mehr wahrheitsgemäß wahrgenommen werden. Die indische Philosophin Gayatri Chakravorty Spivak spricht hierfür vom „Verschwinden der einheimischen Informantin“.227 In unserem Fall hat

                                                             223 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Rezension J.D. Michaelis Mosaisches Recht, 425. 224 EBD., 426. 225 Siehe zu der Unterscheidung in concreto und am Beispiel Carsten Niebuhrs JOSEF WIESEHÖFER, „...sie waren für ihn das Juwel von allem, was er gesehen“. Niebuhr und die Ruinenstätten des Alten Iran, in: Ders. / Stephan Conermann (Hg.), Carsten Niebuhr (1733–1815) und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.–10. Oktober 1999 in Eutin, Stuttgart 2002, 267–285, hier: 269. 226 Siehe EDWARD SAID, Orientalismus, 30. Vergleiche zu diesem vieldiskutierten Konzept auch SUSANNE M. ZANTOP, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland, 17. 227 Siehe GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK, Kritik der postkolonialen Vernunft, 27ff.

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sich die Deutung Michaelis, der von Mose als antikem Montesquieu spricht, nicht gegen die alternative Lesart Herders durchsetzen können, welche ich im dritten Unterkapitel genauer ausführen werde. Dass der Vorgang der Integration der Reisebeschreibung in die wissenschaftliche Debatte jedoch mit einem Schwund an Differenzierung und einem Rückgang der Hörbarkeit einheimischer Stimmen einhergeht, hoffe ich an diesem Beispiel aufgezeigt zu haben.

5.2.3 Johann David Michaelis und die Debatte um die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) Für eine kritische Analyse aus postkolonialer Perspektive eignet sich die Debatte um die Emanzipation der europäischen Juden und die Rolle, die Johann David Michaelis in ihr einnimmt, vorzüglich. Frederick Cooper hat darauf hingewiesen, dass sich das Koloniale vor allem durch die besondere Spezifizierung und Kategorisierung bestimmter Menschen auszeichne, die aufgrund dieser Etikettierung überwacht werden müssen und als unfähig erscheinen, den Zivilisationsschritt zur modernen Gesellschaft komplett mit zu vollziehen.228 Diese Beobachtung lässt sich auch auf Michaelis und die Juden übertragen. 1781 brachte der Kriegsrat Christian Wilhelm Dohm (1751–1820) auf Anregung von Moses Mendelssohn die Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) heraus, in der er praktisch und mit konkreten Vorschlägen für gleiche Rechte für die Juden eintrat.229 Diese zu seiner Zeit revolutionäre Forderung wurde kontrovers und breit diskutiert. Unter den vielen Reaktionen auf die Schrift ragte eine derart hervor, dass Dohm in einem zweiten Band 1783 diesen Einwand mitabdruckte und zudem noch einmal gesondert darauf einging. Die Rede ist, wie nicht anders zu erwarten, von der Widerrede Johann David Michaelis. Das lag zum einen in dessen wichtiger diskursiver Stellung begründet, zum anderen auch in seinem ausgewiesenen Expertentum, das ihm auch Mendelssohn in lobenden Worten attestierte.230 Dohm argumentierte vor dem Hintergrund aufklärerischer Gedanken und liberaler Wirtschaftstheorien und behandelte vor allem das Problem der armen Juden und die Frage, wie

                                                             228 Siehe FREDERICK COOPER, Kolonialismus denken, 56. 229 Siehe STEFI JERSCH-WENZEL, Rechtslage und Emanzipation, in: Michael A. Meyer u.a. (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Band 2. Emanzipation und Akkulturation, München 1996, 15–56, hier: 19–23. 230 So schreibt Mendelssohn im Jahr 1770 an Michaelis: „Ew Hochedelgeboren verbinden die tiefste Kenntniss der Grundsprache mit Geschmack und philosophischen Einsichten, die man seit Jahrhunderten vielleicht in keinem Schriftausleger in solchem Grade verbunden angetroffen.“ Zitiert nach LÖWENBRÜCK, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, 138.

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sich diese, die er auch moralisch korrumpiert sah, über einen längeren Zeitraum bessern lassen würden.231 Besonders auffällig an der Argumentation Michaelis ist, dass er nie von Christen und Juden spricht, sondern stattdessen stets die Rede von ‚Juden’ und ‚Deutschen’ ist, er also nationalistische Töne in die Debatte eingetragen hat. Ein Umstand, der auch für seine Zeitgenossen ungewöhnlich war, wie sich an der verblüfften Reaktion Mendelssohns darauf ablesen lässt.232 Vor dem Hintergrund, dass der fremde Orient und die Erforschung des Orients in der Philologie und als historisches Phänomen maßgeblich zur Etablierung nationaler Diskurse rund um ‚Volk’ und ‚Volksgeist’ beigetragen hat, leuchtet der Zusammenhang unmittelbar ein.233 Überraschend ist, dass Michaelis, der auch als Rechtsgutachter zu Fragen des jüdischen Gesetzes arbeitete, keine klassischen theologischen Argumente bringt, sondern auf die Differenz der Juden zur Restbevölkerung abhebt. Er benutzt bereits ein Vokabular, das mit dem Begriff der ‚Rasse’ operiert und stellt die Juden durchgängig als ein fremdes Volk dar.234 Ein Gedanke, der wenig später von Herder aufgegriffen wurde und in seiner Adrastea (1802) in den Worten „Das Volk ist und bleibt also auch in Europa ein unserm Welttheil fremdes Asiatisches Volk“235

weitergeführt wurde. Neben diesem ‚othering’ stoßen wir auf einen weiteren Gedanken, der vertraut dünkt. Zwar bewundert Michaelis den Philosophen Mendelssohn, doch wo Mendelssohn mit den Rabbinen und talmudischen Traditionen argumentiert, da weist ihn Michaelis schroff zurecht und streitet die Aussagekraft und Vertrauenswürdigkeit dieser Quellen rundherum ab.236 Er geht sogar so weit mit dem Gedanken zu spielen, dass die Juden und zwar nicht nur die Gebildeten, sondern auch „der gemeine Haufe der Rabbinen, und die Ungelehrten“ seine Auffassungen der Sabbat-Gesetze annehmen sollten, „so wäre der Sache                                                              231 Siehe auch die ausführliche Darstellung EBD., 151–154. Allerdings machte sich auch Dohm keine Illusionen über den Zustand des Judentums. Aus der Sicht des aufgeklärten Reformers waren die Juden „bedauernswerte asiatische Flüchtlinge“. Siehe ACHIM ROHDE, Orient, 385. 232 Siehe dazu CHRISTIAN KONRAD WILHELM VON DOHM, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, 2 Teile in einem Band, Hildesheim / New York 1973; darin: Anmerkung über diese Beurtheilung von Hrn Moses Mendelssohn, 72–77, hier: 75. 233 Siehe dazu auch die Überblicksdarstellung bei MARKUS SCHMITZ, Art. Orient, in: Susan Arndt/ Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2011, 483–496, hier: 491. 234 Siehe LÖWENBRÜCK, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, 159f. 235 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Adrastea, Band 4, 7, Leipzig 1802, 146. Vergleiche LÖWENBRÜCK, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, 176. 236 Siehe LÖWENBRÜCK, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, 168; mit dem Verweis auf die Rezension Johann David Michaelis zu Moses Mendelssohns Jerusalem, oder über religiöse Macht und Judentum (1783).

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ziemlich geholfen“237. Neben diesem Streben nach einer diskursiven Hegemonie zulasten der jüdischen Ausleger ist es jedoch vor allem der Gebrauch und Gedanke des Begriffs der ‚Kolonie’, der die politische Einmischung Michaelis eng mit seinem wissenschaftlichen œuvre verknüpft. Denn als Lösung der Frage nach der bürgerlichen Verbesserung der Juden schwebt Michaelis keine rechtliche Eingliederung vor, sondern im Gegenteil träumt er davon, dass die Juden nicht die Äcker der deutschen Heimat urbar machen sollen238, sondern stattdessen schlägt er vor, die Juden als Kolonisten auf Zuckerinseln zu schicken239. Dort, so die Argumentation, seien sie aufgrund ihrer Physis und als „südliche Rasse“240 viel eher beheimatet, als in den nördlichen Gefilden und zudem könne dort ein Besserungsvorgang dieses „lasterhafte(n) und verdorbene(n)“241 Volkes vonstattengehen. Dass dies beileibe kein rein akademischer Vorschlag war, sondern auch von antijüdischen Ressentiments aufgegriffen wurde, lässt sich an der antisemitischen Hetzschrift Der Judenspiegel (1819) von Hartwig von Hundt-Randowski aufzeigen, der Michaelis Ideen aufgreift und dafür plädiert, dass die männlichen Juden als Arbeitskräfte in die Kolonien verkauft werden und die Frauen in die Prostitution gezwungen werden sollen.242 Das koloniale Phantasma, an dem Michaelis mit diesen Gedanken partizipiert, äußert sich auch in seinen Vorstellungen von der Reinheit und Unvermischtheit des jüdischen Volks mit Hilfe derer er das „Temperament der Nation“243 erklärt. Selbstverständlich befindet sich Johann David Michaelis damit auch auf der Höhe der Wissenschaft seiner Zeit. So formuliert kein geringerer als Immanuel Kant wenige Jahre später seine Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace (1785) und popularisiert damit Kategorisierungen, die einen neuen Diskurs eröffnen.244 Hält man sich die Einschätzungen des Religionswissenschaftlers Kocku von Stuckrad vor Augen, der die Macht der Religionen wie folgt beschreibt:

                                                             237 JOHANN DAVID MICHAELIS, Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden von Christian Wilhelm Dohm, in: Christian Konrad Wilhelm von Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, 2 Teile in einem Band, Hildesheim / New York 1973, 31–71, hier: 47. 238 Siehe EBD., 43. 239 Siehe EBD., 41.56. 240 EBD., 51. 241 EBD., 33. 242 Siehe ACHIM ROHDE, Orient, 389. 243 JOHANN DAVID MICHAELIS, Verbesserung, 36. 244 Siehe IMMANUEL KANT, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Kants Werke. Band 8, Abhandlungen nach 1781, Berlin 1968, 65–82. Zum Aufkommen des Rasse-Diskurs und den zeitgeschichtlichen Hintergrund vergleiche SUSAN ARNDT, Art. Rasse, in: Susan Arndt/ Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2011, 660–666; ANNA-RUTH LÖWENBRÜCK, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, 160.

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Die Erfindung des Alten Testaments „Sie dienen als Instrument in der kommunikativen Herausbildung von Identität und bieten den Menschen konkrete Handlungsoptionen“245,

so wird die diskursive Macht, die Michaelis einnimmt, noch einmal deutlicher. Gerade vor diesem Hintergrund scheint es dringend geboten, Michaelis politische und wissenschaftliche Arbeiten nicht unterschiedlich zu bewerten. Seine Darstellungen in der Rezension Dohms sind nicht nur judenfeindliche Ausfälle, sondern in einer Linie mit seiner wissenschaftlichen Arbeit zum Alten Testament zu sehen,.246 Die Wissenschaft übt auf Michaelis keineswegs eine disziplinierende Wirkung aus, sondern sowohl das Mosaische Gesetz, als auch die Einmischung in die Dohm-Kontroverse lassen sich in einen kolonialistischen Diskurs und Duktus einzeichnen. Johann David Michaelis steht im Zentrum sowohl der religionswissenschaftlichen Fragestellung als auch am Anfang einer bestimmten Richtung der alttestamentlichen Wissenschaftsgeschichte, indem er mitwirkte an dem Prozess der aus dem Judentum eine moderne Religion machte247 und für ein Übergangsstadium steht, in dem sich die historisch-kritische Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts zu entwickeln begann. Zusammen führen und untermauern lässt sich diese These genau am Zusammenspiel zwischen Philologie und Reisebericht das als ein Grundthema die bisherigen Ausführungen begleitet hat. Leora Batnitzky nennt als einen Eckpfeiler in der Ausbildung des modernen Judentums die Herausbildung des Hebräischen als klassische, literarische (jedoch tote!) Sprache.248 Bereits 1757 hatte Michaelis eine klassische Studie veröffentlicht mit dem Titel Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen (1757). Darin taucht der Gedanke auf, dass das Hebräische eine Sprache sei, die schon vor 2000 Jahren ausgestorben sei. Damit schuf Michaelis die Differenz zwischen den antiken Hebräern und der Welt des Judaismus, die uns in späteren Kapiteln noch beschäftigen wird.249 Damit einher ging die Periodisierung eines goldenen Zeitalters, das sich in der Person und Poetik des Mose, der Größe eines David und den Gestalten der Propheten findet, gegenüber einem degenerierten Zeitalter, das durch die Kniffe und Verschlagenheit der Rabbiner gekennzeichnet sei.250 Durch die Gleichsetzung der Verstehbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Hebräischen Sprache mit den Sprachen seiner Zeit schuf Michaelis die Grundlage für ein wissenschaftliches und allgemeines Verständnis des Hebräi-

                                                             245 „They serve as instruments in the communicative formation of identity and provide people with a concrete script of action.“ Siehe: KOCKU VON STUCKRAD, Discursive Study of Religion, 269. 246 Darauf weist auch JONATHAN M. HESS, Johann David Michaelis and the Colonial Imaginary, 59, hin. 247 Siehe hierzu vor allem LEORA BATNITZKY, How Judaism Bacame a Religion, 16–21. 248 Siehe EBD., 17. 249 Siehe dazu auch MICHAEL C. LEGASPI, The Death of Scripture, 87. 250 Siehe EBD., 88.

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schen.251 Grundlegend für diesen Paradigmenwechsel ist bei Michaelis jedoch der Rekurs auf die eigene Erfahrung, die bereits aufgezeigten Vorannahmen bezüglich der Unveränderbarkeit der arabischen Sprache ohne Einfluss von außen, die Einzeichnung in ein kolonialistisches Weltbild, das koloniale Strukturen als Basis gesellschaftlicher Austauschprozesse und vor allem des Wissenserwerbs ansieht, sowie die feste Verankerung in eine Vorurteilsstruktur, die mit Johannes Fabian als ‚allochroner Diskurs’ bezeichnet werden kann.252 Mit Hilfe der neugewonnenen naturwissenschaftlichen Fragestellungen wird der Orient als ein homogener und essentialisierter Raum konstruiert, dem der deutsche Professor ein Archiv neuer Erkenntnisse und Entdeckungen abgewinnen kann, bei dem die Stimme der Einheimischen zu bloßen ‚Informanten’ wird und das Expertentum einseitig auf Seiten der Europäer zu finden ist. Die Ambivalenzen und Perspektivwechsel, die noch bei Niebuhr das dynamische Potenzial der Wissenserweiterung ausgedrückt hatten, werden bei Michaelis zu einem linearen Konzept verengt. Die Stimmen der ‚Anderen’ oder Gegendiskurse, die auch bei Niebuhr nicht wirklich breit gestreut waren, tauchen hier nicht mehr auf, stattdessen dient das Expertenwissen im Feld orientalistischer Forschung als Kapital und Mittel zur Erlangung von Souveränität auch im politisch-rechtlichen Diskurs der Zeit. Die kolonialen Bilder und Konzepte, die in der historischen Rekonstruktion etwa bei Moses und den Ägyptern zu beobachten, wirken sich insofern ganz praktisch und real aus, dass sie als Blaupause für eine erneute Kolonisierung der Juden dienen. Mit seiner Übertragung klassischer Konzepte auf die Bibelwissenschaft, wie etwa der kursorischen Lektüre, viel mehr jedoch mit seiner Rede von den „morgenländischen Musen“, die allein den Weg in das verborgene Land der biblischen Poesie zu weisen wüssten253, ließ Michaelis den Geist des Orientalismus, der das gesamte 19. Jahrhundert prägen sollte, auf das Feld der biblischen Wissenschaften los. Die Anfänge, die Michaelis wie hier beschrieben bereitet hat, waren auch den Zeitgenossen und den wissenschaftlichen Erben als solche bewusst. Johann Gottfried Eichhorn würdigt in seinem Nekrolog eine Reihe solcher Anfänge, vermag jedoch in die Würdigung eine Portion Kritik zu mischen, die aufzeigt, wie die Forschung unter seiner Führung sich rasant weiter entwickeln sollte. So heißt es bei ihm über das Mosaische Gesetz: „Die arme Hütte Mosis mit ihrem Haus-Geräthe steht nun da; wo der Hausrath noch zu prächtig ist, läßt er sich mit einem schlechtern leicht vertauschen.“254

                                                             251 Siehe EBD., 92f. 252 Siehe zu letzterem auch noch einmal DIRK WIEMANN, Art. Zeit, in: Susan Arndt/ Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2011, 564–571. 253 Siehe MICHAEL C. LEGASPI, The Death of Scripture, 103. 254 JOHANN GOTTLIEB EICHHORN, Eichhorns Bemerkungen, 165.

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Dabei ging es ihm vor allem darum, die „Stufe der Cultur“255, auf welcher Mose sich befunden haben soll, genauer zu würdigen, damit dem Kindheitsalter der Welt seinen herausragenden Platz zuzuweisen und auf einen größeren Fundus an Quellen reflektiert zurückgreifen zu können. Hierfür wollte er sich nicht nur auf die Erforschung des Orients und die Besonderheiten der Semiten beschränken, sondern sich mehr außereuropäischen Kulturen zuwenden und deren Entdeckungen und Beschreibungen wissenschaftlich fruchtbar machen. Hierzu ein abschließendes Zitat aus dem Nekrolog: „Man hatte vor ihm [M.] schon bemerkt, daß Sitten wie das A.T. sie schildert, oben von der Zeit der Patriarchen an, und so der Reihe nach herab auch in den folgenden Jahrhunderten aus Sitten anderer, von Geschlecht und Sprache ganz verschiedenen Völkern, die unter ganz verschiedenen Klimaten wohnten, aus Berichten von Amerika, von Indien und Grönland usw. Erläuterungen, mehr und minder, nehmen könnten; und die frühern Sammler hatten Aehnlichkeiten, wo sie sie entdeckten, ohne Unterschied der Gegenden und Völker, auf einen Haufen hingetragen. Das Passende von vielem war nicht abzuleugnen; aber an historische Kritik gewöhnt, stand Michaelis diese Mischung nicht recht an. Er sonderte und schied, und ohne nun zu fragen, woher doch diese Aehnlichkeit bey Völkern so verschiedner Geburt, in Ländern unter so verschiedenen Klimaten, kommen möchte? vielleicht auch, weil ihm keine leichte Lösung dieses Räthsels beyfiel, schränkte er diese Art Erläuterung blos auf den Orient und auf Semiten ein.“256

Die Bemühungen Herders und Eichhorns, die diese Anfänge Michaelis’ systematisierten und in der Rede vom „Kindheitsalter der Welt“ in einen größeren Zusammenhang stellten, werden im Zentrum des dritten Kapitels stehen. Doch bevor ich diesen Faden entwickeln möchte, soll eine erste methodische Neuerung vorgestellt werden, die sich als Konsequenz eines philologischen Vorstudiums und als Ausdruck des aus der Beschäftigung mit den Reiseberichten gewonnenen Strebens nach Echtheit verstehen lässt.257

5.2.4 Die Neuerfindung der Einleitungswissenschaft bei Johann Gottfried Eichhorn, Georg Lorenz Bauer und Wilhelm Martin Leberecht De Wette Wilhelm Martin Lebrecht De Wette (1780–1849) gilt vielen als einer der einflussreichsten Bibelwissenschaftler des 19. Jahrhunderts,258 anderen gar als

                                                             255 256 257 258

EBD., 166. EBD., 175f. Siehe MICHAEL C. LEGASPI, The Death of Scripture, 104. So etwa THOMAS RÖMER, ‚Higher Criticism’: The Historical and Literary-critical Approach – with Special Reference to the Pentateuch, in: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation, Volume III. From Modernism to Postmodernism (The Nineteenth and Twentieth Centuries). Part 1, The Nineteenth

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der Gründer der modernen Bibelkritik.259 Ihm kommt jedoch auch das zweifelhafte Privileg zu, eine fatale Trennung in die Religionsgeschichte eingeführt zu haben, indem er zwischen dem Hebraismus in der Blütezeit der Religion und dem degenerierten Judentum unterschied.260 Diese Abstufung findet sich schon teilweise bei Michaelis, der das zeitgenössische Judentum von einem vergangenen goldenen Zeitalter abgrenzte.261 Eine weitere Parallele der beiden Wissenschaftler war die Beschäftigung mit Fragestellungen der Judenemanzipation: Dabei hatte De Wette in einer Wiederaufnahme der Debatte um die rechtliche Gleichstellung der Juden im Hinblick auf die literarischen Quellen des Judentums vom „ästhetischen Genuß dieser Dichtungen“ gesprochen.262 Jacob Friedrich Fries hatte 1816 die Programmschrift des Berliner Historikers Rühs aufgegriffen und in Ueber die Gefährdung des Wohlstands und des Charakters der Deutschen (1816) vehement verteidigt. In Analogie zu den Entdeckungen und Klassifizierungen in Südindien zur damaligen Zeit spricht Fries von den Juden als einer „Handelskaste“, die auf der „niedrigsten Stuffe der Cultur“ verbleibe und in „Schmutz und Rohheit“ verharre.263 Er paraphrasiert die Schrift von Rühs und gibt mit ihm drei Gründe für die essentielle Schlechtigkeit des Judentums an, namentlich (1) die Macht der Rabbinen, (2) den Gedanken, auserwähltes Volk Gottes zu sein und schließlich (3) die Abwertung der Arbeit.264 Darüber hinaus macht er auch die Schriften der Hebräischen Bibel für die Schlechtigkeit der Juden verantwortlich, so heißt es bei ihm: „Kein Unbefangener kann verkennen, daß schon die Umbildungen alter Mythologie zu Ebräischen Familiengeschichten, wie sie in der Tora enthalten sind, mit dem Geiste ihrer Krämerkaste und mit Rabinismus verfälscht sind. Wo hat ein anderes Volk auf einer ähnlichen Bildungsstufe solche elende, für die Dichtung

                                                             259 260 261 262

263

264

Century - a Century of Modernism and Historicism, Göttingen 2013, 393–423, hier: 394. Siehe JOHN W. ROGERSON, W. M. L. de Wette. Founder of Modern Biblical Criticism. An intellectual Biography, Sheffield 1992. Siehe LUDWIG DIESTEL, Geschichte, 715. Siehe MICHAEL C. LEGASPI,The Death of Scripture, 88. Siehe EKKEHARD STEGEMANN, „Die Halbierung der ‚hebräischen Religion’“. De Wettes Konstruktion von „Hebraismus“ und „Judentum“ zum Zwecke christlicher Aneignung des Alten Testaments, in: Hans-Peter Mathys / Klaus Seybold (Hg), Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts, Basel 2001, 79–95, hier: 81. JACOB FRIEDRICH FRIES, Ueber die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden. Eine aus den Heidelberger Jahrbüchern der Litteratur besonders abgedruckte Recension der Schrift des Professors Rühs in Berlin: „Ueber die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht. Zweyter verbesserter Abdruck“, Heidelberg 1816, 3.5. Siehe EBD., 6.

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Die Erfindung des Alten Testaments bedeutungslose, heilige Geschichten, die überall mit angerühmten Diebereyen durchwirkt sind?265

Als Hauptursache fasst er schließlich Folgendes zusammen: „Sie sind eine durch theokratischen Despotismus eng verbundene, durch eine eigne Religion zusammen verschworene Krämer- und Trödlerkaste“266.

Bei Fries findet sich damit die Zusammenführung sowohl eines nationalen als auch eines religiösen Vorurteils gegen die Juden, ergänzt um ein bisher wenig beachtetes Element der Verschränkung ethnologischen Wissens – Stichwort Kaste – mit rassistischen Argumentations- und Ausschlussmustern.267 Er knüpft an einen Diskurs an, dessen Verhandlungslinien bereits an der Person Michaelis aufgezeigt wurden und deren eine Grundkonstante von den Juden als einem orientalischen Volk von Meiners auf den Begriff der „morgenländischen Colonie“ gebracht wurde.268 Bereits im Jahr der Veröffentlichung der Schrift Fries´ antwortete der Ministerial- und Kirchenrat Johann Ludwig Ewald mit seinen Ideen, über die nöthige Organisation der Israeliten in christlichen Staaten (1816) auf die vorgebrachten Vorwürfe indem er sie „Lästerungen und Verdrehungen“ nannte.269 Gleichzeitig verweist er auch auf eine wichtige Quelle, die Fries für seine Anwürfe fruchtbar macht, denn dieser „sezt die aus der Luft gegriffene, oft bis zum Lächerlichen luftige, auch längst zum Ueberfluß widerlegte de Wettesche Hypothese als unläugbare Wahrheit voraus, daß die Patriarchengeschichte und die ganze Mosaische Gesetzgebung eine Sammlung alter Mythologien sei.“270

Bei De Wette findet sich der Dualismus zwischen Universalismus und Partikularismus innerhalb der Religionsgeschichte, wie auch die Vorstellung einer Entwicklung, die im Christentum ihren Höhepunkt erreicht.271 Diese Tendenz schlägt sich auch in seinen methodischen Entscheidungen und Darstellungen nieder. In seinem Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testamentes (51840) werden unter dem Paragraphen 116

                                                             265 EBD., 14. Vergleiche EKKEHARD STEGEMANN, „Die Halbierung der ‚hebräischen Religion’“, 80. 266 JACOB FRIEDRICH FRIES, Ueber die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden, 15. Zum Topos des Despotismus und seinen Auswirkungen auf die Literaturgeschichte des Alten Testaments siehe weiter unten. 267 Vergleiche für die Einordnung der Schrift von Fries in den umstrittenen und heiß diskutierten Emanzipationsdiskurs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch STEFI JERSCH-WENZEL, Rechtslage und Emanzipation, 39f. 268 Siehe CHRISTOPH MEINERS, Ueber die Natur der morgenländischen Völker, 454. 269 Siehe EKKEHARD STEGEMANN, „Die Halbierung der ‚hebräischen Religion’“, 81. 270 JOHANN LUDWIG EWALD, Ideen, über die nöthige Organisation der Israeliten in christlichen Staaten, Karlsruhe 1816, 14. Vergleiche EKKEHARD STEGEMANN, „Die Halbierung der ‚hebräischen Religion’“, 81. 271 Siehe EKKEHARD STEGEMANN, „Die Halbierung der ‚hebräischen Religion’“, 85.

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‚Falsche Grundsätze’ zur Beurteilung der historischen Quellen öfters „die Juden“ als Beispiel für einen überholten und damit auch falschen Quellenzugang genannt.272 Gerade die heutigen Juden und die mittelalterliche rabbinische Tradition galten als Exempel für einen unsauberen und nicht den Grundprinzipien der Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit entsprechenden modernen Zugang zur Bibel.273 Die Fragen nach Alter und Echtheit der Bücher, ihrer literarischen Integrität und dem Ursprung der verschiedenen Schichten, Quellen und Fragmente innerhalb der biblischen Bücher, die zu Kernfragen der „höheren Kritik“ gezählt werden, wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf eine neue Stufe gehoben. Johann Gottfried Eichhorn löste mit seiner populären Einleitung in das Alte Testament (1780–1783) die bis dahin gültigen Lehrbücher von Johann Gottlob Carpzov ab.274 Die große Wertschätzung und der Vorbildcharakter, den seine Einleitung genoss, zeigen sich an einem Zitat innerhalb der Einleitung Georg Lorenz Bauers unter dem Titel Entwurf einer Einleitung in die Schriften des Alten Testaments zum Gebrauch seiner Vorlesungen (1794) : Daß ich Herrn Hofrath Eichhorns Einleitung genützt habe, wird mir zu keinem Vorwurf gereichen, indem in diesem herrlichen Buche, nicht nur im ersten Theile, viele schon von andern gut bearbeitete Materialien treflich sind zusammengestellt, vermehrt und zu einem schönen Ganzen verbunden worden, sondern auch hauptsächlich in dem zweyten speziellen Theil so viele neue Ideen sind vorgetragen worden, daß dadurch die Behandlung des Alten Testaments eine ganz neue vorteilhafte Gestalt gewonnen hat“275

Eichhorns Einleitung schien in den 1790er Jahren zu einem absoluten Referenzwerk geworden zu sein.276 Die neue Gestalt in der Behandlung des Alten Testaments betraf dabei vor allem die Grundsätze einer historischen Herangehensweise und einer konsequenten Textkritik, wie sie Eichhorn auch von Johann Salomo Semler übernommen hatte.277 Im Zentrum dieser neuen histori-

                                                             272 Siehe WILHELM MARTIN LEBERECHT DE WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testamentes. Erster Theil. Die Einleitung in das A.T. enthaltend, Berlin 51840, 156. 273 Siehe MICHAEL C. LEGASPI, The Death of Scripture, 92. 274 Siehe RUDOLF SMEND, Johann Gottfried Eichhorn, in: Ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 25–37, hier: 30. 275 GEORG LORENZ BAUER, Entwurf einer Einleitung in die Schriften des Alten Testaments zum Gebrauch seiner Vorlesungen, Nürnberg und Altdorf 1794, Vorrede (unpaginiert), Vergleiche BODO SEIDEL, Karl David Ilgen, 99. 276 Vergleiche aber weitere Einleitungen, die zu jener Zeit aktuell waren. Eine Liste dafür bietet BODO SEIDEL, Karl David Ilgen, 98. 277 Über die Vorgänger Semlers schreibt Eichhorn: „[...]stoppelten aus ihnen Compendien zusammen, unbekümmert um Erforschung des historisch=Wahren und Vermehrung des historischen Stoffes aus den ächten Quellen.“ Sein Fazit: „In der Kirchen-Geschichte fieng mit Semlern die neueste Epoche unsrer Zeiten an.“ Siehe JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, ABL 5 (1793), 93f.

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schen Betrachtungsweise, die sich verschiedene alttestamentliche Wissenschaftler zu Eigen machten, stand die Echtheitsfrage, wie sich an einem Zitat von Johann Philipp Gabler zeigen lässt: „Die Quelle der historisch B[iblischen] Th[eologie] ist die Bibel schon als Sammlung der ältesten Urkunden des Jüdischen und Christlichen Glaubens, wenn nur die Aechtheit der einzelnen Bücher erwiesen ist.“278

Seit den 1780er Jahren gab es vermehrt Veröffentlichungen zu Fragestellungen der „aeltesten Urkunden“, „ältesten Sagen“ und „ältesten Idyllen“.279 Der Rekurs auf die Ursprünge und die zeitliche Sortierung der Quellen dienten auch dazu, Ordnung zu schaffen und das vermeintliche Chaos innerhalb der biblischen Texte zu bändigen.280 Hierzu schreibt Karl David Ilgen: „Diese Berichtigung der Theile aber muß mit den Quellen anheben. Die Denkmahle, welche die Thaten der alten Völker, ihre Staatsverfassungen, ihre Gesetze, und ihre Religionsmeinungen enthalten, müßten vor allen Dingen vollständig gesammlet, grammatisch berichtiget, mit hinlänglicher Sprach- und Sachkunde erläutert und verständlich gemacht, und nach ihren Zeitaltern mit möglichstem Fleiß geordnet werden; es muß die Glaubwürdigkeit ihrer Verfasser, ihr Amt [...] mit größter Sorgfalt untersucht und der strengsten Prüfung unterworfen werden, ehe von einem sichern und zweckmäßigen Gebrauch derselben die Rede seyn kann. Nur dann erst, wenn alles dieses erfüllt ist, ist es möglich sie als das, was sie seyn sollen, das heißt als Quellen zu benutzen...“281

Die biblischen Bücher galten den Wissenschaftlern als ein Hort unsortierter, nicht nach Gattung, Echtheit und Charakter unterschiedenes Sammelsurium an Texten, in die nun deutsche Alttestamentler Ordnung zu bringen hätten. Karl David Ilgen gesteht den Hebräern zwar ein Tempelarchiv zu, wie es dem „Geist der alten Welt“ entspreche282, doch

                                                             278 E.F.C.A.H. NETTO, Biblische Theologie vorgetragen von D. Joh. Phil. Gabler, nach Bauer Breviar. Theol. Bibl., Jena 1816, 16. Vergleiche OTTO MERK, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, Marburg 1972, 118. 279 Siehe JOHANN SAMUEL ERSCH, Handbuch der deutschen Literatur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis auf die neueste Zeit, Neue Ausgabe, Band 1.2 (Theologie), Leipzig 1922, 66ff. 280 Siehe BODO SEIDEL, Karl David Ilgen, 103. 281 KARL DAVID ILGEN, Die Urkunden des Jerusalemischen Tempelarchivs in ihrer Urgestalt, als Beytrag zur Berichtigung der Geschichte der Religion und Politik aus dem Hebräischen mit kritischen und erklärenden Anmerkungen auch mancherley dazu gehörigen Abhandlungen, Erster Theil: Die Urkunden des ersten Buchs von Moses in ihrer Urgestalt zum bessern Verständniss und richtigern Gebrauch derselben in ihrer gegenwärtigen Form aus dem Hebräischen mit kritischen Anmerkungen und Nachweisungen auch einer Abhandlung über die Trennung der Urkunden, Halle 1798, VIf. 282 Siehe BODO SEIDEL, Karl David Ilgen, 109.

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„das Archiv ist in Unordnung gerathen, die Urkunden sind zerrissen, zerstückelt, in einander geflossen; man weiß weder Verfasser, noch Zeitalter genau anzugeben,; es herrscht allenthalben die größte Verwirrung, sie mag nun durch Nachläßigkeit, oder durch Einfalt und Aberglauben, oder durch absichtliche Bemühung derer, die die Aufsicht darüber hatten, entstanden seyn; kurz die Sammlung derselben, so wie sie gegenwärtig besteht, ist so gut wie ein verschlossenes Buch, und ein unter sieben Siegeln verwahrtes Dokument“283

Diese Beschreibung scheint geeignet, jegliches Bemühen um ein Verständnis dieser Urkunden als vergebliche Liebesmühe einzustellen. Dennoch entwickelt Ilgen eine Liste mit Kriterien, die für eine Authentizität der Schriften erfüllt sein müssen284: „Merkmale der Authentie einer Schrift sind nach Ilgen: (1) ‚Sprache’ – denn Alter des Ursprungs und Alter der Sprache müssen übereinstimmen, (2) ‚Vortrag und Einkleidung’ – späte Verfasserschaft bedeute ‚mehr Präcision, mehr Mannigfaltigkeit’; älteren Schriften fehle der bessere Stil, sie wiederholten sich, seien auch eintöniger in der Wortwahl, (3) ‚Oerter- und Ländernahmen’ in biblischen Schriften dürften sich nicht anachronistisch zu der von der betreffenden Schrift bezeugten Abfassungszeit verhalten, (4) ‚Geschichtsfacta’, über die in Schriften verhandelt werde, dürften ebenso nicht widersprüchlich zur im Buch bezeugten Abfassungszeit stehen, (5) Sitten und Gebräuche, die zur Zeit der angegebenen Abfassung noch nicht üblich waren, sprechen gegebenfalls für die Unechtheit der betreffenden Schrift. (6) Wenn ‚religiöse Begriffe und moralische Lehrsätze vorkommen, die nach den Gesetzen der Cultur dem angegebenen Zeitalter noch fremd seyn müßten; und wenn der Verfasser sonst allerhand Kenntnisse zeigt, die kann in seinem Zeitalter nicht suchen und nicht erwarten darf“, ist die Schrift ebenso als unecht anzusehen.“285

Wie Bodo Seidel treffend analysiert gilt als Schlüssel zur Authentizität der Schriften das innere Kriterium einer „kulturalen Diachronie“.286 Im Folgenden werde ich nun im sogenannten „Kindheitsalter der Welt“ das wirkmächtigste Konstrukt diachroner Zeitvorstellungen um 1800 vorstellen und dessen Bedeutung für die alttestamentliche Wissenschaft untersuchen.

                                                             283 KARL DAVID ILGEN, Die Urkunden des Jerusalemischen Tempelarchivs in ihrer Urgestalt, VIII. 284 Ich gebe diese Liste nach Bodo Seidels Darstellung wider. Direkte Zitate sind von Ilgen, die Beschreibungen stammen von Seidel. Seidel bezieht sich dabei auf eine Mitschrift von Ilgens Einleitung in die Apokryphen. 285 BODO SEIDEL, Karl David Ilgen, 151f. 286 Siehe EBD., 152.

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5.3

Die Suche nach den Ursprüngen: Die biblische Genesis und das Kindheitsalter der Welt „Mich träumte einst, ich sei ein albern Kind, Sich emsig mühend an des Tisches Borden; Wie übermächtig die Vokabeln sind, Die wieder Hieroglyphen mir geworden!“287 Annette von Droste-Hülshoff

Anhand einer Rede, die Arthur James Balfour 1910 im britischen Unterhaus hielt, verdeutlicht Edward Said ein Grundelement des Orientalismus: Orientalismus arbeitet mit essentialisierenden Setzungen über den Westen und den Orientalen, die sich in Gegensatzpaaren wie modern-traditionell, vergeistigtsinnlich und vielen weiteren Gegenüberstellungen ausdrücken.288 Eng damit verbunden war die Vorstellung einer Gleichsetzung von Phylogenese und Ontogenese, die erlaubte, in den neu entdeckten Völkern das Kindheitsstadium der Menschheit zu entdecken, das in Europa bereits durchlaufen wurde. In den Worten Martin Bubers ausgedrückt, dass die „Stunde seiner entscheidenden Plastizität [gemeint ist die des Orientalen, SW] in eine frühere Epoche der Erdgeschichte fällt als die plastische Stunde des Europäers.“289

In diesem Kapitel möchte ich darlegen, wie die Suche nach dem Kindheitsalter der Menschheit auch in der Erforschung des Alten Testaments ihre Spuren hinterließ. Dabei werde ich mich vor allem mit Aspekten des Werks Johann Gottfried Herders auseinandersetzen. Zum Abschluss des Kapitels möchte ich die Überlegungen am Symbol der Schöpfungshieroglyphe Herders zusammenführen. Den engen Zusammenhang zwischen einem Kindheitsalter, Sprachtheorien und der Hieroglyphe vor ihrer Entzifferung durch JeanFrançois Champollion 1822 reißt auch Annette von Droste-Hülshoff in dem Gedicht an, das diesem Kapitel vorangestellt ist. In seinem Aufsatz Der Geist des Orients und das Judentum (1915) benennt Martin Buber einen großen Gegensatz zwischen dem „motorischen“ und

                                                             287 ANNETTE VON DROSTE-HÜLSHOFF, An ***, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.), Der Kanon. Die deutsche Literatur. Gedichte, Bd.3, Friedrich Hölderlin bis Annette von Droste-Hülshoff, Frankfurt a.M./ Leipzig 2005, 174–175, hier: 174. 288 Siehe EDWARD SAID, Orientalismus, 43ff. Für die Bedeutung dieser Unterscheidungen im Orientalismus vergleiche auch MARKUS SCHMITZ, Art. Orient, 486. 289 MARTIN BUBER, Der Geist des Orients und das Judentum, in: Martin Buber Werkausgabe, 2.1 Mythos und Mystik. Frühe religionswissenschaftliche Schriften, hg. von David Groiser, Gütersloh 2013, 187–203, hier: 187.

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dem „sensorischen“ Menschen. Den einen identifiziert er mit dem „orientalischen Menschentypus“, den anderen als den „abendländischen“.290 Martin Buber bemüht in seinem Aufsatz dabei zahlreiche orientalistische Klischees, die sich an der Dichotomie von Vernunft und Unvernunft orientieren und zudem ‚den Orientalen’ als innerlich, naturverbunden und mystisch darstellen. Zentral für die Gegenüberstellung ist für ihn der unterschiedliche Umgang mit Gefühlen und die Art und Weise des Weltbezugs: „Der Okzidentale begreift seine Empfindung aus der Welt, der Orientale die Welt aus seiner Empfindungen. Der Okzidentale geht in seinem Weltbild von der Gegenständlichkeit der Welt aus, auch wo er von ihr zu den obersten Abstraktionen aufsteigt oder sich in die seelenhaftesten Geheimnisse versenkt, der Orientale von der Innerlichkeit der Welt, die er in seiner Innerlichkeit erlebt.“291

Fast unvermeidlich scheint es da, dass auch der Topos des spirituellen Orients und des im Hinblick auf die Religiosität rein rezeptiven Westens auftaucht – nicht ohne dass dieser Befund mit den großen intellektuellen Systemen und wissenschaftlichen Erkenntnissen des Abendlandes kontrastiert wird.292 Spannender wird es, wo Buber über die Juden redet, diese als ein orientalisches Volk kennzeichnet293 und sich zu seinem eigenen Zeitalter äußert, das er als ein „Zeitalter [...] der asiatischen Krisis“294 kennzeichnet. Diese zeitgeschichtliche Einschätzung Bubers lässt sich der Grundthese Pankaj Mishras entgegenstellen, der im Jahr 1905 ein Wendezeichen der Weltgeschichte entdeckt, das den Lauf des kommenden Jahrhunderts maßgeblich beeinflussen sollte und den Wiederaufstieg Asiens markiert.295 In diesem Jahr siegte mit der japanischen Flotte, im Krieg gegen das Zarenreich Russlands, zum ersten Mal seit dem Mittelalter ein außereuropäisches Land gegen ein europäisches und das Echo dieses Sieges hallte um die Welt: Der deutsche Kaiser und Präsident Roosevelt würdigten dieses Ereignis gleichermaßen – wenn auch in anderer Stimmung und mit einem anderen Tonfall – wie auch die jubilierenden Mohandas Ghandi, Mustafa Kemal, Rabindranath Tagore und W.E.B. Du Bois.296 Alle jene zuletzt genannten sollten auf die eine oder andere Weise am nun massiv einsetzenden Vorgang der Dekolonialisierung der Welt maßgeblich mitwirken. Die zeitgeschichtliche Analyse Bubers muss also vor diesem Hintergrund als komplette Fehlinterpretation beurteilt werden. Doch mag das ein wenig vorschnell sein, denn Bubers Blick erweist sich als getrübt, wo es um die Gegenwart geht, doch als umso zutreffender, wo Einschätzungen über seine jüngere Vergangenheit gefragt sind. Das Zeitalter der Krisis, das Buber analysiert, steuert seinem Ende entgegen, als er davon                                                              290 291 292 293 294 295 296

Siehe EBD., 188f. EBD., 189. Siehe EBD., 196. Siehe EBD., 201. EBD., 202. Siehe PANKAJ MISHRA, Aus den Ruinen des Empires. Siehe EBD., 10f.

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schreibt. Doch zielgenau vermag Martin Buber uns sowohl auf den Anfang einiger orientalistischer Vorurteile, die man bei ihm aufzeigen kann, hinzuweisen, als auch den Zeitpunkt des Beginns dieser Krise aufzudecken. Der Aufsatz Bubers wird nämlich mit den folgenden Worten eingeleitet: „Im Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts und im Beginn des neunzehnten wußten Herder und Goethe, Novalis und Görres, daß der Orient eine Einheit ist. Wohl kannten sie die Vielfältigkeiten seiner Völker, die in ihren geschichtlichen und literarischen Urkunden damals recht eigentlich erst von Europa entdeckt worden waren, aber sie blickten durch die Schale der Vielfältigkeit in den einigen Kern des Geistes. Das Morgenland war ihnen kein poetischer Tropus, sondern eine einheitliche, wirkende Wirklichkeit, deren Berührungen sie erfuhren und deren großes Leben sich ihrer ehrfürchtigen Ahnung auftat.“297

In anderen Worten beschreibt Martin Buber hier also die Herausbildung eines essentialisierten Bildes vom Orient als einheitlichem Raum und auch die ehrfürchtige Art und Weise des Zugangs zu ihm – jedoch wohlgemerkt vor dem Hintergrund wichtiger Entdeckungen – im Modus der „Ahnung“ und Spekulation. Bereits bei Johann David Michaelis waren wir auf diesen Gedanken getroffen, der bei Johann Gottfried Eichhorn dann noch einmal stärker systematisiert auftritt. Eichhorn und Johann Gottfried Herder übertrugen ein Entwicklungskonzept auf das Alte Testament und kamen so zu neuen Erkenntnissen. Im Kern ihrer Überlegungen stehen zwei Grundannahmen, dass (1) „gleiche Lage der Cultur und gleicher Geistes=Zustand zu gleicher Denk= und Sinnes=Art, zu gleichen Sitten und Gebräuchen führe“ (2) „sich überlassen und in ihrem Stufen=Gang der Bildung durch fremden Einfluß nicht gestöhrt, die Menschheit überall nach einerley Gesetzen sich erhebe, und nach allgemein fest bestimmten Schritten vorwärts schreite.“298

Die Rede von dem „Kindheitsalter der Welt“ ist dabei eng verknüpft mit den Anfängen der Hebräischen Bibel. In § 70 seines Mosaischen Rechts äußert Johann David Michaelis im Hinblick auf Flüche und Opfer: „All dies war in der ersten Kindheit der Völker anders. Der Eid war bey ihnen heiliger, und erst spät nach langer Verfeinerung der Sitten, werden die Völker leichtsinniger, und lernen ihn verachten, sonderlich wenn die Kinder bey hundert andern Beschäftigungen nicht in der Religion unterrichtet werden oder wenn die Erwachsenen aus Sitte die Religion verlachen: Die Alten wußten bey dem Eide sonst eben nicht viel zu denken, als was die Worte des Eides sagten, z.B. daß man die Geseze halten wolle, wie sie geschrieben waren;[…]“299

Hier findet sich bereits eine Ahnung von dem, was sich dann zu einem eigenen Topos entwickeln sollte und in dem Bild des unverfälschten und natürlichen                                                              297 MARTIN BUBER, Geist des Orients, 187. 298 JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Bemerkungen über J.D. Michaelis Litterarischen Character, 176. Siehe JAN LOOP, „Von dem Geschmack der morgenländischen Dichtkunst“, 170. 299 JOHANN DAVID MICHAELIS, Mosaische Recht (2), 14f.

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Wilden, der als religiöser und nicht von Kultur beeinflusster und verdorbener Mensch ganz anders vorzustellen ist, als der moderne unter den Lasten der Kultur ächzende Mensch. So verwundert es nicht, dass sich Michaelis auch erkundigte, wie die Eigentumsverhältnisse bei den Ureinwohnern Amerikas gestaltet waren und die Ergebnisse (keine Wertschätzung des Grundbesitzes, Interesse an beweglichen Gütern, sexuelle Freizügigkeit) mit den Entdeckungen Niebuhrs zu einem homogenen Bild der ursprünglichen Lebensweise auch der Kanaaniter und dem Jus consuetudinarium folgenden Israeliten verschmilzt.300 Eichhorns Leistung bestand jedoch in der Übertragung der Mythenforschung Heynes auf das Alte Testament und besonders die Urgeschichte. Heyne deutete in seinem Seminar zu antiker Mythologie, das Eichhorn besuchte, die Werke Homers und Hesiods nicht als Erfindung und allegorisch zu verstehende Dichtung, sondern als eine der Kindheit der Menschheit angemessene Ausdrucksform.301 Zwar finden sich auch bei Michaelis bereits Anklänge an die mythische Erklärungsweise, jedoch stehen sie ähnlich wie die Rede vom Kindheitsalter der Welt nur vereinzelt dar.302 Johann Gottfried Eichhorn gilt darüber hinaus als der eigentliche Erfinder einer ‚Einleitung ins Alte Testament’, wie es sie auch in heutiger Zeit noch gibt und hat mit seinen Arbeiten und speziell seinem kulturgeschichtlichen Ansatz die historische Kritik des 19. Jahrhunderts vorbereitet.303 Doch wirkt Eichhorn nicht nur bis in die weite Zukunft, sondern schon zu seinen Lebzeiten entscheidend auf einige Größen des deutschen Idealismus ein. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling schrieb seine Magisterarbeit Über die Erzählung der Genesis vom Sündenfall (1792) und griff dabei stark auf die Unterscheidung von philosophischem und historischem Mythos zurück und den Gedanken, dass der mythische Charakter alter Schriften im Kindheitsalter der Menschheit begründet liege.304 Diese Beobachtung vom Kindheitsalter der Menschheit und deren Nutzen für die Erforschung des Alten Testaments fand dann rasch ihren Weg in die entstehenden Einleitungswissenschaften. Bei Karl David Ilgen heißt es paradigmatisch in seiner Einleitung in das A.T.: „Um diese Schriften recht zu verstehen ist nöthig: 1.) daß man das Jugendalter der Menschheit studirt: dies kann man

                                                             300 Siehe für den entsprechenden Briefwechsel Johann David Michaelis mit John Pringle: JOHANN GOTTLIEB BUHLE (HG.), Literarischer Briefwechsel von Johann David Michaelis, Zweiter Teil, Leipzig 1795, 381–386. 301 Siehe HENNING GRAF REVENTLOW, Epochen der Bibelauslegung (4), 219f. Für das nicht unproblematische Verhältnis von Johann David Michaelis und Heyne, siehe LEGASPI, The Death of Scripture, 82f. 302 Siehe CHRISTIAN HARTLICH / WALTHER SACHS, Der Ursprung des Mythos-Begriffs in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952, 1. 303 Siehe HENNING GRAF REVENTLOW, Epochen der Bibelauslegung (4), 219. 304 Siehe JAN ROHLS, Historical, Cultural and Philosophical Aspects of the Nineteenth Century, 38f.

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wenn man unerzogene Kinder fleißig beobachtet[...] Wenn man den Charakter, Sitten, Gewohnheiten, Gebräuche der heutigen Völker sich bekannt macht, vorzüglich der [...] der Südländer. 2.) Muß man sich mit der Geschichte des Orients bekannt machen. Kein Volk ist in seim Charakter, Sitten und Gewohnheiten im ganzen sich durch alle Zeitalter so gleich geblieben, als die Asiatischen Völkerschaften. Wenn man also die heutigen Araber z.B. kennt, so kennt man ziemlich ebendieselben Völker zu Zeiten Mosis.“305

Oder entsprechend bei Georg Lorenz Bauer in seinem Entwurf einer Einleitung in die Schriften des alten Testaments (1794): „Sie (die Schriften der Bibel; SW) sind im Geiste der alten Welt geschrieben, natürlich, ungekünstelt, ohne Schmuck und Beredsamkeit, und es sind Begriffe in ihnen herrschend, welche dem Kinderalter der Welt eigen sind.“306

5.3.1 Die Erzeugung kultureller Differenz: Johann Gottfried Herder, der ‚Edle Wilde’ und die ‚Ordnung der Kulturen’ um 1800 In seinem Werk Leben ist Brückenschlagen (2011) würdigt Karl-Josef Kuschel Johann Gottfried Herder als einen herausragenden Vordenker des interreligiösen Dialogs und illustriert an seinem Vorbild die Dialogkompetenzen, die sich im Folgenden als Leitlinie durch das ganze Buch ziehen.307 Herder wird eine umfassende Sachkenntnis, ein empathisches Hineinversetzen in die Rolle des Anderen und eine überragende Selbstkritik zugesprochen. Zwar kranke sein Bild an idealistischer Übertreibung308, doch vereine Herder auch noch die weiteren Dialogkompetenzen, nämlich das gelingende Aufzeigen von Strukturanalogien und die Orientierung an Kriterien der Humanität auf sich. Diese Sichtweise auf Herder lässt sich auch durch dessen Kritik an den Geschichtsphilosophen seiner Zeit erhärten, denen er ins Stammbuch schreibt, sich von ihrem ethnozentrischen Blickwinkel zu lösen. Den Kulturvergleich lehnt er aus eben diesen Gründen dann auch komplett ab, da unterschiedliche Voraussetzungen, sowie die Standortgebundenheit des Vergleichenden in einer Kultur diese völlig erschwere.309 Schon Heinrich Heine sang ein Loblied

                                                             305 KARL DAVID ILGEN, Ms Einleitung in das A.T. Port.150.4, 299f. Vergleiche BODO SEIDEL, Karl David Ilgen und die Pentateuchforschung, 32. 306 GEORG LORENZ BAUER, Entwurf einer Einleitung in die Schriften des alten Testaments, 268. Vergleiche BODO SEIDEL, Karl David Ilgen und die Pentateuchforschung, 32. 307 Siehe KARL-JOSEF KUSCHEL, Leben ist Brückenschlagen. Vordenker des interreligiösen Dialogs, Ostfildern 2011, 60–67. 308 Siehe hierzu HELMUTH VON GLASENAPP, Das Indienbild deutscher Denker, Stuttgart 1960, 14. 309 Siehe hierzu die Darstellung bei ANNE LÖCHTE, Johann Gottfried Herder, 43.

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auf Herders liberale Gesinnung310 und nicht von ungefähr gilt Herder denn auch Ethnologen und Kulturanthropologen als ein Vorbild, wie Anne Löchte differenziert herausgearbeitet hat.311 Wo Kuschel dann jedoch so weit geht, auch noch zu folgern, dass Johann Gottfried Herder nicht über Indien rede, sondern „einem ‚Asiaten’ eine eigene Stimme gebe“312, ist ein Widerspruch überfällig. Das Beispiel Herders eignet sich ausgezeichnet um die Ambivalenz der Impulse jener von Martin Buber erwähnten Denker um 1800 herauszuarbeiten, gleichsam jedoch auch um Funktionsweisen des kolonialistischen Diskurses aufzuzeigen. Nicht umsonst ist Herder eine hoch umstrittene Figur in der Debatte um Alterität und deren Wahrnehmung.313 An ihm lassen sich Aspekte des umfassenden Bedeutungswandels in der Sicht auf kulturelle Differenz an der Schwelle zum 19. Jahrhundert besonders gut aufzeigen.314 Zwar ist Herders direkter Einfluss auf die alttestamentliche Wissenschaft überschaubar, doch hat sein Denken insbesondere über seinen Schüler Johann Gottfried Eichhorn eine enorme Bedeutung entfaltet.315 Michel Foucault und Wolf Lepenies haben den Umbruch von einer taxonomischen zu einer historischen episteme an der Schwelle zum 19. Jahrhundert beschrieben.316 Wie Andrea Polaschegg überzeugend herausgearbeitet hat, gibt es auch einen Wechsel innerhalb der Wissensparadigmen in der Orientalistik um 1800, der auf den Begriff eines Wandels von der ‚Anthropologie’ zur ‚Kulturgeschichte’ gebracht werden kann.317 Der Geist der Ebräischen Poesie (1782) von Johann Gottfried Herder steht nun genau im Spannungsfeld dieser gegensätzlichen Paradigmen von ‚Sprache’ und ‚Bild’.318 Herder deutet

                                                             310 Siehe MICHAEL ZAREMBA, Johann Gottfried Herder. Prediger der Humanität, Köln u.a. 2002, 6. 311 Siehe ANNE LÖCHTE, Johann Gottfried Herder, 43f. 312 KARL-JOSEF KUSCHEL, Brückenschlagen, 65. 313 Vergleiche ANTHONY PAGDEN, The Effacement of Difference. Colonialism and the Origin of Nationalism in Diderot and Herder, in: Gyan Prakash (Hg.), After Colonialism. Imperial Histories and Postcolonial Displacements, Princeton 1995, 129–152; HELMUT PEITSCH, Deutsche ‚Antheilnahme’ an der europäischen Expansion, 279; CHRISTIANE FREY, Gramma, Hieroglyphe und jüdisch-hebräische Kultur, passim. 314 Siehe hierzu HANSJÖRG BAY/ KAI MERTEN, Einleitung, 7. 315 Siehe dazu CHRISTOPH BULTMANN, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung, 6. 316 Siehe WOLF LEPENIES, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München/Wien 1976; MICHEL FOUCAULT, Die Ordnung der Dinge. Vergleiche HANSJÖRG BAY/ KAI MERTEN, Einleitung, 9. 317 Siehe ANDREA POLASCHEGG, Die Verbalwurzel der Hieroglyphe. Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie als Text zwischen zwei geistesgeschichtlichen Paradigmen, in: Daniel Weidner (Hg.), Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie, Berlin 2008, 201–223, hier: 202. 318 Siehe EBD., 202.

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den Schöpfungsbericht als eine Hieroglyphe und nimmt damit eine Mittlerposition im Streit um Mündlichkeit und Schriftlichkeit ein.319 Indem Herder jedoch die hebräische Religion als Vorgeschichte des Eigenen deutet, nimmt er eine Haltung der Überlegenheit und der Aneignung ein.320 Daniel Weidner hat herausgearbeitet, dass der Streit um den Status des Hebräischen nicht nur ein theologischer und sprachwissenschaftlicher Konflikt ist, sondern es auch um unterschiedliche Sprach- und Schriftkonzeptionen geht.321 Diese kurze Übersicht zeigt die Fülle an Themen, die bei Herder miteinander vermengt werden und auch die Bandbreite unterschiedlicher Herangehensweisen an seinen spezifischen Zugang zur Frage der Alterität. Hier soll nun bewusst auf ein einzelnes Ereignis hingewiesen werden, dessen Bedeutung für Herders Schriften in kontrapunktischer Lektüre herausgestellt wird. So gibt es ein entscheidendes intellektuelles Ereignis, das zwischen Johann Gottfried Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782) und die Adrastea (1803) tritt: Die Rede ist von Georg Forsters deutscher Übersetzung der englischen Übertragung eines Abschnitts aus dem Drama Abhijñānašakuntalam, die William Jones besorgt hatte. Unter dem Namen Sakontala, oder, der entscheidende Ring (1791) erschien diese zuerst in Friedrich Schillers Thalia und fand in Johann Gottfried Herder einen begeisterten Leser, der die zweite Auflage von 1803 herausgab und einleitete.322 Die Śakuntalā lässt sich deshalb als besonders charakterisieren, da sie nicht nur das mythische Indienbild der Romantik nachhaltig geprägt hat, sondern auch dessen gesamtes Naturgefühl entscheidend beeinflusst haben könnte.323 Gegenüber einer älteren Forschungsposition, die auf die interkulturelle Kommunikation und Vermittlungsleistung dieses Werkes und seiner europäischen Rezeption abgehoben hat, mehren sich nun die Stimmen, die darin eine Aneignung sehen, die in koloniale und rassistische Diskurse einmündet.324 Dies ist nicht unumstritten. Es kann jedoch festgehalten werden, dass

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Siehe CHRISTIANE FREY, Gramma, Hieroglyphe und jüdisch-hebräische Kultur, 162f. Siehe EBD., 163. Siehe DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 100. Siehe JÖRG ESLEBEN, Konstruktionen indischer Sichtweisen in der Rezeption von Kālidasās Śakuntalā im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006, 388–407, hier: 389. 323 So zumindest Walter Leifer in der Darstellung von Jörg Esleben. Siehe EBD., 390. Dass die Übersetzung der Śakuntalā als ein Startpunkt und Auslöser der deutschen Begeisterung für Indien betrachtet werden kann und damit innerhalb des deutschen Orientalismus eine herausragende Rolle einnimmt, wird auch von Suzanne Marchand geschildert. Siehe SUZANNE MARCHAND, Orientalism, 22. Vergleiche für die herausragende Bedeutung der Śakuntalā für die Herausbildung des romantisierten Orients auch TODD KONTJE, German Orientalisms, 63. 324 Siehe hierzu JÖRG ESLEBEN, Konstruktionen, 390; sowie DOROTHY M. FIGUEIRA, Translating the Orient. The Reception of Śakuntalā in Nineteenth-Century Europe, Albany 1991.

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Redewendungen und Metaphern wie „kindische Einfalt“ oder „Menschen in der Kindheit [ihrer] Kultur“ ein gängiges Motiv unterschiedlichster Rezipienten gewesen sein muss.325 Damit erscheint die Rezeption der Śakuntalā als wichtiger Baustein innerhalb der Privilegierung von Kindlichkeit, Naivität und Unschuld in dieser Epoche.326 Gerade die Suche nach den Ursprüngen, die verknüpft ist mit der Idee, dass dieser Ursprung rein und unschuldig zu sein vermag, kann als eine Grundidee des Orientalismus gekennzeichnet werden und gilt als ein bis heute nicht überwundenes koloniales Erbe Indiens.327 Doch steht Georg Forster nicht nur für eine wichtige Vermittlung Indiens in den deutschen Kulturkontext, sondern auch für die Verankerung einer tiefen Sehnsucht nach dem Ursprünglichen und Unverfälschten. So machte sein Aufenthalt in Göttingen 1779, bei dem er als umjubelter Autor der Cookschen Reise um die Welt auftrat und Mitbringsel aus Ozeanien verteilte, einen großen Eindruck auf die Göttinger Gesellschaft. Alexander von Humboldt schreibt rückblickend über die Auswirkungen Forsters: „Durch Forster’s anmuthige Schilderungen von Otaheiti war besonders im nördlichen Europa für die Inseln des Stillen Meeres ein allgemeines, ich könnte sagen sehnsuchtsvolles, Interesse erwacht.“328

Nicht umsonst verzeichnet Stefan Goldmann dieses und andere Zitate in einem Artikel, den er mit Die Südsee als Spiegel Europas (1985) bezeichnet hat. Denn die hier angesprochene Sehnsucht erscheint bei genauerem Hinsehen als die Projektion eigener Wünsche nach Authentizität, Reinheit und einer verloren geglaubten Ursprünglichkeit. Die Suche nach den Ursprüngen ist eine Frage, die Johann Gottfried Herder zutiefst bewegt hat und ihn seit der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774/76) als religionsphilosophisches und exegetisches Problem umtrieb.329 Damit zeigt sich Herder als ein Kind seiner Zeit, kann doch das 18.

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Siehe JÖRG ESLEBEN, Konstruktionen, 401. Siehe EBD., 405f. Siehe hierzu ANDREAS NEHRING, Orientalismus und Mission, 46. ALEXANDER VON HUMBOLDT, Ansichten der Natur. Mit wissenschaftlichen Erläuterungen, Band 2, Stuttgart 1860, 263. Vergleiche STEFAN GOLDMANN, Die Südsee als Spiegel Europas, 211. Ein weiteres Zitat, das Goldmann anführt, stammt aus einem Gespräch Goethes mit Eckermann vom 12. März 1828: „Man sollte oft wünschen, auf einer der Südseeinseln als sogenannter Wilder geboren zu sein, um nur einmal das menschliche Dasein ohne falschen Beigeschmack durchaus rein zu genießen.“ Siehe STEFAN GOLDMANN, Die Südsee als Spiegel Europas, 212. 329 Siehe CHRISTOPH BULTMANN, Urgeschichte, 3. Für eine differenzierte Sichtweise auf die Frage nach den Ursprüngen und was genau damit erfasst werden kann, siehe DANIEL WEIDNER, Einleitung: Lektüren im Geist der Ebräischen Poesie, 15. Vergleiche auch CLAAS CORDEMANN, Ursprungsdenken und Metaphysik. Herder und die Frage nach dem Ursprung des menschlichen Geistes, in: Christian Danz (Hg.), Schelling und die Hermeneutik der Aufklärung, Tübingen 2012, 135–154. Programmatisch äußert sich Johann Gottfried Herder zu der Frage nach den Ursprüngen wie folgt:

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Jahrhundert als ein Zeitalter auf der Suche nach den Ursprüngen bezeichnet werden.330 Dass Herder besonders in den letzten Jahren vor seinem Tod Indien als Gegenüber zu Europa und Symbol eines ursprünglichen goldenen Zeitalters der Menschheit verklärte, ist äußerst plausibel.331 Innerhalb der vielen Völker, die Herder in seine Überlegungen und Gedankengebäude mit einbezieht, nehmen die Inder aufgrund ihrer Mäßigung zudem einen besonderen Platz als Vorbild ein.332 Georg Forster, der Schwiegersohn jenes Heyne, den wir bereits mit Blick auf Eichhorn und seine Mythenforschung vorgestellt hatten, schreibt nun in einem Brief an seinen Schwiegervater, dass es darum gehen müsse, westliche Zugangsweisen zu vergessen und lobt den „naiven Ton“, den er in der Śakuntalā anzutreffen meint.333 In seinem Essay Ueber ein morgenländisches Drama (1792) greift Herder diese Gedanken auf und ruft seinen Lesern zu: „Werfen Sie also mein Blatt weg, und lesen das Buch; aber nicht Europäisch d.i. um etwa nur den Ausgang zu wissen mit flüchtiger Neugierde, sondern indisch, mit feinaufmerkender Ueberlegung, Ruhe und Sorgfalt.“334

Die indische Art und Weise zu denken und zu fühlen wird von Herder in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Śakuntalā noch einmal weiter geführt und um die Themen von Sanftmut, Naturliebe und „Vertraulichkeit mit Pflanzen und Tieren“335 ergänzt. Insbesondere die Idyllenszenen werden von Herder

                                                            

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„Nicht aber allein ergötzend, sondern auch notwendig ist’s, dem Ursprunge der Gegenstände nachzuspüren, die man etwas vollständig verstehen will. Mit ihm entgeht uns offenbar ein Teil von der Geschichte, und wie sehr dienet die Geschichte zur Erklärung des Ganzen? Und dazu der wichtigste Teil der Geschichte, aus welchem sich nachher alles herleitet; denn so wie der Baum aus der Wurzel, so muß der Fortgang und die Blüte einer Kunst aus ihrem Ursprunge sich herleiten lassen. Er enthält in sich das ganze Wesen seines Produktes, so wie in dem Samenkorn die ganze Pflanze mit allen ihren Teilen eingehüllet liegt; und ich werde unmöglich aus dem späteren Zustande den Grad von Erklärung nehmen können, der meine Erklärung genetisch macht.“ JOHANN GOTTFRIED HERDER, ‚Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst’, in: Ders., Werke, Bd.1, hg. von Wolfgang Proß, München 1984, 7–61, hier: 19. Siehe zum 18. Jahrhundert URS APP, Birth, xv. Diese Ansicht wird von Michel Foucault nicht geteilt. Siehe dazu CHRISTIAN LAVAGNO, Michel Foucault: Ethnologie der eigenen Kultur, in: S. Moebius / D. Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2011, 46–54, hier: 48. Siehe AXEL MICHAELS, Heilige oder Freaks? Vom Exotismus in der Wahrnehmung indischer Asketen, in: Kerstin Gernig (Hg.), Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin 2001, 316–335, hier: 324. Siehe ANNE LÖCHTE, Johann Gottfried Herder, 102. Vergleiche JÖRG ESLEBEN, Konstruktionen, 392. JOHANN GOTTFRIED HERDER, Ueber ein morgenländisches Drama. Einige Briefe, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 16, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1887, 84–104, hier: 88. JOHANN GOTTFRIED HERDER, Vorrede zur zweiten Ausgabe von G. Forsters Sakontala, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 24, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1886, 576–580, hier: 577.

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herausgestellt und als klassisches Beispiel, wo der europäische Geist nicht weiter zu führen vermag, herausgestellt.336 So wie Georg Forster nach seiner Weltumseglung mit James Cook hoffte, bei den Indern einiges der Südseevölker wieder zu entdecken337, so kann die Rede von den Idyllen und der Gebrauch dieser Gattung bei Johann Gottfried Herder einige Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Kulturbegegnung und Formen der Repräsentation in seinem Denken aufzeigen. Dies umso mehr, als Herder in seinem Geist der Ebräischen Poesie bei seiner Imagination des Morgenlandes stark auf bukolische Topoi zurückgreift um die hebräische Poesie einordnen zu können.338 Herder erscheint in seinen Ideen als ein Autor, der auf der einen Seite auf deutliche Distanz geht zu seinen Zeitgenossen, die mit der Einteilung des Menschen in unterschiedliche Rassen operieren, zum anderen jedoch die Vorstellung von der unmittelbaren Auswirkung des Klimas auf die Gewohnheiten und Kultur der Menschen zu einem Fundament seiner Überlegungen macht.339 Grundlegend scheint bei Herder eher der Gedanke einer Inkommensurabilität zu sein, der es den unterschiedlichen Völkern schwierig macht, zu einer gegenseitigen Verständigung zu kommen und die zahlreiche Differenzen nach sich zieht.340 Der Wilde erscheint in dieser Zeit als ein Gegenüber zum degenerierten und unter der Last der Kultur ächzenden Europäer. Allerdings schreibt Herder immer wieder einschränkend und selbstreflexiv vom „sogenannten Wilden“.341 Der sogenannte Wilde erscheint als ungebändigt und ohne „übertünchte Höflichkeit“ oder „schlaue Rednerkünste“, wie es stellvertretend für andere bei Johann Gottfried Seume in dem Gedicht Der Wilde (1800) formuliert ist.342 Eine entscheidende Rolle spielt dabei auch die körperliche Wahrnehmung und zum Topos der Freiheit und Ungezwungenheit tritt seit den ersten Fremdkontakten stets auch das Motiv einer Schamlosigkeit und sexuellen Freizügigkeit, bzw. körperlichen Ungezwungenheit.343 Auch bei Herder lassen sich nun solche Charakterisierungen beobachten. In seinen Briefen zur Beförderung der Humanität (1793–1797) gibt es eine Sektion, die mit „Neger-Idyllen“ überschrieben ist.344 Dort wird in mehreren Gedichten ein scharfer Gegensatz zwischen edelmütigen schwarzen Sklaven und tyrannischen weißen Herren entwickelt, der sich in das Bild des ‚edlen

                                                             336 337 338 339 340 341 342

Siehe hierzu JÖRG ESLEBEN, Konstruktionen, 397f. Siehe EBD., 391. Siehe DANIEL WEIDNER, Einleitung: Lektüren im Geist der Ebräischen Poesie, 17. Siehe SUZANNE ZANTOP, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland, 96ff. Vergleiche dazu ANTHONY PAGDEN, The Effacement of Difference, 142. Siehe ANNE LÖCHTE, Johann Gottfried Herder, 100. Siehe JOHANN GOTTFRIED SEUME, Der Wilde, in: Gerd Stein (Hg.), Die edlen Wilden. Die Verklärung von Indianern, Negern und Südseeinsulanern auf dem Hintergrund der kolonialen Greuel. Vom 16. Bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984, 77–80. 343 Siehe dazu ROLAND DAUS, Körperliche Erstkontakte in der Kolonisierung Außereuropas: Neugier und Vereinnahmung, in: Kerstin Gernig (Hg.), Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin 2001, 94–115, hier: 99. 344 Siehe JOHANN GOTTFRIED HERDER, Briefe zu Beförderung der Humanität (10), 15ff.

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Wilden’ aufs Trefflichste fügt.345 Die bereits im Titel angesprochene Idyllik verweist mit der Orientierung an der klassischen Antike und dem Ideal der Hirten zugleich auf das „Jugendalter der Welt“ wie Herder an anderer Stelle klar macht.346 Mit Herder existieren auf der Erde im Sinne einer gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit Völker der unterschiedlichsten Entwicklungsstufen, sowohl des Kindheits- als auch des Greisenalters.347 Damit kann bei Herder ein Fortschritt gegenüber Vorstellungen beobachtet werden, die davon ausgingen, dass es Völker außerhalb jeglicher Kultur gebe, stattdessen werden etwa die Südseevölker auf die niedrigste Ebene der Entwicklung, die Indianer nur wenig darüber eingeordnet.348 Dies fügt sich trefflich in das Bild, das auch Georg Forster zeichnet, indem er seine Reise um die Welt als eine Reise in die Vergangenheit des Menschengeschlechts literarisch konzipiert.349 Die Darstellung der Naturvölker als friedlich und mit dem Natürlichen und der Umwelt aufs innigste verbunden fungiert bei Herder als eine explizite Kritik an ethnozentrischen Überlegungen und der übersteigerten Betonung der eigenen Superiorität.350 Dabei ist jedoch zu beachten, dass der ‚Edle Wilde’ stets als die andere Seite der Medaille der Darstellung des ‚Barbaren’ gesehen werden kann. Wo bei dem einen die Fremdheit und Wildheit in ihren primitiven und nicht einschätzbaren Zügen zur Geltung kommt, erfährt sie bei der anderen Ausprägung eine Übersteigerung ins Idyllische und exotisierend Verklärte. Dazu passt auch die deutsche Rezeption der europäischen, vornehmlich von Frankreich und England dominierten Sklavereidebatte, die ab etwa 1780 ins Bewusstsein der deutschen Gelehrtenrepublik geriet.351 Insbesondere die englischen abolitionistischen Artikel wurden in zahlreichen Zeitschriften übersetzt und abgedruckt.352 Als charakteristisch für den anti-imperialistischen

                                                             345 Vergleiche hierzu auch ANNE LÖCHTE, Johann Gottfried Herder, 105–109. 346 Siehe hierzu die Argumentation bei YORK-GOTHART MIX, ‚Der Neger malt den Teufel weiß’. J.G. Herders Negeridyllen im Kontext antiker Traditionsgebundenheit und zeitgenössischer Kolonialismuskritik, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006, 193–207, hier: 196f. 347 Siehe EBD., 195. 348 Siehe hierzu ANNE LÖCHTE, Johann Gottfried Herder, 100. 349 Siehe STEFAN GOLDMANN, Georg Forsters Rezeption der Antike oder Anmerkungen zur Affektstruktur des Zitats, in: Claus-Volker Klenke (Hg.), Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive, Berlin 1994, 325–338, hier: 337. 350 Siehe ANNE LÖCHTE, Johann Gottfried Herder, 101. 351 Siehe BARBARA RIESCHE, „Frohe Aussichten“ für die „Africanische Hundsgesichte“. Die europäische Sklavereidebatte in der deutschen Öffentlichkeit, in: Andreas Englhart/ Annemarie Fischer/ Katerina Gehl (Hg.), Die Öffentlichkeit des Fremden. Inszenierungen kultureller Alterität im langen 19. Jahrhundert, Berlin 2010, 215–229, hier: 215f. 352 Siehe EBD., 221.

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Tonfall lässt sich ein Gedicht anführen, das Matthias Claudius 1773 im Wandsbecker Bothe veröffentlichte353: Weit von meinem Vaterlande Muß ich hier verschmachten und vergehn, Ohne Trost, in Müh’ und Schande; Ohhh die weißen Männer!! klug und schön! Und ich hab’ den Männern ohn’ Erbarmen Nichts getan. Du im Himmel! hilf mir armen Schwarzen Mann!354

Die Sklavenproblematik scheint also im allgemeinen Bewusstsein eine bedeutende Rolle gespielt zu haben355, wie auch die Frage nach den Ursprüngen der Menschheit und einer Geschichte der Menschheit ein drängendes intellektuelles Problem dargestellt haben muss. An der Figur von Georg Forster lässt sich auch herausarbeiten, dass die angesprochenen Werke der Literatur und der Philosophie nicht vereinzelt betrachtet werden dürfen, sondern einen vitalen Bezug zur politisch-sozialen Umwelt aufweisen.356 So wie Georg Forster Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands (1788) gegen christliche Anwürfe verteidigt und sich immer wieder gegen die Religionspolitik in Preußen zur Wehr setzt, so können auch Herders Gedanken und Schriften von den Auseinandersetzungen der Zeit her verstanden werden.357 Dies umso mehr, als sich ein ständiger Wechsel der Argumentationsebenen bei Herder beobachten lässt: Er verschränkt Erfahrung, Fakten und Spekulationen bruchlos miteinander.358                                                              353 Zum Verhältnis von Johann Gottfried Herder und Matthias Claudius siehe auch JÖRGULRICH FECHNER, Claudius und Herder. Eine Skizze, in: Ders. (Hg.), Matthias Claudius 1740–1815, Leben, Zeit, Werk, Tübingen 1996, 135–149. 354 MATTHIAS CLAUDIUS, Der Schwarze in der Zuckerplantage, in: Sämtliche Werke. Nach dem Text der Erstausgaben (Asmus 1775–1812) und den Originaldrucken (Nachlese) samt den 10 Bildtafeln von Chodowiecki und den übrigen Illustrationen der Erstausgaben. Mit Nachwort und Bibliographie von Rolf Siebke, Anmerkungen von Hansjörg Platschek und einer Zeittafel, München 71991, 17f. 355 Vergleiche dazu auch JÜRGEN OSTERHAMMEL, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, München 22009. 356 So argumentiert LUDWIG UHLIG, Georg Forsters Horizont: Hindernis und Herausforderung für seine Rezeption, in: Claus-Volker Klenke (Hg.), Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive, Berlin 1994, 3–14, hier: 5. 357 Siehe EBD., 5. 358 Siehe WOLFDIETRICH SCHMIED-KOWARZIK, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts. Gedanken zu Forster, Herder und Kant, in: Claus-Volker Klenke (Hg.), Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive, Berlin 1994, 115–132, hier: 116. Allerdings ist zu dessen Darstellung kritisch anzumerken, dass er in anachronistischer Weise seine eigene Einschätzung bestimmter Konfliktlinien sehr imaginativ in die Zeit Kants einträgt. Wenn er etwa versucht einen Hiatus zwischen dem „wissenschaftliche[n] Problem der Entstehung des Menschengeschlechts“ und der „gleichnishafte[n] Sprache der Religion“ zu konstruieren, so unterschätzt er den Einfluss der biblischen Überlieferungen im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit und verkennt den Charakter der wissenschaftlichen Diskussionen über die entsprechenden exegetischen Topoi, die

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Die Grundmotive des Mitleids und der Unschuld bieten bei Herder die Hintergrundfolie der Rede von den „Negern“ und statt einer ernsthaften Auseinandersetzung oder einer interkulturellen Begegnung geht es hier um den Appell an eine „patriarchalische Gerechtigkeit“, wie York-Gothart Mix herausgearbeitet hat.359 Der sentimentale Zug und das Mitleid und Bedauern können zudem mit Urs Bitterli als typisch für die Epoche ab 1780 gelten.360 Auch finden sich trotz vieler Bemühungen um eine Objektivität bei Herder noch eindeutige Stereotypen, wie etwa das Urteil von der „animalischen Sinnlichkeit“, die den klimatischen Bedingungen Afrikas geschuldet sei.361 Auch in Isaak Iselins Geschichte der Menschheit (1779) lässt sich eine ähnliche Auseinandersetzung wie bei Herder finden - jedoch mit etwas anderen Schwerpunktsetzungen. In der Einleitung spricht Iselin von dem „grossen[n] Aufsehen“ das durch die Thesen von Rousseau über den Menschen ausgelöst worden sei und die Notwendigkeit, dessen Thesen im Vergleich mit Montesquieu zu verifizieren.362 Rousseau hatte in seiner Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755) die bereits vor seiner Zeit vorhandene gedachte Differenz von Naturmensch und Zivilisationsgeschöpf noch einmal gesteigert.363 Ausgangspunkt für die Darstellung Iselins ist der bürgerliche Stand und dessen sittliches Empfinden und Wertmaßstab.364 Interessanterweise tauchen im Hinblick auf die Orientalen fast wörtlich die Bewertungen Herders auch bei Iselin auf. Dieser spricht von der „Einfalt und [...] Sinnlichkeit, welche die ruhigten und gutartigen Orientaler dem Joche erhabener und wohlthätiger Gesetze unterworfen...“365

Diese Sinnlichkeit wird dann schnell mit einem kindhaften Gemüt und einem kindlichen Entwicklungsstand verknüpft.366 Gedanken einer teleologischen Entwicklung sind dabei jedoch nur vereinzelt zu finden und nehmen nicht den Platz ein, wie es bei Herder später der Fall sein wird. Bei Gotthold Ephraim Lessing in seinem Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) ist diese teleologische Entwicklung dagegen deutlich angelegt und mit der christlichen Offenbarung verbunden. Gott wird als ein Erzieher dargestellt, der die ‚Kräfte des Menschen’ in einer gewissen Ordnung zu

                                                             359 360 361 362 363 364 365 366

hier teilweise nachgezeichnet werden. Jedoch verweist er zu Beginn seines Aufsatzes auf den imaginativen Charakter des Vorgelegten. Siehe YORK-GOTHART MIX, ‚Der Neger malt den Teufel weiß’, 202.204. Siehe URS BITTERLI, Der ‚Edle Wilde’, 276. Siehe hierzu ANNE LÖCHTE, Johann Gottfried Herder, 119. Siehe ISAAK ISELIN, Geschichte der Menschheit, 1. Bd., Basel 41779, xii. Siehe URS BITTERLI, Der ‚Edle Wilde’, 283. Siehe ISAAK ISELIN, Geschichte, xviii. EBD., xx. Siehe EBD., xxi.

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entwickeln habe und somit den ‚ersten Menschen’ nur eine beschränkte Portion zuzumuten gedachte.367 Um ein exemplarisches Lernen dem Menschengeschlechte ermöglichen zu können, wählte Gott dann „sich ein einzelnes Volk zu seiner besonderen Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwildertste um mit ihm ganz von vorn anfangen zu können.“368

Dieses rohe Volk führte Gott nun ganz allmählich an höhere religiöse Ideen, wie etwa einen Monotheismus heran, bediente sich dabei jedoch der dem Entwicklungsstand angemessenen Erziehungsmethoden und damit „unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen“369.

5.3.2 Der Geist des Orients als Ariadnefaden: Zur mythischen Deutung der Schöpfungsberichte Nach der kurzen Skizzierung des geistesgeschichtlichen Kontexts möchte ich nun genauer auf die Verknüpfung mit den biblischen Texten eingehen. Bereits bei der Frage nach den Ursprüngen wurde Bezug genommen auf den Genesiskommentar in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774/76). In der Vorrede zum ersten Teil grenzt sich Herder, wie bereits erörtert, stark von Michaelis und seinem Compendium Theologiae dogmaticae (1760) ab.370 Zudem verbindet Herder in einem sprachlich sehr dichten Text zeitgenössische Einwände gegen die Hebräische Bibel mit seinen eigenen Gedanken zum ‚morgenländischen’ Charakter dieser Urkunde. So führt er einen Zweifler an, der sagen könnte: „was brauchts die Bibel? das alte thörichte Buch! die abgeschabte Glaub- und Nutzlose Urkunde des ausschweifenden Morgenlandes!“371

Herder nimmt diesen Gedanken auf, ohne ihn sich in Gänze zu Eigen zu machen. Gerade aus diesem Widerspruch zwischen „Physik Gottes und der Menschen“372, dem rationalistischen Okzident mit seiner vollständigen Vermessung der Welt373 und dem „Geist des Orients“374 bezieht Herder die Spannung für seinen Ansatz. Zugespitzt findet sich diese Position noch einmal in einem längeren Zitat:

                                                             367 Siehe GOTTHOLD EPHRAIM LESSING, Die Erziehung des Menschengeschlechts, Berlin 1870, 10f. 368 EBD., 13. 369 EBD., 18. 370 Siehe CHRISTOPH BULTMANN, Urgeschichte, 134. 371 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Aelteste Urkunde, 2. 372 EBD., 9. 373 Siehe EBD., 8. 374 EBD., 6.

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Die Erfindung des Alten Testaments „Der alte Offenbarer des Orients durch so viele mühsame Mühseligkeiten, Hypothesen, Dichtungen, Verzerrungen und Träume kaum und kaum gerettet, - daß es niemand glaubt; und der menschliche Erfahrungs- und Offenbarungsgeist auf seinem höchsten Gipfel!“ 375

Nun ist dies nicht die Stimme Herders, sondern er schildert hier einen Eindruck, den der Bibelleser seit frühestem Jugendalter einatmet und bis ins hohe Erwachsenenalter nicht ablegt, quasi den Zeitgeist der Aufklärung, dem Herder nicht uneingeschränkt positiv gegenüber steht. Eine Auseinandersetzung mit den Deisten und jeglicher Vernunftreligion mag hier auch ein wichtiges Motiv darstellen, scheint jedoch gegenüber der Hinwendung zum ‚Geist des Orients’ nur nachgeordnet. Der Theaterdonner, den Herder hier ertönen lässt, dient in der Partitur seines Stücks jedoch vor allem der Inszenierung seines eigenen Leitmotivs. Nach der Ouvertüre heißt es hierzu: „Also aus den dumpfen Lehrstuben des Abendlandes in die freiere Luft Orients heraus, wo dies Stück gegeben worden, und damit wir nicht aus dem Zusammenhange reimen, und uns an jedem Wort, was wir wollen, träumen: lasset uns die vornehmsten Begriffe, die wir hier antreffen werden, zuerst als Inseln umschiffen, und ihre Bedeutung aus dem Morgenlande sichern.“376

Der Imperativ, der ein Heraustreten aus der Studierstube in die freie Luft des Orients einfordert, weist erstaunliche Parallelen auf zur zitierten Forderung nach einem Wegwerfen des Blatts hin zum sorgfältigen indischen Leseereignis, das wir bei Herders Besprechung der Śakuntalā angetroffen hatten. Doch was genau verbirgt sich hinter der freien Luft des Orients? Wir treffen hier wieder auf eine Figur, wie wir sie bereits versucht haben, aus Herders anderen Schriften exemplifizieren zu können. Was wie ein Abgesang an jeden Eurozentrismus klingt und sich so des Beifalls einiger neuerer interkultureller Darstellungen, wie aufgezeigt, erfreuen kann, weist eine Nähe zum Motiv des ‚Edlen Wilden’ auf. Herder schreibt vom „einfältig, erhabnen Anfange“377, dem „einfältigen, sinnlichen Morgenländer“378, dem „einfältige[n] Naturmensch“379, dem tiefen morgenländischen Gefühl, das den „nordischen Chaosdichter“380 weit hinter sich lässt. Verdichtet schließlich ist diese Rede in der „Fabel jenes Wilden“381, der niedersinkt und betet und so die „Geschichte des Gefühls aller Menschen“382 widergibt, nur dass er dieses stets auf Gott bezieht, ist er doch der „Gottfühlende Morgenländer“383. Um dieses bunte Potpourri

                                                             375 376 377 378 379 380 381 382 383

EBD., 10. EBD., 21. EBD., 21. EBD., 22. EBD., 23. EBD., 24. EBD., 25. EBD., 25. EBD., 25.

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vielfältiger Orientalismen und Essentalismen auf den Punkt zu bringen, soll noch ein weiteres Zitat aus dem Text von Herder angeführt werden: „wie tief, wie fern sind wir kalte, Cimmerische Abend- und Nordländer, alle diese süßen, höchsten, richtigsten und reinsten Bilder der Gottheit von Jugend auf, so zu fühlen, wie sie der ursprüngliche Morgenländer fühlte“384

Es wird also eine klare Distanz geschaffen, zwischen dem ursprünglichen und unverfälschten ‚Morgenländer’ und dem rational abgeklärten ‚Abendländer’, der nicht einmal mehr fähig ist, diese anfängliche Reinheit nachzuempfinden.385 Die fast schon obsessive Bezugnahme auf den Orient und die Akzentuierung der essentiellen Unterschiede zwischen dem Abend- und dem Morgenland lässt eine Deutung, wie sie Christoph Bultmann im Hinblick auf Herders Schrift vorgelegt hat, wonach diese eine Auseinandersetzung mit Humes Religionskritik sei, als arbiträr erscheinen.386 Zwar nimmt Herder immer wieder Bezug auf Hume und nennt diesen und seine „Deisten-Religion“387 auch explizit, doch scheint die eigentliche Schlacht diejenige um die Deutungshoheit des Orients zu sein.388 Es wurde bereits an der Person Michaelis aufgezeigt, wie empfindsam Herder auf dessen Rekonstruktion des Mose reagiert hat und wie er über weite Teile seiner eigenen Schrift ein emphatisches und euphorisches Bild des Orients malt, zu dessen Meister-Erklärer er sich aufschwingt. Und sein Schlüssel zum Verständnis dieser fremden Kultur und von seinen Lesern verschiedenen Denkart ist die Grundidee von den Morgenländern als einem „sinnliche[n] Volk“389. In den Worten seines Dichters Eutyphron, der über die hebräische Sprache sagt: „Alles in ihr ruft: ‚ich lebe, bewege mich, wirke. Mich erschufen Sinne und Leidenschaften, nicht abstrakte Denker und Philosophen: ich bin also für den Dichter, ja ich bin selbst ganz Dichtung.“390

Jan Loop spricht von einer „Mehrfachmarkierung der morgenländischen Texte“, die es Herder ermöglicht habe

                                                             384 EBD., 29. 385 Eine ähnliche Differenz lässt sich auch noch bei Goethe vor allem in der Beschreibung und Reflexion seiner italienischen Reise finden. Siehe hierzu ALBERT MEIER, Wir Cimmerier. Zur Logik einer Kulturdifferenz bei Goethe und einigen Zeitgenossen, in: Ortrud Gutjahr (Hg.), Westöstlicher und nordsüdlicher Divan. Goethe in interkultureller Perspektive, Paderborn u.a. 2000, 127-139. 386 Siehe CHRISTOPH BULTMANN, Urgeschichte, 4. 387 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Aelteste Urkunde, 28. 388 Andererseits lässt sich auch der Deismus aus einer Vielzahl von Informationen über andere Religionen erklären. Siehe CHRISTOPH JAMME, Einführung in die Philosophie des Mythos, 9. 389 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Aelteste Urkunde, 40. 390 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben, und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes. Erster Theil, Deßau 1782, 9.

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Die Erfindung des Alten Testaments „das Kerninventar an ‚orientalistischen’ Stereotypen aus der asianischen Stillehre – sinnliche, leidenschaftliche, mithin figürliche, bildhafte und spruchhafte Ausdrucksweise, Metaphorizität, Personalisierung und Fabelhaftigkeit – nicht nur auf einer synchronen, räumlich-soziokulturellen Ebene zu verorten, sondern gleichzeitig mit einem zeitlichen genetischen Index zu versehen.“391

Die Rede Herders reicht nicht an Vorstellungen heran, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Morgenländern auch in Bezug auf direkte physische Attribute eine grundlegende Differenz unterstellten, ist jedoch in einem ähnlichen Sinn essentialistisch. Dies zeigt sich im Hinblick auf einen Beitrag Meiners für das Göttingische historische Magazin mit dem Titel Natur der morgenländischen Völker (1790). Meiners Begriff des Morgenlandes reicht vom „nordwestlichen Afrika“ bis zum „südlichen Sibirien“ und beinhaltet die Rede von einem einheitlichen Orient.392 Er bezieht sich ausdrücklich auf Niebuhrs Reiseberichte393 und charakterisiert die unterschiedlichen morgenländischen Völker anhand ihrer ‚Gestalt’ und ‚Gemüthsart’394. Die geistigen Unterschiede zwischen den einzelnen Völkern, aber auch der Abstand zu den Europäern, sind in seiner Auffassung dabei deutlich größer als die körperlichen.395 Diesen prägenden Diskurs sollte man sich ins Bewusstsein rufen, wenn nun die biblische Forschung Eichhorns vorgestellt wird, die sich eng an Herder anlehnt. In seinem Nachruf auf Michaelis hatte Johann Gottfried Eichhorn gefordert, dass zukünftige Forschung den Stufengang der Entwicklung der Menschheit mehr berücksichtigen müsse.396 In seiner Rezension des Geist der Ebräischen Poesie von Johann Gottfried Herder hebt er auf genau diesen Punkt ab mit dem Ziel innerhalb der morgenländischen Quellen Reste einer Vorstufe der Entwicklung der Menschheit zu finden.397 Interessanterweise kann er mit diesem Ziel in eine Linie mit Michaelis gestellt werden, bei dem wir einen ähnlichen Ansatz mit abweichender Gewichtung und philologisch anders gelagerten Begründungen gefunden hatten. Zwischen Neuansatz und Kontinuität lässt sich auch seine Urgeschichte. Ein Versuch (1793) verorten. In Bausch und Bogen weist Johann Gottfried Eichhorn bisherige Entwürfe zur Genesis in seiner Einführung zum zweiten Teil der Urgeschichte zurück. Über seine Vorgänger schreibt er: „Ganz fremd in den Sitten, der Sprache und Denkungsart der neuern ungebildeten Nationen wagten sich die meisten Ausleger bisher an die Erklärung der Denkmähler im Mose, die aus einer Zeit herstammen, wo die Menschen ihrer Kultur noch erst entgegen sahen. In dieser so unbekannten Welt staunte man mehr, als man

                                                             391 JAN LOOP, „Von dem Geschmack der morgenländischen Dichtkunst“, 176. 392 Siehe CHRISTOPH MEINERS, Ueber die Natur der morgenländischen Völker, in: Göttingisches historisches Magazin, Band 7 (1790), 385–455, hier: 385f. 393 Siehe EBD., 391. 394 Siehe EBD., 398. 395 Siehe EBD., 401f. 396 Siehe hierzu JAN LOOP, „Von dem Geschmack der morgenländischen Dichtkunst“, 182f. 397 Siehe EBD., 183.

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dachte, und bey dem den Menschen ohnehin so gewöhnlichen Hange zum Wunderbaren verirrte man sich unvermerkt in Labyrinthe, aus denen die Künste keines Theseus wieder zurückführen konnten.“398

Zweierlei ist auffällig: Zum einen der Bezug zu den ungebildeten Nationen seines Zeitalters, der in einer Einleitung zur Genesis auf den ersten Blick stutzen lässt; zum anderen die Metapher mit starken Anleihen aus der griechischen Mythologie. Der Bezug zur antiken Sagenwelt lässt sich leicht durch das Seminar zur Mythologie Heynes erklären auf das bereits verschiedentlich Bezug genommen worden ist. Eichhorn wendet dessen Erkenntnisse über die unterschiedlichen Arten des Mythos hier auf seine exegetischen Studien an und unterscheidet zwischen einem geschichtlichen Mythos, den er bei Mose nicht am Werk sehen will und einem philosophischen Mythos, der hier vorausgesetzt wird. Wagen wir es, uns mit Gabler in das von Eichhorn angespielte Labyrinth zu begeben, so wird der Bezug zu den ungebildeten Nationen noch einmal deutlicher.399 Am Wegesrand begegnet in diesem Labyrinth eine rhetorische Figur, die auch von Michaelis bedient worden ist, nämlich die Abwertung jüdischer Auslegung und Spekulation400, im Zentrum dagegen begegnet einem der Minotaur „in der Lehre von der Erbsünde“401. Spannend wird es nun dort, wo Gabler auf die Lösung dieser theologischen Probleme verweist. Hier heißt es nämlich: „Nur diese glückliche Idee, daß Moses seine Nachrichten aus mehrern, besonders zwey, schriftlichen Urkunden geschöpft habe, verbunden mit der so passenden Vergleichung dieser Urkunden mit den griechischen Mythen, und die so aufklärende Erläuterung derselben aus dem Geiste des Orients, wie wir sie einem Eichhorn, Herder u.a. zu verdanken haben, war der sichere Ariadneische Faden, der uns wieder aus diesem unglücklichen Labyrinthe in die schöne offene Natur herausführte.“402

Wir finden hier nicht nur die Bestätigung der Vermutung über den Zusammenhang von griechischer Mythologie und alttestamentlicher Wissenschaft, sondern gleichzeitig einen Einblick in die Besonderheit Herders und Eichhorns in den Augen ihrer Zeitgenossen. Dass sie nämlich gerade durch die Einbeziehung außereuropäischer Quellen und der Deutung der Urkunde im ‚Geiste des Orients’ ein neues Licht in die Erforschung des Alten Testaments gebracht haben. Bis in die Wahl der Metaphern findet sich dieses Zweigestirn aus einer Anknüpfung an die antike Mythologie und gleichzeitig einem Spiel mit dem

                                                             398 J. G. EICHHORNS Urgeschichte. Ein Versuch, Zweyter Theil. 2. B. Mose II,4.–III, 24, hg. von Johann Philipp Gabler, Altdorf und Nürnberg 1793, 6f. 399 Johann Philipp Gabler ist nicht nur der Herausgeber der Urgeschichte Eichhorns, sondern interpretiert seine Aufgabe in der Art und Weise, dass er eine umfangreiche Kommentierung mitliefert, neben einem gewaltigen Vorwort, die oft das von Eichhorn Geschriebene um ein Vielfaches überschreitet. 400 Siehe EBD., 7. 401 EBD., 7. 402 EBD., 8f.

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als neu empfundenen Orient und damit einhergehend, das klang bereits bei Herder an, eine Rückkehr zu Natürlichkeit und Ursprung. Bereits bei Martin Buber waren wir darauf gestoßen, dass dieser von „dem Asiaten“ spricht, wenn er auf den Orient „an sich“ rekurriert.403 Während für Michaelis die Israeliten mit den heutigen Morgenländern zu vergleichen waren, so sind auch für Gabler die „Asiaten“ immer wieder Bezugspunkt seines Denkens. So wenn er etwa den Baum und die Schlange in der Paradiesgeschichte als Produkt der asiatischen Phantasie kennzeichnet.404 Die Klischees bleiben sich dabei jedoch gleich, ob es nun um den Morgenländer oder den Asiaten geht, wie sich an einem kleinen Beispiel zeigen lässt. In Bezug auf einige Ausschmückungselemente innerhalb der Urgeschichte schreibt Gabler über die Differenz zwischen dem asiatischen und dem griechischen Stil: „Der an Kunst gewöhnte Grieche leitete den Ursprung des Bösen in dem Mythos von Prometheus, Epimetheus und der Pandora von der Erfindung der Künste her [...] und die Geschichte des griechischen Luxus unterstützte die Vermuthung: konnte nicht der an Genuß gewöhnte Asiate das Uebel vom Genuß einer verbotenen Frucht entstehen lassen...“405

Für Johann Gottfried Eichhorn fungiert Asien als das „fremde Asien“406, das nun gleichermaßen „morgenländischen Geist“407 atmet. Die hebräische Literatur wird von Eichhorn vor diesem Hintergrund in eine großangelegte Teleologie der Geistesgeschichte eingeschrieben: „Ueberdies sind die hebräischen Geschichtsbücher und Poesien, als uralte Geisteswerke aus Asien, die schätzbarsten Urkunden für die Geschichte der menschlichen Entwickelung, weil der Tradition und anderen Gründen zu Folge, das Menschengeschlecht auf dem Boden von Asien entstanden ist, und auf demselben langsam sich emporgearbeitet hat.“408

Die Frage nach dem Ursprung und der Herkunft des Menschengeschlechts ist nicht nur eine poetische Fragestellung, sondern zu Eichhorns Zeiten eine heiß diskutierte Kontroverse.409 Mit seinem Bekenntnis zu Asien als der Wiege der Menschheit schlägt sich Eichhorn zu den Anhängern Johann Gottfried Herders, der gegenüber Stimmen, die für einen mehrfachen Ursprung der Menschheit in der Diskussion um die amerikanischen Ureinwohner plädieren, auf die asiatische Herkunft der amerikanischen Urvölker abhebt.410 Als Argumente

                                                             403 404 405 406 407 408 409 410

Siehe etwa MARTIN BUBER, Geist des Orients, 201. JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Urgeschichte (2), 627. EBD., 628. JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Einleitung in das Alte Testament. Erster Band, Leipzig 31803, 13. EBD., 14. EBD., 15. Für die Frage nach den Gattungskriterien und der Diskussion um den Ursprung der Sprache und eine besondere Affinität der Hebräer zur Poesie sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen. Siehe ANNE LÖCHTE, Johann Gottfried Herder, 114.

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für seine Position nennt Herder dabei Argumente, die sich wieder sehr gut in den Kontext der bisherigen Gemengelage einfügen: Die Amerikaner verfügten über einen simplen und ursprünglichen Charakter, seien gutherzig und von kindlicher Naivität. 411 Für Herder untrügliche Merkmale des asiatischen Ursprungs dieser Menschenvölker. Die Gleichsetzung von Asien, dem Morgenland und den Hebräern geschieht mit den Mitteln der Philologie und Johann Gottfried Herder kann als wichtiger Zeuge hierfür benannt werden. Denn in seinem Geist der Ebräischen Poesie sieht er das Hebräische nicht als die Ursprungssprache schlechthin an, sondern als eine archaische Sprache und siedelt sie im „niedere[n] Asien“ an.412 Die Hebräer werden mit den anderen Völkern verglichen und in der Mitte des antiken Morgenlandes verortet, so dass es Herder möglich ist, ‚hebräisch’ und ‚orientalisch’ synonym zu verwenden.413 Für die Entzifferung der Denkart der Hebräer spielt dabei die Genesis eine entscheidende Rolle: „Der Gedanke der vormosaischen Fragmente, Gedichte, Urkunden in den Anfangskapiteln der Genesis ist die Voraussetzung für die Beschreibung ihres nach Nation und Epoche ‚orientalischen’ oder ‚morgenländischen’ Charakters, der ‚gewisse(n) durchaus reine(n) Orientalische(n) Denkart’ in ihnen.“414

Deshalb soll nun im Folgenden die Anwendung des Theorems vom Kindheitsalter der Welt auf die Genesis dargestellt werden.

5.3.3 Johann Gottfried Eichhorns Urgeschichte: Die Genesis als Urkunde des Kindheitsalters der Menschheit Die zweite Urgeschichte der Genesis ab Gen 2,4 wird von Eichhorn nicht mehr als ein künstlich und mit gutem Plan angelegtes Gebilde gesehen, sondern hier nehme die Erzählung einen „kunstlosen Gang an; die einzelnen Thatsäze haben nicht die Stellung, welche ihnen ein geübter, mit Methode erzählender Geschichtsschreiber würde gegeben haben“415.

                                                             411 412 413 414

Vergleiche EBD., 114. Siehe ANDREA POLASCHEGG, Verbalwurzel, 204f. Siehe EBD., 205. CHRISTOPH BULTMANN, Herder als Schüler des Philologen Michaelis. Zur Rigaer Erstfassung der „Archäologie“, in: Brigitte Poschmann (Hg.) Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988. Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, Rinteln 1989, 64–80, hier: 68. Bultmann zitiert hier einen unveröffentlichten Herdertext. Vergleiche BODO SEIDEL, Karl David Ilgen, 120. 415 JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Urgeschichte (2,2), 15f.

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Zwar nimmt Eichhorn die Quellenscheidung dann anhand der beobachteten Wechsel im Gottesnamen vor, doch bleibt ihm noch reichlich Gelegenheit, auf den „Geist des ungebildeten Zeitalters“ und dessen „sinnliche[n] Vorstellungen“ abzuheben.416 Geschildert werde in diesem Kapitel denn auch die „Entstehung der sensuellen Welt“417 und zwar gleiche die Sprache einer „Mahlerey“, was Eichhorn jedoch nicht weiter verwundert, ihm vielmehr Grund zu dem Rückschluss gibt, dass dieses Kapitel „aus dem grauesten Alterthum herstamme. Es muß zu einer Zeit verfaßt seyn, wo es noch der Sprache des Urhebers an allumfassenden Ausdrücken mangelte, wo man also Theile nennen mußte, um Begriffe vom Ganzen zu geben; mit einem Wort, in der Kindheit der Welt, wo dem Menschen noch der umfassende Blick mangelte.“418

Der unerfahrene Dichter erzähle frei von jeglichem Kunstverständnis, weshalb aus ihm auch die „einfältige, kunstlose Natur“ spreche.419 Ein solches Verständnis von Sinnlichkeit und Unmittelbarkeit kann an die Ausführungen Herders zur Poesie der rohen Völker anschließen. In seinem Von deutscher Art und Kunst (1773) hatte Herder emphatisch festgehalten: „Alle Gesänge solcher wilden Völker weben um daseyende Gegenstände, Handlungen, Begebenheiten, um eine lebendige Welt! Wie reich und vielfach sind da nun Umstände, gegenwärtige Züge, Theilvorfälle! Und alle hat das Auge gesehen! Die Seele stellet sie sich vor! (...) Es ist kein anderer Zusammenhang unter den Theilen des Gesanges, als unter den Bäumen und Gebüschen im Walde, unter den Felsen und Grotten in der Einöde, als unter den Scenen der Begebenheit selbst.“420

Aber nicht nur das Unmittelbare und Sinnliche verbindet Herder mit den ‚wilden Völkern’ auch die Art und Weise, mit Worten zu malen, statt zu reden, verbindet er mit einer Szene der Ursprünglichkeit, wie etwa „Wenn der Grönländer von seinem Seehundfang erzählt“421. Diese Vorstellung steht bei Herder exemplarisch für eine bestimmte Art der sinnlichen Darstellung. In der Erläuterung zu den Einzelversen wird diese Art der Erzähltechnik von Eichhorn exemplarisch vorgeführt. Johann Philipp Gabler nutzt die Erläuterung zu ‫ אדם‬für einen längeren Exkurs zur Verschiedenheit der Menschen. Dabei berührt er auch Blumenbachs Handbuch der Naturgeschichte (1782) und Meiners Grundriß der Geschichte der Menschheit (1785), in denen erste

                                                             416 417 418 419 420

Siehe EBD., 18. EBD., 23. EBD., 24. Siehe EBD., 32. JOHANN GOTTFRIED HERDER, Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker, 59f. 421 EBD., 60.

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Anfänge einer Rassenlehre in Form von Spekulationen über die Verschiedenheit der Menschen auftauchen.422 Mit Herder wehrt sich Gabler gegen mehrere Stammväter der Menschheit und führt die nicht zu leugnenden Unterschiede auf Variationen innerhalb des Klimas, der Kunst und der Sitten zurück – nicht ohne auf den Dissens über die Meinung Meiners selbst innerhalb der Naturgeschichte noch einmal hinzuweisen.423 In dieser strittigen und vielfach diskutierten Frage stehen Herder und Kant im selben Lager der Gegner der Voltaire’schen Annahme von zwei autochthonen Menschenrassen, die nicht nur in Göttingen wie beschrieben versucht wurde wissenschaftlich zu untermauern, sondern auch in Kassel von Soemmering vertreten wurde.424 Diesen zieht Georg Forster als eine Art Kronzeugen herbei, um die Schrift Kants in seiner eigenen Noch etwas über die Menschenraßen (1786) widerlegen zu können, was ihm jedoch misslingt.425 Dieser Dichter wird nun in Gablers Text genauer befragt und „freyes Spiel einer schönen morgenländischen Dichtung“ mit dem „Glaube eines Naturweisen aus jenem Kinderalter des Menschengeschlechts“ kontrastiert.426 Ein deutliches Entwicklungsmodell begegnet bei Eichhorn wenn er davon spricht, dass sich „unsere Begriffe“ von Gott durch wiederholte Offenbarungen gegenüber dem Altertum deutlich erweitert hätten.427 Dies erklärt auch, warum es für die „kindische Vernunft noch zu früh [sei], allgemeine Sätze daraus abzuziehen.“428 Wo eine Stufenfolge der Entwicklung nur angedeutet scheint, gibt es jedoch auch ganz explizite Nennungen: „Dies lehrt die ganze Analogie der Schöpfung, dies bezeugen die Annalen des menschlichen Verstandes. Ueberall erst Wiege und Kindheit, dann in Knospe übergehendes Jugendalter, dann Blüthe der Jünglingsjahre, hierauf Reife des Mannes, und zuletzt sterbender Greis. Sollte diese Stufenfolge nicht mit der Welt ihren Anfang genommen haben, da wir sie auf der Welt bey allen Völkern und zu allen Zeiten in einer ununterbrochenen Fortsetzung bemerken?“429

                                                             422 Siehe JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Urgeschichte (2,2), 38–50. Für eine umfangreiche Darstellung Blumenbachs und der entsprechenden Diskurse siehe HAN F. VERMEULEN, Before Boas. The Genesis of Ethnography and Ethnology in the German Enlightenment, Lincoln/ London 2015, 366ff. Interessanterweise gelang es Blumenbach durch die dynastischen Verbindungen Göttingens zum englischen Thron für die anthropologische Sammlung Mitbringsel aus Polynesien von Cooks zweiter Forschungsreise zu erwerben. Siehe STEFAN GOLDMANN, Die Südsee als Spiegel Europas, 211. 423 Siehe JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Urgeschichte (2,2), 49f. 424 Siehe WOLFDIETRICH SCHMIED-KOWARZIK, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts, 121. 425 Siehe EBD., 122f. 426 Siehe JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Urgeschichte (2,2), 52. 427 Siehe EBD., 56. 428 EBD., 57. 429 EBD., 61f.

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Johann Philipp Gabler spricht analog von „Kinderseelen in erwachsenen Körpern“430 und einer Denkart, die der kindischen Natur der Urmenschheit angemessen sei. Sie werden von Naturerscheinungen „frappiert“ und geraten deswegen auf schiefe Gedankenbahnen, die der kundige Exeget zu Gablers Zeiten jedoch angemessen zu deuten und zu entschlüsseln weiß.431 Eine vergleichbare Schlüsselrolle, wie sie hier für den Exegeten skizziert worden ist, kommt bei Johann Gottfried Eichhorn auch noch einmal der Figur Moses zu. In seiner Einleitung in das Alte Testament (1797) greift Eichhorn sowohl die Metapher vom „Stufengang“ der Entwicklung (hier: politische und geistige Bildung), als auch die Mittlerrolle Mose in Verbindung mit ägyptischer Weisheit auf.432 Die besondere Rolle Moses, die bereits ausführlich bei Michaelis dargestellt worden ist, liest sich verknüpft mit dem „Kindheitsalter der Menschheit“ wie folgt: „Aus ihrer ersten Kindheit wollte Mose seine Nation durch politische und religiöse Bildung heben; und immer blieb sie auch an Geist und Litteratur in dem Jugendalter, wozu er ihr hinaufgeholfen hatte. Zur Erhaltung aller höhern Kenntnisse bestimmte er den Priesterorden; und sie blieben auch das Eigenthum desselben, und Cultur und Aufklärung waren bis an das Ende des Hebräischen Staats nie sehr ausgebreitet und allgemein. Wie alle Nationen auf den untern Stufen der Bildung, sangen und dichteten die Hebräer bloß; ihre Sprache blieb bis an das Ende ihres Staats immer, wie sie sich der Dichter wünscht, bilderreich und unbestimmt...“433

Dass Eichhorn hier den Boden einer philologischen Beschreibung verlässt und in Kategorien spricht, die wir als anthropologisch oder ethnologisch beschreiben würden, macht auch der Vergleich mit einem weiteren Zitat deutlich, indem über den Verfall der mosaischen Blüte lamentiert wird und es schließlich heißt: „...ihre Philosophie bestund, wie bey Kindern und Kindernationen, in bloßen Erfahrungssätzen und Räthseln.“434

Den Machtverhältnissen, die für diese ‚Kindernationen’ gelten und diejenigen, die sich ihrer Bildung annehmen, widmet Eichhorn einen längeren Gedankengang zum Thema der ägyptischen Priesterorden als Vorbild für die Vorrangstellung der Priester innerhalb der Israeliten. Es sei geradezu nötig gewesen und ein natürliches Prinzip, dass sich bei einem überschaubaren Wissensschatz und einem begrenzten Repertoire an Menschen, die für die Beschäftigung mit den schönen Künsten freigestellt werden können, eine kleine Elite herausbilde. Dies begründet Eichhorn mit dem lapidaren Satz:

                                                             430 431 432 433 434

JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Urgeschichte (2,1), 617. Siehe EBD., 619. Siehe JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Einleitung in das Alte Testament, 4. EBD., 6. EBD., 6.

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„In ihrer Kindheit hatten alle Nationen der alten und neuen Welt einen Vormund nöthig...“435

Spannend ist jedoch nun, dass Eichhorn der Frage nach der Abspaltung der Hebräer nachgeht und in bereits geschilderter Manier stets die Beispiele von ungebildeten Nationen seiner Zeit mit berücksichtigt, um Analogieschlüsse vorzunehmen. Die lange Separierung, die er in den mosaischen Gesetzen zur Ehe und der Nichtvermischung mit den Völkern nachzeichnet, wertet er als Zeichen einer kulturellen Stagnation und deutet diese in leicht psychologisierender Weise: „dagegen bemächtigte sich ihrer, wie aller verschlossenen Nationen alter und neuer Zeiten, ein gewisser Stolz, der ihr Land und ihre Nation für die erste und wichtigste der Erde ansah, und sich mit einer kleinlichten Verachtung alles Ausländischen endigte.“436

Diese Anspielung kann, wenn man das vorhergehende Kapitel zur besonderen Bedeutung Asiens als Bezugspunkt für Eichhorn mitbedenkt, als Hinweis auf die Landesabschließung (sakoku) Japans ab 1638 und damit verbundene Überlegenheitsgefühle gedeutet werden.437 Während Asien um das Jahr 1700 noch eine Vorrangstellung inne zu haben schien, so hatte es diese in den Augen der europäischen Zeitgenossen um das Jahr 1800 ganz eindeutig verloren und wurde vielfach als einer europäischen Modernisierung bedürftig hingestellt.438 Dass die Abschließung nicht nur Japans, sondern auch Chinas, auf das sich wohl die Spitze im zweiten Teil des Zitats bezieht, auch als intellektuelles Ereignis kontrovers diskutiert wurde, lässt sich an zahlreichen Zeitgenossen Eichhorns belegen.439 Dabei stand das chinesische Reich am Ende des 18. Jahrhunderts militärisch und ökonomisch im Zenit seiner Macht und genoss eine wirtschaftliche Gunstzeit, sowie materiellen Wohlstand.440

                                                             435 EBD., 8. 436 EBD., 10. 437 Siehe zur Frage nach Epochengrenzen und der Landesabschließung in ihrer Auswirkung auf transnationale Austauschprozesse JÜRGEN OSTERHAMMEL, Entzauberung, 33. 438 Siehe dazu EBD., 51ff. 439 In seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) äußert sich Immanuel Kant verständnisvoll gegenüber Japan und China und deren Abschottungspolitik und entwickelte das berühmte ‚Weltbürgerrecht’ in durchaus normativer Absicht, während sich August Schlözer in seiner WeltGeschichte (1785–89) auf eine beschreibende Darstellung des Beziehungsgeflechts der Nationen untereinander beschränkte. Siehe JÜRGEN OSTERHAMMEL, Entzauberung, 61. 440 Siehe hierzu ANGELA SCHOTTENHAMMER, Blütezeit eines Reichs, in: Bernd Hausberger / Jean-Paul Lehners (Hg.), Die Welt im 18. Jahrhundert, Wien 2011, 327–353. Dies und die Unkenntnis über die tatsächliche Bedrohungslage durch die Briten führten wohl zu der herablassenden Antwort des Kaisers Qianlong an den englischen König George III. im Jahr 1793, die als Ausdruck chinesischen Stolzes und übertriebener Arroganz im Westen aufgefasst wurde. Hatte doch der Kaiser sich zwar wohlgefällig über die technischen Errungenschaften geäußert, sonst aber den Stil der Briten als nicht offiziabel empfunden und ihrem König nahe gelegt, ihm Gehorsam zu leisten und nicht

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Ausdrücklich bezieht sich Eichhorn in einer Fußnote, inzwischen ist seine Einleitung bis zur Aufbewahrung der Schriften im Tempel vorgerückt, auf die Chinesen, um die Kanonisierung der hebräischen Bibel zu erklären: So sind bey den Sinesen die Ring heilige oder (nach dem Ausdruck der Jesuiten) kanonische Bücher, nichts weiter als alte National-Urkunden; und wenn ihre Verehrung derselben bis zur Heiligung geht, so folgen sie darin dem Hang mehrerer Nationen, welche alte National-Ueberlieferungen zu göttlichen Offenbahrungen machen – wobey sie einer alten Vorstellung aus der Kindheit der Nation aus Misverstand eine alles verschiebende Wendung geben.“441

Nicht nur der bloße Vergleich der Hebräer im 6. Jahrhundert vor Christus mit den Chinesen und der Darstellung ihrer Position durch die Jesuiten wohl aus dem 16. Jahrhundert wirkt anachronistisch, auch ergibt sich durch die vorgenommene Verschränkung das Bild, dass sich die Chinesen nicht über das Kindheitsalter der Völker erhoben hätten. Mag die Darstellung teilweise den Eindruck erwecken, Eichhorn ginge es um eine pejorative Darstellung Israels und seine Rede von dem ‚Kindheitsalter der Völker’ verdanke sich der Absicht, sich über dessen Niedergang zu belustigen, so ist das Gegenteil der Fall. Eichhorn argumentiert gerade gegen jegliche Spötter, die sich im Licht eines scheinbar aufgeklärten Zeitalters über die einfache Weltsicht der Israeliten erheben möchten. Diesen schreibt er ins Stammbuch, dass eine solche Haltung undankbar und ungerecht sei, da man nicht „von der ersten schwachen Morgendämmerung schon das volle Licht des hohen Mittags fordern könnte.“442 Gerade die Sprache sei es, in der sich die Spuren der Kindheitszeit noch lange konservierten und damit auch Vorstellungen des Polytheismus, die bei Eichhorn mit der Anfangszeit genauso verschmolzen sind, wie eine Vorliebe für symbolische Sprachformen.443 Abschließend ist im Hinblick auf die Rezeption der Eichhornschen Thesen interessant, dass sein Kritiker Johann Wilhelm Friederich Hezel zwar die Quellenscheidung Eichhorns ablehnt, an der Charakterisierung Israels als einer „ganz sinnlichen, ungebildeten Nation“444 jedoch festhält.445 Gemeinsam ist beiden auch der Bezug auf die geteilten Traditionswurzeln Ägyptens und Israels, die ich am Beispiel der Schöpfungshieroglyphe bei Johann Gottfried Herder noch deutlicher herausarbeiten möchte.

                                                             441 442 443 444 445

weiter zu behelligen. Siehe EBD., 329; sowie PANKAJ MISHRA, Aus den Ruinen des Empires, 36. J.G. EICHHORN, Einleitung in das Alte Testament, 30f. EBD., 13. Siehe EBD., 49f. JOHANN WILHELM FRIEDERICH HEZEL, Über die Quellen der Mosaischen Urgeschichte, Lemgo 1780, 55. Vergleiche BODO SEIDEL, Karl David Ilgen, 122. Siehe BODO SEIDEL, Karl David Ilgen, 122.

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5.3.4 Die Schöpfungshieroglyphe Johann Gottfried Herders Im ausgehenden 18. Jahrhundert beschäftigte sich eine Vielzahl an Exegeten446 mit der religionshistorischen Frage, ob die Urgeschichte die Übertragung eines ägyptischen „hieroglyphischen Gemäldes“447 sei. Seit William Warburtons Divine Legation of Mose (1737–1741) lässt sich nicht nur im englischsprachigen Raum eine heftige Debatte um das Verhältnis von Zeichen und Bild beobachten, die sich an der Stellung und Bedeutung der Hieroglyphe entzündete und beschreiben lässt.448 In seinem mehrbändigen Werk wehrt sich Warburton gegen die vor allem von den englischen Deisten vorgebrachte Meinung, die Hieroglyphe sei eine Geheimschrift und wertet sie stattdessen als Ausdruck einer primitiven Form der Schrift, die am Umschlag vom Bild zum Wort zu verorten sei.449 Diese Neuinterpretation hatte auch Folgen für die Bewertung des Hebräischen, das mit seinen Pleonasmen als poetisch abgeschmackt galt und nun von Warburton durch die Neubewertung als elementare sprachliche Artikulation zum Tragen kam450 und von Lowth und stärker noch Herder als Urpoesie gerühmt werden konnte. Warburtons Schrift wurde vielfach rezipiert, in Frankreich vor allem im Umkreis der Encyclopédie Diderots, in Deutschland unter anderem von Lessing, Schelling, Hamann und Mendelssohn.451 Warburton vergleicht die ägyptische Hieroglyphenschrift mit anderen frühgeschichtlichen Hochkulturen wie der mexikanischen oder der chinesischen Schrift, die ihm ebenfalls als „Malereischrift“ galten.452 Im deutschsprachigen Raum lassen sich zudem Bezüge zu Niebuhrs Reisebericht herstellen.

                                                             446 Für eine Auflistung der verschiedenen Stellungnahmen zu diesem Themenkomplex siehe BODO SEIDEL, Karl David Ilgen, 126. 447 JOHANN GEORG ROSENMÜLLER, Erklärung der Geschichte vom Sündenfall, in: RBML 5 (5,1779), 158–185, hier: 184. 448 Siehe DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 40ff. Zur Bedeutung der Hieroglyphe und ihrer spannungsvollen Geschichte als Teil der europäischen Geistesgeschichte siehe ALEIDA UND JAN ASSMANN, Hieroglyphen: altägyptische Ursprünge abendländischer Grammatologie, in: Dies. (Hg.), Hieroglyphen. Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie, München 2003, 9–25. 449 Siehe DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 43. 450 Warburton spricht von der Beschränktheit einer einfachen Sprache und charakterisiert das Hebräische als die simpelste der östlichen Sprachen. Siehe WILLIAM WARBURTON, The Divine Legation of Moses. Works in Seven Volumes, Band 2, London 1788–1794, 414. 451 Siehe ANNETTE GRACZYK, Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert. Theorien zwischen Aufklärung und Esoterik, Berlin u.a. 2015, 45. Eine deutsche Übersetzung des Hieroglyphenkapitels von Warburton erfolgte als JOHANN CHRISTIAN SCHMIDT, William Warburtons göttliche Sendung Mosis. Aus den Grundsätzen der Deisten bewiesen. In die Sprache der Deutschen übersetzt und mit verschiedenen Anmerkungen versehen, von Johann Christian Schmidt, 3 Bde, Frankfurt und Leipzig, 1751–1753. 452 Siehe ANNETTE GRACZYK, Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert, 49.

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Johann Georg Rosenmüller stolpert über die biblische Darstellung des Cherub und entwickelt daran die These eines hieroglyphischen Gemäldes: „Denn wenn man die Beschreibung des Cherub mit andern ähnlichen Beschreibungen, die in dieser Erzählung vorkommen, zusammen hält, so wird man beynahe genöthiget zu glauben, daß diese Ausdrücke und Redensarten aus dem hieroglyphischen Gemälde getreu übertragen worden, aber eben deswegen, weil sie zu bildlich sind, eine gewisse Dunkelheit bey sich führen, die nur dadurch zerstreuet werden kann, wenn man sich vorstellet, was für Bilder etwa in dem Gemählde mögen gestanden haben. Die Betrachtung der Hieroglyphen in Niebuhrs bekannten Werk hat mich zuerst auf diesen Gedanken gebracht; und je öfter ich unsere Erzählung nach dieser Hypothese prüfe, desto mehr werde ich darinnen bestärkt.“453

Herders Schöpfungshieroglyphe nimmt auch deshalb eine Sonderstellung innerhalb der zeitgenössischen Diskussionen ein, da sie Herder dazu dient, den Gegensatz zwischen Israel und Ägypten, sowie Schrift und Sprache, Kultur und Natur, aufzulösen und in einer Figur zu verschmelzen.454 Für Herder bildet die ursprüngliche Mündlichkeit eine Brücke zu einem ‚Denken in Bildern’, das er mit dem im 18. Jahrhundert populären Begriff der Hieroglyphe umschreibt.455 Insbesondere die Genesis und ihren Schöpfungsbericht analysiert er als eine Hieroglyphe und schreibt dazu: „das Denkbild war gleichsam die ganze Charakteristische, historische, Philosophische und Poetische Sprache der Schöpfung! Unterpfand des Unvergeßlichen Worts Gottes!“456

Herder greift dabei auf die erwähnten Gedanken von Warburton zurück, aber auch auf Vorarbeiten, die Johann David Michaelis in seinem Entwurf der typischen Gottesgelartheit (1753) geleistet hat. Darin nennt Michaelis als die typischen Eigenschaften der Hieroglyphe: „Die Bilder vergnügen uns nicht dadurch, daß sie an und vor sich selbst schön sind, sondern, daß wir sie für glückliche Nachahmungen, und gleichsam für etwas neues und schöpferisches erkennen (...)“457

Diesen Gedanken der „Fruchtbarkeit“ der Hieroglyphe, die aus sich selbst heraus etwas Neues evoziert, verwendete auch Siegmund Jakob Baumgarten in

                                                             453 JOHANN GEORG ROSENMÜLLER, Erklärung der Geschichte vom Sündenfall, 161. 454 Siehe DANIEL WEIDNER, Hieroglyphen und heilige Buchstaben, 47. 455 Siehe hierzu CHRISTIANE FREY, Gramma, Hieroglyphe und jüdisch-hebräische Kultur, 162. 456 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts, 121. Vergleiche ANNETTE GRACZYK, Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert, 75. 457 JOHANN DAVID MICHAELIS, Entwurf der typischen Gottesgelartheit, Göttingen 21763, 26. Vergleiche DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 52.

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seiner Biblischen Hermeneutic (1769).458 Herder entwickelt hiervon ausgehend in seiner Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774–1776) die Hieroglyphe als eine Art Leitbegriff, um die Vergangenheit zum Sprechen zu bringen und der Frühgeschichte ein Archiv an „Urkunden“, „Resten“ und „Trümmern“ abzugewinnen.459 Frühere Überlegungen Herders zur Hieroglyphe kulminieren dann in seinen Thesen zur Schöpfungshieroglyphe, die er im Sieben-Tage-Werk der Schöpfung zu erkennen glaubt.460 Die Schöpfungshieroglyphe im Genesis-Bericht deutet Herder als eine Art göttliche Unterweisung für die Hebräer, aber auch die nachfolgenden Generationen. Die besondere Bedeutung der Schöpfungshieroglyphe wird darin ersichtlich, dass er sie als „ein ganzes Samenkorn der Menschenweisheit“461 bezeichnet. Durch eine vergleichende Mythologie nicht nur der Hebräer, sondern weiterer Völker und ihrer Kosmogonien des vorderen Orients bis hin nach Griechenland funktionalisiert Herder die Hieroglyphe zu einem Schlüssel des Verständnisses jener Religionen.462 Dabei ist der Gegenstand des Vergleichs weniger der Inhalt der verschiedenen Traditionen, als vielmehr eine formale und strukturelle Analogie im Zeichen der Hieroglyphe.463 In Erweiterung von Lowths Entdeckung des Parallelismus membrorum schlussfolgert Herder zur Parallelität „alle[r] orientalisch[n] Dichtkunst“, bzw. spricht für „alle alten einfältigen Poesien wilder Völker“: „Alles hinkt auf zwo Seiten oder, wenn man will, geht zweifüssig erhaben daher.“464

In seinem Buch Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) überträgt Herder sein Modell der Schöpfungshieroglyphe auf den Bereich der Geschichte.465 Selbst die Physiognomik mit der sich Herder zeitweise beschäftigte, dient ihm als Spielfeld seiner Schöpfungshieroglyphe, wie sich an einem Brief an Lavater vom 25. Mai 1774 darstellen lässt: Darin überlegt Herder, ob nicht die Teile des menschlichen Körpers, vor allem aber das Gesicht, auch nach dem Muster der Schöpfungshieroglyphe angeordnet werden könnten.466 Der Mensch als Ebenbild Gottes und die Krone der

                                                             458 Für die Schriftsteller und Künstler der Romantik und Moderne wurde diese Eigenschaft der Hieroglyphe als Figur der Selbstreferenz zu einem entscheidenden Charakteristikum. Siehe ALEIDA UND JAN ASSMANN, Hieroglyphe, 15. 459 Siehe ANNETTE GRACZYK, Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert, 71. 460 Vergleiche ANNETTE GRACZYK, Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert, 74f.; DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 50–61. 461 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts, 117. 462 Siehe ANNETTE GRACZYK, Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert, 76. 463 Siehe DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 54. 464 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Fragmente zu einer Archäologie des Morgenlandes, 40. Vergleiche DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 56. 465 Siehe ULRICH PFAFF, Hieroglyphische Historie, in: Euphorion 77 (1983), 407–418, hier: 416. 466 Siehe ANNETTE GRACZYK, Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert, 112.

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Schöpfung ist selbst eine Hieroglyphe.467 Das Gemeinsame der Physiognomik und des Hieroglyphendiskurses war im 18. Jahrhundert der Bedeutungskern der Natürlichkeit. Wie die Hieroglyphe vor allem von Herder als die Ausdrucksform der natürlichen und unverfälschten Völker gedeutet wurde, so galten auch die Physiognomik und die Gestik der Körpersprachlichkeit als transparent und damit Ausdruck natürlicher Sprachlichkeit.468 Zum Abschluss sollen die Ergebnisse der Darstellung der Schöpfungshieroglyphe bei Herder noch einmal gebündelt werden und der Ertrag des gesamten Kapitels veranschaulicht werden. (1) An der Diskussion über die Schöpfungshieroglyphe lässt sich die zentrale Stellung der Diskurse über fremde Weltgegenden gut illustrieren. Das Denkbild der Hieroglyphe gewann Herder auch in Auseinandersetzung mit Joseph de Guignes Kommentierung der Übersetzung des chinesischen I-Ging (1770) durch Antoine Gaubil.469 De Guignes These von Ägypten als chinesischer Kolonie und seiner Ableitung der ägyptischen Schrift aus dem Chinesischen, teilt Herder nicht komplett, er bedient sich deren jedoch als Hilfsmittel zur Annäherung an die Hieroglyphe.470 So verblüfft es nicht, dass Herder auch bei den anderen Völkern, die er untersucht, Einflüsse seiner Schöpfungshieroglyphe entdeckt, etwa die Hermesleier in Ägypten.471 (2) Mit seiner Bezeichnung von Gen 1 als Hieroglyphe unterstreicht Herder den Gedanken der Echtheit und setzt die biblische Erzählung in den Rang einer Urkunde, eines materiellen Erbes der Vergangenheit und nicht bloß eines mythischen Stoffs oder einer Erzählung.472 Gleichzeitig lässt sich diese Verschiebung als Teil einer generellen Verfremdung deuten, bei der der Orient in die Ferne rückte und nunmehr nur über hermeneutische Wege und in Form von Denkmälern der Vergangenheit zugänglich schien.473 Herder radikalisiert mit seiner Schöpfungshieroglyphe auch die Vorstellung einer kulturspezifischen Semiotik, indem er den Orient zur ursprünglichen (sprachlichen) Heimat aller Menschen macht.474 (3) Die Hieroglyphe eignet sich besonders gut als Paradigma, um die spezifischen Diskurse der Natürlichkeit und des Ursprungs, wie sie in diesem Ka-

                                                             467 Vergleiche DANIEL WEIDNER, Hieroglyphen und heilige Buchstaben, 54. 468 Siehe ALEIDA UND JAN ASSMANN, Hieroglyphe, 18. 469 Zur wechselvollen Geschichte der chinesischen Schrift im Abendland und ihrer unterschiedlichen Deutungen, siehe MICHAEL FRIEDRICH, Chiffren oder Hieroglyphen? Die chinesische Schrift im Abendland, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.), Hieroglyphen. Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie, München 2003, 89-116. 470 Siehe ANNETTE GRACZYK, Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert, 79. Für das Yijing vergleiche CLAUDIA VON COLLANI, Von Jesuiten, Kaisern und Kanonen. Europa und China- eine wechselvolle Geschichte, Darmstadt 2012, 151–152. 471 Siehe ANNETTE GRACZYK, Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert, 89–94. 472 Siehe DANIEL WEIDNER, Bibel und Literatur um 1800, 58. 473 Siehe ANDREA POLASCHEGG, Die Verbalwurzeln der Hieroglyphe, 217. 474 Siehe DANIEL WEIDNER, Hieroglyphen und heilige Buchstaben, 53.

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pitel beispielhaft vorgeführt worden sind, zu bündeln, da sich in ihr verschiedene Bedeutungskerne vorfinden lassen. Aleida und Jan Assmann sprechen von den fünf Teildiskursen der Heiligkeit, Natürlichkeit, Geheimnis, Intermedialität und Universalität.475 Für Johann Gottfried Herder lassen sich vier dieser Bedeutungskerne beobachten. Der Aspekt des Geheimnisses spielt bei ihm keine besondere Rolle, da er die Hieroglyphen nicht als Geheimschrift der Priester, sondern als „Ursprache der Menschheit“ interpretiert.476 Die weiteren Bedeutungskerne wurden jedoch als zentral für die Rede vom Kindheitsalter der Menschheit ausgemacht. (4) Als Letztes möchte ich noch auf einen Aspekt hinweisen, der bisher wenig in den Blick gekommen ist, aber für einen heutigen Zugang zur Frage der Schöpfungshieroglyphe, aber auch des Kindheitsalters der Welt und dessen alttestamentlichen Implikationen von einiger Brisanz ist: Inwiefern dieses Verständnis der Hieroglyphe Wege der Forschung und Neuentdeckungen auch erschwerte, lässt sich nämlich an der Reaktion Friedrich Schlegels auf die Entzifferung der Hieroglyphenschrift durch Champollion erkennen. In einem Brief an seinen Bruder August Wilhelm heißt es: „Das Hieroglyphensystem des Champollion [...] hat mich sehr angezogen und beschäftigt mich die Zeit her. Die andere Seite der Sprache, ich meyne die eigentümlich symbolischen Darstellungen auf den ägyptischen Denkmahlen, scheint er freylich weniger zu verstehen und keinen rechten Sinn dafür zu haben. Indessen wird auch diese dadurch gewinnen, wenn nur erst, was wirkliche Schrift ist und alle Buchstabenhieroglyphen ganz aufgehellt sind und dieses für sich von den eigentlichen symbolischen Darstellungen rein abgesondert dasteht.“477

Das Inventar orientalistischer Stereotype, wie ich es beispielhaft an der Rede vom Kindheitsalter der Welt aufgezeigt habe, ist nicht nur insofern problematisch, als es einem Großteil der Menschheit nicht gerecht wird, sondern auch indem es als Erkenntnisbarriere für die Wissenschaft fungiert.478

                                                             475 Siehe ALEIDA UND JAN ASSMANN, Hieroglyphe, 15. 476 Siehe EBD., 19. 477 FRIEDRICH SCHLEGEL, Brief Nr. 233 vom 27.4.1825, in: Ders., Briefe an seinen Bruder Wilhelm, hg. von Oskar Walzel, Berlin 1890, 643. Vergleiche ALEIDA UND JAN ASSMANN, Hieroglyphen, 10. 478 Siehe für den den Eurozentrismus und den Bereich der Religionswissenschaften GREGOR AHN, Eurozentrismen als Erkenntnisbarrieren in der Religionswissenschaft, passim.

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Streit um die Gattungen des Alten Testaments und die Entwicklung einer Literaturgeschichte Israels

Der preußische König Friedrich II. veröffentlichte 1780 eine Schrift über die deutsche Sprache und Literatur, in der er sich über deren schlimmste Fehler und überhaupt den verachtenswerten Zustand der deutschen Sprache ausließ.479 Eine Schrift, die nicht ohne Erwiderung bleiben konnte und so antwortete der Abt Jerusalem mit seinem Über die deutsche Sprache und Literatur (1781) dem König und führte zahlreiche Hindernisse an, die die deutsche Sprache bisher aufgehalten hätten, sowie eine ganze Fülle an positiven Gegenbeispielen.480 Vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zu einer regelrechten Erneuerung der deutschen Sprache und Kultur, die sich mit dem Namen Winckelmanns und der Zuwendung zur antiken Klassik verbindet.481 Die deutsche Sprache könne sich zwar insbesondere in der Frage der Leichtigkeit und Gefälligkeit nicht mit der französischen messen, doch wohne ihr in den Worten Jerusalems eine Kraft und Stärke inne, die sich sonst nur in der griechischen Sprache finden lasse.482 Dieser Rückgriff auf den Ursprung und gleichzeitige Angriff auf tradierte Formen und Elemente lässt sich auch in Bezug auf die Gattungen feststellen. Die Gattungen waren ein beliebtes Terrain für die Autoren des Sturm und Drang zu denen auch Herder mit einigen seiner wichtigsten Schriften zu zählen ist, um den Formalismus ihrer Zeit zu attackieren.483 In seiner Aesthetica in nuce (1762) nennt Hamann die Poesie die „Muttersprache des menschlichen Geschlechts“484 und fordert „Wallfahrten nach dem glücklichen Arabien durch Kreuzzüge nach den Morgenländern“485 um „die ausgestorbene Sprache der

                                                             479 Siehe KATHARINA MOMMSEN, „nur aus dem fernsten her kommt die erneuung“, in: Dies., „Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“. Goethe und die Weltkulturen, Göttingen 2012, 15–33, hier: 21. 480 Siehe JOHANN FRIEDRICH WILHELM JERUSALEM, Ueber die Deutsche Sprache und Litteratur An Ihro Königliche Hoheit die verwittwete Frau Herzoginn von Braunschweig und Lüneburg, Berlin 1781. 481 Siehe KATHARINA MOMMSEN, „nur aus dem fernsten her kommt die erneuung“, 22. 482 Siehe JOHANN FRIEDRICH WILHELM JERUSALEM, Ueber die Deutsche Sprache und Litteratur, 19. 483 Siehe WERNER MICHLER, Kulturen der Gattung, 187. 484 JOHANN GEORG HAMANN, Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce, Stuttgart 1968, 81. 485 EBD., 129.

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Natur von den Todten wieder auf[zu]erwecken“486. Herder folgt Hamann in seinem Aufruf, kommt jedoch zu anderen Schlüssen, indem er, wie bereits beschrieben, im Orient das Kindheitsalter der Menschheit entdeckt. Er wendet sich damit gegen Reimarus, der das Alte Testament als eine Sammlung von Fabeln bezeichnete und formuliert die bei Lowth zu Grunde gelegte These vom Pentateuch als Epos aus.487 Diese kurze Zusammenstellung zeigt: Die Frage nach den Textgattungen des Alten Testaments wird um 1800 kontrovers verhandelt. Die Debatte ist dabei nicht losgelöst zu betrachten von grundsätzlichen sprachphilosophischen Diskursen und einer Neuentdeckung der orientalischen Sprachen unter den skizzierten Vorzeichen. Augenfällig an der Methodik der alttestamentlichen Argumentationsweise ist, dass neben synchronen Methoden zur Bestimmung der Literatur auch diachrone Deutungen herangezogen und entwickelt werden. Beispielhaft lässt sich dies an Eichhorns Litterärgeschichte (1799) zeigen. Hier heißt es: „Seit dem Daseyn des ersten Anfangs von Kenntnissen, die zuletzt in Wissenschaften zusammengiengen, findet man den menschlichen Geist eine Reihe von Jahrhunderten über in beständigem Aufsteigen; er sammlet, ordnet, vermehrt, veredlet und vervollkommnet seine Erwerbungen, bis er in den Hauptländern seiner Thätigkeit endlich durch langwierige Kriege in seiner Geschäftigkeit gestöhrt, durch Despotismus niedergedrückt, durch Sittenverderbnis gelähmt, und zuletzt so schwach wird, daß er im Osten völlig erschlafft und nichts Gesundes mehr hervorzubringen vermag; im Westen aber, den rohe Völkerstämme überschwemmen, sich nicht mehr gegen die Barbaren aufrecht zu erhalten weiß, und in Rohheit niedersinkt. Im Osten zehrten sich seine Kräfte nach und nach völlig ab, daß er nach 1000 Jahren in völlige Atonie (sic!) verfällt, aus der er sich bis jetzt nicht wieder hat erheben können.“488

Im Folgenden möchte ich einige Elemente aus dieser Ordnung der Kulturen herausgreifen und deutlich machen, inwieweit die Gattungsfragen des Alten Testaments vor dem Hintergrund orientalistischer Zuschreibungen verhandelt wurden. Dazu dient mir (1) ein Blitzlicht auf den behaupteten Zusammenhang von Despotismus und Dichtkunst, sowie (2) die Illustration zunehmender ethnologischer Argumentationsweise bei der Gattungsbestimmung des Alten Testaments. Ich werde zudem (3) dem gestiegenen Interesse an der mündlichen Rede nachgehen und zeigen, wie sich damit auch der Aufstieg der Sage als alttestamentlicher Gattung verbindet und Einzug in die Lehrbücher hält. Zum Abschluss (4) widme ich mich einer spezifisch deutschen Figur, nämlich dem

                                                             486 EBD., 129. Vergleiche ANDREA FUCHS-SUMIYOSHI, Orientalismus in der deutschen Literatur. Untersuchungen zu Werken des 19. und 20. Jahrhunderts, von Goethes Westöstlichem Divan bis Thomas Manns Joseph-Tetralogie, Hildesheim u.a. 1984, 44ff. 487 Siehe WERNER MICHLER, Kulturen der Gattung, 199. 488 JOHANN GOTTFRIED EICHHORN, Litterärgeschichte, 13.

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Sammler, und zeige an ihm, wie sich die Diskurse von deutscher Wissenschaftlichkeit, orientalistischem Blick auf das Alte Testament und einem Kolonialismus zweiter Ordnung in einer Zusammenschau bündeln lassen, die die Sprechweise vom Alten Testament als deutscher Kolonie rechtfertigt und erläutert.

5.4.1 Zum Zusammenhang von Despotismus und Dichtkunst Als einen Hauptgrund, warum die deutsche Sprache sich in einem derart bemitleidenswerten Zustand befinde und erst langsam auf dem Wege der Besserung sei, führt Jerusalem auch den Despotismus an. So heißt es bei ihm: „Aber in den unglücklichen Kriegen, die, von der Intoleranz des alten Despotismus, des Aberglaubens, und von der Eifersucht der noch nicht genug befestigten Gewissensfreyheit, angefeuret, Deutschland volle anderthalb Jahrhundert zerstörten, verschwand diese glückliche Aufklärung auch wieder.“489

Der Diskurs über den Despotismus und genauer den ‚orientalischen Despotismus’ verdankt sich vor allem auch den Missionsbestrebungen der Jesuiten seit dem 16. Jahrhundert und ihren Reiseberichten und umfänglicher Korrespondenz.490 Insbesondere am Verhältnis der Jesuitenmissionare zu Akbar lässt sich zeigen, dass sich der Vorwurf des Despotismus dabei weniger den tatsächlichen politischen Gegebenheiten, als einem Mangel an Informationen und der Fähigkeit, diese Informationen angemessen auszuwerten, verdankt.491 Der Begriff des ‚östlichen Despotismus’ fungierte dabei als ein Systembegriff, vor dessen als allgemein bekannt vorausgesetztem Hintergrund der einzelne Herrscher sich dann profilieren konnte und oftmals auch positiv dargestellt wurde.492 Montesquieu formalisierte den Begriff des Despotismus in seinem De l’esprit des lois (1748) und charakterisierte ihn als eine spezifisch orientalische Form der Regierung.493 Meiners führte den orientalischen Despotismus auf die geringere Empfindsamkeit der Morgenländer zurück, die darum, scheinbar ohne zu murren, noch die schlimmsten Demütigungen durch ihre Herrscher ertrugen.494

                                                             489 JOHANN FRIEDRICH WILHELM JERUSALEM, Ueber die Deutsche Sprache und Litteratur, 26. 490 Siehe DIERK HOFFMANN, Perzeption einer fremden Großmacht und Konstruktion eines Geschichtsbildes. Europäer am Hofe der Mogulherrscher im Indien des 16. und 17. Jahrhunderts und der Diskurs über den ‚Orientalischen Despotismus’, in: Historisches Jahrbuch 130 (2010), 483–504, hier: 484. 491 Siehe EBD., 488. 492 Siehe JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Entzauberung Asiens, 275. 493 Siehe EBD., 278. 494 Siehe CHRISTOPH MEINERS, Ueber die Natur der morgenländischen Völker, 405.

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Diese und ähnliche Verknüpfungen von Nationalcharakter und -geschichte, sowie literarischem Geist, scheint prägend für die Diskussion am Ende des 18. Jahrhunderts gewesen zu sein. Johann Gottfried Herder spricht von einer speziellen Affinität der Araber zur Dichtkunst: „Von jeher waren die Araber Dichter, ihre Sprache und Sitten waren unter und zu Gedichten gebildet. Sie lebten in Zelten, bei immerwährender Bewegung und Veränderung, unter Abentheuern und dabei in sehr einförmigen, alten mässigen Sitten, kurz, ganz in dichterischer Natur. Statt der Kronen rühmten sie sich der Turbane, statt der Mauern ihrer Zelte, ihrer Schwerter statt der Schanzen und statt bürgerlicher Gesetze ihrer Gedichte.“495

Auch Goethe lobt die „orientalische (...) Dichtkunst“ und spricht davon, dass „die ganze Nation (...) geistreich“ sei.496 Als Hindernis für Europäer auf dem Weg der Rezeption der persischen Dichtkunst erscheint interessanterweise nicht die Religion, sondern die orientalische Despotie: „Was aber dem Sinne der Westländer niemals eingehen kann, ist die geistige und körperliche Unterwürfigkeit unter seinen Herren und Oberen, die sich von uralten Zeiten herschreibt, indem Könige zuerst an die Stelle Gottes traten. Im alten Testament lesen wir ohne sonderliches Befremden, wenn Mann und Weib vor Priestern und Helden sich aufs Angesicht niederwirft und anbetet, denn dasselbe sind sie vor den Elohim zu thun gewohnt. Was zuerst aus natürlichem frommen Gefühl geschah verwandelte sich später in umständliche Hofsitte. Der Ku-tou, das dreymalige Niederwerfen dreymal wiederholt, schreibt sich dort her. Wie viele westliche Gesandtschaften an östlichen Höfen sind an dieser Ceremonie gescheitert, und die persische Poesie kann im Ganzen bey uns nicht gut aufgenommen werden, wenn wir uns hierüber nicht vollkommen deutlich machen.“497

Goethe verknüpft Inhalt und Form der Hebräischen Bibel mit anderen morgenländischen Gesellschaften und konstruiert einen kaum zu überbrückenden Graben zu seiner eigenen Zeit und deren sozialen Gepflogenheiten. Betrachten wir nun, wie sich dieser hier angenommene Zusammenhang zwischen Gesellschaftsformen und literarischen Gattungen auf die Wissenschaft des Alten Testaments auswirken sollte.

                                                             495 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 8, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1892, 334–436, hier: 395. Siehe KATHARINA MOMMSEN, Zur Faszination deutscher Dichter durch die arabische Erzählkunst und Poesie, in: Dies., „Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“. Goethe und die Weltkulturen, Göttingen 2012, 63–74, hier: 69. 496 JOHANN WOLFGANG GOETHE, West-östlicher Divan. Neue völlig revidierte Ausgabe, hg. von Hendrik Birus, Teilband 1, Berlin 2010, 181f. 497 JOHANN WOLFGANG GOETHE, West-östlicher Divan, 186f.

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5.4.2 Die Gattungen des Alten Testaments als ‚Nationalgesänge roher Völker’ und Produkt der Einbildungskraft Dass dieser Diskurs gerade auch Alttestamentler stark interessiert hat, möchte ich an der Person Johann Karl Christoph Nachtigals aufzeigen. Der Theologe, Philologe und Schulmeister hat sich unter dem Pseudonym Otmar einen Namen als Sammler von Volkssagen gemacht498 und sich mit populären Schriften an ein größeres Publikum gewandt. Zu nennen ist dabei etwa der Aufsatz mit dem sprechenden Titel Ueber den Wunsch, auf einer niedrigen Stufe der Kultur zu leben, besonders im patriarchalischen Zeitalter (1791).499 Für die biblischen Wissenschaften waren vor allem die Beiträge Nachtigals in Henkes Magazin für Religionsphilosophie, Exegese und Kirchengeschichte von großer Bedeutung. Damit trug er in der Sicht der Nachwelt zur „Begründung einer neuen Einleitung in das alte Testament“ bei.500 Insbesondere sein Kapitel über die allmähliche Herausbildung der Geschichtsbücher Israels wird bereits im Vorbericht von Heinrich Philipp Conrad Henke als möglicherweise provokanter Gesprächsbeitrag gewürdigt. Darin knüpft er an kritische Studien zur Echtheit und Abfassungszeit des Pentateuch etwa von Johann David Michaelis an und stellt auch eigene Überlegungen zu einzelnen Textabschnitten vor. In der Auseinandersetzung mit den biblischen Quellen bezieht er sich immer wieder auf gattungskritische Fragestellungen, die er den neu aufkommenden geschichtsphilosophischen Überlegungen mit verdankt. So heißt es zu Exodus 15, 2-18: „Den trefflichen Gesang, der in diesem Abschnitt vorkommt, halten selbst die für ächtmosaisch, welche Moses manche historische Nachrichten absprechen. Aber (1) Die Nationalgesänge roher Völker sind kurz, und müssen es der Lage der Dinge nach seyn, nicht künstliche Zusammenreihung vieler und verschiedener Gedanken, sondern, zuerst der kurze unvorbereitete Ausruf augenblicklicher Empfindungen, dann eine kleine leicht zusammenfassende Stanze, die nur durch Wiederholung dem Gesang Ausdehnung gab.“501

                                                             498 JOHANN KARL CHRISTOPH NACHTIGAL, Volkssagen, Bremen 1800. 499 JOHANN KARL CHRISTOPH NACHTIGAL, Ueber den Wunsch, auf einer niedrigen Stufe der Kultur zu leben, besonders im patriarchalischen Zeitalter, in: Deutsche Monatsschrift, Band 1, 1791, 147–180. 500 Siehe HEINRICH DOERING, Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Nach ihrem Leben und Wirken dargestellt, Band 3 N-Scho, Neustadt a.d. Orla 1833, 6–8, hier: 6. 501 OTMAR, Fragmente über die allmählige Bildung der den Israeliten heiligen Schriften, besonders der sogenannten historischen. Beyträge zu einer künftigen Einleitung in das A.T., in: Magazin für Religionsphilosophie, Exegese und Kirchengeschichte, Band 2, Helmstädt 1794, 433-523, hier: 451f.

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Hier argumentiert Nachtigal stark mit Gattungsbegriffen. Doch woher kommen diese formgeschichtlichen Überlegungen? Als Vorbild und Vergleichspunkt für die ‚rohen Völker’ fungieren bei Otmar die griechischen Sagen und Gesänge der Antike. Jedoch muss wohl mit einem Blick auf seine Ausführungen zum patriarchalischen Zeitalter auch an die neuentdeckten Völker der Südsee und andere gedacht werden. Bei der ethnologischen Auswertung der zahlreichen Reiseberichte kann Nachtigal auch auf die Arbeiten von Herder zurückgreifen. So findet sich eine Passage bei Herder über die Nationalgesänge der ‚wilden Völker’, in der er das kurze, sinnliche und unverstellte Lied rühmt. Für Herder zeichnet sich die Sprache der ‚Wilden’ durch Folgendes aus: „Sie wissen aus Reisebeschreibungen, wie stark und fest sich immer die Wilden ausdrücken. Immer die Sache, die sie sagen wollen sinnlich, klar, lebendig anschauend: den Zweck, zu dem sie reden, unmittelbar und genau fühlend: nicht durch Schattenbegriffe, Halbideen und symbolischen Letternverstand (von dem sie in keinem Worte ihrer Sprache, da sie fast keine abstracta haben, wissen) durch alle dies nicht zerstreuet: noch minder durch Künsteleyen, sklavische Erwartungen, furchtsamschleichende Politik, und verwirrende Prämeditation verdorben (...)“502

Diese Klarheit, Einfachheit und Sinnlichkeit überträgt Nachtigal nun aufs Alte Testament und wähnt sich dadurch in der Lage, das Ursprüngliche zu erkennen und anhand von Gattungskriterien literarische Schichtungen vorzunehmen. Neben der Kürze und Unverstelltheit der Rede taucht ein weiterer charakteristischer Zug auf, der den Hebräern zugesprochen wird. Dies ist die Figürlichkeit der Rede. Die allerersten Sammlungen und ersten schriftlichen Äußerungen vor dem Kulturschritt der Entwicklung einer Alphabetschrift stellen sich für Otmar in Analogie zu persischen und pazifischen Reiseberichten als Figurengruppen, Wandzeichnungen und Hieroglyphen dar.503 Als besonders überzeugendes Argument sieht Nachtigal, dass viele „historische Gedichte in den heiligen Schriften der Israeliten fast sichtbar auf frühere bildliche Darstellungen aller Begebenheiten, durch Figurengruppen, deuten (...) und daß viele Stellen ohne eine dergleichen Hypothese völlig unerklärbar sind, die sogleich völlig deutlich werden, wenn man die mahlende Hieroglyphe hinzudenkt.“504

Auch in diesem Urteil kann sich Nachtigal auf ethnologische Argumente stützen. Bereits Claude-Adrien Helvétius (1715–1771) hatte in seiner Schrift De l’Esprit (1758) statt physischer Ursachen für die kulturellen Unterschiede der Völker eher moralische Gründe angeführt und dazu auch die Regierungsform

                                                             502 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker, 39. 503 Siehe OTMAR, Fragmente über die allmählige Bildung der den Israeliten heiligen Schriften, 509. 504 EBD., 512.

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gezählt. Das allegorische Denken unter einem Sinnbild müsse sich zwangsläufig dort ausbilden, wo die Wahrheit nicht unvermittelt, sondern nur emblematisch aufgezeigt werden dürfe.505 Neben seiner Rekonstruktion von illustrierten Bildern, die Nachtigal als Grundlage vieler schwer zugänglicher Textabschnitte sieht, hat er sich in seinem Gesänge Davids und seiner Zeitgenossen (1796) auch intensiv mit der Gattung des Dramas auseinandergesetzt. Er geht davon aus, dass analog zu griechischen Gesängen auch bei den Hebräern einige Gesänge öffentlich aufgeführt wurden und rekonstruiert insbesondere eine „Davidische Zionsfeyer“, die er aus mehreren Berichten und einer Sammlung verschiedener Psalmen kompiliert.506 In den Nationalfeierlichkeiten, die David rund um den Zion eingeübt und ausgerichtet haben soll, sieht Nachtigal Elemente eines „uralte[n] orientalische[n] Drama[s]“, das er dem griechischen Drama in Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung, gleichstellt.507 Auch zur Bestimmung dieses Gattungsbegriffs greift Nachtigal auf den Vergleich mit anderen Völkern zurück und ordnet das Drama in ein Entwicklungsmodell ein: „Jedes nicht ganz rohe Volk hatte übrigens, in seinen frühen Culturperioden, ohnstreitig ähnliche dramatisirte Nationalfeyerlichkeiten, z.B. Triumpfzüge, mit Gesängen und darstellenden Bewegungen begleitet. Dergleichen hatten die uralten Indier und Perser, (von denen uns freylich Kalidas gepriesene Sakontala keinen Begrif giebt;) dergleichen hatten die uralten Griechen, bey ihren Orgien.“508

Neben das Element der Gleichwertigkeit des unverfälschten Nationalgesangs der alten Hebräer mit anderen Kulturen tritt bei Nachtigal auch noch eine Note, die das Spezifikum des alten Israels herausstellen soll: Er bezeichnet das von ihm herausgearbeitete Drama als ein „Meisterwerk“ und „älteste(...) uns jetzt bekannte(...) Drama(...)“.509 Die ‚dramatische Form’ sieht Nachtigal vor allem durch den Triumphzug und seine Abwechslungen, das Wogen des Volkes und strukturierte Festabläufe rund um Opfer und andere Feierlichkeiten gegeben.510 Was die Hebräer als orientalisches Volk jedoch vor den Griechen auszeichnete war in der zeitgenössischen Diskussion die Phantasie. Denn eine besonders ausgeprägte und lebhafte Einbildungskraft wurde vor allem den orientalischen Völkern sowohl der Vergangenheit, als auch der Gegenwart zugesprochen.511 Der Orientalist Johann Jacob Reiske spricht von arabischer und hebräischer Dichtung in einem Atemzug:

                                                             505 Vergleiche LUCAS MARCO GISI, Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert, Berlin/ New York 2007, 172f. 506 JOHANN KARL CHRISTOPH NACHTIGAL, Gesänge Davids und seiner Zeitgenossen nach der Zeitfolge geordnet und neu bearbeitet, Bd. 1, Leipzig 1796, X. 507 EBD., 67. 508 EBD., 70. 509 EBD., 80f. 510 Siehe EBD., 73–77. 511 Siehe EBD., 167.

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„Beyder Geist war feurig und flüchtig. Daher spürt man in beyden die Art in kurtzen und bey nahe gleich abgemeßnen Sprüchen sich auszudrucken, die Menge und Lebhafftigkeit der Sinnbilder, die Neigung, mehr verblühmt, als natürlich, mehr durch Bilder, als ungekünstelt, zu sprechen.“512

Auch Reiske hebt besonders auf die Fähigkeit der Hebräer und Araber ab, literarische Bilder zu erfinden und kontrastiert die orientalische und die griechische Poesie. Die Araber hätten bedauerlicherweise keine Möglichkeit gehabt, ihre bedeutenden Anlagen zu entwickeln und verharrten daher in einem ‚rohen’ Zustand.513 Die geschilderte Mischung aus roher, sinnlicher und figürlicher Rede drückt sich in der Sichtweise der Alttestamentler auch in den Gattungen der Hebräischen Bibel aus. Die Hebräer werden zum Beispiel bei Johann Gottfried Herder nicht nur als ein sinnliches Volk im Kontext des Orients präsentiert, sondern zugleich nehmen sie das zweifelhafte Privileg ein, am Ausgangspunkt einer Entwicklung des ‚Fiktionalen’, der ‚Sage’ und ‚Dichtung’ zu stehen. Dies exemplifiziert Herder an der Figur des Cherub: „Eine der Hauptformen aller Nationen, die Poesie haben, ist der Cherub; vielleicht die älteste Fiktion der Welt. Er steht auf den Ruinen von Persepolis, die mit ihrer Schrift und Bauart über die uns bekannte Geschichte hinausreichen, und liegt als Sphinx vor so vielen Aegyptischen Tempeltrümmern. Von ihm reden Indianische, Tibetanische, Sinesische, Persische, Arabische Märchen, und er kommt in den alten Griechischen, so wie selbst Nordischen Sagen, nur bei jeder Nation auf ihre Weise wieder. [...] Die Ebräer dünkt mich, haben die älteste reinste Sage von ihm, und den so natürlichen Ursprung, der wunderbaren Zusammensetzung erhalten. [...] Von diesem Cherub, auf den Weg gebracht, nahm die Bilderreiche Phantasie der Morgenländer Anlaß, ähnliche Dichtungen zu erfinden: sie schwang sich auf seinen Flügeln in das Land großer Fiktionen.“514

Diese Zuschreibung an die Hebräer als die ‚Erfinder’ des Cherub und mithin des Fantastischen aufgrund ihrer orientalischen Einbildungskraft, Imagination und Phantasie verdankte sich Diskursen ethnologischer Forschung in der Kontaktzone zwischen entdeckten Ländern und den Zentren der Gelehrsamkeit, die hier teilweise vorgestellt wurden. Bei aller Disparität der skizzierten Entwürfe, lässt sich nämlich feststellen, dass bei den Gattungsbestimmungen – sowohl bei der Rede von dramatischen und kurzen Formen mit einem konkreten Sitz im Leben, als auch bei der Betonung fiktionaler Entwürfe – der Bezug auf das neu gewonnene ethnologische Wissen ein entscheidendes Argument darstellte.

                                                             512 JOHANN JACOB REISKE (HG.), Thograi’s sogennantes Lammisches Gedicht aus dem Arabischen übersetzt nebst einem kurtzen Entwurff der Arabischen Dichterey, Friedrichstadt 1756, hier: 8. Vergleiche LUCAS MARCO GISI, Einbildungskraft und Mythologie, 169. 513 Siehe LUCAS MARCO GISI, Einbildungskraft und Mythologie, 171. 514 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben, und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes. Zweiter Theil, Deßau 1783, 18f. Vergleiche ANDREA POLASCHEGG, Verbalwurzel, 221.

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5.4.3 Die Sage und die Seele des Volks In den zu Beginn des Kapitels angeführten Zitaten Hamanns und Herders verbindet sich die Sehnsucht nach einem direkten poetischen Ausdruck mit einer neuen Wertschätzung des Orients und seiner Dichter. In die alttestamentliche Debatte bringt Herder ein neues Element ein, wenn er all die gelehrten Diskussionen mit ihrer Vielzahl an Kommentaren abtun will und stattdessen einfordert, auch die Texte des Alten Testaments als Ausdruck des Volksempfindens und kollektive Stimmen wert zu schätzen.515 Als solche stehen sie dann neben schottischen, lettischen und peruanischen Liedern, die Herder alle gleich schätzt.516 Sie sind ihm „halbe Wunderwerke von αοίδοις, Sängern, Barden, Minstrels, wie die größten Dichter der ältesten Zeiten waren. Homers Rhapsodien und Ossians Lieder waren gleichsam impromptus weil man damals noch von Nichts als impromptus der Rede wusste“517

Nicht gelernte Kunstfertigkeit, sondern die Spontaneität des Augenblicks und die Natur der Einbildungskraft formen die Gattungen des Alten Testaments. Im Hinblick auf das poetische Vermögen, das „Schweben der Elegie“, schlussfolgert Herder: „Alle Gesänge des A.T., Lieder, Elegien, Orakelstücke der Propheten sind voll davon, und die sollten doch kaum poetische Uebungen seyn.“518

Gerade die „Würfe und Inversionen“, die Dichte des Ausdrucks und direkte Sinnlichkeit stehen auch in einem engen Zusammenhang mit der mündlichen Weitergabe der Traditionsstücke und Lieder.519 Sie können außerdem in die Nähe einer ursprünglichen Natursprache gerückt werden: „In ihren Elegien tönen, wie bei den Wilden auf ihren Gräbern, jene Heul- und Klagetöne, eine fortgehende Interjektion der Natursprache.“520

Das einfache Volk erscheint Herder als Ursprungsort der Dichtung. Die Aufgabe des Dichters sei es dann, die Stimme des Volkes und der Natur zu belauschen.521 Als besonderen Hemmschuh für seine Gegenwart sieht er den medialen Wechsel nach Gutenberg an. So heißt es bei ihm:

                                                             515 Siehe TODD KONTJE, German Orientalisms, 71. 516 Siehe JOHANN GOTTFRIED HERDER, Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker, 21. 517 EBD., 41. 518 EBD., 62. 519 EBD., 64. 520 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 11. 521 So Herder im Hinblick auf Shakespeares Werke. Vergleiche FRANZ-JOSEF DEITERS, Das Volk als Autor? Der Ursprung einer kulturgeschichtlichen Fiktion im Werk Johann Gottfried Herders, in: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/ Weimar 2002, 181–201, hier: 183.

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„Die Buchdruckerei (...) hat viel Gutes gestiftet; der Dichtkunst hat sie viel von ihrer lebendigen Wirkung geraubet. Einst tönten die Gedichte im lebendigen Kreise, zur Harfe, von Stimme, Mut und Herz des Sängers oder Dichters belebet; jetzt standen sie da schwarz auf weiß, schön gedruckt auf Blätter von Lumpen. Gleichviel zu welcher Zeit einem lieben geneigten Leser nun der Wisch kam: er ward gelesen, sacht und selig überflogen, überwischt, überträumelt. Ists wahr, daß lebendige Gegenwart, Aufweckung, Stimmung der Seele so ungemein viel und zum Empfange der Dichtkunst am meisten tut; ists ein großer Unterschied, etwas zu hören und zu lesen, vom Dichter oder seinem Ausleger, dem göttlichen Rhapsoden es selbst zu hören, oder sich es matt zu denken und vorzusyllabieren: so setze man nun, alles vorige dazugenommen, die neue Sitte in ihren Umfang, wieviel musste mit ihr die Dichtkunst an Kunst gewinnen, und an Wirkung verlieren! Jetzt schrieb der Dichter, voraus sang er: er schrieb langsam, um gelesen zu werden, voraus sammelte er Akzente, lebendig ins Herz zu tönen. Nun mußte er suchen, schön verständlich zu schreiben: Kommata und Punkte, Reim und Periode sollten fein ersetzen, bestimmen und ausfüllen, was voraus die lebendige Stimme tausendmal vielfacher, besser und stärker selbst sagte. Endlich schrieb er jetzt gar für das liebe klassische Werk und Wesen, für die papierne Ewigkeit; da der vorige Sänger und Rhapsode nur für den jetzigen Augenblick sang, in demselben aber eine Wirkung machte, daß Herz und Gedächtnis die Stelle der Bücherkammer auf Jahrhunderte hin vertraten.“522

Die Rezeption wechselt so vom Gehör- zum Gesichtssinn und fördert die Entgrenzung einer unmittelbaren Kommunikationsgemeinschaft, wie sie Herder in seiner Vorstellung des ‚Volks’ vorhanden sah. Franz-Josef Deiters hat aufgezeigt, wie gerade in Herders Lieddichtung der Prozess einer Simulation des „Mündlichen im Medium der Schrift; der Volkskultur im Medium der Schriftkultur; des Volks durch den philosophisch gelehrten Schriftsteller; des Originals durch seine Parodie (...)“523

stattfindet. Der von Herder beschriebene deutliche Bruch im medialen Wechsel erscheint somit eher als Inszenierung der eigenen Originalität mit starken Anleihen am kolonialistischen Phantasma orientalischer Sinnlichkeit und Ursprünglichkeit, denn als wissenschaftsgeschichtlicher hard fact.524 Doch gerade die Suche nach dem Volk als Autor, die verstanden werden kann als die

                                                             522 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 8, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1892, 334–436, hier: 411f. Vergleiche FRANZ-JOSEF DEITERS, Das Volk als Autor?, 193. 523 FRANZ-JOSEF DEITERS, Das Volk als Autor?, 197. 524 Angesichts dieses Blicks in die Forschungsgeschichte lässt sich nun ein beredtes ‚Nachleben’ der Diskurse des ausgehenden 18. Jahrhunderts in aktuellen Debatten der alttestamentlichen Wissenschaft beobachten. So greift Joachim Schaper als Fazit einer Fachtagung, die 2005 in Tübingen stattfand, eine These Jan Assmanns auf, der sich seinerseits wiederum auf unterschiedliche Diskurse des 18. Jahrhunderts bezieht: Es geht um die Frage, inwieweit der Wechsel des Schriftsystems mit einem Wechsel der Religionspraxis einhergeht, die von Assmann in den Zusammenhang der Debatte um die Entstehung des Monotheismus, gesetzt wird. Als Kronzeuge fungiert Moses Mendelssohn mit seinem Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783). Darin

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Sehnsucht nach der Ebene des Tiefsinns, auf der sich die beobachteten Verschiedenheiten zugunsten einer neuen Einsicht in das Wesenhafte und Ursprüngliche und damit das höchste Sein aufzulösen beginnen, hat sich als besonders produktiv innerhalb der deutschen alttestamentlichen Wissenschaft erwiesen. Die Hebräer fungieren bei Herder nicht als eine Ansammlung von Individuen, sondern stattdessen fokussiert er auf die Einheit des hebräischen Volkes: „Das Ebräische Volk ward von seinem Ursprunge an als ein genetisches Individuum, als Ein Volk betrachtet.“525

Herder wollte die Stimme dieses ursprünglichen Volkes rein und frei von jeglichem modernen Ballast wiederentdecken und setzte dabei auch einen deutlichen Kontrast zwischen der modernen französischen Zivilisation und der deutschen originalen Kultur.526 Darüber hinaus gibt Herder den Ton vor für eine folgenschwere Grundannahme im Hinblick auf das Verhältnis von Individualität und Kollektiv bei der Betrachtung antiker Kulturen.527 Die Vorstellungen asiatischer Despotie und das Selbstbild aufgeklärter Individualität können aufgrund neuerer Forschungen auch in Bezug auf die antiken Kulturen als wirkmächtige Konstruktionen entlarvt werden.528 Der neue ethnologische Zugang und die daraus entstandenen form- und gattungsgeschichtlichen Zuordnungen wurden um 1800 schnell aufgenommen und konnten sich in der Wissenschaftsgeschichte durchsetzen. Die Vorstellung

                                                            

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stellt Mendelssohn einen Zusammenhang zwischen Modifikationen der Schrift und dem Fortgang der menschlichen Erkenntnis her. Allerdings lassen sich auch bei Mendelssohn logozentrische Aussagen beobachten. Siehe dazu DAVID MARTYN, Der Geist, der Buchstabe und der Löwe, 62. Zu Joachim Schaper siehe JOACHIM SCHAPER, „Scriptural Turn“ und Monotheismus. Überlegungen zu einer (nicht ganz) neuen These, in: Ders. (Hg.), Die Textualisierung der Religion, Tübingen 2009, 275–291. Die entsprechenden Belege bei Jan Assman sind: JAN ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003, 146; JAN ASSMANN, Pictures versus Letters. William Warburton’s Theory of Grammatological Iconoclasm, in: Ders./ A.I. Baumgarten (Hg.), Representation in Religion. Studies in Honor of Moshe Barasch, Leiden u.a. 2001, 302-308; JAN ASSMANN, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München und Wien 1998, 133–170. JOHANN GOTTFRIED HERDER, Briefe zu Beförderung der Humanität, Fünfte Sammlung, Riga 1797, 56. Vergleiche WERNER MICHLER, Kulturen der Gattung, 202. Siehe TODD KONTJE, German Orientalisms, 71. Die Annahme von kollektiven Einheiten in der Religionsgeschichte der Mittelmeerkulturen und des Alten Orients, die gerade nicht in einer Individualität angesprochen werden können, gerät erst in den letzten Jahren in einer religionswissenschaftlichen Forschung immer mehr unter Rechtfertigungszwänge. Vergleiche dazu den Überblicksartikel bei JÖRG RÜPKE, Individualization and Individuation as Concepts for Historical Research, in: Ders. (Hg.), The Individual in the Religions of the Ancient Mediterranean, Oxford 2013, 3–38. Siehe hierzu den Überblick und Verweis auf weitere Literatur bei JÖRG RÜPKE, Art. III.2 Religion und Individuum, in: Michael Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin/ Boston 2012, 241–253, hier: 244.

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von ursprünglichen Sagen, die nur noch zusammengetragen werden mussten und mit deren Hilfe ein originärer Zugang zu alten und als primitiv verstandenen Völkern möglich sei, fand rasch Eingang in die Lehrbücher der alttestamentlichen Wissenschaft. In seinem Lehrbuch der hebräisch-jüdischen Archäologie (1814) hatte De Wette bereits von den „Sagen-Erzähler(n) der Genesis“529 gesprochen. Und in seinem Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel (1817) systematisiert De Wette die hier vorgestellten Gedanken und spricht von der „mosaischen Mythologie“ als einer „ächt geschichtliche(n) Sage“, die „von Volkslieder(n) getragen, sich im Munde des Volks fortgepflanzt hat“.530 Den Prozess jener Tradierung beschreibt De Wette wie folgt: „Nun aber mischt sich in der Volkssage mit dem real-geschichtlichen Elemente ein ideal-dichterisches, wodurch die Überlieferung nach und nach ins Wunderbare und ideale umgebildet wird; und dazu wirken vorzüglich die Volkslieder mit, welche im kühnen lyrischen Schwunge der Phantasie das natürlich Erstaunens- und Bewunderungswürdige im übernatürlichen Lichte darstellen und deren Darstellung vom wundergläubigen Volke leicht mißverstanden werden“531

In diesem Zitat finden sich schließlich alle Elemente der ethnologischen Diskurse, die ich in den vorangegangenen Kapiteln aufgezählt habe. In einem letzten Schritt möchte ich nun noch der Figur des Sammlers nachgehen und daran meine Kernthese zur Rolle der deutschen Alttestamentler illustrieren.

5.4.4 Zum Abschluss: Der deutsche Sammler und die Figur des alttestamentlichen Sammlers Um 1800 lässt sich eine große wissenschaftliche Begeisterung am ‚Sammeln‘ illustrieren: Bereits Reimarus hatte vom Alten Testament als einer Sammlung von Sagen gesprochen.532 Seit den 1760er Jahren hatte Klopstock begonnen, vor-karolingische Barden zu imitieren und damit erste Debatten und an der Wende zum 19. Jahrhundert eine ganze Bewegung ausgelöst, die alte Volkslieder, Märchen und Sagen sammelte.533 Dies reichte von Johann August Musäus und seinen Volksmärchen der Deutschen (1782) über Wilhelm Günthers Kindermärchen aus mündlichen Erzählungen gesammelt (1787), bis zu Benedikte Nauberts Neue Volksmärchen der Deutschen (1789-1793).534 An den

                                                             529 WILHELM MARTIN LEBERECHT DE WETTE, Lehrbuch der hebräisch-jüdischen Archäologie nebst einem Grundrisse der hebräisch-jüdischen Geschichte, Leipzig 21830, 185. 530 WILHELM MARTIN LEBERECHT DE WETTE, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testamentes, 183. 531 EBD., 183. 532 Siehe WERNER MICHLER, Kulturen der Gattung, 199. 533 Siehe TODD KONTJE, German Orientalisms, 111. 534 Siehe STEFFEN MARTUS, Gebrüder Grimm, 203f.

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Kinder- und Hausmärchen (1812) der Gebrüder Grimm lässt sich der gewaltige Einfluss, den diese Märchen mit ihren typischen Motiven auf die Konstruktion deutscher Identität hatten, sehr gut illustrieren.535 Bei Herder tritt der Gedanke hinzu, dass es möglich sei, von der Sprache auf die Denkart eines Volkes zu schließen und umgekehrt.536 Welche Relevanz hat diese Sammelleidenschaft nun für die Debatte um das Alte Testament? In einer Monographie und kleineren Aufsätzen hat John van Seters die Frage bearbeitet, ob es ‚Redaktoren’ oder ‚Autoren’ waren, die den Pentateuch verfassten.537 Er sieht eine anachronistische Anwendung der in der Romantik vorwiegend in Deutschland entstandenen Kategorie des ‚Redaktors’ auf die alttestamentlichen Schriften in Teilen der europäischen Pentateuchforschung am Werk und plädiert stattdessen für einen Gebrauch der Kategorie des ‚Autors’.538 Zwar macht van Seters zurecht auf die enge methodische Verzahnung von biblischer Forschung und den Studien zu Homer aufmerksam, allerdings verbleibt seine Analyse auf der Ebene erster Beobachtungen, dient vor allem als Argument in seinen exegetischen Auseinandersetzungen und berücksichtigt postkoloniale Fragestellungen in keiner Weise.539 Wichtig scheint jedoch zu sein, dass er das Augenmerk genau auf jene Figur des Sammlers richtet, der an der Wende zum 19. Jahrhundert in Deutschland eine solch besondere Bedeutung erlangt hat und spezifisch aufgeladen ist.540

                                                             535 Vergleiche NEIL MACGREGOR, Deutschland. Erinnerungen einer Nation, 154ff. 536 Siehe JOHANN GOTTFRIED HERDER, Von der Gabe der Sprachen am ersten christlichen Pfingstfest, in: Ders., Sämmtliche Werke. Religion und Theologie. Elfter Theil. Christliche Schriften, Erste Hälfte, Karlsruhe 1829, 1–78, hier: 3. Dieser Zusammenhang zwischen Sprache und Denken findet sich als ein Mythos bis weit ins 20. Jahrhundert in der alttestamentlichen Wissenschaft und ist eng verknüpft mit der Debatte um eine ‚corporate personality’. Siehe STANLEY E. PORTER, Two Myths: Corporate Personality and Language/Mentality Determinism, in: Scottish Journal of Theology 43 (3,1990), 289–307. Zur Debatte um ‚corporate personality’ vergleiche JOHN W. ROGERSON, The Hebrew Conception of corporate personality: A ReExamination, in: The Journal of Theological Studies 21 (1,1970), 1-16 sowie die darin angegebenen Literaturangaben zu H. Wheeler Robinson. Doch auch in neueren Werken finden sich Passagen, die schablonenhaft mit dichotomischen Gegenübersetzungen/stellungen arbeiten, die sowohl durch anthropologische Arbeiten, als auch den Fortgang der alttestamentlichen Fachdiskussion, überholt sein müssten. Vergleiche ANSELM C. HAGEDORN, Between Moses and Plato. Individual and Society in Deuteronomy and Ancient Greek Law, Göttingen 2004, 232ff. 537 Zu John van Seters und seinem Werk vergleiche vor allem THOMAS L. THOMPSON, Tradition and History: The Scholarship of John van Seters, in: Steven L. McKenzie/ Thomas Römer (Hg.), Rethinking the foundations. Historiography in the ancient world and in the Bible. Essays in Honor of John van Seters, Berlin 2000, 9–21. 538 Siehe JOHN VAN SETERS, Editing the Bible: The Romantic Myths about Authors and Editors, in: HeBAI 3 (2014), 343–354, hier: 344. 539 Siehe JOHN VAN SETERS, The Edited Bible. The Curious History of the ‚Editor’ in Biblical Criticism, Winona Lake 2006, 113–184. 540 Siehe JOHN VAN SETERS, Editing the Bible, 348.

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Dieser Sammler nimmt im dritten Band Johann Severin Vaters Commentar ueber den Pentateuch (1805) eine zentrale Rolle ein: „(...) die Hand eines Sammlers muß die einzelnen Stücke an einander gereihet haben. Denn es ist gar nicht denkbar, daß diese Zusammenstellung überhaupt blos allmählig und zufällig entstanden sey. Dies könnte vielleicht bey manchen, schon vor der gegenwärtigen Sammlung vorhandenen Sammlungen von Gesetzen, und bey den Nachträgen im ersten Abschnitt des Buches Numeri zum Theil der Fall gewesen seyn (...) Nur das Ganze dieser Bücher, wie es gegenwärtig vor uns liegt, ist gewiß nicht blos durch Zufall das geworden, was es itzt ist.“541

Damit überträgt Vater eine Idee, für die er einen allgemeinen Konsens in der Diskussion um die Textentstehung der Genesis sieht, auf den gesamten Pentateuch. Den Begriff des Sammlers hatten bereits Herder, Eichhorn, Otmar und Ilgen benutzt.542 Einen entscheidenden Durchbruch für die Erforschung der Genesis hatte bereits Karl David Ilgen geleistet, indem er 1798 entschieden für eine Trennung der Urkunden plädierte. Auch in seinen Überlegungen spielt die Figur eines Sammlers eine entscheidende Rolle: Für Karl David Ilgen stand fest, dass sich die Genesis entscheidend von allen anderen Altertümern und insbesondere den Werken der römischen und griechischen Antike darin unterschied, dass es sich nicht um das Werk eines Verfassers, oder Autors handle, sondern „daß es einen Zusammensetzer, einen Zusammenordner, einen Sammler habe.“543 Seine eigene Aufgabe sieht Ilgen in der „Wiederherstellung der Urgestalt“544 und folglich verteidigt er seine Umstellungen als ein strengen Regeln folgendes und letztlich alternativloses Verfahren, das seine Berechtigung in der „rohen und ungebildeten Sprache“ mit ihren zahlreichen Wiederholungen, ihrer Sinnlichkeit und einem „Ueberfluß an Zeichen von naher und entfernter Aehnlichkeit“ habe.545 Denn, so der Gang seiner Argumentation, eine gebildetere Sprache, die über eine größere begriffliche Präzision verfüge, könne dort, wo der Hebräer ausschweifend einen einzigen Zusammenhang herstellt, leicht zwei unterschiedliche Sätze differenzieren. Die besondere Beschaffenheit der Genesis exemplifiziert Ilgen (1) an den Überschriften, die scheinbar zusammenhanglos, bzw. am falschen Ort erscheinen; (2) den gehäuften Wiederholungen, selbst solchen, die sich nicht mit sprachlichen Eigentümlichkeiten oder Defiziten erklären ließen; (3) den auf unterschiedliche Verfasser hinweisenden Wechsel im Schreibstil; (4) den teilweise                                                              541 JOHANN SEVERIN VATER, Commentar ueber den Pentateuch. Mit Einleitungen zu den einzelnen Abschnitten, der eingeschalteten Uebersetzung von Dr. Alexander Geddes’s merkwürdigeren critischen und exegetischen Anmerkungen, und einer Abhandlung über Moses und die Verfasser des Pentateuchs. Dritter Theil, Halle 1805, 504. 542 Siehe für die einzelnen Belege BODO SEIDEL, Karl David Ilgen, 178f. 543 KARL DAVID ILGEN, Die Urkunden des ersten Buchs von Moses in ihrer Urgestalt zum bessern Verständnis und richtigern Gebrauch derselben in ihrer gegenwärtigen Form aus dem Hebräischen mit kritischen Anmerkungen und Nachweisungen auch einer Abhandlung über die Trennung der Urkunden, Halle 1798, 344. 544 EBD., 345. 545 EBD., 347.

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gegenläufigen Intentionalitäten der Textpragmatik.546 Bei der Zuordnung der Urkunden zu ihren Verfassern und der Trennung der Urkunden brauche es nun laut Ilgen „Gefühl und Beurtheilungskraft“547. Johann Severin Vater greift diese Kriterien Ilgens auf und schreibt sich selbst die Beurteilungskraft zu, dieses Verfahren auf den gesamten Pentateuch auszuweiten. Aus dem vorliegenden Text des Pentateuchs versucht er nun einige Grundzüge der Arbeitsweise dieses Sammlers zu erhellen. Zum einen habe der Sammler kaum in seine Quellen eingegriffen: „Der Sammler giebt also wenigstens viele seiner Materialien, so wie er schriftlich vorfand.“548

Der Sammler wird bei Vater gerade dadurch zum Sammler, dass er der Versuchung zu wiederstehen scheint, offensichtliche Lücken im Text aufzufüllen und sich damit begnügt, „fragmentarische[n] Materialien“ wiederzugeben.549 Während über die Art und den Umfang der Quellen nur schwerlich Einigung herzustellen ist zwischen den erwähnten Bibelwissenschaftlern550, so stimmen sie doch in diesem Grundzug bei der Beschreibung dieses Sammlers überein. Auch Ilgen sieht den Sammler als Garanten dafür, dass im Überlieferungsprozess nichts verloren gegangen sei: „Und da hat der von mir gemachte Versuch mich belehrt, daß diese Widerherstellung der Urgestalt in einem nicht geringen Grade möglich ist, und daß nur weniges, das von dem Sammler ist übergangen worden, für uns verloren ist, davon noch dazu ein Theil durch Conjektur aus dem Zusammenhange [...] sich ergänzen läßt.“551

Die Wissenschaftler präsentieren uns also verschiedene Versionen jenes „ehrlichen Maklers“, dem Martin Noth in seinen Überlieferungsgeschichtlichen Studien (1943) ein literaturhistorisches Denkmal setzte.552 Bereits in meiner Einleitung habe ich mich auf Noth bezogen und an seinem Beispiel versucht deutlich zu machen, inwiefern wissenschaftliche Paradigmen in der Form bestimmter Denkmodelle, als Ausdruck diskursiver Verortung verstanden werden können. Nun zum Abschluss meiner Arbeit möchte ich diesen Gedanken noch einmal aufnehmen und an der Figur des Sammlers darstellen, wie sich

                                                             546 547 548 549 550

Siehe EBD., 350f. EBD., 499. JOHANN SEVERIN VATER, Commentar ueber den Pentateuch, 506. EBD., 511. Für eine umfängliche Beschreibung der einzelnen Positionen vergleiche BODO SEIDEL, Karl David Ilgen, 134ff. Siehe auch die Darstellung bei EBERHARD RUPRECHT, Die Frage nach den vorliterarischen Überlieferungen, 306f. mit der Kontroverse zwischen De Wette und G.W. Meyer, die sich um die Gewichtung des Sammlers gegenüber den Einzelüberlieferungen drehte. 551 KARL DAVID ILGEN, Die Urkunden des Jerusalemischen Tempelarchivs, 345. Vergleiche Bodo Seidel, Karl David Ilgen, 180. 552 Vergleiche dazu den Forschungsüberblick bei THOMAS RÖMER, Art. Deuteronomismus, in: WIBILex, Online unter: [Zugriff am 21.12.2015].

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(1) das Sammeln in koloniale Kontexte einordnen lässt und (2) sich in der Figur dieses Sammlers ein spezifisches Verständnis von Wissenschaftlichkeit ausdrückt, das sich in orientalistischen und national geprägten Diskursen entwickelte. Die vergleichende Sprachwissenschaft, die sich Ende des 18. Jahrhunderts etablierte, war stark von der Idee des Sammelns der unterschiedlichsten Sprachproben geprägt und wies einen engen Zusammenhang zur Mission auf. Dies lässt sich vor allem am breit gefächerten Missionsnetzwerk der Jesuiten zeigen. Zwar hatte sich bereits Leibniz in seinem Brevis designatio meditationum de orginibius gentium, ductis potissimum ex indicis linguarum (1710) mit dem Zusammenhang von Sprachen und der Entstehung der unterschiedlichsten Sprachfamilien ausführlich beschäftigt, doch als eine der ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema kann das Werk des Jesuiten Lorenzo Hérvas y Panduro gelten.553 In Deutschland waren es der mit den Jesuiten in Verbindung stehende Christoph Gottlieb von Murr, der „ein reiches wissenschaftliches Material für allgemeine Litteratur, Sprachkunde und Geschichte der meisten europäischen Völker, über China und Südamerika“554

in mehreren Journalen zusammentrug, sowie Johann Christoph Adelung und der bereits erwähnte Johann Severin Vater. Christoph Gottlieb von Murr verfolgte das Ziel einer allgemeinen Sprachenbibliothek über mehrere Jahrzehnte hinweg und sammelte vor allem wegen seiner freundschaftlichen Beziehungen zu Missionaren der Jesuiten umfangreiches Material, reichte dieses jedoch 1806 an Johann Severin Vater weiter.555 Johann Christoph Adelung gab die Zeitschrift Mithridates heraus, in der das Vater Unser in fast 500 Sprachen als eine Sprachprobe abgebildet war. Adelung führte sein Werk jedoch nicht zu Ende, sondern starb nach der Veröffentlichung des ersten Teils. Den zweiten (1809) und dritten Teil (1812) über die europäischen, bzw. amerikanischen und afrikanischen Sprachen stellte Johann Severin Vater zusammen, einen vierten Teil mit Nachträgen von Friedrich Adelung und Wilhelm von Humboldt gab ebenfalls Vater heraus. Das Projekt erwies sich im Nachhinein als ein Holzweg der Forschungsgeschichte, da es die Veränderungen innerhalb der Sprachen nicht zur Kenntnis nahm, galt

                                                             553 Siehe HENRIKE FOERTSCH, Missionarsmaterialien und die Entdeckung amerikanischer Sprachen in Europa. Vom Sprachensammler Lorenzo Hérvas y Panduro zum Linguisten Wilhelm von Humboldt, in: Reinhardt Wendt (Hg.), Sammeln, Vernetzen, Auswerten: Missionare und ihr Beitrag zum Wandel europäischer Weltsicht, Tübingen 2001, 75–129, hier: 77. 554 ERNST MUMMENHOFF, „Murr, Christoph Gottlieb“, in: Allgemeine Deutsche Biographie (1886), 2[Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/ pnd11906362X.html [Zugriff am 09.07.2015]. 555 Siehe HENRIKE FOERTSCH, Missionarsmaterialien und die Entdeckung amerikanischer Sprachen in Europa, 100.

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jedoch zu seiner Zeit als eine revolutionäre Neuerung innerhalb der komparativen Sprachforschung.556 Dass es gerade auch deutsche Wissenschaftler waren, die für dieses Projekt genannt werden können, ist mehr als nur eine Laune der Geschichte. Schon in seiner Rezension zur Sammlung merkwürdiger Reisen in das Innere von Afrika (1790) von Ernst Wilhelm Cuhn unterscheidet Georg Forster zwischen dem „französischen Selbstdenker“ und dem „deutschen Compilator[s]“.557 Dies ist nicht der einzige Vergleich, indem Forster auf einen spezifisch deutschen Zugang zur Wissenschaft eingeht. Gerade das Zusammenstellen, sichten und sammeln erscheint bei Forster als eine typisch deutsche Zugangsweise, sodass der Deutsche von anderen Nationen (hier mit Blick auf einen Briten) den Blick aufs Ganze lernen könne: „wir aber müssen von ihm lernen, über dem ewigen Materialienstoppeln, dem Sylbenstechen, der Kleinigkeitskrämerey, nicht das Resultat des Ganzen vergessen, und zur Übersicht der größern Verkettungen nicht unfähig zu werden.“558

In ein ähnliches Horn bläst Adam Müller in seinen Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Literatur (1807), wenn er einen Unterschied zwischen französischer Wissenschaftskultur, die er mit „heitre[r], gewandte[r] Thätigkeit“559 assoziiert, im Gegensatz zu deutscher und damit „ernster, ausdauernder, nur hie und da etwas unbehülflicher Empfänglichkeit“560 konstruiert. Deutsche Wissenschaft weiß damit nicht auf den ersten Blick zu gefallen, jedoch verstehe sie ihr Gegenüber besser, als sich dieses selbst zu vergegenwärtigen vermag: „Es gehört zur Eigenthümlichkeit der deutschen Ansicht einer fremden Literatur, dieselbe in einem größern Umfang zu betrachten, sie in höhere Beziehungen zu bringen, als die sie sich selbst zuschreibt.“561

Hier treffen wir auf das klassische Motiv einer postulierten deutschen wissenschaftlichen Überlegenheit, die es den Deutschen ermögliche zu Experten auf jedem Feld zu werden und fremde Gesellschaften, Sprachen und Kulturen besser zu meistern und vor allem zu verstehen, als die koloniale Konkurrenz und

                                                             556 Siehe JAMES TURNER, Philology. The forgotten Origins of the Modern Humanities, Princeton 2014, 125. 557 GEORG FORSTER, Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Band 11, Rezensionen, Berlin 1977, 279. 558 EBD., 295. Vergleiche HELMUT PEITSCH, Deutsche ‚Antheilnahme’ an der europäischen Expansion, 290. 559 ADAM H. MÜLLER, Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur, Dresden 21807, 3. 560 EBD., 3. 561 EBD., 7.

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das autochthone Gegenüber.562Adam Müller benennt diese Art des wissenschaftlichen Zugriffs folgerichtig „Geistesherrschaft der deutschen Wissenschaft“563 und charakterisiert diese genauer: „Die liebe- und würdevolle Ergebung in den Geist des Strebens andrer Nationen, das gehorsame und fromme Auffassen alles Fremden und jeder von unsrer Nationalität noch so sehr abweichenden Form, ist ein Vorzug, den der deutsche Geist vor den übrigen Nationen sich zuzuschreiben gezwungen ist [...]“564

Diese spezifische Form der Herrschaft auf dem Gebiet des Geistes lebten die Deutschen jedoch nicht in einer aggressiven Art und Weise aus, sondern noch einmal in einer sie besonders auszeichnenden Würde: „Nicht durch Erhebung, durch Hervorstrahlen unsrer Kräfte, über die Kräfte der Auswärtigen wollen wir gelten; nicht in ihrem Zurückbleiben wollen wir unser Fortschreiten erkennen, sondern als ewige Vermittler unser und ihr gemeinsames Fortschreiten sicher stellen. Auf einem schwierigen Wege allein vorauslaufen hilft nichts, aber gemeinschaftlich ihn mit weise vereinigten Kräften überwinden, dies sey das Geheimnis unsrer Herrschaft, wie sie sich auch unwiderstehlich in dem bisherigen Gange unsrer Literatur offenbart.“565

Nicht als Ausdruck individueller Ethik wird diese Haltung bei Müller konzipiert, sondern sie ist ihm eine deutsche Charaktereigenschaft: „Diese ächte Toleranz gegen vergangene Zeitalter liegt eben so tief in dem Charakter deutscher Bildung, als die schon erwähnte gegen die Nachbarn und Freunde.“566

Weil die deutsche Wissenschaft alles Vergangene nach seinem eigenen Anspruch zu würdigen vermag und besser einzuordnen versteht, als die jeweilige Epoche selbst sich verortet hätte, deshalb erscheint es in der Logik Müllers zwangsläufig, dass die deutsche Wissenschaft einen führenden Rang für sich beanspruchen muss. Folgerichtig spricht er analog zur gesellschaftlichen Revolution in Frankreich von der „wissenschaftliche[n] Revolution in Deutschland“567. Müllers Ansichten und vor allem seine Spitzensätze mögen als Teil eines chauvinistischen Diskurses erscheinen, der bei weitem nicht von allen Wissenschaftlern geteilt wurde. Doch findet sich ein Widerhall dieses Loblieds auf die deutschen Vorzüge, wie ich bereits gezeigt habe, bei vielen Intellektuellen, und auch sein Wissenschaftsverständnis wird geteilt. So sei nur noch einmal an Georg Forster erinnert, der gerade in der interkulturellen Empfänglichkeit der Deutschen den Hauptgrund für ihre herausgehobene Rolle bei

                                                             562 563 564 565 566 567

Vergleiche TODD KONTJE, German Orientalisms, 8. ADAM H. MÜLLER, Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur, 11. EBD., 11. EBD., 12. EBD., 15. EBD., 36.

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der Aufgabe des Sammelns alles Weltwissens zum Wohle aller, sieht.568 Blicken wir auf die professionellen Sammler von Orientalia, die im von mir behandelten Zeitraum zwischen Eichhorns Repertorium für biblische und morgenländische Literatur (1777–1786) und Ewalds Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes (1837) einen Aufschwung ohnegleichen erlebten, so lässt sich hier ein ähnliches Bild beobachten. Josef von Hammer-Purgstall spricht in seinen Fundgruben des Orients (1809) nicht von einer solchen wissenschaftlichen Wende, reiht sich in das hier skizzierte Bild wissenschaftlicher Herangehensweise jedoch ein. Er vertritt den Anspruch, dass die Zeitschrift alles umfassen solle, was aus dem Morgenland komme569, träumt von „uneigennütziger Wissenschaftsliebe“570 und will die in dem Titel der Zeitschrift anklingenden Fundgruben des Orients „von fremdartigen Stoffen und Schlacken“571 geläutert sehen. Dies alles diene dem höheren Ziele, dem darniederliegenden Europa „den frischen Urgeist des Orients wieder ein[zu]flössen“572. Einen vorläufigen Abschluss dieser vielfältigen Bemühungen um die Herausbildung eines spezifisch deutschen Zugangs zur Wissenschaftlichkeit stellt der Bericht Heinrich Ewalds in der ab 1837 erscheinenden Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes dar. In seinem Editorial weist er zwar noch einmal darauf hin, wie „dürftig und zurückgesetzt“573 Deutschland gegenüber den Kolonialmächten der Zeit erscheine, um wenig später dann doch zu würdigen, was „Deutschland in der morgenländischen Literatur Grosses geleistet“574 habe und immer noch leiste. Neben den wissenschaftlichen Tugenden des Fleißes, sowie der „Gründlichkeit, Umsicht und Ausdehnung“,575 die herausgestellt und gelobt werden, entwickelt Ewald einige Grundsätze seiner Zeitschrift, die gleichsam als Zusammenfassung deutscher Wissenschaftlichkeit verstanden werden dürfen: „Ueber Grundsätze und Behandlungsart ist aber kaum etwas zu sagen, als dass beide aus der Erkenntniss und Beherrschung der Sachen sich von selbst ergeben [...] es gibt nur eine erschöpfende und tiefere oder eine oberflächliche, eine sich bewusste und ernste oder eine leichtsinnige, eine nützliche oder eine unnütze und schädliche Art, die Gegenstände zu behandeln; wer aber am Ernst der Sachen froh geworden und weder sich selbst noch andere täuschen will, wird bei dieser Wahl nicht schwanken.“576

                                                             568 Siehe JÖRG ESLEBEN, Konstruktionen indischer Sichtweisen, 392. 569 JOSEPH VON HAMMER-PURGSTALL,Vorrede, in: Fundgruben des Orients bearbeitet durch eine Gesellschaft von Liebhabern 1 (1809), hier: 2. 570 EBD., 3. 571 EBD., 4. 572 EBD., 6. 573 HEINRICH EWALD, Plan dieser Zeitschrift, 6. 574 EBD., 7. 575 EBD., 8. 576 EBD., 10f.

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Am Ende der „Periode (...) der Literarkritik“577 spricht Hugo Greßmann im Rückblick auf deren Anfänge von Jahwist und Elohist als den „beiden schönsten Prosawerke(n) des vorexilischen Israel“, die durch richtige Datierung aus einem „sinnlose(n) Durcheinander in ein sinnvolles Nacheinander verwandelt“ wurden und damit nicht mehr „’ungenießbar’“ waren, sondern ihrer „ursprünglichen Schönheit“ wiedergegeben wurden.578

                                                             577 HUGO GREßMANN, Die Aufgaben der at. Forschung, in: ZAW 42 (1,1924), 1–33, hier: 2. 578 EBD., 3.

6.

Fazit: Das Alte Testament als deutsche Kolonie

Bereits in meinen theoretischen Ausführungen und den Forschungsüberblicken wies ich darauf hin, dass es nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit sein könne, nun die eigentliche Geschichte der Erforschung des Alten Testaments um 1800 zu liefern. Stattdessen ging es mir darum, Elemente einer „selbstreflexiven[n] Ethnologie des Abendlandes“1 zu entwickeln, die sich dazu eigneten, Wissensregime und Wirklichkeitskonstruktionen der alttestamentlichen Methoden und ihrer Paradigmen vor dem Hintergrund kolonialer Denkmuster darzustellen. Methodisch grenzte ich mich von einer stark personen-zentrierten Herangehensweise und einem Zugang, der sich als Errungenschaftsgeschichtsschreibung kennzeichnen lässt, ab. Die Alternativen, an denen ich meine Arbeit ausrichtete, stammen aus dem Bereich diskurs-geschichtlicher Arbeiten, der Begriffsgeschichte und von postkolonialer Theoriebildung beeinflussten Untersuchungen. Dabei arbeitete ich in einem theoretischen Kapitel im Gespräch mit Ansätzen der historischen Diskursanalyse heraus, dass sich meine Untersuchung vor allem auf das Set an Praktiken konzentrieren solle, als das sich die historisch-kritische Methode der alttestamentlichen Wissenschaft kennzeichnen lässt. Um den vielfältigen und insbesondere im ausgehenden 18. Jahrhundert noch sehr ambigen Repräsentationsmustern nachzuspüren, nahm ich den Begriff der „Rhetorik der Kontrolle“2 auf, der eng mit einer intellektuellen Autorität über den Orient verbunden ist. Die Schwierigkeit, von kolonialen Perspektiven zu einer Zeit zu sprechen, da eine realpolitische Kolonialphase deutscher Provenienz sich noch lange nicht abzeichnete, berücksichtigte ich mit Hilfe der Konzepte des Nachlebens und der Prä-Emergenz und versuchte sie so gerade in ihrer Eigenart für meine Untersuchungen fruchtbar zu machen. Die Besonderheiten und Topoi des deutschen Kolonialismus illustrierte ich anhand der ‚Kulturursprungsverhandlungen’ um 18003 bei gleichzeitiger Herausbildung eines Propriums deutscher Wissenschaftskultur. Die offensichtliche Schwäche, Rückständigkeit im Vergleich zu anderen europäischen Mächten und Partikularität Deutschlands wird umgedeutet in die Voraussetzung des allein deutschen Verständnisses für andere Kulturen und deren Alterität. Neben der deutschen Sprache, die sich wie keine andere eigne, alle anderen Sprachen abzubilden, werden deutscher Scharfsinn, Geist und „deutsche Tiefe des Gefühls und des Geistes“ entdeckt

                                                             1 2 3

MICHEL FOUCAULT, Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Bd.1, 766f. Vergleiche ACHIM LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, 97. DAVID CHIDESTER, Savage Systems, 2. Siehe ANDREA POLASCHEGG, Athen am Nil oder Jerusalem am Ganges? 44ff.

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Fazit

und gerühmt.4 Dass sich auch in vielen bescheiden anmutenden Diskursen letztlich Elemente eines übersteigerten Nationalbewusstseins und eines Strebens nach Hegemonie finden lassen, führte zu der berechtigten Rede von einem Kolonialismus zweiter Ordnung, wie er sich noch einmal in einem Fragment Schillers illustrieren lässt: „Dem, der den Geist bildet, beherrscht (...) zuletzt die Herrschaft werden [muss] (...) und das langsamste Volk wird alle die schnellen Flüchtigen einholen(...) Das köstliche Gut der deutschen Sprache, die alles ausdrückt, das Tiefste und das Flüchtigste, den Geist, die Seele, die voller Sinn ist. Unsere Sprache wird die Welt beherrschen.“5

Der Blick auf die religionsproduktive Wende zum 19. Jahrhundert diente mir dazu mehrere Lücken der Forschung zu schließen und an bereits erfolgte Forschungsergebnisse anzuschließen. In Anlehnung an die These Edward Saids von einer „Revolution in der Bibelforschung“6 versuchte ich, einerseits eine Lücke in seinem eigenen Werk zu schließen, und mich sowohl zeitlich, als auch was die diskursiven Zusammenhänge angeht, zwischen Urs Apps Orientalism und Kippenbergs Entdeckung der Religionsgeschichte einzuordnen. Anleihen bei der Begriffsgeschichte dienten mir dazu, Begriffe, die sich im 19. Jahrhundert durchgesetzt haben, daraufhin zu untersuchen, wie sie effektiv in eigene Weltdeutungsstrukturen integriert worden sind und welche politischen Implikationen sich mit diesen Begriffen verbunden haben. Dies kann auch als eine Anwendung ethnologischer Theoriebildung auf das Feld der alttestamentlichen Wissenschaften verstanden werden, dass nämlich „eine Disziplin, um sich zu sich selbst kritisch zu verhalten, eine Geschichte nicht nur ihrer Ergebnisse, sondern auch ihrer Suchverfahren, das heißt ihrer Praktiken der Wissensproduktion und -präsentation, braucht.“7

Die zentrale These meines Buchs ist, dass dieser Innovationsschub, den Edward Said als Revolution bezeichnete, sich Diskursen verdankt, die an diesem Kolonialismus zweiter Ordnung partizipierten und sich postkoloniale Zugänge besonders eignen, um diese Wechsel angemessen zu beschreiben. Ausgehend von der postkolonialen Betonung der Grenze, übertrug ich David Chidesters Untersuchungen zu Religionsgeschichte als Geschichte der Aushandlungsprozesse an Grenzen auf die Geschichte der Erforschung des Alten Testaments in Deutschland. Bereits Chidester spricht davon, dass die koloniale Peripherie eine „arena of theory“8 in dem Sinne sei, dass nicht nur die Peripherie einen Akt des Ko-

                                                             4 5 6 7 8

Siehe HELMUT PEITSCH, Oberfläche, 174. FRIEDRICH SCHILLER, Deutsche Größe, 431. EDWARD SAID, Orientalismus, 27. JOHANNES FABIAN, Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München 2001, 27. DAVID CHIDESTER, Savage Systems, xiv.

Fazit

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lonialismus erlebte, sondern auch die kolonialen Zentren selbst durch den vermittelten Kontakt über Missionar*innen, Reisende und koloniale Administrator*innen kolonisiert wurden. Der Erkenntnisgewinn ist dabei jener, den Susan Buck-Morss in Hegel und Haiti beschreibt, wenn sie darauf hinweist, dass Dinge zusammengedacht und nebeneinander gelegt werden, die aufgrund epistemologischer Voraussetzungen als fremd und inkommensurabel erscheinen. Konkret arbeitete ich heraus, inwiefern die historisch-kritische Methode, die innerhalb der deutschen alttestamentlichen Wissenschaft um 1800 entstanden ist, sich der Dynamik jener heißen Zonen des Kontakts zu verdanken hat. Die Jahrzehnte zwischen Johann David Michaelis Vorbereitung der Arabien-Exkursion und Heinrich Ewalds Morgenländischer Zeitung waren von einem rasanten Anstieg des Wissens über fremde Völker geprägt. Deutsche alttestamentliche Wissenschaftler haben zahlreiche Anleihen an ethnologische Forschungen gemacht, die dazu beigetragen haben, dass das Alte Testament in den Augen der Zeitgenossen, aber auch noch aus heutiger Perspektive, ein völlig neues Ansehen gewann. Die wichtigsten Umbrüche habe ich in vier Unterkapiteln dargestellt, in ihre Entstehungskontexte eingeordnet und unter postkolonialen Gesichtspunkten neu interpretiert. Meine Ergebnisse möchte ich nun noch einmal thesenhaft darlegen. 1. Das Alte Testament als deutsche Kolonie bedeutet, dass das Alte Testament als Möglichkeitsraum des deutschen kolonialen Phantasmas fungierte, dass es zur arena of theory wurde, in der neue Konzepte im Hinblick auf Alterität, Geschichtsschreibung und Ethnologie gewonnen und angewandt wurden. 2. Während bei den asiatischen Religionen, aber auch für das moderne Judentum, in der Religionswissenschaft inzwischen eine gewisse Einigkeit besteht, dass sich eine Vielzahl an religionsproduktiven Vorgängen um 1800 beschreiben lassen, so hat meine Forschung gezeigt, dass sich diese These auch auf andere Religionen, wie etwa das antike Judentum ausweiten lässt. 3. Für die Jahrzehnte um 1800 lässt sich von einer Neuerfindung des Alten Testaments unter der Führung deutschsprachiger Wissenschaftler sprechen. Dabei lassen sich zahlreiche diskursive Überschneidungen und Vernetzungen mit Diskursen aufzeigen, die zur Schaffung einer nationalen Identität beigetragen haben. Diese Diskurse lassen sich auch im Hinblick auf ein erneuertes deutsches Wissenschaftsverständnis beobachten. Zentrale Themen innerhalb dieser Diskurse waren Innerlichkeit und ein Verständnis des Anderen. Der Ton moralischer Überlegenheit und die Selbststilisierung als unterlegenes, teilweise auch kolonisiertes Volk, sprechen für eine Interpretation dieser Ausdrucksformen als Kolonialismus zweiter Ordnung.

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Fazit

4. Die Reisebeschreibung als wissenschaftliche Methode hat mit dazu beigetragen „Kolonien zu schaffen und ethnozentrische Perspektiven zu festigen“9. Anhand einer umfänglichen Analyse der Vorbereitungen der Orient-Expedition Niebuhrs durch Johann David Michaelis, der Reisetaktiken, Methoden der Naturbeobachtung und des Astrolabiums als Paradigma wurde gezeigt, inwiefern die Reisebeschreibung als Machttechnik gedeutet werden kann. Insbesondere die Vorstellung einer Allochronie, die sich in dem prägenden Gedanken der Reise nach Arabien als Reise in die Vergangenheit ausdrückt, ermöglicht es die Reisebeschreibung als orientalistisches Instrument einzuordnen. 5. Die neu verhandelte Frage nach der Authentizität der biblischen Quellen lässt sich in den Kontext der Reiseberichte und als eine Reaktion auf die öffentliche Debatte um die Echtheit literarischer Beschreibungen fremder Welten einordnen. Neben dem Bezug auf koloniale Vorstellungen und Regierungsformen lässt sich Johann David Michaelis Mosaisches Gesetz auch durch die diskursive Verschränkung mit der Debatte um die Emanzipation der Juden als kolonial kennzeichnen.10 Die neu entstehenden Einführungen in das Alte Testament lassen sich als Benthamsches Panoptikum verstehen11 und festigten die intellektuelle Autorität protestantischer Wissenschaftler über den Orient, die mit einer Abwertung des jüdischen Zugangs zu den Quellen und einer Orientierung am Paradigma kulturaler Diachronie einherging. 6. Das damit verbundene Leitmotiv von einem Kindheitsalter der Menschheit kann als Teil einer Mehrfachmarkierung der biblischen Texte verstanden werden, die es erlaubte, „das Kerninventar an ‚orientalistischen’ Stereotypen [...] nicht nur auf einer synchronen, räumlich-soziokulturellen Ebene zu verorten, sondern gleichzeitig mit einem zeitlichen genetischen Index zu versehen.“12 Dies lässt sich an Johann Gottfried Eichhorns Genesiskommentar aufzeigen, in dem die biblische Urgeschichte als Denkmal einer sinnlichen und ungebildeten Nation neu gedeutet wird. An Johann Gottfried Herders Schöpfungshieroglyphe wird schließlich deutlich, dass diese Verschiebung Teil einer generellen Verfremdung war, bei der der Orient in die Ferne rückte und nunmehr nur über hermeneutische Wege und in Form von Denkmälern der Vergangenheit zugänglich schien. Herder radikalisierte mit seiner Schöpfungshieroglyphe auch die Vorstellung einer kulturspezifischen Semiotik, indem er den Orient zur ursprünglichen (sprachlichen) Heimat aller Menschen machte. Durch die Entzifferung der Hieroglyphenschrift durch Champollion wurde jedoch deutlich, dass die

                                                             9 EDWARD SAID, Orientalismus, 142. 10 Siehe JONATHAN HESS, Johann David Michaelis and the Colonial Imaginary, passim. Vergleiche FREDERICK COOPER, Kolonialismus denken, 56. 11 Siehe EDWARD SAID, Orientalismus, 152. 12 JAN LOOP, „Von dem Geschmack der morgenländischen Dichtkunst“, 176.

Fazit

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angesprochenen Diskurse, bei aller Innovationskraft, als Erkenntnisbarrieren fungierten. 7. Dass sich die Diskussionen um Gattungsfragen und den Charakter der biblischen Literatur zum einen als Teildiskurs des Diskurses um eine Ordnung der Kulturen interpretieren lassen und auch starke Anleihen zu orientalistischen Stereotypen aufwiesen, zeige ich am Stichwort des orientalischen Despotismus. Die Zuordnung zu ethnologisch und national geprägten Diskursen, sowie der Bezug auf romantische Phantasmen illustriert den Kontext der Auseinandersetzungen und macht deutlich, warum sich vom Alten Testament als Möglichkeitsraum des deutschen Kolonialismus sprechen lässt. Meine eingangs aufgeworfene Frage, wie denn nun die Rede vom Alten Testament als deutsche Kolonie zu verstehen sei, habe ich in meinem letzten Kapitel noch einmal aufgegriffen und an der Figur des Sammlers deutlich gemacht, wie sich die Diskurse von deutscher Wissenschaftlichkeit, orientalistischem Blick auf das Alte Testament und einem Kolonialismus zweiter Ordnung in einer Zusammenschau bündeln lassen, die die Sprechweise vom Alten Testament als deutscher Kolonie rechtfertigen und erläutern.

7.

Literaturverzeichnis

7.1

Verzeichnis der genutzten Originalquellen

ANONYMUS, Anrede an die Leser, in: Der Reisende. Ein Wochenblatt zur Ausbreitung gemeinnüzziger Kenntnisse, 1. Blatt, Hamburg 1782, 1-5. –, Ueber das Reisen der Teutschen, in: Der Reisende. Ein Wochenblatt zur Ausbreitung gemeinnüzziger Kenntnisse, 1. Blatt, Hamburg 1782, 6–11. BACON, FRANCIS, Über Kolonien, in: Levin L. Schücking (Hg.), Francis Bacon. Essays oder praktische und moralische Ratschläge, Stuttgart 2005, 116–119. BAUER, GEORG LORENZ, Entwurf einer Einleitung in die Schriften des Alten Testaments zum Gebrauch seiner Vorlesungen, Nürnberg und Altdorf 1794. BAUMGARTEN, SIEGMUND JACOB, Vorrede, in: Ders. (Hg.), Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, die in Engeland durch eine Geselschaft von Gelehrten ausgefertigt worden. Erster Theil. Nebst den Anmerkungen der holländischen Uebersetzung auch vielen neuen Kupfern und Karten. Genau durchgesehen und mit häufigen Anmerkungen vermeret von Siegmund Jacob Baumgarten, Halle 1744. –, Vorrede, in: Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie die in Engeland durch eine Geselschaft von Gelehrten ausgefertigt worden. Siebenter Theil. Nebst den Anmerkungen der holländischen Übersetzung auch vielen neuen Kupfern und Karten. Genau durchgesehen und mit häufigen Anmerkungen vermeret von Siegmund Jacob Baumgarten, Halle 1748. BLUMENBACH, JOHANN FRIEDRICH, Einige zerstreute Bemerkungen über die Fähigkeiten und Sitten der Wilden, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, herausgegeben von Georg Christoph Lichtenberg und Georg Forster, 2 (5,1782), 409– 425. BOCHARTUS, SAMUEL, Geographia Sacra, seu Phaleg et Canaan cui accedunt variae Dissertationes Philologicae, Geographicae, Theologicae & c.[...], Editio tertia. Lugd. Bat. 1692, Lib. Primus. BROCKHAUS CONVERSATIONS-LEXICON, Band 6, Leipzig 41817. BUBER, MARTIN, Der Geist des Orients und das Judentum, in: Martin Buber Werkausgabe, 2.1 Mythos und Mystik. Frühe religionswissenschaftliche Schriften, hg. von David Groiser, Gütersloh 2013, 187–203. BUHLE (HG.), JOHANN GOTTLIEB, Literarischer Briefwechsel von Johann David Michaelis, Zweiter Teil, Leipzig 1795, 381–386. CHAMISSO, ADELBERT VON, Reise um die Welt mit der Romanzoffischen Entdekkungs=Expedition in den Jahren 1815–1818 auf der Brigg Rurik, Kapitän Otto v. Kotzebue. Erster Teil: Tagebuch, in: Chamissos Werke. Vierter Teil: Reise um die Welt I, herausgegeben von Max Sydow, Berlin u.a. o.J.. CLAUDIUS, MATTHIAS, Der Schwarze in der Zuckerplantage, in: Sämtliche Werke. Nach dem Text der Erstausgaben (Asmus 1775–1812) und den Originaldrucken (Nachlese) samt den 10 Bildtafeln von Chodowiecki und den übrigen Illustrationen der Erstausgaben. Mit Nachwort und Bibliographie von Rolf Siebke, Anmerkungen von Hansjörg Platschek und einer Zeittafel, München 71991, 17f. DE BOUGAINVILLE, COMTE LOUIS ANTOINE, Reise um die Welt, welche mit der Fregatte la Boudeuse in den Jahren 1766,1767,1768 und 1769 gemacht worden, Leipzig 1772.

234 DE STAEL,

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Literaturverzeichnis

7.3

257

Internetquellen

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8. ABL BibInt

Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen

Eichhorn’s Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur Biblical Interpretation. A Journal of Contemporary Approaches DVjs Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte EJJS European Journal of Jewish Studies HeBAI Hebrew Bible and Ancient Israel HTS Hervormde Teologiese Studies JBL Journal of Biblical Literature RBML Repetitorium für biblische und morgenländische Literatur ThLZ Theologische Literaturzeitung ThR Theologische Rundschau WA Goethes Werke. Weimarer Ausgabe in 143 Bänden ZAW Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft ZfR Zeitschrift für Religionswissenschaft ZNThG/JHMTh Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte / Journal for the History of Modern Theology ZRGG Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte

9.

Namensregister

Abulseda 156 Adelung, Friedrich 221 Adelung, Johann Christoph 221 Agamben, Giorgio 123 al-Jabarti, Abd-al-Rahman 76 al-Kabīr, Alī Bey 137 Alt, Albrecht 12 App, Urs 57, 58, 59, 70, 228 Appadurai, Arjun 80 Assmann, Aleida und Jan 205 Astruc, Jean 113, 158 Balfour, Arthur James 176 Balibar, Etienne 91 Barth, Karl 43, 94 Batnitzky, Leora 60, 168 Bauer, Georg Lorenz 43, 173, 180 Baumgarten, Siegmund Jakob 202 Bayle, Pierre 59 Becker, Jérôme 148 Bengel, Johann Albrecht 49, 104, 105 Benjamin, Walter 86, 88 Bergunder, Michael 23 Berman, Russel A. 100, 101 Bermann, Russell A. 141 Bernal, Martin 34, 39 Bhabha, Homi 91 Bitterli, Urs 146, 188 Blumenbach, Johann Friedrich 153, 196 Bochart, Samuel 51, 106, 128 Boer, Roland 16, 17, 19 Bonß, Wolfgang 75 Brosse, Charles 140 Brunnhofer, Hermann 61 Brunotte, Ulrike 66, 127 Buber, Martin 176, 177, 181, 194 Buck-Morss, Susan 26, 229 Bultmann, Christoph 49, 191 Burton, Richard Francis 92, 93 Cabri, Jean Baptiste 139 Callaway, Henry 133 Campe, Joachim Friedrich 118 Carpzov, Johann Gottlob 173 Chakrabarty, Dipesh 24, 91 Chambers, Ian 78

Champollion, Jean-François 176, 205, 230 Chidester, David 83, 84, 133, 228 Claudius, Matthias 187 Clifford, James 81 Conrad, Ruth 32 Cook, James 100, 103, 140, 141, 185 Cooper, Frederick 165 Cuhn, Ernst Wilhelm 222 D’Aprile, Iwan-Michelangelo 121 Damberger, Christian Friedrich 152 De Ayala, Felipe Guaman Poma 99 De Bougainville, Louis Antoine 102, 140, 142, 143, 144, 146 De Guignes, Joseph 204 De Montesquieu, Charles 159, 160, 165, 188, 208 De Pauw, Cornelis 118, 152 De Sacy, Silvestre 150 De Spinoza, Baruch 158 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht 43, 44, 113, 170, 172, 217 Defoe, Daniel 101 Deiters, Franz-Josef 215 Derrida, Jacques 108 Descartes, René 123 Diderot, Dennis 59, 102, 201 Diestel, Ludwig 41, 43 Dilthey, Wilhelm 80 Dobbs-Allsopp, Frederick William 98 Dohm, Christian Wilhelm 60, 165, 168 Du Bois, W.E.B. 177 Durkheim, Emile 66 Ebert, Johann Jakob 153 Edelmann, Johann Christoph 51 Eichhorn, Johann Gottfried 26–38, 44, 45, 49–55, 69, 104–113, 123–127, 158, 169–173, 178–181, 184, 192– 200, 207, 219, 224, 230 Eliade, Mircea 95 Ernesti, Johann August 53 Ewald, Heinrich 33, 224, 229 Ewald, Johann Ludwig 172 Fabian, Johannes 94, 148, 150, 169 Flood, Gavin 19, 82, 95 Forsskål, Peter 135

260 Forster, Georg 63, 100, 101, 103, 118, 119, 140, 141, 144, 146, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 197, 222 Forster, Johann Reinhold 101 Foucault, Michel 22, 71, 73, 75, 84, 93, 124, 181 Francke, August Hermann 48 Frazer, James George 68 Freud, Sigmund 68 Friedrich II. 206 Fries, Jacob Friedrich 171, 172 Gabler, Johann Philipp 29, 43, 53, 125, 174, 193, 194, 196, 198 Gandhi, Mohandas 177 Gaubil, Antoine 204 Gerstenberger, Erhard S. 13 Goldmann, Stefan 183 Gramsci, Antonio 77 Greenblatt, Stephen 83 Grégoire, Henri 110 Greßmann, Hugo 225 Griesbach, Johann Jakob 104 Grillparzer, Franz 141 Grimm, Jacob und Wilhelm 218 Gumbrecht, Hans Ulrich 94 Gunkel, Hermann 12 Günther, Wilhelm 217 Gutenberg, Johannes 214 Hall, Stuart 77 Hamann, Johann Georg 201, 206, 207, 214 Hartmann, Heinz 75 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 27, 28, 67, 116 Heine, Heinrich 64, 114, 115, 180 Hélvetius, Claude-Adrien 211 Henke, Heinrich Philipp Conrad 210 Herder, Johann Gottfried 31, 38, 42, 45, 53–69, 104–113, 120–124, 147, 148, 157, 164, 165, 170, 176–219, 230 Heyne, Christian Gottlob 110, 179, 184, 193 Hezel, Johann Wilhelm Friedrich 200 Hobsbawm, Eric 122 Hodges, William 140, 146, 147 Hoffmann, E.T.A. 144, 145 Holwell, John 57, 58 Howard, Thomas Albert 51 Huet, Pierre Daniel 106 Hume, David 59, 191 Ilany, Ofri 36

Register Ilgen, Karl David 31, 174, 175, 179, 219 Iselin, Isaak 188 Jefferson, Thomas 110 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 206, 208 Jones, William 43, 77, 101, 182 Kaempfer, Engelbert 76 Kaiser, Gottlieb Philipp Christian 52 Kant, Immanuel 29, 54, 59, 60, 120, 146, 148, 167, 197 Kelley, Shawn 35 Kemal, Mustafa 177 Kennicott, Benjamin 105 Kidd, Colin 35 King, Richard 56, 57 Kippenberg, Hans Georg 67, 68, 70, 71, 228 Klopstock, Friedrich Gottlieb 217 Kohl, Karl-Heinz 140, 145 Koselleck, Reinhard 78 Kraus, Hans-Joachim 43, 44 Kuhn, Thomas S. 39, 123 Kuschel, Karl-Josef 180 Laclau, Ernesto 75, 78 Lafitau, Joseph François 140 Landwehr, Achim 73 Lavater, Johann Caspar 203 Leibniz, Gottfried Wilhelm 221 Lepenies, Wolf 93, 181 Lessing, Gotthold Ephraim 42, 60, 113, 145, 188, 201 Levenson, Jon D. 95 Levinson, Bernhard 114, 115 Löchte, Anne 147, 181 Long, Charles H. 83 Loop, Jan 106, 191 Lorde, Audre 95 Lorenzo Hérvas y Panduro 221 Loskiel, Georg Heinrich 148 Lowth, Robert 64, 106, 112, 113, 201, 203, 207 Lüderitz, Adolf 117 Lukács, Georg 19 Lüsebrink, Hans-Jürgen 136 Majumdar, Rochona 91 Mangold, Sabine 63 Marchand, Suzanne 61, 72, 73 Marsh, Herbert 53 Mathes, Bettina 107 Matthes, Joachim 65

Register Meiners, Christoph 52, 119, 172, 192, 196, 208 Mendelssohn, Moses 60, 109, 165, 166, 201 Merkel, Helmut 97 Michaelis, Johann David 42, 43, 51, 53, 60–62, 69, 102–106, 123, 126– 137, 149–172, 178, 189, 191–193, 198, 202, 210, 229, 230 Mishra, Pankaj 177 Mix, York-Gothart 188 Most, Glenn 93 Mouffe, Chantal 75, 78 Müller, Adam 222, 223 Müller, Friedrich Max 151 Musäus, Johann August 217 Nachtigal, Johann Karl Christoph 210, 211, 212, 219 Napoleon, Bonaparte 52 Naubert, Benedikte 217 Nehring, Andreas 65 Niebuhr, Carsten 103, 134, 135, 137, 138, 149, 154, 155, 156, 161, 162, 163, 164, 169, 192, 201, 230 Nissinen, Martti 99 Noth, Martin 12, 16, 17, 18, 19, 33, 220 Novalis 104 Olender, Maurice 34 Ong, Walter 108 Osterhammel, Jürgen 26, 40, 76, 77, 78, 92, 139, 153, 155 Pakkala, Juha 13, 152 Pascal, Blaise 53 Pasto, James 157 Patterson, Lee 98 Penner, Todd 95 Pietschmann, Richard 99 Polaschegg, Andrea 62, 64, 156, 181 Pope, Alexander 50 Pratt, Mary Luise 99, 135 Psalmanazar, George 152 Pui-Lan, Kwok 56 Rabenius, Olaus 157 Rabinow, Paul 20 Ramabai, Pandita 75 Randeria, Shalini 25 Ranger, Terence 122 Reimarus, Samuel 113, 207, 217 Reinfandt, Lucian 150 Reiske, Johann Jacob 135, 154, 212 Renan, Ernest 103

261 Reventlow, Henning Graf 45, 46, 50, 54 Ritter, Carl 102 Roosevelt, Franklin D. 177 Rosenmüller, Johann Georg 202 Rousseau, Jean-Jacques 108, 188 Rühs, Friedrich Christian 171 Rukundwa, Lazare S. 95 Sæbø, Magne 42, 52, 55 Said, Edward 11, 14, 34, 40, 56, 61, 69, 76, 89, 103, 115, 116, 127, 150, 151, 164, 176, 228 Sandys-Wunsch, John 50, 51, 52, 53 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 102, 109, 110, 179, 201 Schiller, Friedrich 30, 115, 158, 187, 228 Schlegel, August Wilhelm 64, 104, 205 Schlegel, Friedrich 205 Schlözer, August Ludwig 32 Schmid, Konrad 86 Schnabel, Johann Gottfried 101 Scholem, Gershom 88 Schultens, Albert 104, 127 Schwabe, Johann Joachim 101 Segovia, Fernando F. 97, 98 Seidel, Bodo 41, 175 Semler, Johann Salomo 51, 54, 104, 173 Seume, Johann Gottfried 185 Sheehan, Jonathan 47, 48, 49 Smend, Rudolf 17, 46, 126, 127 Smith, Jonathan Z. 66 Smith, William Robertson 66, 67, 68 Sohō, Tokutomi 77 Spivak, Gayatri Chakravorty 28, 29, 89, 164 Stagl, Justin 150, 152 Stölle, Gottlieb 51 Strauss, Lévi 67 Suarsana, Yan 75 Sugirtharajah, R.S. 14, 22, 23, 49, 76 Tagore, Rabindranath 177 Tenbruck, Friedrich 66, 67 Tertullian 106, 131 Todorov, Tzvetan 34, 102 Troeltsch, Ernst 95 Trojanow, Ilija 92 Tylor, Edward Burnett 68 Van Dale, Anthony 51 Van der Stichele, Caroline 95 Van Seters, John 218

262 Vater, Johann Severin 219, 220, 221 Vatke, Wilhelm 42 Vico, Giambattista 59 Vitringa, Campegius 53 Voltaire 58, 59, 197 Von Braun, Christina 107 Von Chamisso, Adelbert 145 Von Droste-Hülshoff, Annette 176 Von Goethe, Johann Wolfgang 112, 158, 209 Von Hammer-Purgstall, Josef 63, 224 Von Harnack, Adolf 95 Von Haven, Frederik Christian 134, 149, 155 Von Humboldt, Alexander 34, 101, 183 Von Humboldt, Wilhelm 34, 221 Von Hundt-Randowski, Hartwig 167 Von Knigge, Adolph 144, 147 Von Kotzebue, Otto 145 Von Langsdorf, Heinrich 139 Von Linné, Carl 93, 135

Register Von Murr, Christoph Gottlieb 221 Von Rad, Gerhard 12, 33 Von Ranke, Leopold 55 Von Soemmering, Samuel Thomas 197 Von Stuckrad, Kocku 71, 74, 167 Von Zinzendorf, Nikolaus Ludwig 49 Warburton, William 201, 202 Webb, John 130, 131 Weidner, Daniel 88, 182 Wellhausen, Julius 12, 44 Westhelle, Vítor 91 Wheatley, Phillis 109 White, Hayden 81, 82 Whitelam, Keith W. 85 Williams, Raymond 89 Winckelmann, Johann Joachim 206 Wood, Robert 62 Zachariae, Friedrich Wilhelm 141, 143, 144 Zantop, Susanne M. 117, 118, 120 Zimmerer, Jürgen 116